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German Pages 846 [858] Year 2021
Handbuch Minnesang
Handbuch Minnesang Herausgegeben von Beate Kellner, Susanne Reichlin und Alexander Rudolph
ISBN 978-3-11-035181-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-035185-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038762-9 Library of Congress Control Number: 2020949513 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Universitätsbibliothek Heidelberg, Große Heidelberger Liederhandschrift (Cod. Pal. germ. 848), fol. 71v. Datenkonvertierung/Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Auf dem Umschlag dieses Bandes sehen wir einen höfisch gekleideten Mann in einem Holzfass, der mittels einer großen, sternförmigen Winde von einer Frau auf einen Turm hochgezogen wird. Das Bild stammt aus dem Codex Manesse, dessen Miniaturen das populäre Bild des Mittelalters im Allgemeinen und das des Minnesangs im Speziellen entscheidend geprägt haben. Auch die abgebildete Miniatur des urkundlich nicht greifbaren Minnesängers Christan von Hamle (Bl. 71v) wird die Phantasie moderner Betrachterinnen und Betrachter zweifelsohne anregen. Kunst- und literarhistorisch informierte Rezipienten erkennen darin ein Motiv aus der MinnesklavenTradition, wie es zum Beispiel die ‚Weltchronik‘ von Jans Enikel überliefert: Eine von Vergil umworbene Frau verspricht ihm eine Liebesnacht und lässt dazu einen Korb von einem Turm herunter. Doch statt ihn hinaufzuziehen, lässt sie ihn auf halber Höhe hängen, so dass er zum Gespött der ganzen Stadt wird (V. 23789–23950). Auch in der Ich-Erzählung des Minnesängers Ulrich von Liechtenstein, dem ‚Frauendienst‘, wird berichtet, wie die Sängerfigur sich in einem Tuch zu den Gemächern der begehrten Dame emporziehen lässt. Die Dame lässt den Sänger aber während eines vorgetäuschten Kusses wieder fallen (V. 1191–1269). Doch führen solche Anekdoten von den Minneliedern von Christan von Hamle weg. Bei den auf die Miniatur folgenden Liedern handelt es sich zu großen Teilen um Frauenpreislieder, die die Schönheit der Frau loben und ab und zu eine Liebeseinheit imaginieren. Wie die meisten anderen Lieder des Hohen Sangs zeichnen sie sich durch einen Reflexionsreichtum aus, mit dem eine Armut an konkreten Details einhergeht: In welchem sozialen Verhältnis Mann und Frau zueinander stehen, ob, wo und wie die Minnekommunikation statthat, wird nicht expliziert. Doch so zufällig der Maler zu seinem Motiv gekommen sein mag, schaut man sich die Miniatur nochmals etwas genauer an, werden doch auch zentrale Themen des Minnesangs dargestellt: Der Mann hängt in der Schwebe, zwischen der Frau, zu der er zwar aufblickt, die ihn aber nicht anblickt, und der Erde, die im Bildausschnitt der Miniatur nicht enthalten ist. Die den Minnesang kennzeichnende Spannung von Nähe und Distanz, von artikuliertem Begehren und dessen immerwährendem Aufschub, von Imagination und Wirklichkeit wird so im Bild dargestellt und für immer in der Schwebe gehalten. Die Initiative zu diesem Handbuch ging von Jacob Klinger aus, der seine Fertigstellung leider nicht mehr erleben durfte. Wir gedenken seiner und seiner Familie an dieser Stelle ganz besonders und bedanken uns postum mehr als herzlich für seine überaus kompetente und sorgfältige Begleitung des Unternehmens. Der De Gruyter Verlag hat uns stets bestens unterstützt. Das Konzept zum Handbuch stammt von Beate Kellner, Volker Mertens und Susanne Reichlin, Alexander Rudolph kam später hinzu. Volker Mertens musste sich aus persönlichen Gründen im Verlauf der Arbeiten zurückziehen, hat den Fortgang des Handbuchs aber weiter wohlwollend begleitet. Wir danken ihm an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich für die stets ausgezeichnete Zusammenhttps://doi.org/10.1515/9783110351859-201
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Vorwort
arbeit. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der germanistischen Mediävistik, aber auch aus Nachbardisziplinen haben als Autorinnen und Autoren mit ihrer Kompetenz und ihrem Wissen zusammengewirkt, damit dieses Handbuch entstehen konnte. An sie alle ergeht unser herzlicher Dank für die hervorragende Zusammenarbeit, aber auch für ihre Geduld bis zum Erscheinen des Handbuchs. Dieses richtet sich gleichermaßen an Fachkolleginnen und Fachkollegen wie an Studierende. Es soll eine Grundlage für Forschung und Lehre sein. Besonders den Studierenden möchten wir den Einstieg in die Welt der mittelalterlichen Lyrik und den Minnesang erleichtern und sie zum Weiterdenken und Weiterarbeiten ermuntern. Unser großer Dank gebührt auch unserem Redaktionsteam, Eva Bauer und Fabian Prechtl sowie Gabriel Ascanio Hecker, Florian Burlefinger, Stephanie Eikerling, Annabel Fleschutz, Lisa Löhr, Jacob Ostermaier, Maxwell Phillips und Marilisa Reisert. Dank gebührt auch Gaia Gubbini, die uns mit romanistischer Expertise bei der Registererstellung geholfen hat. Kassandra Sperl danken wir für eine letzte sorgfältige Durchsicht des gesamten Manuskripts. München, im Juli 2020
Beate Kellner, Susanne Reichlin und Alexander Rudolph
Inhalt Vorwort
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Beate Kellner, Susanne Reichlin und Alexander Rudolph Einführung 1
Überlieferung und Edition Franz-Josef Holznagel Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge Manfred Eikelmann und Daniel Pachurka Varianz 55 Eva Bauer und Holger Runow Edition und Editionsgeschichte
66
Europäische Kontexte Stephanie Seidl Altokzitanische Lyrik
103
Sebastian Neumeister Liebeslyrik in Nordfrankreich
113
Sebastian Neumeister Italienische Liebeslyrik des Mittelalters
119
Frank Bezner Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters Frank Willaert Niederländische Lyrik
125
156
Sylvie Stanovská Alttschechische Liebeslyrik – zwischen Altem und Neuem
172
19
VIII
Inhalt
Form und Pragmatik Holger Runow Metrik und Formanalyse
181
Horst Brunner Melodien zu Minneliedern
218
Susanne Reichlin Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs Susanne Reichlin Thematisiertes Singen
257
Alexander Rudolph Form- und Klangkunst
277
233
Themen und Semantiken Beate Kellner und Alexander Rudolph Minnekonzepte und semantische Felder
299
Judith Klinger Minnesang in gender- und queertheoretischer Perspektive Ursula Peters Sozialgeschichte als Forschungsparadigma
331
352
Rüdiger Schnell Der Dritte / das Dritte Psychoanalytische, sozialgeschichtliche und poetologische Aspekte Beate Kellner und Alexander Rudolph Religiöse Semantiken 379 Ludger Lieb Natur und Natureingang Beate Kellner Imagination
421
410
364
Inhalt
Mireille Schnyder Visualität 439 Beate Kellner Zeit 450
Literarhistorische Perspektiven Manuel Braun Geschichte(n) des Minnesangs
465
Subgattungen und Gattungsinterferenzen Ricarda Bauschke Kanzone 509 Albrecht Hausmann Frauenlieder 522 Jan Mohr Tagelied
534
Dorothea Klein Kreuzlied 543 Marina Münkler Dialoglied – Wechsel – Botenlied Julia Zimmermann Tanzlied 571 Anna Kathrin Bleuler Sommer- und Winterlieder
583
Fabian Prechtl Erzähllied 592 Margreth Egidi Sangspruch – Minnesang
600
556
IX
X
Inhalt
Caroline Emmelius Narrative Interferenzen im Minnesang
610
Autorbilder und Autorprofile Nicola Zotz Autorbilder
627
Maximilian Benz Der von Kürenberg
648
Florian Kragl Epiker, die Lyrik dichten: Heinrich von Veldeke und Hartmann von Aue Beate Kellner Heinrich von Morungen Dorothea Klein Reinmar (der Alte)
665
678
Ricarda Bauschke Walther von der Vogelweide
698
Anna Kathrin Bleuler Neidhart 712 Markus Stock Burkhard von Hohenfels und Gottfried von Neifen Eva Bauer Konrad von Würzburg Max Schiendorfer Steinmar und Hadlaub
722
736
746
Sandra Linden Ulrich von Liechtenstein und Oswald von Wolkenstein – das Spiel mit der Biographie 761 Franziska Wenzel Frauenlob und Heinrich von Mügeln
775
654
Inhalt
Minnesang-Rezeption Jens Haustein Minnesangrezeption literarisch
793
Volker Mertens Die Rezeption des Minnesangs in der Musik Abkürzungsverzeichnis Register 831
826
808
XI
Beate Kellner, Susanne Reichlin und Alexander Rudolph
Einführung
In einer Spruchstrophe des Dichters Marner beklagt das Ich, die liut (HAU 15, V. 1) wollten nur hübschen minnesanc hören, wenn es singe (V. 11). Das Wort minnesanc steht hier nicht für einen Gattungsbegriff im modernen Sinne, sondern für die thematische Ausrichtung des Gesangs. Dies gilt auch für die prominente Aussage des Ich in Walthers Alterston: mîn minnensanc, der diene iu dar (L 66,21, I, V. 11). In der Rolle des gealterten Sängers, der seit über 40 Jahren von minnen und alse iemen sol (V. 8) gesungen hat, stellt das Ich seinen minnensanc in den Dienst der Rezipienten beziehungsweise der höfischen Gesellschaft. Dabei wird das Singen von minnen von einem stärker normativ ausgerichteten Singen (alse iemen sol) und damit vielleicht auch avant la lettre vom Sangspruch unterschieden. Nicht nur die Lieder, sondern auch die Sänger werden bereits in mittelhochdeutschen Quellen als minnesinger bezeichnet. In einer Strophe von Hartmann von Aue werden diejenigen als [i]r minnesinger (MF 218,5, III, V. 1) angesprochen, die zwar wie das Ich von minnen singen (V. 3), aber dabei eine Form von minne vollziehen, die kritisch hinterfragt wird. Sie würden um ein liep ringen, daz iuwer niht enwil (V. 7). Die Bezeichnung minnesinger wird hier also abschätzig benutzt, um gegen andere Sänger und Liedproduzenten sowie gegen eine in vielen Liedern sich artikulierende Form der unerfüllten Liebe zu polemisieren. Wie meist führt somit kein direkter Weg von den mittelhochdeutschen Quellen begriffen zu den neuhochdeutschen Forschungstermini. Spätestens seit dem achtzehnten Jahrhundert bezeichnet ‚Minnesang‘ als Forschungsbegriff die deutschsprachige Liebeslyrik des zwölften bis fünfzehnten Jahrhunderts. Es handelt sich um eine ganz spezifische Form von Liebeslyrik, die sich aufgrund der Sprechhaltungen (Werbung, Lob und Klage), der Minnekonzeptionen (vielfach: unerfüllte Liebe), der spezifischen Semantik (dienst, stæte), der gesellschaftlichen Dimension von Liebe und Gesang sowie der medialen Ausprägung (mehrheitlich gesungene Lyrik) deutlich von antiken und modernen Formen der Liebeslyrik unterscheidet. Diese mittelalterliche Form der Liebeslyrik ist auf mehreren Ebenen durch Variationen gekennzeichnet: Ein enges Repertoire an Begriffen, Motiven, Sprach- und Klangformeln wird sowohl repetiert als auch nuanciert, umbesetzt oder neu geprägt. Dadurch ergeben sich nicht nur engmaschige intertextuelle Beziehungen, sondern die verwendeten Elemente werden diskutiert und reflektiert. Variation prägt auch die Überlieferung, die uns die Lieder zumeist erst ab der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, aber dann in großer Fülle und in zahlreichen Textvarianten, unterschiedlichen Strophenfolgen oder mehrfachen Autorzuschreibungen bietet. In diese faszinierende, aber nicht immer leicht zu erschließende mittelalterliche Liebeslyrik möchte das vorliegende Handbuch einführen. Es richtet sich an Studierende genauso wie an Forschende. Den Studierenden möchte es eine Einführung bieten, die zentrale Sachverhalte auf dem aktuellen Stand der Forschung erklärt und https://doi.org/10.1515/9783110351859-001
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erläutert. Forschenden wiederum soll es einen schnellen Überblick über Fragen, Positionen, Methoden und Argumente der Minnesangforschung verschaffen, Forschungsdesiderate aufzeigen und Denkanstöße für neue Forschungsrichtungen geben. Zu diesem Zweck konnten wir mit Unterstützung von Volker Mertens eine Vielzahl von Expertinnen und Experten gewinnen, die einführende Artikel in die wichtigsten Bereiche der Minnesangforschung verfasst haben. Dieses Vorgehen führt zu einer vielstimmigen Einführung, die einen repräsentativen Überblick nicht nur über die Forschung, sondern auch über das Spektrum an Argumentationsmöglichkeiten und über die divergierende Gewichtung einzelner Argumente bietet. Das Handbuch beginnt mit dem, was uns vom Minnesang geblieben ist: den Handschriften. In drei grundlegenden Artikeln wird im I. Teil ein Einblick in die Überlieferung, die Varianz und die Edition und Editionsgeschichte geboten. Da es sich beim Minnesang keineswegs um eine deutschsprachige ‚Erfindung‘ handelt, wird der Minnesang im II. Teil im europäischen Kontext situiert und die Bezüge zur okzitanischen, altfranzösischen oder mittellateinischen Lyrik werden aufgezeigt. Der Vergleich mit der mittelalterlichen Liebeslyrik anderer Sprachregionen (etwa sizilianisch, niederländisch, tschechisch) hilft darüber hinaus, Entwicklungen, wie das Entstehen von Subgattungen, besser einzuordnen und zu gewichten. Im III. Teil werden die metrischen Formen, die Melodien, das Spiel mit Klang und Reim, aber auch die Überlegungen der Forschung zur pragmatischen Funktion des Minnesangs vorgestellt. Ebenso wird dargelegt, wie in den Liedern selbst über das Singen gesprochen wird. Der IV. Teil des Handbuchs bietet sodann einen Einblick in thematische Schwerpunkte, Minnekonzepte und methodische Zugänge. Dies führt zur Frage, wie sich der Minnesang vom zwölften bis ins fünfzehnte Jahrhundert ändert. Statt von einer linearen Entwicklung auszugehen, wird im V. Teil des Handbuchs gezeigt, welche Parameter sich zu verschiedenen Zeitpunkten ändern. Zu diesen möglichen Entwicklungslinien gehört auch, dass sich im Minnesang eine Reihe von Subgattungen ausbilden, die im VI. Teil vorgestellt werden. Für diesen Abschnitt gilt, genauso wie für die Vorstellung von Autorprofilen im VII. Teil, dass wir uns für eine repräsentative Auswahl entscheiden mussten. Ein Ausblick auf die literarische und musikalische Rezeption des Minnesangs (Teil VIII) schließt das Handbuch ab.1 Im Folgenden soll – im Verweis auf die einzelnen Artikel des Handbuchs – ein erster Überblick über zentrale Themen des Minnesangs und der Minnesangforschung geboten werden.
1 Wie im Folgenden wird in den Artikeln auf andere Artikel im Handbuch per → Querverweis verwiesen. Bei den Namen von Autoren, die im Kapitel „Autorbilder und Autorprofile“ vorgestellt werden, erfolgt der Querverweis jedoch nur bei der ersten Nennung.
Einführung
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Was ist Minnesang? weiz ich des ein teil, sô west ich es gerne mê2 Minnesang stellt die bedeutendste und bekannteste der drei großen Gattungen der mittelalterlichen deutschen Lyrik dar. Die Grenzen zum Sangspruch als der zweiten wichtigen lyrischen Gattung sind durchlässig (→ Sangspruch – Minnesang). Besonders bei denjenigen Sängern, die in beiden Genres wirken (→ Walther von der Vogelweide, → Konrad von Würzburg), werden immer wieder sangspruchartige Strophen in Minnelieder integriert. Zugleich findet sich das Thema Minne auch im Sangspruch, jedoch in anderer Ausprägung und Sprechweise. Die Nähe zwischen dem Leich als der dritten wichtigen lyrischen Gattung der mittelalterlichen Dichtung und dem Minne sang ist beim Minneleich durch das beiderseitige Sprechen über die Liebe offensichtlich, sie kann sich aber auch im Marienleich über die Erotisierung der Marienfigur und die Aufnahme von Topoi und Wendungen aus dem Minnesang ergeben. Deutschsprachige Minnelieder sind in Handschriften vom dreizehnten bis ins fünfzehnte Jahrhundert tradiert (→ Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge). Wie sich die Überlieferung der ab 1150 anzusetzenden frühesten Minnelieder bis zu den ersten greifbaren schriftlichen Zeugnissen um 1230 vollzogen hat, lässt sich nur schwer rekonstruieren. Man nimmt an, dass Formen der mündlichen Überlieferung und Verschriftlichung von einzelnen Strophen und Liedern ineinandergriffen, bis erste Sammlungen angelegt wurden und eine umfassendere Archivierung der Lieder zwischen 1280 und 1350 erfolgte. Das wichtigste Überlieferungsformat stellen die nach Autor- und Corpusprinzip gegliederten Liederhandschriften dar, der Codex Manesse (C), die Kleine Heidelberger Liederhandschrift (A) und die Weingartner beziehungsweise Stuttgarter Liederhandschrift (B). Daneben existieren bis ins vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert aber auch andere Aufzeichnungstypen wie Autorsammlungen beispielsweise bei → Frauenlob, → Heinrich von Mügeln oder → Oswald von Wolkenstein. Lieder- und Autorsammlungen finden sich auch in gattungsübergreifenden Mischhandschriften. Das früheste Beispiel dafür stellt die Ende des dreizehnten Jahrhunderts entstandene Riedegger Sammelhandschrift dar (R), die neben höfischer Epik, Heldenepik und einem Schwankroman auch eine umfangreiche Sammlung von Liedern → Neidharts bietet. Um 1350 werden zwei große Corpora mit Liedern → Walthers von der Vogelweide und → Reinmars in das sogenannte Hausbuch des Michael de Leone (E) aufgenommen. Als Einschübe können deutschsprachige Minnesangstrophen auch in den Kontext der lateinischen Lyrik integriert werden wie im Codex Buranus (M), wo sie an den Schluss von tongleichen lateinischen oder lateinisch-deutschen Liedeinheiten treten. Darüber hinaus finden sich Minnesangstrophen als Streuüberlieferung auch in ganz anderen Kontexten wie in Homilienhandschriften oder der Überlieferung klassischer antiker Texte. 2 Walther von der Vogelweide L 69,1, I (nach *EF), V. 2.
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Beate Kellner, Susanne Reichlin und Alexander Rudolph
Die Streuüberlieferung stellt jedoch nur einen sehr kleinen Teil der erhaltenen Minnesang-Texte dar. Insgesamt ist die Liedüberlieferung durch → Varianz gekennzeichnet. In mehreren Handschriften zu findende Liedtexte unterscheiden sich nicht selten in der Zuschreibung zu bestimmten Autoren, sie divergieren teils erheblich hinsichtlich der Strophenzahl und Strophenreihenfolge, zudem zeigt sich auch im Bereich der Lexik ein breites Spektrum von sinntragenden Abweichungen. Man betrachtet diese Variabilität heute nicht mehr als bloßen Effekt von Schreiberfehlern und Verfallserscheinungen der Überlieferung, sondern rechnet mit alternativen Versionen und Bearbeitungen. Es ist davon auszugehen, dass die Varianz einerseits auf die Verwendung der Texte bei unterschiedlichen Anlässen in verschiedenen Gebrauchskontexten zurückzuführen ist, bedenkt man, dass Minnesang ursprünglich Vortragskunst war. Andererseits ergibt sie sich aus der spezifischen Medialität der mittelalterlichen Handschriftenkultur. Im Lichte dieser Einsichten hat sich der Textbegriff im Minnesang von der Vorstellung eines autornahen ‚Werks‘ in Richtung der Liedfassungen und der Pluralität der variablen Texte verschoben. Der spezifischen Varianz der Minnelieder Rechnung zu tragen, ist eine zentrale Aufgabe der neueren Editorik, zumal Überlieferung, Edition und Interpretation in einem Wechselverhältnis zueinander stehen (→ Edition und Editionsgeschichte). Oberstes Gebot ist Transparenz bei der Darbietung der Überlieferungsvarianten, sei es im Rahmen einer textkritischen Ausgabe oder einer synoptischen Wiedergabe sowie bei der Edition eines Leittextes oder bei einer Fassungsedition. Die in neuerer Zeit diskutierten Editionskonzepte rücken von der älteren Rekonstruktionsphilologie ab, die aus den handschriftlichen Fassungen möglichst ursprüngliche und autornahe Texte herzustellen versuchte und Varianz nur als Ergebnis der Verschlechterung im Überlieferungsprozess betrachtet hat. Dennoch wollen sie sich auch nicht mit dem Abdruck von bloß dem ersten Anschein nach gleichwertigen und gleichrangigen Varianten zufriedengeben. Theoretisch anspruchsvolle, zugleich aber auch in pragmatischer Hinsicht noch benutzbare und benutzerfreundliche Ausgaben zur Verfügung zu stellen, muss das Ziel sein. Im Unterschied zur modernen Dichtung hat man sich mittelalterliche Lyrik im gelehrten Latein (→ Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters) und in der Volkssprache als gesungen zu denken (→ Melodien zu Minneliedern). Vom zwölften bis zum vierzehnten Jahrhundert sind zur deutschen Lyrik vor allem einstimmige Melodien erhalten, mehrstimmige deutsche Lieder finden sich erst ab dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts. Begleitung von Saiten-, Blas- und Schlaginstrumenten war wohl vielfach gegeben, doch es fehlen genauere Kenntnisse. Die Melodien zur deutschen Lyrik des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts sind uns nur lückenhaft und im Hinblick auf die drei Grundtypen Minnesang, Leich und Sangspruch in unterschiedlichem Umfang überliefert: Beim Sangspruch sind uns zahlreiche Melodien überliefert, beim Leich kennen wir Melodien zu etwa einem Viertel der Texte, beim Minnesang stellt Notenüberlieferung
Einführung
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bis zum vierzehnten Jahrhundert die Ausnahme dar. Dennoch können wir aus dem wenigen Erhaltenen Rückschlüsse ziehen. Neumen finden sich schon früh auch zu deutschen Strophen zum Beispiel in den Carmina Burana, in späterer Zeit ist für Notenaufzeichnungen etwa auf die Neidhartüberlieferung, im spätesten Sang besonders auf → Oswald von Wolkenstein zu verweisen. Fallweise lässt sich nachweisen, dass Minnesänger sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal durch Übernahme von Tönen an romanische Lieder der Trobadors (→ Altokzitanische Lyrik) und Trouvères (→ Liebeslyrik in Nordfrankreich) anlehnten. Wenn Töne, die man als Verbindung von Strophenform und Melodie zu verstehen hat, auf diese Weise übernommen wurden, können Melodien über Kontrafakturen erschlossen werden. Zudem gibt die überaus reiche Melodieüberlieferung zur romanischen Liebesdichtung Anlass, auch von einem ursprünglich reichen Schatz von Melodien für den deutschen Bereich auszugehen. Da mittelalterliche Lieddichtung → Form- und Klangkunst darstellt, sind Strophenform, Melodie und Text als komplexe Einheit zu verstehen und, wenn immer möglich, als solche zu interpretieren. Eine wichtige Grundlage für die Formenvielfalt des Minnesangs ist das sich früh etablierende Prinzip, dass der Ton eines Liedes sich von Tönen anderer Lieder zu unterscheiden hat, weshalb Wiederaufnahmen von Tönen im Unterschied zum Sangspruch die Ausnahme bleiben. Als metrisch gebundene Rede in Strophen ist Minnesang durch geordnete, auf dem Wortakzent beruhende Rhythmisierung, die uns die Empfindung wiederkehrender Zeitspannen gibt, sowie besondere Vielfalt der Vers- und Reimtypen gekennzeichnet (→ Metrik und Formanalyse). Unter den Strophenformen ist die dreiteilig (stollig) gebaute und in vielerlei Ausprägungen überlieferte Kanzonenstrophe der am weitesten verbreitete Typ, daneben gibt es jedoch auch einteilige Strophenformen wie die Langversstrophe des frühen Minnesangs. Da die Kanzone auch in den Sangspruch und den Meistergesang eingewandert ist, bleibt sie bis weit in die frühe Neuzeit existent und hat auch heute noch ein Nachleben im Kirchen-, Kinder- und Volkslied. Dem Formenreichtum in der Strophik entspricht eine Fülle von Stilmitteln und Reimtypen, über welche die Texte auch in ihrer ohne Melodien überkommenen Gestalt und Ästhetik ganz wesentlich von Klangeffekten bestimmt sind. Dieser Sprachklang ist zum einen Kennzeichen der Musikalität der Texte, die wohl ursprünglich für den gesungenen mündlichen Vortrag gedacht waren. Zum anderen stehen die Klangmuster und Klangstrukturen in engem Wechselverhältnis zur Bedeutung der Texte und erweisen sich damit für das Textverständnis als zentral (→ Form- und Klangkunst). Funktionsweise und Ästhetik der Klänge sind beim mittelalterlichen Lied erheblich mehr als bloßer rhetorischer Schmuck. Nicht erst aus der Spätzeit des Minnesangs haben wir Lieder, bei denen sich Form- und Klangelemente so sehr verdichten, dass ihnen beim Hören verstärkte Aufmerksamkeit gegolten haben wird. Inhaltlich können die Klänge die in den Liedern verhandelte Sinnlichkeit unterstützen, doch ergeben sich auch Spannungen zwischen dem artikulierten Wohlklang und dem dargestellten Minneleid der Sänger. Insgesamt wird die Inszenierung der Liebe in den Liedern auch über den Sprachklang maßgeblich variiert und dynamisiert.
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Beate Kellner, Susanne Reichlin und Alexander Rudolph
Komplementär zur höfischen Epik erfolgt in der Lyrik ab dem zwölften Jahrhundert eine Entdeckung, Nuancierung und analytische Reflexion der Semantik der Liebe im Mittelalter. Kennzeichnend für die Gattung Minnesang ist jedoch nicht nur das Sprechen über die Liebe, sondern der Gestus der Betroffenheit des Sprechers durch die Minne. In der aus männlicher Perspektive entwickelten → Kanzone verschmelzen die Positionen des Sängers und des Liebenden zur Figur des Ich als Minnender-Singender. Die Ich-Sprecher werden nicht müde, die Authentizität ihrer Liebe zu behaupten und gegen Angriffe von Kritikern zu verteidigen. Unter den → Minnekonzepten, die in der Geschichte des Minnesangs variieren und sich auch nach den jeweiligen Gattungen unterscheiden, ist besonders die Hohe Minne hervorzuheben. Sie steht für das höfische Liebeskonzept einer unerfüllten, ethisch idealisierten und sozial distinkten Liebe, die ihre Zuspitzung im sogenannten paradoxe amoureux oder Minneparadox erfährt. Der Sänger erhofft die Erfüllung seiner Liebe zu einer Dame, die er sich gleichzeitig nicht wünschen darf, denn gäbe die Dame seinem Drängen nach, wäre sie nicht das ethische Ideal, die Beste und Vollkommene, als die er sie verehrt. Die daraus resultierende Spannung zwischen Liebeshoffnung und -enttäuschung äußert sich in wechselnden Formulierungen von vröide über den Grund zu lieben, was vielfach im Lob der vrouwe zum Ausdruck kommt, und leit darüber, dass die Liebe nicht erwidert wird. Dieses leit artikuliert sich in klage, die Anlass zu mitunter hochkomplexen Reflexionen gibt. Hierbei sind unter anderem Faktoren wie die → Zeit und Zeitlichkeit des Diensts von Relevanz, die mit Blick auf die kontinuierliche Dauer der Werbung, die Zyklik von Tag und Nacht sowie der Jahreszeiten eine Rolle spielen, sowie Aspekte der → Visualität, die etwa die Verhandlung von Nähe und Distanz sowie Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit betreffen. Neben der einseitigen unerfüllten Liebe in den aus männlicher Perspektive gesungenen Kanzonen des Hohen Sangs begegnen vom frühen bis zum späten Sang aber auch Spielarten der Liebe mit Hinweisen auf Gegenseitigkeit bis hin zur Liebeserfüllung, die auch als niedere Minne gefasst werden kann. Erfüllte Liebe zeigt sich von den Anfängen des Minnesangs an im → Tagelied. In Frauenstrophen und → Frauenliedern lassen die im deutschsprachigen Bereich durchweg männlichen Sänger auch Frauenfiguren zu Wort kommen, die – gelenkt von den männlichen Autoren – ihre Standpunkte in der Liebe, ihre Zurückhaltung, ihre Bedenken, aber auch ihre Sehnsüchte und ihr erotisches Begehren äußern. Zugleich gelingt es den männlichen Sängern, mit Hilfe der Frauenfiguren indirekt auch die Wirkung ihres Sangs auf das andere Geschlecht darzustellen. Parodistische Verkehrungen erfährt die Hohe Minne ab dem dreizehnten Jahrhundert vor allem durch ihre Versetzung ins Dörpermilieu (→ Sommer- und Winterlieder), aber auch durch andere Formen der Persiflage. Die Erforschung der im Minnesang inszenierten Liebeskonzepte ist auch für eine Rekonstruktion der Geschlechtergeschichte von nicht zu unterschätzender Bedeutung, denn die Darstellung von Geschlechterverhältnissen und Äußerungen von Begehren sind gattungskonstitutiv (→ Minnesang in gender- und queertheoretischer
Einführung
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Perspektive). Vielfach führt die Neigung des Minnesangs zur Abstraktion zu einer Uneindeutigkeit der Standes- und Geschlechtsbegriffe. So ist eine frouwe nicht nur die adlige Dame, sondern auch die Minneherrin und so können Begriffe wie wîp und maget auch auf adlige Damen übertragen werden. Indem die frouwe zur Instanz höfischer Vorbildlichkeit erhoben wird, lassen sich ihr auch Eigenschaften und Wertbegriffe zuschreiben, die nicht nur als typisiert weiblich gelten können, sondern Verbindlichkeit für alle beanspruchen und insofern man und wîp auf dieselben Ideale ausrichten und verpflichten wollen. Die Geschlechterdifferenz zeigt sich im Minnesang zudem tendenziell eher als eine der räumlichen, gesellschaftlichen oder emotionalen Distanz zwischen man und wîp denn als Unterschiedlichkeit der Geschlechter. Die Grundkonstellation der bedingungslosen Unterwerfung des Mannes unter die Minneherrin wird vielfach variiert und dient immer wieder auch als Folie für männliche Selbstermächtigung und Rachephantasien. Ebenso führt die Nichterfüllung des Begehrens zu spezifischen Strategien der Erotisierung und imaginativer Vergegenwärtigung von Körperlichkeit. Obszöne Sprechweisen begegnen nur dort, wo die Minne ins Dörpermilieu und in die Stube versetzt wird. Dagegen darf körperliche Liebe im Paradigma der Hohen Minne nur angedeutet werden, doch kommen über die Allusionen weitere Konnotationen ins Spiel und wird Imagination möglich. Insgesamt ist auffällig, dass die Lieder durch weitgehende Aussparung historischer Referenzen und Namen gekennzeichnet sind. Häufig geht es um Vorgänge des Bewusstseins und der → Imagination, insgesamt zeigt sich eine verstärkte und sehr differenzierte Reflexion auf Innerlichkeit. Immer wieder geht es den Sängern auch darum, Wesen und Begriff der Minne zu erfassen und die ‚richtige‘ (rehte) Minne von der valschen minne als der unminne abzugrenzen. In ihrer Neigung zur Abstraktion kreisen die Lieder um einen extrem schmalen Bestand an Begriffen, der sich über Lexeme wie vröide, swære, hôher muot, triuwe, stæte, fuoge, mâze und tugent beschreiben lässt (→ Minnekonzepte und semantische Felder). Der auf denotativer Ebene gegebenen lexikalischen Armut der Lieder steht allerdings eine große semantische Fülle durch den konnotativen Reichtum dieser Begrifflichkeiten gegenüber. Der Sänger stellt seine Kunst in der Variation der genannten Leitbegriffe und dessen, was auch andere über Minne sagen, unter Beweis: Minnesang als Kunstform besteht also stets in der Spannung von Wiederholung und Variation. Selten wird die geliebte Dame direkt angesprochen, meist wird über sie vor einem (inszenierten) Publikum gesungen. Wendungen an das Publikum finden sich daher häufig. Über diese kommt die höfische Gesellschaft ins Spiel und die Dyade von Sänger und Dame öffnet sich in eine triadische Konstellation (→ Der Dritte / das Dritte). Die Sänger referieren immer wieder, was andere sagen, sie lassen auch Kritiker ihrer Sangeskunst zu Wort kommen, was ihnen wiederum die Gelegenheit zu Verteidigung, Gegenrede und Diskussion der eigenen Standpunkte bietet. Dadurch dass die Stimmen der anderen zumeist in indirekter Rede wiedergegeben und einbezogen werden, entsteht ein breiter Diskursraum in den Liedern (→ Thematisiertes Singen). Hier werden nicht nur Minnekonzepte entworfen, reflektiert und analytisch zerglie-
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Beate Kellner, Susanne Reichlin und Alexander Rudolph
dert, sondern ausgehend von den Minnekonstellationen werden auch höfische Werte, Normen und Verhaltensformen diskutiert und problematisiert. Gerade indem die Lieder diesen gesellschaftlichen Diskursraum entwerfen, beanspruchen sie gesellschaftliche Bedeutung für den Minnesang und geben vor, dass der Sang gesellschaftliche Werte wie vuoge, höfischheit, hôhen muot und vröide nicht nur darstellt, sondern auch maßgeblich daran beteiligt ist, sie herzustellen, zu sichern oder auch wiederzubeleben. Insofern lässt sich der Sang nicht nur als Dienst an der Dame, sondern auch als Dienst an der Gesellschaft verstehen, denn es wird stets in gewollter Parallelität vom ‚richtigen‘ Singen, ‚richtigen‘ Minnen und ‚richtigen‘ Verhalten gesprochen. Wie eng die Liebessemantik mit gesellschaftlichen Kontexten verbunden ist, zeigt sich nicht zuletzt auch in den Leitideen von Minnedienst und Lohn, die an im Recht und im Lehnswesen zu findende Vorstellungen von Dienst und Bindung anschließen (→ Sozialgeschichte als Forschungsparadigma). Im Gegensatz zur älteren Forschung leitet man Servilitätsbekundungen heute aber nicht unmittelbar von feudalen Riten ab, vielmehr hat man erkannt, dass hier ein wesentlich breiteres Spektrum von auch lokal unterschiedlich ausgeprägten Rechtstraditionen, gesellschaftlichen Praktiken und Vertragsmodalitäten sowie personalen Verbindungen in Betracht zu ziehen ist. Bei der Entwicklung und Nuancierung der Sprache der Liebe ist in vielen Liedern zudem die Verknüpfung mit → religiöser Semantik zu greifen. Sie reicht von Analogisierungen zwischen Minnedienst und Gottesdienst bis hin zur Betonung von Spannungen, Konkurrenzen und Gegensätzen (wie z. B. in → Kreuzliedern). Häufig erfolgt die Darstellung der Minne in Anlehnung an religiöse Vorstellungen, wodurch es zu komplexen Prozessen der Übertragung und semantischen Umbesetzung zwischen religiösem und literarischem Sprechen kommt. Allenthalben wird deutlich, wie eng das Sprechen über die Minne mit dem Sprechen über die höfische Gesellschaft und den Wert des Sangs für diese, aber auch mit religiösen Vorstellungen verbunden ist. Dazu kommt die metalyrische Dimension, die sich an vielen Stellen zeigt, besonders aber im ‚Singen über das Singen‘ (→ Thematisiertes Singen). Indem die Sänger ihren eigenen Sang zum Thema machen und sich die Semantiken des Singens und des Sprechens eng verschränken, wird deutlich, dass sich Minnesang sowohl als Gesangsals auch Argumentationskunst zu erkennen gibt. Immer wieder hat die Forschung versucht, aus den Reflexionen über das Singen die implizite Poetik des Minnesangs in nuce zu erschließen sowie Gattungsregeln abzuleiten und aus dem intertextuellen Zusammenspiel der Belege eine proto-ästhetische Diskussion der Sänger zu konturieren. Zugleich hat man im Singen über das Singen Hinweise auf die Pragmatik, die historischen Vortragssituationen und die gesellschaftlichen Funktionen des Minnesangs gesehen. Von Interesse ist hier besonders die deiktische Sprechweise, denn über Deiktika wird das Singen im Hier und Jetzt (hie, nu, hiute) situiert. Ob man hierin Spuren einer realen Vortragssituation sehen kann, bleibt allerdings fraglich und ist dementsprechend auch in der Forschung umstritten. Was den Anschein eines präsentischen Sprechens (nu) in einen konkreten Raum (hie) erweckt, kann nämlich
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auch auf iterative Sprechakte in einem (realen oder nur imaginierten) Raum referieren, der sich nicht mit demjenigen decken muss, aus dem heraus das Ich spricht. Die Referenz der Deiktika ist daher nur scheinbar einfach und klar, häufig gibt es Mehrdeutigkeiten und mehrfache Referenzmöglichkeiten. Methodisch ist es daher nicht unproblematisch und birgt die Gefahr von Zirkelschlüssen, aus der Deixis der Lieder unmittelbare Rückschlüsse auf die realen Vortragssituationen ziehen zu wollen. Doch gibt die Gesamheit der Aussagen – wenn auch ohne Anspruch auf Vollständigkeit – historisch denkbare Vortragsmöglichkeiten zu erkennen. Historiographische Quellen, die uns über die Pragmatik des Minnesangs Aufschluss geben könnten und konkrete Informationen zu den Orten, der Häufigkeit des Singens, den Rezipienten und der Art der musikalischen Darbietung enthalten, fehlen nahezu ganz, die überlieferten literarischen Quellen sind spärlich und bisweilen wenig aussagekräftig (→ Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs). Das Bildmaterial der großen Sammelhandschriften aus der Zeit um und nach 1300 spiegelt wahrscheinlich nicht die ursprünglichen Verhältnisse der Praxis des früheren Sangs. Wie man sich den Vortrag von Minneliedern im multimedialen Zusammenspiel von Stimme, Klang, Gestik und Interaktion des Sängers mit den Rezipienten zu denken hat, lässt sich angesichts dieser Quellenlage aus den erhaltenen Schrifttexten nur erahnen. Während die ältere Forschung lange Zeit vom Vortrag der Lieder bei höfischen Festen ausging, nimmt man heute eher ein Nebeneinander von Darbietungen in geselliger Runde, im exklusiven Zirkel der Minnesangkenner oder bei feierlichen Anlässen sowie auch Singen vor und zu der Dame an. Da Minnesang Teil der europäischen Liebesdichtung im Mittelalter ist, sind die europäischen Kontexte, möglicherweise auch Verbindungen zur arabischen Liebeslyrik, bei seiner Erforschung mitzudenken. Dass der deutsche Minnesang zumindest ab dem letzten Drittel des zwölften Jahrhunderts enge Verflechtungen mit der Romania zeigt, ist evident. Während der deutschsprachige höfische Roman im zwölften und dreizehnten Jahrhundert Narrative aus Nordfrankreich adaptiert, übernimmt der Minnesang überwiegend und zuerst lyrische Traditionen aus der Südhälfte Frankreichs, dem sogenannten Okzitanischen (→ Altokzitanische Lyrik). Es werden jedoch tendenziell keine vollständigen Texte adaptiert, sondern einzelne Motive, Bilder, Formmerkmale, Töne sowie vor allem auch das Konzept der höfisch idealisierten Liebe, die fin’amors und der Dienstgedanke. Auch die Subgattungen der Kanzone und des Tageliedes haben ihre Ursprünge in der romanischen Canso und der Alba. Die okzitanische Lyrik strahlte nicht nur in die deutschsprachigen Länder aus, sondern zeigte ihre Wirkung ebenso in den nordfranzösischen (→ Liebeslyrik in Nordfrankreich), den katalanischen, portugiesischen und ganz besonders in den italienischen Dichtungstraditionen (→ Italienische Liebeslyrik des Mittelalters). Auch wenn die nordfranzösischen Sänger (trouvères) im Verlauf von drei Jahrhunderten zwischen 1150 und 1450 durchaus eigene Wege gingen, blieb ihre Dichtung auf die Trobadordichtung bezogen. In Italien bediente man sich zunächst der neuen Dichtersprache
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des Okzitanischen, auch die großen Liederhandschriften der okzitanischen Trobadordichtung entstehen hier. Vor diesem Hintergrund ist die Gründung der sizilianischen Dichterschule durch Friedrich II. zu sehen, in der schließlich das Italienische den Weg in die Dichtung fand. Während die Forschung sich stark für die Übernahmen aus der Romania in den Minnesang interessiert hat, wurde die Frage nach Transferprozessen zwischen der mittellateinischen und deutschen Liebeslyrik weit weniger gestellt. Dies mag mit den gänzlich anderen Produktions- und Rezeptionsbedingungen der lateinischen Liebesdichtung zu tun haben (→ Die Lateinische Liebesdichtung im Mittelalter). Die lange vorherrschende Meinung, die lateinische Liebeslyrik sei von Studenten und Vaganten verfasst, hat sich als unhaltbar erwiesen. Vielmehr gilt, dass die Liebeslieder trotz ihrer weltlichen erotischen Prägung im gelehrten Milieu des Klerus entstanden sind und auch für Kleriker verfasst wurden. Bei einer Reihe von Autoren lässt sich sogar nachweisen, dass sie kirchliche Ämter und Funktionen innehatten. Entscheidend für die Entfaltung der lateinischen Liebesdichtung im zwölften und dreizehnten Jahrhundert sind die weltlichen und geistlichen Höfe sowie die Kathedralschulen und die Neugründungen der sich formierenden Universitäten. Von Interesse sind Fragen, wie sich die in der lateinischen Liebesdichtung zu beobachtende freudenvolle Frühlingsstimmung, der Schönheitspreis und schließlich auch die Konzeptualisierung von Liebe und Begehren zu Natureingang (→ Natur und Natureingang), Damenlob und Minnekonstellationen in der deutschsprachigen Liebeslyrik verhalten. Vergleichen ließen sich auch die Reflexionen über Medialität, Produktion und Wirkung, die sich sowohl in der gelehrt lateinischen Liebesdichtung als auch im deutschsprachigen Minnesang finden, allerdings auf je spezifische Weise. Die Verbindungen der lateinischen Liebesdichtung des Mittelalters zur Trobadorlyrik, zum Minnesang und zur altitalienischen Tradition werden besonders in Kontrafakturen deutlich, aber auch im geteilten Bestand von Motiven, Topoi und Gattungen. Darüber hinaus zeigen sich in den Gedichten der Carmina Burana auch explizite Bezüge zur deutschsprachigen Lyrik sowie eine ganze Reihe von deutsch-lateinischen Liebesgedichten. Neben den Transferprozessen zwischen der Romania und den deutschen Ländern sowie zwischen der lateinischen und deutschsprachigen Liebesdichtung sind jedoch auch Verbindungen des deutschen Minnesangs mit der → niederländischen und → alttschechischen Lyrik zu bedenken. Die frühesten Strophen und Lieder des deutschen Minnesangs lassen sich um 1150 greifen, zeitlich erstreckt sich die Gattung von der Mitte des zwölften Jahrhunderts bis ins vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert. Die ältere Forschung hat die Geschichte des Sangs über Leitvorstellungen von ‚Minnesangs Frühling‘3 und ‚Minnesangs Wende‘4 3 MF, bis heute eine Standardausgabe für die Lieder des zwölften Jahrhunderts und um 1200. 4 So der Titel von Kuhn 1967. Vgl. Ausführungen und Angaben dazu in den Artikeln → Geschichte(n) des Minnesangs und → Form- und Klangkunst.
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in einem teleologischen Paradigma von Aufstieg, Höhepunkt und Verfall gefasst (→ Geschichte[n] des Minnesangs). Entlang dieser Linien wurden verschiedene ‚Phasen‘ und ‚Schulen‘ des Minnesangs entworfen,5 deren zeitliche, räumliche und personelle Abgrenzungen voneinander als zu spekulativ zu betrachten sind. In den stark wertenden Entwürfen einer Geschichte der Minnelyrik wurde der Sang nach Walther zudem nicht selten als tendenziell schematisch, als bloße Formakrobatik und als weitgehend inhaltsleer abgetan. Diesem Urteil wird man aus heutiger Sicht nicht nur entgegentreten, indem man Sänger des dreizehnten Jahrhunderts wie → Burkhard von Hohenfels oder den Wilden Alexander und Sänger des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts wie → Frauenlob, → Heinrich von Mügeln und → Oswald von Wolkenstein als Gegenbeispiele ins Feld führt, vielmehr ist das gesamte Paradigma in Frage zu stellen und zu ersetzen. Heute versucht man die Geschichte des Sangs eher über Räume mit regionalen Schwerpunkten, über Personenkonstellationen, die sich aus intertextuellen Bezügen erschließen lassen, und über Netzwerke zu rekonstruieren. Hier hat die Forschung eine Reihe von Unwägbarkeiten zu bedenken: Nicht selten divergieren nämlich die Autorzuschreibungen in den Handschriften und geben sich historisch als nicht zuverlässig zu erkennen. Dazu kommt, dass die Namen der Sänger keineswegs immer auf historisch belegbare und daher auch räumlich lokalisierbare Personen führen, denkt man etwa nur an Namen wie Der Wilde Alexander, Niune oder Rubin. Schließlich lässt sich die Lebenszeit der Sänger auch dann oft nicht genau bestimmen, wenn es sich um historisch verbürgte Personen handelt. Kann man die Lebenszeit von Sängern über Urkunden eingrenzen, bleibt dennoch die Schaffenszeit in der Schwebe. Weiterhin bleibt oft unklar, vor welchem Publikum ein Sänger gesungen hat, welche anderen Sänger er kannte und mit wem er vielleicht Austausch pflegte. Vielfach erweist sich auch die regionale Einordnung der Sänger über Spuren des Dialekts als unsicher. Zudem finden sich Hinweise auf historische Ereignisse im Minnesang äußerst selten. Es fehlen also all jene Daten, die in den Neuphilologien genutzt werden, wenn Zusammenstellungen von Autoren zu Gruppen und Epocheneinteilungen vorgenommen werden. Etwas mehr Bodenhaftung hat man lediglich bei denjenigen Autoren, die auch Sangsprüche verfasst haben, da diese mehr historische, politische und biographische Informationen bieten als der Minnesang. Das neue Modell der → Geschichte(n) des Minnesangs, das im Handbuch vorgelegt wird, geht angesichts all dieser Unwägbarkeiten stärker von den Texten als den Autoren aus und ordnet sie anhand der Kategorien Komponenten, Konfigurationen, Cluster und Dominanten, um auf diese Weise die Vielstimmigkeit des Minnesangs im zwölften Jahrhundert, aber auch seine Professionalisierung um 1200 und die Neueinsätze sowie die Pflege der Tradition im langen dreizehnten Jahrhundert in den Blick zu
5 So vor allem im einflussreichen Einführungsbuch Schweikle 1995. Vgl. Ausführungen und Angaben dazu im Artikel → Geschichte(n) des Minnesangs.
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bringen. Es konzentriert sich auf den Minnesang bis um circa 1300, der in den großen Liederhandschriften (A, B, C) überliefert ist. Für den späten Minnesang des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts ist es kennzeichnend, dass er seinen Status als wesentlicher Bestandteil der höfischen Kultur zunehmend einbüßt und Liebeslyrik in der Tradition des Minnesangs nun vornehmlich von einzelnen Autoren praktiziert wird, die zumeist auch und vor allem in anderen Gattungen dichten. Ihre Liebeslieder werden zudem überwiegend nicht mehr in Liederhandschriften tradiert, die mehrere Autoren versammeln, sondern hauptsächlich in autornahen Werksammlungen. Dementsprechend wird der Minnesang des Spätmittelalters im Handbuch hauptsächlich mit Blick auf einzelne prominente Vertreter wie → Heinrich von Mügeln (vierzehntes Jahrhundert) und → Oswald von Wolkenstein (fünfzehntes Jahrhundert) thematisiert. Im Verlauf seiner Geschichte bildet der Minnesang eine Reihe von Subgattungen aus oder übernimmt sie aus der Romania. Als Komplement zum Haupttyp, der aus männlicher Perspektive gesungenen → Kanzone, ist das → Frauenlied zu betrachten. Im → Kreuzlied steht die Spannung von Minne- und Gottesdienst im Zentrum. → Dialoglied, Wechsel und Botenlied präsentieren mehrere Sprechinstanzen und Adressaten. → Tanz-, → Sommer- und Winterlieder erklären sich aus den jeweiligen Anlässen, die in ihnen verhandelt werden. Mit dem → Tagelied kommt eine stärker narrative Gattung ins Spiel, welche die Erfüllung der Liebe voraussetzt. Tendenzen zur Narrativierung, die wir im Minnesang an verschiedenen Stellen finden, verstärken sich im → Erzähllied. Gattungen und Gattungsgrenzen sind historisch wandelbar. Ab wann beispielsweise Minnesang und Sangspruch als distinkte Lyrikformen wahrgenommen worden sind – schon vor oder erst nach Walther? –, ist umstritten. Wie eingangs gesehen, gab es keine festen Gattungstermini, aber doch Aussagen (sowie Anordnungen von Liedern in Handschriften), die auf einen differenzierten Umgang mit verschiedenen Textsorten schließen lassen. Allerdings gilt dies vor allem für die drei mittelalterlichen Lyrikgattungen Minnesang, Sangspruch und Leich und nur in geringerem Maße auch für die Subgattungen. Deshalb sind neben den Gattungsunterscheidungen auch die unscharfen Ränder und die Gattungsinterferenzen relevant: Sowohl innerhalb der lyrischen Subgenera als auch im Verhältnis zum Sangspruch (→ Sangspruch – Minnesang) und zur Epik (→ Narrative Interferenzen im Minnesang) wird mit Gattungsinterferenzen gespielt und werden die Lieder mit Elementen aus anderen Gattungstraditionen angereichert. Das Bild, das sich die Forschung von einzelnen Minnesang-Autoren gemacht hat, wurde immer auch durch die Autorminiaturen in den großen Minnesanghandschriften B und C geprägt (→ Autorbilder). In diesen wird der Liedproduzent fast immer in einem höfischen Kontext gezeigt. In vielen Bildern kommuniziert er mit der Dame, häufig ist er aber auch alleine dargestellt und nur in wenigen Bildern kommen typische Attribute von Autorschaft (Griffel, Wachstafel, Diktierszene) vor. Gleichwohl macht die Gliederung der drei großen Handschriften nach Autor- und Corpusprinzip deutlich, dass der Textautor zumindest in der Zeit um 1300 eine relevante Größe für die Minnesang-Rezeption war.
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Im Handbuch können naturgemäß nicht alle Sänger mit ihren individuellen Œuvres berücksichtigt werden, doch haben wir uns für eine repräsentative Auswahl entschieden, die einerseits die kanonischen Autoren umfasst, andererseits die Vielfalt der Spielarten des Minnesangs zumindest andeutet. Während → der Kürenberger, der einer frühen Tradition des Minnesangs zugerechnet wird, sowie die klassischen Autoren → Heinrich von Morungen, → Reinmar der Alte, → Walther von der Vogelweide und → Neidhart in Einzelartikeln vorgestellt werden, wurden bei anderen Autorenpaare gebildet: → Heinrich von Veldeke und Hartmann von Aue werden als Epiker vorgestellt, die auch Lyrik verfasst haben. An → Gottfried von Neifen und Burkhard von Hohenfels lässt sich gerade im Vergleich der beiden Œuvres die Frage stellen, ob und was sich im Minnesang im späten dreizehnten Jahrhundert ändert. Hier schließt auch das Œuvre von → Konrad von Würzburg an, in dem mit den Gattungsdifferenzen von Minnesang und Sangspruch gespielt und mit Klang und Form in gesteigertem Maße experimentiert wird. → Hadlaub und Steinmar führen die Tradition des Minnesangs um 1300 fort und entwickeln hierbei insbesondere einzelne Subgattungen (→ Tagelied, → Erzähllied) weiter. Im vierzehnten Jahrhundert erweitern → Frauenlob und Heinrich von Mügeln den Minnesang um naturphilosophisches Wissen und religiöse Redetraditionen. Mit → Ulrich von Liechtenstein (dreizehntes Jahrhundert) und Oswald von Wolkenstein (fünfzehntes Jahrhundert) werden zwei Autoren im Verbund vorgestellt, deren Lieder zwar in großem zeitlichen Abstand zueinander entstanden sind, die insbesondere mit Blick auf ihr jeweiliges Spiel mit Elementen des Autobiographischen aber auch Parallelen aufweisen. Nachdem Tradition und Praxis des Minnesangs im Laufe des Spätmittelalters an Bedeutung verlieren und die Verhandlung von Liebesthematik sich zunehmend in anderen Gattungen wie dem Gesellschaftslied vollzieht, beginnt die Wiederentdeckung des Minnesangs im Humanismus, als der Schweizer Melchior Goldast von Haiminsfeld die Manessische Liederhandschrift findet und Proben daraus ediert. Im Rekurs auf Goldast zitiert Martin Opitz in seinem ‚Buch von der Deutschen Poeterey‘ (1624) verschiedene Strophen Walthers von der Vogelweide und hebt die Bedeutung von Minnesängern und Spruchdichtern hervor.6 Im achtzehnten Jahrhundert sind es vor allem Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, die sich große Verdienste um die weitere Veröffentlichung der Lieder des Codex Manesse erwerben. Ihnen geht es vor allem darum, am Beispiel der Minnelieder den Reichtum der alten deutschen Sprache zu zeigen und zugleich aus den Liedern den Charakter, das Denken und die Sitten der deutschen Vorfahren zu erschließen. Ganz in diesem Sinne ruft Herder seine Landsleute auf, solche Schätze der Vergangenheit zu heben und
6 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Mit dem Aristarch (1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen Teutschen Poemata (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der Trojanerinnen (1625). Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2013 (RUB 18214).
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nach der ‚verklungenen Stimme der Väter‘ zu suchen.7 Für die Romantiker wird das Mittelalter zur Utopie, insofern gelten die Minnelieder Autoren wie Ludwig Tieck oder Ludwig Uhland als Ausdruck der Unschuld, Naivität und Natürlichkeit der altdeutschen Dichtung. Mit Friedrich Heinrich von der Hagens Edition beginnt schließlich die wissenschaftliche Erschließung des Minnesangs im engeren Sinne. Neben und oft verbunden mit den genannten humanistischen, antiquarischen, romantischen und auch nationalen Interessen der Wiederentdeckung des Minnesangs gab es eine reiche literarische und musikalische Rezeption (→ Minnesangrezeption literarisch, → Die Rezeption des Minnesangs in der Musik). Zu denken ist hier nicht nur an die romantischen Adaptationen, wie sie uns etwa in Tiecks ‚Minnelieder[n] aus dem schwäbischen Zeitalter‘ von 1803 und Wilhelm Müllers ‚Blumenlese aus den Minnesingern‘ von 1816, aber auch in E. T. A. Hoffmanns Novelle ‚Der Kampf der Sänger‘ (1819) vorliegen, sondern auch an Friedrich Rückerts ‚Lieder und Sprüche der Minnesinger‘ (1837) sowie an Rühmkorfs ‚Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich‘ (1975) oder schließlich auch an die neuere Anthologie ‚Unmögliche Liebe‘ von 2017 mit ihren zeitgenössischen Übertragungen mittelalterlicher Minnelieder.8 Dass Minnesang und Minnesänger es auch über Richard Wagners ‚Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg‘ (Dresden 1845) auf die Opernbühne schafften, wird heute oft vergessen. Die musikalische Rezeption führt aus Frankreich, wo der style troubadour Ende des achtzehnten Jahrhunderts in der Literatur, in der Malerei, in Kunstgewerbe und Kleidung sowie in der Musik in Mode kam, sowie aus Italien in den deutschsprachigen Raum. Zu erwähnen ist jedoch nicht nur die Oper, sondern etwa auch die Rezeption des Minnesangs im Klavierlied und im Chorsatz sowie die zahlreichen Versuche einer Wiederaufführungspraxis der Minnelieder durch Ensembles der Neuzeit.
Zur Zitierweise Die Angaben zur Forschung, auf die in den einzelnen Artikeln des Handbuchs verwiesen wird, finden sich jeweils am Ende der Artikel in einem eigenen Literaturverzeichnis. Auf die Primärliteratur wird im Falle von Minnesang-Ausgaben sowie bei weiterer Primärliteratur, die häufiger zitiert wird, mit Kürzeln verwiesen, zu denen sich die Angaben im Abkürzungsverzeichnis finden. Wird Primärliteratur zitiert, die nur für einen einzelnen Artikel von Relevanz ist, kann diese ebenfalls im Literaturver-
7 Johann Gottfried Herder: Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, nebst verschiednem, das daraus folget (1777). In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher u. a. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur. 1767–1781. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M. 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker 95), 550–562, hier 558. 8 Vgl. Ausführungen und Angaben dazu im Artikel → Minnesangrezeption literarisch.
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zeichnis am Ende des Artikels aufgeführt sein, eingeordnet unter dem Herausgebernamen. In diesem Falle wird auf ein Kürzel verzichtet. Da fast alle Editionen ihre Vorzüge und Nachteile haben, haben wir die Wahl der Textausgabe, aus der Primärtext-Passagen zitiert werden, den Verfasserinnen und Verfassern überlassen. Die Schreibweise der Autorennamen orientiert sich einheitlich am Verfasserlexikon (2VL). Bei den teils sehr unterschiedlichen Modi, nach denen aus den Minnesang-Ausgaben zitiert werden kann, haben wir uns um eine behutsame Vereinheitlichung bemüht. Sie verfährt nach folgenden Prinzipien: – Für eine bessere Auffindbarkeit der zitierten Stellen werden durchgehend Strophen- und Verszahl angegeben, d. h. auch bei ‚Des Minnesangs Frühling‘ (MF) und den Walther-Ausgaben (L).9 – Die Liedangabe erfolgt bei MF und L wie üblich über die Seiten- und Zeilenangabe der Erstausgabe (z. B. MF 124,32; L 69,1). Die Strophe wird zur besseren Unterscheidung mit römischen Ziffern angegeben, die Verse mit dem Kürzel V. und der Verszahl (z. B. MF 124,32, II, V. 1–2). Bei Ausgaben wie L/BEIN, die unterschiedliche Fassungen abdrucken, wird in mehrdeutigen Fällen zusätzlich angezeigt, nach welcher Handschrift sich die Strophenzahl richtet.10 – Bei allen weiteren Minnesang-Ausgaben erfolgen die Angaben über das AusgabenKürzel, die Liednummer und Strophenzahl (in arabischen Ziffern, mit Komma ohne Spatium verbunden) sowie die Verszahl (z. B. Gottfried von Neifen KLD 3,1, V. 1–4). Bei den Ausgaben, deren Zählung nicht in Form von Liednummern verfährt, sondern über Ton- und Strophennummer (Frauenlob GA und Heinrich von Mügeln STMN) oder Handschriftenzählung (Neidhart SNE I–II), entsprechen die Liedangaben der Zählweise in der jeweiligen Ausgabe; die Strophenzahl wird jedoch einheitlich in arabischen Ziffern angegeben (z. B. STMN XVI,1, V. 13–16; SNE I: R 3,1, V. 1–2). – Bei Verweisen auf die neue digitale Edition ‚Lyrik des Mittelalters‘ (LDM) wird für Liedangaben das dortige Zitierprinzip mit Autor- und Handschriftenkürzel sowie Strophenzahl in der Handschrift übernommen (z. B. LDM J WAlex 30–36). – Folgen mehrere Zitate aus demselben Lied beziehungsweise derselben Strophe aufeinander, wird ab der zweiten Angabe nur noch die Strophen- und/oder Vers zahl angegeben.11
9 Die Ausnahme bilden Angaben zu Sangspruch-Strophen in L und Stellenangaben zum frühen Minnesang (Kürenberger, Meinloh von Sevelingen), wo ein Ton mehrere Texte umfasst. Hier wird die Stellenangabe zur Einzelstrophe genannt, gegebenenfalls ergänzt um eine Versangabe (z. B. Der von Kürenberg MF 8,33, V. 4). 10 Zitieren die Artikel bei den Walther-Ausgaben (L) ältere Ausgaben als die aktuelle (L/BEIN), wird dies im Zweifelsfall in einer Fußnote ausgewiesen. 11 Dies gilt auch im Fall von LDM. So werden beispielsweise beim Lied LDM J WAlex 30–36 bei mehreren aufeinanderfolgenden Zitaten die Einzelstrophen ab der zweiten Angabe als Str. 1–7 angegeben.
Überlieferung und Edition
Franz-Josef Holznagel
Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge 1 Hinführung1 Als eines der ersten Zeugnisse für die mittelhochdeutsche Liebeslyrik gilt das berühmte Falkenlied des → Kürenbergers (MF 8,33 und 9,5). Die beiden vierzeiligen Strophen werden gemeinhin auf die Zeit zwischen 1150 und 1170 datiert, sie sind allerdings erst rund 150 Jahre später, in der Großen Heidelberger Liederhandschrift C und in den mit ihr verwandten Budapester Fragmenten Bu, aufgezeichnet worden.2 Die Tradierungsgeschichte von der mündlichen Aufführung des Liedes durch den Autor bis zum Zürcher Umkreis der Manesse kann nur schwer rekonstruiert werden; die einschlägige Forschung zu C und Bu rechnet indes damit, dass zunächst Formen der oralen Überlieferung mit mehr oder minder sporadischen Verschriftungstechniken3
1 Die in diesem Beitrag erwähnten Handschriften werden mit der Hilfe eines Siglensystems identifiziert, das auf Karl Lachmanns Walther von der Vogelweide-Editionen (1827; 1843) und die erste Ausgabe von ‚Des Minnesangs Frühling‘ (1857) zurückgeht und dann in der nachfolgenden Forschung erweitert und ausdifferenziert worden ist. Neben den späteren Bearbeitungen dieser beiden zentralen Editionen (besonders L/Cor 1996; L/Bein 2013; MF 1988) sind in diesem Zusammenhang die klassischen Minnesang-Anthologien SMS (1886; 1990) und KLD (1952; 1978) sowie die Werkausgaben mit der Lyrik Neidharts (NL 2 1923; SNE 2007) und Frauenlobs (GA 1981) besonders wichtig. Die Siglen der Haupthandschriften A–F sowie M und J bleiben in den Editionen gleich; dies gilt auch für die Abkürzungen Bu, Ca oder Cb. Die Referenzen auf die Textzeugen der sogenannten Streuüberlieferung variieren jedoch gelegentlich; in diesen Fällen werden mehrere Siglen angegeben (in der historischen Reihenfolge der Ersteditionen). Alle Siglen werden am Ende des Beitrags in einer Liste aufgelöst; diese Liste ist zugleich ein Katalog der wichtigsten Textzeugen der Minnesangüberlieferung. – Die Forschungsliteratur zu den Handschriften ist außerordentlich groß; aus ihr können nur ausgewählte Beiträge zu denjenigen Textzeugen nachgewiesen werden, die im Mittelpunkt der Darstellung stehen. Weitergehende Literatur findet sich in den Handschriftenbeschreibungen der oben angegebenen Editionen, im RSM sowie in den Einträgen des Handschriftencensus (www.handschriftencensus.de). Vgl. überdies die folgenden übergreifenden Beiträge: Kornrumpf 1981a; Kornrumpf 1981b; Schanze 1982–1984; Voetz 1988; Bein 1998; Kornrumpf 1989; Holznagel 1995b; Kornrumpf 1999a; Holznagel 2001; Schwob und Vizkelety 2001; Holznagel 2006; Kornrumpf 2008; Hellgardt 2011; Wachinger 2011; Kössinger 2013a; Haustein und Körndle 2010. 2 Zu den Handschriften C und Bu siehe weiter unten. 3 Die reine Umsetzung vom gesungenen Lied in einen geschriebenen Text, also der bloße Übergang von einem phonischen in ein graphisches Medium, soll hier, im Anschluss an Koch und Oesterreicher 1985 sowie Oesterreicher 1993, als ‚Verschriftung‘ bezeichnet werden. Dem gegenüber ist der Prozess der ‚Verschriftlichung‘ der mittelhochdeutschen Lyrik zu unterscheiden, in dessen Verlauf sich für diese Textsorte ein ganz eigenständiges Aufschreibesystem von wenigstens partiell miteinander vernetzen Textzeugen entwickelt. https://doi.org/10.1515/9783110351859-002
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ineinandergegriffen haben, bis dann der Liedtext um 1250, im Zuge der großen Thesaurierung der mittelhochdeutschen Lyrik durch den Sammeltyp der nach Autor- und Corpusprinzip organisierten Liederhandschrift, in die gemeinsame Vorstufe von C und Bu gelangte (*BuC) und dadurch den Skriptorien zugänglich gemacht wurde, in denen die heute noch erhaltenen Codices entstanden sind. Im vierzehnten, fünfzehnten Jahrhundert, nach dem Zusammenbruch der auf die höfische Liedkunst des Hochmittelalters spezialisierten Aufzeichnungssysteme, verliert sich die Spur des Falkenliedes in der Schriftlichkeit. Umso überraschender ist es, dass 1574, also ca. 250 Jahre nach Abschluss von C, auf Bl. 60v der Berliner Niederrheinischen Liederhandschrift eine sprachlich aktualisierte, überarbeitete und zu zwei Strophen erweiterte Fassung der Verse MF 8,33–9,4 eingetragen wurde,4 welche nicht nur charakteristische Formulierungen des Ausgangstextes erkennen lässt, sondern die auch in der alten Strophenform, in Kürenberges wîse (MF 7,19, II, V. 3), abgefasst ist.5 Die Überlieferungsgeschichte des Minnesangs kann also lang und sehr verschlungen sein. Das Ziel des nachfolgenden Beitrages ist es, innerhalb dieses komplexen Traditionszusammenhangs die entscheidende Phase des Verschriftlichungsprozesses zu beschreiben, auf dem unser ganzes Wissen von den Inhalten und den Formen des Minnesangs beruht und der von der → Edition bis zur Interpretation die selbstverständliche Grundlage für eine jede wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser literarischen Gattung bildet. Diese Phase beginnt um 1230, mit den ersten Aufzeichnungen einzelner Strophen und Lieder, und endet um 1350 mit den auslaufenden Bemühungen um eine systematische Sammlung der mittelhochdeutschen Lyrik in den Nachtragsschichten der drei großen Liederhandschriften A, B und C, in der Jenaer Liederhandschrift J sowie in den Lyrikcorpora des Hausbuchs des Michael de Leone E. Sie ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sich nach und neben anderen Aufzeichnungstypen die umfangreiche, nach dem Autor- und Corpusprinzip gestaltete Sammelhandschrift als das zentrale mediale Format für die Verschriftlichung des Minnesangs durchsetzt; insbesondere dieses Nebeneinander verschiedener Überlieferungstypen und den herausstechenden Rang der großen mittelhochdeutschen Lyrikcodices gilt es im Folgenden herauszuarbeiten. Das geschieht mittels eines typologisierenden Überblicks über einen Bestand von über 30 Handschriften, vorwiegend des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, in denen sich Dichtungen mit weltlicher Liebesthematik finden, die in mittelhochdeutscher oder (selten) mittelnieder-
4 Vgl. Kopp 1902, Nr. 32. 5 An diese beiden Strophen schließt sich ein zeittypisches dialogisches Abschiedslied an. In der Minnesangforschung ist dieser späte Reflex des Falkenliedes kaum beachtet worden. Vgl. aber von Kraus 1950, 335, sowie Wehrli 1984, 759–761.
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deutscher Sprache tradiert worden sind, eine strophische Organisation aufweisen und wenigstens potentiell als sangbar6 gelten dürfen.7 Die Konzentration der Darstellung auf die Überlieferung von 1230 bis ca. 1350 rechtfertigt sich mit der grundlegenden Bedeutung, die dieser Tradierungsphase zukommt. Sie ist allerdings mit der Entscheidung verbunden, hier weder die frühe, vermutlich zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit changierende Weitergabe des Minnesangs im zwölften Jahrhundert anzusprechen, noch die komplizierte Rezeptionsgeschichte des klassischen Minnesangs unter den gänzlich anders gelagerten Bedingungen des spätmittelalterlichen Schrift- und Literaturbetriebs zu entfalten. In beiden Fällen erklärt sich die Ausgrenzung aus (freilich unterschiedlichen) methodischen Gründen: Während der Rekonstruktion früher Überlieferungswege wegen eines Mangels an aussagekräftigen Zeugnissen zu enge Grenzen gezogen sind, fehlt es für die Nachzeichnung der Minnesang-Rezeption in den Handschriften und Frühdrucken des vierzehnten bis sechzehnten Jahrhunderts an einer systematischen Erfassung des Materials.8
2 Typen der Minnesangüberlieferung von den Anfängen bis ca. 1350 Bei Textzeugen des Minnesangs können mit Blick auf ihr unterschiedlich enges Verhältnis zu bereits etablierten Formen der Literalität drei Haupttypen unterschieden werden: I. Einzelaufzeichnungen in fremder Umgebung, II. Sammlungen lyrischer Texte, die im Kontext gattungsübergreifender Mischhandschriften als eigenwertige Abschnitte des Haupttextes eingetragen worden sind,
6 Ausgenommen werden kürzere Texte in Versen, die zwar gelegentlich als Minnelieder bezeichnet worden sind, die aber aus verschiedenen Gründen anderen literarischen Traditionen zuzurechnen sind. Hierzu zählen u. a. Stücke, die in den Bereich der geistlichen Literatur gehören und bei denen überdies kein hinreichender Grad an strophischer Organisation zu erkennen ist. Das ist z. B. bei dem Eintrag in der Handschrift Wien, ÖNB: Cod. 193, Bl. 188v, der Fall. Vgl. Kössinger 2013a, 55, Eintrag Nr. 24. Unberücksichtigt bleiben auch kürzere Texte, die, wie der bekannte Einschub Dû bist mîn, ich bin dîn (MF T), in Reimprosa abgefasst sind. Vgl. Kühnel 1977. 7 Dabei muss man sich stets vor Augen führen, dass der Minnesang oftmals zusammen mit den anderen Formen der mittelhochdeutschen Lyrik tradiert worden ist; dem Ziel des vorliegenden Handbuchs entsprechend sollen jedoch die Aufzeichnungsweisen, die überwiegend für den zeitgenössischen Sangspruch oder für die Leichdichtungen entwickelt worden sind, nur als Vergleichs- oder Kontrastphänomene angesprochen werden. 8 Eine Untersuchung zur Überlieferung des klassischen Minnesangs in den Handschriften und Drucken des Spätmittelalters ist in Vorbereitung.
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III. Textzeugen, die ausschließlich oder weitgehend der schriftlichen Fixierung von Minneliedern, Sprüchen und Leichs dienen und nur am Rande Texte anderer Gattungen mit überliefern.9
3 Einzelaufzeichnungen in fremder Umgebung Lyrikaufzeichnungen des Typs I treten hauptsächlich als Einschübe oder aber als sporadische Nachträge in fremder Umgebung auf. Für beide Formen der Überlieferung ist es charakteristisch, dass sich das Sammlerinteresse oftmals mit der Aufzeichnung von wenigen Strophen begnügt. Sie unterscheiden sich jedoch durch ihre Stellung im Überlieferungsverbund: Für die Einschübe ist es kennzeichnend, dass sie so stark in den (zumeist lateinischen) Kontext integriert worden sind, dass sie, unabhängig von einer möglichen Herkunft aus der Tradition der deutschsprachigen Lyrik, nicht (mehr) als selbständige literarische Einheiten rezipiert werden, sondern als Beiträge zu einem intertextuellen Dialog fungieren sollten. Für die sporadischen Nachträge war es hingegen nur entscheidend, dass sich in einem Codex oder auf einem anderen schriftlichen Dokument eine geeignete Stelle für eine nachträgliche Aufzeichnung fand; eine Interaktion zwischen dem lyrischen Eintrag und seiner Umgebung ist gleichwohl möglich, im Falle der in dieser Weise tradierten Minnesangstrophen bleibt sie aber die Ausnahme.10
9 Kössinger 2013a, 60–62, schlägt für seine Darstellung der Lyriküberlieferung bis ca. 1300 eine andere Typologie vor, die an Wolfgang Haubrichs kontextueller Typologie althochdeutscher Texttradierungen angelehnt ist. Er unterscheidet zwischen 1. ‚autonomer‘ und 2. ‚korrelierter‘ Überlieferung, wobei letztere noch einmal unterteilt wird (a) in eine ‚eingebettete‘ und (b) in eine ‚limitane‘. Typ 1 entspricht in etwa dem Typ III der hier vorgeschlagenen Differenzierung, Typ 2 dem Typ I. Der Nachteil von Kössingers Unterscheidung ist grundsätzlich, dass sie an Handschriften entwickelt worden ist, die unter deutlich anderen historischen Bedingungen entstanden sind, und dass sie aus diesem Grund die Durchsetzung des für die Lyriküberlieferung so wichtigen Autor- und Corpusprinzips aus dem Blick verliert. Außerdem wird die Darstellung der Überlieferungsgeschichte zu sehr vereinfacht, weil in der Analyse der enorm wichtige und aufschlussreiche Sammeltyp II nicht berücksichtigt wird, obwohl er bis 1300 bereits mehrfach vorkommt. Vgl. dazu weiter unten. 10 Vgl. z. B. den Nachtrag in Frauenlob v (siehe weiter unten). – Für die sangspruchartigen Nachträge in fremder Umgebung ist die Sachlage anders; bei ihnen kann regelmäßig eine Beziehung zur Mitüberlieferung nachgewiesen werden, weil sie sich aufgrund ihrer diskursiv-erörternden Grundhaltung vorzüglich dazu eignen, den Kotext oder einzelne Passagen aus diesem zu kommentieren. Zu den Nachträgen, die in den Bereich der Leich- oder Sangspruchüberlieferung gehören, vgl. Holznagel 2001, 110–113.
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Nachträge Das früheste Beispiel eines Nachtrags von Minneliedern ist um 1250 zu datieren. Es handelt sich um MF S, die Aufzeichnung von drei Strophen aus → Heinrichs von Morungen Räuberin (MF 130,9), die in einer Kremsmünsterer Homilienhandschrift des zehnten Jahrhunderts auf einer Seite platziert worden sind, die vermutlich wegen ihrer schlechten Pergamentqualität unbeschriftet geblieben war (Bl. 237v).11 Für das weitere dreizehnte Jahrhundert ist solch eine sporadische Überlieferung einzelner Lieder in deutlich älteren Trägerhandschriften auch noch in einem Halberstädter Priscian-Codex des neunten/zehnten Jahrhunderts (ohne Sigle)12 und in KLD Ll, einem Leipziger Lucan-Codex des dreizehnten Jahrhunderts,13 bezeugt; in diesen beiden Fällen geht der Eintrag des Textes mit seiner Neumierung einher, so dass bei den Schreibern die Kenntnis der Melodie des Liedes vorauszusetzen ist.14 Neben solchen anonymen Einzeltexten zeigt sich bei den Nachträgen aber auch schon die Tendenz zur Bildung von autorbezogenen Kleincorpora. So wurden um 1250 in MF G / KLD G, dem bebilderten Münchener Codex mit Werken Wolframs von Eschenbach, auf dem letzten Blatt einer angehängten Lage die zwei → Tagelieder MF 3,1 und MF 4,8 eingetragen, ohne Autorzuschreibung und auf merklich geringerem paläographischen Niveau.15 Etwas später zu datieren sind sieben Strophen aus zwei Liedtönen → Walthers von der Vogelweide (L 53,25; L 45,37), die auf freigebliebenen Stellen (Bl. 130r/v) eines lateinischen Totenoffiziums aus Kremsmünster stehen (Walther N); auf Bl. 130r sind dem Text von L 53,25 einzelne Neumen hinzugefügt worden (Abb. 1). Wieder fehlt die explizite Nennung des Verfassers.16 Aus dem frühen vierzehnten Jahrhundert stammt schließlich Frauenlob v, der Eintrag von zehn Strophen Heinrichs von Meißen auf Bl. 244v–245r des Codex 401 aus der Vorauer Stiftsbibliothek. Die Strophen sind durch Beischriften Frauenlob zugewiesen worden; die ersten drei gehören zu dem Minnelied GA XIV,1–5 (Lied 1; erneut mit Neumen).17 Im
11 Vgl. www.mr1314.de/1297 (10. April 2019); Edwards 1986; MF, 489–471; Edwards 2001. 12 www.mr1314.de/1634 (10. April 2019); Hellgardt 2011, 173–174 (Nr. 11); Kössinger 2013b und 2015a. 13 www.mr1314.de/1298 (10. April 2019); Hellgardt 2011, 181–182 (Nr. 19). 14 Zu späteren Einzelüberlieferungen in fremder Umgebung vgl. Mertens 1973, bes. 71–72 (mit Anm. 13). 15 www.mr1314.de/1223 (10. April 2019); Wachinger 1991, 6 (mit Anm. 16); Klein 1992; Holznagel 1995b, 50 (mit Anm. 136); Bein 1998, 227; Holznagel 2001, 112. 16 www.handschriftencensus.de/1417 (10. April 2019); Klein 1987, 92–93; Edwards 2001, 50; Hellgardt 2011, 179–181 (Nr. 17). 17 www.handschriftencensus.de/16296 (10. April 2019); GA, Teil 1, 116–119; RSM, Bd. 1, 262; Kornrumpf 1989; Bein 1998, 218; Kornrumpf 2008, 169–197.
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Anschluss an die Frauenlob-Sammlung folgen dann lateinische Lieder, die deutlich am Vorbild der deutschsprachigen Liedkunst geschult sind.18 Die Paratexte in Frauenlob v belegen, dass lyrische Nachträge in der Minnesangüberlieferung sehr wohl mit der Kenntnis der Autorschaft einhergehen können.19 Dies gilt womöglich schon für die frühe Überlieferung im cgm 19. Dort fehlt zwar ein Paratext, der auf Wolfram von Eschenbach als Verfasser hinwiese; der Umstand, dass der Codex nur Dichtungen dieses Autors enthält und dass die beiden anonym tradierten Tagelieder in sprachlich-stilistischer Hinsicht starke Parallelen zu anderen Liedern dieses Autors aufweisen, lässt indes vermuten, dass die nachgetragenen Strophen als Texte Wolframs identifiziert worden sind und deshalb als Ergänzung des Überlieferungsverbundes aus ‚Parzival‘ und ‚Titurel‘ passend erschienen. Möglicherweise hat gerade dieses dezidiert autorbezogene Sammelinteresse dazu geführt, dass der Name Wolframs in der Handschrift fehlt: Gerade weil das grundlegende Organisationsprinzip des cgm 19 die Aufnahme von Texten anderer Autoren von vornherein ausschloss, wird für den Erstbesitzer eine Verfassernennung überflüssig gewesen sein. Vielleicht war auch einem der Schreiber der Kremsmünsterer Handschrift N bewusst, dass er es mit einem Kleincorpus von Walther-Liedern zu tun hatte. Aufschlussreich ist jedenfalls, dass die fünfte Strophe von L 53,25 (L 54,17) aus einer späteren, vielleicht um 1300 zu datierenden Überlieferungsschicht stammt.20 Dieser Nachtrag zweiter Ordnung setzt nicht nur ein großes Interesse an der Lyrik Walthers, sondern auch einen nicht unerheblichen Kenntnisstand voraus: Der Schreiber muss den Eintrag der ersten vier Strophen als unvollständig wahrgenommen und die Bereitschaft ent wickelt haben, die fehlende Strophe zu ergänzen; außerdem hat er sich Zugang zu einem (mündlich oder schriftlich tradierten) Text verschafft. Ohne ein Wissen, von wem das Lied stammt, wird dies wohl nur schwer zu bewerkstelligen gewesen sein.
Einschübe Das prominenteste Beispiel einer Handschrift, in der Minnesangstrophen als Einschübe auftreten, ist der Codex Buranus M (→ Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters).21 Hier werden um 1230 insgesamt 52 Strophen tradiert, die an den Schluss 18 Wie im Falle des Codex Buranus (siehe unten) deutet sich „eine Schicht faszinierter clerici“ als Träger der Überlieferung von mittelhochdeutscher Lyrik an, welche an der metrisch-musikalischen Seite der Lieder interessiert war und „die deutsche Strophenkunst auch schöpferisch rezipierte.“ Kornrumpf 1989, 28; Kornrumpf 2008, 172. 19 Eine Parallele im Bereich der Sangspruchüberlieferung ist die Kleinsammlung Walther r. Vgl. Holznagel 2001, 112–113. 20 Vgl. Hei, 187 (Hinweis zur Überlieferung von L 53,25); Edwards 2001, 50. 21 www.mr1314.de/1671 (10. April 2019); Bernt 1978; Wachinger 1985; Sayce 1992; Holznagel 1995b, 311–312; Vollmann 1995; Bein 1998, 224; Kühne 2000; Holznagel 2001, 122–123; Hellgardt 2011, 185–188 (Nr. 23); Franklinos und Hope 2020.
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von tongleichen lateinischen oder lateinisch-deutschen Liedeinheiten 22 gestellt wurden; ein Teil von ihnen kann namentlich bezeugten Minnesängern des zwölften und frühen dreizehnten Jahrhunderts zugeordnet werden (Dietmar von Aist, Heinrich von Morungen [Abb. 2], → Reinmar, Walther von der Vogelweide, → Neidhart). Die Handschrift zeigt damit zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Literatur an, dass lateinisch gebildete Sammler und Handschriftenbesitzer die deutschsprachige Lyrik als literarischen Diskurs ernstnahmen und ihn als Gegenpart und Ergänzung zu der dominanten lateinischen Kultur aufzeichnen ließen; eine umfassende Dokumentation des Minnesangs wurde jedoch auch in diesem Codex nicht angestrebt. Die Inserierung der deutschen Strophen ist zum einen mit einer großen Aufmerksamkeit für die metrisch-musikalische Seite der Lieder verbunden; dies kann besonders gut an den Neumierungen einiger Stücke abgelesen werden. In dieser Hinsicht sind die Einschübe in M also sehr gut mit vielen nachgetragenen Minnesangstrophen in fremder Umgebung vergleichbar. Zum anderen zielte das Interesse der Sammler auf ein recht begrenztes, vor allem auf die Themen ‚Tanz‘ und ‚Freude‘ konzentriertes Spektrum der Minnedarstellung, das mit den Konventionen der mittellateinischen Liebeslyrik besonders gut zusammengeht.23 Überdies dürfte der Reiz dieser Mischung von lateinischer und deutscher Lyriktradition in einigen Fällen darauf beruhen, dass mit der Übernahme eines deutschsprachigen Strophenschemas durch einen lateinischen Text ein spielerischer, mitunter sogar parodistischer Umgang mit den Inhalten des Vorbildes24 einherging. Die für den Codex Buranus typische Integration von Minnesangstrophen in lateinische Sammelkontexte kann auch für sangspruchartige Stücke25 beobachtet werden. Darüber hinaus sind in der Lyriküberlieferung aber auch Einschübe in deutschsprachiger Umgebung bezeugt, und zwar in der Weise, dass einzelne Strophen oder Strophengruppen aus der Sangspruchdichtung oder aus dem Minnesang in höfische Romane integriert werden (→ Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘, ‚Lohengrin‘,
22 Außer den deutschen Strophen am Schluss von lateinischen oder lateinisch-deutschen Liedeinheiten finden sich noch andere volkssprachige Einsprengsel: mittelhochdeutsche Glossen zu lateinischen Liedtexten vor allem, dann mittelhochdeutsche, altfranzösische und -provençalische Einsprengsel (zumeist in Form von einzelnen Ausdrücken wie Interjektionen, Anreden, Namen oder Grußformen oder von kürzeren Wortfolgen aus dem Bereich der Alltagssprache), ferner volks sprachige, gelegentlich polyglotte Refrains sowie bilinguale Lieder mit wechselndem Anteil von volkssprachigen (zumeist deutschen) und lateinischen Textpassagen. Als Nachtrag wird schließlich noch das mittelhochdeutsche Minnelied CB 3* in die Sammlung aufgenommen. Vgl. hierzu zuletzt Sayce 1992. 23 Vgl. Wachinger 1985. 24 Die Frage nach dem Verhältnis zwischen den deutschen Strophen und ihrem lateinischen Umfeld ist allerdings in der Forschung kontrovers beantwortet worden. Vgl. u. a. Müller 1981; Wachinger 1985; Sayce 1992; Holznagel 1995b, 316–320; Kühne 2000; Franklinos und Hope 2020. 25 Vgl. Holznagel 2001, 109–110.
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evtl. Pleiers ‚Tandareis und Flordibel‘)26. In diesen Fällen geht die Zusammenstellung der Texte nicht erst auf Handschriftensammler und -schreiber zurück, sondern bereits auf die Autoren, die den umgebenden Erzähltext verfasst haben. Im Rahmen der ersten Phase der Minnesangüberlieferung27 ist das wichtigste Beispiel für diesen Tradierungstyp der Einschub Walther L im Münchener Codex cgm 4428 des gegen 1255 entstandenen ‚Frauendienstes‘ (KLD L). Der cgm 44 enthält ja nicht nur die Lieder und den Leich Ulrichs von Liechtenstein,29 sondern tradiert überdies auf Bl. 54v eine leicht modifizierte Anfangsstrophe von Walthers von der Vogelweide Lied Ir sult sprechen willekomen (L 56,14; BECH-FD 776[f] / L-FD 240,17–22).30 Wie im Codex Buranus wird mit dieser Verbindung aus Kotext und Inserat ein intertextueller Dialog inszeniert, der hier dazu einlädt, die Stilisierung des Ich-Erzählers ‚Ulrich‘ mit der zwischen Sangspruchdichter- und Minnesängerrolle changierenden Sänger-Persona von L 56,1431 zu vergleichen.
26 Vgl. Holznagel 2001, 110, 124 (mit Anm. 15–16). – Die Integration der Walther-Strophe in den cgm 44 erinnert an altfranzösische Romane mit Lyrikeinlagen. Die frühesten Beispiele sind Jean Renarts ‚Roman de la Rose ou Guillaume de Dôle‘ (ca. 1228) sowie Gerberts von Montrueil ‚Roman de la Violette ou de Gérard de Nevers‘ (ca. 1230). Nach dem ‚Frauendienst‘ sind dann ähnliche Romane von Gerart dʼ Amiens (‚Meliacin ou le Cheval de fust‘), Jakèmes (‚Le Chastelain de Couci‘) und Nicole de Margival (‚Le dit de la panthère dʼ amours‘) bezeugt. Vgl. Huot 1987 (Register); Holznagel 1995b, 56; Cramer 2002, 80–81. 27 Auch in der späteren Überlieferung sind gelegentlich solche Insertionen in narrative Kontexte nachzuweisen. Vgl. z. B. den Einschub von Minnesangstrophen in der Möringer-Ballade (Walther x; Walther y) oder die Integration von Liedern Neidharts in den ‚Neidhart Fuchs‘ (Neidhart z), bei dem sich allerdings die Ausgestaltung der Erzählung auf die Bilder und ihre knappen Beischriften reduziert. Vgl. Mertens 1989; SNE, Bd. 3. 28 www.mr1314.de/1307 (10. April 2019); Müller 1995; Wolf 2010. – Neben dem cgm 44 haben sich zwei weitere Fragmente aus ‚Frauendienst‘-Handschriften erhalten, die allerdings keine lyrischen Partien tradieren; sie stammen beide aus dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts. Vgl. Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek: Frgm. Germ. 10; Landshut, Staatsarchiv: Fischermeisteramtsrechnungen Landshut 1510. Die Lieder und der Leich finden sich auch noch in C. Vgl. Wolf 2010. 29 Vgl. dazu weiter unten. 30 Zur Walther-Strophe in L vgl. Brunner u. a. 1977, 36–37*, 261 (Abb. 157); L/Cor, XXXIV. 31 Die Pointe besteht im Wesentlichen darin, dass die Strophe L 56,14 keineswegs dem Minnesänger ‚Ulrich‘ in den Mund gelegt wird, sondern einem Boten von ‚Ulrichs‘ vrouwe. Zugleich wird das Verhältnis zwischen lohnheischendem Sprecher und seinem Auditorium grundlegend verändert. In L 56,14 fordert das Ich als miete für den Vortrag keine materielle Entlohnung, sondern lediglich die freiwillig gewährte Gunst der Damen (L 56,25–29). Im ‚Frauendienst‘ erzwingt der sozial inferiore Bote als Lohn den Kniefall des (als Venus verkleideten!) Herrn ‚Ulrich‘. Dieser willigt ein, weil er von der Dienstleistung des Boten, der Übermittlung der Nachricht, welche die Dame verschickt hat, abhängig ist. Diese Inversion der sozialen Rollen und der damit verbundene (halb öffentliche) Akt der Selbsterniedrigung gibt ‚Ulrich‘ erneut die Möglichkeit, sich zum bedingungslosen Diener seiner Dame zu stilisieren. Dieser Akt der Selbstperformanz ‚Ulrichs‘ steht dabei im klar erkennbaren ironischen Kontrast zu der selbstbewussten Inszenierung des Sprecher-Ichs in Walthers Werbung um den Wiener Hof.
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4 Lyriksektionen in gattungsübergreifenden Mischhandschriften Größere Lyrikcorpora gattungsübergreifender Miszellaneen-Handschriften heben sich gegenüber den Einzelaufzeichnungen in fremder Umgebung in mehrfacher Hinsicht ab. So setzen sie einen größeren Aufwand an Material und Kosten voraus. Zudem werden die lyrischen Texte nicht einfach mitüberliefert, sie werden vielmehr als gewichtige Teile eines genreübergreifenden Textensembles aufgefasst. Die damit verbundene Aufwertung der Lyrik geht mit einem Sammelinteresse einher, das entweder auf die Autorschaft oder aber auf die Themen und Gattungen der Texte abzielt. Es kennzeichnet den ersten Untertyp dieses zweiten Überlieferungstypus, dass die Strophen eine Zuschreibung an einen Verfasser erhalten und dabei so gruppiert werden, dass alle Texte desselben Autors hintereinander stehen. Diese Sammlungen sind also (wie die Grundstöcke der großen Liederhandschriften A, B und C) nach dem Autor- und Corpusprinzip organisiert; thematische Bezüge oder Gattungsgesichtspunkte spielen dann allenfalls in der Binnengliederung dieser Corpora eine Rolle. Beim zweiten Untertypus ist dagegen die Hierarchie der Ordnungsgesichtspunkte genau umgekehrt: Die Handschriften stellen die Lieder primär nach Themen oder Gattungsbezügen zusammen, das Verfasserprinzip ist, sofern es überhaupt berücksichtigt wird, von untergeordneter Bedeutung. Das früheste Beispiel einer autorbezogenen Sammlung im Kontext einer Mischhandschrift findet sich in Neidhart R, der gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts entstandenen Riedegger Sammelhandschrift, die neben Hartmanns ‚Iwein‘, Strickers ‚Der Pfaffe Amîs‘ sowie zwei Heldenepen (‚Dietrichs Flucht‘, ‚Die Rabenschlacht‘) eine umfangreiche Sammlung mit 58 Liedern Neidharts tradiert (Bl. 48r–62r).32 Anders als bei den Nachträgen in fremder Umgebung gehörte diese Lyriksammlung von Anfang an zur Konzeption des Codex dazu; infolgedessen wurde ihr ähnlich viel Aufmerksamkeit gewidmet wie den restlichen Texten dieser Handschrift: Sie erhielt eine sorgfältige Ausstattung mit Findehilfen (rote oder blaue Stropheninitialen; Markierung des Liedbeginns durch rote oder blaue Einträge in der Art von ein ander wis, ein ander weis, ein ander) und wurde mit einer charakterisierenden Überschrift in roter Tinte eingeleitet: hie endet sich der phaff amis | vnd hebt sich an hern neitharts weis (Bl. 48r; Abb. 3). Diese Überschrift lässt erkennen, dass die Lyrik in der Riedegger Handschrift eine Wertschätzung erhielt, die gegenüber den meisten der bislang skizzierten Tradierungsformen merklich gesteigert ist; außerdem macht sie klar, dass das Sammelinteresse der Auftraggeber und Redaktoren tatsächlich auf die Autorschaft der lyri32 www.handschriftencensus.de/1222 (10. April 2019); Boueke 1967, 71–72; Becker 1977, 57–61; Benne witz-Behr 1987; Voetz 1988, 272–273, 581–583; Holznagel 1995b, 285–309 (und Register); Bein 1998, 231–232; Wenzel und Wenzel 2000; SNE, Bd. 3, 513–516.
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schen Texte abzielte und dass dies zudem noch mit dem Bemühen einherging, die zur Verfügung stehenden Lieder als ein einheitliches Ensemble zu präsentieren. Als eine weitere Differenz zu anderen Überlieferungsformen ist anzuführen, dass sich die Sammler nicht mit einem Ausschnitt aus Neidharts Œuvre begnügten, sondern eine möglichst große Vollständigkeit anstrebten. Dieses Bemühen zeigt sich zum einen an der imponierenden Anzahl der Lieder, die sukzessive aus verschiedenen Quellen33 zusammengetragen werden konnten, zum anderen aber an den zahlreichen Strophen, die auf dem Rand eingetragen wurden, um den Text bereits abgeschriebener Töne systematisch zu erweitern und zum Teil auch zu korrigieren.34 Ein zweites Beispiel für diesen Überlieferungstyp findet sich um 1350 in E, dem sogenannten Hausbuch des Michael de Leone,35 in das der Würzburger Protonotar zwei große Corpora mit den Liedern Walthers von der Vogelweide (Bl. 168v–180v) und Reinmars (Bl. 181r–191v) aufgenommen hat.36 Ähnlich wie in Neidhart R wird der Verfasser der Texte explizit vermerkt, hier durch eine zweizeilige Überschrift zum Walther-Corpus (Hie hebent sich lieder an des meisters | von der Vogelweide hern walthers)37 sowie durch die Namensnennung zu Beginn eines jeden Liedes (z. B. her walther; her walther von der vogelweide; her reymar). Eine Besonderheit des Hausbuchs ist es, dass diese Markierung der Textautorschaft mit dem Interesse einherging, die Autoren in einen Zusammenhang mit Würzburg und mit Franken zu bringen. Dieses zeigt sich u. a. an den Paratexten zum ‚Renner‘ Hugos von Trimberg, zu einigen kleineren Reimpaarstücken Konrads von Würzburg oder auch zu Frauenlobs Marienleich. In den Kreis der Autoren mit Würzburger Lokalbezug gehört für Michael de Leone auch Walther von der Vogelweide, dessen Begräbnisstätte im Grashof des Neumünsterstifts gleich zweimal im Codex vermerkt wird (auf Bl. 191v, in der Beischrift zu Lupold Hornburgs Dichterkatalog auf Deutsch, auf Bl. 212v in Latein). Ob auch die Lieder Reinmars das lokalhistorische Interesse des Protonotars geweckt haben, ist nicht eindeutig zu 33 Dass das R-Corpus nicht aus einem Guss ist, lässt sich u. a. an den verschiedenen Färbungen der Tinte und auch am veränderten Schriftduktus erkennen. Der Textbestand von R gliedert sich auf dieser Basis in drei Abschnitte (R 1–37; R 38,1–39,4; R 39,5–58), die auf unterschiedlichen Vorlagen beruhen dürften und (womöglich unterbrochen durch Arbeitspausen) nacheinander abgeschrieben wurden. Vgl. Holznagel 1995b, 294–300. 34 Die Nachtragsstrophen stammen vermutlich, wie erneut die Änderungen in der Tintenfarbe nahelegen, aus den beiden letzten Vorlagen des R-Corpus. Vgl. Holznagel 1995b, bes. 298–299. 35 www.handschriftencensus.de/6441 (10. April 2019); Kornrumpf und Völcker 1968, 66–107, 349; Peters 1983, 138–162; Kornrumpf 1987; Bennewitz 1995; L/Cor 1996, XXX; Bein 1998, 209–213; Bauschke 2004; Brunner 2004; Schulze 2004; L/Bein, XXXII–XXXIII. 36 Der Umstand, dass der klassische Minnesang in E nur durch die Texte Walthers von der Vogelweide und Reinmars vertreten ist, hängt vermutlich damit zusammen, dass die Sammler die Verbindung aus diesen beiden Corpora schon in ihren Quellen vorfanden. Sie zeigt sich bereits in dem mit E verwandten Fragment Walther U und darüber hinaus in Walther G, m, s und Z. Zur Quelle *EU vgl. weiter unten Anmerkung 63. 37 Das Reinmar-Corpus hatte womöglich eine ähnliche Überschrift; sie stand vielleicht auf den sieben Blättern, die zwischen der Walther- und der Reinmar-Sammlung verlorengegangen sind.
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beantworten, da der Anfang des Reinmar-Corpus einem Blattverlust zum Opfer gefallen ist. Möglicherweise wurde jedoch der Autor mit Reinmar von Zweter verwechselt, dessen Grab der Leone-Kreis im fränkischen Estfeld vermutete.38 Die Handschrift E belegt, dass größere und nach dem Autor- und Corpusprinzip angelegte Minnesang-Sammlungen auch noch in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts Eingang in gattungsübergreifende Mischhandschriften fanden. Dies ist insofern bemerkenswert, als zur gleichen Zeit ähnliche Überlieferungsformen belegt sind, die der Autorschaft der Stücke keine oder nur eine geringe Beachtung schenken. Sie treten ebenfalls als Binneneinheiten in Mischhandschriften auf, stellen die Texte aber auf der Grundlage thematisch-inhaltlicher Korrespondenzen oder auf der Basis von Gattungsbezügen zusammen. So lassen sich z. B. anonyme Sangspruchkollektionen (KLD h) oder Ensembles mit religiösen Sprüchen und Liedern (Walther q) erkennen. Für die Tradierung der Liebeslyrik ist in diesem Zusammenhang auf den Subtyp der sogenannten Minnesang-Florilegien zu verweisen, der sich besonders gut an der Karlsruher Handschrift des sogenannten ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ verdeutlichen lässt (Walther i / MF i / KLD i).39 Der um 1335 im Auftrag des Herrn Ulrich von Rappoltstein entstandene Codex enthält hauptsächlich den ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach sowie eine von Philipp Colin und Claus Wisse verfasste Fortsetzung nach französischen Vorlagen, die zwischen dem 14. und dem 15. Buch des Wolframschen Textes eingeschoben worden ist. An dieser Nahtstelle zwischen dem niuwen und dem alten Parzifal (Bl. 115v; Abb. 4) wurde nun eine kleine Kollektion von sieben Minnesang strophen platziert; diese enthält nur Anfangsstrophen und Kurzfassungen von anderweitig umfangreicher tradierten Tönen, die nach dem Zeugnis dieser Parallelüberlieferung von berühmten Verfassern (Walther von der Vogelweide, Walther von Mezze, → Gottfried von Neifen, Reinmar und Reinmar von Brennenberg) stammen. Fragt man, warum dieses Florilegium in den Codex aufgenommen worden ist, so fällt vor allem die inhaltliche Homogenität der Texte auf: Alle sieben Strophen beschäftigen sich entweder mit dem Lob der höfischen Damen oder heben die moralische Bedeutung des Minnedienstes hervor. Besonders das zweite Thema bietet einen Ansatzpunkt, um das Interesse der Auftraggeber zu erschließen, lässt sich doch im Epilog des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ nachlesen, dass Frau Minne höchstselbst von Herrn Ulrich von Rappoltstein verlangt habe, diesen Codex in Auftrag zu geben, der deshalb auch als minnenbuoch bezeichnet wird.40 Bei den Strophen auf Bl. 115v handelt
38 Vgl. die entsprechende Aussage in der Einleitung von Lupold Hornburgs Dichterkatalog (Bl. 191v). 39 www.handschriftencensus.de/5020 (10. April 2019); Holznagel 1995a, 68–78, 84–85; Bein 1999; Müller 2012, 55–56. Von der Karlsruher Handschrift existiert noch eine Teilabschrift in der Biblioteca Casanatense (Walther i2 / MF i2 / KLD k), die nur das Minnesang-Florilegium, den niuwen Parzifal und die Wolfram-Bücher 15 und 16 enthält. 40 Möglicherweise spielen auch thematische Korrespondenzen zwischen den Liedstrophen und dem unmittelbar zuvor eingetragenen 14. Buch aus Wolframs ‚Parzival‘ eine Rolle. Vgl. Holznagel 1995a, 74–76.
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es sich also nicht um ein reines Blattfüllsel, sondern um eine Textzusammenstellung, die der Selbststilisierung des Auftraggebers deutlich entgegenkommt und die überdies, da sie eine charakteristische Nahtstelle im Codex markiert, eine gliedernde und mnemotechnische Funktion übernommen haben dürfte. Ähnlich sorgfältig konzipierte Sammelüberlieferungen von (weitgehend) anonymisierten Liedern unterschiedlicher Autoren und unterschiedlicher Epochen des Minnesangs, die vornehmlich aus inhaltlichen Gründen zusammengestellt wurden und dabei bestimmte Aspekte des Liebesdiskurses beleuchten, finden sich noch im Berner Hausbuch (Walther p / MF p / Neidhart p / KLD p)41 und in der Berliner ‚Tristan‘-Handschrift N (Walther o / KLD o);42 vergleichbare Kleinsammlungen sind überdies in die Grundstöcke und in die Nachtragsschichten der großen mittelhochdeutschen Liederhandschriften eingegangen.43
5 Die großen Lyrikhandschriften des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts (A, B, C, J) Handschriften, die lyrische Texte in deutscher Sprache nicht mehr nur mitüberliefern, sondern sie in das Zentrum des Sammlerinteresses rücken, sind seit der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts bezeugt.44 Als das früheste Beispiel solch eines Überlieferungsträgers hat sich die um 1270–1280 im Elsass entstandene Kleine Heidelberger Liederhandschrift A erhalten; die von ihr repräsentierte Überlieferungsform dürfte indes, wie die markanten Übereinstimmungen mit anderen Textzeugen belegen, älter sein.45 In der Zeit um 1300 und zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts ist sie mehrfach vertreten: Zu ihr zählen vor allem die Weingartner Liederhandschrift B, die Große 41 www.handschriftencensus.de/7773 (10. April 2019); Holznagel 1995a, 78–83, 85–86; Holznagel 1995b, 363–370, 593; Müller 2012, 52–54. 42 www.handschriftencensus.de/3230 (10. April 2019); Holznagel 1995a, 78–83, 88; Müller 2012, 61–62. – Überdies ist zumindest für Walther o / KLD o festzustellen, dass die dort zusammengetragenen Liedstrophen wie das Florilegium in KLD i deutliche Bezüge zur Mitüberlieferung besitzen. Vgl. Holznagel 1995a, 79 (mit Anm. 48). 43 Siehe dazu weiter unten. 44 In der Sangspruchüberlieferung hat sich neben dem Codex auch die Rolle als äußere Form für selbständige Lyriksammlungen etablieren können, für Minnesangtexte des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts lässt sich dies nicht nachweisen. Eine Ausnahme begegnet im fünfzehnten Jahrhundert, eine Tora-Rolle, die nach dem verheerenden Wiener Juden-Pogrom von 1420/21 palimpsestiert und dann mit dem Lied W 31 des Mönchs von Salzburg beschriftet wurde. Vgl. März, 105–108; Kössinger 2013a, 58–59, Anm. 54. – Zu Rollen in der Lyriküberlieferung vgl. Holznagel 1995b, 24; Holznagel 2001, 117, 129 (mit den Anm. 57–59); Kössinger 2013, 49–50 (Nr. 2), 50 (Nr. 3), 53 (15), 58–59. Zu Rollen und Einzelblättern allgemein vgl. Schneider 2014, 189–191; Kössinger 2015b. 45 Zu den Vorstufen der großen mittelhochdeutschen Lyrikhandschriften vgl. Kornrumpf 1985; Holznagel 1995b, 208–256; Kornrumpf 1999a.
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Heidelberger Liederhandschrift C (Codex Manesse) und die Jenaer Liederhandschrift J. Gemeinsam ist den drei Codices die systematische Kombination von Autor- und Corpusprinzip; sie weichen jedoch in der Anzahl der aufgezeichneten Autorsammlungen und deren Reihung sowie hinsichtlich der in den einzelnen Corpora vertretenen Texte und Textgattungen deutlich voneinander ab; weitere Differenzen betreffen die Bilder oder die Melodien, die den Texten beigefügt sein können. Der Codex A46 ist eine reine Texthandschrift ohne Bilder und Noten; er tradiert im Grundstock 791 Strophen und zwei Leichs, die unter 34 Autornamen stehen. A wird eröffnet mit den fünf größten Sammlungen der literarisch bedeutsamsten Minnesänger des frühen dreizehnten Jahrhunderts (Reinmar, Walther von der Vogelweide, Heinrich von Morungen, Ulrich von Singenberg, Rubin), so dass der Umfang und die Positionierung der Corpora sehr deutlich in den Dienst einer literarischen Traditionspflege gestellt werden. Dann folgt ein zweiter Teil, der sich zusammensetzt aus ehemals anonym überlieferten Sammelüberlieferungen, die vermutlich erst nachträglich unter einen Autornamen gestellt wurden (Niune, Gedrut, Spervogel / Der Junge Spervogel, Leuthold von Seven), sowie aus Kleinsammlungen von namentlich bekannten Autoren.47 Neben dem dominierenden reflektierenden Minnelied finden sich auch Tagelieder, Neidhartiana, Pastourellen, Leichs und Sangsprüche. Ihr Zentrum hat A deutlich auf der Lyrik aus der Zeit um 1200–1230. Zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts ist der Grundstock durch mehrere anonyme Anhänge erweitert worden. Die kurz nach 1300 in Konstanz entstandene Weingartner Liederhandschrift B48 überliefert im Grundstock 602 Strophen in 25 Autorencorpora, die mit einem ganzoder halbseitigen Bild des Verfassers eingeleitet werden und deren Abfolge nach dem mutmaßlichen Stand der Dichter geregelt ist (Abb. 5). Der Codex beginnt mit den Liedern Kaiser Heinrichs, dann folgen die Texte der adligen Herren und Ministerialen; beschlossen wird der Grundstock mit den Liedern und Sprüchen des abhängigen Berufsdichters Walther von der Vogelweide. Unterstrichen wird dieser auf die soziale Position der Autoren abzielende Ordnungsgesichtspunkt durch die Miniaturen, welche die Liederdichter im Rückgriff auf einschlägige ikonographische Traditionen als Mitglieder einer adligen Elite ausweisen. Die ebenfalls ohne Melodien aufgezeichneten Texte gehören durchweg zum reflektierenden Werbelied und zu verwandten Formen (→ Botenlied, → Kreuzlied); Sangsprüche finden sich lediglich am Rande (vor allem in der Walther-Sammlung), Leichs sind überhaupt nicht aufgenommen
46 www.handschriftencensus.de/4927 (10. April 2019); Kornrumpf 1981a; Voetz 1988, 232–234; RSM, Bd. 1, 175; Holznagel 1995b, 89–120 (und Register); Holznagel 2001, 118–120, 130 (mit Anm. 67); Holznagel 2006, 358–359; Voetz 2015, 106–109. 47 Kornrumpf 1981a, erwägt, dass diesem Aufbau eine Art Gattungshierarchie ‚Minnesang – Neidhart und Verwandtes – Spruchdichtung‘ zugrunde liegt. 48 www.handschriftencensus.de/5914 (10. April 2019); Voetz 1988, 234–236; RSM, Bd. 1, 257–258; Holznagel 1995b, 121–139; Sauer 1996; Holznagel 2001, 118, 129 (mit Anm. 63); Kornrumpf 1999c; Voetz 2015, 99–106.
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worden. Die Liedtexte gehören weitgehend zur sogenannten mittelhochdeutschen Klassik und zum romanisierenden Minnesang. Diese konservative Kernsammlung wurde dann zeitnah um Sammlungen erweitert und aktualisiert, die im Unterschied zum Grundstock kein Bild und keine Verfassernennung mehr aufweisen. Für die Minnesangüberlieferung sind vor allem das kleine Corpus mit den drei Liedern Wolframs von Eschenbach (S. 178–179) wichtig sowie eine aus zwei Quellen kompilierte Sammelüberlieferung mit den Liedern Neidharts, Goelis, Konrads von Kirchberg und einiger Anonyma (S. 182–204), welche die Texte nach ihrem → Natureingang sortiert. Mit ihrer nicht-autorbezogenen Tradierungsweise und ihrer Binnenorganisation verweist diese Sammlung deutlich auf die Neidhart-Handschriften des fünfzehnten Jahrhunderts, und wie in der Spätüberlieferung geht es hier keineswegs nur um die Lieder Neidharts. Vielmehr wird schon hier ein literarischer Diskurs des Spätmittelalters greifbar, in dem sich der Name ‚Neidhart‘ von dem historischen Dichterkomponisten des dreizehnten Jahrhunderts ablöst und zu einem Texttypenbegriff49 wird, der nur noch ganz allgemein Lieder in Neidharts Stil bezeichnet und damit auch Texte anderer (namentlich bekannter wie anonymer) Verfasser umfassen kann. Die Haupthandschrift der mittelhochdeutschen Lyrik des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, der Codex Manesse C, entstand um 1300 im Umfeld der Zürcher Patrizier Rüdiger und Johannes Manesse.50 Nach dem Tode dieser beiden Auftraggeber wurde die Arbeit an der Sammlung noch bis etwa 1340 weitergeführt. Der Codex enthält im heutigen Zustand die Textmenge von über 5200 Strophen und 36 Leichs unter 137 Autornamen (ohne Melodien). C basiert in dem 110 Autorencorpora umfassenden Grundstock auf zwei mit B und A verwandten Quellen (*BC und *AC). Mit *AC teilt C im Wesentlichen die Offenheit des Sammelkonzeptes. Aus *BC wurden offenbar nicht nur die Texte, sondern auch zwei grundlegende Einrichtungsgepflogenheiten (die hierarchische Abfolge der Sammlungen; der Vorsatz, jedes Corpus mit einer Miniatur51 einzuleiten) übernommen; dies verbindet die Handschriften B und C mit zwei Fragmenten bebilderter Lyrikhandschriften, dem Budapester Fragment Bu52
49 Zu der Umcodierung des Namens ‚Neidhart‘, der sich von der Bezeichnung für den historischen Dichterkomponisten des dreizehnten Jahrhunderts zum Gattungsterm wandelt, vgl. u. a. Wenzel und Wenzel 2000; Bockmann 2001; Holznagel 2015, 307–309; Fechner 2020. 50 www.handschriftencensus.de/4957 (10. April 2019); Kornrumpf 1981b; Mittler und Werner 1988; Voetz 1988, bes. 224–232; Brinker und Flühler-Kreis 1991; Gamper 1993; Salowsky 1993; Schiendorfer 1993; RSM, Bd. 1, 178–179; Holznagel 1995b, 140–207; Holznagel 2001, 118, 129 (mit Anm. 63); Voetz 2000; Peters 2001; Henkes-Zin 2004; Voetz 2015; Bleuler 2018. 51 Zum Typus des für diese Handschriftengruppe charakteristischen Autorbildes vgl. Holznagel 1995b, 66–88; Peters 2001; Peters 2008. 52 www.handschriftencensus.de/1296 (10. April 2019); Vizkelety und Wirth 1985; Voetz 1988, 246–249; Worstbrock 1998; Bertelsmeier-Kierst 2001; Kornrumpf 2001; Kornrumpf 2004; Voetz 2015, 91–99.
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und dem Naglerschen Fragment Cb53, die ebenfalls über Vorstufen mit B und C verwandt sind.54 Der Codex Manesse wandte nun diese Kombination aus Bebilderung und hierarchischer Abfolge systematisch auf alle Sammlungen an, die in die Handschrift aufgenommen werden sollten. Dies lässt sich besonders gut an den Corpora der hochadligen Autoren zeigen, die in den heutigen ersten beiden Lagen von den Schreibern AS und BS hinzugefügt oder nachgetragen worden sind. Um diese auf korrekte Weise in das aus *BC stammende Grundgerüst zu integrieren, wurde die ursprünglich erste Lage des C-Grundstocks auseinandergenommen und durch neue Blätter ergänzt, auf denen dann die Texte von Autoren notiert werden konnten, die an der Spitze der höfischen Gesellschaft standen.55 In den Nachtragsschichten von C zeichnet sich ein weiterer Vorlagenkomplex ab, der über den Vergleich mit dem Hausbuch des Michael de Leone (Handschrift E)56 zu erschließen ist. Auf diese Quelle *EC lassen sich nicht nur die Nachträge des Schreibers ES im Walther von der Vogelweide- und im Reinmar-Corpus zurückführen; die Rekonstruktion dieser Vorlage ist überdies von grundsätzlicher Bedeutung, weil sie wichtige Anhaltspunkte liefert für ein ansonsten nur umrissartig erschließbares, niederdeutsches Zentrum der Lyriküberlieferung.57 Neben den Hauptquellen *BC, *AC und *EC werden den Grundstock-Schreibern von C noch eine größere Anzahl weiterer Sammlungen zur Verfügung gestanden haben, die indes wegen einer fehlenden Parallelüberlieferung nur schwer zu fassen sind. Die systematische Auswertung von Zusatzquellen erweiterte den Textbestand von C sowohl in den bereits existierenden Sammlungen als auch durch die Aufnahme neuer Corpora. Dies führte dazu, dass sich das literarische Profil im Vergleich mit A und B deutlich veränderte. So sind im Codex Manesse lyrische Subgenres breit vertreten, die in A, B und E fehlen oder unterrepräsentiert sind. Dazu zählen beispielsweise die 36 Leichs. Von den Ausweitungen in C profitieren aber auch die genres objectifs (besonders das Tagelied), die Neidhart-Tradition und die Sangspruchdich-
53 www.handschriftencensus.de/1303 (10. April 2019); Voetz 1988, 249–250, 557–559; SMS, XXXVI; Holznagel 1995b, 66–88 (Register); Voetz 2015, 85–91; Manuwald 2013. 54 Zu der Gruppe der illustrierten Lyrikhandschriften gehört zudem noch das Troß’sche Bruchstück Ca, das jedoch nicht über eine Vorstufe mit C verwandt ist, sondern auf einer späten (Teil-)Abschrift des Codex Manesse beruht, die in das fünfzehnte Jahrhundert datiert wird. Vgl. www.handschriftencensus. de/11781 (10. April 2019); Voetz 1988, 250–252, 560–567; Holznagel 1995b, 66–88 (Register); Dingeldein 2012. – Dass in dieser Zeit nochmals ein ganzes Corpus mit Liedern des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts kopiert wird, ist ungewöhnlich, aber nicht singulär. Vgl. weiter unten zu dem ähnlich gelagerten Fall der Weimarer Liederhandschrift F aus dem dritten Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts, die aus einer alten Vorlage aus dem Anfang des vierzehnten Jahrhunderts stammt (*F). 55 Eingetragen wurden die Texte von König Konrad dem Jungen, König Tyro und Fridebrant (AS), ferner von König Wenzel von Böhmen, Herzog Heinrich von Breslau, Markgraf Otto von Brandenburg und Markgraf Heinrich von Meißen sowie vom Grafen Friedrich von Leiningen (BS). Vgl. Kornrumpf 1985. 56 Zu E vgl. weiter unten. 57 Vgl. dazu weiter unten die Anm. 65.
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tung. Eine auffällige Erweiterung ist der Sangspruchkomplex um den sogenannten ‚Wartburgkrieg‘ (unter dem Namen ‚Klingsor von Ungarland‘), in dem längere Ketten von Sangspruchstrophen dazu genutzt werden, größere Erzähl- und Argumentationszusammenhänge zu entfalten. Das verbindet ihn mit einer Gruppe von religiösen und didaktischen Texten in Strophen, die ebenfalls eine Besonderheit von C darstellen (‚Tirol und Fridebrand‘, ‚Winsbecke‘, ‚Winsbeckin‘; der unter den Namen Gottfrieds von Straßburg gestellte Marienpreis). Als weitere Änderungen im literarischen Profil sind die Zunahme von Corpora jüngeren Datums und das starke Interesse am Schweizer Minnesang festzuhalten. Die letzten beiden Tendenzen sind gut an der hohen Wertschätzung abzulesen, die dem zeitgenössischen und in der Stadt Zürich nachweisbaren Liederdichter → Hadlaub eingeräumt wird: Seine Texte werden auf einer eigenen Lage von dem Schreiber MS eingetragen, der ansonsten bei keinem anderen Autor nachweisbar ist; außerdem wird sein Œuvre mit einer außergewöhnlich elaborierten zweistöckigen Miniatur versehen, die auf einer besonders engen Verbindung zwischen den Liedinhalten und den Bildmotiven beruht, und mit einer großen, aufwendig gestalteten Initiale eröffnet.58 Der Textbestand, der in C aus den verschiedensten Quellen kompiliert wurde, musste auch innerhalb der Sammlungen (neu) geordnet werden.59 Dabei beachteten die Schreiber und Redaktoren offenbar verschiedene Prinzipien. Der erste und wichtigste Grundsatz zielt darauf ab, innerhalb der Corpora die gleiche Quellenhierarchie einzuhalten wie die, welche auch die Reihung der einzelnen Sammlungen bestimmt hat (*BC, *AC, *EC).60 Überdies zeigen die Schreiber die Tendenz, Leichs, Lieder und Sprüche in getrennten Reihen zu notieren; sie wird besonders deutlich an der durchgängigen Eingangsstellung der Leichdichtungen.61 Die Scheidung der Texte nach den lyrischen Subgenres ist auch im Walther-Corpus der Weingartner Liederhandschrift nachzuweisen;62 vermutlich ist sie bereits in den Vorstufen von B und C praktiziert worden. Dann wurde die Technik angewandt, Strophen oder Lieder so miteinander zu verknüpfen, dass der Anfang eines Textes einen Leitbegriff oder eine charakteristi-
58 Die ältere Forschung sah in diesen codicologischen Besonderheiten ein Indiz für die bereits bei Gottfried Keller entwickelte Vorstellung, dass Hadlaub einen maßgeblichen Anteil bei der Herstellung des Codex Manesse gehabt habe. Dies wird sich wohl nicht mehr halten lassen. Gleichwohl zeugt der Aufwand, der für die Aufzeichnung seines Corpus getätigt wurde, von einer großen Nähe des Liederdichters zu den Auftraggebern. 59 Vgl. Holznagel 1995b, 257–280. 60 Im Falle der Walther-Überlieferung muss mit zwei verwandten *AC-Quellen gerechnet werden. Vgl. Kornrumpf 1999a. 61 Lediglich im Botenlauben-Corpus und im Hadlaub-Corpus stehen die Leichs am Ende; in diesen Fällen scheinen die Schreiber den Vorlagen zu folgen. 62 Die Differenzierung nach lyrischen Subgenera zeigt sich in B auch in dem Bemühen, in der anonymen Sammelüberlieferung der Neidhartiana die Lieder (unabhängig von ihrer Verfasserschaft) nach ihrem Natureingang zu sortieren.
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sche Wendung aus dem unmittelbar vorausgehenden Stück aufgreift (‚ConcatenatioPrinzip‘), und schließlich ist die Reihung von Liedern aufgrund von metrisch-musikalischen Ähnlichkeiten nachzuweisen. Auch diese letzten beiden Grundsätze waren vermutlich schon vor C gängige Praxis. Die Jenaer Liederhandschrift J,63 um 1330–1350 im niederdeutschen Sprachgebiet entstanden, enthält 919 Strophen, die zum überwiegenden Teil der Sangspruchdichtung zuzurechnen sind, sowie zwei Leichs und ein Leichfragment; Minnesang ist nur in den Corpora Des Wilden Alexander (KLD 1, 4, 6) und Wizlavs von Rügen (WIZ 1–12 sowie Ton IV; vgl. Abb. 6) mitüberliefert.64 Anders als in den südwestdeutschen Handschriften ABC sind auch Melodien überliefert (zu insgesamt 91 Tönen). Die Vorliebe für Sangspruch und Leichdichtung, die Melodieüberlieferung sowie ein aufwendiges kolometrisches System zur Markierung metrisch markanter Strophenteile verbindet J mit einer Gruppe eng zusammenhängender niederdeutscher Bruchstücke wie Walther Z, KLD Mb, Frauenlob Z, so dass sich um und nach 1300 in der Überlieferungsgeschichte der mittelhochdeutschen Lyrik zwei zeitlich und geographisch deutlich abweichende Zentren feststellen lassen: In den oberdeutschen Bilderhandschriften des dreizehnten und beginnenden vierzehnten Jahrhunderts werden ohne Melodien die klassischen Genres des Minnesangs gesammelt (→ Melodien zu Minneliedern). Dagegen hat sich einige Jahrzehnte später im niederdeutschen Raum ein Zentrum von nicht-illustrierten Sangspruch- und Leichhandschriften mit Melodien gebildet, in dem das Minnelied offenbar nur am Rande vorkam.65
63 www.handschriftencensus.de/4998 (10. April 2019); Pickerodt-Uthleb 1975; Wachinger 1981a; Pensel 1986, 279–307; Klein 1987; Wachinger 1987a; Kornrumpf 1989; RSM, Bd. 1, 185–186; Welker 1996; Haustein und Körndle 2010. 64 Ein Grund für die Integration der wenigen Minneliedstrophen in J mag sein, dass einige von ihnen (Der Wilde Alexander KLD 1, 4; Wizlav WIZ Ton IV) der Leichtradition sehr nahe stehen. Ähnliches dürfte für das Marburger Frühlingslied zutreffen, das in dem mit J verwandten Fragment KLD Mb aufgezeichnet worden ist. Vgl. Apfelböck 1991, 143, 145–146. 65 Allerdings zeichnen sich im niederdeutschen Raum und unabhängig von J die Konturen anderer Überlieferungsstränge ab, in denen das Minnelied bestens vertreten war. Hinzuweisen ist z. B. auf einen Sammelschwerpunkt der Walther- und Reinmar-Überlieferung, der dank des alten Fragmentes Walther U / MF U noch sehr gut in das dreizehnte Jahrhundert datiert, aber in seinen Grundzügen nur über die Rezeption in den Überlieferungszeugen des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts erschlossen werden kann (Handschrift E, Handschrift F und Walther s / MF s). Dieser Überlieferungszweig *EU(Fs) ist anders als J auf das weltliche und religiöse Lied fokussiert. Außerdem muss es im niederdeutschen Raum eine verhältnismäßig breite Neidhart-Rezeption gegeben haben. Das wichtigste Zeugnis dafür ist das Neidhart-Fragment O aus dem Anfang des vierzehnten Jahrhunderts, das wie J eine Melodieaufzeichnung in gotischer Choralnotation aufweist. Die beiden großzügig angelegten Doppelblätter stammen sicherlich aus einer größeren Sammlung, welche auch die Lieder Gölis einschloss und damit wie das B-Corpus auf den Sammeltyp der späten Neidharte vorausweist. Daneben haben sich um 1300 noch drei Neidhartlieder zusammen mit Spruchdichtung und einer Minnerede im Maastrichter Fragment erhalten (Neidhart Ma / Walther Ma).
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6 Reflexe von frühen autornahen Aufzeichnungen Die großen mittelhochdeutschen Lyrikhandschriften A, B, C und J tragen eine große Zahl an Autorencorpora zusammen, die den Schreibern und Redaktoren mittels mehr oder minder umfangreicher schriftlicher Vorlagen zugänglich gemacht wurden. Ob und inwieweit in den erhaltenen Corpora bei der Zusammenstellung der Texte, ihrer Reihung und ihrer konkreten Gestalt noch die Reflexe von in der Autornähe erstellten oder gar vom Verfasser selbst verantworteten Aufzeichnungen zu fassen sind, wird man im Detail nur schwer abschätzen können; in den meisten Fällen wird man jedoch angesichts der komplizierten Vorlagenverhältnisse von vergleichsweise autorfernen Überlieferungsformen ausgehen müssen. Als Ausnahmen dürfen zwei Sammlungen gelten, die sehr wahrscheinlich auf alten, in der Nähe der Verfasser veranstalteten Corpora beruhen. Es handelt sich um den bereits erwähnten Münchener ‚Frauendienst‘-Codex KLD L und den Grundstock der Reinmar von Zweter-Handschrift D. Mit gewissen Abstrichen wird man aber auch das Frauenlob-Corpus in der Weimarer Liederhandschrift F als späte Abschrift einer verhältnismäßig autornahen Aufzeichnungsform erwähnen können. Der cgm 44 überliefert 54 Lieder und den Leich (KLD 25) Ulrichs von Liechtenstein, und zwar in derselben Reihung wie im Codex Manesse und mit nur geringen Abweichungen gegenüber der Textgestalt von C.66 Die großen Gemeinsamkeiten zwischen KLD L und C deuten auf eine außerordentlich stabile Überlieferung hin, die letztlich dadurch ermöglicht wurde, dass → Ulrich von Liechtenstein in einer gemeinsamen Vorstufe *LC die lyrischen Texte in das mære von den beiden Minneverhältnissen des biographisch konturierten Erzähler-Ichs integrierte: Die Überblendung des Erzählers mit der Person des einflussreichen steirischen Ministerialen markiert dabei auf das deutlichste die Autorschaft der inserierten Lyrica, und aufgrund der engen Verknüpfung der Lieder und des Leichs mit ihrer textuellen Umgebung sichert der Plot die Abfolge der Lieder und weitgehend auch ihren Bestand.67 Die Stellung der Einlagen im Gesamttext wird im Übrigen durch Beischriften abgesichert, welche die Lieder nummerieren und sie zu bestimmten Subgenres zuordnen. Auf diese Weise ließ sich die umfassende schriftliterarische Sicherung von Ulrichs lyrischem Œuvre erreichen. Außerdem entstand dadurch eine elaborierte Interaktion zwischen einem epischen Rahmen und den eingeschobenen Minneliedern: Die lyrischen Texte konkretisieren dabei prägnant und in metrisch anspruchsvoller Gestalt die Liebeserfahrung der zentralen literarischen Figura des Textes, während die Erzählung von Erlebnissen des zum Minneritter stilisierten Verfassers die in den Liedern allenfalls angedeutete Geschichte von der minne des sprechenden Ichs narrativ entfaltet. Das Verfahren 66 In L fehlen lediglich die letzten drei der in C tradierten Lieder (KLD 57–59); außerdem ist der überwiegende Teil von KLD 37 einem Blattverlust zum Opfer gefallen. 67 Die geringen Differenzen zu C erklären sich aus den üblichen Imponderabilien der skriptographischen Tradierung. Das Lied KLD 59 gilt im Übrigen als eine Anlagerung in der Handschrift C.
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Ulrichs von Liechtenstein, seine lyrischen Texte durch die Integration in einen Roman zu thesaurieren, ist für die europäische Literatur des Hochmittelalters einzigartig.68 Eine andere Möglichkeit, die Herrschaft über ein Œuvre aus Liedern und Sprüchen zu sichern, die Erstellung einer vom Autor selbst veranstalteten und geordneten Werksammlung, ist dagegen öfter genutzt worden. Im Spätmittelalter sind solche autornahen Kollektionen sowohl für Verfasser gesichert, die noch in der Tradition des Minnesangs stehen (v. a. Hugo von Montfort, → Oswald von Wolkenstein), als auch für die Vertreter der späten Sangspruchdichtung (z. B. Michel Beheim).69 In der Überlieferungsgeschichte der hochmittelalterlichen Lyrik wird dieser Tradierungstyp vor allem bei dem Spruchdichter Reinmar von Zweter greifbar. Zwar haben sich keine Handschriften erhalten, die noch aus der Entstehungszeit der Texte stammen, es gibt jedoch klare Hinweise darauf, dass der um 1300 entstandene Heidelberger Codex D auf eine frühe Werksammlung zurückgeht, die womöglich durch Reinmar von Zweter selbst angelegt worden ist.70 Auch die Weimarer Liederhandschrift F71 beruht auf einer alten Quelle (*F). Deren Grundstock lässt sich zwar nicht als ‚authentische Œuvre-Sammlung‘ bezeichnen, es handelt sich aber immerhin um „eine ‚Schulsammlung‘ […], die noch unter dem Eindruck des Meisters nicht allzu lange nach seinem Tod entstanden ist“72 und die neben den Dichtungen Frauenlobs (darunter einige Lieder) auch die Texte seiner Schüler enthält.73
7 Re-Anonymisierung – Die Minnesangüberlieferung in den Addenda der großen Lyriksammlungen Für die Geschichte der Minnesangüberlieferung ist es aufschlussreich, dass die mehr oder minder autornahen Spruchcorpora der Handschriften D und F um anonymisierte Einzelaufzeichnungen und Kleinsammlungen mit den Texten anderer Autoren erweitert worden sind, in denen dann auch das Minnelied vertreten ist und die überdies große Ähnlichkeiten mit den oben beschriebenen Überlieferungsformen des Typs I und II besitzen. 68 Vergleichbar ist allenfalls die bereits erwähnte Tradition der altfranzösischen Romane mit Lyrikeinlagen (vgl. Anm. 26), in die freilich nicht die Lieder der Romanverfasser integriert worden sind, sondern die anderer Autoren. Vgl. zusammenfassend Cramer 2002, 80–81. 69 Vgl. Holznagel 2001, 362–263, 373–374 (mit den Anm. 37, 41 und 42). 70 www.handschriftencensus.de/4924 (10. April 2019); Wachinger 1981b; Schanze 1984, Bd. 2, 177–179; RSM, Bd. 1, 173–174; Holznagel 2001, 118–120, 130 (mit Anm. 66, 70, 75); Miller und Zimmermann 2007, 187–195. 71 www.handschriftencensus.de/7154 (10. April 2019); GA, 37–48; Voetz 1988, 261–263; Kornrumpf 1989, 26–50; Morgenstern-Werner 1990; RSM, Bd. 1, 273; Janota 1999; Kornrumpf 1999b. 72 Vgl. Wachinger 1987b, 200–201. 73 Vgl. Wachinger 1987b, 195–201; Kornrumpf 1989, 28–41.
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Die Nachträge in D sind in der Handschrift durch Absätze beziehungsweise Spatien als eigenständige Einheiten markiert und lassen sich auf dieser Grundlage in drei Segmente gliedern: D 216–233 ist eine anonyme Kollektion von Sangspruchstrophen verschiedener Autoren zum Thema ‚Liebe‘, in die auch ein Minnelied integriert worden ist (Walther von Mezze KLD 6); bei D 234–238 handelt es sich um die Einzelaufzeichnung eines geistlichen Tageliedes (Namenlos KLD D), bei D 239–256 um ein kleines Walther von der Vogelweide-Corpus aus Sprüchen im Wiener Hofton und zwei Liedern (L 53,25; L 43,9). Außerdem folgen noch zwei regelrechte Nachträge mit ‚Wartburgkrieg‘-Strophen (D 257–258) und drei Sprüchen in Frauenlobs Grünem Ton (D 259–261).74 Die Handschrift F tradiert im Anschluss an die Frauenlob-Sammlung ein anonymes Minnesang-Florilegium mit 46 Strophen aus 16 Minneliedern (darunter einige Einzelstrophen und Kurzvarianten zu anderwärts umfangreicher tradierten Tönen), von denen die meisten Walther von der Vogelweide zugesprochen werden.75 Mit diesen Anlagerungen in D und F wird erneut die Existenz von Wegen in die Schriftlichkeit bestätigt, die sich vor, neben und nach den alemannischen Haupthandschriften etabliert haben. Überdies verweisen diese Addenda auf einen übergreifenden Prozess, der als Re-Anonymisierung der Lyriküberlieferung bezeichnet werden kann. Er setzt kurz nach 1300 ein und ist so weitreichend, dass er sogar die Nachtragsschichten von A und B mitbestimmt, von den Handschriften mithin, deren Grundstöcke die historisch so bedeutende Durchsetzung des Autor- und Corpusprinzips besonders eindrucksvoll dokumentieren.76 So trägt der Anhang von A (= a) ohne jede Autorzuschreibung ein Minnesangflorilegium (a 1–46), eine Sangspruchkollektion (a 47–57) sowie zwei Liedeinzelaufzeichnungen (a 57–59; a 60) zusammen. B hängt, wie oben bereits erwähnt, an den Grundstock ohne Bild und Verfassernamen das Kleincorpus mit drei Liedern Wolframs (S. 178–179) an, das in seiner Art gut vergleichbar ist mit dem Nachtrag der beiden Tagelieder in MF G. Parallelen zum Typus des Minnesangflorilegiums weist die direkt folgende Sammelüberlieferung mit den Liedern Neidharts, Goelis, Konrads von Kirchberg und einiger Anonyma (S. 182–204) auf, während die beiden Sangspruchreihen mit dem ‚Winsbecke‘-Komplex (S. 206– 288) und den Strophen Des Jungen Meißners (S. 240–251) dem Tradierungstyp der anonymen Sangspruchkollektionen entsprechen. Addenda dieser Art verdeutlichen also, dass selbst im Zentrum der alemannischen Lyriküberlieferung die Anwendung des Autorprinzips keine Selbstverständlichkeit
74 Zu den Addenda in den Handschriften D vgl. Holznagel 2001, 118–120. 75 Im Falle von F 11–13 und F 38–39 gibt es in der Parallelüberlieferung Zuschreibungen sowohl an Walther von der Vogelweide als auch an andere Autoren (Rubin und Rudolf von Fenis); F 40–44 ist außerhalb von F nur unter dem Namen Friedrichs von Hausen bezeugt. – Zu dem Walther-Florilegium in F, das ein wichtiger Baustein ist für die Rekonstruktion des in Anm. 65 erwähnten niederdeutschen Zweiges der Walther- und Reinmar-Überlieferung, vgl. Brunner u. a. 1977, 33–34*; Kornrumpf 1989, 41–42; Janota 1999; L/Bein, XXXIII–XXXIV. 76 Vgl. Holznagel 1995b, 110–120, 134–139.
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darstellt und dass eine mit einem Verfassernamen verbundene Überlieferung unter den medialen Bedingungen des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts immer Gefahr läuft, anonymisiert zu werden. Autorrubriken in den Handschriften A, B und C sollten demnach nicht als eine Errungenschaft betrachtet werden, die, einmal etabliert, jede weitere Tradierung bestimmte, sondern als Ausdruck eines dezidierten Interesses, die in den Vorlagen vorgefundenen Namen zu übernehmen und festzuhalten. Anders gewendet: Es handelt sich bei den Verfasserangaben in den Lyrikhandschriften um die Resultate einer aktiven Form von memoria, die bewusst dem Prozess des Vergessens entgegenzuwirken suchte. Im Übrigen konzeptionalisierte dieses Erinnern seinen Gegenstand, wie der Überblick über die Haupthandschriften gezeigt hat, auf eine durchaus unterschiedliche Weise: Während B und C die mittelhochdeutschen Lyriker über die Bilder als Mitglieder der adligen Welt präsentieren, scheinen die übrigen Haupthandschriften andere Aspekte der Autorschaft in den Vordergrund zu stellen: A streicht die Verfasser als Vertreter einer als verbindlich erachteten Texttradition heraus, E ihren Rang als lokalgeschichtliche Berühmtheiten, und J betont ihre Bedeutung als Erfinder metrisch-musikalischer Formen.77
8 Die Überlieferung von 1350 bis zum sechzehnten Jahrhundert In der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, gewissermaßen auf dem Höhepunkt seiner schriftliterarischen Präsenz, bricht das System der hochmittelalterlichen Lyrik in deutscher Sprache ab, bis dann um 1400 (nach einer Überlieferungslücke von mehreren Jahrzehnten) das neue, durch die Spannung zwischen Tradition und Innovation bestimmte Lyriksystem des Spätmittelalters entsteht, das zwar immer wieder (und in unterschiedlich deutlicher Weise) auf das Minnelied und die Sangspruchdichtung des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts zurückgreift, jedoch aufs Ganze gesehen in Inhalt und Form andere Wege geht. Unter ihnen sind das meisterliche Lied und der Meistersang herauszustreichen, ferner ist die Fortführung der Neidhart-Tradition und die Kunst der spätmittelalterlichen adligen Minnesänger zu nennen sowie die anonyme Lyrik der weltlichen und geistlichen Liederbücher. Dieser Umbruch in der Produktion der Lyrik macht es verständlich, dass es (von wenigen Ausnahmen wie F oder Ca einmal abgesehen) seit der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts keine repräsentativen Sammlungen für den klassischen Minnesang mehr gibt. Gleichwohl reißt die Kette der schriftlichen Aufzeichnungen nicht gänzlich ab; vielmehr konnten die Minnelieder im Laufe des fünfzehnten Jahrhunderts immer wieder in mediale Formate integriert werden, die für die neuen lyrischen Diskurse des
77 Vgl. hierzu Holznagel 1995b, 57–62.
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Spätmittelalters entwickelt worden waren. Dies gilt insbesondere für die Sammlungen der späten Neidharte und die weltlichen Liederbücher. Daneben kann der hochmittelalterliche Minnesang in inhaltlich wie formal offenen Sammelkontexten erscheinen, in Minnereden-Handschriften etwa oder in Mischhandschriften des Hausbuch-Typs, und hier begegnen dann auch wieder ältere Überlieferungstypen in der Art der Einzelaufzeichnungen in fremder Umgebung sowie der anonymen Florilegien und Kleinsammlungen. Diese Überlieferungssituation ändert sich erst am Ende des fünfzehnten und zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts. Als mit der Durchsetzung der Drucktechnologie auch für das deutschsprachige Lied charakteristische typographische Medien wie Einzelblattdrucke, Liederhefte oder gedruckte Liederbücher entstehen, sind in diesen neuen Tradierungstypen nur noch wenige Minnesangtexte vertreten, und mit dem Neidhart-Druck von 1566 endet dann 330 Jahre nach dem Codex Buranus die schriftliche Überlieferung des höfischen Liebesliedes erst einmal – während der Gelehrte und Polyhistor Melchior Goldast von Haiminsfeld zeitgleich beginnt, Texte aus dem Codex Manesse78 für den zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs aufzuarbeiten, und damit eine ganz neue Phase in der Beschäftigung mit der Lyrik des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts einläutet.
Siglenverzeichnis 1 Verzeichnis der Textzeugen zur Minnesangüberlieferung A
B
Bu
C
Ca Cb D
Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 357 (Kleine Heidelberger Liederhandschrift); 1270–1280 (mit Erweiterungen des vierzehnten Jahrhunderts); elsässisches Sprachgebiet Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. HB XIII 1 (Weingartner Liederhandschrift); nach 1300 (mit Nachträgen aus dem ersten Viertel des vierzehnten Jahrhunderts); Konstanz Budapest, Széchényi-Nationalbibliothek, Cod. germ. 92 (Budapester Fragment); Ende des dreizehnten Jahrhunderts; bairisch-österreichisches Sprachgebiet Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 848 (Große Heidelberger Liederhandschrift; Codex Manesse); um 1300 (mit Nachträgen aus der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts); Zürich Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Berol. mgq 519 (Troßsches Bruchstück); erste Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts; alemannisches Sprachgebiet Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Berol. mgo 125 (Naglersches Bruchstück); Anfang des vierzehnten Jahrhunderts; alemannisches Sprachgebiet Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 350; um 1300; südrheinfränkisches Sprachgebiet
78 Günzburger 1988, bes. 372–375, 379–382; Voetz 2000.
Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge
E F Frauenlob v Frauenlob Z J KLD Ll KLD Mb
M MF G; KLD G MF S Neidhart Ma; Walther Ma Neidhart O Neidhart R
Neidhart z
Walther G Walther i; MF i; KLD i Walther i2; MF i2; KLD k
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München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. Ms. 731 (Hausbuch des Michael de Leone); 1345–1354; Würzburg Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Cod. Quart 564 (Weimarer Liederhandschrift); drittes Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts; Nürnberg Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 401; ca. 1300; bairisch-österreichisches Sprachgebiet Marburg, Staatsarchiv, 147 Hr. 1,2; erste Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts; niederdeutsches Sprachgebiet Jena, Universitätsbibliothek, Ms. El. f. 101 (Jenaer Liederhandschrift); ca. 1330; niederdeutsches Sprachgebiet Leipzig, Universitätsbibliothek, Ms. 1285; um 1300; mitteldeutsches Sprachgebiet Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, mgq 981 (Marburger Frühlingslied); Anfang des vierzehnten Jahrhunderts; niederdeutsches Sprachgebiet München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 4660/4660a (Codex Buranus); 1230 (mit Nachträgen); bairisch-österreichisches Sprachgebiet München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 19; um 1250; bairisch-ostalemannisches Sprachgebiet Kremsmünster, Stiftsbibliothek, CC 248, Bl. 237v; Mitte oder zweite Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts; bairisches Sprachgebiet Maastricht, Rijksarchief, Ms. 237 (olim Ms. 167 III.11) (Maastrichter Fragment); letztes Drittel des dreizehnten Jahrhunderts; niederdeutsches Sprachgebiet Frankfurt a. M., Stadt- und Universitätsbibliothek, Ms. germ. oct. 18; Anfang des vierzehnten Jahrhunderts; niederdeutsches Sprachgebiet (Ostfalen) Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, mgf 1062 (Riedegger Sammelhandschrift); Ende des dreizehnten Jahrhunderts; niederösterreichisches Sprachgebiet Drucke des ‚Neidhart Fuchs‘ – Augsburg: Johann Schaur ca. 1491/92 1. Exemplar: Hamburg, Staats-und Universitätsbibliothek, In scrinio 229c 2. Exemplar: Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 8° Inc. 100996 – Nürnberg: Jobst Gutknecht 1537 Exemplar: Zwickau, Ratsschulbibliothek, 30.5.22 – Frankfurt a. M.: Martin Lechler für Sigmund Feyerabend und Simon Hüter 1566 1. Exemplar: Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Yg 3851. 2. Exemplar: Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 8° L. 1878f München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 5249/74; Mitte des vierzehnten Jahrhunderts; bairisches Sprachgebiet Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 97 (‚Rappoltsteiner Parzifal‘); ca. 1335; Straßburg Rom, Biblioteca Casanatense, Mss. 1409 (Teilabschrift des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘); erste Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts; elsässisches Sprachgebiet
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Franz-Josef Holznagel
Walther L; KLD L
Walther m Walther N Walther o; KLD o
Walther p; MF p; Neidhart p; KLD p Walther s; MF s
Walther U; MF U
Walther w
Walther x
Walther y
Walther Z ohne Sigle ohne Sigle
München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 44 (‚Frauendienst‘-Handschrift); Ende des dreizehnten Jahrhunderts; niederösterreichisches Sprachgebiet Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, mgq 75 (Mösersches Fragment); um 1400; niederdeutsches Sprachgebiet Kremsmünster, Stiftsbibliothek, CC 127; zweite Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts; bairisch-österreichisches Sprachgebiet Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, mgq 284 (Berliner ‚Tristan‘-Handschrift N); drittes Viertel des vierzehnten Jahrhunderts, mittelfränkisches Sprachgebiet Bern, Burgerbibliothek, Cod. 260; 1352 (Berner Hausbuch); Straßburg Den Haag / ’s-Gravenhage, Koninklije Bibliotheek, Cod. 128 E 2 (Haager Liederhandschrift); um 1400; niederrheinisch-niederländisches Sprachgebiet Sammelsigle für Walther Ux/Uxx Wolfenbüttel, Landeskirchliches Archiv, Depositum Predigerseminar H 1; Ende des dreizehnten Jahrhunderts; niederdeutsches Sprachgebiet (Braunschweig) Sammelsigle für Walther wx, wxx, wxvii Wolfenbüttel, Landeskirchliches Archiv, Depositum Predigerseminar H 1a Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Berol. mgo 462 viertes Viertel des dreizehnten Jahrhunderts; niederdeutsches Sprachgebiet (Ostfalen) Druck der Möringer-Ballade Bamberg: Hans Sporer 1493; Exemplar: Paris, Bibliothèque nationale, Rés. Yh 86 Handschrift mit der Möringer-Ballade Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vindob. 2493 (Nikolaus Thoman ‚Weißenhorner Historie‘); 1542; schwäbisches Sprachgebiet Münster, Staatsarchiv, Ms. VII Nr. 51 (Münsteraner Fragment); erste Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts; niederdeutsches Sprachgebiet (Westfalen) Halberstadt, Domschatz, Inv.-Nr. 468, Bl. 264v; dreizehntes Jahrhundert; niederdeutsch-hochdeutsche Sprachmischung Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, mgq 612 (Berliner niederrheinische Liederhandschrift), 1574–1601; niederrheinisches Sprachgebiet
2 Erwähnte Textzeugen der Sangspruchüberlieferung ohne Minnelieder Frauenlob Z KLD h Walther q Walther r
Marburg, Hessisches Staatsarchiv, 147 Hr. 1,2; erste Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts; niederdeutsches Sprachgebiet Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 349; zweite Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, alemannisch-elsässisches Sprachgebiet Basel, Universitätsbibliothek, B. XI. 8; alemannisches Sprachgebiet (Basel) Zürich, Zentralbibliothek, Z. XI. 302; um 1300; alemannisches Sprachgebiet
Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge
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Franz-Josef Holznagel
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Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge
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Franz-Josef Holznagel
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Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge
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András Vizkelety und Karl-August Wirth: Funde zum Minnesang. Blätter aus einer bebilderten Liederhandschrift. In: PBB 107 (1985), 366–375. Lothar Voetz: Überlieferungsformen mittelhochdeutscher Lyrik. In: Mittler und Werner 1988, 224–274, 548–584. Lothar Voetz: Zur Rekonstruktion der verlorenen Blätter im Neidhart-Corpus des Codex Manesse. In: Septuaginta quinque. Festschrift für Heinz Mettke. Hg. von Jens Haustein, Eckhard Meinecke und Norbert Richard Wolf. Heidelberg 2000 (Jenaer germanistische Forschungen NF 5), 381–408. Lothar Voetz: Codex Manesse. Die berühmteste Liederhandschrift des Mittelalters. Darmstadt 2015. Benedikt Konrad Vollmann: Carmina Burana. In: MGG 2 (1995), 456–459. Burghart Wachinger: Der Anfang der Jenaer Liederhandschrift. In: ZfdA 110 (1981), 299–306. [1981a] Burghart Wachinger: Heidelberger Liederhandschrift cpg 350. In: 2VL 3 (1981), 597–606. [1981b] Burghart Wachinger: Deutsche und lateinische Liebeslieder. Zu den deutschen Strophen der Carmina Burana. In: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung. Hg. von Hans Fromm. Bd. 2. Darmstadt 1985 (WdF 608), 275–308. Burghart Wachinger: Jenaer Liederhandschrift. In: 2VL 6 (1987), 512–516. [1987a] Burghart Wachinger: Von der Jenaer zur Weimarer Liederhandschrift. Zur Corpusüberlieferung von Frauenlobs Spruchdichtung. In: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag. Hg. von Ludger Grenzmann, Hubert Herkommer und Dieter Wuttke. Göttingen 1987, 193–207. [1987b] Burghart Wachinger: Autorschaft und Überlieferung. In: Autorentypen. Hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea 6). Burghart Wachinger: Lieder und Liederbücher. Gesammelte Aufsätze zur mittelhochdeutschen Lyrik. Berlin u. a. 2011. Max Wehrli: Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 21984. Lorenz Welker: Jenaer Liederhandschrift. In: MGG 4 (1996), 1455–1460. Edith Wenzel und Horst Wenzel: Die Handschriften und der Autor – Neidharte oder Neidhart? In: Edition und Interpretation. Neue Forschungsparadigmen zur mittelhochdeutschen Lyrik. Festschrift für Helmut Tervooren. Hg. von Johannes Spicker u. a. Stuttgart 2000, 87–102. Jürgen Wolf: Ulrich von Liechtenstein im Buch. In: Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung. Hg. von Sandra Linden und Christopher Young. Berlin u. a. 2010, 487–514. Franz Josef Worstbrock: Der Überlieferungsrang der Budapester Minnesang-Fragmente. In: Wolfram-Studien 15 (1998), 114–142.
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Franz-Josef Holznagel
Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 357: www.handschriftencensus.de/4927 (10. April 2019). Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 848: www.handschriftencensus.de/4957 (10. April 2019). Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. El. f. 101 und Dillingen, Studienbibliothek, XV Fragm. 19: www.handschriftencensus.de/4998 (10. April 2019). Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 97: www.handschriftencensus.de/5020 (10. April 2019). Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Berol. mgo 125: www.handschriftencensus.de/1303 (10. April 2019). Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Berol. mgq 519: www.handschriftencensus.de/11781 (10. April 2019). Kremsmünster, Stiftsbibliothek, Cod. 127: www.handschriftencensus.de/1417 (10. April 2019). Kremsmünster, Stiftsbibliothek, Cod. 248: www.mr1314.de/1297 (10. April 2019). Leipzig, Universitätsbibliothek, Ms. 1285: www.mr1314.de/1298 (10. April 2019). München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 19: www.mr1314.de/1223 (10. April 2019). München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 44: www.mr1314.de/1307 (10. April 2019). München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 4660 und 4660a: www.mr1314.de/1671 (10. April 2019). München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. ms. 731 (Cim. 4): www.handschriftencensus.de/6441 (10. April 2019). Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. HB XIII 1: www.handschriftencensus.de/5914 (10. April 2019). Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 401: www.handschriftencensus.de/16296 (10. April 2019). Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Cod. Quart 564: www.handschriftencensus.de/7154 (10. April 2019).
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Kremsmünster, Stiftsbibliothek, Cod. 127, Bl. 130r. Abb. 2: München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 4660 und 4660a, Bl. 61r. Abb. 3: Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, mgf 1062, Bl. 48r. Abb. 4: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 97, Bl. 115v. Abb. 5: Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. HB XIII 1, S. 23. Abb. 6: Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. El. f. 101, Bl. 79v.
Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge
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Abb. 1: Kremsmünster, Stiftsbibliothek, Cod. 127, Bl. 130r: Nachtrag von fünf Strophen mit Walthers von der Vogelweide Si wunderwol gemachet wîp (L 53,25). Die letzte Strophe ist eindeutig als Nachtrag im Nachtrag zu erkennen.
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Abb. 2: München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 4660 und 4660a, Bl. 61r: Einschub der Eingangsstrophe aus Heinrichs von Morungen Ich bin keiser âne krône (MF 142,19) in eine lateinisch-mittelhochdeutsche Überlieferungseinheit (CB 150 und CB 150a).
Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge
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Abb. 3: Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, mgf 1062, Bl. 48r: Anfang einer Sektion von Liedern Neidharts in der gattungsübergreifenden ‚Riedegger Sammelhandschrift‘ (mit den ersten Strophen von WL 25 / SNE I: R 1, Owe sumerzit).
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Abb. 4: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 97, Bl. 115v: Minnesangflorilegium ohne Verfassernennungen aus dem ‚Rappoltsteiner Parzifal‘.
Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge
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Abb. 5: Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. HB XIII 1, S. 23: Schluss der Sammlung mit den Liedern Meinlohs von Sevelingen sowie das Bild, mit dem das Corpus mit den Liedern Ottos von Botenlauben eröffnet wird.
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Abb. 6: Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. El. f. 101, Bl. 79v: Melodie- und Textüberlieferung des Frühlingsliedes WIZ Lied 9 sowie der Beginn der Notenaufzeichnung des thematisch ähnlichen Stückes WIZ Lied 10.
Manfred Eikelmann und Daniel Pachurka
Varianz
1 Varianz in der Liedüberlieferung Die Minnesang-Philologie versteht unter ‚Varianz‘ alle Abweichungen (Varianten, Lesarten) zwischen den verschieden realisierten Textzeugen eines Liedes oder Liedkorpus in Relation zu ihrem gemeinsamen Textbestand. Im Zuge der Auseinandersetzung mit den Positionen der Neuen Philologie (New Philology) meint der Begriff daher auf sehr allgemeiner Ebene die „Summe aller Unterschiede zwischen zwei und mehreren Texten“1. Konkret bezieht sich der Varianz-Begriff auf den für die mittelalterliche Lyrik grundlegenden Sachverhalt doppelt oder mehrfach bezeugter Liedtexte und setzt methodisch bei dem Problem an, wie die Verschiedenheit der überlieferten Texte kategorial zu fassen und im Hinblick auf die Frage nach Autor, Werk und Œuvre zu bewerten ist. In diesem Rahmen umfasst Varianz unterschiedliche Typen divergenter Liedüberlieferung, die je gesondert nach Erscheinungsform, Entstehung und Wertigkeit betrachtet werden müssen.2 Dazu zählen nach heutigem Verständnis sowohl offensichtliche Schreiberfehler als auch der gesamte Bereich der iterierenden Varianten, die innerhalb einer Überlieferung häufig wiederkehren, ohne in Gestalt und Sinn der einzelnen Texte stark einzugreifen.3 Zentral für Status und Textkonstitution des Minneliedes ist der Typus der sinnverändernden Varianten, weil die textuellen Abweichungen als intentionale Eingriffe in Wortlaut, Textgestalt, Strophenzahl und Strophenfolge identifizierbar sind und daher als sinnhafte Differenz erkannt werden müssen. Um die Varianz des Minneliedes adäquat zu erklären, sind dabei die Spuren der Einrichtung der Texte für die Aufführung und die Modalitäten ihrer schriftlichen Aufzeichnung zu berücksichtigen. Denn nicht zufällig wird die Liedüberlieferung als das „beliebteste […] Paradigma für Varianz“4 gesehen: Bei ihr sind textuelle Abweichungen nicht direkt auf eine einzige ‚originale‘ oder ‚richtige‘ Werkeinheit zurückführbar, vielmehr muss man mit alternativen Fassungen, Spielräumen der TextvariaAnmerkung: Die Forschungen zur Überlieferungsvarianz des Minnesangs haben eine Vielzahl und Fülle erreicht, die den Rahmen eines einzelnen Artikels weit überschreiten. Unser Beitrag versucht eine erste Bestandsaufnahme, ohne Vollständigkeit auch nur von Ferne zu beanspruchen. 1 Lüpges 2011, 18. 2 Vgl. den Überblick bei Schweikle 1995, 16–23; eine detailliert ausgearbeitete Typologie bietet Lüpges 2011. 3 Das gilt v. a. für den je nach Überlieferung verschiedenen Gebrauch synonymischer Konjunktionen, Adverbien und Pronomina (da/do, dicke/oft, swer/wer etc.) oder auch für semantisch-syntaktisch gleichwertige Präfixe, Präpositionen, Sprachformeln und metrische Füllwörter. 4 Müller 1999, 162. https://doi.org/10.1515/9783110351859-003
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tion, vereinfachenden wie komplexitätssteigernden Bearbeitungen, doch auch mit der Zurichtung der Lieder für bestimmte Gebrauchskontexte rechnen, so dass sich im Minnesang der Werkbegriff entschieden vom autornahen Text zu den Liedfassungen sowie zur Pluralität varianter Textgestaltungen verschiebt. Das Begriffswort ‚Varianz‘ ist so wie ‚Variante‘ aus lat. variantia ‚Verschiedenheit‘ entlehnt.5 Seit den 1990er Jahren begegnet es als Schlüsselvokabel der Debatte um die New Philology,6 die – ausgehend von französisch/englisch variance – „den mittelalterlichen Text nur noch als Varianz wahrnahm“7. In jüngster Zeit widmet die Minnesang-Forschung dem Begriff verstärkt terminologische Überlegungen und nutzt ihn als Analysekategorie, die der besonderen Varianzproblematik des ‚offenen‘ und ‚unfesten‘ Liedtextes Rechnung trägt. Die editorische Erschließung der Varianz des Minneliedes ist eine zentrale Forschungsaufgabe, zumal Überlieferung, → Edition und Interpretation der Texte einander wechselseitig bedingen.8 Kriterium jeder wissenschaftlichen Edition ist daher die transparente Darstellung der Überlieferungsvarianten, wie sie textkritische und textgeschichtliche Apparate, diplomatische Abdrucke und Editionen eines Leittextes, synoptische Textausgaben und Fassungseditionen ermöglichen. Dabei richtet sich das editorische Vorgehen nicht nur nach den jeweiligen Überlieferungsverhältnissen, sondern gerade auch danach, welches Autor-Werk-Verständnis vorausgesetzt ist, denn „der Begriff der Varianz gewinnt für den Editor erst innerhalb eines so gesetzten Rahmens Sinn und Berechtigung“9. Die Editionskonzepte, die in jüngster Zeit namentlich für → Reinmar, → Walther, → Neidhart und → Frauenlob diskutiert wurden,10 bewegen sich zwischen den extremen Positionen der älteren und Neuen Philologie, indem sie weder das ‚originale‘ Werk der Autoren direkt rekonstruieren noch sich nur mit dem Abdruck vermeintlich gleichrangiger Überlieferungszeugnisse begnügen wollen.
5 Das lateinische Wort ist, obgleich nicht zahlreich, klassisch und mittellateinisch belegt, vgl. Der Neue Georges 2, 4932; DMLBS online, Art. variantia. Im Wort Varianz ist der lateinische Ursprung aus variare – ‚färben‘, ‚bunt machen‘; ‚verändern‘, ‚abwechseln‘; ‚verschieden/ungleich sein‘ leicht nachvollziehbar, der auch den Begriffen Variante und Variation zugrunde liegt. 6 Vgl. Willemsen 2006, 11–12. 7 Schubert 2000, 41. 8 Stackmann 1983 bietet Überlegungen zum Wechselverhältnis von Editionspraxis und Interpretation. 9 Schubert 2000, 42. 10 Vgl. Hausmann 1999, 36–75; L/BEIN, LXVI–LXVIII; Bleuler 2008, 11–24; SNE III, 545–563; Hoppe 2018, 73–76; Köbele 2003, 21–45.
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2 Abriss der Forschungsgeschichte Für die Rekonstruktionsphilologie, wie Karl Lachmann sie beispielhaft in seiner zuerst 1827 erschienenen Ausgabe der ‚Gedichte Walthers von der Vogelweide‘ praktizierte, ist ein eigener Umgang mit Überlieferungsvarianz kennzeichnend: Varianz geht demnach primär auf einen „Prozeß der Textverschlechterung“11 innerhalb der Überlieferungsgeschichte zurück.12 Lachmanns Methode setzt sich dabei das Ziel, auf dem Wege der stemmatischen (d. h. in einem Stammbaum der Textzeugen aufgeschlüsselten) Rekonstruktion, einen ‚echten‘ Autor-Text zu erreichen,13 der sich dem ‚wahren Zustand‘ eines gedachten Originaltextes annähert und als Archetyp bezeichnet wird.14 Im Gefolge Lachmanns orientierte sich die Minnesang-Forschung am autonomieästhetischen Autor-Werk-Begriff des neunzehnten Jahrhunderts und nahm eine qualitative Bewertung der Texte vor, insofern sie auch gegen die handschriftlichen Befunde Strophen und Lieder für ‚unecht‘ erklärte und verwarf (Athetese).15 Geprägt von subjektiv gefärbten Entscheidungen, hat diese ‚Echtheitskritik‘ insbesondere bei Reinmar und Neidhart hochgradig selektive und editorisch konstruierte Liedœuvres16 hervorgebracht und somit „immer weiter von den überlieferten Textfassungen weggeführt“17. Im Unterschied dazu edierte Friedrich Heinrich von der Hagen in seiner vierbändigen Ausgabe ‚Minnesinger‘ aus dem Jahre 1838 die Lieder nach einer Leithandschrift, die anhand der Textvarianten ermittelt wird.18 Varianz resultiert in dieser Perspektive nicht aus fortlaufender Textverschlechterung, sondern ist als Überlieferungsbefund anerkannt, so dass gleichwertige Fassungen den Leittext ergänzen und korrigieren.19 In jüngerer Zeit sind diesem Ansatz Hugo Moser und Helmut Tervooren in ihrer Neuausgabe von ‚Des Minnesangs Frühling‘ (1977, 1988) verpflichtet,20 wobei sie von der Strophe als ordnender Größe ausgehen, da innerhalb eines Liedes „die Leithandschrift von Strophe zu Strophe“21 wechseln kann. Dementsprechend 11 Bumke 1996, 49; vgl. weiterhin Lüpges 2011, 27. 12 Vgl. Bein 2011a, 77–78; Stackmann 1997, 15; Schweikle 1994, 117–118. 13 Vgl. Holznagel 1999, 41. 14 Vgl. L, III. 15 In L wurden von Lachmann 92 Strophen, ca. 17 Prozent des Bestandes, für unecht erklärt; vgl. Holznagel 1999, 53–55. 16 Die umfangreichen Athetierungen der Reinmar- und Neidhart-Überlieferung erörtern Tervooren 1991 und Bennewitz 2018. 17 Schweikle 1995, 65. Exemplarisch für diese Editions- und Interpretationspraxis ist von Kraus 1935. Ein umstrittenes Textbeispiel ist Walthers Aller werdekeit ein füegerinne (L 46,32), bei dem man zwei Strophen aus dem überlieferten Textverbund herausgelöst und als eigenständiges Lied mit programmatischer Minnediskussion interpretiert hat; vgl. Bein 2015, 47–58. 18 Vgl. HMS I, XXXIX; vgl. auch MF2, 16. 19 Vgl. Bein 2011a, 87; Stackmann 1997, 24–25. 20 Vgl. MF, 7; MF2, 16. 21 MF, 7; Kritik an dieser Vorgehensweise äußern Schweikle 1995, 66, und Wachinger 1980, 263–265.
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stellt MF Varianz sowohl im Textapparat als auch durch den Abdruck von Liedfassungen dar.22 Dass durch Varianz mehrere Fassungen eines Liedes entstehen, gilt auch der Minnesang-Forschung inzwischen als „Grundprinzip mittelalterlicher Textlichkeit“23, das die plurale Existenzweise des Minneliedes24 ausmacht und erklärt. Die Neue Philologie, wie sie sich seit den 1980er Jahren in Abgrenzung gegen die Rekonstruktionsphilologie Lachmanns formiert hat, betrachtet die herkömmliche Ausrichtung auf den originalen Liedtext „als unhistorisch, unproduktiv“25 und sieht in der Überlieferungsvarianz „eine kreative Kraft der Textaneignung“ 26. Pointiert bezeichnet diese Sichtweise Bernard Cerquiglinis Satz: „[…] l’écriture médiévale ne produit pas des variantes, elle est variance.“27 Editionspraktisch sollen daher jede Handschrift und jede Variante gleichrangig verfügbar sein, so dass die Orientierung an der einzelnen Handschrift absolut gesetzt und die Kategorien Autor und Werk obsolet werden.28 Die extremen Positionen der Neuen Philologie haben eine fruchtbare Forschungsdebatte ausgelöst: Neben der intensivierten Methoden- und Theoriereflexion ist durch sie die Aufmerksamkeit für den handschriftlichen Text und das Varianzphänomen geschärft worden. Durchgesetzt hat sich aber auch die Erkenntnis, dass „auf die Größe ‚Autor‘ nicht gänzlich [zu] verzichten“29 ist. In der gegenwärtigen Minnesang-Forschung steht die begrifflich-theoretische Durchdringung der Varianz zwar noch am Anfang, doch haben sich in der editorischen Praxis – insbesondere bei Ermittlung und Darstellung von Liedfassungen – entscheidende Fortschritte erzielen lassen. Auch durch die Möglichkeiten elektronischer Editionen kann die in Textvarianten und Textfassungen greifbare Überlieferungsvarianz transparent erschlossen werden.30 Darüber hinaus hat sich Varianz als Leitkonzept etabliert, das es ermöglicht, Kategorien wie Autor und Werk, Korpus und Œuvre von Grund auf neu zu erörtern. Unter diesem Vorzeichen setzt man sich verstärkt mit der
22 Exemplarisch ist Albrechts von Johannsdorf Lied Ich und ein wîp (MF 87,29), das, wie die Herausgeber erklären, in „zwei verschiedenen Vortragsfolgen“ (MF2, 88) überliefert ist. 23 Bumke 1996, 54–55; vgl. auch HEI, IV. 24 Diese Einsicht hat Schweikle früh in seiner Minnesang-Ausgabe von 1977 (ML1) umgesetzt und damit ein alternatives Konzept zu MF erprobt; Heinen hat 1989 in ‚Mutabilität im Minnesang‘ (HEI) ausschließlich Lieder ediert, die mehrfach und in voneinander abweichenden Fassungen überliefert sind. 25 Bein 2011a, 90. 26 Starkey und Wandhoff 2008, 46. 27 Cerquiglini 1989, 111. 28 Vgl. Starkey und Wandhoff 2008, 49. 29 Stackmann 1998, 23. 30 Für das digitale LDM-Projekt bildet „die handschriftliche Überlieferung den zentralen Bezugspunkt der neuen Edition […]. […] Zum anderen enthält ‚Lyrik des deutschen Mittelalters‘ stets sämtliche Zeugen eines Textes und ediert diese für sich; sie bricht also mit dem rekonstruktionsphilologischen Konstrukt des Mischtextes. […] Die Verpflichtung auf die Überlieferung ist also das Leitprinzip“ (Einführung in die Edition, 1. Konzeption).
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„Konkurrenz von Autorprinzip und Überlieferungsprinzip“31 auseinander und geht der Frage nach, wie „die Kluft zwischen ‚Corpus‘ und ‚Œuvre‘ zu überbrücken, wie die Historizität von Textvarianz und Autorschaftskonzepten methodisch zu bewältigen sei“32. Denn innerhalb der Überlieferung haben Varianten qualitative Differenz, die einer nivellierenden Gleichrangigkeit von Fassungen entgegensteht.33
3 Erscheinungsformen und Typen der Liedvarianz Überlieferungsvarianz begegnet in unterschiedlichen textuellen Formen und auf unterschiedlichen Textebenen. Man muss differenziert betrachten, inwiefern sie die Semantik und Lexik, die Syntax und Morphologie, die Strophe, das Korpus und die Zuschreibung eines Liedes betrifft: a) Semantisch-lexikalische Varianz: Semantisch-lexikalische Varianz manifestiert sich in Textabweichungen, die auf intentionale Eingriffe zurückgehen. Gemeint sind daher nicht offenkundige Fehler oder iterierende Varianten,34 sondern Differenzen, die den Textsinn distinkt verändern und eine Interpretation fordern. So hat etwa in einer Strophe Albrechts von Johannsdorf (MF 86,1, III) die erste Zeile nach A den Wortlaut Ich wânde, daz mîn kûme waere erbiten, während B und C für die zweite Vershälfte den Text min kvmber waer erlitten bezeugen. Ein anderes zentrales Beispiel ist → Heinrichs von Morungen Ich bin iemer ander (MF 131,25). Das Lied ist in zwei Fassungen (A, B/C) bezeugt, deren Unterschiedlichkeit, das zeigen die Eingangszeilen, auf Textvarianten zurückgeht. Denn während B/C das Lied mit Ich bin iemer der ander, niht der eine beginnen lässt, heißt es in A Ich bin iemer ander und niht eine.35 b) Syntaktische und morphologische Varianz: Syntaktische Varianz betrifft z. B. Wort- oder Satzumstellungen und Auslassungen. In Editionen werden Umstellungen an das Reimschema angepasst, Auslassungen aus anderen Handschriften aufgefüllt. Morphologische Varianz wird in den Textausgaben zumeist durch Normalisierung beseitigt. Nicht immer ist diese Praxis adäquat: Walthers Ich hoere iu sô vil tugende jehen (L 43,9) weist in seinen acht Textzeugen viele sinnneutrale und dialektale Varianten auf, die jede für sich kaum das Sinnpotential des gesamten Textes berühren, insgesamt aber „semantische Relevanz haben“36 und als Bearbeitungen einer einzigen Fassung einzustufen sind. 31 Köbele 2003, 27. 32 Köbele 2003, 31. 33 Vgl. Worstbrock 1998, 129 und 142. 34 Vgl. die Diskussion und die Beispiele bei Schweikle 1995, 20, und Müller 1999, 165. 35 Eine eingehende Analyse bietet Egidi 2002, 221. 36 L/BEIN, LXVII.
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c) Strophenvarianz: Varianz der Strophenzahl und Strophenfolge ist ein Kernphänomen der Minnesang-Überlieferung. Die Strophe ist eine textuelle Einheit, der „eine spezifische Poetik beikommt, nämlich soweit in sich geschlossen zu sein, dass eine nahezu beliebige Veränderung ihrer Position möglich ist“37. Die potentielle Veränderbarkeit der Aussage eines Liedes korreliert eng mit Anzahl und Anordnung der Strophen. Am Beispiel Walthers von der Vogelweide hat Bein eine quantitative Übersicht für das Auftreten von Varianz auf der Strophenebene erarbeitet und gezeigt, dass Minnelied und Sangspruch fast identische „Varianzrelationen“38 aufweisen. Inwieweit dieses Ergebnis für den Minnesang generell gilt, bedarf vertiefender Analysen, da Aussagen zur Strophenvarianz auf einzelne Liedœuvres bezogen sein müssen. Wie sehr gerade Walthers Minnelieder exemplarisch für die poetische Dimension der Strophenvarianz sind, illustrieren bereits wenige Beispiele.39 So ist Si wunder wol gemachet wîp (L 53,25) in A, C, D, N sowie im Brünner Fragment als fünfstrophige Minnekanzone überliefert. Die Anordnung der Strophen weicht so markant ab, dass die Forschung drei Vortragsfassungen annimmt. Im Falle des zwei-, drei- und vierstrophig bezeugten Bin ich dir unmaere (L 50,19) gehen B, C, E und s dagegen nur bei jener Strophe (Frowe, dû versinne; L 50,19, IV) zusammen, „in der Walthers berühmte Definition der Minne formuliert wird“40, die jedes Mal in einer anderen Position erscheint. Swer verholne sorge trage (L 42,15) und Wil aber ieman wesen frô (L 42,31) sind in vier Handschriften überliefert, von denen jeweils zwei eine Fassung vertreten: Während BC eine Klage über die ungerechte Frô Saelde (IV, V. 1) an den Schluss stellt, bilden in EUx die Klagestrophen den Liedanfang vor den Strophen mit der Minnethematik.41 Weitere signifikante Beispiele sind Ich freudehelfelôser man (L 54,37) und das äußerst different überlieferte Die zwîvelaere sprechent, ez sî allez tôt (L 58,21). Ein spezielles Phänomen sind die vagierenden Einzelstrophen des Minnesangs.42 Es handelt sich dabei um Strophen, die „von Anfang an neben dem mehrstrophigen Lied aufgetreten sind als eigenständige Optionen lyrischer Komposition und gesellschaftsbezogenen Vortrags“43 – sie dürfen nicht mit einem einstrophigen Lied verwechselt werden. So lag die Strophe Mir ist geschehen als einem kindelîne (MF 145,1), die sogenannte Spiegelstrophe des Narzissliedes, wohl bereits dem Schreiber von C
37 Bein 2011b, 16; vgl. MF, 7–8. Vgl. die kritische Diskussion von Kohärenz in Hinblick auf die RuggeÜberlieferung bei Rudolph 2018, 60–67. Dem Verfasser sei herzlich dafür gedankt, dass er uns die Untersuchung schon vor dem Erscheinen zur Verfügung gestellt hat. 38 Bein 1999, 87. Die Kategorisierungen der Töne können hier nicht diskutiert oder dargestellt werden. 39 Cramer 1998, 50–106, hat eine erste Gesamtschau zur Strophenvarianz im Minnesang und speziell zu Walthers Liedern unternommen. 40 Steinmetz 1999, 82. 41 Vgl. Haustein 1999, 67–69. 42 Eingeführt ist die Bezeichnung bei Henkel 2001, 18. 43 Henkel 2001, 38–39.
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als Einzelstrophe vor, der sie als sinnvolles und abgeschlossenes Gebilde erkannt und dann auch als Einzelstrophe aus seiner Vorlage übernommen hatte; sie erscheint im Schlussteil des Morungen-Korpus.44 Im Anhang von E ist diese Strophe gemeinsam mit drei weiteren als Lied Reinmars überliefert. Die Überlieferung erlaubt keine sichere und eindeutige Zuschreibung.45 d) Korpus-Varianz: Aufgrund der Verschiedenheit der überlieferten Liedkorpora (Datierung, Umfang, Autoren-Zusammenstellung, Anordnung, Themen etc.) ist Korpus-Varianz gleichsam der Grundzustand, in dem uns die Lieder vorliegen. Es bedarf näherer Untersuchungen, ob und anhand welcher Kriterien eine konzeptionelle Verschiedenheit im Einzelfall fassbar wird.46 Denn in den überlieferten Korpora sind formale wie inhaltliche Textelemente – Vers- und Reimtechnik, Strophenbau, Sprecherrollen, Liebeskonzepte etc. – unterschiedlich realisiert. Korpus-Varianz ist dabei als Rezeptionsphänomen zu begreifen: Für das jüngere Riedenburg-Korpus etwa „verfolgte der C-Schreiber sein überformendes Verfahren offenbar mit planvoller Hand“47, wie an zahlreichen Veränderungen ablesbar ist, die es vom älteren Bu-Korpus signi fikant unterscheiden. e) Zuschreibungsvarianz: Zuschreibungsvarianz meint „das Auftreten eines Liedes unter verschiedenen Autornamen“48, das mehrere Ursachen hat. So erscheinen unter veränderter Zuschreibung nach Sinn und Form variierte Fassungen, ursächlich kann auch die Kolportage eines vom Autor abgelösten, dann durch Nachsänger oder ‚Dichterkollegen‘ aufgegriffenen Textes sein, der unter anderem Namen aufgezeichnet wurde. Namensgemeinschaften bestehen in der Regel aber nur unter Zeitgenossen wie Reinmar, → Hartmann und Walther.49 Im Falle des Liedes Frowe, lânt iuch niht verdriezen (L 85,34) sind in CE die Strophen I–V unter Walthers Namen, in A nur die Strophen I–III überliefert und Leuthold von Seven zugeschrieben. In ‚Leutholds Fassung‘ schließt das als Dialog angelegte Lied mit einem Schönheitspreis der frowe, für die der Mann den lîp gäbe; anders ‚Walthers Fassung‘, in der die Dame den Mann rhetorisch kunstvoll abweist.50 Zuschreibungsvarianz begegnet sogar innerhalb derselben Hand-
44 Vgl. Klein 2015, 20; Henkel 2001, 26; Müller 2010, 9. 45 Die Diskussion der Überlieferung mündet bei Klein 2015, 41, in die Schlussfolgerung: „Ob ursprünglich eine Einzelstrophe existierte, die kohärent zu einem vierstrophigen Lied erweitert wurde, oder ob ein solches Lied von Anfang an existierte, das in einer Handschrift nur unvollständig überliefert wird, lässt sich nicht sagen.“ 46 Vgl. die Ansätze zu Frauenlobs Langem Ton bei Wenzel 2012, 282–287. 47 Worstbrock 1998, 124. 48 Schweikle 1995, 20–21. 49 Vgl. Schweikle 1995, 28–29; ML1, 23; Bein 2011b, 20. 50 Vgl. L/BEIN, 649–650; in LDM: Braun, Kommentar zu: C Wa 45–49.
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schrift, wie das Lied Habe ich vriunt (MF 103,3) zeigt, dessen vier Strophen in C sowohl im Korpus Heinrichs von Rugge als auch Reinmars tradiert sind.51
4 Perspektiven: Fassung, Kohärenz und Liedpoetik Überlieferungsvarianz ist eine Grundgegebenheit mittelalterlicher Schrift- und Textkultur: Sie ist dies insbesondere auch für die Überlieferung des Minnesangs. Erklärt werden muss sie, das hat die Forschung seit den 1980er Jahren gezeigt, als Ausdruck der besonderen Textverhältnisse des Minnesangs. Verkennt oder überspringt man die nicht selten verzweigte Liedüberlieferung, führt dies zu konstruierten Texten, die den Zugang zu Autor, Werk und Œuvre verstellen. Im Zeichen dieser Einsichten hat sich die Varianz-Analyse als Denkrichtung etabliert, die sich mit dem Spannungsfeld von Liedüberlieferung und Autorschaft, Korpus und Liedœuvre auseinandersetzt. Ins Zentrum gerückt ist damit das Problem der Liedfassung, für die einheitliche Kriterien, sofern überhaupt möglich, erst noch zu erarbeiten sind.52 Denn anders als es für die Editionspraxis gilt, stellen Theoriekonzepte, die über die Betrachtung einzelner Autoren und Liedœuvres hinausgehen und die bestehenden Ansätze zu verbinden in der Lage sind, eine ungelöste Forschungsaufgabe dar. Von ‚Fassungen‘, so hat Joachim Bumke für die höfische Epik vorgeschlagen, sei zu sprechen, wenn die wörtlichen Übereinstimmungen einen solchen Umfang haben, dass man von demselben Werk ausgehen kann, sich aber zugleich „im Textbestand und/oder in der Textfolge und/oder in den Formulierungen“ nicht zufällig entstandene Unterschiede zeigen, die einen eigenen „Formulierungs- und Gestaltungswille[n]“ erkennen lassen.53 Als Kriterium trete hinzu, dass die Fassungen textgenetisch nicht voneinander abhängen und gleichrangig sind. Dieses Konzept gilt in modifizierter Form auch für die Überlieferung des Minnesangs: Liedfassungen sind dadurch bestimmt, dass „ein Ton in seinen unterschiedlichen handschriftlichen Realisierungen ein je anderes Sinnpotential aufweist“54. Insbesondere Varianz in Strophenfolge und Strophenbestand erzeugt Fassungen, wie viele Beispiele zeigen. Die nicht selten hohe Überlieferungsvarianz wirft das Problem der Kohärenz des Minneliedes auf. Dieses Problem betrifft wesentlich die Ebene der Strophe, der
51 Handschrift A überliefert außerdem drei Strophen in der Reihenfolge II, III, I unter dem Namen Leutholds von Seven. Bei In mîner besten vröide (MF 109,9) sind vier Dichter – Rugge, Reinmar, Hausen und Rotenburg – involviert; wieder ordnet C Rugge und Reinmar zwei Strophen (IV, VI) doppelt zu; B überliefert I–III unter Hausens, Bu unter Rotenburgs Namen; vgl. Rudolph 2018, 274. 52 Vgl. Bein 2011a, 115–116; Lüpges 2011, 18–19; Schuchert 2010, 175–176; Willemsen 2006, 31; Bumke 1996, 32; Schubert 2000, 43. 53 Beide Zitate Bumke 1996, 32. 54 L/BEIN, LXVI.
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zweifellos eine Schlüsselfunktion für die Liedpoetik zukommt.55 Fragt man daher, wie ein Liedtext kohärent wird, steht mit den Kohärenzbedingungen des Minneliedes zugleich dessen Poetik als aktuelles Problemfeld zur Debatte.
Literatur Thomas Bein: Fassungen – iudicium – editorische Praxis. In: Walther von der Vogelweide. Textkritik und Edition. Hg. von dems. Berlin u. a. 1999, 72–90. Thomas Bein: Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen germanistisch-mediävistischer Editionswissenschaft. 2., überarb. und erw. Aufl. Frankfurt a. M. 2011. [2011a] Thomas Bein: Varianztypen in der handschriftlichen Überlieferung Walthers von der Vogelweide. In: kunst und saelde. Festschrift für Trude Ehlert. Hg. von Katharina Boll und Katrin Wenig. Würzburg 2011, 9–24. [2011b] Thomas Bein: Editionsphilologie. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hg. von Christiane Ackermann und Michael Egerding. Berlin u. a. 2015, 35–66. Ingrid Bennewitz: Die Überlieferung der Neidhart-Lieder. In: Neidhart und die Neidhart-Lieder. Ein Handbuch. Hg. von Margarete Springeth und Franz-Viktor Spechtler, unter Mitarbeit von Katharina Zeppezauer-Wachauer. Berlin u. a. 2018, 55–60. Anna Kathrin Bleuler: Überlieferungskritik und Poetologie. Strukturierung und Beurteilung der Sommerliedüberlieferung Neidharts auf der Basis des poetologischen Musters. Tübingen 2008 (MTU 136). Manuel Braun: Kommentar zu: C Wa 45–49. In: LDM. http://www.ldm-digital.de/show. php?au=Wa&hs=C&lid=628 (8. Februar 2018). Joachim Bumke: Die vier Fassungen der „Nibelungenklage“. Untersuchungen zur Überlieferungs geschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin u. a. 1996 (QF 8). Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989. Thomas Cramer: Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik. Berlin 1998 (PhStQ 148). Dictionary of Medieval Latin from British Sources Online (DMLBS). http://www.dmlbs.ox.ac.uk/web/ welcome.html (21. April 2019). Margreth Egidi: Mouvance der Textsituation und des Textes (Heinrich von Morungen, MF 131, 25). In: Zeitenwende – die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Hg. von Peter Wiesinger, unter Mitarbeit von Hans Derkits. Bd. 5: Mediävistik und Kulturwissenschaften, betreut von Horst Wenzel und Alfred Ebenauer. Medävistik und Neue Philologie, betreut von Peter Strohschneider, Ingrid Bennewitz und Werner Röcke. Bern u. a. 2002 (JIG, Reihe A 57), 219–227. Einführung in die Edition, 1. Konzeption. In: LDM. http://www.ldm-digital.de/einfuehrungedition. php (8. Februar 2018). Der Neue Georges. Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet von Karl-Ernst Georges. Hg. von 55 Vgl. schon MF, 8: „Auf die Strophe konzentriert sich das Bemühen des Dichters, sie ist Endziel dichterischer Gestaltung, aber gleichzeitig auch Baustein zu L i e d e r n (nicht aber d e s L i e d e s ).“
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Manfred Eikelmann und Daniel Pachurka
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Varianz
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Eva Bauer und Holger Runow
Edition und Editionsgeschichte 1 Voraussetzungen Alte Texte lesen wir üblicherweise in modernen Ausgaben. Dabei kann das Verhältnis zwischen moderner Druckausgabe und historischer Überlieferung von ganz unterschiedlicher Ausprägung sein, was in einer grundlegenden Prämisse der historischen Textualität begründet ist: Wie die gesamte mittelalterliche Literatur ist auch der Minnesang allein in handschriftlicher Überlieferung (→ Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungskonzepte) erhalten. Die häufigste Überlieferungsform der mittelhochdeutschen Lyrik ist die Sammelhandschrift; die Fragmentüberlieferung beziehungsweise Aufzeichnungen einzelner Lieder in Handschriften anderer Textgattungen, die sogenannte ‚Streuüberlieferung‘, machen demgegenüber nur einen geringen Anteil aus. Jedenfalls handelt es sich, wie überhaupt in der mittelalterlichen Textüberlieferung, (fast) nie um die ‚originalen‘ Autor-Autographen, sondern um Abschriften älterer Vorlagen. Gerade die großen Sammelhandschriften sind als umfassende Kompilate ihrerseits Zeugnis eines bereits sekundären historischen Sammelinteresses. Zwischen der Abfassung der Lieder und ihrer Überlieferung liegen meist Jahrzehnte, nicht selten ein Jahrhundert oder mehr. Dies gilt in besonderem Maß etwa für die meisten Dichter in ‚Des Minnesangs Frühling‘, deren Texte ganz überwiegend in den prominenten Sammlungen A (Kleine Heidelberger Liederhandschrift, um 1270/80), B (Weingartner Liederhandschrift, erstes Viertel vierzehntes Jahrhundert) und C (Große Heidelberger Liederhandschrift, Grundstock um 1300) erhalten sind. Die Sammlungen, entstanden zu einer Zeit, als der Minnesang als Gattung allmählich an Produktivität und Geltung verlor, sind somit als ‚Summen‘ einer vergangenen und vergehenden Epoche auch Ergebnis eines antiquarischen Interesses und redaktioneller Tätigkeit. Da die großen Sammelhandschriften nur die Texte, nicht aber die Melodien der Lieder überliefern, ist davon auszugehen, dass sie nicht (mehr) Grundlage für gesungene Aufführung waren; ihr medialer Status hat sich damit fundamental verändert. Hinzu kommt die Beobachtung, dass einzelne Lieder bei Mehrfachüberlieferung in Wortgestalt und Wortlaut (→ ‚Varianz‘), aber auch in Strophenbestand und -reihenfolge (‚Mouvance‘) voneinander abweichen können.1 Damit stellt sich auf mehreren Ebenen die Frage nach der ‚Identität‘ der Texte, nach dem Verhältnis der (nicht erhaltenen) Originale zu ihrer Überlieferung und nach dem textuellen Status zwischen Abfassung, Vortrag und Abschrift. Auf diese grundlegende Prämisse – in nuce: dass die erhaltenen Textzeugen in Abschrift eben nur ‚bezeugen‘, was seinerseits nicht erhalten ist – müssen Edi 1 Vgl. Cramer 1997; Starkey und Wandhoff 2008. https://doi.org/10.1515/9783110351859-004
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tionen reagieren, und sie tun dies in ganz unterschiedlicher Weise. Entscheidend sind hier einerseits die je spezifischen Überlieferungsverhältnisse eines Textes oder Textcorpus, andererseits die auf diese bezogenen Erkenntnisinteressen. Die Funktionen einer Edition als Medium zwischen historischer Überlieferung und modernen Rezipienten sind dabei nicht zuletzt auch von der angesprochenen Zielgruppe her zu bestimmen.2 Naturgemäß sind auch die Erwartungen an Editionen und die Bedürfnisse ihrer Benutzerschaft historischem Wandel unterworfen, was seinerseits eine Editions- und Methodengeschichte konstituiert. Sie kann in der folgenden Darstellung nur knapp anhand wichtiger Stationen innerhalb einer mehr als zweihundertjährigen modern(er)en Editionsgeschichte des Minnesangs skizziert werden.3 Dabei könnte man heuristisch zwei Grundpositionen unterscheiden: Erstens reagieren Editionen auf das Bedürfnis nach Dokumentation und Aufbereitung der Textzeugen, sie machen das aus dem Mittelalter Überlieferte überhaupt erst einer breiteren (Fach-)Öffentlichkeit verfügbar (‚Edition‘ in einem allgemeineren, noch nicht methodisch spezifizierten Sinne als Text-‚Herausgabe‘). Zweitens können sie dem Bedürfnis nach Wiedererlangung eines bezeugten, in seiner Ursprünglichkeit aber nicht erhaltenen Textes ‚vor‘ der Überlieferung entsprechen (‚textkritische‘ Edition). – Beide Positionen können sich gegenseitig ergänzen; sie bilden keine diametralen Pole, und sie stehen auch nicht notwendig in einem bestimmten historischen oder kausalen Abhängigkeitsverhältnis. Vielmehr markieren sie Perspektiven innerhalb des jede Edition prägenden Spannungsverhältnisses „zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion“4.
2 Vgl. Runow 2014. 3 Wir beschränken uns auf bekanntere und viel benutzte Editionen von Texten v. a. des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts. Dass sehr vieles nicht im Einzelnen gewürdigt werden kann, ist uns schmerzlich bewusst. Das betrifft z. B. die Editionen von → Frauenlob (GA) über den Mönch von Salzburg (MÄRZ), → Heinrich von Mügeln (STMN) und Hugo von Montfort (HOF) bis hin zu Muskatblut (GROOTE) sowie → Oswald von Wolkenstein (OSW). Zu nennen wäre auch die umfassende Sammlung von Liederdichtern des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts (Cramer 1977–1985). Sie alle hätten es verdient, mit ihren je eigenen überlieferungsgeschichtlichen Eigenheiten und editorischen Herausforderungen benannt zu werden. – Unsere Hoffnung ist, dass mit der folgenden Darstellung zumindest eine Art Koordinatensystem der Editionstypen und methodischen Paradigmen aufgespannt wäre, in dem auch diese Editionen verortet werden könnten. 4 So der Titel des Sammelbandes Schubert 2005.
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2 Stationen der Editions- und Methodengeschichte Erschließung, Dokumentation und Aufbereitung der Überlieferung – Vor- und frühgermanistische Minnesangeditionen Sieht man einmal davon ab, dass die Sammelhandschriften selbst bereits eine Art redaktionell-editorisches Interesse zu erkennen geben, stehen am Anfang der neuzeitlichen Beschäftigung mit dem Minnesang insbesondere (Teil-)Abdrucke aus dem Codex Manesse. Als singulärer früher ‚Ausreißer‘ verdient der Humanist Melchior Goldast zumindest Erwähnung.5 Sein Fokus war zwar weniger ein literarischer als vielmehr ein historischer, er darf aber als der erste neuzeitliche Editor gelten, der aus auch philologischem Interesse mittelhochdeutsche Lyrik in den Druck brachte. Sein Hauptaugenmerk in der ‚Paraeneticorum veterum pars I‘ (1604) gilt dabei der didaktischen Literatur (‚König Tirol‘, Winsbeckische Gedichte), die beigefügten ‚Animadversiones‘ bieten aber eine beeindruckende Fülle von Auszügen aus der altdeutschen Literatur, darunter etliche Verse und bisweilen ganze Strophen aus den Minneliedern des Codex Manesse.6 Eine erste (nicht ganz vollständige)7 ‚Gesamtausgabe‘ des Codex legten 1758/1759 Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger als ‚Sammlung von Minnesingern aus dem schwäbischen Zeitpuncte‘ vor. Vorausgegangen waren bereits 1748 ihre ‚Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts‘. Beide Editionen verfolgen ein vorwiegend antiquarisches und noch kein dezidiert textkritisches Interesse.8 Sie dienen dazu, die Texte für ein literarhistorisch interessiertes Publikum zugänglich zu machen. Es empfiehlt sich, sie noch einer gewissermaßen proto-germanistischen Phase zuzuordnen, die der professionalisierten ‚Frühgermanistik‘9 der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vorausgeht. Denn zu dieser Zeit ändern sich die Voraussetzungen; es entsteht ein nationalphilologisches Interesse, das in Gelehrtennetzwerken und eigenen Publikationsorganen institutionalisiert wird, so dass in schneller Folge die wichtigsten Sprach- und Literaturdenkmäler einer sich etablierenden Fachgemeinschaft bekannt gemacht werden.
5 Überblick bei Voetz 2015, 122–132. 6 Goldasts ausgiebige Beschäftigung mit dem Codex ist zudem überlieferungsgeschichtlich von Belang, denn seine Abschriften bezeugen Bruchstücke von Neidhart-Liedern, die aufgrund von Blattverlusten in C (für die allerdings wohl Goldast selbst verantwortlich ist; vgl. Voetz 2015, 126) nicht erhalten sind. 7 Auch wenn zumeist davon ausgegangen wird, dass Bodmer und Breitinger C mit Ausnahme weniger anrüchiger Strophen vollständig herausgegeben haben, fehlt bei ihnen doch mindestens ein Siebtel des Strophenbestandes (vgl. Voetz 2015, 143). 8 Vgl. Bodmer und Breitinger 1758, V: „Unſere vornehmſte Sorge vvar fyr diesmal, daſs vvir eine ſorgfæltige und genaue Abſchrift von der maneſſiſchen Handſchrift gæben.“ 9 Der Begriff nach Stackmann 2010, 182, Anm. 4, der ihn von Ulrich Hunger übernimmt.
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Unter den großen frühgermanistischen Lyrik-Editionen, die unter diesen neuen Bedingungen entstehen, ist insbesondere die monumentale ‚Minnesinger‘-Ausgabe Friedrich Heinrich von der Hagens (HMS) zu nennen, die 1838 in vier Bänden erschien.10 Sie berücksichtigt die bis dahin bekannte Überlieferung, gibt aber nicht alle Handschriften in vollständigen Abdrucken wieder, sondern beschränkt sich bei mehrfach überlieferten Texten auf jeweils eine maßgebliche („die älteste und beste“) Handschrift,11 die aber bei offensichtlichen Textmängeln anhand der Parallelüberlieferung gebessert werden kann. Damit steht die Edition dem heute weitgehend bevorzugten ‚Leithandschriftenprinzip‘ (s. u.) bereits recht nahe.12 Einer grundsätzlich anderen Herangehensweise sehen sich zeichengetreue (‚diplomatische‘ 13) Wiedergaben einzelner Handschriften verpflichtet. Am Anfang stehen die Abdrucke der Weingartner Liederhandschrift B durch Franz Pfeiffer und Ferdinand Fellner (1843) sowie der ‚Alten‘ (Kleinen) Heidelberger Handschrift A, ebenfalls durch Pfeiffer (1844). Eine vollständige diplomatische Transkription des bereits bei Bodmer und Breitinger großteils abgedruckten Codex Manesse folgte erst im frühen zwanzigsten Jahrhundert durch Fridrich Pfaff.14 In ihrem Verfahren den proto-germanistischen Ausgaben nicht unähnlich, erheben sie indes explizit den Anspruch, den spezifischen Quellenwert der jeweiligen Handschrift (als Voraussetzung für weitere Forschungen und Editionen) zu dokumentieren.15 Dies geschieht, zumal bei Pfeiffer, in Kenntnis und im Vergleich mit der Parallelüberlieferung, wobei nicht selten Lesarten und Besserungsvorschläge beigegeben sind, allerdings nicht als Bestandteil der Transkription, sondern in den Fußnoten. Beide Herangehensweisen – die von der Hagenʼsche Sammlung sowie die Pfeifferʼschen Transkriptionen – sind keine im engeren Sinne textkritischen Editionen, beide aber machen die jeweils aus nur einer Handschrift abgedruckten Liedtexte wenigstens zum Teil auf ihre weitere Überlieferung hin transparent und halten somit die eingangs angedeutete Grundspannung zwischen ‚Text‘ und Überlieferung bewusst.16 Bei den genannten Ausgaben handelt es sich um Sammlungs- und nicht um autoroder corpusorientierte Editionen. Bemerkenswert ist dabei, dass in der Frühphase der Germanistik noch nicht systematisch zwischen den unterschiedlichen lyrischen Gattungen geschieden wird. Dies beginnt erst mit der (insgesamt eher unglücklich verlaufenden) Begriffsdiskussion, die seit 1833 durch Karl Simrock in Gang kommt 10 Vgl. auch die Übersicht bei Schweikle 1995, 62–72. 11 HMS I, XXXIX. 12 Bein 2015, 36–37. 13 Zu wichtigen editorischen Begriffserklärungen vgl. z. B. Grubmüller 1986. 14 Vgl. Pfaff 1984 [1909]. 15 Vgl. z. B. Pfeiffer 1844, VI. 16 Dies freilich bei unterschiedlicher Einschätzung der Folgerungen, die sich daraus ergeben: weitgehender Verzicht auf vergleichende Textkritik bei Besserung im Einzelfall (von der Hagen); textkritische Kommentierung neben (beziehungsweise unter) dem Text bei vollständigem Verzicht auf Besserungen innerhalb der Transkription (Pfeiffer).
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und in deren Folge erst das, was zunächst noch ungeschieden unter den Schlagworten Minnesang (‚Minnesinger‘ beziehungsweise ‚Liederdichter‘) firmierte, als ‚Lied‘ und ‚(Sang-)Spruch‘ differenziert wird.17
Rekonstruktion des Autortextes – Lachmann und die ‚Textkritische Wende‘ Einen profunden methodischen Einschnitt markiert die textkritische Methode, die untrennbar mit dem Namen Karl Lachmanns verbunden ist. Aus der klassischen Philologie kommend, hat er sie entwickelt und auf die Überlieferung altdeutscher Texte übertragen. Ziel der Textkritik ist demnach die Rekonstruktion des ‚Originals‘ aus den erhaltenen Textzeugen. Ihrem Grundprinzip nach besteht sie im ersten Schritt aus einem genauen Vergleich aller erhaltenen Handschriften eines Textes. Wo sie Unterschiede voneinander aufweisen, ist von ‚Fehlern‘18 im Abschreibeprozess auszugehen. Idealerweise können über die Auswertung sogenannter ‚Leitfehler‘19 die Verwandtschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse der Handschriften festgestellt werden. Daraus ergibt sich eine genealogische Filiation und Gewichtung der Handschriften, die in einem ‚Stemma‘ (Stammbaum) sichtbar gemacht werden kann, an dessen Spitze der ‚Archetyp‘ steht: die älteste aufgrund der Fehlertypologie erreichbare Textstufe, die indes nicht schon mit dem ‚Autororiginal‘ identisch sein muss. Das Prozedere, das durch die Eliminierung der ‚falschen‘ Lesarten in der Rekonstruktion des Archetyps gipfelt, fasst man unter dem Begriff der ‚Recensio‘. Wo der Archetyp erkennbar fehlerhaft ist, z. B. metrisch defekt (überzählige oder fehlende Takte etc.; gestörte Reimstruktur o. ä.), ungrammatisch, inhaltlich widersprüchlich etc., müssen diese Defekte editorisch behoben werden. Das geschieht anhand der genauen Kenntnis der historischen Grammatik, Stilistik, Metrik (→ Metrik und Formanalyse) oder über den Vergleich mit adäquaten Parallelstellen.20 Textbesserungen, die nicht durch Parallelüberlieferung gestützt sind, sondern allein auf dem geschulten editorischen Urteilsvermögen (‚Iudicium‘) beruhen, nennt man Konjekturen. – Dieser zweite Schritt, die ‚Bereinigung‘ beziehungsweise Korrektur des (defekten) Archetyps, heißt ‚Emendatio‘. Ergebnis der Emendatio ist der ‚kritische‘ Text, der
17 Vgl. zuletzt Runow 2019, bes. 3–8. 18 Der Fehlerbegriff ist dabei weiter zu fassen – nicht bloß im Sinne von Verderbnis (‚Korruptele‘), sondern allgemeiner als ‚Abweichung‘ von etwas, das als vorgängig und damit als ‚richtig(er)‘ eingeschätzt wird – und wäre in jedem Fall weiter zu problematisieren. 19 Man unterscheidet dabei zwischen ‚Binde-‘ und ‚Trennfehlern‘, die einzelne Handschriften(gruppen) entweder einem bestimmten Überlieferungsstrang zuordnen oder aus ihm ausscheren lassen. 20 Dies können idealerweise Formulierungen desselben Autors in vergleichbaren Kontexten sein, gegebenenfalls aber auch Vergleichsstellen innerhalb eines auch andere Autoren umfassenden Textcorpus, Gattungskontextes o. ä.
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im Idealfall besser, weil näher am Original, ist als alle Überlieferung. Rechenschaft über die editorische Arbeit am Text legt in der Regel ein textkritischer Apparat ab. Er steht zumeist unter dem Text, in früheren Editionen oft auch gesondert in einem Anhang,21 und verzeichnet bei Konjekturen den Überlieferungsbefund sowie gegebenenfalls weitere für die Textkonstitution relevante Lesarten der Handschriften.22 Was hier, in knappster Form referiert,23 als eher technisch-mechanisches Verfahren erscheinen mag,24 gibt schon durch seine Terminologie eine klare Stoßrichtung und damit verbundene Wertungen zu erkennen. Ziel der Textkritik ist die Wiederherstellung beziehungsweise größtmögliche Annäherung an das verlorene Autororiginal. Ihm gegenüber werden die tatsächlich erhaltenen Handschriften abgewertet als von Fehlern und Verderbnissen geprägt, die ‚geheilt‘ werden müssen. Die Methode ist also grundlegend überlieferungspessimistisch,25 auch weil sie von einer klassizistischen Genieästhetik geprägt ist, dergemäß das erhabene Dichterwort im Laufe des Tradierungsprozesses durch minderbegabte Schreiber nur degeneriert sein könne. Man darf gleichwohl ihre Wirkmächtigkeit bis sehr weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein nicht unterschätzen. Lange wähnte man sich durch die strikte Methodik auf sicherem Fundament, so lange zumindest, wie man an der Überzeugung festhielt, dass es das Ziel der Textkritik sein müsse, dem originalen Wortlaut des Dichters möglichst nahezukommen. Gerade im Minnesang aber stehen diesem Ziel die spezifischen Bedingungen mittelalterlicher Textualität entgegen. Nicht selten ist z. B. aufgrund von Mehrfachzuschreibungen in der Überlieferung – entstanden womöglich beim Nachsingen, Um- und Weiterdichten durch (spätere) Sänger oder Dichterkollegen – die Autorschaft eines Liedes nicht mit Bestimmtheit festzumachen. Daher sind gegebenenfalls auch Echtheitsuntersuchungen Bestandteil der Textkritik. Neben Untersuchungen zu 21 Wo der Apparat steht, kann auch Aufschluss über seinen Stellenwert sowie über das editorische Selbstverständnis geben. Je sicherer sich Editor/innen ihres Iudiciums sind (so scheint es zumindest aus heutiger Perspektive), umso weniger Stellenwert wird oft dem Apparat eingeräumt. So findet sich der Apparat in ‚Des Minnesangs Frühling‘ beispielsweise lange Zeit ausgelagert im Kommentarband, bevor er schließlich (in MF/V, 1911) unter den Text rückt. 22 Neben der textkritischen kann der Apparat auch noch weitere Funktionsebenen bedienen. Gerade in jüngeren Editionen rückt die mehr oder minder vollständige Dokumentation der handschriftlichen Varianz in den Vordergrund. Auch kann der Apparat die Forschungs- und Editionsgeschichte präsent halten und z. B. frühere Vorschläge zum Textverständnis und Konjekturen verzeichnen. Diese verschiedenen Funktionen können mehreren separaten Apparaten beziehungsweise Apparatebenen zugeordnet werden. Das ist etwa in MF der Fall. – Zu Funktion und Gestalt des Apparats sowie zur Kritik daran vgl. Kragl 2014. 23 Zur ausführlicheren Beschreibung der Methode vgl. Maas 1960; zu ihrer Entstehung Timpanaro 1971. 24 Viel zitiert ist Lachmanns Formulierung von der Recensio, die ohne Interpretation vonstatten gehen könne und müsse: „recensere […] sine interpretatione et debemus et possumus“ (Lachmann 2009 [1842], V). 25 Vgl. eine kritische Bemerkung Stackmanns (1994, 423), wonach „das ‚Original‘ […] eine Handhabe zur Eliminierung großer Teile der Überlieferung bietet“.
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Stil, Wortschatz, Reimtechnik etc. gehört dazu wesentlich auch die Frage nach der ursprünglichen Sprachgestalt, in der ein Autor seine Texte verfasst hat. Ohne hier ins Detail gehen zu können, ist die Situation folgende: Es gibt in mittelhochdeutscher Zeit keine verbindliche Standard(schrift)sprache. Mittelalterliche Schreiber passen oftmals die Texte ihren eigenen Aussprache-, Hör- und Schreibgewohnheiten an, die diatopisch und diachron bisweilen erheblich von jenen ihrer Vorlagen sowie der Verfasser der abgeschriebenen Texte abweichen können. Lachmanns Methode zielte von jeher auch auf die möglichst genaue Rekonstruktion der Sprachgestalt der mittelalterlichen Autoren. Diese ist insbesondere über die Reimgrammatik zu erreichen, denn wie und was ein Autor reimt, ist maßgeblich durch seinen Dialekt geprägt.26 Lachmann kam bei seinen sprachlichen Untersuchungen zu dem Schluss, dass unter den hochdeutschen Dichtern des Mittelalters ein gewisser überregionaler Standard, eine Art Dichter-Koiné, geherrscht habe. Diese Beobachtung und die aus ihr folgende Abstraktion ist ihrerseits wichtige Grundlage für das bis heute verwendete sogenannte ‚Normalmittelhochdeutsch‘27, das integraler Bestandteil der Textkritik Lachmannʼscher Prägung ist,28 übrigens ohne dass Lachmann selbst darin größte Strenge walten ließ.29 – Im Kontext sprachlicher Normalisierung muss wenigstens erwähnt werden, dass die Texte in den Editionen in aller Regel über das handschriftliche Zeicheninventar hinaus30 mit einer (modernen) Interpunktion versehen werden.31 Spätestens seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts formiert sich aus unterschiedlichen Richtungen eine nachhaltige Kritik an der Methode, die zu einem grundlegenden Umdenken geführt hat. Speziell für den Bereich der Lyrikedition sind hier die von Günther Schweikle mit einiger Vehemenz vorgebrachten Einwände gegen Lachmanns „Zettelkasten-Philologie“32 zu nennen, deren Streben nach „dem e i n e n Originaltext“ ein „Kardinalirrtum“ und „prinzipielle[r] Denkfehler“33 sei. Schon zuvor hatte Karl Stackmann in seinem richtungweisenden Aufsatz ‚Mittelalterliche Text als Aufgabe‘ (1964) aus einer allgemeineren Perspektive gezeigt, dass die notwendigen Bedingungen zur Anwendung der Lachmannʼschen Methode im
26 Vgl. dazu Wiesinger 1991. 27 Vgl. dazu Kragl 2015. 28 Als ‚locus classicus‘ hierfür vgl. Lachmann 1876 [1817] (insbesondere in der Rezension zu von der Hagens ‚Nibelungenlied‘-Ausgabe kommt den Sprachuntersuchungen großes Gewicht zu). 29 Vgl. dazu etwa Wilhelm Grimms Rezension zu Lachmanns Walther-Ausgabe (L), wo jener bekennt, dass er in der Normierung unterschiedlicher Schreibweisen (die Lachmann zuließ) deutlich weiter gegangen wäre (Grimm 1995 [1827], 68–69). 30 Die mittelalterlichen Handschriften kennen neben dem üblichen Reimpunkt allenfalls zarte Ansätze zur syntaktischen Gliederung durch Punkte oder (später) Virgeln. 31 Dass die Interpunktion den Sinn eines Textes nicht unwesentlich lenkt und damit auch eine gleichsam textkritische Operation ist, sollte mitbedacht werden. Zum Problem der Interpunktion mittelhochdeutscher Texte vgl. zuletzt Schubert 2013. 32 Schweikle 1994 [1982], 141, Anm. 15. 33 Schweikle 1994 [1985], 123.
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Rahmen mittelalterlicher volkssprachiger Textproduktion und -überlieferung34 kaum jemals gegeben sind: Dazu gehört neben einer ausreichenden Menge an ‚guten‘ Handschriften – Lachmann selbst forderte mindestens „vier oder fünf“35 –, dass die Überlieferung (1.) von einem fest umrissenen Archetyp ausgeht, dass sie (2.) ausschließlich ‚vertikal‘ verlaufen ist, d. h. jeder Schreiber nur genau eine Vorlage benutzt hat, wobei (3.) jeder Schreiber die Absicht hatte, seine Vorlage möglichst unverändert wiederzugeben. Demgegenüber zeigen genaue Untersuchungen der Überlieferung, dass (1ʼ.) oft bereits am Ausgangspunkt der Überlieferung textkritisch nicht mehr einholbare Varianz zu beobachten ist. Den Grund hierfür sieht man vermehrt in unterschiedlichen Autorfassungen: Gerade im Minnesang ist leicht möglich, dass die Texte von ihren Autoren zu verschiedenen Vortragsgelegenheiten überarbeitet oder angepasst werden konnten.36 Zudem zeigt Stackmann, dass (2ʼ.) in der mittelalterlichen Überlieferung Kontamination recht häufig vorkommt, dass also ein Schreiber mehr als nur eine Vorlage benutzt, diese miteinander abgeglichen und ihre Varianten vermischt haben konnte. Auch hier ist die spezifische Situation des Minnesangs einzukalkulieren: Die großen Sammelhandschriften sind Ergebnisse umfassender Sammel- und Redaktionsprozesse. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass den Schreibern für einzelne Lieder mehrere Vorlagen zur Verfügung standen.37 Schließlich ist (3ʼ.) vorstellbar, dass ein Schreiber seine Vorlage auch bewusst ändernd wiedergibt, etwa wenn er Sprachformen älterer oder ihm dialektal fremder Texte dem eigenen Sprachgebrauch anpasst, vielleicht aber auch, wenn er Textverderbnisse erkennt und diese bessert. Trotz aller (zum Teil bereits zeitgenössischen) Kritik konnte sich die Lachmannʼsche Methode zunächst als maßgebliches Verfahren etablieren: Lachmann kann als „der wirkungsmächtigste Editor der Germanistik“38 gelten, auf ihn beziehen sich (und wenn nur, um von ihm Abstand zu nehmen) noch immer die meisten editorischen Reflexionen. Und insbesondere die bis heute nicht restlos ersetzten großen Ausgaben des Minnesangs seit Lachmann berufen sich, soweit sie nicht von ihm selbst stammen, auf seine Methodik.
34 Grundsätzlich ist zu bedenken, dass Lachmann seine Methode an antiken lateinischen und griechischen Texten entwickelt hat, bei denen die Voraussetzungen grundlegend andere sind als bei solchen in der Volkssprache (breitere Überlieferung, nicht-muttersprachliche Schreiber, oft eine bereits in der Spätantike oder im Frühmittelalter durch philologische Bemühungen um den richtigen Text geprägte Überlieferungstradition etc.). 35 Lachmann 1876 [1817], 89. – Zum Vergleich: Von den rund 880 Strophen in MF sind nur zwei (!) Strophen in fünf Handschriften überliefert, 63 Strophen in vier Handschriften. Der Großteil ist unikal (44 %) oder in zwei Handschriften (ca. 37 %) überliefert (vgl. MF2, 11, Anm. 7). 36 Vgl. Schweikle 1994 [1985], 124–125. 37 In welcher Form auch immer: Vortragsmanuskripte vom Einzelblatt bis zum Liederheft sind denkbar, aber nicht zu belegen. 38 Bein 2015, 43.
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Minnesangeditionen seit dem neunzehnten Jahrhundert – Fortführung der textkritischen Methode in der Tradition Lachmanns Das beschriebene Verfahren zeigt sich grundlegend an der von Lachmann selbst besorgten Walther-Ausgabe von 1827 (2. Ausgabe 1843), die am Anfang der textkritischen (Minnesang-)Editionen steht. Das umfangreiche, in zahlreichen Überlieferungsträgern verstreute Lied- und Spruchwerk → Walthers von der Vogelweide wird hier erstmals in einer Edition gebündelt. Lachmann ordnet die Texte in vier Bücher, und zwar nicht etwa nach Gattungen, Themen oder gar nach biographischen Gesichtspunkten, sondern nach einer textkritischen Hierarchie, angefangen mit Texten der größten Überlieferungsdichte bis hin zur geringsten.39 Diese Anordnung, wiewohl von Beginn an umstritten, wurde im Wesentlichen bis zur aktuellen 15., völlig neubearbeiteten Auflage (L/BEIN) beibehalten; ausschlaggebend dafür mag auch die Zählung der Lieder nach Lachmann sein, die bis heute maßgeblich geblieben ist.40 Verändert hat sich aber durchaus die Textgestalt einzelner Lieder, weil für Bein nicht mehr wie für Lachmann der originale Autortext die (allein) leitende Zielvorstellung ist. Weitergeführt wurde das textkritische Verfahren in ‚Des Minnesangs Frühling‘ durch Lachmann und seinen Schüler Moriz Haupt (MF/LH, 1857), der auch die dritte (1863) und vierte Auflage (1864) der Walther-Ausgabe verantwortete. ‚Des Minnesangs Frühling‘ versammelt Minnelieder und -strophen, wo möglich als Autorencorpus, die in die Zeit vor Walther als dem ‚Höhepunkt‘ des ‚klassischen‘ Minnesangs datiert werden. Schon der das Jahreszeitenmodell von Aufstieg, Blüte und Verfall aufrufende Titel der Sammlung impliziert dabei eine teleologisch-qualitative Entwicklung. Ihre kanonische Wirkung ist vielfach bis heute zu spüren; indes ist es angesichts jüngerer literaturwissenschaftlicher Debatten um Wertung und Kanon durchaus als symptomatisch anzusehen, dass es seit inzwischen mehr als 30 Jahren keine Neuauflage von ‚Des Minnesangs Frühling‘ gegeben hat. Unter den zahlreichen Auflagen von ‚Des Minnesangs Frühling‘41 sind als die drei wichtigsten Neubearbeitungen wohl jene von Friedrich Vogt (MF/V, 1911), die 33. Auflage von Carl von Kraus (MF/K, 1965) und die aktuelle Bearbeitung durch Hugo Moser und Helmut Tervooren (36. Aufl., 1977, zuletzt revidiert in der 38. Aufl., 1988) zu nennen. Sie spiegeln auch die Entwicklung der editorischen Methodik seit Lachmann wider. Während Lachmann und Haupt ihren kritisch hergestellten Text eher als reinen Lesetext gaben und Anmerkungen, Apparate etc. im Anhang boten, setzte Vogt den textkritischen Apparat direkt unter den Text und verlieh damit der 39 Vgl. Bein 1997, 81–82. 40 Walthers Texte werden dabei nach ihrer ursprünglichen Position in der Ausgabe von 1827 gezählt; das Lied L 48,12 begann somit in der 12. Zeile der 48. Seite der ersten Ausgabe nach Lachmann (s. u. Abb. 3). 41 Vgl. Lange und Schumacher 2015.
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Sichtbarkeit und Nachvollziehbarkeit des editorischen Prozesses einen höheren Stellenwert. Die analog zur Walther-Ausgabe auch weiter gültige ältere Zählung von MF/LH (nach Seiten- und Zeilennummer) setzte Vogt an den Seitenrand. von Kraus (MF/K) arbeitete wiederum stärker an der Textgestalt und trieb dabei die Konjekturalkritik, die dem Dichterwort ‚hinter‘ der Überlieferung nachspürt, derart auf die Spitze, dass bisweilen der Philologe selbst zum Künstler wurde. Der Name Carl von Kraus – neben ‚Des Minnesangs Frühling‘ bis heute v. a. verbunden mit der nach ihm benannten Sammlung der nachwaltherschen Liederdichter (KLD, zuerst 1952/1958) – steht heute wie kaum ein anderer in der Kritik für die kühnen, oft ästhetisch ansprechenden, von der Überlieferung aber nicht gedeckten und bisweilen auch nicht nötigen Konjekturen: Er ist gleichsam zur Symbolfigur geworden für ein inzwischen als überwunden angesehenes ‚hermeneutisches‘ Edieren im Namen des Autors und gegen die Überlieferung,42 ein Verfahren, welches man heute pauschal mit dem Namen Lachmanns zu verbinden geneigt ist. Hier wird oft nicht mehr genauer differenziert, sondern als ‚Lachmannʼsche Methode‘ gilt dann gemeinhin jede Form der Rekonstruktions- und Konjekturalkritik.43 Ein guter Teil der in KLD edierten Texte ist indes unikal in C überliefert; insofern kann schon per definitionem nicht mehr von der Anwendung der textkritischen Methode nach Lachmann im engeren Sinne die Rede sein, die ja auf dem Vergleich von Handschriften beruht. Neue Wege geht die bis heute gültige MF-Ausgabe von Moser und Tervooren. Sie setzt insgesamt auf größere Überlieferungsnähe und führt erstmals ein Leithandschriftenverfahren als geltendes Editionsprinzip ein, das indes nicht mit letzter Konsequenz durchgeführt ist. Eine der leitenden Annahmen für die Herausgeber ist, dass die „Strophe das Endziel dichterischer Gestaltung“ und zugleich „Baustein zu L i e d e r n (nicht aber d e s L i e d e s )“ sei; das mehrstrophige Lied hingegen sei „in seiner aktuellen Verwirklichung stärker von den Bedürfnissen der Aufführungssituation bestimmt“,44 seine Gestalt dadurch weniger fest als die der Strophe. In der editorischen Konsequenz bedeutet dies, dass innerhalb eines Liedes die Leithandschrift von Strophe zu Strophe wechseln kann. Gerade bei mehrfach überlieferten Liedern, die in den Handschriften Unterschiede in Strophenbestand und -folge aufweisen, führt dies im Einzelfall zu Liedern, die in dieser Gestalt nicht mehr von der Überlieferung gedeckt sind. Ihr Prinzip rechtfertigen Moser und Tervooren damit, dass „[d]er Benutzer“ so die Möglichkeit erhalte, „Lieder, die seiner Meinung nach dem Autorwillen am nächsten kommen, selbst zusammenzustellen“.45 Trotz des neuen Ansatzes, der paradoxerweise zugleich größere Überlieferungsnähe sucht und herme42 Vgl. das differenziertere Urteil bei Janota 2000, 146–151. 43 Dies gilt zumal auch für die sprachliche Normalisierung, die heute meist unter dem Gesichtspunkt besserer Lesbarkeit betrachtet wird, kaum mehr als genuiner Bestandteil der Textkritik; vgl. Kragl 2015, 3–4. 44 Moser und Tervooren 1982, 8. 45 Moser und Tervooren 1982, 8; vgl. auch die sehr differenzierten Überlegungen in MF2, bes. 15–20.
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neutisch-rezeptionsästhetisch argumentiert, bleibt auch die jüngste Auflage von ‚Des Minnesangs Frühling‘ zumindest noch ansatzweise dem methodischen Denken Lachmanns verpflichtet; ihr editorisches Endziel bleibt die „dichterische[] Gestaltung“, die getrennt von der Liedgestalt der einzelnen Handschrift betrachtet wird. Das Verfahren hat denn auch Anlass zu Kritik geboten, die vor allem bemängelt, der angekündigte Schritt zurück zur Überlieferung sei nicht im nötigen Umfang vollzogen.46 Wie ‚Des Minnesangs Frühling‘ (bis zur 35. Aufl.) und KLD steht auch eine weitere bedeutende Minnesanganthologie in der Tradition der rekonstruierenden Textkritik: ‚Die Schweizer Minnesinger‘ von Karl Bartsch (BSM, 1886), vollständig neubearbeitet von Max Schiendorfer (SMS, 1989), bieten die Lieder jener Autoren, die (vermutlich) dem Gebiet der heutigen (deutschen) Schweiz entstammen. Damit bildet die Sammlung einen gänzlich anders zugeschnittenen Typus von Anthologie, der nicht auf historischer Corpusbildung beruht, sondern auf (modernen) geographischnationalphilologischen Interessen und Vorentscheidungen.47 Sie zeigt damit, auch jenseits der Textkritik, eine philologische Ursprungs- und Verbindlichkeitssehnsucht, die aus heutiger Perspektive prägend für die ‚alte‘ Philologie erscheint. Bartsch folgt in seiner Ausgabe dem Anspruch, die Texte in chronologischer Ordnung und in möglichst ursprünglicher Form zu bieten. Das betrifft insbesondere die sprachliche Gestalt. Dabei kommt ihm zwar zugute, dass die meisten der in BSM abgedruckten Texte unikal in der in Zürich entstandenen Handschrift C überliefert sind; er passt deren Sprache gleichwohl in vielen Einzelheiten an. Ein Vergleich der beiden Ausgaben (BSM – SMS) veranschaulicht eindrücklich den methodischen Wandel, der sich innerhalb eines Jahrhunderts vollzogen hat. Schiendorfer revidiert in der Neubearbeitung zahlreiche Entscheidungen Bartschs zugunsten größerer Überlieferungsnähe. So hebt er die mit zu vielen Unsicherheiten behaftete chronologische Anordnung auf und ordnet „die Dichter nach ihrer Stellung in der Manessischen Liederhandschrift C“48. Auch die Textgestalt bleibt – bei behutsamer Normalisierung als „Leseerleichterung“49 näher an der Handschrift. In manchen Fällen, wo die Parallelüberlieferung Varianten aufweist, greift Schiendorfer zum Mittel des Paralleldrucks verschiedener Fassungen: dort nämlich, wo Textunterschiede nicht ohne weiteres auf Fehler im Überlieferungsprozess zurückgehen können, sondern bei denen man mit Autorvarianten, oder, bei Zuschreibungen an verschiedene Autornamen, mit „dem Phänomen ‚sängerischer Interaktion‘ zu rechnen“ hat.50 Das Vorgehen kann mit seiner intensiven theoretisch-methodischen Durchdringung editorischer Problemstellungen insgesamt als symptomatisch für die jüngere Editionswissenschaft gelten.
46 Vgl. etwa Schweikle 1978; Janota 1981. 47 Bartschs Ausgabe erschien in der Reihe „Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz“. 48 Schiendorfer 1989, XVII. 49 Schiendorfer 1989, XXIII. 50 Schiendorfer 1989, XVII.
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Zurück zur Überlieferung – Abwendung von der und Alternativen zur textkritischen Methode Lachmanns Standen die großen Minnesanganthologien ‚Des Minnesangs Frühling‘, BSM und KLD wie auch mehrere Einzel-Autor-Ausgaben (Walther, → Neidhart51), deutlich in der Tradition der Lachmannʼschen Textkritik, so ändert sich dies im Laufe der 1970er Jahre mit der Neubearbeitung von ‚Des Minnesangs Frühling‘ durch Moser und Tervooren (teilweise), spätestens aber mit den (Lyrik-)Ausgaben Günther Schweikles grundlegend.52 Seine 1977, also gleichzeitig mit MF, erschienene Ausgabe zur frühen Minnelyrik (vgl. ML1) ist die erste moderne wissenschaftliche Edition, die – jeweils bei gründlicher Kenntnis und Bewertung der gesamten Überlieferung – konsequent nach dem Leithandschriftenprinzip verfährt. Sie stützt sich nicht wie MF strophenweise, sondern jeweils für ganze Lieder auf die handschriftlich bezeugte(n) Fassung(en). Schweikle etabliert damit einen grundsätzlich anderen Editionstyp gegenüber den Ausgaben in der Tradition Lachmanns. Grundlage seiner Arbeiten ist die fundierte Reflexion der mittelalterlichen Produktions-, Aufführungs- und Überlieferungsbedingungen, die zu verschiedenen Liedfassungen führen konnten. Schweikles Ansatz ist – bei gehöriger Polemik gegenüber der Lachmann-Schule – geprägt von erheblichem Überlieferungsoptimismus und rückt die einzelne Handschrift als „h i s t o r i s c h e n Text, wie er im 13. Jh. rezipiert wurde,“ ins Zentrum des Interesses.53 Massiven Aufwind bekam der damit längst eingeläutete Trendwechsel durch das 1990 von Stephen Nichols herausgegebene und eingeleitete Sonderheft der Zeitschrift ‚Speculum‘, das eine ‚neue Philologie‘ ausrief. Die Beiträger in ‚The New Philology‘ stützten sich auf eine poststrukturalistische Denkweise, die insbesondere das gängige Autor-Werk-Paradigma als Beschreibungsinstrumentarium für die vormoderne Literatur als unzulänglich ansah. Die mittelalterliche Literatur sei gerade nicht geprägt durch Vorstellungen von Autorschaft, Originalität und Unveränderlichkeit.54 Im Gegenteil, die Unfestigkeit, die Varianz und ‚Offenheit‘ mittelalterlicher Texte sei nicht bloß ein Mangel ihrer Überlieferung, sondern genuines Wesensmerkmal ihrer Textualität.55 Bernard Cerquiglini, dessen Essay ‚Éloge de la variante‘ (1989) eine wichtige Inspiration für die New Philology war, hatte dies auf die griffige und seither vielfach zitierte Formel gebracht, wonach mittelalterliche Schriftlichkeit nicht Varian51 Die erste kritische Neidhart-Ausgabe des Lachmann-Schülers Moriz Haupt (1858) formuliert explizit den Anspruch, „die echte gestalt der neidhartischen lieder nach kräften herzustellen“ (Haupt 1858, V). 52 Als wichtiger Vorreiter ist Karl Stackmann mit seiner Arbeit an der Ausgabe der Lieder → Heinrichs von Mügeln (STMN, 1959) zu nennen (vgl. auch Stackmann 2004), aus der auch der erwähnte Aufsatz ‚Mittelalterliche Texte als Aufgabe‘ (Stackmann 1964) hervorging. 53 Schweikle 1994 [1985], 129; vgl. auch 134: „Zumindest sollte nicht derjenige, welcher der Überlieferung folgt, dafür eine Beweislast tragen müssen, sondern der, welcher davon abweicht.“ 54 Vgl. Stackmann 1994, u. a. 404–405. 55 Vgl. dazu Starkey und Wandhoff 2008.
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ten produziere, sondern selbst Varianz sei.56 Begeistert von den Möglichkeiten, welche die neuen digitalen Technologien versprachen, entwarf Cerquiglini auch – weniger editorische als eher präsentatorische – Konsequenzen aus diesem Befund: Am Computerbildschirm könne man sich durch das gleichzeitige Sichtbarmachen aller Handschriften eines Textes die Varianz mittelalterlicher Überlieferung in ihrer Materialität direkt vor Augen führen und so einen authentischeren Blick auf vormoderne Textualität erlangen.57 Während die Verfügbarkeit von Handschriftendigitalisaten bereits ab den 1990er Jahren explosionsartig zunahm,58 wird Cerquiglinis Vision (zumindest im Bereich der mittelhochdeutschen Lyrik) erst in jüngster Zeit mit dem Projekt ‚Lyrik des deutschen Mittelalters‘ (LDM) in einem dynamischen digitalen Editionskonzept realisiert (s. u.). Die New Philology war nicht primär als editorische Debatte angelegt.59 Unter dem ohnehin seit längerem zunehmenden Verständnis von Varianz und Mouvance nicht mehr bloß als ‚Fehler‘ der Überlieferung, sondern als elementarer Bestandteil mittelalterlicher Textproduktion und -tradierung gewann sie aber großen Einfluss auf die Frage, wie die ‚Beweglichkeit‘ von Texten auch editorisch darzustellen sei. Mit der Abkehr von den Kategorien ‚Autor‘ und ‚Werk‘ rückte der neophilologische Ansatz so in die Position der radikalen Opposition zur Textkritik Lachmannʼscher Prägung, die eben jener Vorstellung von dem einen, fest umrissenen Autortext als Ausgangspunkt der Überlieferung verschrieben war. – Die Kritik beförderte eine Neuausrichtung, die sich in der editorischen Praxis (mit Leithandschrifteneditionen oder synoptischen Fassungsabdrucken60) und in ihrer theoretischen Durchdringung ohnehin schon zunehmend durchsetzte. Die Überlieferung stand bereits im Zentrum des Interesses, und es war ein methodisches Bewusstsein für (den Umgang mit) Varianz und Mouvance entstanden.61 Die New Philology befeuerte aber gerade mit ihrer Polemik und (vermeintlichen) Radikalität eine intensive Diskussion, die bald auch (weitere) Editionen neuen Typs beförderte.
56 Cerquiglini 1989, 111: „Lʼécriture médiévale ne produit pas des variantes, elle est variance.“ 57 Ein Argument, dem zu Recht widersprochen wurde, denn die (Möglichkeit zur) Synopse entspricht gerade nicht den historischen Gegebenheiten; Varianz ist damit zwar eine Gegebenheit mittelalter licher Überlieferung, aber weniger ein Faktor in der historischen Wahrnehmung von Texten. 58 Für die deutschen mittelalterlichen Handschriften bietet der ‚Handschriftencensus‘ den besten Zugriff: www.handschriftencensus.de (1.7.2020). 59 Sie zielte auf eine stärkere Berücksichtigung mittelalterlicher Handschriften als ganzheitliche Artefakte, die in all ihren Facetten und historischen Kontexten (mit Layout, Korrekturen, Benutzerspuren etc.) wahrgenommen werden sollten. In einem späteren Aufsatz hat Stephen Nichols seinen Ansatz mit dem Begriff der ‚Material Philology‘ präzisiert (Nichols 1997). 60 Besondere Erwähnung verdient hier Hubert Heinens Studie zur „Mutabilität im Minnesang“ (HEI, 1989), in der die untersuchten mehrfach überlieferten Lieder im Paralleldruck wiedergegeben sind. 61 Abseits der im engeren Sinne literarischen Texte sind die Verdienste der sogenannten Würzburger Forschergruppe um Kurt Ruh hervorzuheben (Retro- und Perspektiven dazu bei Klein 2016).
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Freilich provozierte die Debatte auch Widerspruch; unter anderem warf man der New Philology Ignoranz gegenüber den jüngeren methodischen Entwicklungen in der Mediävistik vor.62 Stackmann, der sich bereits früh kritisch mit den Neuansätzen auseinandergesetzt63 und dabei eine vermittelnde Position einzunehmen gesucht hat,64 warnt beispielsweise davor, gleichsam ein Extrem durch ein anderes zu ersetzen. Die New Philology habe der Lachmannʼschen Vorstellung von dem einen festen Autortext eine radikale Rezeptionsästhetik entgegengesetzt. Hingegen sollten ‚Variance‘ und ‚Mouvance‘ nicht einfach zum General- und Regelfall mittelalterlicher Textüberlieferung erklärt werden. Die Mahnung der New Philology zur strengeren Berücksichtigung der Textualität und Historizität von Texten ist zwar unbedingt ernstzunehmen. Dabei gilt es gleichwohl, jeweils das richtige Maß zu finden und auf die spezifischen Überlieferungsbedingungen des jeweiligen Einzelfalls zu schauen. Man kann sagen, dass die Diskussion um eine ‚neue Philologie‘ eine Wirkung erzeugt hat, der man sich kaum ganz entziehen, die man jedenfalls bei der Herausgabe mittelalterlicher Texte nicht ignorieren kann. Dies spiegelt sich auch in der jüngsten Editionsgeschichte des Minnesangs wider. Unter den Autor-Editionen verdient die von Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz und Franz Victor Spechtler herausgegebene Salzburger Neidhart-Edition (SNE, 2007) besondere Erwähnung. In bis dahin nie gekannter Vollständigkeit erfasst sie alle in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Überlieferung mit dem Namen Neidharts verbundenen Texte in sehr handschriftennaher Gestalt, bei Mehrfachüberlieferung in synoptischem Paralleldruck und v. a. in der Auswahl nicht schon vorbelastet durch bestimmte Echtheits-Prämissen. Durch die Abkehr vom engen produktionsästhetisch ausgerichteten Autor-Werk-Paradigma bedient die Ausgabe damit die Programmatik und die Forderungen der New Philology; sie geht indes auf ältere Vorüberlegungen von Müller und Spechtler schon in den 1970er Jahren zurück.65 Neben der Neuedition der Sprüche und Lieder Walthers durch Schweikle (L/SCHW, 1994/98) erfuhr auch die ‚alte‘ Walther-Ausgabe nach Lachmann 1996 in der 14., durch Christoph Cormeau besorgten Auflage (L/COR) eine grundlegende Revision, die sich in ihrem textkritischen Grundansatz konsequent zur Orientierung an Leithandschriften und zu großer Transparenz auf die gesamte Überlieferung hin verpflichtete. Bereits 2013 erlebte sie eine nochmalige völlige Neubearbeitung: Die 15. Auflage von Thomas Bein (L/BEIN)66 entspricht dem modernen Verständnis von mittelalterlicher Textualität in ihrer Varianz und Mouvance durch die Edition einzelner ‚Fassungen‘ von Liedern, wo dem Herausgeber dies angesichts der Über62 Vgl. Schnell 1997. 63 Stackmann 1993. 64 Stackmann 1994. 65 SNE I, VII; Müller 1977. 66 Sie trägt auch weiterhin aus Gründen der Tradition den Namen Lachmann im Titel, was noch mit der Anlage, nicht mehr aber mit ihrem methodischen Ansatz zu begründen ist.
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lieferungslage geboten scheint. Die Ausgabe zeigt aber zugleich, wie unter solchen methodischen Ansprüchen das Format der Edition bis an die Grenzen getrieben wird, nicht nur was den schieren Umfang angeht (der sich gegenüber der 14. Aufl. mehr als verdoppelt hat). So wird nicht immer greifbar, wie eine ‚Fassung‘67 definiert ist: Ab welchem Grad von Varianz (etwa „der Worte, der Form und des Sinnes“68) hat man eine Fassung eigenen Rechts anzusetzen (und auf welcher Produktions- oder Tradierungsstufe)? Auch die Anforderungen an Benutzer/innen sind gestiegen: Durch die nicht (zeilen-)synoptisch, sondern nacheinander angeordneten Fassungstexte verliert man den konzentrierten Überblick auf die (Einzel-)Varianten der gesamten Überlieferung (den L/COR noch bot). Was in älteren, strenger textkritisch ausgerichteten, Editionen der Herausgeberentscheidung obliegt, ist hier vielfach an die Benutzer/ innen abgegeben.69 Damit sind auch grundlegende Limitierungen gedruckter Editionen aufgezeigt, die im digitalen Medium besser zu bewältigen sind. Als Pionierprojekt ist hier die digitale Edition ‚Lyrik des deutschen Mittelalters‘ (LDM) von Manuel Braun, Sonja Glauch und Florian Kragl zu nennen.70 Mit ihrem dynamischen Konzept ermöglicht sie den Blick auf verschiedene Textzustände in unterschiedlicher editorischer Aufbereitungstiefe, von der diplomatischen Transkription bis hin zu unterschiedlichen Normalisierungsstufen. Zudem erlaubt sie je nach Nutzungsinteresse verschiedene synoptische Darstellungsmodi, die für jede überlieferte Version eines Liedes alle anderen vergleichend in den Blick rückt. Außerdem sind die Texte jeweils mit den Handschriftendigitalisaten verknüpft. Das Konzept reagiert besser als jede Druckedition auf unterschiedliche Fähigkeiten und Interessen, die an Minnesangeditionen herangetragen werden, denn hier können Benutzer/innen explizit selbst entscheiden, wie weit sie sich der editorischen Aufarbeitung anvertrauen oder inwiefern sie diesen Erkenntnisprozess am Material selbst nachvollziehen wollen. Die jüngere Methodengeschichte macht deutlich, dass unter den Bedingungen mittelalterlicher Textualität und Überlieferung (und dem gewachsenen Bewusstsein
67 Die tragfähigste Definition hat (allerdings in Bezug auf die Epik) Joachim Bumke gegeben: Fassungen liegen demnach vor, wenn ein und dasselbe ‚Werk‘ in einzelnen Versionen solche Unterschiede aufweist, dass diese „nicht zufällig entstanden sein können, vielmehr in ihnen ein unterschiedlicher Formulierungs- und Gestaltungswille sichtbar wird“, und wenn zudem die Versionen nicht in einem textkritischen Sinne als voneinander abhängig zu erweisen sind (Bumke 1996, 32). 68 Stackmann 1997. 69 So muss man bei der Benutzung von L/BEIN nun vermehrt selbst entscheiden, an welcher der gebotenen Fassungen man sich orientieren will, welcher man gegebenenfalls den Vorzug gibt (und mit welcher Begründung) etc. Der textkritische Apparat verzeichnet zudem jeweils nur die Varianten innerhalb einer Fassung. Ist man an einzelnen Stellen an den Lesarten anderer Fassungen interessiert, muss man entsprechend umblättern. Diese – methodisch konsequenten – Unbequemlichkeiten, die entsprechende Kenntnisse voraussetzen, wird man in Kauf nehmen müssen, wenn man mittelalter liche Textualität im Sinne der New Philology ernst nehmen will. 70 www.ldm-digital.de (1.7.2020).
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hierfür) das Edieren keine bloße (gar mechanische) Hilfswissenschaft ist. Damit ist das frühere, insbesondere von Lachmann beeinflusste Verständnis von Edition als einmalig und objektiv herstellbare Grundlage für das auf sie aufbauende Geschäft der Interpretation massiv erschüttert. Jede Edition ist immer schon ein gefilterter, gerichteter Blick auf eine bestimmte Vorstellung vom Text. Das bedeutet auch, dass die Grenze zwischen Edition und Interpretation, zwischen Philologie und Hermeneutik, keineswegs streng zu ziehen ist.71 Ganz in diesem Sinne sind die meisten der in jüngerer Zeit erschienenen Minnesangeditionen72 vom Typus der kommentierten zweisprachigen Studienausgabe.73 Die Kombination aus Text mit Übersetzung und Kommentar zwingt einerseits dazu, sich in der Übertragung zunächst auf ein Verständnis festzulegen,74 andererseits ermöglicht sie im Kommentar die Diskussion von Alternativen und kann so auf Varianz reagieren. Die Einsicht, dass Edition nach Interpretation verlangt, ja dass beides sich gegenseitig bedingt, macht sich inzwischen auch umgekehrt daran bemerkbar, dass es zunehmend zum Normalfall wird, die Edition einzelner Texte in literaturwissenschaftliche Abhandlungen zu inserieren. Als Grundlage für die Interpretation sind oft nicht mehr bloß die Texte vorhandener Ausgaben zitiert, sondern sie sind aus den Handschriften jeweils neu hergestellt und in ihrer spezifischen Überlieferungskonstellation diskutiert.75 Das ist ein Trend, der sehr zu begrüßen ist, schafft er doch größtmögliche Transparenz hinsichtlich der philologischen Bedingungen von Interpretation. Bisweilen könnte dabei noch stärker die jeweilige Bezugsgröße und Zielstellung von Edition und Interpretation deutlich gemacht werden: Geht es darum, produktionsseitig das poetische Werk eines Autors in den Blick zu nehmen, oder interessiert die einzelne Handschrift eher unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten als historischer Reflex auf diesen Autor – wobei sich dann z. B. je nach Handschrift oder Überlieferungszweig ein bestimmtes ‚Autorbild‘ zeigen kann76 – oder gar als
71 „Edition ist ja nie denkbar ohne Interpretation“ (Schiendorfer 1989, IX), mehr noch: „Edieren heißt interpretieren“ (Heinzle 2003, 15). – Zur „wechselseitige[n] Abhängigkeit von Editor und Literarhistoriker“ (die ja ohnehin zumeist in Personalunion auftreten) vgl. bereits Stackmann 1983. 72 Exemplarisch genannt seien nur die Auswahlausgaben zur Lyrik des frühen und hohen sowie des späten Mittelalters (KAS, 1995; WACH, 2006), die Sammlung ‚Früheste deutsche Lieddichtung‘ (Brunner 2005) sowie die thematisch nach Diskurstypen innerhalb der Gattung angeordnete Anthologie KLEIN (2010). 73 Zum Typus vgl. Runow 2014. – Neben zweisprachigen Ausgaben gibt es auch weiterhin, wenn auch seltener, einsprachige Studienausgaben; zu nennen wären etwa MF oder die jüngste Oswald von Wolkenstein-Ausgabe (OSW), wo Übersetzungshilfen schwierige Stellen aufschlüsseln. ‚Erschließungshilfen‘ bietet auch L/BEIN. Ähnlich war z. B. auch schon Karl Bartsch in seiner ‚Liederdichter‘-Anthologie (1864) sowie in BSM (1886) verfahren. 74 Was auch für die Übersetzenden nicht unwesentlich den philologischen Blick für die Texte schärft! 75 Mustergültig vorgeführt bei Kellner 2018. 76 Vgl. Hausmann 1999.
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individuelle Rezeptionsstufe, die mehr über die Tradenten beziehungsweise späteren Rezeptionsformen aussagt als über den Autor? Schließlich sollte eine Edition reflektieren, für wen sie gemacht ist, und dabei auf die Benutzungsbedürfnisse reagieren, die voraussichtlich an sie gestellt werden. Je näher eine Edition den Blick auf die einzelne Handschrift lenkt und je mehr an komplexen Überlieferungszusammenhängen sie abbildet, umso mehr legt sie damit den hermeneutischen Prozess, den sie ermöglichen und befördern sollte, als Aufgabe in die Hand ihrer Benutzer/innen. Hier sollte man darauf achten, dass sie sich nicht auswächst zu einer Aufgabe, die niemand mehr lösen kann außer denjenigen, die selbst in der Lage wären, eine Edition auch anderen Zuschnitts anzufertigen (mit Normalisierung, Interpunktion, unabdingbaren Textbesserungen etc.). Die Herausforderung besteht darin, die richtige, dem Gegenstand und seinem Publikum angemessene Balance zu finden.
3 Editionspraxis – ein Beispiel Was bis hierher überblickshaft und dabei notwendig eher abstrakt dargestellt wurde, soll nun an einem konkreten Fallbeispiel illustriert werden. Dabei geht es mehr darum, die Fragen und Probleme aufzuzeigen, die sich für die Editionspraxis vor dem Hintergrund der angesprochenen Voraussetzungen stellen, als eindeutige Lösungen zu präsentieren. Als Beispiel diene Walthers von der Vogelweide Hie vor, dô man sô rehte minneclîchen warp (L/COR 48,12; vgl. L 47,36, dazu s. u.). Das Lied ist in fünf Handschriften bezeugt. Die nachstehende Tabelle stellt die Gesamtüberlieferung dar. In der ersten Spalte steht die Handschrift C, weil sie einen wichtigen Ausgangspunkt für die folgende Darstellung bildet; als Referenz ist die traditionelle Lachmann-Zählung mit angeführt. Die weiteren Handschriften sind alphabetisch angeordnet, wobei die römischen Zahlen die Strophenreihung innerhalb der jeweiligen Handschrift anzeigen. C (161–165)77 C I (L 48,12) C II (L 48,25) C III (L 48,38) C IV (L 47,36) C V (L 49,12)
A (85–88) =AI = A III = A IV = A II
B (72–73) =BI = B II
e – Reinmar (355–359) =eI = e III = e IV = e II =eV
n (17)
=nI
77 Die arabischen Zahlen beziehen sich auf die Strophenposition im Corpus der jeweiligen Handschrift (nach moderner Zählung; vgl. aber Anm. 81).
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Sofort fällt auf, dass der Strophenbestand variiert: von einer Strophe in der Niederrheinischen Handschift n bis zu fünf Strophen in den Handschriften C und e78. Die Übersicht zeigt zudem, dass in den Handschriften, in denen mehrere Strophen überliefert sind, deren Reihenfolge einige Beweglichkeit aufweist (‚Mouvance‘). Einigermaßen stabil ist allein der Liedeingang mit Str. C I (A, B, C, e – ausgenommen freilich die Einzelstrophenüberlieferung in n) sowie die Abfolge der Strophen C II und C III (an jeweils unterschiedlichen Positionen innerhalb der Versionen A, C und e). In e steht das Lied zudem gar nicht unter Walthers Namen, sondern ist → Reinmar zugeschrieben. Eine zweite Übersicht zeigt Strophenbestand und -anordnung in einigen wichtigen Walther-Ausgaben unterschiedlichen Editionstyps (von links nach rechts in chronologischer Folge),79 über die im Folgenden zu sprechen sein wird; ihr Referenzpunkt ist Bodmers und Breitingers ‚Sammlung‘ (1758) als frühester vollständiger Abdruck von C (zweite Spalte, fett; davor in der ersten Spalte die früheren ‚Proben‘). Die Tabelle zeigt, dass die Editionen z. T. unterschiedliche Entscheidungen treffen und das Lied beziehungsweise seine Fassungen in je unterschiedlicher Weise (oder Auswahl) darbieten. Bod./Breit. 1748 1758 1 1 2 2 3 4 3 5
L
L/COR
L/SCHW
2 (48,12) 3 (48,25) 4 (48,38) 1 (47,36) 5 (49,12)
1 3 4 5 2
1 2 3 4 5
L/BEIN Fassung A Fassung C 1 1 3 2 4 3 4 2 5
Mit dem Überlieferungsbefund, so lassen diese Tabellen erahnen, sind kardinale Fragen an die Textkritik und Editorik gerichtet, auf die es unterschiedliche Antworten geben kann. Sie seien hier nochmals im Hinblick auf die Probleme perspektiviert, die mittelalterliche Texte der philologischen und literaturwissenschaftlichen Forschung aufgeben können: Wenn in einem ‚traditionellen‘ (Lachmannʼschen) Verständnis von Textkritik die Handschriften als ‚Zeugen‘ eines und desselben ‚Textes‘ aufgefasst werden, wäre bereits auf dieser Ebene zu fragen, wie viele Strophen dieser eine Text hat. Trivial ist die Frage keinesfalls. Eine ursprünglich längere Ausgangsfassung kann im Verlauf der Überlieferung Strophen ‚verloren‘ haben oder bewusst gekürzt worden sein. Umgekehrt kann ein ursprünglich kürzeres Lied später um 78 Mit e ist der von Lachmann abgegrenzte Teil innerhalb der Würzburger Liederhandschrift E bezeichnet, der eine Reihe von Reinmar zugeschriebenen Liedern enthält, bei denen im Vergleich zur Parallelüberlieferung häufiger Mehrfachzuschreibung auftritt. 79 Die Auswahl bleibt sehr selektiv (in Anlehnung an die im vorangegangenen Teil erwähnten Editionen); hier ist es nicht möglich, die Editionsgeschichte zu Walther umfassend zu berücksichtigen (vgl. dazu Bein 2013).
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weitere Strophen ergänzt worden sein. Zu fragen wäre, wer wann, zu welchem Anlass und mit welcher Absicht diese Ergänzungen oder Kürzungen vorgenommen hat. Die Lachmann-Methode geht von der Vorstellung des einen ursprünglichen Autortextes aus. Was aber, wenn der Dichter selbst unterschiedliche Fassungen, etwa zu verschiedenen Vortragsgelegenheiten, angefertigt hat? Was, wenn (spätere) Nachsinger und Nachahmer eigene Strophen dazugedichtet haben, und wie sollte man das gegebenenfalls nachweisen? Gleiches gilt für die je unterschiedliche Strophenreihung: Ist sie Ausdruck eines flexiblen Umgangs mit dem eigenen Strophenmaterial schon beim Dichter? Oder ist die Umstellung im Prozess der Überlieferung dem jeweiligen Redaktor oder Schreiber einer der Handschriften zuzuschreiben? Ist die Umstellung (wovon im Vergleich wozu? – und wie könnte man das priorisieren?) absichtlich oder versehentlich geschehen, und wie wäre das nachzuweisen? Klare Antworten sind hier nicht zu erreichen; die Voraussetzungen aber für eine textkritische Edition im strengen Sinne – s. o.: ein einziger, fest umrissener Archetyp; ausschließlich vertikale Überlieferung; erkennbare Absicht jedes Schreibers, seine Vorlage getreu wiederzugeben – dürften jedenfalls nicht mehr gegeben sein. Sofern die Abhängigkeitsverhältnisse der einzelnen Handschriften nicht eindeutig feststellbar sind, verbietet sich ein Stemma. Die Priorisierung einzelner Fassungen gegenüber anderen ist dann kaum objektivierbar, sondern sie beruht allenfalls auf Argumenten z. B. der Form oder aber der inhaltlichen Kohärenz der Texte, ihrer Argumentationslogik und damit letztlich der Ästhetik. Solche Problemstellungen wären textkritisch allenfalls über das Argument der lectio difficilior zu hierarchisieren, also nach dem Prinzip der ‚schwierigeren‘ und damit ‚anspruchsvolleren‘ Lesart, die man entsprechend genieästhetischer Vorstellungen (s. o.) eher dem Dichter als dem Nachdichter, eher dem Autor als dem Schreiber zutraut. Solche Argumente aber sind Fragen der Interpretation, die damit zur unabdingbaren Voraussetzung einer Edition werden und die Vorstellung vom recensere sine interpretatione (s. o., Anm. 24) gründlich in Frage stellen. Die Antworten auf solche Fragen, die eine Edition bieten will und soll, sind immer auch mit spezifischen Vorstellungen von und Unterstellungen an die vormoderne Medialität und Textualität verbunden. Danach ist auch zu entscheiden, welcher Editionstyp für welche Überlieferungslage und für welches Erkenntnisinteresse zu wählen ist: Welche editorischen Mittel (kritische Rekonstruktion gegebenenfalls mehrerer Fassungen; Leithandschriftenedition; diplomatische Synopsen etc.) sind geeignet, die jeweils angestrebten Beobachtungs- und Argumentationsweisen am besten sichtbar zu machen (z. B. produktions- versus rezeptionsästhetische Ansätze; Vorstellungen von Ursprünglichkeit versus Gleichwertigkeit oder Transformationen einzelner Textfassungen etc.). Es ist somit im oben erwähnten Sinne zu fragen, was eine Edition zeigen soll; sie muss sich zwischen den Polen ‚Dokumentation‘ und ‚Rekonstruktion‘ positionieren, je nachdem, ob (und für wen) sie entweder eine Synthese oder aber die Auffächerung des Überlieferungsbefundes präsentieren will.
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Günstiger sind die Bedingungen für ein genuin textkritisches Erkenntnisinteresse oftmals auf der Ebene der einzelnen Strophe, wo (allein schon durch den begrenzten Textraum im Rahmen einer durch Metrum und Reim gebundenen Form) der Varianz insgesamt engere Grenzen gesetzt sind.80 Hier sind ‚Fehler‘ oder Transformationen des Textes über den direkten Vergleich der Handschriften besser zu beobachten beziehungsweise zu begründen. Das soll im Folgenden exemplarisch im Nachvollzug einzelner Schritte von der Überlieferung zur Edition skizziert und anhand einiger editionsgeschichtlich bedeutsamer Ausgaben illustriert werden.
Von der Handschrift zur Edition Ungeachtet des methodischen Zugangs oder des Editionstyps gilt: Ausgangspunkt einer jeden Edition ist die Befassung mit der Überlieferung selbst. Abb. 1 zeigt exemplarisch Bl. 132r der Handschrift C. Das Lied L 48,12 umfasst hier fünf Strophen innerhalb des Textcorpus, das in der Handschrift explizit dem Dichter (her walther) von der vogelweide zugeschrieben ist (als rubrizierte Überschrift der Miniatur Bl. 124r sowie in kleinerer Schrift oben links auf der ersten Textseite, Bl. 124v). Das Lied beginnt mit der dritten Initiale in der Mitte der linken Spalte,81 die Stropheninitialen (‚Lombarden‘) sind blau (→ Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungskonzepte).82 – Wie in dieser Handschrift üblich, wechselt die Initialfarbe nicht strophenweise (wie etwa in den Handschriften A und B), sondern nach dem formalen Kriterium der Tongleichheit.83 Im Falle des Minnesangs ist daran zumeist inhaltliche Zusammengehörigkeit abzulesen, denn hier gilt ganz überwiegend das Prinzip der Einheit von Ton und Lied (zwingend ist das aber – zumal im frühen Minnesang – nicht84).
80 Vgl. dazu auch die oben (S. 75) angeführte Argumentation von MF in Bezug auf die Einzelstrophe. 81 Die Strophen sind in C (durch Goldast) nummeriert als 167–171 (heute neu gezählt als 161–165). 82 Anlage und Ausführung des Codex Manesse werden u. a. bei Voetz 2015 ausführlich vorgestellt. 83 Eine „Material Philology“ (Nichols 1997) hätte danach zu fragen, ob und inwiefern es von Bedeutung sein mag, dass die Initiale der vorausgehenden Strophe (die Einzelstrophe L 47,16) in singulärer Weise zweifarbig gestaltet ist: die obere Hälfte blau mit roten Fleuronné-Verzierungen, die untere Hälfte umgekehrt. 84 Im Spruchsang gilt das Prinzip der Einstrophigkeit geradezu als Gattungskriterium. Dass die Forschung auch für den Minnesang die Einheit von Ton und Lied unterschiedlich eingeschätzt hat, zeigt unter anderem die Edition Lachmanns (s. u., S. 94).
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Abb. 1: Handschrift C (Codex Manesse), Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, Bl. 132r.
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Diplomatische Umschrift (Erschließung und Dokumentation) Eine basale Möglichkeit, die Überlieferung zugänglich zu machen, und zugleich ein erster Schritt in Richtung Edition, ist die diplomatische Transkription, die zeichengetreue Umschrift des überlieferten Textes in moderne Typographie (‚Transliteration‘). ‚Diplomatisch‘ heißt, dass dabei die Eigenheiten der handschriftlichen Graphien und gegebenenfalls des Layouts beibehalten und erkennbar bleiben. Das kann z. B. eine zeilengetreue Wiedergabe mit Auszeichnung der Initialen, aller handschriftlichen Abbreviaturen, Supraskripte, diakritischen Zeichen, Reimpunkte, Tilgungszeichen85 etc. bedeuten. Eine solche sähe für die dritte Strophe nach C (L 48,38) folgendermaßen aus:
W
ib mvͦ s iemer ſin der wibe hohſte name· vn̄ tuͥret bc danne frowē als ihſ erkenne· ſwa dϟ deheinuͥ ſi div ſich ir [132rb] wibheit ſchame· duͥ merke diſen ſanc vn̄ kieſe oͮ ch denne· vnder frowē ſint vnwib· vnder wiben ſint ſi tuͥre· wibes name vn̄ wibes lib· duͥ ſint beiduͥ vil gehuͥre· ſwieſ vmb alle frowē var· wib ſint alle frowē gar· zwiuel lob dc hoͤ net· als vndϟ wilēt frowē wib iſt ein name ders alleṣ kroͤ net·
Mehr oder weniger diplomatische Abdrucke, die aber gegenüber dem Layout und den Graphien der Handschrift einige vereinfachende und vereinheitlichende Anpassungen vornahmen, boten auch manche der proto- und frühgermanistischen Minne sangausgaben. Gegenüber späteren textkritischen Editionen zielten sie noch mehr auf Erschließung und Dokumentation der überlieferten Texte (s. o.). Bodmer und Breitinger haben als Erste zunächst auszugsweise in ihren ‚Proben‘ (1748) und dann weitgehend vollständig in der ‚Sammlung‘ (1758) den Codex Manesse in den Druck gebracht. Die ‚Proben‘ sind als Auswahledition in ihrem Umfang wesentlich geringer. Dabei erscheinen gegebenenfalls auch von einem Lied jeweils nur ausgewählte Strophen. Das ist in unserem Beispiel L 48,12 der Fall: Von den fünf Strophen des Liedes in C sind nur drei abgedruckt (C I, C II, C V86); Abb. 2 zeigt die Strophe C V (L 49,12) in beiden Ausgaben:
85 Vgl. hier in der letzten Zeile alle, wo das s durch Unterpunkt getilgt ist. 86 Man wird das gegenüber dem Vollständigkeitsanspruch der späteren ‚Sammlung‘ vielleicht auch so zu interpretieren haben, dass den ‚Proben‘ ein anderes Textualitäts- beziehungsweise Kohärenzverständnis zugrunde liegt, das der einzelnen Strophe größere Eigenständigkeit beimisst.
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Abb. 2: links Bodmer und Breitinger 1748, 87; rechts Bodmer und Breitinger 1758, 117.
Die Verse sind jeweils zeilenweise abgesetzt, wobei jede Zeile mit einem Großbuchstaben beginnt. Damit ist die gliedernde Funktion handschriftlicher Reimpunkte durch andere, moderne Layoutprinzipien ersetzt. Handschriftliche Abbreviaturen und Diakritika sind aufgelöst oder getilgt. Eine Interpunktion ist in beiden Ausgaben nicht eingefügt. Der Abdruck der ‚Sammlung‘ (Abb. 2, rechts) wirkt auf den ersten Blick sogar noch etwas ‚diplomatischer‘,87 weist aber grundsätzlich dieselbe Bearbeitungsstufe wie die ‚Proben‘ auf. Als textkritische Entscheidung ist hingegen die Behandlung der Schlussverse zu werten. Darauf ist kurz näher einzugehen. In den ‚Proben‘ bilden die letzten drei Verse eine sogenannte ‚Waisenterzine‘ (ein durch eine reimlose Verszeile unterbrochenes Verspaar; → Metrik und Formanalyse). Das entspricht auch dem metrischen Schema in den übrigen Strophen des Tons. In der Handschrift lautet der vorletzte Vers an wib dvͥ kvnnē danken, wobei über dem danken in kleinerer Schrift von alter Hand eren eingetragen ist (ohne dass aber das danken im Text getilgt wäre, etwa durch Streichung oder Unterpunktion). Man hat es also mit einer Textvariante zu tun (→ Varianz), deren Ursprung und Intention indes unklar bleibt und die auch stemmatologisch nicht im Sinne eines ‚(Leit-)Fehlers‘ gewertet werden kann.88 Formal bildet das Lexem êren im Verbund mit den umgebenden Verszeilen nun einen Dreireim (kêren : êren : überhêren), der im Layout der ‚Sammlung‘ als Kombination einer binnengereimten Langzeile mit einem abschließenden kürzeren Vers wiedergegeben ist. Das metrische Schema und die Sangbarkeit der Strophe sind dadurch nicht beeinträchtigt, doch entsteht gegenüber der Waisenterzine eine angereicherte Klangwirkung. Man kann nur mutmaßen, dass dies gegebenenfalls der Intention des Urhebers der Variante eren entspricht, und dass Bodmer und Breitinger dieser Variante in der ‚Sammlung‘ als lectio difficilior
87 Die Zirkumflexe der Handschrift sind übernommen. Auffällig ist hier zudem das Doppel-v für w (frovven, vvider, Svva etc.), das insgesamt dem mediävalisierenden Stil der bibliophilen Ausgabe entspricht; vgl. auch das oben, Anm. 8, angeführte Zitat aus der Einleitung. 88 Man hat es mit einer sogenannten ‚Präsumtivvariante‘, d. h. einer semantisch gleichwertigen Lesart, zu tun.
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den Vorzug gegenüber danken gegeben haben. Die Herausgeber äußern sich allerdings nicht im Detail zu solchen editorischen Entscheidungen. Was Bodmer und Breitinger in ihren Abdrucken bieten, könnte man prinzipiell in Anlehnung an Kragl als ‚Lesehilfen‘ im eigentlichen Sinne bezeichnen, nämlich als „Vor- und Laut-Lese-Hilfe“89: Der Text wird aus der mittelalterlichen Graphie überführt in eine solche, die modernen Lesegewohnheiten entspricht. Diese Maßnahme wirkt verständnisfördernd (weil sie keine besonderen paläographischen Kenntnisse voraussetzt), zudem lässt sich auf dieser Grundlage eine phonemisch angemessene Rezitation realisieren. Damit geht diese frühe noch sehr handschriftennahe Ausgabe zugleich bereits einen nicht unbedeutenden Schritt in Richtung der sprachlichen Normalisierung.
Normalisierung Wie eine (behutsame) Normalisierung aussehen kann, zeigt exemplarisch der nachfolgende Abdruck der zuvor diplomatisch transkribierten Strophe (C III = L 48,38). Ziel ist es, einen gut lesbaren Text zu geben, d. h. durch eine graphemisch-phonemische Normierung das Verständnis zu erleichtern.90 Dazu gehört auch das Kenntlichmachen der syntaktischen Gliederung durch die Einführung einer Interpunktion nach modernen Maßstäben.91 Zum Erschließen des Textverständnisses bedarf es aber nötigenfalls auch bereits textkritischer Maßnahmen. Das ist hier in den Versen 2 und 1292 der Fall, wo jeweils die Auslassung eines Buchstabens gegenüber der Handschrift mit eckigen Klammern angezeigt wird. Die Lesarten der Handschrift sind dabei in diplomatischer Umschrift im Apparat unter der Strophe dokumentiert.
Wîb muoz iemer sîn der wîbe hôhste name und tiuret baz danne frouwe[], als ichz erkenne. swâ der deheiniu sî, diu sich ir wîbheit schame, diu merke disen sanc und kiese ouch denne.
89 Kragl 2015, 25. 90 Im Einzelnen: Verse werden abgesetzt und Reimpunkte getilgt; Zusammen- und Getrenntschreibung geregelt; lange Vokale werden als solche ausgezeichnet, Diphthonge vereindeutigt, die Grapheme ‹u› und ‹v› nach konsonantischem und vokalischem Lautwert unterschieden; Schaft-s (ſ) und rundes s sind vereinheitlicht, die Phoneme /s/ und /z/, wofür die Handschrift das Graphem ‹s› verwendet, werden auch graphisch geschieden. 91 Vgl. dazu den Hinweis S. 72 mit Anm. 31. 92 Der Plural vrouwen, insbesondere im Satz zwîvellop daz hœnet | als underwîlent vrouwen, kann in dieser Form innerhalb der Argumentationslogik der Strophe keinen rechten Sinn ergeben. Inhaltlich geht es hier um die Begriffe wîp und vrouwe, wobei wîp der Vorzug als Ehrentitel für alle weiblichen Wesen gegeben wird. Die Bezeichnung mit dem Begriff vrouwe wird als zweifelhaftes Lob dem Begriff wîp entgegengesetzt: (die Bezeichnung als) vrouwe [als Subjekt im Nom. Sing.] ‚verhöhnt‘; (die Bezeichnung als) wîp ‚krönt‘.
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Eva Bauer und Holger Runow under frouwen sint unwîb, under wîben sint si tiure. wîbes name und wîbes lîb diu sint beidiu vil gehiure. swiez umb alle frouwen var, wîb sint alle frouwen gar. zwîvellob daz hœnet als underwîlent frouwe[]: wîb ist ein name, ders alle krœnet. 2/12 frowē C.
Damit ist eine Textgestalt erreicht, die recht weitgehend dem sogenannten ‚Normalmittelhochdeutschen‘ entspricht. Diese ‚Norm‘, in jüngerer Zeit z. T. heftig umstritten und bisweilen abgetan als bloßes ‚Konstrukt‘ und als „Kunstsprache, die auf ein Postulat der Philologie des neunzehnten Jahrhunderts zurückgeht“93, lässt sich hier gut in ihrer Genese beobachten: Denn das, was heute als ‚Normalmittelhochdeutsch‘ bezeichnet wird, ist zunächst nichts anderes als die (oberdeutsche) Sprachgestalt, die sich in den ältesten und verlässlichsten Handschriften jener Texte vorfand, auf die sich das frühgermanistische literarhistorische Interesse richtete94 und die in den Editionen in eine entsprechend graphematisch-phonologische Systematik überführt wurde. Zum Problem wird die (vermeintliche) ‚Norm‘ eigentlich erst dort, wo die bezeugten Texte diesen engen zeitlichen oder regionalen Rahmen verlassen.
Normalisierung und Textkritik (hypothetisch) Bedenklich kann ein solches Vorgehen tatsächlich werden, wo eine Handschrift etwa einer anderen (späteren) Sprachperiode (‚Frühneuhochdeutsch‘) oder einem anderen Dialektraum als dem oberdeutschen (oder überhaupt dem hochdeutschen) entstammt. Denn für die mittelalterlichen Schreiber volkssprachlicher Texte gilt, dass sie überwiegend ‚mit dem Ohr schreiben‘, sie die Texte also ihrem je eigenen Dialekt und Sprachempfinden anpassen. Das ist im vorliegenden Beispiel bei besagter Str. C III (L 48,38) auch einmal der Fall, nämlich in der Niederrheinischen Liederhandschrift n,
93 Hammer u. a. 2017, X; vgl. auch Martyn 2018, der von „Lachmanns Esperanto“ spricht. 94 Neben dem schwerpunktmäßig süddeutschen Minnesang in den oberdeutschen Handschriften A, B und C sind hier u. a. die höfischen Epen des Schwaben Hartmann von Aue und des Franken Wolfram von Eschenbach sowie das bairisch-österreichische ‚Nibelungenlied‘ etc. zu nennen, bei denen zudem eine oft überregional funktionale Reimsprache zu beobachten ist. Freilich schoss Lachmann mit seiner apodiktischen Einschätzung, „dass die Dichter des dreizehnten Jahrhunderts […] ein bestimmtes unwandelbares Hochdeutsch redeten“, über das Ziel hinaus, gerade auch indem er dies mit einer Abwertung der „ungebildete[n] Schreiber“ verband (Lachmann 1876 [1820], 161). – Zur Frage nach einer ‚höfischen Dichtersprache‘ vgl. den konzisen Überblick in Paul 2007, § E 9.
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die allein diese eine Strophe des Liedes überliefert (n I95, hier in diplomatischer Transkription):
W
if was ie der hoiſte name· in̄ priſit bas dan vrauwe· als ich it erkenne· welich wif ſich ir wifheit ſzame· die hore rainē ſanc· in̄ mirke denne· vndϟ vrauwen ſint unwijf vndϟ uuiuen ſīt ſi duͦ re· wiues name vn̄ wiues lijf· dat is vil gehuͦ re· wie it vmbe allen vare wip nimpt des hoeſten louis ware· vrauwen lof dat honit· wif is eyn name dat ſi alle cronit·
Die westmittelniederdeutsche Schreibsprache zeigt sich vor allem an der nicht durchgeführten zweiten Lautverschiebung (z. B. dat statt daz; duͦ re statt tiure; vgl. auch wif statt wib), aber auch am Vokalismus (z. B. hoiste mit Dehnungs-i statt Umlaut; Hebung von /e/ zu /i/ in mirke, auch in it statt ez etc.). Das folgende Beispiel zeigt zwei mögliche Herangehensweisen. Links wird die Strophe ohne Heranziehung der Parallelüberlieferung einer Normalisierung im obigen Sinne unterzogen.96 Das kann, sofern man die Strophe als eigenständige Überlieferung ernst nimmt, nicht ohne methodische Zweifel und gegebenenfalls schon prekäre Entscheidungen geschehen, unterstellt doch die Umsetzung in ein ‚Normalmittel h o c h deutsch‘ per se einen oberdeutschen Ursprung der Strophe. Die Normalisierung97 unterliegt mithin bereits einer textgenetisch-textkritischen Prämisse. Solche Bedenken seien hier für den Moment ignoriert. Im Vergleich mit der Gesamtüberlieferung fällt zudem auf, dass der Text in n einen Vers weniger bietet als die übrigen Handschriften. Damit weicht er fomal ab (bleibt aber inhaltlich durchaus verständlich). Auf der rechten Seite wird unter Einbezug solcher (formalen) Erwägungen der hypothetische Versuch98 vorgeführt, die Strophe auf der Grundlage der Leithand95 Leipzig, Universitätsbibliothek, Rep. II, 70a (Teil II), Bl. 70a. 96 Ohne weitere Eingriffe in den Text; ein solcher wäre für den letzten Vers zu diskutieren: Das Substantiv name ist auch im niederdeutschen Sprachraum durchweg ein Maskulinum; darauf kann sich also das folgende dat (daz) der Handschrift nicht beziehen, es müsste demnach zu der emendiert werden (vgl. HEI, 177). Ansonsten müsste man den Satz etwas gezwungen etwa so verstehen: ‚wîp ist [die] eine Bezeichnung [für alle weiblichen Wesen]; das [diese Tatsache] krönt sie alle‘. – Eine andere Möglichkeit wäre, den Text in n auf die Fassung in A zu beziehen. Dort lautet der Vers: wip daz ist ein lop, daz sie alle krœnet, das Relativpronomen daz bezieht sich also kongruent auf das Neutrum lop: Könnte demnach in n eine Vermischung (‚Interpolation‘) der Lesarten von A und C/e vorliegen? 97 Sie wird hier, mehr um des ‚Vorführungszwecks‘ willen, in strengerer Form durchgeführt, so dass die Lexeme der Gestalt entsprechen, wie man sie auch im Wörterbuch vorfinden würde: also z. B. mit Auslautverhärtung in wîp, mit dem Graphem ‹v› für /f/ im Anlaut (vrouwe) etc. 98 Er möge unbedingt als solcher verstanden werden: als fiktive Edition allein zum Zweck der Anschauung!
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schrift n textkritisch zu rekonstruieren: also unter der Prämisse, dass sie einen Text des oberdeutschen Autors Walther von der Vogelweide bezeuge, der auch dem formalen Kriterium der Toneinheit mit den übrigen Strophen der Überlieferung des Liedes entsprechen müsse. Daraus folgt dann geradezu zwangsläufig, dass ‚fehlende‘ und metrisch ‚unterfüllte‘ Verse ergänzt werden. Als textkritisches ‚Korrektiv‘ wird hier allein die oben abgedruckte Handschrift C verwendet; weitere Lesarten aus C, die nicht in den Text übernommen sind (z. B. semantisch Gleichwertiges wie V. 2 tiuret gegenüber prîset etc.), sind in diplomatischem Abdruck in einem Variantenapparat verzeichnet. Die Eingriffe werden durch Kursivdruck markiert und in Auswahl in einem Anmerkungsapparat knapp kommentiert. n in ‚normalmittel h o c h deutscher‘ Umschrift
*Kritischer Text auf der Grundlage von n mit C
Wîp was ie der hœhste name, und prîset baz dann vrouwe, als ich ez erkenne. welch wîp sich ir wîpheit schame,
Wîp muoz iemer sîn der wîbea hœhste name, unde prîset baz danne vrouwe, als ich ez erkenne. swâ der deheiniu sî, diua sich ir wîpheit schame, die hœre reinen sanc unde merke denne: die hœre reinen sanc unde merke denne: under vrouwen sint unwîp, 5 under vrouwen sint unwîp, under wîben sint si tiure. under wîben sint si tiure. wîbes name und wîbes lîp wîbes name unde wîbes lîp daz ist vil gehiure. diu sint beidiub vil gehiure. wie ez umbe alle var, swiez umbe alle vrouwenb var, wîp nimt des hœhsten lobes war. 10 wîp nimt des hœhsten lobes war. vrouwen lop daz hœnet, zwîvellopc daz hœnet wîp ist ein name, daz si alle krœnet. als underwîlent vrouwe[]:d wîp ist ein name, dere si alle crœnet. 2 prîset] tuͥret C; vrouwe] frowē C. 4 hœre reinen] merke diſen C; merke] kieſe oͮ ch C. 10 wib ſint alle frowē gar C. 12 vrouwe] frowē C. a Ergänzung aufgrund der Formprämisse: Der jeweils erste Stollenvers (V. 1 / 3) hat in den übrigen Strophen dieses Tons sechs Hebungen. b Dasselbe: Der Vers ist in den übrigen Strophen vierhebig. c Änderung aus inhaltlichem Grund in Verbindung mit der Ergänzung (d): Der ansonsten entstehende Satzzusammenhang vrouwen lop hoenet […] vrouwen ergäbe keinen erträglichen Sinn. d Ergänzung der Form halber: Die übrigen Strophen des Tons enden mit einer Waisenterzine (zum Texteingriff bei vrouwe[] s. o., Anm. 92). e Herstellung des offensichtlich(er)en Sinnbezugs: der als Relativpronomen.
Man erkennt, dass auf diese Weise ein Mischtext entsteht, der so weder in der einen noch in der anderen Handschrift (und auch nicht in der weiteren, für dieses Experiment nicht berücksichtigten Überlieferung) zu finden ist. Die Frage, ob über diese Art
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der Handschriftenmischung ein Schritt in Richtung eines ursprünglicheren (archetypischen) Textes gelungen sein kann, dürfte im vorliegenden Fall eindeutig verneint werden. Bei zwei Textzeugen (X, Y) sind im Sinne der klassischen Textkritik Lachmannʼscher Prägung folgende drei Konstellationen denkbar: X ist (gegebenenfalls über nicht erhaltene Zwischenstufen) Abschrift von Y; oder umgekehrt Y Abschrift von X; oder aber beide Textzeugen gehen auf eine gemeinsame Vorstufe (‚Archetyp‘) *XY zurück. Das gilt aber, wie oben erwähnt, nur unter den Bedingungen eines ‚mechanischen‘ Abschreibeprozesses, in dem die Texte nicht bewusst und absichtlich verändert werden sollten. Aber genau das ist in unserem Beispiel sehr eindeutig der Fall. Denn der Text in n ist zwar formal von jenem in C verschieden,99 bleibt aber inhaltlich durchwegs in sich stimmig. Damit ist für n ein eigenständiger Form- und Gestaltungswille mit einer in sich konsistenten Aussageabsicht erkennbar. Dadurch ist der Text in Anlehnung an Bumke (s. o., Anm. 67) als Fassung eigenen Rechts definiert und steht somit außerhalb eines stemmatischen Zusammenhangs mit C. Vielmehr ist die Einzelstrophe (die als solche mit ihrer spruchartigen Aussage über den Vorrang des Begriffs wîp vor vrouwe von großer Eigenständigkeit ist) interessant als Rezeptionszeugnis der Waltherʼschen Lyrik im niederdeutschen Raum; als Argument zur Rekonstruktion des ‚originalen‘ Dichterwortes taugt sie nicht. Darauf hätte eine Edition entsprechend zu reagieren, indem die Strophe in ihrer eigenen Gestalt und Sprachform erhalten bleibt. Wie bereits zu Eingang dieses Abschnitts dargelegt, beschränkt sich die Textkritik nicht auf die (Wort- und Laut-)Ebene der Einzelstrophe, sondern sie betrifft auch Strophenbestand und -anordnung. Hier lohnt abschließend noch ein Blick auf einige der älteren und neueren viel benutzten Editionen. Meist werden alle (für echt befundenen) Strophen der Gesamtüberlieferung eines Tons zu einem Lied zusammengefügt, die Reihenfolge entspricht dabei entweder einer Leithandschrift oder dem Textverständnis der Editor/innen. Beides beruht zumindest teilweise auf hermeneutischen Vorentscheidungen. So firmierte das heute meist als L 48,12 zitierte Lied in der Forschung lange unter dem Titel Zwô fuoge hân ich doch (C III), da Lachmann diese Strophe (L 47,36, s. Abb. 3) gegen die Überlieferung an die erste Stelle setzte.100 Zudem
99 Das in C (und den übrigen Strophen des Tons in den weiteren Handschriften) wiederkehrende metrische Schema ist folgendes (zur Notation s. → Metrik und Formanalyse): 6a 5ʼb, 6a 5ʼ // 4c 3ʼd 4c 3ʼd 4e 4e 3ʼf 3ʼx 4ʼf (Aufgesang mit Kreuzreim; Abgesang bestehend aus einer Kreuzreimgruppe, einem Paarreim und einer abschließenden Waisenterzine). Demgegenüber weist n eine leicht verkürzte, in sich aber stimmige Form auf: 4a 5ʼb, 4a 5ʼb // 4c 3dʼ 4c 3dʼ 3e 4e 3ʼf 4ʼf (Kreuzreim im Aufgesang, in den ersten Stollenversen je zwei Hebungen weniger als in C; Abgesang bestehend aus einer Kreuzreimgruppe und zwei Paarreimen); vgl. auch das differenziertere Schema bei HEI, 177. 100 Eine eigentliche Begründung für die Umstellung liefert Lachmann nicht, kommentiert sie jedoch folgendermaßen: „nach den handschriften sollte eigentlich die folgende strophe [i. e. Hie bevor] voran stehen: aber ich habe lieber willkürlich als unpassend ordnen wollen“ (Lachmann 1827, 169) – ein klar hermeneutisches Bekenntnis! ‚Unpassend‘ mag ihm der unbestimmte Bezug Hie bevor als Eingang des Liedes vorgekommen sein, ein Argument, das man so aber kaum gelten lassen wird (vgl. auch Kellner 2018, 438).
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zerteilt er die im Codex Manesse über die Initialfarbe als tongleich markierte Strophenfolge, indem er die Strophen C III und C V (die in e aufeinander folgen) von den übrigen Strophen absetzt. Seine Normalisierung ist als eher behutsam zu bezeichnen.101
Abb. 3: Lachmanns Ausgabe von 1827 (L, 47–48), Ausschnitt: L 47,36 und Beginn von L 48,12.
Zweierlei ist festzuhalten: Durch Lachmanns Umgang mit dem Strophenbestand (Auswahl, Anordnung, Liedeinheiten) erhält das Lied einen nochmals anderen Duktus, als es die handschriftliche Überlieferung in den verschiedenen Versionen zu erkennen gibt. „Die Forschungsgeschichte ist stark von den editorischen Entscheidungen Lachmanns geprägt gewesen“102, und zwar allein auf der Grundlage einer hermeneutischen Entscheidung, der man immer wieder als „inhaltlich gut begründet“103 gefolgt ist. Man sollte sich der zirkulären Argumentationsstruktur sehr wohl bewusst sein: Die Edition folgt einer interpretierenden Vorentscheidung und wird ihrerseits zur Grundlage weiterer Interpretationen.
101 Interessanterweise ist die oben (S. 88) besprochene Präsumtivvariante danken / êren in Str. C V (L 49,12) nicht vermerkt. Lachmann hat C wohl nie selbst eingesehen, sondern sie auf der Grundlage der früheren Drucke und Ausgaben (seit Goldast) benutzt. Nach Voetz 2015, 145, war Bodmer und Breitinger 1758/1759 „offensichtlich die wichtigste Quelle“; Lachmanns Edition bleibt indes bei der Lesart danken, die, wie gesehen, nur in den ‚Proben‘ (Bodmer und Breitinger 1748) erscheint. 102 Kellner 2018, 437. 103 Kasten 1995, 926; vgl. auch noch Brunner 2012, 289.
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Da Lachmann einen Lesetext ohne ausgiebige Kommentare oder Begründungen zur Textkonstitution bietet, lassen sich seine Bearbeitungsschritte und -tendenzen oft nicht oder nur schwer nachvollziehen. Auf Wort- und Versebene bleibt seine Edition hingegen erstaunlich nahe am überlieferten Text – wilde Konjekturen, wie man sie heute ‚seiner‘ Textkritik nachsagt, finden sich bei Lachmann selbst deutlich seltener als bei manchen seiner Nachfolger.
Leithandschriftenprinzip: Rückkehr zur Überlieferung Lachmanns Strophenanordnung wird erst mit der 14. Auflage seiner Walther-Ausgabe geändert, in der grundlegenden Neubearbeitung durch Christoph Cormeau (L/COR, 1996). Dieser orientiert sich an der Strophenfolge von A, fügt jedoch die nicht in A, sondern nur in C und e überlieferte fünfte Strophe (Zwô fuoge, C IV = e II) an. Auch diese Zusammenstellung zu einem Lied ist mithin nicht von der Überlieferung gedeckt. Erst kurz darauf bietet Günther Schweikle mit seiner konsequenten Leithandschriftenedition (L/SCHW, 1998) eine in Strophenbestand und -folge tatsächlich so überlieferte Fassung (nach C).
Abb. 4: L/SCHW, 328 (Ausschnitt: Text und Apparat der ersten Strophe).
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Abb. 4 zeigt die erste Strophe in der zweiten, durch Ricarda Bauschke-Hartung überarbeiteten Auflage (2011). Der Text ist behutsam normalisiert wiedergegeben; der Apparat behält dabei die Varianten der Gesamtüberlieferung im Blick: Konsequentes Leithandschriftenprinzip und textkritisches Erkenntnisinteresse gehen hier Hand in Hand. Die aktuelle 15. Auflage der Lachmannʼschen Walther-Ausgabe, bearbeitet von Thomas Bein (L/BEIN, 2013), geht noch einen Schritt weiter. Sie bietet als erste maßgebliche Edition104 zwei Fassungen des Liedes (nach den Handschriften A und C) in behutsam normalisierter Form.105 Damit ist nach über zwei Jahrhunderten Editionsgeschichte auch eine konsequente Rückkehr zur Überlieferung erreicht, wie sie seit Längerem immer wieder eingefordert wurde. Das ist jedoch keinesfalls ein Schritt zurück in die Erschließungsarbeiten der proto- und frühgermanistischen Editionen, sondern Ausdruck eines neuen, bewussten Umgangs mit Mehrfachfassungen, Varianz und Mouvance, die als genuine Bedingungen mittelalterlicher Textualität ernster genommen werden denn je. Der Anspruch der Edition ist an ihre alleinige Grundlage, die handschriftliche Überlieferung, zurückgebunden und, so kann man vielleicht sagen, gegenüber dem von Lachmann beschrittenen Weg wieder vom Kopf auf die Füße gestellt: Nicht die Vorstellung vom Autortext bestimmt die Edition, sondern die überlieferten Texte bilden die Grundlage der Interpretation(en), die ein bestimmtes Œuvre in verschiedenen Facetten erscheinen lassen kann: je nach Fassung – und gegebenenfalls um den Preis eines einheitlichen Autor- und Werkbegriffs.
4 Resümee Dies sollte auch das Beispiel zeigen: Das Edieren mittelhochdeutscher Texte insgesamt wie auch der Lyrik im Besonderen ist gerade keine mechanische Hilfswissenschaft. Vielmehr sind die Sichtweisen auf und das Interesse an der Überlieferung einem steten Wandel unterworfen, der sich auch in den jeweiligen Editionen niederschlägt: In ihnen spiegelt sich die Dynamik einer lebendigen Fachkultur. Wenn Editionen damit zugleich Ergebnis von und Ausgangspunkt für immer neue (literarhistorische) Erkenntnisinteressen sind, bewegen sie sich in einem notwendig unabgeschlossenen und prinzipiell unabschließbaren Prozess, der nicht etwa linear oder teleologisch verläuft. Deswegen sind ältere Ausgaben auch nicht per se zu verwerfen beziehungsweise einfach durch neue ersetzbar, sondern sie behalten ihren je eigenen Erkenntniswert innerhalb dieses selbst historischen Prozesses. Abhängig nicht nur von Überlieferungskonstellationen und Textualitätsprämissen, sondern auch von den je fach- und zeitspezifischen Erkenntnisinteressen und Benutzungsbedürfnissen, 104 Einen Abdruck aller fünf Handschriften (A, B, C, n, e) bot zuvor bereits HEI, 176–179. 105 Zu den Kompromissen, die mit diesem Editionstyp verbunden sind, s. o., S. 80 mit Anm. 69.
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ergeben sich unterschiedliche – und immer wieder neue – Ansprüche an die theoretischen Begründungen der Editionsmethodik und ihre praktischen Umsetzungen. Deswegen lässt sich über das Edieren mittelhochdeutscher Texte und insbesondere auch der Minnelyrik pauschal doch nur sagen, dass keine Pauschalisierungen und generalisierenden Lösungen möglich sind. Jeder einzelne Fall ist ein Spezialfall: „Tous les cas sont spéciaux.“106
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106 Vgl. Stackmann 1964, 241.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 848, Bl. 132r. Abb. 2: Bodmer und Breitinger 1748, 87, München, Bayerische Staatsbibliothek, P.o.germ. 148 n; Bodmer und Breitinger 1758, 117. Abb. 3: L, 47–48. [1827], München, Bayerische Staatsbibliothek, P.o.germ. 1555 f. Abb. 4: L/SCHW, 328.
Europäische Kontexte
Stephanie Seidl
Altokzitanische Lyrik Dass der deutschsprachige Minnesang zumindest ab dem letzten Drittel des zwölften Jahrhunderts, wenn er in die sogenannte ‚klassische Phase‘ übergeht, romanische Einflüsse verarbeitet, ist mittlerweile Konsens der Forschung.1 Die ‚Ursprünge‘ oder ‚Wurzeln‘ der hochmittelalterlichen deutschen Liedlyrik scheinen somit auf den ersten Blick identisch zu sein mit jenen der höfischen Epik, bei der es sich in weiten Teilen ebenfalls um eine Transferleistung literarischer Traditionen aus der Romania handelt. Bereits ein zweiter vergleichender Blick hat dann aber den grundlegenden Unterschieden in der romanischen Grundierung der mittelalterlichen deutschen Lyrik und Epik zu gelten: Basiert z. B. der höfische Roman auf Narrativen aus dem Norden Frankreichs – der sowohl von → Hartmann wie von Wolfram rezipierte Chrétien etwa ist nicht nur ‚de Troyes‘, sondern bedient sich in seinen Texten auch eines Dialekts aus der Champagne –, so greift der Minnesang überwiegend lyrische Traditionen aus der im Hochmittelalter noch politisch, kulturell und v. a. sprachlich relativ eigenständigen Südhälfte, aus dem sogenannt Okzitanischen, auf. ‚Romanisch beeinflusst‘ meint somit für die mittelhochdeutsche Epik zuallermeist ‚altfranzösisch‘, für den Minnesang (zumindest überwiegend und auch zeitlich zuerst) dagegen ‚altokzitanisch beeinflusst‘.2 Jenseits dieser sprachgeographischen Differenz ist es jedoch v. a. die deutlich andere Adaptationsweise, die, wiederum verglichen mit den epischen Texten, die lyrischen Importe aus der Romania auf ihrem Weg ins Gattungssystem des deutschen Minnesangs erfahren: Sie unterliegen dabei einem ausgesprochen „selektive[n] Rezeptionsmodus“3, d. h., es werden zwar einzelne Motive, Muster und/ oder formale Charakteristika übernommen, im Normalfall jedoch keine vollständigen Texte (wie es in der Epik der Fall ist). Diese selektiven Übernahmen können auf ganz unterschiedlichen Ebenen stattfinden und – autoren- beziehungsweise textsortenspezifisch – über je neue Kombinationen zu durchaus anderen Sinnaufladungen in den deutschen Liedern führen. Adäquat beschreibbar sind sie stets jedoch nur, wenn die Komplexität jenes literarischen Systems, aus welchem die Selektion erfolgt, zumindest in Ansätzen mitreflektiert wird. Die folgenden Ausführungen versuchen deshalb, einen ersten Überblick über die Spezifika der altokzitanischen Lyrik zu geben, bevor
1 Vgl. stellvertretend etwa Bein 2017, 93; Brunner 2010, 116−117. 2 Der Begriff ‚altokzitanisch‘ hat sich mittlerweile gegenüber dem in der älteren Forschung gebräuchlichen Terminus ‚altprovenzalisch‘, der sich überwiegend (und irrtümlicherweise) auf die Sprache beziehungsweise Literatur der Grafschaft Provence zu beziehen schien, durchgesetzt; vgl. dazu die Ausführungen des ‚Dictionnaire de l’Occitan médiéval‘: https://www.dom.badw.de/altokzitanisch. html (10.05.2018). 3 Luff 2002, 258. https://doi.org/10.1515/9783110351859-005
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sie im Anschluss lediglich kurz die unterschiedlichen Möglichkeiten ihrer Rezeption im mittelhochdeutschen Minnesang umreißen.
1 Lyrische Gattungs- und Formvielfalt im Süden Die Geschichte der altokzitanischen Lyrik ist keine der kontinuierlichen Komplexitätssteigerung, sondern sie beginnt mit einem Paukenschlag in medias res: Wilhelm IX. (1071−1126), der, zumindest was die bis heute erhaltenen Texte betrifft, als der älteste Trobador gilt, vereint in seinem aus (je nach Zuschreibung) zehn beziehungsweise elf Liedern bestehenden Œuvre bereits viele jener Charakteristika, die die folgende, knapp 150 Jahre umfassende besonders produktive Phase altokzitanischer Dichtkunst prägen werden. Wie diese insgesamt, zeichnet sich auch sein Werk durch spannungsreiche Gegensätze aus, die Wilhelm IX. als trovatore bifronte, als einen Dichter mit zwei Gesichtern, haben hervortreten lassen.4 Als janusköpfig erweist sich bereits die Person des ‚ersten Trobador‘ selbst: Er ist als Herzog von Aquitanien und Graf von Poitiers einer der politisch einflussreichsten Köpfe seiner Zeit, stilisiert sich selbst jedoch gerne als joglar (‚spielmännischer Sänger‘), der sich in einem Lied „in der Rolle des poeta doctus präsentiert“5, in einem anderen dagegen als „agent provocateur [erscheint] und […] selbst vor der Darstellung des Skabrösen nicht zurück[scheut]“6. Sein Werk repräsentiert die Vielfalt altokzitanischer Lyrik dabei sowohl auf der Ebene der Form wie auf derjenigen des Stils und des Gattungsbewusstseins: Bei seinem berühmt gewordenen ‚Lied über rein gar Nichts‘ (Farai un vers de dreyt nien, PC 183,7)7 handelt es sich vielleicht um ein Rätselgedicht, vielleicht um Parodie, vielleicht auch um „ein frühes Beispiel mittelalterlicher Unsinnspoesie“8, welches bereits als Vorreiter des sogenannten trobar clus, eines verrätselten, dem unmittelbaren Verständnis verschlossenen, sprachlich teils hoch artifiziellen literarischen Stils gelten kann. 4 Das Etikett geht auf den italienischen Romanisten Pio Rajna zurück, vgl. dazu ausführlicher Kasten 1986, 46‒53; ein prägnanter Überblick über die sprachliche, formale und inhaltliche Vielfalt des Werkes Wilhelms IX., das „nahezu alle Elemente in sich enthält und verarbeitet, die das Gesicht der künftigen Dichtung prägen“, in Köhler 1987, 52−59 (Zitat 59). 5 Kasten 1986, 47. 6 Kasten 1986, 52. Bereits eine im dreizehnten Jahrhundert überlieferte Kurzbiographie Wilhelms weist (wohl ironisch) auf diese Gegensätze hin, wenn es dort heißt: Lo coms de Peitieus si fo uns del majors cortes del mon e dels majors trichadors de dompnas, e bons cavalliers d’armas e larcs de dompnejar; e saup ben trobar e cantar. Et anet lonc temps per lo mon per enganar las domnas [Der Graf von Poitou war einer der einflussreichsten Grafen der Welt und einer der größten Betrüger der Frauen, er war hervorragend [im Dienst] an der Waffe und freigebig im Frauendienst; er wusste gut zu dichten und zu singen. Lange Zeit reiste er durch die Welt, um die Frauen zu hintergehen] (BS 7). Vgl. zu dieser vida Wilhelms auch Kasten 1986, 46. 7 Vgl. dazu als ersten Einstieg den Kommentar von Rieger 1980, 232‒236. 8 Rieger 1980, 232.
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Daneben finden sich auch etliche Lieder im leicht zugänglichen, „auf Verständlichkeit in jeder Hinsicht ab[zielenden]“ trobar leu.9 Darunter fallen etwa die sogenannten Companho-Lieder (PC 183,3‒5), jene „als ‚unhöfisch‘ klassifizierten Kompositionen des Herzogs, die in einem derben Stil von der Liebe singen“10 und gerade das Glück ihrer körperlichen Erfüllung ins Zentrum stellen. Wilhelm kennt jedoch auch schon (besonders in Ab la dolchor del temps novel, PC 183,1)11 den Entwurf der fin’amors mit ihrem paradoxen Konzept einer auf Unerfüllbarkeit ausgelegten Liebe. Dieses funktioniert nur über ein verstetigtes Distanzverhältnis des Sängers zu einer ihm (sozial oder auch räumlich) fernen domna, das auf der Grundlage einer „distance filled in turn by pleasure, sadness, hope, and fear“ beruht.12 Das Altokzitanische bringt dieses Konzept, das beinahe die gesamte mittelalterliche volkssprachige Liebeslyrik Europas revolutionieren wird, in der Wendung amar desamatz (‚ungeliebtes Lieben‘) auch sprachlich auf den Punkt.13 In den auf Wilhelm IX. folgenden Trobadorgenerationen wird sich daraus, als „ästhetische[s] Primat“ der altokzitanischen Dichtkunst,14 die Gattung der canso entwickeln, in der das höfische Liebesparadoxon in eine ganz spezifische Form gegossen ist. Es handelt sich um die (in einen Auf- und einen Abgesang) zweigeteilte Kanzonenstrophe, die vom Süden Frankreichs aus ihren Siegeszug nicht zuletzt auch innerhalb des deutschen Minnesangs antreten wird. Die Kanzonenstrophe gilt dabei als eine genuine Erfindung der Trobadors, Vorläufer etwa in der lateinischen Tradition sind bisher nicht bekannt (→ Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters).15 Auch Wilhelm IX. verwendet diese Strophenform bereits in seinem Lied Molt jauzens (PC 183,8),16 während seine anderen Texte deutliche formale Berührungspunkte mit der geistlichen lateinischen Dichtung, wie sie beispielsweise aus dem Kloster SaintMartial in Limoges erhalten ist, aufweisen.17 Von einem dort entstandenen zweisprachigen (d. h. lateinisch-okzitanischen) Weihnachtslied scheint z. B. die Melodie zum sogenannten Buß- beziehungsweise Abschiedslied des Herzogs (PC 183,10) entlehnt
9 Zu diesen beiden Stilregistern Rieger 1983, 232−233 (Zitat 232). 10 Kasten 1986, 47. 11 „Diese Kanzone gilt zu Recht als das ‚reinste‘ Liebeslied Wilhelms IX. von Aquitanien – vor allem auch auf Grund des weitgehenden Fehlens ironischer und parodistischer Elemente; darüber hinaus beginnt das Lied mit einem ‚typisch‘ trobadoresken Frühlingseingang, und die geliebte Dame wird bereits mit einem Verstecknamen (Senhal) bezeichnet“, Rieger 1980, 238. 12 Zumthor 1995, 15. 13 Dazu Rieger 1983, 238. 14 Rieger 1983, 264. 15 Vgl. grundlegend Köhler 1987, 59. 16 Köhler 1987, 59. 17 Dazu Mölk 1982, 48: „Kultureller Mittelpunkt des Limousin ist die berühmte Abtei Saint-Martial zu Limoges. Der Formenbestand ihrer lateinischen Lieder, die in Messe und Stundengebet, an Heiligenfesten und anderen kirchlichen Feiertagen, innerhalb und außerhalb des liturgischen Geschehens zum Vortrag kamen, steht an der Wiege der neuen volkssprachlichen höfischen Lyrik.“
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zu sein, das zugleich auch der einzige der Texte aus seinem Œuvre ist, zu welchem sich die Melodie (in einer späten Handschrift eines geistlichen Spiels) erhalten hat.18 Auch in dieser Hinsicht ist Wilhelms IX. Werk symptomatisch für die altokzitanische Lyrik insgesamt. Nur sehr wenige der erhaltenen Liederhandschriften überliefern nämlich zu den Texten auch die Melodien. Dies „hängt wohl [jedoch] vor allem mit der technischen Schwierigkeit der musikalischen Aufzeichnung zusammen […]. […] Bis in die Endphase der Geschichte der provenzalischen höfischen Lyrik bleibt das Lied ein gesungenes Lied und bleibt der Trobador Dichter und Komponist in einer Person“19. Vorbildhaft für spätere Lyriker wirken allerdings nicht nur Wilhelms Strophenbau, sondern auch seine Versfüllungen wie seine Reimkunst, die iso- wie heterometrische Strophen (mit Vier- sowie Acht-, Zwölf- und Vierzehnsilbern beziehungsweise deren Kombinationen) und bereits ein breites Spektrum an Reimbindungen (etwa coblas unisonans, coblas singulars, coblas doblas) umfassen.20 In sechs seiner Lieder verwendet Wilhelm IX. außerdem bereits als formalen Liedabschluss eine (später) sogenannte tornada, sie „ist verstechnisches Signal des Liedschlusses, nimmt mitunter Einzelwörter, auch Reimwörter, und Wortfolgen des Liedes auf und nennt oft den Namen dessen, dem das Lied gewidmet ist“21. Im Mikrokosmos des Werkes Wilhelms IX. ist somit jene formale, stilistische und konzeptionelle Komplexität und jene unübersehbare Freude am literarischen Spiel angelegt, die die auf ihn folgenden Trobadorgenerationen, teilweise in direktem Bezug auf den Herzog und seine Texte, perfektionieren werden. Auffallend ist dabei die enorme Vielfalt an lyrischen (Sub-)Gattungen, die nun ausdifferenziert werden. Fast entsteht dabei der Eindruck, als würde sich die immer wieder konstatierte weitgehende ‚Beschränkung‘ der altokzitanischen Literatur auf lyrische Formen22 gerade dadurch erklären, dass in ihnen eben auch (fast) alles schon gesagt werden kann. Die prominenteste lyrische Textsorte ist sicherlich die oben schon erwähnte canso, das höfische Liebeslied, welches, zumeist in Kanzonenform, die fin’amors thematisiert, also das (sich gerade nicht erfüllende) werbende Begehren des Sängers nach einer sozial höhergestellten (und oftmals verheirateten) adligen Dame (domna). Als die wichtigsten Vertreter dieses Subtyps gelten Bernart de Ventadorn und Jaufre Rudel, der das soziale Distanzverhältnis zwischen werbendem Mann und überhöhter domna 18 Mölk 1982, 53. 19 Mölk 1982, 53. 20 In coblas unisonans werden die Reimstruktur und auch die Reime selbst über alle Strophen eines Liedes beibehalten, in coblas singulars ändern sich zwar die Reime, nicht aber die Struktur. Coblas doblas sind jeweils zwei Strophen, die über identische Reime aneinandergebunden sind; vgl. dazu Mölk 1982, 50; Rieger 1980, 13, Anm. 2, und Rieger 1983, 227‒229. Den umfassendsten Überblick über die altokzitanische Metrik gibt nach wie vor das Repertorium Franks (1966). 21 Mölk 1982, 50. 22 Vgl. stellvertretend Mölk 1982, 108: „In der provenzalischen Literatur des XII. und XIII. Jahrhunderts haben die lyrischen Gattungen eine so beherrschende Stellung, daß Heldenepos, Roman, erzählende Kurzformen oder auch weltliche und geistliche Spiele kaum Verbreitung finden.“
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in eine räumliche Fernbeziehung (amor de lonh) transferiert.23 In den sogenannten sirventes dagegen bieten sich Möglichkeiten zur Moraldidaxe (etwa bei Marcabru) oder zur kritischen Hinterfragung der Tagespolitik (als der „herausragende politische Sirventesdichter“ gilt Bertran de Born).24 Liebeskanzonen und sirventes machen zusammen gut zwei Drittel der altokzitanischen Lyrikproduktion aus,25 neben ihnen findet sich jedoch ein thematisch und auch formal breit gestreutes Spektrum weiterer Subgattungen: „Große Affinität zum Sirventes haben – was die Funktion betrifft – die Gattungen des → Kreuzlieds und des Klagelieds“26, die, etwa wenn sie die zeitgenössische Kreuzzugsideologie aufgreifen oder, als sogenannter planh, den Tod einer prominenten Person beklagen, häufig zugleich herrschafts- beziehungsweise gesellschaftspolitische Defizite anprangern. Dies ist schon im ältesten überlieferten planh der Fall (PC 112,2a), in welchem der Verfasser Cercamon durch den Verlust Wilhelms X. von Aquitanien, des Sohnes des trovatore bifronte, einen Großteil der höfischen Werte kollabieren sieht: „Mit dem Tod des Herzogs gehen auch die höfischen Tugenden der Welt verloren, an ihre Stelle treten die unhöfischen Laster.“27 Das Konzept höfisch idealisierter Liebe, die fin’amors, das die canso poetisch umkreist, kann auch diskursiv verhandelt werden: Dies geschieht gerne in sogenannten Streitliedern (tensos und partimen), die, teils strophenweise abwechselnd, üblicherweise zwei Dichterkontrahenten bezüglich einer bestimmten causa zu Wort kommen lassen. Das sich dabei entfaltende „Spiel der verteilten Rollen“ ermöglicht es, „die Paradoxien der Minnedoktrin, die die Kanzone in der Perspektive der subjektiven Erfahrung beschreibt, zu objektivieren, sie jedoch nicht zu lösen, sondern in der Balance des ‚sic et non‘ zu belassen“28. Zu erwähnen bleiben hier schließlich noch jene beiden Gattungen, die, im Gegensatz oder in Ergänzung zur canso, gerade von der Erfüllung der (körperlichen) Liebe erzählen und die beide auf lateinische Vorläufer zurückgehen: die Pastorelle und das Tagelied, die sogenannte alba. Erstere verdankt ihre Bezeichnung ihrer Protagonistin, die typischerweise ein Hirtenmädchen (pastorela) ist, auf welches ein Ritter in der freien Natur trifft – es kommt, nicht immer völlig freiwillig, zum Beischlaf mit ihr.29 Letztere verweist bereits in ihrer Benennung auf die charakteristische zeitliche Situiertheit ihrer Handlung: In der Morgendämmerung (alba), oftmals geweckt durch den Ruf eines Wächters, müssen sich Ritter und domna nach einer gemein-
23 Ausführlich dazu Rieger 1983, 264‒292 (zur amor de lonh hier 272–273). 24 Vgl. dazu die Interpretationen zweier sirventes in Rieger 1983, 293‒323; das Zitat zu Bertran de Born auf 310. 25 Eine Statistik bei Rieger 1983, 207−208. 26 Rieger 1983, 323. Mölk 1982, 102, ordnet das Klage- und das Kreuzlied deshalb den sirventes zu. 27 Rieger 1983, 331, dort 325‒334 eine ausführliche Analyse und Interpretation des Textes. 28 Mölk 1982, 103. Bei Mölk 1982, 102‒104, eine detailliertere Beschreibung der Gattung der Streitgedichte. 29 Siehe dazu Mölk 1982, 105‒107; Rieger 1983, 343‒355.
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sam verbrachten Nacht trennen; der „neu anbrechende Tag, die Wirklichkeit, setzt dem nächtlichen Traum ein notwendiges Ende und restituiert damit die paradoxale Kanzonensituation“30. Von dieser bemerkenswerten thematischen, formalen und gattungssystematischen Vielfalt altokzitanischer Lyrik wissen wir deshalb, weil die mittelalterliche Textüberlieferung ausgesprochen glücklich verlaufen ist:31 Beinahe 100 handschriftliche Überlieferungszeugen altokzitanischer Liedkunst sind uns bis heute erhalten – dies ist, auch wenn trotzdem ein Teil der mündlichen Tradition verloren gegangen sein wird, eine stolze Zahl. Die Mehrheit der Handschriften stammt aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert (die wohl älteste, die heute die Sigle D trägt, datiert auf 1254), die Überlieferung reicht jedoch bis in das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert, mit einem Manuskript sogar bis in das beginnende neunzehnte Jahrhundert hinein. Auffällig ist, dass nur ein relativ kleiner Teil der Textzeugen aus dem Süden Frankreichs kommt, ein weitaus größerer dagegen aus (Nord-)Italien, wo die Trobadorlyrik im Hochmittelalter breit rezipiert wurde (s. u.). Dies zeigt sich auch an der ältesten Liederhandschrift D, die in Modena angefertigt wurde.32 Insgesamt überliefern die Lyrikhandschriften – teils natürlich mehrfach – an die 2500 Lieder von ca. 450 Trobadors. Die Reihenfolge der Lieder in den einzelnen Manuskripten ist anthologisch organisiert, in den überwiegenden Fällen sind sie nach ihrer Gattungszugehörigkeit angeordnet, teils auch nach den Autorzuschreibungen. Bereits in ihrer mittelalterlichen Überlieferung ist der altokzitanischen Lyrik außerdem eine Form von metadiskursiver Rahmung beigefügt: Allein elf der großen Liederhandschriften33 enthalten nämlich sogenannte vidas und razos. Letztere verstehen sich als Kommentare zu den Liedern, erstere inszenieren sich als Kurzbiographien ihrer Dichter. Obwohl diese durchaus historische Details aus dem Leben des jeweiligen Trobadors enthalten können, sind sie weniger als realitätsnahe Biographien denn als eigene literarische Textsorte zu verstehen. Als Medien der Stilisierung von Autorbildern greifen sie teils traditionelle narrative Muster (z. B. diejenigen von Heiligenviten oder der fabliaux) auf, teils verarbeiten sie auch Informationen aus den lyrischen Werken der Dichter.34 Die spielerische, oftmals ironische Grundhaltung, die die altokzitanische Lyrik in all ihren Subgattungen kennzeichnet, findet sich somit auch auf einer frühen Metaebene.
30 Rieger 1983, 337. Ausführlicher zur alba dort 334‒342. 31 Die Daten zur Überlieferungsgeschichte nach Rieger 1983, 206‒211, und Paden 1995, 307‒333. 32 Zu diesem Codex Paden 1995, 308‒309. 33 Paden 1995, 311. 34 Zu den vidas und razos s. Poe 1995 und Rieger 1983, 216‒220.
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2 Transferprozesse ins Mittelhochdeutsche Die Ausstrahlungswirkung der Lyrik des mittelalterlichen Okzitaniens in die angrenzenden romanisch-sprachigen Länder ist beachtlich: Einflussnahmen zeigen sich in den nordfranzösischen (→ Liebeslyrik in Nordfrankreich), den katalanischen, portugiesischen und v. a. auch in den italienischen Dichtungstraditionen (→ Italienische Liebeslyrik des Mittelalters).35 Dafür mag es – abgesehen von der genuinen Strahlkraft der „finest flower“ mittelalterlicher Lyrik36 − durchaus pragmatische Gründe gegeben haben: Die Trobadors waren wohl generell reisefreudig und „topographisch recht mobil“37, im Zuge der Albigenserkreuzzüge sahen sich außerdem etliche von ihnen zur Emigration nach Spanien und Italien gezwungen.38 Dass das Altokzitanische als Sprache der Dichtung zudem eine Art überregionale ‚Koiné‘ war, eine nicht auf einzelne Dialekte zu reduzierende „literarische Gemeinsprache“39, mag die Verbreitung der in ihr verfassten Lyrik außerdem erleichtert haben. Ihre Einflussnahme auch im nicht-romanischen Sprachraum, und hier interessiert v. a. der deutschsprachige Kontext, wird sich dagegen auf ganz verschiedenen Ebenen vollzogen haben, deren wissenschaftliche Beschreibung der Spekulation nicht völlig abgeneigt sein darf: Die ersten deutschen Minnesänger, für deren Œuvres sich relativ eindeutig romanische Bezüge nachweisen lassen, sind im oberrheinischen Gebiet anzusiedeln. Dass die literarische Produktivität ihrer okzitanischen Dichterkollegen an ihnen nicht spurlos vorbeigegangen ist, ist schon aufgrund dieser ihrer Situierung im deutsch-romanischen Grenzgebiet wahrscheinlich.40 Für die großen Hoffeste, etwa das Mainzer Hoffest von 1184, ist es mittlerweile gesichert, dass sowohl Dichter aus dem heimischen deutschsprachigen Raum wie aus dem französischen beziehungsweise okzitanischen Gebiet anwesend waren und dass sie somit Gelegenheit zum Austausch von Liedern hatten.41 Schließlich wird auch Oberitalien – die Überlieferungsbefunde legen dies nahe (s. o.) – eine Kontaktzone gewesen sein: Die altokzitanische Dichtung war dort im Hochmittelalter überaus prominent vertreten. Deutsche Autoren könnten sich, so lassen es namensgleiche Urkundenbezeugungen zumindest vermuten, in Piacenza, Lucca, Bologna und Camaldoli aufgehalten haben und dort mit der lyrischen Tradition Okzitaniens vertraut geworden sein.42
35 Vgl. Touber 2014, 267. 36 Zumthor 1995, 11. 37 Bein 2017, 93. 38 Vgl. Zumthor 1995, 17. 39 Rieger 1983, 202. Dies gilt übrigens wiederum schon für den ‚ältesten‘ Trobador: „Bereits die um 1100 zu datierenden überlieferten Lieder des ‚ersten‘ Trobadors, des Herzogs Wilhelm IX. von Aquitanien, sind in dieser […] Sprache abgefaßt, setzen diese Koiné als schon gefestigt voraus.“ 40 Vgl. Cain van D’Elden 1995, 264. 41 Vgl. Brunner 2010, 117. 42 Dazu Touber 2014, 267.
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Die auf diesen (und sicher noch anderen) Wegen stattfindende Beeinflussung des deutschen Minnesangs durch die altokzitanische Dichtkunst lässt sich autorenübergreifend nun besonders auf zwei Ebenen beschreiben, auf einer formalen und auf einer inhaltlich-konzeptionellen. Der wichtigste formale Import ist sicherlich die Kanzonenstrophe, die zur maßgeblichen Bauform der ‚klassischen‘ mittelhochdeutschen Lyrik werden wird. Aktuelle computergestützte Korpusanalysen, die das deutsche Hebungsprinzip auf das altokzitanische beziehungsweise altfranzösische Silbenzählungsprinzip umrechnen, haben außerdem zeigen können, dass oft auch die metrisch-rhythmische Versgestaltung inklusive der Reimstrukturen der deutschen Texte romanischen Vorbildern folgt: Für das Verhältnis zwischen dem deutschen Sprachgebiet und Frankreich zeigt sich, daß 70 % der deutschen Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts Strophenformen benutzen, die auch in der Romania bekannt sind; alle isometrischen deutschen Strophenformen dieser Periode haben ihre Vorgänger in der Troubadour- und Trouvèrepoesie […]. 43
Diese metrisch-formalen Übereinstimmungen machen es wahrscheinlich, dass die Minnesänger mit den Tönen auch die Melodien der romanischen Lyrik aufgegriffen haben. Da für den deutschen Minnesang jedoch kaum solche überliefert sind, muss ein endgültiger Nachweis dafür weitgehend ausbleiben, wenngleich uns doch ein (zudem besonders prominenter) Sonderfall erhalten geblieben ist: → Walthers Palästinalied (L 14,38) greift die Melodie von Jaufre Rudels Lied über die Fernliebe Lanquan li jorn son lonc en may (PC 262,2) auf, variiert diese jedoch zugleich, wohl, um dadurch „die Tatsache der Kontrafaktur [zu] signalisieren“44. Die Bedeutung der Kanzonenstrophe ist auf der Ebene einer formalen Einflussnahme kaum zu überschätzen; ihr entspricht auf derjenigen des Inhalts und der Textkonzeption sicherlich der Stellenwert des Modells der fin’amors, welches sich im Minnesang zum Ideal der Hohen Minne verdichtet. Die damit verbundenen ideologischen Prämissen wie ihre literarischen Darstellungsformen decken sich weitgehend mit den in den altokzitanischen cansos (und vorher schon bei Wilhelm IX.) zu findenden Vorgaben: „Es treten […] wesentliche Parallelen zur Romania auf, zum Beispiel der Dienstgedanke, eine verstärkte Introspektion und Reflexion und eine Profilierung der Ich-Rolle.“45 Die Minnekanzone ist jedoch nicht die einzige mittelhochdeutsche Liedgattung, die sich in ihrer Konstitution grundlegend der romanischen Lyrik verdankt: Auch das mittelalterliche deutsche → Tagelied „geht auf romanische Bearbeitungen mittellateinischer Vorstufen zurück“46, greift es doch unzweifelhaft die pseudo-narrative Ausgangssituation – die morgendliche Situation des Abschiednehmens nach
43 Touber 2014, 273. Vgl. auch Touber 2005, 273−280. 44 Mertens 1998, 281; vgl. dazu auch Kragl 2012, 370‒380. 45 Zotz 2005, 9. 46 Bein 2017, 95.
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einer gemeinsam verbrachten Nacht – und die spezifische Figurenkonstellation – etwa: Ritter, Dame, Wächter, die dialogisch interagieren – der altokzitanischen albas auf. Kleinteiligere Übernahmen – etwa auf der Ebene neu sich ausprägender Leitbegriffe und -semantiken47 oder auf derjenigen einzelner Motive und Bilder48 − sind ebenfalls durchaus wahrscheinlich, lassen sich aber nur selten einwandfrei nachweisen. Natürlich könnten solche Übereinstimmungen ebenso in den okzitanischen und deutschen Dichtern „gemeinsamen adligen Repräsentationsformen und [in] vergleichbaren ästhetischen Vorlieben“ wurzeln und damit nicht Resultate eines „Austausch[es], sondern Erscheinungsform kultureller Identität“ sein.49 Methodisch stützen lässt sich die Annahme einer Beeinflussung durch romanische Vorbilder für einen Autor oder ein Lied deshalb besonders in jenen Fällen, in welchen es Parallelen sowohl auf der formalen als auch auf der inhaltlichen beziehungsweise textkonzeptionellen Ebene gibt. Dann kann man durchaus von „gesicherte[n] Übernahmen“50 sprechen, anhand derer sich detailliert beschreiben lässt, wie durch die Einpassung von adaptierten Formen und Inhalten ins eigene literarische Koordinatensystem immer wieder neue Sinnzuschreibungen entstehen und „Möglichkeiten realisiert [werden], die die romanischen Sänger nicht verwirklicht haben“51. Vor der Folie der altokzitanischen Lyrik zeigt sich dann allererst der Mut des deutschsprachigen Minnesangs gerade (auch) zur „Lückenbesetzung“52.
Literatur Ursula Aarburg: Melodien zum frühen deutschen Minnesang. Eine kritische Bestandsaufnahme. Mit einem Nachtrag. In: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung. Hg. von Hans Fromm. Darmstadt 51972 (WdF 15), 378‒421. Altokzitanisch. In: Dictionnaire de l’occitan médiéval. Hg. von Maria Selig und Monika Tausend. https://www.dom.badw.de/altokzitanisch.html (10.05.2018). Ricarda Bauschke: Kulturtransfer und Identitätsbildung. Mit einem Ausblick auf die Lyrik Reinmars. In: Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen – Literatur – Mythos. Hg. von Manfred Eikelmann und Udo Friedrich, unter Mitarbeit von Esther Laufer und Michael Schwarzbach. Berlin 2013, 29−56. Thomas Bein: Deutschsprachige Lyrik des Mittelalters. Von den Anfängen bis zum 14. Jahrhundert. Eine Einführung. Berlin 2017 (Grundlagen der Germanistik 62).
47 Vgl. z. B. Touber 2005, 287−293. 48 Siehe dazu v. a. die Analysen von Zotz 2005, 77−125. 49 Bauschke 2013, 56. 50 Zotz 2005, 11; ähnlich schon Aarburg 1972, 387−388. 51 Mertens 1997, 35 (bezüglich eines Liedes Rudolfs von Fenis). 52 Mertens 1997, 35.
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Horst Brunner: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Erw. und bibliographisch erg. Ausgabe. Stuttgart 2010 (RUB 17680). Stephanie Cain van D’Elden: The Minnesingers. In: A Handbook of the Troubadours. Hg. von Frank R. P. Akehurst und Judith M. Davis. Berkeley u. a. 1995 (Publications of the UCLA Center for Medieval and Renaissance Studies 26), 262‒270. István Frank: Répertoire métrique de la poésie des troubadours. 2 Bde. Paris 1966 (Bibliothèque de l’Ecole des Hautes Etudes. Sciences Historiques et Philologiques Fasc. 302). Ingrid Kasten: Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert. Zur Entwicklung und Adaption eines literarischen Konzepts. Heidelberg 1986 (GRM-Beiheft 5). Erich Köhler: „Vers“ und Kanzone. In: GRLMA 2/1/3 (1987), 45‒176. Florian Kragl: Musik. In: GLMF 3: Lyrische Werke. Hg. von Volker Mertens und Anton Touber. Berlin u. a. 2012, 347‒388. Robert Luff: Zum Problem der Verifizierbarkeit romanischer Einflüsse in der deutschen Minnelyrik des Hochmittelalters. In: PBB 124 (2002), 250−260. Volker Mertens: Dialog über die Grenzen: Minnesänger – Trobadors – Trouvères. Intertextualität in den Liebesliedern Rudolfs von Fenis. In: Kritische Fragen an die Tradition. Festschrift für Claus Träger zum 70. Geburtstag. Hg. von Marion Marquardt, Uta Störmer-Caysa und Sabine Heimann-Seelbach. Stuttgart 1997 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 340), 15‒41. Volker Mertens: Kontrafaktur als intertextuelles Spiel. Aspekte der Adaptation von TroubadourMelodien im deutschen Minnesang. In: Le Rayonnement des Troubadours. Actes du colloque de l’AIEO. Amsterdam, 16‒18 Octobre 1995. Hg. von Anton Touber. Amsterdam u. a. 1998 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 27), 269‒283. Ulrich Mölk: Trobadorlyrik. Eine Einführung. München u. a. 1982 (Artemis Einführungen 2). William D. Paden: Manuscripts. In: A Handbook of the Troubadours. Hg. von Frank R. P. Akehurst und Judith M. Davis. Berkeley u. a. 1995 (Publications of the UCLA Center for Medieval and Renaissance Studies 26), 307‒333. Elizabeth W. Poe: The Vidas and Razos. In: A Handbook of the Troubadours. Hg. von Frank R. P. Akehurst und Judith M. Davis. Berkeley u. a. 1995 (Publications of the UCLA Center for Medieval and Renaissance Studies 26), 185‒197. Dietmar Rieger (Hg.): Mittelalterliche Lyrik Frankreichs. Bd. 1: Lieder der Trobadors. Ausgewählt, übers. und komm. von dems. Stuttgart 1980 (RUB 7620). Dietmar Rieger: Die altprovenzalische Lyrik. In: Lyrik des Mittelalters. Probleme und Interpretationen. Bd. 1: Die mittellateinische Lyrik. Die altprovenzalische Lyrik. Die mittelalterliche Lyrik Nordfrankreichs. Hg. von Heinz Bergner. Stuttgart 1983 (RUB 7896), 197‒390. Anton Touber: Romanische Strophenformen, Motive und Lehnbedeutungen im Minnesang. In: ZfdA 134 (2005), 273–293. Anton Touber: Lyrische Strophenformen. In: GLMF 2: Sprache und Verskunst. Hg. von René Pérennec und dems. Berlin u. a. 2014, 267‒302. Nicola Zotz: Intégration courtoise. Zur Rezeption okzitanischer und französischer Lyrik im klassischen deutschen Minnesang. Heidelberg 2005 (GRM-Beiheft 19). Paul Zumthor: An Overview: Why the Troubadours? In: A Handbook of the Troubadours. Hg. von Frank R. P. Akehurst und Judith M. Davis. Berkeley u. a. 1995 (Publications of the UCLA Center for Medieval and Renaissance Studies 26), 11‒18.
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Liebeslyrik in Nordfrankreich Die Lyrik der nordfranzösischen Sänger (trouvères) kann nicht abgetrennt von der Lyrik der provenzalischen Trobadors gesehen werden (→ Altokzitanische Lyrik), auch wenn sich die nordfranzösische Liedkultur im Laufe von drei Jahrhunderten – zwischen 1150 und 1450 – in vielerlei Hinsicht davon löst.1 Es handelt sich dabei insbesondere um Sänger an den Höfen der Champagne, von Blois und in Flandern. Der Pariser Königshof war nie ein Zentrum der Lyrik. Im dreizehnten Jahrhundert nahm dagegen die Stadt Arras diese Rolle ein. Die Literatur macht in dieser Zeit den Schritt vom höfischen Mittelalter zu einer mehr und mehr bürgerlich gefärbten Renaissance, ohne dass sich dies allerdings immer sofort in den Themen und Gattungen der Lyrik widerspiegelt, da die Bürgerschaft sich noch lange Zeit die Adelskultur zum Vorbild nahm. Umgekehrt versucht Charles d’Orléans noch im fünfzehnten Jahrhundert, das höfische Liebesideal mit der neuen Subjektivität zu versöhnen. Vor allem aber verstummt diese Lyrik nicht wie die altprovenzalische, sondern ebnet in immer größerer Breite den Weg für den glanzvollen Aufschwung, den die französische Lyrik seit der zweiten Hälfe des fünfzehnten Jahrhunderts nimmt. Was die Abhängigkeit der nordfranzösischen Lyrik vom Süden angeht, so ist zunächst auf personelle Verbindungen zwischen der Provence und dem Norden Frankreichs hinzuweisen, sei es durch die durchweg sehr reisefreudigen provenzalischen Spielleute, z. B. Bernart de Ventadorn, sei es durch solche dynastischer Art. Das gilt vor allem für die berühmte Aliénor von Aquitanien (1122–1204), in erster Ehe mit Ludwig VII. von Frankreich und in zweiter Ehe mit Heinrich II. von England verheiratet, Mutter von Richard Löwenherz und Johann Ohneland (John Lackland).2 Denn nicht nur ist sie eine Enkelin des ersten provenzalischen Trobador, Wilhelm IX. von Aquitanien, sondern sie selbst wie ihre Töchter Alix de Blois, Marie de Champagne und Mathilde als Herzogin von Bayern und Sachsen sind wichtige Multiplikatoren für die höfische Kultur und tragen entscheidend zu ihrer Verbreitung auch in England und Deutschland bei. So stand etwa Chrétien de Troyes, der nicht nur der Verfasser seiner großen Epen, sondern auch der ältesten französischen Minnekanzonen ist, in den Diensten von Marie de Champagne. Und, wichtiger noch, zu ihrem Hof gehörte auch der Kaplan Andreas, dessen Traktat ‚De amore libri tres‘ (ca. 1180) nicht nur eine ausführliche Theorie der höfischen Liebe enthält, sondern auch eine pseudorechtliche Kodifizierung dieser Liebesdoktrin. So werden von adligen Damen, darunter auch Marie de Champagne selbst, sogenannte Liebesfälle erörtert und höchstrichterlich entschieden, ja ein bretonischer Ritter bringt vom Artushof einunddreißig 1 Vgl. Nelli 1979; Rieger 1983, 257–328; Wolfzettel 1983; Zink 1987 und zum kulturellen Hintergrund Hausmann 1996. 2 Vgl. Pernoud 1965; Buschinger 2002. https://doi.org/10.1515/9783110351859-006
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Liebesregeln (regulae) mit, die dafür angeblich ebenso eine Rechtsgrundlage bieten wie schon vorher zwölf ganz ähnliche Vorschriften (praecepta amoris).3 Auch wenn die Existenz solcher Liebesgerichtshöfe nicht mehr ernsthaft behauptet wird, es sei denn als Gesellschaftsspiel, zeigt allein schon die Vorstellung einer solchen Verrechtlichung der höfischen Liebe, dass damit der fruchtbare Boden auch für entsprechende Dichtungen in Liebesdingen bereitet war. So kann es nicht verwundern, dass über zweihundert dilemmatische Streitgedichte (jeux-partis) überliefert sind, die nordfranzösischen Erben des provenzalischen ioc partit (partimen), in denen zunächst meist adlige Teilnehmer vor einem höfischen Publikum Liebesprobleme erörtern. Im dreizehnten Jahrhundert kommt aber auch ein bürgerliches Publikum hinzu, das in den aufstrebenden Städten und hier vor allem in Arras für eine spielerische Fortführung der höfischen Traditionen sorgt, z. B. in den sogenannten puys, vereinsartig organisierten Literaturzirkeln.4 Die dafür benötigten Sänger orientieren sich zwar zunächst noch an den durch die Tradition vorgegebenen Modellen, vergröbern und entideologisieren sie aber mehr und mehr. Begleitet wird diese langanhaltende Blüte einer publikumsorientierten Unterhaltungskultur von einer hochentwickelten Musikszene, deren Bedeutung für den Vortrag ebenso wie die Beibehaltung der klassischen Kanzonenform nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Nicht umsonst sind uns zu fast jedem Trouvère-Lied die Melodien überliefert, mehr als 2000 Melodien für die französischen Texte gegenüber nur etwa 260 in der Provence.5 Es wäre deshalb grundsätzlich falsch, die Vortragssituation und die Mündlichkeit außer Acht zu lassen und sich die Trouvères als Dichter im heutigen Sinne vorzustellen. Die Trouvères waren vielmehr, wie schon ihre Berufsbezeichnung (chantëor) verrät, nicht anders als die Trobadors zugleich immer auch die Sänger, es sei denn, sie stellten dafür Spielleute (jongleurs) an. Die strenge Einhaltung der vorgegebenen Formen gehörte deshalb zu den Hauptaufgaben der Dichter-Sänger, wobei sie inhaltlich den weitgehend bekannten Mustern und Formeln der höfischen Liebe und ihres angeblichen paradoxe amoureux6 folgen konnten. Guiette hat diese Lyrik deshalb zu Recht als eine „poésie formelle“ charakterisiert: Les chansons courtoises sont faites pour être des réussites et non des expressions. J’insiste: la poésie, dans les chansons courtoises, se situe entièrement dans la forme, dans l’objet réalisé, existant, dont l’usage est connu. Le style est tout et l’argument idéologique n’est qu’un ‚matériau‘.7
3 Vgl. Knapp 2006 II, 8, und I, 6 E. Vgl. Lafitte-Houssat 1960; Neumeister 1969, 82–101; Schlumbohm 1974; Karnein 1985; Karnein 2001. 4 Vgl. Poirion 1965, 37–39 und 145–190. 5 Vgl. Gennrich 1958–1965. 6 Vgl. zu diesem Konzept kritisch Schnell 2018. 7 Guiette 1978, 8.
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[Die höfischen Lieder sind gemacht, um Erfolg zu haben, und keine Ausdrucksmedien. Ich insistiere: Die Poesie ist in den höfischen Liedern gänzlich in der Form angesiedelt, im realisierten existierenden Artefakt, dessen Gebrauch bekannt ist. Der Stil ist alles und das ideologische Argument nur das Material.]
Dieser Prävalenz der Form entspricht auf der Empfängerseite ein Publikum von großer Kennerschaft: Ce style, les auditeurs l’entendaient parfaitement autrefois. Ils appartenaient à une société d’un grand raffinement et qui était à même de savourer le caractère traditionnel de ces chansons. Cela faisait partie de l’initiation aux belles manières et à la courtoisie. De cette tradition ils connaissaient les normes esthétiques. Ils étaient par habitude et par éducation ce que nous pourrions appeler des connaisseurs.8 [Die Zuhörer verstanden den Stil einst perfekt. Sie gehörten einer Gesellschaft von großem Raffinement an, die fähig war, den traditionellen Charakter dieser Lieder zu genießen. Das gehörte zur Einführung in die guten Manieren und die Courtoisie. Sie kannten die ästhetischen Normen dieser Tradition. Sie waren durch Gewöhnung und Erziehung das, was wir Kenner nennen könnten.]
Es ist diese konzeptuelle Eingebundenheit, deren man sich bei der heutigen Lektüre dieser einst gesungenen Texte ebenso bewusst sein muss wie der mündlichen und z. T. auch improvisierten Vortragsweise.9 Die Gattungsvielfalt ist in der nordfranzösischen Lyrik des dreizehnten Jahrhunderts bis etwa 1250 – also in einer Zeit, da die Sänger der provenzalischen Lyrik in der Folge der Albigenserkriege verstummen – beeindruckend und für die Zukunft der französischen Lyrik wichtig. Das gilt im Übrigen auch sprachlich, da anders als in der literarischen Koiné der Trobadors, die bis nach Italien und Katalonien vorherrschend war, in Nordfrankreich im zwölften und dreizehnten Jahrhundert noch mehrere Dialekte nebeneinander Verwendung finden (Pikardisch, Champagnisch, Lothringisch, Franzisch), auch wenn das in der Île-de-France angesiedelte Königshaus schon früh die sprachliche Vorherrschaft für sich beansprucht. Die Gattungsvielfalt resultiert nicht zuletzt aus der zunehmenden Verbürgerlichung der geselligen Kultur in den aufstrebenden Städten Nordfrankreichs und Flanderns. Die höfischen Liedformen, für die etwa die Lieder von Gace Brulé, des Kastellan von Coucy und von Thibaut de Champagne stehen, und nicht an das höfische Milieu gebundene Gattungen, wenn auch mit einer starken Tendenz zur Nachahmung aristokratischer Vorbilder, existieren zunächst friedlich nebeneinander, zusammen mit volkstümlichen Formen. Doch
8 Guiette 1978, 8–9. Vgl. Zink 1987, 87–96. Das entgegengesetzte, von Erich Köhler entwickelte soziologische Erklärungsmodell hat sich als nicht tragfähig erwiesen (vgl. Liebertz-Grün 1977). 9 Vgl. Zumthor 1983; Zumthor 1987; Chinca und Young 2005; Zumthor 2010. Skeptisch zur Improvisation Rieger 1990.
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die um den sogenannten grand chant courtois10 versammelten Formen verblassen mehr und mehr in der Konkurrenz mit einem ‚bürgerlichen‘ Minnesang, wie ihn etwa Adam de la Halle, Colin Muset und Rutebeuf pflegen, der als Erster ganz ohne Gesang auskommt. Dominant ist die von den Trobadors überkommene Kanzone (chanson) und dies in einer breiten, ihrer narrativen Struktur geschuldeten Skala: chanson d’amour, chanson d’ami, chanson de femme, chanson de toile, chanson de mal-mariée, chanson religieuse, chanson de croisade. Zur Kanzone gehören formal auch die Tenzonen (tenson) und die schon erwähnten dilemmatischen Streitgedichte (jeu-parti).11 Daneben florieren zahlreiche kleinere Gattungen (complainte, aube, reverdie) und solche, die der musikalischen und tänzerischen Darbietung dienen (ballet, rotrouange, rondeau, virelai, estampie). Besondere Erwähnung verdient die Pastourelle, die anders als in der Provence, aus der sie kommt, in Nordfrankreich eine lang andauernde Blüte erlebt: Etwa dreißig altprovenzalischen Pastourellen stehen fünfmal so viel altfranzösische gegenüber. Die Pastourelle war offenbar als Ironisierung der höfischen Wertvorstellungen ein Liebling des Publikums.12 Der dekorative Hintergrund der Gattung, eine ländliche Pseudoidylle mit lieblicher Hirtin, friedlicher Herde und schützender Hecke, in die der Ritter einbricht, bot einen attraktiven Rahmen, um die doppelbödige Sexualmoral der höfischen Liebe anzusprechen, offener als die Kanzone mit ihren idealisierenden Epitheta. Die Forschung zählt die Pastourelle wegen ihrer narrativen Grundstruktur, der Begegnung eines Ritters mit einer Hirtin, zu den sogenannten genres objectifs, selbst dann, wenn ein fiktives Ich davon berichtet. Nicht ein Gefühl oder ein Zustand wird hier beschrieben wie in der Kanzone, der typischen Vertreterin des genre subjectif, sondern hier dominiert der Dialog. Das narrative Grundgerüst der Pastourelle eröffnet vor allem in der Spätphase der Gattung auch der nichthöfischen Realität einen größeren Zugang zum Text, sodass man geradezu von einem Populismus der adligen und städtischen Eliten gesprochen hat.13 „Die einfache Hirtin vertritt im ideologischen Spannungsfeld der höfischen und klerikalen Gesellschaft den fiktiven Gegenpol amoralisch sinnlichen Begehrens und naturhafter Faszination und tritt damit in ein kompensatorisches Verhältnis zur verehrten Dame in der hohen, zur Sublimierung 10 Vgl. Zumthor 1972, 189–243. 11 Eine provenzalische Poetik des vierzehnten Jahrhunderts, Guilhem Moliniers ‚Leys d’amors‘, unterscheidet kurz und bündig: Diferensa pot hom pero vezer entre tenso e partimen, quar en tenso cascus razona son propri fag, coma en plag, mas en partimen razona hom l’autra fag e l’autru questio (Text nach der Ausg. Gatien-Arnoult 1977, Bd. 2, 344; „Man kann jedoch einen Unterschied zwischen Tenzone und Partimen feststellen. In der Tenzone vertritt jeder seine eigene Sache wie im Streit, im Partimen aber erörtert man die Sache und die Frage eines anderen.“). Vgl. Köhler 1979; Schnell 1983; Neumeister 2017. Texte in Långfors 1926 und Fichte 2019. 12 Vgl. dazu Köhler 1979b und Wolfzettel 1983, 428–446. 13 Duby 1973. Die von Pierre Bec vorgeschlagene Dichotomie „registres aristocratisants / registres popularisants“ (Bec 1977, 33–34), hat sich nicht durchgesetzt.
Liebeslyrik in Nordfrankreich
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gezwungenen Minne.“14 Das mag auch zum großen Erfolg der Pastourelle in den nordfranzösischen Städten des Spätmittelalters beigetragen haben. Dass sie sich dabei vergröbert und, bis dahin undenkbar, für Verletzungen des alten decorum öffnet, zeugt vom zähen Überleben einer Gattung, mit der das neue Patriziat der Städte nunmehr bei aller Bewunderung auch ironisch-spielerisch umgehen kann. Parodistische und satirische Formen einschließlich der fatrasie als reiner Unsinnsdichtung15 bestätigen diesen Trend. Das Ende der mittelalterlichen Liebeslyrik in Frankreich kündigt sich an.
Literatur Pierre Bec: La lyrique française au moyen âge (XIIe–XIIIe siècles). Contribution à une typologie des genres poétiques médiévaux. Études et textes. Bd. 1. Études. Paris 1977 (Publications du Centre d’Études Supérieures de Civilisation Médievale de l’Université de Poitiers 6). Danielle Buschinger (Hg.): Autour d’Aliénor d’Aquitaine. Actes du colloque de Saint Riquier (Décembre 2001). Amiens 2002 (Médiévales 22). Mark Chinca und Christopher Young (Hg.): Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D. H. Green. Turnhout 2005 (Utrecht Studies in Medieval Literacy 12). Georges Duby: La vulgarisation des modèles culturels dans la société féodale. In: Ders.: Hommes et structures du moyen âge. Recueil d’articles. Paris 1973 (Le savoir historique 1), 299–308. Ralph Dutli (Hg.): Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters. Göttingen 2010. Jörg O. Fichte u. a. (Hg.): Das Streitgedicht im Mittelalter. Stuttgart 2019 (Relectiones 6). Adolphe-Félix Gatien-Arnoult (Hg.): Las flors del gay saber estier dichas Las leys d’amors. Übers. von Melchior-Louis d’Aguilar und Louis-Gaston-François d’Escouloubre. 2 Bde. Genf 1977 (Monumens de la littérature romane depuis le quatorzième siècle 1) [ND der Ausg. Toulouse 1841–1843]. Friedrich Gennrich (Hg.): Der musikalische Nachlass der Troubadours. 3 Bde. Darmstadt 1958–1965 (Summa musicae medii aevi 3–5). Robert Guiette: D’une poésie formelle en France au Moyen Age. In: Ders.: Forme et senefiance. Etudes médiévales. Hg. von Jean Dufournet, Marcel De Grève, Herman Braet. Genf 1978 (Publications romanes et françaises 148), 1–24. Frank-Rutger Hausmann: Französisches Mittelalter. Lehrbuch Romanistik. Stuttgart u. a. 1996. Alfred Karnein: De amore in volkssprachlicher Literatur. Untersuchungen zur Andreas-CapellanusRezeption in Mittelalter und Renaissance. Heidelberg 1985 (GRM-Beiheft 4). Alfred Karnein: Die Stimme der Intellektuellen im Mittelalter: Andreas Capellanus über Liebe, Sexualität und Geschlechterbeziehung. In: Liebesfreuden im Mittelalter. Kulturgeschichte der Erotik und Sexualität in Bildern und Dokumenten. Hg. von Gabriele Bartz, Alfred Karnein und Claudio Lange. München 2001, 81–95. Fritz Peter Knapp (Hg.): Andreas Capellanus: De amore / Von der Liebe. Libri tres / Drei Bücher. Text nach der Ausgabe von E. Trojel. Übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von dems. Berlin u. a. 2006. 14 Wolfzettel 1983, 429. 15 Vgl. Dutli 2010.
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Sebastian Neumeister
Erich Köhler: Marcabrus „L’autrier jost’una sebissa…“ und das Problem der Pastourelle. In: Ders.: Trobadorlyrik und höfischer Roman. Aufsätze zur französischen und provenzalischen Literatur des Mittelalters. Berlin 1962 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 15), 193–204. Erich Köhler: Partimen („joc partit“). In: GRLMA 2/1/5 (1979), 16–32. [1979a] Erich Köhler: Pastorela. In: GRLMA 2/1/5 (1979), 33–43. [1979b] Erich Köhler: Tenzone. In: GRLMA 2/1/5 (1979), 1–15. [1979c] Jacques Lafitte-Houssat: Troubadours et cours d’amour. Paris 21960 (Que sais-je? 422). Arthur Långfors (Hg.): Recueil général des Jeux-partis Français. 2 Bd.e. Paris 1926 (Societé d’anciens textes français 111). Ursula Liebertz-Grün: Zur Soziologie des „amour courtois“. Umrisse der Forschung. Heidelberg 1977 (Euphorion-Beiheft 10). René Nelli: Troubadours & trouvères. Paris 1979. Sebastian Neumeister: Das Spiel mit der höfischen Liebe. Das altprovenzalische Partimen. München 1969 (Poetica-Beiheft 5). Sebastian Neumeister: Die dialogischen Gedichte in der altprovenzalischen Literatur. In: Das Dialoggedicht. Studien zur deutschen, englischen und romanischen Lyrik. Hg. von Christina Bischoff, Till Kinzel und Jarmila Mildorf. Heidelberg 2017 (GRM-Beiheft 84), 129–145. Régine Pernoud: Aliénor d’Aquitaine. Paris 1965. Daniel Poirion: Le poète et le prince. L’évolution du lyrisme courtois de Guillaume de Machaut à Charles d’Orléans. Paris 1965 (Publications de la Faculté des lettres et Sciences Humaines 35). Dietmar Rieger (Hg.): Mittelalterliche Lyrik Frankreichs II. Lieder der Trouvères. Französisch/ Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Dems. Stuttgart 1983 (RUB 7943). Dietmar Rieger: ‚Chantar‘ und ‚faire‘. Zum Problem der trobadoresken Improvisation. In: ZrP 106 (1990), 423–435. Dietmar Rieger: Formen trobadoresker Streitkultur. Zwei Liedinterpretationen. In: Romanische Forschungen 106 (1994), 1–27. Christa Schlumbohm: Jocus und Amor. Liebesdiskussionen vom mittelalterlichen „joc partit“ bis zu den preziösen „questions d’amour“. Hamburg 1974 (Hamburger romanistische Dissertationen 14). Rüdiger Schnell: Zur Entstehung des altprovenzalischen dilemmatischen Streitgedichts. In: GRM 33 (1983), 1–20. Rüdiger Schnell: Tod der Liebe durch Erfüllung der Liebe? Das paradoxe amoureux und die höfische Liebe. Göttingen 2018. Friedrich Wolfzettel: Die mittelalterliche Lyrik Nordfrankreichs. In: Lyrik des Mittelalters. Probleme und Interpretationen. Bd. 1: Die mittellateinische Lyrik. Die altprovenzalische Lyrik. Die mittelalterliche Lyrik Nordfrankreichs. Hg. von Heinz Bergner. Stuttgart 1983 (RUB 7896), 391–578. Michel Zink: Die Dichtung der Trouvères. In: Die französische Lyrik. Hg. von Dieter Janik. Darmstadt 1987, 62–108. Paul Zumthor: Essai de poétique médiévale. Paris 1972 (Collection poétique). Paul Zumthor: Introduction à la poésie orale. Paris 1983. Paul Zumthor: La lettre et la voix. De la „littérature“ médiévale. Paris 1987 (Collection poétique). Paul Zumthor: Mündlichkeit/Oralität. In: Ästhetische Grundbegriffe 4 (2002), 234–256.
Sebastian Neumeister
Italienische Liebeslyrik des Mittelalters Die Anfänge der italienischen Lyrik des Mittelalters am Beginn des dreizehnten Jahrhunderts sind nicht zu trennen von der Blüte der provenzalischen Trobadorlyrik (→ Altokzitanische Lyrik). Die Minnesänger der ersten volkssprachlichen Literatur Europas sind zahlreich zu Gast an den Fürstenhöfen, aber auch in den aufstrebenden Städten Oberitaliens, darunter so bedeutende wie Raimbaut de Vaqueiras und Peire Vidal. Sie dichten und singen wie in ihrer Heimat problemlos auf Provenzalisch, der literarischen Koiné der Zeit neben dem Latein, auch wenn etwa Raimbaut in einem zweisprachigen descort das Toskanische einflicht und in einem fingierten Streit mit einer genuesischen Dame deren Dialekt zu Wort kommen lässt.1 Es ist auch bezeichnend, dass ein Italiener, der aus Apulien stammende Giacomino Pugliese, den Trobador Uc Faidit bittet, eine provenzalische Grammatik zu verfassen, ‚Lo Donatz provensals‘ (1240). Denn bald bedienen sich auch die Italiener des Provenzalischen als der neuen Dichtersprache, so Lanfranc Cigala, Bartolome Zorzi und Sordello. Noch Dante huldigt Sordello, indem er ihn für sich und Vergil zum Führer durch zwei Gesänge der ‚Göttlichen Komödie‘ macht (Purgatorio VI/VII), und legt dem Trobador Arnaut Daniel sogar neun Verse in provenzalischer Sprache in den Mund (Purgatorio XXVI, V. 140–148). Auch die provenzalisch geschriebenen vidas und razos, Biographien der Trobadors und Texterläuterungen von allerdings zweifelhaftem dokumentarischen Wert, entstehen im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert in Italien, ebenso mit einer Ausnahme auch alle großen Liederhandschriften, ein eindrucksvolles Zeugnis der Präsenz der provenzalischen Literatur in Oberitalien. Auch der älteste, erst 1999 bekannt gewordene Text der Minnelyrik in italienischer Sprache, die anonyme Kanzone Quando eu stava in le tu’ cathene (API, 607–620),2 entstanden zwischen 1180 und 1210 ebenfalls in Oberitalien, ist ohne die altprovenzalische Minnelyrik nicht denkbar. Es ist dieser Hintergrund, vor dem die Gründung der sizilianischen Dichterschule zu sehen ist, mit der Friedrich II. von Hohenstaufen dem Italienischen den Weg in die volkssprachlichen Literaturen Europas öffnet, zunächst als Dichtung in einer sizilianischen Hochsprache (volgare illustre). Dante stellt ein halbes Jahrhundert später in seiner sprachpolitischen Programmschrift ‚De vulgari eloquentia‘ (1304/1305) nicht zu Unrecht fest, alle nichtprovenzalische Dichtung vor ihm im volgare sei „sizilianisch“ und sollte auch so bezeichnet werden:
1 Vgl. Edition und Kommentar des descort bei Rieger 1991, 418–436; vgl. auch Brugnolo 1983. 2 Segre und Ossola 1999, 607–620. https://doi.org/10.1515/9783110351859-007
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Siquidem illustres heroes, Fredericus Cesar et benegenitus eius Manfredus, nobilitatem ac rectitudinem sue forme pandentes, donec fortuna permisit, humana secuti sunt, brutalia dedignantes. Propter quod corde nobiles atque gratiarum dotati inherere tantorum principum maiestati conati sunt, ita ut eorum tempore quicquid excellentes animi Latinorum enitebantur primitus in tantorum coronatorum aula prodibat; et quia regale solium erat Sicilia, factum est ut quicquid nostri predecessores vulgariter protulerunt, sicilianum vocetur: quod quidem retinemus et nos, nec posteri nostri permutare valebunt.3 [Auch die großen Männer Kaiser Friedrich und sein edler Sohn Manfred zeigten den Adel und die Rechtschaffenheit ihres Geistes, solange es das Schicksal zuließ, indem sie sich den humanen Dingen widmeten und die niedrigen verachteten. Deshalb suchte jeder, der edles Wesen und Begabung besaß, die Nähe der Majestät solcher Fürsten, sodass alles, was hervorragende Lateiner in jener Zeit schufen, zuerst am Hofe der so Geehrten entstand. Und weil der königliche Sitz in Sizilien war, wurde alles, was unsere Vorfahren in der Volkssprache vortrugen, ‚sizilianisch‘ genannt, eine Bezeichnung, die auch wir beibehalten und die auch unsere Nachfahren nicht ändern können.]
Zur Charakterisierung der sizilianischen Dichterschule ist es notwendig, zwei Gruppen zu unterscheiden, den festen Kreis einer literarisch gebildeten Beamtenschaft am Hofe des Kaisers selbst und eine weiter verstreute Gruppe von Beamten und Patriziern in den Städten Mittelitaliens, die sogenannten Sikulo-Toskaner. Die höfische Liebe als Thema und die mit ihr vorgegebene Wertewelt des paradoxe amoureux4 verdankt sich noch ganz den Provenzalen, eventuell auch sporadischen Kontakten mit dem deutschen Minnesang im Umkreis des reisenden Kaisers,5 so zwischen diesem und Walther von der Vogelweide. Diese Abhängigkeit ist nicht zuletzt ablesbar an Kontrafakturen6 und bewusst übernommenen Provenzalismen in der Sprache. Wie stark die Trobadorlyrik in Sizilien auch außerhalb des höfischen Milieus präsent ist, zeigt die Argumentation in einem burlesken, an die französische Pastourelle erinnernden Strophenwechsel (contrasto) von Cielo d’Alcamo, Rosa fresca aulentisima (PSS 2, 16.1). Sowohl der letztlich erfolgreiche Spielmann wie auch das ihm lange widerstehende Bauernmädchen verwenden dabei Begriffe der Hohen Minne, die der konkreten Situation eigentlich fremd sein müssten. Vom höfischen Vorbild sind auch noch die ‚Documenti d’Amore‘ geprägt, die der Stadtbürger Francesco da Barberino an der Wende vom dreizehnten zum vierzehnten Jahrhundert verfasste, zusammen mit einer Verhaltenslehre für Frauen, einem allegorischen Text in der Tradition des ‚Roman de la rose‘ (,Reggimenti e costumi di donne‘).7
3 Text nach der Ausgabe Cecchin 1988, 56 (I, xii, 4). Zum literaturgeschichtlichen Zusammenhang vgl. Friedrich 1964, 1–48; Brugnolo 1995; Brunetti 2001; Folena 2002, 81–196; Ledda 2007. 4 Vgl. Schnell 2018. 5 Vgl. Schulze 1989a. 6 Vgl. Schulze 1989b. 7 Vgl. Segre 1968, 94–96.
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Es sind nunmehr nicht länger fahrende Sänger, die vor einem gemischten Publikum die anwesende Dame loben wie an den provenzalischen und oberitalienischen Höfen, sondern juristisch und rhetorisch, aber im Quadrivium auch musikalisch ausgebildete Hofbeamte und Experten, die ihr Können auch in den Dienst höfischer Festlichkeiten stellen können, so etwa am Hofe von König Manfred.8 Dabei verblasst allerdings das Bild der angebeteten Dame zum abstrakten Idealbild einer donna angelicata mit geradezu unirdischen Qualitäten. Die Vielfalt der provenzalischen Gattungen, die auch die Behandlung politischer und persönlicher Konflikte erlaubt und satirische Akzente setzen kann, wird entsprechend reduziert auf einige wenige Formen, die Kanzone, die ballata und den descort als musikalisch motivierte Gattungen und das Streitgedicht, sei es als contrasto oder als Tenzone, hier inszeniert als Wechsel von Sonetten. Das Sonett ist jene aus der Minnekanzone entfaltete Gedichtform, der eine große Zukunft beschieden sein sollte.9 Als Erfinder des Sonetts kann der ‚Notar‘ Giacomo da Lentini gelten, das Haupt der sizilianischen Dichterschule, von dem vierzig Gedichte überliefert sind,10 darunter zwei berühmte Sonettwechsel mit Kollegen über die Definition der Liebe (PSS 1, 1.18 u. 1.19). Auch der Kaiser, selbst Sohn eines Minnesängers (Heinrich VI.), seine Söhne Manfred und Enzo (Heinz) und der Enkel Konradin dichten,11 außerdem zwei seiner Kanzler (Pier della Vigna und Stefano Protonotaro), zwei Falkner und andere Beamte.12 Von ihren Lebensumständen ist allerdings so wenig bekannt und ihr Stil ist so wenig unterscheidbar, dass Diez in seiner bahnbrechenden Studie ‚Die Poesie der Troubadours‘ von 1826 sagen konnte: „Man könnte sich diese ganze Literatur als Werk eines Dichters denken, nur in verschiedenen Stimmen hervorgebracht.“13 Mit dem Tode Kaiser Friedrichs II. 1250 zerfällt der Dichterkreis. In den Dichtungen der Sikulo-Toskaner um Guittone d’Arezzo, bei den Vertretern des süßen neuen Stils (dolce stil novo), allen voran Guido Guinizzelli und Guido Cavalcanti, und noch bei Dante, der sich nach stilnovistischen Anfängen vom Vorbild der Sizilianer löst und zu einem eigenen Stil findet, zeichnet sich die Lyrik gegenüber derjenigen ihrer Vorgänger wieder durch eine größere inhaltliche und sprachliche Vielfalt aus.14 Das erklärt sich vor allem aus dem Fehlen eines politischen und geografischen Zentrums und dem Eindringen der jeweiligen Stadtmundart von Lucca, Pisa, Arezzo, Florenz, Bologna in die Dichtung. Die Gedichte der Sizilianer sind uns ohnehin nur in einer toskanisierten Mischsprache überliefert, in die sie die Schreiber des ausgehenden
8 Vgl. Schulze 2004 und Schulze 2018, 20–32. 9 Vgl. Weinmann 1989 und Pötters 1998. 10 Vgl. PSS 1. 11 Vgl. Neumeister 2020. 12 Vgl. PSS 2. 13 Diez 1883, 122. 14 Vgl. zur weiteren Entwicklung Friedrich 1964; Scheel 1989 und Malato 1995.
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dreizehnten Jahrhunderts transponierten.15 Sie lässt nur noch Spuren des sizilianischen Dialekts erkennen, eröffnet aber zugleich damit die Chance für eine größere Verbreitung und Verständlichkeit bis heute. Die Dichter des dolce stil novo wenden sich endgültig vom sizilianischen Vorbild ab, wenngleich im vollen Bewusstsein seiner Errungenschaften. Vorreiter ist hier Guido Guinizzelli aus Bologna, der in seinen Kanzonen und Sonetten die Liebe als den Drang zu Höherem feiert. Das verleiht der Frau einen nicht nur sozialen, sondern auch sittlichen Rang ohnegleichen und macht die Liebe zu einer allgemeingültigen Tugendschule. Guido Cavalcanti treibt diese Spiritualisierung der Frau als Quelle aller Tugenden weiter voran, so etwa in seiner Kanzone Donna me prega, die die Liebestheologie Guinizzellis mit scholastischer Gelehrsamkeit zu einem Traktat der Hohen Minne ausgestaltet, der mehrere Kommentare auslöst.16 Erst bei Cino da Pistoia lockert sich der Zwang zur theoretischen Durchdringung wieder zugunsten einer stärker individualisierten Darstellung der Geliebten, wenngleich auch er noch die Tradition der Minnedichtung in seinen Sonetten und Kanzonen fortsetzt. Cinos Sprache ist frischer, direkter, diskursiver, dialogischer und bewährt sich in mehreren Sonettwechseln mit Dante. Dieser schließlich verleiht der Frau als Heilsbringerin in den Gedichten seiner ‚Vita nova‘ und in der ‚Göttlichen Komödie‘ ganz neue, metaphysische Qualitäten, nunmehr vor dem Hintergrund einer gegenüber den Anfängen der italienischen Minnelyrik um 1200 völlig veränderten, ungleich reicheren literarischen Landschaft. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass zugleich mit diesem rauschhaften Aufstieg der Minnelyrik aus den provenzalischen Anfängen zu den Höhen eines Dante und Petrarca auch volksnähere Dichtungen entstehen, burlesk-satirische ebenso wie religiöse. Auch die Dichter des hohen Stils – Guinizzelli, Cavalcanti, Dante – liefern Beispiele dafür. Umgekehrt zeigt Rustico Filippi in seinen 60 Sonetten zu gleichen Teilen, dass er neben der Kunst des Spottgedichtes in der Tradition der Goliardenlieder auch den hohen Stil der Minnedichtung beherrscht. Unbestrittener Meister ist jedoch am Ende des dreizehnten Jahrhunderts Cecco Angiolieri, der in seinen über 100 Sonetten die Motive der Vagantenlieder aufgreift und die Sikulo-Toskaner ebenso wie den dolce stil novo souverän parodiert. Er zeigt damit, wie dies auch im contrasto des Cielo d’Alcamo sichtbar wurde, die Existenz eines volkssprachlichen Substrats, das in Kenntnis der höfisch-aristokratischen Überhöhung der Liebe gleichwohl den Kontakt zur sozialen und mentalen Realität nicht verliert. Auch die religiöse Lyrik von frühen Spielmannstexten (ritmi) bis zu den Lobgesängen (laude) des auch politisch aktiven Franziskanermönchs Jacopone da Todi entsteht durchaus in Kenntnis der Formkunst 15 Eine Ausnahme bilden die Kanzone Pir meu cori allegrari von Stefano Protonotaro (PSS 2, 11.3), die beiden letzten Strophen der Kanzone S’eo trovasse Pietanza von Re Enzo (König Heinz; PSS 2, 20,2) sowie ein siebenzeiliges Fragment Alegru cori, plenu des Letzteren (PSS 2, 20,3), die der Philologe Giammaria Barbieri (1519–1574) gegen Ende seines Lebens in sein erst 1790 veröffentlichtes Rimario aufnahm. 16 Vgl. Fenzi 1999.
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der Sizilianer. Mehrere laude-ballate des wichtigsten Vertreters der Sikulo-Toskaner, Guittone d’Arezzo, belegen umgekehrt, dass die darin hörbar werdende Gläubigkeit zum Grundton der Zeit gehört. Dass die hohe Lyrik der Provenzalen, der Sizilianer, der Sikulo-Toskaner und der Stilnovisten samt ihrer parodistischen Ableger zum weitverbreiteten Bildungsgut der Epoche gehört, zeigen kurioserweise die Gerichtsakten der Notare im Bologna des dreizehnten Jahrhunderts: Da es in diesen Dokumenten keine Leerstellen geben durfte, füllten sie die entsprechenden Freiräume – mit Gedichten!
Literatur Furio Brugnolo: Plurilinguismo e lirica medievale. Da Raimbaut de Vaqueiras a Dante. Rom 1983 (Seminario Romanzo 2). Furio Brugnolo: La Scuola poetica siciliana. In: Storia della letteratura italiana. Hg. von Enrico Malato. Bd. 1: Dalle origini a Dante. Rom 1995, 265–337. Giuseppina Brunetti: Attorno a Federico II. In: Lo Spazio letterario del Medioevo. Hg. von Piero Boitani, Mario Mancini und Alberto Varvaro. Bd. 2. Il Medioevo volgare. Teilbd. 1, 2. La produzione del testo. Rom 2001, 649–693. Sergio A. Cecchin (Hg.): Dante Alighieri: De vulgari eloquentia. Testo latino a fronte. Mailand 1988 (I tascabili degli Editori Associati 44). Friedrich Diez: Die Poesie der Troubadours. 2. verm. Aufl. von Karl Bartsch. Leipzig 1883. Enrico Fenzi: La canzone d’amore di Guido Cavalcanti e i suoi antichi commenti. Genua 1999 (Opuscula 95). Gianfranco Folena: Textus testis. Lingua e cultura poetica delle origini. Turin 2002 (Nuova cultura 86). Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt a. M. 1964. Giuseppe Ledda: Le origini e il Duecento. In: La letteratura italiana. Dalle origini al Cinquecento. Hg. von Ezio Raimondi. Mailand 2007 (Sintesi), 1–48. Enrico Malato (Hg.): Storia della letteratura italiana. Bd. 1: Dalle origini a Dante. Rom 1995. Sebastian Neumeister (Hg.): „Da es dir gefällt, o Liebe“. Die Dichtungen der Staufer. Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen und die Sizilianische Dichterschule. Heidelberg 2020. Wilhelm Pötters: Nascita del sonetto. Metrica e matematica al tempo di Federico II. Ravenna 1998 (Memoria del tempo 13). Angelica Rieger: Trobairitz. Der Beitrag der Frau in der altokzitanischen höfischen Lyrik. Edition des Gesamtkorpus. Tübingen 1991 (ZrP-Beiheft 233). Hans Ludwig Scheel: Dantes Rime, die Vita Nuova und die italienische Lyrik der Dantezeit. In: GRLMA 10/2 (1989), 49–322. Rüdiger Schnell: Tod der Liebe durch Erfüllung der Liebe? Das paradoxe amoureux und die höfische Liebe. Göttingen 2018. Joachim Schulze: Die Sizilianer und der Minnesang. In: GRM 39 (1989), 387–402. [1989a] Joachim Schulze: Sizilianische Kontrafakturen. Versuch zur Frage der Einheit von Musik und Dichtung in der sizilianischen und sikulo-toskanischen Lyrik des 13. Jahrhunderts. Tübingen 1989. [1989b] Joachim Schulze: Amicitia vocalis. Sechs Kapitel zur frühen italienischen Lyrik mit Seitenblicken auf die Malerei. Tübingen 2004 (ZrP-Beiheft 327).
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Sebastian Neumeister
Joachim Schulze: Die Bilder zum italienischen Minnesang im Canzoniere Palatino. Hg. von Elisabeth Schulze-Witzenrath. Heidelberg 2018 (Schriften und Vorträge des PetrarcaInstituts Köln 1). Cesare Segre: Le forme e le tradizioni didattiche. In: GRLMA 6/1 (1968), 58–145. Cesare Segre und Carlo Ossola (Hg.): Antologia della poesia italiana. Bd. 1: Duocento. Turin 2 1999. Peter Weinmann: Sonett-Idealität und Sonett-Realität. Neue Aspekte der Gliederung des Sonetts von seinen Anfängen bis Petrarca. Tübingen 1989 (Romanica Monacensia 30).
Frank Bezner
Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters 1 Literarhistorische Grundlagen Ebenso wie in der → Geschichte des Minnesangs finden sich im Bereich der lateinischen Liebesdichtung des Mittelalters keine belastbaren Hinweise auf eine frühmittelalterliche Produktion oder Rezeption. Der Versuch, den spätantiken Elegiker Maximinian auf das neunte Jahrhundert zu datieren und damit eine – den von Karl dem Großen gesammelten Dichtungen vergleichbare – frühe Schicht der Gattung zu identifizieren, darf als fehlgeschlagen gelten. Von der kontinuierlichen Überlieferung antiker Liebesgedichte abgesehen, verdichten sich erste Spuren um die Mitte des elften Jahrhunderts mit den in der ‚älteren‘ Cambridger Liedersammlung aufgezeichneten Liedern; durch einen zeitgenössischen Bericht des Sextus Amarcius lässt sich zudem für diese Zeit auch der mündliche Vortrag lateinischer Liebeslyrik nachweisen.1 Im Ganzen lässt sich die Gattung2 in zwei größere – thematisch, motivisch und intertextuell zwar verwandte, aber formal distinkte und institutionell zu differenzierende – literarhistorische Konstellationen unterscheiden. So kommt es nach den spurenhaften Anfängen im elften Jahrhundert als Teil einer oft beschworenen ‚Renaissance‘ von Literatur und Wissen im zwölften und dreizehnten Jahrhundert zur Ausdifferenzierung des formal und thematisch vielfältigen Kontinuums jener ‚eigentlichen‘ mittellateinischen Liebeslyrik, die überwiegend in rhythmischen beziehungsweise melodieabhängigen Versen verfasst wurde und sich am einschlägigsten (und umfangreichsten) in den unter den Carmina Burana überlieferten Liedern zeigt. Hiervon zu differenzieren sind die zwischen dem letzten Viertel des elften und ersten Viertel des zwölften Jahrhunderts verfassten Liebesgedichte der sogenannten LoireDichter, darunter Baudri von Bourgueil, Marbod von Rennes, Hildebert von Lavardin: ein reiches Corpus metrischer, insbesondere in elegischen Distichen verfasster und oft als Briefepistel gestalteter Gedichte, die wegen ihrer intertextuellen Verflechtung und Zirkulationsdynamik als Produkte einer ‚Pleiade‘-artigen Gruppe gelehrter Kleriker gefasst werden können.
1 Vgl. dazu unten. 2 Die lateinische Liebesdichtung des Mittelalters ist im Vergleich zur antiken wie volkssprachlichen weit weniger erforscht. Überblicksdarstellungen bei De Valous 1952; De Valous 1953; De Valous 1954; Dronke 1986; Szövérffy 1994, 240–330; Ziolkowski 1993. Grundlegende Monographien sind Brinkmann 1925 (problematisch!); Dronke 1968; Lenzen 1973; Offermanns 1970; Bond 1986; Bond 1987; Bond 1995; Moser 2004; Bisanti 2011. https://doi.org/10.1515/9783110351859-008
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Verwandt mit der lateinischen Liebesdichtung sind die Freundschaftsdichtung, der (überwiegend in Prosa verfasste) Liebesbrief(wechsel)3 sowie potentiell alle Textsorten, in denen das Thema des erotischen Begehrens eine Rolle spielt (Komödien, exempla). Narrative Korrelate zur Liebeslyrik – vergleichbar etwa dem Phänomen des volkssprachlichen Romans, in dem das Problem erotischen Begehrens mutatis mutandis eine wichtige, konzeptionell und motivisch mit der volkssprachlichen Lyrik verwandte Rolle spielt – finden sich im lateinischen Bereich vor allem als Folge des Fehlens einer vergleichbaren episch-narrativen Dichtung zwar durchaus vereinzelt, sind aber in dieser Hinsicht nicht untersucht.4 Im Umkreis der Gattung anzusiedeln sind schließlich theoretische Traktate wie Andreas Capellanus’ ‚De amore‘ oder die ‚De rota Veneris‘ Boncompagnos da Signa sowie Werke, die sich über das Thema der erotischen Liebe mit der Problematik und Gattung der Liebesdichtung, sei es explizit oder implizit, auseinandersetzen, etwa der ‚Planctus Nature‘ des Alanus ab Insulis oder die ‚Historia Calamitatum‘ (samt Briefwechsel) Peter Abaelards.
2 Produktions- und Rezeptionsbedingungen Die lateinische Liebesdichtung des Mittelalters wurde von (gelehrten) Klerikern für (gelehrte) Kleriker verfasst und ist damit Teil einer zwar gesamteuropäischen, aber in sich institutionell, sozial und diskursiv pluralen klerikalen Kultur. Die länger verbreitete Vorstellung, dass die Texte aufgrund ihrer ‚weltlich‘-erotischen – und damit dem Keuschheitsgebot oder zumindest der seit der Kirchenreform verstärkt kulturell wirksamen Tabuisierung der Sexualität zuwiderlaufenden – Thematik im Kontext einer von Studenten und Vaganten geprägten, tendenziell ‚rebellischen‘ Subkultur entstanden, hält einem kritischen Blick allenfalls dann stand, wenn versucht wird, diese Subkultur in übertragener Weise als literarisch konstruierten habitus der Kritik an etablierten Diskursen oder Normen zu beschreiben.5 Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Gattung erscheinen demgegenüber als hochgradig differenziert – und dies sowohl prinzipiell und mit Blick auf die beiden fundamentalen Konstellationen als auch innerhalb der ‚eigentlichen‘ Liebeslyrik selbst. So waren etwa die Loire-Dichter überwiegend in leitender Funktion an nordfranzösischen Kathedralschulen aktiv und gelangten zu herausragenden kirchlichen Ämtern: Marbod von Rennes wurde Bischof, Hildebert von Lavardin Erzbischof, 3 Wichtigste Vertreter sind neben den Tegernseer Liebesbriefen die fälschlich Abaelard und Heloise zugeschriebenen ‚Epistolae duorum amantium‘. Zur Gattungsgeschichte vgl. grundlegend Ruhe 1975 und nun auch Newman 2016. 4 Einschlägig wären hier – im Sinne der Anzeige eines Forschungsdesiderats – der ‚Ruodlieb‘, der ‚Architrenius‘ des Johannes von Hauvilla, die ‚Gesta Appollonii‘ sowie auch historiographische Texte, in denen der literarische Diskurs der Liebe Teil von ‚Spielregeln‘ der Politik zu werden vermag. 5 So etwa Bond 1986 mit Bezug auf Baudri von Bourgueil.
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Baudri von Bourgueil Abt eines mächtigen Benediktinerklosters.6 Intertextuelle Verweise, namentliche (wechselseitige) Adressierungen, die von zahlreichen Gedichten evozierte Vorstellung von Zirkulation semi-öffentlicher wie auch privater Lektüre, die Nähe zu entstehenden Dichtungslehren sowie eine plurale Wirkungsästhetik, die um Probleme wie literarisch-phantasiebetontes Spiel, Affekterzeugung, Irritation und Katharsis sowie moralische Erkenntnis q u a Literatur kreist, lassen darauf schließen, dass die Liebesgedichte der Loire-Dichter (i) im erweiterten institutionellen Milieu der nordfranzösischen Kathedralschulen zirkulierten.7 Zu folgern ist auch, dass sie darüber (ii) einen gemeinsamen, semi-öffentlichen Raum des Literarischen eröffneten, der (iii) über antike Stoffe wie vor allem die Praxis des Schreibens mit dem zeitgenössischen Unterricht verbunden war und (iv) die literarische – zwischen Affirmation, Ausgleich und Subversion angesiedelte – Verhandlung der prekären Probleme von Zölibat und kirchenreformerischer Sexualität ermöglichte. Insbesondere die Frage nach dem Zusammenhang von Subjekt, Selbstkontrolle und Norm scheint dabei im Vordergrund gestanden zu haben.8 Im Bereich der eigentlichen Liebeslyrik zeigen sich erste Spuren um die Mitte des elften Jahrhunderts. So schildert der Satiriker Sextus Amarcius die performance eines iocator, der auf dem Platz eines Herrensitzes gegen Lohn neben anderen weltlichen Texten ein Liebesgedicht darbietet, das auch in der zeitgenössischen ‚älteren‘ Cambridger Liedersammlung überliefert ist. Es handelt sich gewissermaßen um eine archetypische Szene, die nicht nur die konstitutive Rolle der Musik für die Gattung illustriert, sondern auf einen ersten ‚semi-öffentlichen‘ Raum der Aufführung weist.9 Fundamental für die Weiterentwicklung des lyrischen Modus der Liebesdichtung im zwölften und dreizehnten Jahrhundert sind der weltliche und geistliche Hof sowie das intellektuelle Milieu der Kathedralschulen und der (sich formierenden) Universitäten. Aufs Ganze gesehen handelt es sich um einen hybriden Raum, der für die Produktion und Rezeption der Gattung eine fundamentale Rolle spielt. Im Hinblick auf die Darbietung der Texte muss mit (zumeist musikalischem) Vortrag von professionellen S ä n g e r n (jongleurs, ioculatores), anwesenden Klerikern und vermutlich auch Autoren gerechnet werden. Diesem Raum strukturell verwandt ist die von Abaelard und Heloise berichtete Zirkulation seiner Liebeslieder auf den Straßen von Paris oder die aus zahlreichen Quellen erschließbare Präsenz von Liebesliedern in universitären Milieus. Dazu kommt allerdings die auch private, besser persönliche Lektüre: Einschlägig ist hier etwa der Bericht Guiberts von Nogent über die erregenden Leseerfahrungen seiner Jugend oder das Anliegen eines jungen (namenlosen) Mönchs, der Petrus von Blois um die (briefliche) Zusendung seiner Liebesgedichte bittet, um 6 Zu den Loire-Dichtern vgl. Bond 1986; Bond 1987; Bond 1995; Moser 2004, 17–65, sowie die Arbeiten von Tilliette (1992; 1999). 7 Vgl. Bond 1995 und Aigner 2014. 8 Vgl. dazu Bezner 2018a. 9 Text und kurze Darstellung der Szene bei Ziolkowski 1994, xliv–liii.
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Sorgen und Langeweile zu vertreiben. Anders als bisweilen suggeriert, schließen sich diese Rezeptionsmodi dabei nicht aus und werfen eine Reihe konzeptioneller Fragen zur Rezeption auf, die von der Forschung bislang noch kaum adressiert wurden. So muss etwa das Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit vor dem Hintergrund konzeptualisiert werden, dass Modi der Schriftlichkeit gerade die gelehrte Mündlichkeit lateinischer Kleriker zu prägen vermögen. Umgekehrt muss untersucht werden, inwiefern die Lektüre mittellateinischer Liebesgedichte eine ihr Verständnis prägende imaginäre, vorgestellte Aufführung, aktuale Rede und damit auch Inszenierung eines klerikalen Subjekts impliziert. Einen weiteren, institutionell anders zu verortenden und in Bezug auf Öffentlichkeit und performance anders strukturierten Raum der Darbietung mittellateinischer Liebeslyrik bieten Tanz und Fest. Die Präsenz lateinischer Lieder im Rahmen dieser zumeist mit der Volkssprache assoziierten Praxis zeigt sich dabei sowohl an der Form der Lieder als → Tanzlieder wie an der in diesen Liedern oft anzutreffenden Aufforderung zu Tanz und geteilter Freude sowie nicht zuletzt an der kirchlichen Gesetzgebung, die die Beteiligung junger clerici am Tanz in und außerhalb der Kirche zu regulieren und zu verbieten versucht.10 Die überwiegende Zahl der lyrischen Gedichte ist anonym. Nicht nur im einschlägigen Fall Peter Abaelards muss zudem von Überlieferungsverlusten ausgegangen werden; denn abgesehen von weiteren Autoren wie Henri von Huntington oder Joseph Iscanus, deren Liebeslieder verloren oder nicht identifizierbar sind, dürfte eine große Zahl von Liebesgedichten unter jene Schulübungen oder nugae zu rechnen sein, die nicht überliefert wurden. Ob dafür maßgeblich eine Selbstzensur der Autoren verantwortlich ist, bleibt hypothetisch.11 Im Ganzen sind nur eine Handvoll von Autoren – Petrus von Blois, Walther von Chatillon, Hilarius von Orleans, Arnulf von Lisieux, Serlo von Wilton und Hugo Primas – als Autoren von Liebesgedichten namentlich bekannt. Wichtig in Bezug auf die Produktion der Lieder ist, dass sich selbst diese bekannten Autoren weder namentlich nennen12 noch als Sänger im Sinne etwa Jaufre Rudels oder → Walthers von der Vogelweide bezeichnen oder inszenieren. Petrus von Blois, Walther von Chatillon, Hilarius von Orleans (und mutmaßlich das gros der unbekannten Verfasser) waren vielmehr (Welt-)Kleriker, die nach Ausbildung – und danach oft Lehre – an Kathedralschulen typische klerikale Funktionen an geistlichen und weltlichen Höfen ausübten und lyrische Texte als Teil ihrer intellektuellen Praxis verfassten.13 Prototypisch ist etwa die Karriere Peters von Blois, der nach Studien in Tours (bei Bernardus Silvestris), Paris und Bologna ab 1172 an geistlichen und weltlichen Höfen, insbesondere dem Hof Heinrichs II. von England, aktiv ist, bevor er 1183 zwar nicht die Bischofswürde, aber ein höheres kirchliches Amt (Archidiakonat) 10 Dazu Spanke 1983 („mittelalterliche Tanzlieder“). 11 Dazu Haye 2016, 437‒438. 12 Das Akrostichon „Petri“ in den Arundel-Gedichten ist eine Ausnahme, aber eher als Signatur denn als Sänger- oder gar Autorinszenierung zu verstehen; vgl. zum Akrostichon Wollin 1998, 102–104. 13 Zum Ich-Subjekt der Lyrik vgl. auch unten.
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erhält, dessen Rang ihn mutmaßlich – Marbod von Rennes und anderen vergleichbar – in kritische Distanz zu den früher verfassten carmina amatoria gehen lässt. Ähnlich erscheint der Werdegang Walthers von Chatillon, der nach Studien in Paris als grammaticus in Laon, Kanoniker in Reims, Mitglied der Kanzlei Heinrichs II. von England sowie ab 1176 im Umfeld Wilhelms von Champagne, des mächtigen Erzbischofs von Reims, tätig ist. Der institutionelle Kontext der Autoren korreliert dabei mit der diskursiven Präsenz von Wissensinhalten und Intertexten, die mit den Milieus von Schule, Universität und Hof verbunden sind. Zu nennen wären dabei Spuren naturphilosophischen (selten theologischen) Wissens,14 die Präsenz antiker, im Schulraum verhandelter Texte (s. u.) sowie – konzeptionell vielleicht am interessantesten – der Einfluss der Kommentare zu diesen antiken Texten auf die in Liebesgedichten zitierten oder evozierten antiken Intertexte. Parallel dazu finden sich höfische Muster aus den volkssprachlichen Literaturen (etwa in Form von Anspielungen auf die Fernliebe). Was den Status der Liebeslyrik in den intellektuellen Milieus des hohen Mittelalters angeht, so ließe sich unter Einschluss monastischer Räume zwar von einer „Art von klerikaler Unterhaltungskultur“15 sprechen; allerdings verdeckt ein derart umgreifender Begriff sowohl die diversen Nuancen klerikaler Unterhaltung wie vor allem die inhaltliche Dimension der Texte. Neuere Arbeiten beginnen herauszuarbeiten, dass sich zumindest die gelehrte Brechung gerade dieser Gattung als Verhandlung von Fragen versteht, die für die hybride Identität und Selbstdefinition dieser Kleriker zwischen geistlichen und weltlichen Institutionen sowie das prekäre Problem klerikaler Sexualität von Bedeutung waren.16
3 Überlieferung Insgesamt sind knapp 200 Manuskripte mit ungefähr 600 Liebesgedichten bekannt.17 Als zentrale Matrix für die handschriftliche Überlieferung erweisen sich, anders als vielleicht zu erwarten, weniger die materialen Parameter der antiken lateinischen Literatur (geschweige denn die der antiken Liebeselegie), sondern vielmehr die der mittelalterlichen lateinischen (weltlichen und geistlichen) Lyrik tout court – und damit einer Gattung, die vergleichsweise wenig Status besaß und über keine wirkliche Tradition der Verschriftlichung verfügte.18 Prinzipiell lassen sich dabei zwei fundamentale Modi 14 Vgl. z. B. Bezner 2018b. 15 Begriff von Stäblein 1975, 64. 16 Vgl. etwa Moser 2004, 2–14, insb. 9‒10, sowie Bezner 2018a. 17 Vgl. Dronke 1968, II, 545–583. 18 Grundlegend zur Überlieferung weltlicher lateinischer Lyrik Lenzen 1973 und Bourgain 1991. Weitere wichtige Studien sind: Boutemy 1949; Rigg 1977; Rigg 1978; Rigg 1979; Rigg 1981; Vernet 1949; Wilmart 1936; Wilmart 1941; Wilmart 1958. Vgl. auch die Darstellung der Überlieferung der Gedichte des Petrus von Blois bei Wollin 1998, 35–132, sowie sporadisch bei Moser 2004.
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der Überlieferung differenzieren: zum einen die – oft irreführend und zu abwertend als ‚Streuüberlieferung‘ bezeichnete – Aufzeichnung einzelner oder mehrerer, sei es verbundener, sei es unzusammenhängender Gedichte in Form von Ein- und Nachträgen; zum anderen die Überlieferung im Rahmen von mehr oder weniger planvoll angelegten Sammelhandschriften, die auf verschiedene Intentionen hin angelegt zu sein scheinen und ihrerseits nicht notwendig ausschließlich lyrischen (geschweige denn liebeslyrischen) Texten gewidmet sein müssen. Aufgrund des relativen Fehlens einer geschlossenen Überlieferung von Autorencorpora geht auch die Überlieferung der bekannten Verfasser lateinischer Liebesgedichte in beiden Modi auf.19 Anders als in den volkssprachlichen Disziplinen hat die mittellateinische Forschung die Überlieferung der Liebesdichtung nicht selbständig, sondern nur im Zusammenhang editorischer Überlegungen sowie im Rahmen einiger weniger kleinerer Arbeiten zur Überlieferung der weltlichen Liebesdichtung aufgearbeitet. Anders als in den volkssprachlichen Philologien wurde dabei die Perspektive einer material philology kaum genutzt, die durch die Analyse der Überlieferung Erkenntnisse über Leser, Retextualisierung und implizite Konzeptualisierung der (Liebes-)Lyrik zu gewinnen sucht. Die folgende Darstellung möchte das hierin liegende Potential zumindest andeuten.20 Die Einzelüberlieferung beginnt früh und zieht sich durch das gesamte Mittelalter bis ins vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert.21 Eingetragen wurden Gedichte an allen freien Stellen (vorderer und hinterer Spiegel, unbeschriebene Blätter, freier Platz innerhalb oder zwischen den Haupttexten; in margine); das Layout ist dabei vom verfügbaren Platz oder der jeweiligen mise-en-page bestimmt. Die Handschriften, in denen Liebesgedichte überliefert werden, reichen von Handschriften mit Schultexten bis hin zu geistlichen Handschriften – schlagend ist etwa der Eintrag eines Liebesgedichts in einem Evangelienkommentar aus dem vierzehnten Jahrhundert.22 Auswahl und Anzahl der eingetragenen Gedichte richten sich dabei nach Interesse, Geschmack und „Laune“23 des Eintragenden; ein unmittelbarer Bezug zu den in der Handschrift überlieferten Haupttexten besteht in der Regel nicht. Eine trotz dieses Befundes methodisch legitime Konzeptualisierung dieser paratextuellen Koexistenz wurde bislang nicht geleistet und müsste wohl an Fragen von Kanonizität sowie an der kulturellen Logik des Verhältnisses geistlicher und weltlicher Diskurse, Textualitäten und Räume ansetzen. Einige der in der Forschungsliteratur als ‚Sammlungen‘ verstandenen Zusammenstellungen von Gedichten, etwa die Petrus von Blois zugeschriebenen Arundel-Gedichte oder die ‚Sammlung Ripoll‘, sind in ebendieser Form als zwar geschlossene, aber nachträgliche Einträge überliefert. Kohärenz in der Zusam19 Vgl. etwa den Fall Peters von Blois mit Wollin 1998, 35–132. 20 Vgl. Nichols 1990. 21 Vgl. etwa Bourgain 1991, 61. 22 London, British Library, Arundel 102 (dazu Bourgain 1991, 72). Weitere Beispiele für Einzelüberlieferung bei Dronke 1968, II, 541–583. 23 So Bourgain 1991, 72.
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menstellung geht somit nicht notwendig mit ‚Anthologisierung‘ oder taxonomischer Anlage in kodikologischer Hinsicht einher. Unter den nicht-geistlichen Texten, die auf diese Weise überliefert wurden, lassen sich dabei eine Handvoll von Gedichten, die sehr häufig ein- oder nachgetragen wurden, als populäre ‚Klassiker‘ bezeichnen, darunter ein einziges Liebesgedicht, das auch im Codex Buranus überlieferte Gedicht Phyllis et Flora.24 Als komplexer erweist sich die Überlieferung lateinischer Liebesgedichte im Rahmen von Sammelhandschriften, die in Bezug auf Form, Intention und Funktion differenziert werden müssen. Unter den wenigen noch erhaltenen (oder zumindest erschließbaren) frühen libelli, die als Zusammenstellungen von Werken eines Autors, einer formal oder inhaltlich kohärenten Gruppe von Gedichten oder eines Repertoires oft einen nahen Bezug zur ursprünglichen Produktion beziehungsweise zur Aufführung der Texte nahelegen, finden sich Liebesgedichte etwa im Rahmen der – geistliche wie weltliche Texte umfassenden – Sammlung der Gedichte des Abaelard-Schülers Hilarius von Orleans. Aufgenommen wurden derartige libelli bisweilen auch in späteren Handschriften (und werden damit indirekt, aber selten zweifelsfrei rekonstruierbar). Ein zweiter Typus von Sammelhandschrift ist mit den für die Entwicklung der weltlichen lateinischen Lyrik zentralen musikalischen Zentren Nordfrankreichs verbunden. So finden sich in den in Saint-Martial de Limoges produzierten musikalischen Sammelhandschriften seit dem zwölften Jahrhundert auch Liebesgedichte (s. u.), allerdings im Vergleich zu anderen lyrischen Textsorten – insbesondere der moralisch-satirischen Dichtung – in weit geringerer Zahl; drastischer noch ist dieses Ungleichgewicht – das vermutlich auf die prekäre Natur der Gattung zurückzuführen ist – in den Conductus-Handschriften, die das Repertoire von Notre-Dame versammeln (s. u.). Wenn vorhanden, werden Liebesgedichte im Rahmen dieser Sammelhandschriften zusammen mit sowohl geistlicher, insbesondere auch liturgischer, Dichtung wie auch zusammen mit weltlicher Lyrik überliefert (vor allem im Kontext moralisch-satirischer Dichtungen und Planctus). Bedeutsam für das in diesem Überlieferungsmodus implizite Gattungsverständnis ist dabei weniger die Spannung zwischen geistlicher und weltlicher Textualität; kohäsives Prinzip und Grundlage der Überlieferungsmatrix ist vielmehr die Form, genauer die musikalische Dimension der Texte. Die lateinische Liebeslyrik des Mittelalters konnte somit wie weitere Gattungen weltlicher lateinischer Dichtung auch als Form von Musik wahrgenommen werden. Mit der älteren Cambridger Liedersammlung25 kündigt sich ein neuer Über lieferungstypus an, dessen ab 1150 zunehmende Produktion und Popularität mit dem Erstarken und der Transformation intellektueller Milieus und Institutionen in Frankreich und später England (insbesondere Oxford), mit der politischen und ökonomischen Stabilität einzelner Regionen (Loire) sowie der Schriftkultur der großen
24 Vgl. Bourgain 1991, 72 mit Anm. 30. 25 Cambridge, University Library, MS Gg. 5.35 mit Ziolkowski 1994 und jetzt Llewellyn 2015.
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Abteien Nordfrankreichs erklärt werden kann.26 In diesen Handschriften werden lateinische Liebesgedichte unter Benutzung früherer – überwiegend verlorener – Sammlungen oder Vorlagen in einem Spektrum von Überlieferungstypen versammelt und verschriftlicht, das sich von Exzerptsammlungen und Florilegien bis hin zu reinen Gedichtanthologien erstreckt. Die meisten der einschlägigen Florilegien des dreizehnten bis fünfzehnten Jahrhunderts27 überliefern lateinische Liebesgedichte im Kontext von (i) modernen Schulautoren wie Bernardus Silvestris, Alanus von Lille und Johannes von Hauvilla, (ii) moralisch-satirischen Gedichten und politischen Liedern sowie (iii) Exzerpten aus Prosatexten verschiedener Genres (in der Regel Traktaten, auch Predigten moralphilosophischer Natur). Implizit wird die Liebeslyrik damit nicht über ihre sei es sprachliche, sei es musikalische Form, ihren Inhalt oder ihre Autorschaft definiert, sondern vielmehr als Element eines Kanons von neuer Schulliteratur sowie als Teil eines Ideen-, Text- und Diskursclusters verstanden, der für das intellektuelle Milieu der Kathedralschulen charakteristisch ist. Dazu fügt sich, dass zu den oben genannten Begleittexten (iv) auch die gerade im Entstehen begriffenen Dichtungslehren zählen, die mit ihren stilistischen Präzepten nicht nur auf die Liebeslyrik gewirkt haben, sondern auch selbst Liebesgedichte produzieren beziehungsweise überliefern (s. u.). Die konzeptionellen Implikationen, die die Präsenz der Liebeslyrik in diesem diskursiven Rahmen zeitigt, wurden weder für die Interpretation einzelner Texte noch für das Verständnis der Gattung im Ganzen von der Forschung abschließend erörtert. So kommt es etwa – um nur ein Beispiel für diese Dimension zu nennen – immer wieder zu dem interessanten Phänomen, dass erotische Dichtung in diesen Florilegien oft in unmittelbarem Kontext zu misogynen, antifeministischen und lustfeindlichen Prosatraktaten überliefert wird. Bisweilen finden sich dabei – etwa im berühmten Bekynton-Florilegium oder in der Handschrift Auxerre Ms. 243 – Konstellationen, bei denen en bloc überlieferte Liebesgedichte durch sexualitätsfeindliche (oder diesbezüglich zumindest ambivalente) Texte eingeleitet und abgeschlossen – und damit: kritisch gerahmt – werden.28 Im Ganzen dominieren in diesen Florilegien dabei allerdings unter den lyrischen Texten moralisch-satirische und politische Lieder, insbesondere im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert. Ein Vergleich der Handschriften zeigt dabei häufig die für die lateinische Lyrik des Mittelalters im Ganzen häufige Überlieferungsart in Form von ‚Nestern‘, also immer wiederkehrenden Konstellationen zusammen überlieferter Gedichte. Als Produktionsorte dieses Handschriftentyps
26 Summarisch dazu etwa Bourgain 1991, 73, 75‒76. 27 Einschlägig hier das Florileg des Thomas Bekynton: Oxford, Bodleian Library, Ms. Add. A 44 mit Wilmart 1941 und Wilmart 1958; Auxerre, Bibliothèque municipale, Ms. 243 mit Vernet 1949; Zürich, Zentralbibliothek, C 58 mit Werner 1905; der mehrfach überlieferte ‚Floridus Aspectus‘ des Petrus Riga, vgl. dazu Boutemy 1948 und Boutemy 1949; Cambridge, Corpus Christi College, Ms. 228 mit Lenzen 1973. Zum Sonderfall Saint-Gatien vgl. Wilmart 1936. 28 Vgl. die Handschriftenbeschreibungen bei Wilmart 1941, 50–53, 62–63, 67–69 (Bekynton-Florileg), und Vernet 1949, 255–267 (Auxerre Ms. 243).
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lassen sich Kathedralschulen, Klöster (!) und im Spätmittelalter insbesondere auch das intellektuelle Milieu Oxfords namhaft machen. Die Provenienzgeschichte zeigt dabei, dass die Liebeslyrik trotz des Abflauens der Produktion von neuen Liedern gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts29 gerade im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert in gelehrten Milieus immer wieder auf Interesse und Leser stieß (deren Spuren in den Handschriften kaum ausgewertet sind). Unter den eher gedichtzentrierten Sammelhandschriften oder ‚Anthologien‘ sind einschlägige Handschriften wie das Florilegium vom Typ Saint-Gatien oder der einflussreiche, von Petrus Riga zusammengestellte ‚Floridus Aspectus‘ zu nennen, in denen Liebesgedichte Hildeberts von Lavardin oder Marbods von Rennes im Verein mit weiteren Gedichten anderer Autoren überliefert werden. Die nach 1039 entstandene ältere Cambridger Liederhandschrift30 versammelt (in ihrer rekonstruierten Form) spätantike christliche Dichtung samt Glossen, karolingische und anglo-lateinische Gedichte sowie insgesamt 81 – in der Forschung zumeist als ‚Cambridger Lieder‘ bezeichnete – im weiteren Sinne lyrische Texte. Dabei handelt es sich neben Anfangszeilen der Metra aus Boethius’ ‚Consolatio Philosophiae‘ sowie vereinzelten antiken Metren (Horaz, Vergil) um panegyrische, politische, komische, religiöse, adhortative Gedichte sowie um insgesamt sieben, teils unvollständig überlieferte oder nachträglich wegen ihres erotischen Gehalts unlesbar gemachte Liebesgedichte, darunter die berühmte Invitatio amicae. Während zahlreiche Gedichte dieser Anthologie auf gelehrte Zirkel, vielleicht sogar die Kanzlei Konrads II. / Heinrichs III. verweisen, sind andere, darunter ein Liebesgedicht, Teil der von Sextus Amarcius berichteten Aufführung eines iocator.31 Ob als Liederbuch eines (dann vom Rheinland nach England fahrenden) Sängers, ob als Produkt eines Liebhaberkreises oder als Sammlung für den Schulbetrieb intendiert,32 produziert diese Liedersammlung eine erste Anthologie, in der Liebesdichtung als Teil anderer Gedichttypen begriffen und verschriftlicht wird. Während die im zwölften Jahrhundert entstandene ‚Sammlung X‘, die eine Reihe einschlägiger Liebesgedichte versammelte, nur rekonstruierbar ist,33 stellt die wohl um 1225 in Südtirol oder Kärnten entstandene Sammlung der zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wiederentdeckten Carmina Burana den unbestrittenen Höhepunkt der Überlieferung mittellateinischer Liebesdichtung dar.34 In dieser bedeutends ten, planvoll aus verschiedenen Vorlagen arrangierten Sammlung nicht-geistlicher Literatur bilden die Liebesgedichte nach moralisch-satirischen Dichtungen und vor
29 Dazu Dronke 1986, etwa 29‒30. 30 Dazu der Überblick bei Ziolkowski 1994 mit Bibliographie und jetzt Llewellyn 2015. 31 Vgl. oben Anm. 9. 32 Übersicht der Ansichten zu Entstehung und Kontext dieser wichtigen Handschrift bei Ziolkowski 1994, xx–xxv; vgl. Llewellyn 2015. 33 Hierzu Lenzen 1973, 87–97. 34 Konzis Bernt 1987; CB sowie immer noch einschlägig Schumann 1930; dazu Klemm 1998, 121–124. Auf die Angabe weiterer Literatur muss aus Platzgründen verzichtet werden.
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den Trink- und Spieleliedern die mittlere und insgesamt größte Abteilung und sind selbst nach formalen und inhaltlichen Kriterien in Gruppen angeordnet. Einem Teil, der auf die zeitgenössische literarische Kultur im Umfeld der nordfranzösischen Kathedralschulen weist, steht dabei eine große Gruppe deutsch-lateinischer Lieder gegenüber.35 In Bezug auf ihre mise-en-page wird die lateinische Liebesdichtung – zu der weder Glossierung noch Kommentare bekannt sind – auf zwei Weisen präsentiert: entweder mit Zeile für Zeile abgesetzten Versen wie im Fall der Überlieferung der metrischen Dichtung oder in kontinuierlicher, unabgesetzter Schreibweise, wobei die Einheiten Vers, Strophe und Refrain durch Initialen, Rubrizierung, litterae notabiliores, Majuskeln oder punctus voneinander unterschieden werden (können). Für das Verständnis der mise-en-page lassen sich dabei drei konzeptionelle Parameter unterscheiden, die in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen und weiterer Erforschung bedürfen: zum einen der Einfluss des Layouts der antiken metrischen Dichtung (insbesondere des elegischen Distichons), das eine zeilenhafte Absetzung einzelner Verse privilegiert, vor allem im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert auch für die Liebesl y r i k zunehmend wichtig wird und damit ein modernes, weil Zeilen und Strophen visuell durch Abtrennung differenzierendes Konzept der lyrischen Form vorbereitet oder impliziert; zweitens die jeweils herrschende Ästhetik der Seitengestaltung, insbesondere die Bereitschaft, das visuelle Vakuum zu tolerieren, das durch eine moderne Transkription eines Verses pro Zeile unausweichlich entsteht oder entstehen würde; sowie last but not least die ästhetische Dynamik der lateinischen L y r i k selbst. Anders als die metrische Dichtung privilegiert die lyrische Dichtung des lateinischen Mittelalters nämlich – gerade im Fall der Sequenz und allen verwandten Formen – nicht prinzipiell den einzelnen Vers als Vers, sondern erzeugt, teils als Folge einer melodiebasierten Gestaltung, eine kontinuierliche Phrase, die nicht durch Verseinschnitte wesentlich rhythmisiert wird, sondern formale und inhaltliche Spannungsbögen, sich durchziehende Rhythmen sowie die Verklammerung größerer Abschnitte durch Wiederholung, Spiegelung und Kontrast ermöglicht.36
4 Formale Gestaltung (Metrik) und musikalische Dimension Wie die weltliche lateinische Lyrik im Ganzen ist auch die formale Struktur und musikalische Dimension der Liebesdichtung im Spannungsfeld geistlicher und volkssprachlicher Formen zu verorten. Im Hinblick auf ihre dichterische Form stehen der
35 Vgl. dazu unten. 36 Hierzu Bourgain 1991, 82–84.
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Gattung auf Ebene der einzelnen Zeile dabei drei basale Möglichkeiten zur Verfügung: (i) die antiken quantifizierenden Versmaße, insbesondere Hexameter und elegisches Distichon sowie ihre mittelalterliche Brechung (leoninischer Hexameter); (ii) eine rhythmische Gestaltung der Verse, also der geregelte Wechsel betonter und unbetonter Silben, überwiegend verbunden mit Endreim und der Zählung der Silben im Vers; sowie schließlich (iii) eine im Prinzip rein melodieabhängige Gestaltung, wie sie sich insbesondere im Rahmen der dem volkssprachlichen leich (lai) verwandten Sequenz zeigt. Metrische Gedichte finden sich dabei insbesondere bei den Loire-Dichtern; es dominiert in der Nachfolge Ovids das elegische Distichon, das durch zeittypische Stilmittel geprägt ist. Die seltenere Verwendung leoninischer Hexameter bei Marbod von Rennes und später Hugo Primas war demgegenüber wohl als bewusste ästhetische Gegenstrategie zur Eleganz und Verspieltheit des elegischen Distichons intendiert und verband sich zumeist mit einer zynisch-entlarvenden Konzeptualisierung der Überhöhung von Liebe, Beziehung und Sexualität. Zentral für die Lyrik ist die rhythmische und melodieabhängige Gestaltung der Verse, die sich in vier grundlegenden Formen des Aufbaus der Lieder niederschlägt:37 (i) dem Strophenlied, das aus gleich gebauten, über ein- oder zweisilbigen Paar- oder Endreim miteinander verbundenen Strophen mit oder ohne (bisweilen aus einer antiken auctoritas geschöpftem) Refrain besteht; (ii) der Sequenz, die in ihrer basalsten Form aus verschieden gebauten Doppelstrophen (a- und b-Versikel) besteht (A A B B C C D D), aber auch unregelmäßige Responsion (A B B A) oder doppelten Cursus (A A B B C C D D A’ A’ B’ B’ C’ C’ D’ D’) aufzuweisen vermag; (iii) dem lais lyrique, einer Art ‚freiem‘ Leich, in dem Versikel wiederholt werden oder responsionslos bleiben können; (iv) dem Descort, bei dem Strophen ohne Responsion einmalig aufeinander folgen. Die prinzipiell verschiedenen Modi der Vers- und Strophengestaltung können dabei miteinander verbunden werden: Häufig ist die r h y t h m i s c h e (teils mit Reim verbundene) Gestaltung der Verse in m e l o d i e a b h ä n g i g e n Formen. Dazu kommt die Benutzung quantitierender Versmaße im lyrischen Umfeld, am sinnfälligsten in der auctoritas als Refrain oder Abschluss der einzelnen Strophen eines Strophenliedes. Durchaus auch anzutreffen ist schließlich die Fusion quantitierender und rhythmischer Formen. Wichtig für die formale Analyse sind die jeweilige Spezifik und Kombination der rhythmischen Schemata einzelner Verse sowie die Architektur der Strophen im Gedicht im Ganzen. Dazu kommt die Reinheit und Ein- oder Zweisilbigkeit des Reimes, die Vermeidung von Hiat sowie Tonwechsel (Taktwechsel). Besondere Effekte können sich durch die Verwendung einschlägiger, spezifisch konnotierter Vers- und Strophenformen ergeben, etwa durch die Verwendung liturgischer Schemata oder der Vagantenstrophe.38 Tonbeugungen schließlich müssen nicht notwendig als Zeichen mangelnder sprach-
37 Vgl. dazu grundlegend Meyer 1970 [1905], 329–333; dazu Schaller 2001, 84–93, und auch Wollin 1998, 144–146. 38 Vgl. Schaller 2001, 84–92.
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licher Kompetenz der Verfasser verstanden werden, sondern können Teil bewusster literarischer Gestaltung sein. Im „Rätsel“39, das die mittelalterliche Musik als Folge der Flüchtigkeit ihres Mediums und ihrer medialen, diskursiven und institutionellen Alterität der modernen Analyse (und nicht zuletzt: Rekonstruktion) bietet, muss die musikalische Dimension der mittellateinischen Liebeslyrik als Teil des übergreifenden Problems des weltlichen lateinischen – in der Regel einstimmigen – Liedes verstanden werden. Diese Problematik kann (i.) nur vor dem historischen, systematischen und rekonstruktionsgeschichtlichen Hintergrund geistlicher (lateinischer und volkssprachlicher) Entwicklungen verstanden werden und ist (ii.) gerade im Vergleich dazu erstaunlich wenig erforscht. So ist eine Geschichte des w e l t l i c h e n lateinischen Liedes trotz wichtiger Einzelstudien ein Desiderat musikwissenschaftlicher Forschung.40 Unter den zahlreichen Zeugnissen für die Praxis einer weltlichen lateinischen Musik während der ersten, ‚karolingischen‘ Phase mittelalterlicher Musik (bis 1030) finden sich neben Planctus, historischen Gedichten und Vertonungen antiker Metren auch – wenngleich in geringerer Zahl – Melodien von Liebesliedern.41 Einschlägig ist dabei insbesondere das früheste lateinische Liebesgedicht des Mittelalters, Iam, dulcis amica, venito, dessen – teils in diastematischen aquitanischen, teils in adiastematischen Neumen überlieferte, wohl schon im zehnten Jahrhundert aufgezeichnete und vermutlich vom Autor des Gedichts komponierte42 – Melodie in Syllabik und Schema (ABCD) auf die liturgische Hymnendichtung verweist, aber zugleich die Melodie des Liebesgedichts O admirabile Veneris idolum aufgreift, eines seinerseits populären Gedichts, dessen Verbreitung sich daran zeigt, dass seine Melodie vom berühmten Pilgergesang O Roma nobilis übernommen wurde.43 Vergleichbar verbreitet ist auch das Nachtigallenlied Aurea personat lyra, eine archaische Sequenz mit doppeltem Kursus, deren Melodie in Aurea frequentat lingua parodiert wurde und noch bis ins fünfzehnte Jahrhundert in die Volkssprachen ausstrahlte.44 Schon früh kommt es somit auch im Bereich der Liebeslyrik zu breiter, europäischer Zirkulation wie zu Interferenzen zwischen geistlicher und weltlicher Praxis. All diese frühen Liebesgedichte sind in der älteren Cambridger Liederhandschrift überliefert, die das Repertoire zeitgenössischer musikalischer Praxis spiegelt sowie auf deren Diffusion in gelehrte Milieus weist. Zugleich führt die handschriftliche Überlieferung auf den musikhistorisch wichtigen Kontext des Klosters von Saint-Martial, das keine musikalische Schule im eigentlichen Sinne (wie oft behauptet) darstellt, sondern ein wichtiges musikalisches Zentrum, in dem –
39 Stevens 1986, 8. 40 Grundlegende Studien für das Folgende sind Ludwig 1975 [1930]; Stäblein 1975; Stevens 1986, sowie die Arbeiten in Deeming und Leach 2015. 41 Vgl. etwa Ludwig 1975 [1930], 160–163; Stäblein 1975, 51‒52. 42 Vgl. Huglo 1982. 43 Hierzu Ludwig 1975 [1930], 160–163; Stäblein 1975, 51. 44 Vgl. Ludwig 1975 [1930], 160–163; Stäblein 1975, 51.
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anders als etwa in Sankt Gallen und auf der Reichenau – auch weltliche Lyrik gesammelt wurde,45 und zwar vielleicht als Teil jener „klerikalen Unterhaltungskultur“, die für die Entstehung und Praxis der weltlichen lateinischen Musik im Ganzen angesetzt wird.46 Die relativ große Zahl der in einer nächsten – für die Entstehung des einstimmigen (!) Gesangs quantitativ bedeutsamen, aber qualitativ weniger innovativen – Epoche (1030‒1200) entstandenen Lieder wurde in der Regel erst nach 1200 aufgezeichnet.47 Im Hinblick auf die Überlieferung der lateinischen Liebeslyrik erweist sich die oft angeführte Florentiner Handschrift Laur. Plut. 29.2, die das Repertoire der für die Entwicklung mehrstimmiger Musik zentralen Schule von Notre-Dame versammelt, als weniger bedeutsam: Der Codex enthält zwar weltliche, insbesondere moralischsatirische und politische Lieder, aber nur sehr wenige Liebeslieder.48 Als bedeutends ter Überlieferungsträger der weltlichen lateinischen Dichtung und insbesondere Liebesdichtung partizipiert demgegenüber der Codex Buranus – „ungewöhnlich für eine Handschrift aus dieser Zeit“ – gerade nicht von der epochemachenden Einführung diastematischer Neumen.49 Im Ganzen nicht für durchgängige Neumierung vorgesehen, wurden von vermutlich vier Händen und zahlreichen späteren Eintragungen insgesamt 42 Texte in jenen linienlosen Neumen notiert, die weder Tonhöhe noch Rhythmus erkennen lassen.50 Ein wichtiger Schwerpunkt der Neumierung lag dabei auf den zweisprachigen deutsch-lateinischen Liebesgedichten. Durch Kontrafakturen und Vergleich mit der Parallelüberlieferung – auch hier spielen die Repertoires von Saint-Martial und Notre-Dame eine wichtige Rolle – lassen sich insgesamt 45 Melodien, darunter die von 13 Liebesliedern, rekonstruieren, von denen lediglich 17 auch im Codex Buranus neumiert sind. Nicht wenige der im Codex nicht neumierten – und damit nur extrinsisch erschließbaren – Stücke repräsentieren dabei nicht notwendig den musikalischen Status zur Zeit ihrer Entstehung; da nur in späteren Sätzen überliefert, könnten ihre Melodien stark verändert oder gar erst später komponiert worden sein.51 Im Hinblick auf die musikalische Form und Gestaltung der rekonstruierbaren Lieder zeigt sich ein reiches Spektrum, das von einfachen Stücken (CB 88: ABCDEF) über archaische Sequenzen mit doppeltem Kursus (CB 73) bis hin zu sehr komplexen
45 Zur weltlichen Lyrik und Liebeslyrik in diesem Rahmen vgl. Stäblein 1975, 63‒64; Stevens 1986, 63. 46 Begriff von Stäblein 1975, 64, zitiert etwa von Stevens 1986, 63. 47 Vgl. Stäblein 1975, 57‒58. 48 Vgl. etwa Stevens 1986, 72. 49 Zitat bei Stevens 1986, 64. – Zur musikalischen Dimension der Carmina Burana: Lipphardt 1955; Lipphardt 1961; Stevens 1986, 63–65, 116–119; Korth 1979, insb. 174–178; Stäblein 1975, 53, sowie jetzt Bobeth 2015. 50 Hierzu Schumann 1930, 63*. 51 Vgl. Stevens 1986, 64. Ein Corpus der neumierten beziehungsweise rekonstruierbaren Texte jetzt bei Bobeth 2015, 93–97.
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Bauformen reicht (etwa CB 128: AB ABC DEF; CB 116: AAAA BCD EA F GHA).52 Die Rekonstruktion der Melodien ist umstritten und noch nicht abschließend analysiert; das Verhältnis der Melodien im Codex Buranus zu denen der Parallelhandschriften (insbesondere des Notre-Dame-Repertoires) ist komplex. Generell scheinen Melodien und Neumierung auf eine allgemeine Tendenz zu weisen, nämlich Melodien und Lieder verschiedenen Ursprungs zu neuen Einheiten zu verschmelzen.53 Vergleichbar dem Fall der Troubadour- und Trouvèrelyrik (→ Altokzitanische Lyrik, → Liebeslyrik in Nordfrankreich) und dem Minnesang handelt es sich bei diesen Liedern – und überhaupt beim gros der lateinischen Liebesdichtung – überwiegend um einstimmige Lieder, die sich freilich im Prinzip auch mehrstimmig setzen ließen. Der Schlüssel zu ihrer Erschließung liegt im Verständnis der Melodien, die prinzipiell vom Autor selbst oder von einem jongleur komponiert werden konnten und oft in wechselseitigem Austausch mit volkssprachlichen Melodien stehen.54 Bei Vortrag und Aufführung waren dabei prinzipiell Sologesang, instrumental begleiteter Gesang, Gesang durch mehrere Sänger sowie rein instrumentale, wort- und textlose Aufführung möglich.55 Trotz der Verwendung von Melismen erweist sich ein prinzipieller „Syllabismus“ als zentrales Formprinzip, bei dem textuelle Elemente – Worte, Phrasen, Strukturen – und Melodien aneinandergeführt werden.56 Mehr als in der volkssprachlichen Lyrik ergeben sich dabei aufgrund der Struktur der lateinischen Sprache im Falle akzentrhythmischer Bauformen musikalisch nutzbare Spannungen zwischen Wortakzent und Melodie, die durch die spezifische Komposition betont oder vermindert werden können.57 Das Verständnis des musikalischen Rhythmus ist in der Forschung umstritten:58 Prinzipiell denkbar sind ein deklamatorischer Rhythmus mit Betonung der Deklamation, improvisatorisches Rubato, ein mehr oder minder tanzartig realisierter Modalrhythmus, gleich lange Notenwerte, silbengleiche Rhythmen sowie Mischungen aller dieser Modi. Zentrale Prinzipien des musikalischen Baus sind Wiederholung, Refrain sowie Paarigkeit. Das Spektrum musikalischer Bauformen und Gattungen ist reich: Sie reichen vom einfachen Strophenlied über Tanzlieder und Rondeaus bis hin zu Sequenzen archaischen Charakters und komplex gebauten Sequenzen, Leichs und Conductus. Nicht nur als Folge der mittelalterlichen Notierung, sondern als Folge einer prinzipiellen Offenheit mittelalterlicher musikalischer Aufführung muss die Aktualisierung der Melodien mittelalterlicher Liebesgedichte in Vortrag und Aufführung prinzipiell im Rahmen einer offenen ‚Matrix‘ gedacht werden, die verschiedene Realisierungen derselben Melodie beziehungsweise des-
52 Vgl. Korth 1979. 53 Dazu Bobeth 2015, 114. 54 Vgl. Ludwig 1975 [1930], 188. 55 Vgl. Korth 1979, 174‒175. 56 Vgl. Stevens 1986, 82. 57 Vgl z. B. Stevens 1986, 67‒68. 58 Das Folgende nach Korth 1979, 174‒175. Starke Kritik an dieser Perspektive bei Bobeth 2015, 84‒85.
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selben Liedes zuließ.59 Das Verhältnis von Musik und Text unterscheidet sich dabei fundamental von der prinzipiellen Verschmelzung, die für die lateinische Motette und spätere Gattungen sowie nicht zuletzt das moderne (die Erwartungen an ein Lied prägende) Kunstlied charakteristisch sind. Untersuchen lässt sich die Melodie eines Liebesliedes auf ihren Bezug zu Wortordnung, Syntax und Phrasierung sowie auf das Verhältnis der musikalischen Gestaltung zu Bedeutung und symbolischer Dimension der Worte.60 Dabei avanciert die Melodie durch Akzentuierung, Betonung, Assoziation von Textelementen qua musikalischer Figur zum Mittel der Artikulation und Vermittlung der Texte im Zuge ihrer Aufführung; nicht anders als im Minnesang hat sie somit keine eigentlich interpretatorische, sondern eher eine begleitende, den Text profilierende Funktion.61
5 Themen – Motive – literarische Strukturen Im Hinblick auf ihre Themen, Motive und literarischen Strukturen erweist sich die mittellateinische Liebesdichtung als plurale Gattung, die auf einem Fundament immer wieder neu kombinierter Elemente basiert.62 Gemeinsam ist den Texten dabei zunächst das bekannte Arsenal von Topoi: serene, freudenbetonte Frühlingsstimmung; descriptio puellae und Schönheitspreis; Dialoge; die Evokation mythologischer Figuren (neben Venus/Dione und Cupido auch Danae, Daphne); sowie last but not least ein Eingang, der als harmonische Frühlingsstimmung, Anti-Frühlingsgestus oder astrologische Konstellation (sogenannte astrologische Periphrase) zwar vergleichsweise normiert gestaltet ist, in seiner spezifischen Gestaltung indes zahlreiche Spielräume offenlässt. Dazu tritt eine mit der medizinischen Tradition des Mittelalters verbundene Konzeptualisierung von Liebe und Begehren (amor), die noch weniger als in der Volkssprache auf Sublimation und Distanz gebaut ist, sondern sexuelle Erfüllung und Nähe ermöglicht und außerdem die Sprache und ‚literarische Grammatik‘ der Texte maßgeblich prägt. Ein männlich-gelehrtes Ich wird von Cupido/Amor/dem Pfeil oder dem schieren Anblick des als puella, virgo, amasia oder mit Decknamen (etwa Coronis, Thisbe, Lycoris) bezeichneten Mädchens getroffen und gerät dadurch in einen psycho-physischen Ausnahmezustand, der als mutatio oder sogar Verlust des Selbst beschrieben werden kann und im berühmten ersten Buch von Andreas Capellanusʼ ‚De Amore‘ archetypisch dargestellt ist. „Verwundet“ oder „vom Feuer getroffen“ entbrennt der Verliebte in einem unstillbaren Feuer des Verlangens, das nur von der Geliebten gelöscht zu werden vermag und das sich im Zustand des Wartens, Hoffens
59 Hierzu Treitler 2003, 455; vgl. auch Korth 1979, 174. 60 Prägnant dazu Treitler 2003, 455. 61 Vgl. dazu etwa Stäblein 1975, 84, 88‒89. 62 Guter Überblick der Kernelemente der Gattung bei Szövérffy 1994, 271–312.
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oder Zurückgewiesenwerdens oder ‒ angesichts der (eingetretenen oder vermuteten) Untreue des Mädchens ‒ als gesteigerte Unruhe, Lähmung (languor), Verlust des Zeitempfindens, Schlaflosigkeit, Appetitverlust, Abmagerung, Angst, Misstrauen, Eifersucht oder auch blanker Hass zeigen kann. Nicht selten kommt es darüber hinaus angesichts des oft stark wahrgenommenen Konflikts zwischen erotischem Begehren einerseits und rationaler Selbstkontrolle (ratio), Wissenschaft (studium) oder Keuschheitsgebot andererseits zu Zuständen quälender Ambivalenz. Bei der Imagination der Erfüllung hingegen dominieren seltener die aus dem Minnesang bekannten inneren Qualitäten als vielmehr Zustände von Glück und Macht, die sich als selbstbewusste Verführung, omnipotente Selbstermächtigung oder auch Vergewaltigung zeigen können. Zu differenzieren von dieser durch ‚Liebe als Krankheit‘ geprägten Affektivität sind die anders gelagerten Tanz- und Frühlingslieder. Wenig von Anspielungen an antike oder zeitgenössische Texte und Diskurse geprägt, sind sie – oft ohne explizit benannten Sprecher – von heiterer Frühlingsstimmung, Tanz und Musik, fröhlicher Geselligkeit, kollektivem ‚Wir-Gefühl‘ und einer pervasiven Appellhaltung bestimmt, die zu Frohsinn und Tanz auffordert und in Tonlage und literarischer Struktur vielleicht mit „frühen Schichten des deutschen Minnesangs“ verbunden sein dürfte.63 Im Ganzen sind eine Reihe von Untergattungen und Sprechmodi zu differenzieren, darunter Klagen, Dialoge, Verführungsszenen.64 Zudem lässt sich ein Spektrum von – in der Forschung erst ansatzweise differenziert und systematisch untersuchten – Spielarten, Mischformen und Sprechhaltungen unterscheiden. Dabei bedarf der Klärung, ob und wenn ja inwiefern sich die aus der Minnesangforschung bekannte Differenzierung in Untertypen oder auch die Unterscheidung zwischen einem erzählenden genre objectif und einem eher ‚persönlichen‘ Gestus auf die mittellateinische Literatur übertragen lassen (→ Erzähllied). Möglicherweise ist es für den Bereich der mittellateinischen Liebesdichtung sinnvoller, von Registern zu sprechen, die nicht als auf Formeln und Konventionen basierend gedacht werden, sondern als Dialektik von konstitutiven Voraussetzungen und ihrer Variabilität. Neben der dominierenden – sei es ‚berichtenden‘ oder verzweifelten, aggressiven, verführerischen, ironischen, zwischen Begehren und Hass pendelnden – Klage um das eigene Liebesleid sind eine Reihe anderer Formen zu erwähnen: Zunächst ist die vermutlich vor dem Hintergrund des romanischen Literatursystems zu begreifende Pastourelle zu nennen. Es handelt sich um eine Begegnung zwischen clericus und Mädchen, die im lateinischen Bereich, über das für die Volkssprache einschlägige Standesgefälle hinaus, aufgrund von Zölibat und Bildungsunterschied spezifische Spannungen zeitigt und literarisch zu verhandeln möglich macht, und dies nicht selten im Sinne einer Aufwertung der Stimme der Frau.65 Dazu tritt eine Zahl von Gedichten, die um die Thematik von Gewalt und Vergewaltigung kreisen, aus der Perspektive des männlichen Täters oder weibli63 Worstbrock 2004. 64 Übersicht bei Szövérffy 1994, 271–312; vgl. auch Schaller 2001. 65 Übersicht und Literatur bei Szövérffy 1994, 280–284.
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chen Opfers verfasst sind und sich durch die literarisch subtil erzeugten Affekte von Kritik, Abscheu und Mitleid im Rezipienten möglicherweise mit der klerikalen Position für Konsensualität in sexuellen Beziehungen verbinden lassen.66 Nicht weniger einschlägig sind Figurenreden mythologischer Gestalten (Dido/Aeneas, Ganymed), die die antiken Vorbilder nicht nur neu auftreten lassen, sondern anders verhandeln und damit auch kommentieren.67 Charakteristisch schließlich sind Gedichte, die die konstitutive Thematik des Begehrens mit anderen Gattungen verschmelzen: Hier sind das Streitgedicht zu nennen, das sich nun – oft ironisierend – als Wechselrede über die Qualität und Superiorität von clericus und/oder miles als Liebhaber zeigt; 68 die Vagantendichtung, über die sich die Haltung des verliebten clericus parodieren, ironisieren, desavouieren lässt; sowie die moralisch-satirische Dichtung, deren Sprechhaltung und Form es erlaubt, Schattenseiten der Sexualität – etwa die Armut der Prostituierten – sichtbar zu machen. Schon die Tatsache, dass das gros der überlieferten Liebesgedichte des lateinischen Mittelalters ohne Verfassernamen oder generischen Verfasser überliefert ist, lässt die Kategorie der Autorschaft weniger zentral erscheinen als in den volkssprachlichen Literaturen. Dazu tritt die prinzipielle Offenheit der mittelalterlichen Überlieferung wie das Phänomen der imitatio, das weniger mit Schulbildung zu Autoren denn mit einer prinzipiellen Modalität des Schreibens im Mittelalter verbunden ist. Trotz dieser strukturellen Hybridität und ungeachtet aller Attributionsprobleme zeigen sich bei den bekannten Autoren gleichwohl distinkte und in sich konsistente Interpretationen der Gattung, was Sprache, Liebeskonzept, thematische ‚Schwerpunkte‘ und ‚Agenda‘ der Texte betrifft. Als bedeutendster Liebesdichter des zwölften Jahrhunderts gilt seit jeher Petrus von Blois, dessen Liebesgedichte breit in einschlägigen Handschriften wie dem Codex Buranus oder der berühmten Florentiner Notre-Dame-Handschrift sowie in der Arundel-Handschrift zusammengestellt sind. Folgt man der wohlbegründeten communis opinio der Forschung, verbirgt sich hinter dem Autor dieser Liebesgedichte nicht ein ansonsten wenig einflussreicher Jurist Petrus Blesensis, sondern eben jener Autor Petrus von Blois, der neben Traktaten zum Hofleben sowie einer judenfeindlichen Schrift eine der berühmtesten und weitest verbreiteten Briefsammlungen des Mittelalters verfasste. Seine carmina amatoria zeichnen sich neben einer durchgehenden Tendenz zur Ironie und Doppelbödigkeit durch eine ungewöhnliche – insbesondere von einer Tendenz zur rhythmisierten Kurzzeile und spezifischen, immer wiederkehrenden Reimen geprägte – stilistische Eleganz und Konsistenz aus und weisen eine starke Nähe zu zeitgenössischen (mutmaßlich von ihm selbst verfassten) Dich-
66 Vgl. etwa CB 72 oder 185. 67 Übersicht bei Szövérffy 1994, 305–312. Einschlägig insbesondere die Klage Didos in CB 100. 68 Vgl. etwa CB 92 (De Phyllide et Flora).
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tungslehren auf, ohne auf sie reduziert werden zu können.69 Thematisch kreisen sie um ein Spektrum emotionaler, in Bezug auf das erfahrende Ich-Subjekt inszenierter Spannungen im Zusammenhang erotischen Begehrens. Dabei geht es um den Gegensatz zwischen einseitig-zerstörerischer und konsensuell-befriedender Liebe, um den Umschlag von Liebe und Gewalt sowie um die Ambivalenzen zwischen Rationalität, Selbstkontrolle und Norm einerseits versus Leidenschaft, Kontrollverlust und Rebellion andererseits. Zahlreiche Arbeiten korrelieren die Inszenierung dieser Spannungen mit einer zeittypischen Tendenz zu einer Dialektik des Sic-et-Non. Neuere Arbeiten versuchen einen Brückenschlag zu den hofkritischen Traktaten, die das Dilemma des Weltklerikers zwischen geistlicher Norm und Existenz am Hof thematisieren: Über das Thema des prekären erotischen Begehrens inszeniert Petrus von Blois in dieser Sicht Sprecher, die sich durch den Grad ihrer Einsicht in ihre eigene Verstrickung unterscheiden.70 Auch die Liebesgedichte des Abaelard-Schülers Hilarius von Orleans sind Teil eines breiteren Œuvres von Gedichten aus verschiedenen Gattungen und geistlichen Spielen.71 Vermutlich weisen sie zusammen mit einer Reihe verwandter – oder von Hilarius selbst verfasster – Carmina Burana (u. a. CB 95 und 117) auf einen „Kreis des Peter Abaelard“,72 dessen eigene Liebesgedichte bekanntlich verloren oder nicht identifizierbar sind. Hilarius’ rhythmisch innovative, vierzeilig gebundene Liebesgedichte kreisen zum einen um Frauen, die in stereotypem Preis von Schönheit, Reputation und moralischer Qualität beschrieben werden und darüber die Sublimation des sexuelles Begehrens der Sprecher ermöglichen. In einer zweiten Gruppe von Gedichten versuchen die Sprecher zum anderen über Scheinargumente, strategische Doppelbödigkeiten, emotionale Erpressung, missbräuchlichen Gebrauch religiöser Sprache und rhetorischen Bombast junge pueri (resp. einen älteren Gönner) zu verführen oder zu erpressen und dekonstruieren sich dabei selbst.73 Das in einer klerikalen Kultur prekäre Thema gleichgeschlechtlicher Liebe wird damit – den homoerotischen Gedichten Marbods von Rennes vergleichbar – durch kreative Fortschreibung einer antiken Gattung ‚von innen heraus‘ und im Vollzug desavouiert. Diesem Modus prinzipiell verwandt sind die von Serlo von Wilton und Hugo Primas verfassten Liebesgedichte, die stark satirische Züge zeigen und somit eher als Reaktion auf das basale Imaginäre der Gattung – den verliebten clericus – zu verstehen sind: Einschlägig ist etwa die Serie dreier (allerdings nicht lyrischer!) Liebesgedichte des Hugo Primas, die zunächst die erfolglose Werbung eines Klerikers, dann einen emotionalen Umschlag in blanken Hass sowie schließlich die schockierende Armut einer (oder der) nun ‚real‘ 69 Zum Stil des Petrus von Blois vgl. Lenzen 1973, 17–18; Dronke 1968, 320–335; Dronke 1976; Godman 1990; Wollin 1998, 104–118. 70 Vgl. Bezner 2018a. 71 Bulst und Bulst-Thiele 1989, insb. 1–18. 72 Vgl. Wollin 2009. 73 Dazu Latzke 1983 (dort auch die maßgebliche Edition der Gedichte).
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zur Prostituierten gewordenen Frau schildern. Eine diesen Autorencorpora vergleichbare Konsistenz in Sprache und Stil weisen die Liebesgedichte der unikal überlieferten (sogenannten) Ripoll-Sammlung auf. Metrisch äußerst vielfältig, orientieren sich die zwanzig Texte stark und kenntnisreich an Ovid – darunter ein äußerst anspruchsvolles und psychologisch subtiles Streitgedicht zwischen amicus und amica – und lassen sich als Zyklus verschiedener Stadien und Szenen des Verliebtseins lesen.74 Im Hinblick auf die Sprecher mittellateinischer Liebesgedichte dominiert im Ganzen das schon über seine Sprache und sein Wissen als gelehrt markierte klerikale Ich oder Subjekt, das über einen von den Rezipienten geteilten Wissens- und Erfahrungskontext verfügt und aufgrund dieser geteilten Diskurse und Horizonte auch subtil – zwischen den Zeilen, allusiv – zu kommunizieren vermag. Nur selten spricht ein weibliches Ich – und dann überwiegend als Adressatin männlicher Verführungsstrategien oder gar als Opfer männlicher Gewalt. Die meisten Tanz- und Frühlingslieder sind demgegenüber von einem kollektiven Wir oder einem nicht als ‚Ich‘ sich markierenden Sprechgestus geprägt. Anders als in der volkssprachlichen Lyrik kommt es in der mittellateinischen Liebesdichtung nicht zur Artikulation oder Inszenierung eines Sänger-Subjekts, und zwar weder als Inszenierung ‚realer‘ Autorsubjekte noch im Sinne des von anderen Gattungen der weltlichen lateinischen Lyrik bekannten ‚generischen‘ Autorsubjekts; zum „Golias“ oder dem „Archipoeta“ der Vagantendichtung findet sich in der lateinischen Liebesdichtung kein wirkliches Pendant. Die Absenz eines Autor-Subjekts und die damit verbundene ‚Anonymität‘ der Gedichte mag dabei in der prinzipiellen, durch die mittelalterliche Überlieferung verstärkten, Offenheit lyrischer Texte liegen, dürfte aber auch mit dem prekären Status erotischer Dichtung in einer auf Repression sexuellen Begehrens aufgebauten klerikalen Kultur verbunden sein. Vermutlich ist es kein Zufall, dass sich – von möglicher Selbstzensur durch Nicht-Veröffentlichung abgesehen75 – einige der bekannten Autoren im Zusammenhang ihrer Berufung in höhere geistliche Ämter von ihrer früheren Produktion von Liebesgedichten distanzieren. Auch die lateinische Liebesdichtung des Mittelalters reflektiert – sei es implizit, sei es explizit – über ‚sich selbst‘, und das heißt über ihren ontologischen Status, ihre Medialität, ihre Produktion und ihre Wirkung.76 Reflexivität dieser Art entsteht dabei über ein (wenig untersuchtes) Spektrum an Modi, die teils aus den volkssprachlichen Literaturen bekannt, teils spezifisch sind. Zu nennen sind: das bekannte Arsenal von Schlüsselbegriffen wie ‚Singen‘, ‚Schreiben‘, ‚Schein‘, ‚Traum‘, ‚Spiel‘; die Evokation einschlägiger Figuren wie etwa Orpheus; die Wiederholung von Momenten antiker Selbstreflexivität wie etwa die Reinszenierung des ovidianischen Amor-Autor-Dialoges; Urszenen des Schreibens und Evokationen der Wirkung von Liebesgedichten; 74 Edition und Analyse bei Latzke 1975. 75 Vgl. Haye 2016 und unten. 76 Auch dieser Aspekt der Gattung ist vergleichsweise wenig untersucht. Ansätze bei Elliott 1981; Kühne 2013; Bond 1986; Bond 1995; Moser 2004; Bezner 2018a.
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sowie schließlich Ausdrucksmodi, die über die benutzte Begrifflichkeit und stilistische Intensität Aufmerksamkeit auf die sprachliche Form und das Schreiben selbst zu lenken suchen. Die Interpretation dieser wichtigen Dimension der Gattung ist umstritten und bedarf weiterführender Klärung.77 Einer Forschungsposition zufolge zielen selbstreflexive Momente auf eine grundsätzliche Literarisierung und Fiktionalisierung, die nicht als Spiel mit der Lyrik selbst zu verstehen sei, sondern im Zusammenhang einer für die Gattung konstitutiven Konzeptualisierung der Liebe als rein textliches Phänomen verstanden werden müsse.78 Andere Analysen zielen darauf ab, ästhetische Reflexionsfiguren auf die spezifische Programmatik eines Autors, übergreifende Fragestellungen und Probleme oder auch den sozialen und institutionellen Kontext der Gattung sowie die Selbstdeutung ihrer Produzenten zu beziehen. So kreist etwa die immanente, stark von Ovid geprägte Poetologie Baudris von Bourgueil um den Rollen- und Spielcharakter der Liebesdichtung, die als phantasievolles und andeutungsreiches Spiel mit der Rolle des Liebhabers vom Druck des Zölibats entlastet oder gar als Kritik an einer im Zuge der Kirchenreform zunehmend geforderten und identitätsbildenden Selbstprüfung und Selbstnormierung verstanden werden kann.79 Vermutlich als Reaktion darauf entwickelt Marbod von Rennes ein Konzept von Wirkungsästhetik, das auf eine durch Beunruhigung und Verunsicherung entstehende Katharsis zielt, die es Rezipienten ermöglicht, sich gegen die Versuchung sexuellen Begehrens zu schützen.80 Im Bereich der Lyrik zeigt sich früh der Versuch, die musikalische und performative Dimension der Texte als zentrale Momente ihrer Medialität reflexiv sichtbar zu machen.81 Zumindest vereinzelt kommt es zudem – am Anfang einer gesamteuropäischen Tradition der Poetologie – zum Versuch, naturphilosophisches und medizinisches Wissen für eine ästhetisch dimensionierte und fruchtbar gemachte Therapie des sexuellen Begehrens zu entwickeln. Dabei zeigt sich in der Reflexion über Bildlichkeit und Wirkung deutlich ein Bewusstsein der Pluralität und auch der Gegensätzlichkeit ästhetischer Ordnungen.82 Der über verschiedene Formen und Modi der Reflexivität immer wieder generierte Bezug zu Textualität, Rhetorizität und Schreiben wird dabei zum Reflex einer der Gattung immanenten komplexen Funktion der Identitätsbildung:83 Über sprachliche Virtuosität bestätigen sich gelehrte (männliche) Weltkleriker in jener intellektuellen Kompetenz, die für ihre Karrieren und ihr gefährdetes Selbstverständnis als neue soziale Gruppe zwischen Kirche und Welt relevant ist. Wo erotische Gedichte zudem auf die Medialität des Schreibens verweisen, thematisieren sie ihrer Tendenz nach das sublimierende Potential einer
77 Vgl. Bezner 2018a. 78 Vgl. Kühne 2013, 34. 79 Vgl. Bond 1995 mit Moser 2004, Lutz 2013 beziehungsweise Bezner 2018a. 80 Vgl. Bezner 2018a. 81 Vgl. Ziolkowski 1994, xli, mit Verweis auf Spanke 1983. 82 Vgl. etwa CB 62 mit Bezner 2018b. 83 Vgl. Moser 2004.
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stilistischen Praxis, die a l s Schreiben zur quasi-erotischen Praxis avanciert und umgekehrt erotisches B e g e h r e n in textuelles Spiel transformiert. Zumindest Petrus von Blois reflektiert in diesem Kontext dabei über die schiere Vergeblichkeit dieser Sublimation.84 Wo es – weit seltener als in den volkssprachlichen Literaturen – zu einer Reflexion über die Sängerrolle kommt, scheint diese in der Nachfolge Ovids eher den Status der Gattung im Vergleich zu verwandten Gattungen zu explorieren, ja zu ironisieren.85
6 Diskursive Kontexte Nicht anders als die meisten literarischen Gattungen der lateinischen Literatur des Mittelalters ist auch die Liebesdichtung von Autoren, Texten und diskursiven Ordnungen geprägt, die für die gelehrte Kultur des Mittelalters von Bedeutung waren: Dies gilt sowohl im Sinne eines ‚Einflusses‘ dieser Intertexte auf Sprache, Struktur und Gedankenwelt der Texte als auch im Sinne einer wie auch immer gearteten – kritischen, affirmativen, ausgleichenden, dekonstruierenden – Verhandlung d u r c h die Gedichte. Zentral ist dabei zunächst die durch Schule und Universität vermittelte lateinische Literatur der Antike, allen voran (bekanntlich) der magister amoris Ovid, dessen Werke die Liebesdichtung auf vielfältige Weise prägen:86 So wirken ‚Amores‘ und ‚Ars Amatoria‘, aber auch ‚Metamorphosen‘ und ‚Heroides‘ in basaler und fundamentaler Hinsicht auf Sprache und literarische Konstruktion des erotischen Begehrens (Worte, Begriffe, Wendungen, ganze Verse, Motive, Themen, Szenen). Als biographisches Subjekt verstanden, wird Ovid zudem häufig selbst in mittellateinischen Gedichten thematisiert, um die mit Amor verbundenen Höhen und Tiefen, aber auch das Schreiben über die Liebe im Sinne eines poetologischen Exempels zu illustrieren. Schließlich eröffnet gerade seine pervasive Präsenz durch Zitate, evozierte Szenen und zitierte mythologische Figuren ‚Assoziationsfelder‘, die semantische Räume schaffen, durch die sich der discours des Gedichts beziehungsweise der Sprecher über den Wortlaut des Textes hinaus erläutern, kontrastieren, komplizieren, veruneindeutigen, unterminieren oder (allerdings sehr selten) allegorisieren lässt.87 Im Ganzen bewegt sich die – schon aufgrund der immensen Wirkung ovidischer Sprache auf die Liebesdichtung komplexe, weil multiauktoriale und diffuse – Übernahme und Transformation Ovids zwischen Stereotypie, Verhandlung und semantischer Ausbeutung. Weniger bekannt ist die Wirkung einer Reihe spätantiker Dichter. So beeinflusste die Freundschafts- und Preisdichtung des Venantius Fortunatus die Sprache und Motivik
84 Vgl. Bezner 2018a. 85 Vgl. Elliott 1981. 86 Grundlegend Offermanns 1970. 87 Hierzu Offermanns 1970, 73–84.
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der mittellateinischen Liebeslyrik ebenso wie die Liebesdichtung des Elegikers Maximinian. Hervorzuheben ist auch die Rolle des spätantiken Dichters Martianus Capella, dessen kosmologisch überhöhte Schilderung von Frühling und Liebe in ‚De nuptiis‘ zahlreiche Gedichte prägt. Dabei ist diese Schilderung – teils durch die Kommentartradition (Remigius von Auxerre) vermittelt – mit der Differenzierung einer doppelten Venus verbunden, die als Affekt des Verliebtseins entweder zerstörerische Wirkung zeitigt oder als konsensuelle Beziehung sozialen Frieden zu stiften vermag.88 Vergil dagegen wirkt – von sprachlichem Einfluss und Anspielungen auf einzelne Szenen der ‚Aeneis‘ abgesehen – sowohl durch die lyrisch transformierte Liebesgeschichte zwischen Dido und Aeneas wie durch die Naturschilderungen seiner Eklogen. Die Bedeutung des Horaz dagegen ist begrenzt, lediglich einzelne seiner Rollengedichte liefern den blueprint für eine subtile Dekonstruktion der mit erotischem Begehren verbundenen Sprache und Verführungstechniken.89 Keine Relevanz dagegen zeitigen, weil nicht oder nur sehr sporadisch und ohne Wirkung überliefert, die Werke von Lukrez sowie der Elegiker Catull, Tibull und Properz. Dass ein Bezug zwischen den im zwölften und frühen dreizehnten Jahrhundert entstehenden Dichtungslehren (‚Artes Poetrie‘) und verwandten normativen Traktaten besteht, zeigt sich insbesondere im Fall der Arundel-Gedichte des Petrus von Blois, die stilistische Normen umsetzen und zahlreiche der in den Traktaten empfohlenen Worte und Phrasen enthalten.90 Darüber hinaus bilden insbesondere der Topos des locus amoenus sowie die descriptio puellae einen Bereich, in dem sich zahlreiche Kongruenzen zwischen den Gattungen ausmachen lassen. Die spezifische Dynamik dieses – nie systematisch untersuchten – Bezuges zu bestimmen, ist allerdings aus einer Reihe von Gründen nicht einfach. Zum einen findet sich kaum Evidenz für die Art und Weise der Benutzung der normativen Texte außerhalb von Schulpraxis und praeexercitamina.91 Kongruenzen können zudem auch über andere stilistische Normen umsetzende oder sogar prägende Texte – insbesondere die hier einflussreiche ‚Cosmographia‘ des Bernardus Silvestris oder der ‚Planctus Naturae‘ des Alanus ab Insulis – vermittelt sein. Dies gilt zumal in den Bereichen von locus amoenus und descriptio puellae, deren Valenz und Tradition sich im Übrigen nicht auf die Artes beschränkt, sondern historisch und systematisch weit über sie hinausreicht. Zu erwähnen ist auch, dass ein Vergleich der Konstruktion des locus amoenus in den Liebesgedichten der Carmina Burana mit den zeitgenössischen Poetiken auch Differenzen deutlich macht. So benutzen die Liebesgedichte zwar einige der Metaphern, die sich in den Artes finden, etwa die metaphorischen Bezeichnungen und spezifischen Wortfelder für Vogelgesang und Pracht der Natur; zugleich verzichten sie aber 88 Zu Martianus Capella vgl. Lenzen 1973. 89 Einschlägig hier die Gedichte Marbods von Rennes. 90 Vgl. die Ausführungen Wollin 1998, 104–117, insb. 110–117 (mit weiterer Bibliographie), zum Verhältnis der Arundel-Gedichte zu mutmaßlich von Petrus von Blois selbst verfassten Handbüchern. 91 Vgl. Kelly 1991, 111.
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auf andere, ja scheinen bewusst die manierierte Metaphorik der Dichtungslehren zu vermeiden.92 Wichtig wäre somit, die Qualität des Bezuges eher komparatistisch als hierarchisch zu bestimmen sowie die jeweilige Verhandlung übergreifender Konventionen zu vergleichen. Zu eruieren, ob Liebesgedichte dabei Stellung zur Normativität der ‚Artes Poetrie‘ nehmen oder gar daran Kritik äußern,93 wäre ein wichtiges Moment dieses methodisch anspruchsvollen Unterfangens. Im Hinblick auf den Einfluss geistlicher Literatur lassen sich – von musikalischen Interferenzen im wechselseitigen Austausch von Melodien abgesehen – vor allem zwei diskursive Hintergründe und Verhandlungslogiken unterscheiden. Zu nennen ist zunächst die Rezeption des Hoheliedes, die durch die textuelle Komplexi tät und Diffusion dieses biblischen Textes kompliziert wird und sich im Vergleich zur massiven Wirkung auf andere Gattungen – anders als oft insinuiert – als „vergleichsweise recht bescheiden“ darstellt.94 Abgesehen vom vereinzelten Einfluss auf Schönheitsbeschreibungen ist dabei vor allem die frühe Invitatio amicae einschlägig, in deren drei Fassungen auf Grundlage der Hohelied-Exegese (Origenes) der lockende Sprechgestus des männlichen Sprechers des Hoheliedes und das damit verbundene Ambiente eines prunkvollen Brautgemachs auf eine in der Forschung kontrovers diskutierte Weise mit der basalen Szenerie einer Pastourelle verschmolzen und als Einladung einer sich letztlich verweigernden puella durch ein männliches Ich gefasst ist.95 Auch in den Carmina Burana und in ihrem Umfeld finden sich immer wieder Echos des ‚Canticum canticorum‘, die die komplexe Frage nach dem Verhältnis geistlicher und weltlicher Liebeskonzepte aufwerfen.96 Die Grenzen zur Marienlyrik sind dabei bisweilen so porös, dass Retextualisierungen aus erotischen Gedichten Marienlyrik werden lassen.97 Wichtig ist dabei, dass sich Elemente des Hoheliedes sowie Stereotypen der Marienlyrik, wie überhaupt geistliche Begrifflichkeit, häufig in der der Vagantenlyrik nahestehenden i r o n i s c h e n B r e c h u n g d e r L i e b e s l y r i k finden, und dies insbesondere im Rahmen einer parodistischen Dekonstruktion verliebter Sprecher-Ichs.98 Parodistische und dekonstruktive Effekte entstehen dabei insbesondere durch die überzeichnete Benutzung biblischer, geistlicher und theologischer Diskurselemente im Rahmen von Frauenpreis, Schönheitsbeschreibung und Verführungsstrategien. Solche Formen von Säkularisierung finden sich bisweilen sogar in den Gedichten selbst thematisiert und lassen sich als typisch vagantenlyri-
92 Dazu Thoss 1972, 63–68. 93 So die These von Godman 1990. 94 Zitat bei Herde 1967, 1037. 95 Dazu insb. Pollmann 1962. 96 Vgl. de Valous 1955, 196‒266; Raby 1957, Bd. 2, 256–279; Dronke 1984; Brückmann und Couchman 1977. 97 Vgl. das Beispiel bei Dronke 1968, II, 518‒519. 98 Vgl. etwa als ein Beispiel CB 77 (Si linguis angelicis).
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sche, doppelte Abgrenzungen gegen die Konventionen der Liebesdichtung wie auch den dominanten religiösen Diskurs lesen.
7 Interferenzen und Rezeption Die Liebesdichtung des Mittelalters ist ein sprachenübergreifender, europäischer literarischer Diskurs – und die Beziehungen ihrer lateinischen Brechung zu Troubadourlyrik, Minnesang und der altitalienischen Tradition (insbesondere zum Dolce Stil Novo; → Italienische Liebeslyrik des Mittelalters) zeigen sich neben Kontrafakturen im geteilten Arsenal von Motiven, Topoi und Gattungen. Diese strukturellen Interferenzen systematisch – und unter Verzicht auf Ursprungshypothesen oder oft unlösbare Prioritätsfragen – zu verzeichnen, zu analysieren und interpretatorisch fruchtbar zu machen, bleibt ein Desiderat der Forschung.99 Da zahlreiche lateinische Liebesgedichte – insbesondere der von der deutschen Forschung etwas irreführend als „westlich“ bezeichnete Teil der im Codex Buranus überlieferten Gedichte – im Milieu der nordfranzösischen Schulen entstanden, ergibt sich ein Bezug zum deutschen Minnesang nur im Sinne struktureller Parallelen vor dem Hintergrund der europäischen Dimension der mittelalterlichen Liebesdichtung im Ganzen. Anders verhält es sich bei jenen Gedichten der Carmina Burana, die einen materialen und expliziten Bezug zur deutschsprachigen Lyrik aufweisen. Komplex stellt sich etwa der Zusammenhang dar, der sich zwischen der lateinischen Lyrik und „frühen Schichten“ des Minnesangs herstellen lässt.100 Mit der Betonung von Freude und Geselligkeit sowie der damit verbundenen literarischen Struktur repräsentieren und aktualisieren zahlreiche der im Codex überlieferten l a t e i n i s c h e n Gedichte möglicherweise eine d e u t s c h e , allerdings vom Hohen Minnesang zu differenzierende Konzeption und Literarisierung von Liebe und liebendem Subjekt, die sich in späteren Entwicklungen, insbesondere bei → Neidhart, wieder zeigen wird. Einen zweiten Modus der Interferenz bilden Kontrafakturen, am bekanntesten wohl der in der Forschung kontrovers diskutierte Zusammenhang zwischen CB 60/60a und Walthers Leich (L 3,1).101 Einschlägig, ja berühmt schließlich ist das in dieser Form und Quantität singuläre Phänomen der deutsch-lateinischen Gedichte des Codex Buranus:102 Insgesamt 48 Gedichte, darunter 45 Liebesgedichte (und damit 34 Prozent aller Liebeslieder!) sind in der Handschrift auf die Weise überliefert, dass zumeist eine deutsche Schlussstrophe die vorangegangenen (zumeist vier bis fünf) lateinischen Strophen abschließt. Die überwiegende Zahl dieser deutschen Strophen ist dabei nur im Codex Buranus überlie-
99 Vgl. aber die Ansätze bei Knapp 1998 oder Kühne 2007. 100 Dazu Worstbrock 2004. 101 Dazu Knapp 2005. 102 Einschlägig: Müller 1981; Wachinger 1985; Kühne 2000; Edwards 2000.
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fert. Bekannte Autoren, in deren Œuvre sich diese Strophen finden, sind Dietmar von Aist, → (Ps-)Reinmar (2), Walther von der Vogelweide (2), Neidhart und der Marner. Wichtig ist dabei, dass die Redakteure des Codex die deutschen Schlussstrophen kodikologisch nicht als different markierten und die zweisprachigen Gedichte damit unbestreitbar als Einheit verstanden und präsentierten. Dass dieser Gedichtkomplex sich fundamental von den in Frankreich entstandenen Liedern unterscheidet und auf eine deutsch-lateinische Mischkultur, ja vermutlich auf den Ort der Aufzeichnung des Codex Buranus (mutmaßlich Südtirol) weist, ist in der Forschung weitgehend unbestritten und ergibt sich nahezu unvermeidlich aus der Natur des Problems. (Kaum überzeugend ist angesichts der bisherigen Quellenlage indes der Verweis auf den Hof Friedrichs II.) Ob die Gedichte indes aus einem „Liederbuch aus Scholarenkreisen“ genommen sind, ist ebenso unklar wie die Existenz und spezifische Natur eines „relativ geschlossenen zweisprachigen Kreis[es] von Dichtern und Musikern“103, der sich als Produktions- und Rezeptionsraum der Gedichte ansetzen lässt (zumindest ein Gedicht kann nicht aus diesem Kreis stammen). Die Interpretation des seit Beginn der Literatur zu den Carmina Burana ausgiebig thematisierten Phänomens – und das heißt zugleich auch die Funktion beziehungsweise literarische Logik der deutschen Strophen im lateinischen Kontext (und umgekehrt) – ist umstritten. Während die ältere Forschung die deutschen Strophen überwiegend als Notate des Tons begriff und damit als Element musikalischer Aufführungspraxis verstand, muss heute von „Tonentlehnungen in beide Richtungen“104 ausgegangen werden. Eine einflussreiche Position geht davon aus, dass es sich bei den zweisprachigen Gedichten überwiegend um eine spezifische Art von Kontrafakturen handelt, deren zwei Komponenten – von vereinzelten Fällen abgesehen – in nur formal-musikalischer Beziehung stehen, keine semantische Dimension implizieren und damit nicht eigentlich als literarisch geschlossene Einheiten zu begreifen seien.105 Demgegenüber steht der Versuch, den deutschen Schlussstrophen eine die vorangehenden lateinischen Strophen kommentierende, abrundende oder auch parodierende Funktion zuzuschreiben.106 Umgekehrt wird die Hierarchie der beiden Sprachen dagegen in der Forschungsmeinung gesehen, die nicht die deutschen Strophen als Abschluss, sondern die lateinischen als Hinführung auf die (in der Regel ja Anfangsstrophen deutscher Gedichte ähnelnden) volkssprachlichen Strophen begreift. Aus dieser Perspektive kontextualisieren die lateinischen Strophen nach Art eines Accessus – freilich poetisch gebrochen – die dann folgenden deutschen (und nur abgekürzt notierten) Lieder, sei es im Rahmen einer Aufführungssituation, sei es im Prozess der Verschriftlichung.107 Eine systematische Untersuchung der Problematik, die sowohl eine spezifische Interpretation der 103 Vgl. Wachinger 1985. 104 Wachinger 1985, 279. 105 Wachinger 1985. 106 Müller 1981. 107 Vgl. Kühne 2000.
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einzelnen Gedichte unternimmt wie einen Ansatz entwickelt, der der Offenheit der Überlieferung der deutschen Lyrik angemessenen ist, steht noch aus.108 Eine Geschichte der Rezeption der lateinischen Liebesdichtung des Mittelalters ist noch zu schreiben. Abgesehen von Interferenzen zur volkssprachlichen Liebeslyrik und verwandten (lateinischen und volkssprachigen) Gattungen, läge ein erster Meilenstein einer solchen Darstellung wohl in der Analyse der (frühen) Drucke – und damit zugleich des Fortlebens – der Gattung im Rahmen einer frühneuzeitlichen res publica litterarum.109 Wichtig für den Übergang von der Handschrift zum Druck ist dabei, dass ein wichtiges Movens der Edition lateinischer weltlicher Dichtung – das protestantische Interesse an Texten, die sich, wie etwa die moralisch-satirischen Gedichte des lateinischen Mittelalters, als Kritik (und damit Bestätigung) einer im Kern korrupten (katholischen) Kirche lesen ließen – im Fall der erotischen Dichtung nicht gegeben ist. In Bezug auf die Loire-Dichter zeigt sich bei den frühneuzeitlichen Editoren demgegenüber eine größere Toleranz hinsichtlich erotischer Texte, die – einschlägig etwa im Fall Marbods von Rennes – in späteren Editionen unterdrückt wurden. Noch zu erforschen bleibt, welchen Platz und Status mittellateinische Liebesgedichte in den für die Überlieferung mittellateinischer Dichtung wichtigen Anthologien und Textsammlungen – etwa in den gedruckten wie ungedruckten Partien der ‚Adversaria‘ Caspar von Barths oder in Polycarp Leysers ‚Historia‘ und (ungedruckten) Vorlesungen – einnahmen. Bei der Konstitution eines modernen Kanons durch die Philologie des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts spielt die Liebesdichtung vor allem im Zuge der Entdeckung und Interpretation der Carmina Burana eine Rolle, weniger dagegen bei Archegeten der Disziplin wie den Gebrüdern Grimm, die sich, von epischer Dichtung abgesehen, eher für die Vagantendichtung interessierten.110 Damit kontrastieren ließe sich das Interesse, das der lateinischen Liebesdichtung im Rahmen der französischen décadence des neunzehnten Jahrhunderts entgegengebracht wurde. Vermittelt durch eine von Edelestand Du Méril herausgegebene Anthologie mittellateinischer Gedichte, konzeptualisieren Autoren wie Joris-Karl Huysmans (‚À rebours‘), Remy de Gourmont und Joséphin Péladan die spät- und mittellateinische Literatur als Modus und Ort anti-klassizistischen, gegen Norm und Klarheit gerichteten Schreibens und damit als poetologisch willkommenes Phänomen des Verfalls. Mit Bezug auf diesen Hintergrund verfasst Charles Baudelaire als Teil seiner ‚Fleurs du Mal‘ ein lateinisches Liebesgedicht, das die sexuelle Sehnsucht des Ichs mit bewusster Absage an klassisch-antike Formulierungen in der Sprache der (ja schon im Mittelalter selbst sexualisierten) Marienlyrik zum Ausdruck bringt; dazu
108 Vgl. zu Muget ir schouwen, waz dem meigen (L 51,13) Kellner 2018, 331–337. 109 Wichtige Hinweise bei Schmidt 1995. 110 Vgl. die Absenz mittellateinischer Liebesgedichte im berühmten Lesebuch Grimm und Schmeller 1967 [1838].
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kommt die Rezeption der mittellateinischen Invitatio amicae in seiner berühmten Invitation au voyage.111 Eine qualitativ, medial und mit Blick auf ihre Verbreitung ganz andere, das Bild der Gattung jenseits akademischer und intellektueller Milieus prägende Rezeption mittellateinischer Liebesdichtung stellen Carl Orffs ‚Carmina Burana‘ (1937) dar. 112 Angezogen vom Rhythmus der Gedichte und seiner Interpretation der Fortuna-Thematik, wählen Orff und sein mittellateinischer Ratgeber Hartmann insgesamt 17 Liebesgedichte aus den Carmina Burana aus. Nach dem einleitenden Fortuna-Teil erzeugen zunächst vier lateinische Liebesgedichte sowie drei deutsche, für sich stehende Schlussstrophen ein von Wärme, Frohsinn und Blumenpracht geprägtes Bild einer von Liebe durchdrungenen Welt im Frühling. Nach dem darauf folgenden Teil mit Vagantenliedern werden als Teil eines Court dʼAmour dann insgesamt zehn, oft nur durch eine Strophe vertretene Liebeslieder zusammengestellt, in deren Vordergrund sexuelle Attraktivität, Leid und letztlich Erfüllung stehen. Prinzip der Auswahl und Semantik dieser modernen Zusammenstellung – und damit zugleich Interpretation sowie Konzeptualisierung der Gattung – ist die Evokation (und Produktion) einer spezifischen Stimmung, die von eindringlicher Rhythmik geprägt ist. Die einzelnen Textstücke erzeugen dabei weniger einen plot als ein Spektrum jener Weltlichkeit, die Orff durch die für ihn zentralen Fortuna-Gedichte zum Ausdruck gebracht sieht. Die gelehrte, intellektuelle Dimension der Gattung wird dadurch abgeschwächt.
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Frank Willaert
Niederländische Lyrik In den maßgeblichen Handbüchern zur Geschichte der niederländischen Literatur setzt der Minnesang schon sehr früh mit dem im heutigen belgischen Limburg geborenen Dichter → Heinrich von Veldeke ein, dessen literarische Tätigkeit zwischen 1170 und 1190 angesetzt wird.1 Anschließend vergehen jedoch fast 100 Jahre bis zum nächsten Minnesänger Herzog Johann I. von Brabant (regierte 1267–1294), dessen neun Lieder wie die Veldekes nur auf Hochdeutsch überliefert sind. Zwar gibt es zwischen beiden die 45 Lieder der Mystikerin Hadewijch (tätig ca. 1230–1260), aber obwohl diese stark durch den französischen Minnesang beeinflusst sind, situieren sie sich im Schnittpunkt vieler anderer Einflüsse. Im vierzehnten Jahrhundert ändert sich das Bild nicht grundsätzlich: Zwar sind einige vereinzelte Lieder vorhanden, aber ein Dichtername ist nicht bekannt.2 Erst um und kurz nach 1400 gibt es umfangreiche Liederhandschriften, die Haager und die Berliner Liederhandschrift, in denen auch der deutsche Minnesang vertreten ist, sowie die berühmte Gruuthuse-Handschrift aus Brügge.
1 Eine vergessene Lyriklandschaft: Lotharingien So unentbehrlich die Bezeichnung ‚mittelniederländisch‘ auch ist, sie eignet sich nur wenig, um die mittelalterliche Literatur in den nideren landen zu beschreiben. Sie suggeriert eine klare Grenze zwischen ‚deutsch‘ und ‚niederländisch‘, während das kontinentalgermanische Sprachgebiet im Mittelalter ein Kontinuum bildete, das sich von der Nordsee bis nach Königsberg und in die Alpen erstreckte.3 Zugleich wies das alte Lotharingien, d. h. das nach König Lotharius II. (regierte 855–869) benannte Gebiet zwischen Schelde und Rhein, Nordsee und Vogesen, was die Lyrik betrifft, bis ins vierzehnte Jahrhundert beiderseits der germanisch-romanischen Sprachgrenze ein eigenes Profil auf. Dass es sich lohnt, dieses Gebiet als eine Lyriklandschaft mit einer eigenen Physiognomie zu betrachten, bezeugen Passagen der altfranzösischen Literatur aus dem frühen dreizehnten Jahrhundert.4 So lesen wir im Roman ‚Galeran de Bretagne‘ 1 Vgl. Kalff 1906, 41–43; te Winkel 1922, 172–177; van Mierlo 1939, 223–225; Knuvelder 1970, 74–81; van Oostrom 2006, 150–158. Ich möchte diese erste Fußnote verwenden, um mich bei meiner Antwerpener Kollegin Dr. Elisabeth de Bruijn und den Herausgebern dieses Bandes zu bedanken, die ‚mein‘ Deutsch mit großer Sorgfalt überwacht haben. 2 Vgl. Willaert 1997. 3 Vgl. de Grauwe 1992. 4 Vgl. Willaert 2011, 37–43. https://doi.org/10.1515/9783110351859-009
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(1216/1220), wie das Findelkind Frêne von seinem Paten, dem alten Kaplan Lohier, eine aristokratische und deshalb auch musikalische Erziehung erhält: Si lui aprint ses bons parreins Laiz et sons, et baler des mains, […] Chançons gascoignes et françoises, Loerraines, et laiz bretons. (V. 1167–1171)5 [Ihr guter Pate brachte ihr Leichs und Melodien und mimische Tänze bei […] gaskonische, französische und lotharingische Lieder und bretonische Leichs.]
Mit den gaskonischen und französischen Liedern können nur die höfischen Minnekanzonen der Troubadours und Trouvères gemeint sein (→ Altokzitanische Lyrik, → Liebeslyrik in Nordfrankreich). Über die in der Quelle ebenfalls genannten lotharingischen Lieder gibt die berühmte Beschreibung des Reigens im Jardin de Déduit im ‚Roman de la Rose‘ (ca. 1230) von Guillaume de Lorris Aufschluss. Hier heißt es, der eine Tänzer habe rotruanges, der andere notes looranges gesungen, „weil man in Lothringen schönere Weisen | macht als in irgendeinem anderen Land“ (ROS, V. 751– 752).6 Rotruanges sind Lieder, die in der Regel aus fünf oder mehr gleichreimigen Strophen mit dem Reimschema a a a…(b) + Refrain bestehen.7 Unter den notes looranges sollen wir uns vermutlich Liedchen vorstellen, wie sie der französische Autor Jean Renart in zwei ausführlichen Tanzbeschreibungen in seinem gleichnamigen, im Fürstbistum Lüttich, also im Herzen Lotharingiens, spielenden ‚Roman de la Rose‘ (1209/1214) anführt (V. 507–550 und 2366–2409).8 Sowohl die hier angeführten Gattungen der refrains, sehr kurzer, formelhafter Liedchen von ein bis drei Versen, als auch die der rondets, einstrophiger, gleichfalls formelhafter Lieder mit einem kurzen Mittel- und etwas längerem Endrefrain, verraten keine großen künstlerischen Aspirationen, eignen sich aber gut für Improvisationen. Sie wurden – wie u. a. aus Jean Renarts Roman hervorgeht – nicht nur während des Tanzens, sondern auch bei anderen Anlässen gesungen, zum Beispiel bei Aufzügen, beim Reiten, bei Mahlzeiten oder beim gemütlichen Beisammensein.9 Zugleich hat Jean Renart in seinen Roman auch andere Lieder eingeflochten, darunter 15 Kanzonen, von denen elf namentlich bekannten Troubadours und Trouvères wie Jaufré Rudel, Bernart de Ventadorn, Gace Brulé oder dem Kastellan von Coucy zugeschrieben werden können. Keiner dieser Minnesänger stammt aus Lotharingien: Das von Renart skizzierte Bild dieser Landschaft ist, was die Minnekanzone betrifft, das eines Importgebietes. Alles in allem
5 Text nach der Ausg. Dufournet 2009. 6 Vgl. den Text in der Ausg. Ott 1976. 7 Vgl. Bec 1977, 187–189. 8 Vgl. den Text in der Ausg. Lecoy 1970. 9 Vgl. Willaert 2011, 37–41.
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erweckt Jean Renarts Roman den Eindruck, dass in Lotharingien Minnekanzonen zwar bekannt und geschätzt, aber kaum verfasst wurden. Der amerikanischen Musikologin Margaret Switten zufolge wird Lotharingien sich unausgesprochen als „anti-grand chant courtois“ definiert haben.10 Darin ist ein Körnchen Wahrheit, dennoch haftet ihrer Formel die Gefahr eines Missverständnisses an. Die lotharingischen Eliten waren ja durchaus nicht gegen den grand chant courtois, sie rezipierten diese Gattung aber spielerisch und ohne ihr allzu viel Ernst beizumessen. Und gerade dies scheint auch mit dem ersten lotharingischen Minnesänger auf der germanischen Seite der Sprachgrenze der Fall gewesen zu sein.
2 Heinrich von Veldeke Heinrichs von Veldeke literarische Tätigkeit situiert sich in den 70er- und 80er-Jahren des zwölften Jahrhunderts, als die höfische Minnelyrik verschiedene nordfranzösische Höfe, vor allem in der Champagne, in Flandern und im Artois, eroberte und auch von deutschsprachigen Adligen rezipiert wurde. Ein adäquates Verständnis von Veldekes Lyrik erfordert, dass wir sie aus der Marginalität, in die die heutigen Nationalgrenzen sie einschnüren, herauslösen. Heinrichs Herkunftsname verweist auf eine jetzt verschwundene Ortschaft westlich von Hasselt, der heutigen Hauptstadt der Provinz Belgisch-Limburg, damals in der Grafschaft Loon gelegen. Auch wenn seine Lieder nur auf Hochdeutsch überliefert sind, begegnet man auf Schritt und Tritt Wörtern, die unverkennbar nordwestlicher Herkunft sind. Veldeke hat ein in geographischer Hinsicht breit gefächertes Vokabular benutzt, das seiner raffinierten Poetik ausreichend Raum bot.11 Die Rezeption seiner Lyrik erforderte zweifellos Vertrautheit mit dem zeitgenössischen französischen und deutschen Minnesang.12 In seinem Lied Tristran muose sunder sînen danc (MF 58,35) z. B. macht er sich über ein Lied von Chrétien de Troyes (RS 1664) lustig, in dem dieser seine unwandelbare Treue zu seiner Dame bekennt, und in Ez sint guotiu nieuwe maere (MF 56,1) finden sich ironische Anspielungen auf Lieder von Friedrich von Hausen (MF 49,13) und Rudolf von Fenis (MF 81,30).13 Humor und Heiterkeit durchziehen den weitaus größten Teil seiner Lieder. Mehrmals lobt er die blîdeschaft und oft wird Kummer mit nît und Bosheit assoziiert (MF 59,23; MF 60,13; MF 60,29; MF 61,9; MF 65,21). Insgesamt haben Minnelieder für Veldeke gegen die im Minnesang oft vorherrschende Leidthematik vor allem die Funktion der Vermittlung von Freude und Fröhlichkeit.
10 Switten 1993, 33. 11 Vgl. Frings und Schieb 1947, 220. 12 Vgl. Bastert 1994, 333 und 339; Tervooren 1997, 9–14; Willaert 1999. 13 Vgl. Willaert 1999, 50–52.
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3 Hadewijch Selbstverständlich können die 45 mystischen Minnelieder, welche die brabantische Begine Hadewijch um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts neben ihren 14 Visionen, 31 Prosa- und 16 Reimbriefen schrieb, nicht zum Minnesang im engeren Sinne gerechnet werden.14 Dennoch zeugen sie von ihrer großen Vertrautheit vor allem mit dem (nordfranzösischen) Minnelied.15 Dies zeigt sich schon daran, dass Hadewijch die meisten ihrer Lieder mit einem → Natureingang beginnt und sich selbst als eine Liebhaberin der personifizierten Minne präsentiert, die in ihren Liedern die Hauptrolle einnimmt und fast tausendmal in etwa dreitausend Versen genannt wird. Wie im grand chant courtois bewegt sich die Ich-Figur zwischen Freude und Kummer, Hoffnung und Furcht, Leben und Tod, Licht und Dunkel, Tag und Nacht. Sie dient der edlen, Hohen Minne und hütet sich vor den ‚Fremden‘, die sie vom rechten Weg abzubringen versuchen. Das Register des grand chant courtois kombiniert Hadewijch aber auf ganz eigene Art und Weise mit Motiven, Formeln und Schlüsselwörtern, die sie der Bibel, der Liturgie, der Patristik, der Mystik der Zisterzienser und Viktoriner, der höfischen Epik und selbstverständlich der in ihren Kreisen benutzten volkssprachigen mystischen Terminologie entnimmt. Auch hat sie ihren Liedern eine ganz andere Funktion als diejenige des grand chant zugedacht, denn sie sind mystagogisch gemeint, sie sollen Gleichgesinnten den Weg zur vollkommenen Gottesliebe auf Erden weisen. Die Ich-Figur ist also nicht die einzige Liebende; die Zuhörerinnen und Zuhörer, die oft mahnend angeredet werden, sollen gleichfalls Liebende Gottes sein.16 Auch in formaler Hinsicht zeigt Hadewijch ihre Vertrautheit mit der Trouvèrelyrik: Sie bedient sich der dort üblichen Stollenstrophe und beschließt die meisten ihrer Lieder für gewöhnlich mit einer Reprise, die aber nie ein envoi [Widmung], sondern immer eine Zusammenfassung des Liedes oder der letzten Strophe enthält. Sie verwendet auch die Technik der concatenatio, um die Strophen miteinander zu verknüpfen.17 Und seit der Pionierarbeit des Musikologen Louis Peter Grijp wissen wir, dass sie oft auf Trouvèremelodien zurückgreift.18 Die vier Handschriften, die ihre Lieder überliefern, enthalten zwar keine Musik, aber in der rezenten Liederausgabe hat Grijp etwa 19 Lieder als entweder sichere oder mögliche Kontrafakturen identifiziert. So dürfen wir annehmen, dass Hadewijch unter anderem von den Trouvères Gace Brulé (1160–nach 1213), Gilles de Vieux-Maisons (um 1200), Moniot d’Arras (dichtete 1213–1239), Colard le Bouteiller (zweites Drittel des dreizehnten Jahrhunderts), Perrin 14 Zu Hadewijch siehe Ruh 1993, 158–232. 15 Zur Poetik Hadewijchs in den Liedern siehe Willaert 1984. 16 Zur mystagogischen Funktion von Hadewijchs Liedern siehe Fraeters und Willaert 2016, 41–42. Zur Ich-Figur in den Liedern siehe zuletzt Fraeters 2013. 17 Vgl. Fraeters und Willaert 2016, 31–39. 18 Vgl. Grijp 1992; Grijp 2016 sowie die Melodien und den Kommentar in derselben Ausg., 415–457.
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d’Angicourt (tätig zwischen 1245 und 1250), Jehan Érart (†1258/59), Gilbert de Berneville (Mitte des dreizehnten Jahrhunderts), Thibaut de Champagne (1201–1253) und Rogeret de Cambrai (dreizehntes Jahrhundert) Melodien und Strophenformen übernommen hat. Viele dieser Sänger waren ihre Zeitgenossen: Sie war offensichtlich mit dem kontemporären profanen Repertoire gut vertraut. Unter ihnen gab es viele Trouvères aus Arras, von denen einige (Perrin d’Angicourt, Jehan Érart, Gilbert de Berneville) mit Herzog Heinrich III. von Brabant, selbst auch Trouvère, in Verbindung standen.19 Einflüsse von deutschen Minnesängern scheint es dagegen fast nicht zu geben, es sei denn von Heinrich von Veldeke, dessen Lied In dem aberellen (MF 62,25) sehr wahrscheinlich als Modell für die Form und den Anfang von Hadewijchs sechstem Lied und damit auch für ihr gleichgebautes siebtes Lied gedient hat.20 Hadewijch hat diese Einflüsse des höfischen Minneliedes mit Entlehnungen aus anderen Texten und Gattungen kombiniert. Was die Form ihrer Lieder betrifft, gibt es keinen Zweifel, dass ihr 45. Lied, das letzte ihrer Sammlung, als eine Kontrafaktur der vermutlich um 1100 entstandenen Sequenz Mariae praeconio betrachtet werden muss, weil sie lateinische Verse daraus zitiert.21 Von welcher Quelle (vermutlich einem Marienhymnus) der lateinische Refrain vale, vale millies – si dixero, non satis est [ach, wenn ich euch tausend Mal Heil, Heil wünschen würde, dann wäre es noch nicht genug] (Lied 1, V. 9 und 11)22 im ersten Lied herrührt, ist nicht bekannt, aber es kann kaum bezweifelt werden, dass die Lieder 33 und 37 Kontrafakturen des (zu Unrecht Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen) Hymnus Jesu dulcis memoria sind.23 Auch verwendet Hadewijch in sieben Liedern eine Strophenform, die an den Typus des lateinischen Rondellus erinnert, der um 1200 in der Pariser Schule der Notre-Dame zu Paris entstanden sein dürfte.24 Diese Gattung wird oft im Zusammenhang mit rituellen Rundtänzen gesehen, die an wichtigen Festtagen von Klerikern ausgeführt wurden.25 Erwähnenswert ist auch, dass der flämische Musikologe Björn Schmelzer die Melodie der Kanzone Nouvele amour qui si m’agrée [neue Liebe, die mir so gefällt] (RS 489) des Trouvère Rogeret de Cambrai, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Vorbild für Hadewijchs 15. und 18. Lied gewesen ist, als eine Tanzmelodie erkannt hat.26 Tanzmelodien sind in Hadewijchs Sammlung also gut vertreten.
19 Vgl. Fraeters und Willaert 2016, 443 und 448. 20 Vgl. Fraeters und Willaert 2016, 33, 51 und 442–443. 21 Vgl. Fraeters und Willaert 2016, 34 und 456–457. 22 Text nach der Ausgabe Fraeters und Willaert 2016. 23 Vgl. Fraeters und Willaert 2016, 34, 57–58 und 452–453. 24 Vgl. Fraeters und Willaert 2016, 35–37. 25 Vgl. Fraeters und Willaert 2016, 35–36; Spanke 1930. Kritisch zur Tanzthese: Mertens u. a. 2013, 37, Anm. 91. 26 Vgl. Schmelzer 2008; Grijp 2016, 53–54, 56; Fraeters und Willaert 2016, 445–447.
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4 Feste Formen Wie die Lyrik Veldekes ist auch das kleine Œuvre des zweiten ‚niederländischen‘ Minnesängers, Herzog Johann I. von Brabant (regierte 1267–1294), nur auf Hochdeutsch (im Codex Manesse) überliefert. Der Linguist Jan Goossens hat nachgewiesen, dass die ursprüngliche Sprache der Lieder auch das Limburgische und das Ripuarische umfasste.27 Johanns Lieder sind sehr formelhaft: Mehrere bestehen aus stereotypen Wendungen, die der sogenannten ‚Neifenschule‘ entstammen. In dem pastourellenartigen Lied Eins meien morgens fruo,28 einer dreistrophigen Ballette von drei zadjalStrophen (aaab) mit Refrain, geht es dagegen um eine fast wörtliche Umsetzung fester Formeln aus der französischen Lyrik.29 Fast alle Lieder Johanns haben einen Refrain und höchstens drei Strophen, die meistens dreigliedrig sind, also aus zwei Stollen und einem Abgesang bestehen. Der Refrain steht nicht nur am Ende der Strophen, sondern mehrmals auch am Beginn des Liedes. Metrik, Zahl der Verse und Verteilung der Reime im Abgesang und im Refrain entsprechen sich. Um dieselbe Zeit wird im ‚Maastrichter Passionsspiel‘ der sündigen und deshalb tanzenden Maria Magdalena ein ähnliches Liedchen in den Mund gelegt.30 Auf der romanischen Seite der Sprachgrenze finden sich zahlreiche ähnliche Lieder in dem balletes-Abschnitt der nach Gattungen gegliederten Oxforder Liederhandschrift (Oxford, Bodleian Library, MS Douce 308), die im frühen vierzehnten Jahrhundert in Metz entstanden ist.31 In den ersten Jahrzehnten des vierzehnten Jahrhunderts haben sich diese Refrainlieder in der französischen Literatur in zwei Gattungen herauskristallisiert: Ballade (drei Stollenstrophen mit Endrefrain) und Virelai (drei Stollenstrophen mit Beginn- und Endrefrain).32 Weil die Liedchen Johanns I. und viele balletes in der Oxforder Liederhandschrift die Matrix bilden, aus der diese beiden Gattungen hervorgegangen sind, habe ich 1994 vorgeschlagen, sie mit dem Kompositum Virelai-Ballade zu bezeichnen.33 Aber nicht nur auf die französische Lyrik des Spätmittelalters hat die lotharingische Virelai-Ballade Einfluss genommen. Im Laufe des vierzehnten Jahrhunderts hat sie sich über den hochdeutschen Sprachraum verbreitet und sich unter anderem in der Lyrik des Mönchs von Salzburg und Hugos von Montfort niedergeschlagen. In den von Doris Sittig erforschten deutschen Liederbüchern der ersten Hälfte des fünf-
27 Vgl. Goossens 2003. 28 Vgl. Goossens und Willaert 2003, Lied 2. 29 Zur Poetik Johanns von Brabant: Willaert 2003a; zur Ballette: Willaert 1980 und Tervooren 1989. 30 Vgl. Willaert 1995. 31 Zu diesem wichtigen chansonnier siehe zuletzt Doss-Quinby 2012. 32 Vgl. Page 1998, 369–383. 33 Vgl. Willaert 1994, 172. Der Terminus ‚Matrix‘ ist Page (1998, 372) entnommen.
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zehnten Jahrhunderts nimmt die Virelai-Ballade fast 30 Prozent des gesamten Korpus ein.34 Ähnliches trifft auf eine andere Tanzliedgattung zu, die sich aus dem rondet entwickelt hat, das Rondeau, dessen (vermutlich) frühest datierbarer Repräsentant Je doins mon cuer a mon ami [Ich gebe meinem Geliebten mein Herz] sich im ‚Sone de Nansay‘ (vermutlich vor 1267), einem anonymen Roman aus Brabant, findet.35 Das Rondeau hat immer einen Anfangs-, Mittel- und Endrefrain nach dem Schema ABaAabAB (Melodie: abaabab). Auch diese Gattung hat sich von Lotharingien aus sowohl in Frankreich als auch in Deutschland verbreitet.36 Wie die Ballade wurde das Rondeau von Musikern wie Adam de la Halle († vor 2. Februar 1289), Jean de Lescurel († 1304), Chaillou de Pesstain (Anfang des vierzehnten Jahrhunderts) oder Guillaume de Machaut (1300–1377) mehrstimmig gesetzt. In der niederländisch-deutschen Literatur dagegen blieb das Rondeau meistens anspruchslose Gelegenheitslyrik, die nur selten auf Pergament oder Papier geriet, sodass man annehmen darf, dass die karge Überlieferung kein repräsentatives Bild seiner eigentlichen Popularität geben kann.
5 Drei Liederhandschriften um 1400 Abgesehen von Hadewijchs mystischen Minneliedern sind weder aus Flandern noch aus Lotharingien bis 1400 umfangreiche Sammlungen ‚germanischsprachiger‘ Minnelyrik überliefert. Das um 1300 geschriebene Maastrichter Fragment (Maastricht, Rijksarchief, 167/III.II), das möglicherweise einer größeren Liedersammlung entstammt, enthält Sangsprüche über Liebe, Moral und Maria, weiter Lieder von → Neidhart und eine Minnerede, aber keine höfische Minnelyrik.37 Ähnliches trifft auf die um 1350 in oder um Köln entstandene Niederrheinische Liederhandschrift (Leipzig, UB, Cod. Rep. II Bl. 70a, Bl. 1–88) zu.38 Erst um oder kurz nach 1400 gibt es drei Liedersammlungen, in denen die höfische Minnelyrik eine wichtige Rolle spielt. Für die um 1400 von zwei Kopisten, die wahrscheinlich in einer Kanzlei tätig waren, geschriebene Haager Liederhandschrift (Haag, Koninklijke Bibliotheek, 128 E 2) ist das Wort Liederhandschrift eigentlich irreführend, denn ein großer Teil der Sammlung besteht aus nicht-strophischen Texten erzählerischer oder argumentieren34 Vgl. Sittig 1987. Zur Verbreitung der Virelai-Ballade in Deutschland siehe Willaert 1989, 167–169; März 1999, 26–30, und Kornrumpf 2005. 35 V. 10922–10929, vgl. den Text in der Ausg. Lachet 2014. Zur Datierung dieses Romans: Sleiderink 2003, 69–73 (dagegen: Lachet in SDN, 74–75: zwischen 1265 und 1280). 36 Für die frühe Verbreitung des Rondeaus in der französischen Literatur siehe van den Boogaard 1969; zum Rondeau in Deutschland und den Niederlanden: Willaert 1989, 159–163; Kornrumpf 2005, 257–259; Kornrumpf 2011. 37 Vgl. Tervooren und Bein 1988. 38 Vgl. Schmeisky 1978.
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der Art, die meistens die Themen ‚Liebe‘ oder ‚Ehre‘ erörtern.39 Auch bei den Liedern überwiegt die Minnedidaxe und es treten personifizierte Tugenden und Laster wie Truwe, Stede, Hoeffen, Zwivel, Troest, Mestroest auf. Romanischer Einfluss ist deutlich spürbar: Nicht nur gibt es zwei französische – allerdings sehr verderbte – Texte, sondern auch mehrere Gedichte mit Balladenstrophen (sogenannte Pseudoballaden), eine Gattung, die in der mittelhochdeutschen Literatur unbekannt ist, aber in mittelniederländischen Handschriften mehrmals vorkommt.40 Doch die Haager Liederhandschrift enthält auch mittelhochdeutsche Lyrik. So gibt es drei namenlose Sangsprüche in Frauenlobs ‚Kurzem Ton‘, die hier als ein dreistrophiges Lied oder Gedicht präsentiert werden (HLH 105; GA XIII,36, 43 und 44): Nur die ersten zwei Strophen können mit Sicherheit Frauenlob selbst zugewiesen werden.41 Drei andere namenlose Strophen, von denen die letzte nur hier überliefert ist, werden als Liedeinheit dem von Sachsendorf zugeschrieben (HLH 40; KLD 4)42. Weiter gibt es noch eine vereinzelte Reinmarstrophe (HLH 37C; MF 179,3, IV) und einige Minnesangzitate, die in längeren Gedichten verstreut vorkommen. Auch → Walther von der Vogelweide ist in der Haager Liederhandschrift präsent. Zwei Lieder (HLH 29 und 30) werden sogar ausdrücklich als Heren Walthers zanch bezeichnet. Damit ist er der einzige Minnesänger, der in dieser Handschrift beim Namen genannt wird. Die Überschrift bezeichnet den Typus, es ist unwahrscheinlich, dass diese Texte als Singvorlagen aufgezeichnet worden sind. Aus dem vierstrophigen Lied HLH 29 stammt allerdings nur die dritte Strophe mit Bestimmtheit von Walther (L 69,1). Das namenlose ‚Lied‘ HLH 41 bietet eine Montage von Strophen, Strophenteilen und Versen, die alle, bis auf die letzte, sechste Strophe, aus dem Œuvre des Dichters zusammengetragen sind. Zudem enthält die Haager Liederhandschrift etwa neun Virelai-Balladen, von denen drei in aller Deutlichkeit mit dem Titel Ein lyedekin angekündigt werden (HLH 47–49). Zwei Virelai-Balladen sind Teile von größeren leichartigen Gedichten, die als hovedansen bezeichnet werden.43 Zusammenfassend können wir sagen, dass in die Haager Liederhandschrift lyrische und minnedidaktische Formen und Traditionen aus Frankreich, Deutschland und Lotharingien (Holland, Brabant, Geldern …) wie in ein Sammelbecken hineinfließen und verarbeitet werden. Lyrische Strophenformen werden minnedidaktisch eingesetzt, Minnedidaktik wird strophisch. Die Distanz zum Lied wird größer, Minneund Tugendlehre stehen im Mittelpunkt.
39 Vgl. Brinkman 2011, 52–53. 40 Zu den französischen Gedichten: Willaert 2003b. Zum Terminus ‚Pseudoballade‘ siehe Willaert 2007, 74. 41 Vgl. GA, 1015. 42 Vgl. KLD II, 493. 43 Zum internationalen Erfolg des Terminus hovedans in den Jahrzehnten um 1400 siehe Willaert 1994, 176–177.
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„[W]eit mehr auf das Sangbare ausgerichtet“44 erscheint die Berliner Liederhandschrift mgf 922, wie ihre Herausgeberin Margarete Lang 1941 zu Recht feststellte. Hier geht es um vier Sammlungen, die aufgrund der Wasserzeichen zwischen 1415 und ca. 1425 von zwei Kopisten geschrieben worden sind und um 1430 mit acht anderen, etwa gleichzeitig kopierten Sammlungen mit Minnereden, Mären und einem flämischen Kreuzzugsroman am Niederrhein in ein Konvolut zusammengeführt wurden. Es fällt auf, dass hier Texte zusammenkommen, die in verschiedenen mittelniederländischen und mittelhochdeutschen Dialekten geschrieben sind.45 Die vier Liedersammlungen enthalten zusammen 86 Lieder in einer oft schwer zu dekodierenden Mischung von Mittelniederländisch und Mittelhochdeutsch. Alle Lieder sind anonym überliefert, aber zwei (XXIV und LIV) können aufgrund der Parallelüberlieferung → Reinmar (MF 185,27) beziehungsweise dem Tannhäuser (SIEB 9) zugeschrieben werden. Auffällig ist, dass in beiden Liedern die Konventionen der höfischen Liebe parodiert werden. Das Lied Reinmars führt das Thema des Verlangens nach der geliebten Frau bis ins Absurde: Wenn sie ihren Liebhaber warten lässt, bis er steinalt ist, dann wird er nicht mehr zur Liebe tauglich sein. In Tannhäusers Lied hegt das Ich die unrealistische Hoffnung, dass es trotz einer endlosen Reihe wahnsinniger Forderungen seitens seiner Geliebten am Ende doch seinen Lohn erlangen wird. Auch etliche andere Lieder in diesen Sammlungen sind voller Heiterkeit, Humor und Ironie, sodass Helmut Tervooren zu Recht von „contre-textes“ gesprochen hat.46 Dass diese Lyrik vor allem zur Freude beitragen sollte, geht auch daraus hervor, dass 45 der 86 Lieder zur Gattung des Rondeaus oder der Virelai-Ballade gerechnet werden können.47 Dazu kommen noch sieben Lieder mit da-capo-Strophen, d. h. mit einem dritten Stollen am Ende der Strophe, wie man sie in den lyrischen Œuvres → Konrads von Würzburg und des Kanzlers finden kann. Diese Strophen haben eine sehr variable Metrik und ausführliche Naturschilderungen; die Stollen sind lang im Vergleich mit dem oft ziemlich knappen Abgesang, sodass man wohl annehmen darf, dass Melodiewiederholungen, wie im Rondeau und in der Virelai-Ballade, ein dominantes Merkmal dieser Lieder waren. Melodiewiederholung ist charakteristisch für → Tanzlieder und es erstaunt denn auch nicht, in dieser Liedersammlung einer Reihe von Kennzeichen zu begegnen, die Tanzliedern eigen sind (wie Ausrufe, Wiederholungen, Einladungen zum Tanzen usw.). Die Nähe zur Performanz zeigt sich auch in der Musiknotation der vierten Sammlung. Erst um oder bald nach 1400 tritt Flandern mit der in Brügge entstandenen Gruut huse-Handschrift in der Geschichte der niederländischen Minnesangüberlieferung hervor. Diese Handschrift kam in einer Stadt zustande, wo die ars nova auf hohem Niveau gepflegt wurde. Nicht nur lateinische und französische, sondern auch nie44 Lang 1941, 87. 45 Vgl. Oosterman 2007, 16. 46 Tervooren 2005, 147. 47 Zu den Liedformen in der Berliner Liederhandschrift siehe Willaert 1992.
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derländische mehrstimmige Musikstücke können mit der Stadt verbunden werden.48 Auch außerhalb der Niederlande sind ab dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts mittelniederländische Chansons überliefert, die sicher oder sehr wahrscheinlich in Brügge entstanden sind (weitere mittelniederländische mehrstimmige Repertoires um 1400 stehen mit der Kathedralschule in Cambrai und mit dem Grafenhof im Haag in Beziehung).49 Die gut 140 einstimmigen Lieder in der Gruuthuse-Handschrift sind fast alle mit einer Strichnotation überliefert, der wir auch in anderen kontemporären Liedquellen in den Niederlanden und Deutschland begegnen, z. B. bei den zwölf mit Musiknotation versehenen Liedern der besprochenen Berliner Liederhandschrift oder bei zwei Virelai-Balladen auf dem Dießenhofener Liederblatt.50 Wahrscheinlich war diese Notationsweise nicht für einen Sänger, sondern für einen Instrumentalisten (einen Fiedler z. B.) gedacht.51 Was die Gruuthuse-Handschrift anbetrifft, hat die Musikologin Ike de Loos auf die hohe Qualität der Musik und ihre Verwandtschaft mit der ars nova hingewiesen.52 Die Gruuthuse-Handschrift war anfänglich als ein gut ausgestatteter Kodex mit einer deutlichen hierarchischen Struktur konzipiert: zwei Hefte mit einer Minnerede von mehr als 2000 Versen mit interpolierten Liedern und einem programmatischen Prolog, in dem sowohl das Können des Autors als auch das Unterscheidungsvermögen des Publikums gerühmt werden; anschließend ein Heft mit drei künstlichen Reimgebeten; und schließlich drei Hefte mit mehr als 140 Liedern.53 In den Jahren darauf ist diese noch nicht gebundene Sammlung von anderen Kopisten ergänzt und letztendlich neu angeordnet worden: Die Handschrift beginnt jetzt mit sieben Gebeten, fährt fort mit 147 Liedern und schließt mit 16 Gedichten, darunter sechs Minnereden. In oder nach dem Jahre 1474 landete das Manuskript auf unklarem Wege in der Bibliothek des reichen Brügger Diplomaten und Bibliophilen Lodewijk van Gruuthuse, dessen Namen es trägt. Schaut man sich die Lieder an, stellt man sofort fest, dass der westflämische Dia lekt deutsch gefärbt ist: Man liest z. B. mir statt mi, bas statt bat, hertzen statt herten. Nicht immer ist die deutsche Sprache richtig verwendet worden, sodass man von ‚potjesmiddelhoogduits‘ [‚Kaudermittelhochdeutsch‘] gesprochen hat.54 Sehr wahr48 Grundlegend zum Musikleben in Brügge: Strohm 1990. Besprechung einiger Texte in Willaert 2016, 548–552. 49 Bonda (1996, 459–518) gibt eine vollständige Übersicht des niederländischen mehrstimmigen Repertoires aus dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert. 50 Zwei nicht ganz kongruente Auflistungen in van Biezen und Vellekoop 1984, 3–5, und de Loos 2008, 107. 51 Vgl. van Biezen 1972, 239; de Loos 2008, 119–122, und de Loos 2012, 217–220. 52 Vgl. de Loos 2010, 123–125 und 134–136. 53 Zur Bedeutung der ursprünglichen ordinatio der Gruuthuse-Handschrift in einem internationalen Kontext: Kügle 2010. 54 Der Terminus stammt von Verdam (1890, 275), der verschiedene Beispiele gibt.
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scheinlich steht diese Färbung, die um 1400 auch in anderen mittelniederländischen Minneliedern vorkommt, im Zusammenhang mit dem damaligen großen Erfolg des lotharingischen Liedrepertoires, dessen Vokabular stark vom hochdeutschen Minnesang beeinflusst war.55 In seiner Ausgabe der Gruuthuse-Lyrik von 1966 hat der Groninger Philologe Klaas Heeroma argumentiert, dass die Lieder und die Minnereden den autobiographischen Niederschlag der unglücklichen Liebesabenteuer des Brügger Bürgers Jan Moritoen bildeten, dessen Name in einem der Gedichte tatsächlich in einem Akrostichon erscheint.56 Jetzt tendiert man eher dazu, den Gruuthuse-Texten nicht nur ihre autobiographische Qualität abzusprechen, sondern Jan Moritoens Autorschaft anzuzweifeln.57 Man zieht als (einzigen) Autor jetzt vor allem den Stadtfunktionär, Illuminator, Sänger und Veranstalter von Feierlichkeiten Jan van Hulst in Betracht, dem Herzog Philipp der Kühne den Ehrentitel valet de chambre [Kammerdiener] verliehen hat. Jan van Hulst gehörte der städtischen, herzogsfreundlichen Elite an, für deren Angehörige und Organisationen er seine Texte verfasste.58 Es scheint, dass viele der Minnelieder in der Gruuthuse-Handschrift für die jeunesse dorée von Brügge verfasst worden sind.59 Mehrere haben ein Akrostichon mit einem Mädchennamen, einige sind als Neujahrs- oder Mailieder konzipiert. Mehr noch als die Liebe oder das Verlangen wird die Notwendigkeit (gegenseitiger) Treue besungen. So konnten diese Lieder ohne Zweifel der éducation courtoise und der Annäherung zwischen den Geschlechtern dienlich sein. Die derben sottes chansons, von denen auch mehrere in der Handschrift vorkommen, werden als komische Negativfolien für ehrbare Liebesbeziehungen fungiert haben.60 Überragend ist die literarische Virtuosität, mit der Jan van Hulst Rondeaus, Balladen und Chansons verfasst hat.61 Im Verlauf des Liederbuchs scheint der Dichter das deutsche höfische Vokabular immer besser beherrscht zu haben,62 auch die Liedformen werden immer virtuoser: Rondeaus werden viel umfangreicher als in der französischen Lyrik, kurze Refrains wachsen zu vollständigen Strophen aus, die Unterschiede zwischen Chanson, Ballade und Rondeau verwischen.63 Das im Prolog des ersten Gedichts so stolz proklamierte Können des Dichters hat zu einer Liedersammlung geführt, die in der westeuropäischen Literatur einzigartig dasteht. 55 Vgl. Willaert 1994, 175. Zur niederländisch-deutschen Mischsprache siehe de Haan 1999. 56 Vgl. Brinkman und de Loos 2015, III.13, 651–661. 57 Vgl. Brinkman 2015; Willaert 2015; Oosterman 2015. 58 Zum Lebenslauf und zur sozialen Umgebung von Jan Moritoen und Jan van Hulst siehe Brinkmann und de Loos 2015, 163–218. 59 Für eine detailliertere Charakterisierung der Liebesthematik in der Gruuthuse-Handschrift siehe Willaert 2013. 60 Zu den unhöfischen Liedern in der Gruuthuse-Handschrift: Reynaert 1992. 61 Zu den Liedgattungen in der Gruuthuse-Handschrift: Reynaert 1987. 62 Vgl. de Haan 1999, 28–29. 63 Zur Experimentierfreudigkeit des Gruuthusedichters: Rierink 1989 und Willaert 2005.
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6 Schluss Gab es niederländischen Minnesang im Mittelalter? Im Blick auf die Lyrik (aber nicht allein dort) verlief zwischen Flandern und Lotharingien eine Grenze. Für Flandern sind vor den letzten Jahrzehnten des vierzehnten Jahrhunderts keine handschriftlichen Zeugnisse von niederländischem Minnesang erhalten. Lotharingien hatte eine eigene Liedkultur, die vor allem die kollektive Freude als Ausdruck der Idealität des Hofes fördern sollte. Sie stand vor allem dem Klagelied des Hohen Minnesangs kritisch gegenüber und veränderte den Hohen Sang den eigenen Normen und Bedürfnissen entsprechend. Dies geschah sowohl auf der germanischen als auch auf der romanischen Seite der Sprachgrenze. Lotharingien kannte und benutzte die Formen, die Thematik und das Register sowohl des französischen als auch des deutschen Minnesangs, aber es exportierte auch seine eigenen Liedformen. In den letzten Jahrzehnten des vierzehnten Jahrhunderts erlebt diese lotharingische Liedkultur in der Germania ihre größte Expansion. Dass diese der Forschung so lange wenig sichtbar geblieben ist, hat mit der vor allem mündlichen und momentbezogenen, weniger auf schriftliche Fixierung gerichteten Gebrauchsform dieser Lyrik zu tun.
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Sylvie Stanovská
Alttschechische Liebeslyrik – zwischen Altem und Neuem Das Corpus der alttschechischen Liebeslyrik umfasst 23 Lieder, die in 13 Handschriften zwischen 1350 und 1450 zumeist als Nebenüberlieferung tradiert werden; eine Ausnahme bilden zwei Handschriften, T1 (1450) und T2 (1454), die aus der Feder des Wittingauer Plebanus Oldřich (Ulrich) Kříž von Telč stammen (heute im Staatlichen Bezirksarchiv Třeboň [Wittingau]). Nur hier lässt sich von einem planvoll eingeteilten größeren Textkorpus sprechen. Alle Lieder sind mit einer Ausnahme, dem Minneleich des sonst unbekannten Autors Záviš, der in Prag tätig war (und von dem die Incipits eines weltlichen und zweier geistlicher Lieder erhalten sind), anonym überliefert. Typisch ist eine Orientierung an der deutschsprachigen Liebeslyrik, sowohl dem Hohen Minnesang wie der späteren Lieddichtung nach 1400. Italienischer Einfluss (Dante? Petrarca?) wird für ein Lied vermutet (ST/KE II.1, s. u.). Neben Liedern des älteren Typus stehen solche mit ausgeprägter Gattungsmischung im Stil der jüngeren Dichtung. Anscheinend kannten die Autoren ein fast vollständiges Spektrum des deutschsprachigen Minnesangs und ließen sich entsprechend anregen. Ein eindeutiges Vorbild ist nur in einem Fall, → Frauenlobs Lied 4 (GA XIV,16–20) für den Leich des Záviš, auszumachen. Wie die Vermittlung erfolgte, schriftlich oder doch eher mündlich, lässt sich nicht bestimmen. Als sozialen Status der Autoren vermutet man Vaganten und niedere Adlige an den dreisprachigen Höfen (Latein, Deutsch, Tschechisch) in Prag, Südböhmen und Mähren. Es lassen sich acht Typen von Liedern unterscheiden, die teilweise nur durch ein Lied vertreten sind: 1. Die Liebesklage (acht Lieder) ist am offensichtlichsten dem traditionellen Muster verbunden. Hier klagt der Mann als Protagonist, weil die Dame sich dem Liebeswerben verweigert. In einigen Liedern findet sich ein jüngeres Motiv: Der Minnende fühlt sich von Seiten eines ‚Klaffers‘ bedroht, der ihn bei der Dame verleumdet hat. Im Lied ‚Ach, totʼ tĕžkú žalost jmám‘ [Ach, ich erfahre ein schweres Leid] (vgl. ST/KE I.4) finden wir zunächst das jüngere Motiv von Verleumdern, die den Liebenden bei der Herrin in Misskredit bringen und in Ungnade fallen lassen (Str. 1). Die zweite Strophe stellt ein Lob der Herrin dar und ist mit klassischen Motiven durchwoben, darunter mit dem Motiv des hôhen muotes und mit dem sogenannten Kaiser-Topos1, nach dem der Liebende das Reich des Kaisers nicht für die Gunst der Herrin eintauschen wollte. In der dritten Strophe findet man das Motiv der Fahrt über das Meer (Kreuzzug), auf die
1 Vgl. Heinrich von Morungen MF 138,17, I, V. 5–8. https://doi.org/10.1515/9783110351859-010
Alttschechische Liebeslyrik – zwischen Altem und Neuem
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der Liebende den Verleumder, seinen Konkurrenten, gerne schicken würde, um ihn von seiner Herrin fernzuhalten: Der Verleumder bringt mir den meisten Schaden, wo er kann, fügt er mir Leid zu und führt alle Freude von meinem Herzen fort. Wenn der eine Reise über das Meer antreten würde, wäre ich, Trauriger, mein Leid los, weil er dann gegen mich (bei der Herrin) keinen Erfolg mehr hätte. Ro. Dort möge er ein König oder ein Sultan oder auch der mächtigste Herr werden und besitzen, was er wolle, nur dass er dich nicht mehr sehen würde!2
2. Altersklage (ein Lied): Im Lied ‚Tvorče milý‘ [Lieber Schöpfer] (ST/KE II.1) ist die Klage des Liebenden über eine erfolglose Liebeswerbung mit Motiven einer Altersklage verbunden. Der Ich-Sprecher wendet sich in einem Gebet an Gott und erhofft sich Erbarmen angesichts seiner Sündhaftigkeit und Gottesferne (1). Sodann bittet das Ich Gott um Gesundheit und Glück. Dies wird mit dem Motiv eines grünen Kranzes als einem traditionellen Attribut einer Liebesbeziehung verbunden. Der Sprecher wünscht sich, getröstet und freudig mit diesem Kranz einherzugehen (2). In der dritten Strophe antwortet eine Jungfrau vom Himmel (Maria? Oder die verstorbene Geliebte?) dem Liebenden. Dieses Motiv, verbunden mit dem Motiv des Lichts, könnte von Dante (Beatrice) oder Petrarca (Laura) angeregt gewesen sein. Das Lied endet pessimistisch mit der traditionellen Verfluchung des Alters (3): V. Vom Himmel antwortete mir eine Jungfrau mit engelhaftem Antlitz; V. sie sprach: „Leide nicht mehr, komm heraus aus der Wolke tritt in helles Licht.“ Ro. Ich war bereits dort, hier und anderswo, auch in verschiedenste Kämpfe verstrickt. Ro. An einem Unglückstage kamst du zur Welt, grauhaariger, alter Mann!
3. Liebeslied mit Liebeslehre (drei Lieder): Hierzu zählen Lieder, die dem älteren Typus neue Elemente aufpfropfen, so z. B. dem Topos des Frühlingsreigens das Motiv des Liebesprahlers, der als Unwürdiger den Kreis der Tanzenden verlassen muss. Traditionell ist hingegen ein Lied über Farben und ihre Deutung in der Liebe. Im Lied ‚Dřĕvo sĕ listem odievá‘ [Der Baum belaubt sich mit Blättern] (ST/KE, III.1) sind in der ersten Strophe traditionelle Motive (Frühlingstopoi) mit ungewöhnlichen verbunden. 2 Übersetzungen hier und im Weiteren zitiert nach ST/KE.
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Sylvie Stanovská
So wird das Motiv der unerwiderten Liebe mit dem suggestiven Bild der Säge dargestellt, mit der das Herz des Liebenden gemartert wird: Ich erwählte mir eine Geliebte, die zersägt mein Herz mit der Säge. Die Säge schneidet tief, ach, sie schmerzt so sehr, dein bin ich immer und überall. (1, V. 5–8)
Diese Vorstellung wird in der zweiten Strophe weitergeführt, die das klassische Motiv der Namenlosigkeit der Umworbenen mit Minnedidaxe verbindet. Die klare Botschaft lautet hier: Man soll nicht mit dem Erfolg in der Liebe prahlen. In der dritten Strophe wird die Lehre über die Verpflichtung zur Verschwiegenheit in der Liebe fortgesetzt. Schließlich wird eine Sanktion in Aussicht gestellt: Derjenige, der diesen Rat nicht befolgt, soll aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. 4. Die Frauenpreislieder (fünf Lieder) verbinden Altes und Neues. Eines dieser Lieder ist ein lateinisch-alttschechisches makkaronisches Lied über die Liebespein eines Vaganten. Im Lied ‚Slunce stkvúcé‘ [Die glänzende Sonne] (ST/KE IV.2) wird die Vollkommenheit der Frau gepriesen. Die Dame geht in der blauen Farbe der Treue einher, ihr Aussehen ist engelhaft und ihr Wesen wonnevoll. Topisch wird sie als „glänzende Sonne“ bezeichnet (1, V. 1), was die Werbung des Mannes motiviert (1–3). In der vierten Strophe wird der Frau ein Treuebekenntnis in den Mund gelegt, auf das der Mann in den folgenden Strophen (5 und 7) mit Freude reagiert. Performativ gedacht, singt ihr der Verehrer das Lied vor, um sich dann darüber freuen zu können. Entsprechend ‚Zitathaftes‘ findet sich auch in der jüngeren deutschen Lieddichtung. Die sechste Strophe stellt, den Verfahren der jüngeren Liebesdichtung entsprechend, eine eingeschobene Liebeslehre dar. 5. Lied an den geliebten Mann (ein Lied): Das Lied ‚Otep myrry‘ [Ein Strauß von Myrrhe] (ST/KE V.1) ist aus Motiven des Hohenliedes Salomos aufgebaut. Eine Frau, die ihren Geliebten mit entsprechenden Worten preist, begibt sich auf die nächtliche Suche nach ihm. Neu ist die weitere Handlung: Sie findet ihn, er kommt auf sie zu, aber sie vermag ihn zuerst nicht zu erkennen. Er sehnt sich danach, in ihrem „Nachen“ (5, V. 5) auf das andere Flussufer übergesetzt zu werden. Das Lied kann geistlich wie weltlich gedeutet werden, der Ausgang des Liedes ist nicht eindeutig zu interpretieren. Das Lied stellt den ungewöhnlichsten Text im Corpus der alttschechischen Liebesdichtung dar.3
3 Ziffern im Text bezeichnen die Bezüge auf das Hohelied.
Alttschechische Liebeslyrik – zwischen Altem und Neuem
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Ein Strauß von Myrrhe ist mir mein Geliebter, (1,13; 5,5) er liebt mich mit aller Macht, und ich ihn, (6,3) den Liebsten; seinetwegen beachte ich keinen anderen. Mein Geliebter kommt mir weiß, rot, anmutig vor, (5,10) leuchtend wie ein Sommertag. (2,11 ff.) Es ist ein übergroßes Wunder, dass ich noch am Leben bin, weil mein Herz seinetwegen so heftig hüpft. (2,5; 5,8) Ich stehe auf und mache mich daher auf die Suche, (3,1 f.; 5,6) frage nach dem, (3,3) dessentwegen mein Herz ohnmächtig wird, und sage: „Mein Freund, liebster Liebling, enthülle mir dein Antlitz, (5,6) lieber Falke. Saht ihr den, den meine Seele liebt, (3,3) weilt er etwa nicht hier? Eine starke Liebe, (8,6 f.) dauernde Sehnsucht (empfinde ich für den), zu dem sich mein Sinn unbeirrbar den Weg bahnt.“ (3,4) Als ich gerade um Mitternacht (3,1 f.) unterwegs war, begegnete mir einer, der unter seiner Macht stand; er schaute mich an so seltsamen Blicks und sprach: „Setze mich in deinem Nachen an das andere Ufer über!“ Da blickte ich zu ihm mit Demut auf und erkannte (in ihm) meinen Liebsten. Ich sagte: „Wen soll ich wohin bringen?“ Und er: „Den, den du so sehr suchst.“
6. Tagelied (drei Lieder): Das erste dieser Tagelieder, ‚Přečekaje všě zlé stráže‘ [Nach langem Warten] (ST/KE VI.1), ist nach dem Muster der traditionellen Gattungs vertreter aufgebaut (→ Tagelied), es umfasst die Szene des Aufwachens des Liebespaares – allerdings im Wald statt in der Kemenate – und die Abschiedsmonologe der Liebenden. Das umfangreichere zweite Tagelied, ‚Milý jasný dni‘ [Lieber heller Tag] (ST/KE VI.2), ist mit Motiven einer Liebeslehre durchwoben. Hier findet sich auch eine breitere Schilderung des Tagesanbruchs, die besonders für die Tagelieder der Spätzeit typisch ist (vgl. Mönch von Salzburg, → Oswald von Wolkenstein). Das dritte Tagelied, ‚Šla dva tovařišě‘ [Es gingen zwei Liebende] (ST/KE VI.3), kombiniert die Charakteristika des Tageliedes (Erwachen, Dialog der Liebenden) mit Elementen der Pastou-
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relle.4 Letztlich bleibt unklar, zu welchem Ort die Liebenden gehen und ob dieser im Freien liegt oder nicht (1, V. 2–4, und 2, V. 1–2). 7. Leich: Der Minneleich des Záviš (ST/KE VII.1) gehört zu den qualitätsvollsten Liebesliedern der alttschechischen Lyrik. Formal weist er den komplizierten Aufbau eines Leichs auf, inhaltlich fokussiert er auf Liebesklage-Motive alter Provenienz, die er – ähnlich wie die Gruppe der Lieder der Liebesklage und -lehre – mit suggestiven Tiervergleichen verbindet. Diese Tiermotive wurden mutmaßlich nicht direkt aus den damaligen Bestiarien, sondern aus Frauenlobs Lied 4 (GA XIV,16–20) übernommen. Für die Kenntnis des Liedes Frauenlobs spricht, dass hier die gleichen Tiere (Phönix, Adler, Löwe und Schwan) vorkommen. Dass mit dem Einfluss Frauenlobs auf die alt tschechische Liebesdichtung zu rechnen ist, legt darüber hinaus auch die Vergleichbarkeit der Stilmittel und Motive in den drei auf Deutsch verfassten Liedern König Wenzels II. von Böhmen nahe. Dem Minneleich entsprechend fühlt sich der Liebende wie ein junger Adler, der der Dame nicht unmittelbar in die Augen sehen kann, um nicht durch ihre strahlende Persönlichkeit in Flammen zu geraten. Nach den Bestiarien werden diese jungen Adler von den Eltern aus dem Nest geworfen. Der Liebende möchte mit der Dame sprechen, damit sie ihn belebt wie ein Löwe, der seinen totgeborenen Welpen das Leben einhaucht, womit wiederum ein Motiv der Bestiarien aufgegriffen wird. Strophe 3 lautet: Der Adler pflegt einen wundersamen Brauch: er erwärmt seine Kinder in der Sonne, hält sie in ihrer Glut, und lässt sie ins Sonnenlicht sehen. Welches (Junge) ‹nicht› direkt ‹hinauf› blicken kann zur Sonne, dem hilft nichts, er wirft es gleich aus dem Nest. So einen Adler nenne ich sie, für die ich vor Sehnsucht weine, in Angst, dass sie mir mein Leben nimmt. Ach, mein liebes Auge, mein Trost, meine Freude, des hellen Glanzes wegen ‹muss ich zu dir›, du ‹leuchtende› Begehrte, hinaufblicken! Mein Herz fürchtet sich stets vor einem Sturz, dass es wie das Adlerjunge stürzt, davor ist ihm bange. Wie der Löwe, indem er aufbrüllt, seine Kinder erlöst,
4 Vgl. die Anrede der Frau „‚mein lieber Herr!‘“, die wohl von dem höheren Stand des Mannes zeugt, und die Benennung des Liebesortes als „grüne[s] Gras“ aus dem Munde des Mannes, was aber auch metaphorische Umschreibung sein könnte; ST/KE, 79.
Alttschechische Liebeslyrik – zwischen Altem und Neuem
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sodass sich der Tod von ihnen gleich abwendet – so fürchte auch ich mich vor dem Tod, und möchte, dass sie mit mir redet. Der seltsame Vogel Schwan singt im Sterben: auch ich, trauriger Scholar, sterbe vor Sehnsucht singend wegen meiner schönen Lieben, wenn sie mir kein Erbarmen gönnt. Ach, oh weh, meine Liebe, schon hast du mich dem Sterben nahe gebracht! Du würdest mich noch vom Tod erlösen, wenn du mit mir ein einziges Wort sprechen würdest. Liebe glänzende Sonne, hell schimmernde Rose, Herz und Leib gebe ich in deine Hände, die Seele befehle ich dem lieben Gott, wenn du mich nicht am Leben erhältst.
8. Der Liebesbrief (ein Lied) ‚Láska s vĕrú i se vši ctnosti‘ [Liebe in allen Ehren und in Treue] (ST/KE VIII.1) ist der jüngste Typus. Hier bittet der Liebende nicht nur um Erhörung, sondern stellt sich auch das künftige Zusammenleben mit seiner Erwählten vor. Er möchte auch nach dem Tod im Jenseits mit ihr in Freude verbunden bleiben: Herr Gott, ewiger König, mach, dass wir uns immer lieben. Gönne uns, dass wir auch nach unserem Tod mit Dir verweilen können in ewiger Freude. Gott, bewahre uns vor allem Leid! (17, V. 3–18, V. 4)
9. Der Rubrik ‚Verschiedenes‘ (fünf Texte) sind Texte späterer Entstehung mit meist saloppen Motiven zu den Themen ‚Erotik‘ und ‚Leben‘ zuzuordnen. Beispielsweise wird im Lied ‚Milý žáku‘ [Lieber Scholar] (ST/KE IX.2) das gängige Vokabular der höfischen Lyrik verwendet, indem zunächst ein Dialog zwischen einer Jungfrau und einem Scholaren gestaltet wird. Dieser bittet Gott um Gnade und Gesundheit für beide. Erst die Klage eines Mannes aus dem Volk über die Untreue der Jungfrau stellt das Lied in ein anderes Licht: Die (untreue) Jungfrau bevorzugt offensichtlich den Kleriker und wies ihren ursprünglichen Bewerber barsch ab. Insgesamt zeigt sich der Charakter der alttschechischen Liebeslyrik im Bereich der Thematik und vor allem der Motivik von Elementen des Hohen Sanges beeinflusst. Die alttschechischen Lieder orientieren sich – was in der Spätzeit des Minnesangs erstaunlich ist – mehrheitlich am traditionellen Minnekonzept (→ Minnekonzepte und semantische Felder), das eindeutig von der Nichterhörung seitens der Dame geprägt ist, die die Klage des Liebenden hervorruft. Dies gilt auch im alttschechischen Minneleich des Záviš, der nach Aufbau und thematischer Differenzierung von Liebe
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der glanzvollste der alttschechischen Liebesdichtungen ist. Innerhalb dieses ‚alten‘ Konzeptes tauchen jedoch immer wieder und immer mehr ‚neuartige‘ Elemente auf, wie z. B. die der Liebeslehre oder die Vorformulierung einer Erhörung (Typus 4). Der romanische Einfluss lässt sich am eindrücklichsten im ‚Alterslied‘ mit seinem Dialog des Liebenden mit der Dame, die vom Himmel herab spricht, feststellen (Typus 2). Nur im Liebesbrief (Typus 8) sehnt sich der Liebende nicht nur nach Erhörung durch die Dame, sondern auch nach einem gemeinsamen Leben. Dieses Element stellt dieses Lied in die Sphäre der ‚Liebesbriefe‘/‚Bittschriften‘, die in der Frühen Neuzeit für die Zeit der Vorbereitung auf das künftige und vom Liebenden tatsächlich geplante Eheleben bestimmt waren. Solche Texte sind in den Liederbüchern des fünfzehnten Jahrhunderts zu finden, welche mehrheitlich die ‚neuartigen‘ Lieder beinhalten, die schon nicht mehr aus der ritterlichen Kultur hervorgegangen sind, sondern aus der an sie anknüpfenden städtischen Kultur des reichen Stadtpatriziats stammten und dort gepflegt wurden. So nehmen die alttschechischen Liebeslieder eine Position ein, die man als eine Zwischenstellung zwischen dem Traditionellen und dem Neuen charakterisieren kann. Man kann sie daher als ein Verbindungs- und Ergänzungselement zwischen dem deutschen Hohen Minnesang und der jüngeren deutschen Liebeslieddichtung betrachten.
Form und Pragmatik
Holger Runow
Metrik und Formanalyse „Von allen Kapiteln der altdt. Versgeschichte müßte das über die mhd. Lyrik weitaus am ausgedehntesten sein, bietet sie doch die meisten offenen Probleme. […] Hier wäre eine eigene Monographie erforderlich […].“1 – Was Werner Hoffmann vor über einem halben Jahrhundert konstatierte,2 gilt weitgehend unverändert noch heute. Ein Handbuchartikel kann hier nicht grundlegend Abhilfe schaffen. Sein Ziel muss es erstens sein, das Instrumentarium für die Formanalyse mit seinen wichtigsten Begriffen und Kontroversen vorzustellen. Diese Teile (1–4) müssen notwendig deskriptivdefinitorisch sein. Weil die Darstellung bereits auf einer Reihe von Vorbewertungen beruht, kann sie nicht ganz frei davon sein, gegebenenfalls auch normativ zu wirken. In einem weiteren Schritt (5) soll wenigstens ein Ausblick auf das philologische und hermeneutische Potential dieser zunächst eher ‚technisch‘ erscheinenden Beobachtungsebene versucht werden.
1 Voraussetzungen Poetische Rede im deutschen Mittelalter ist Versdichtung, Prosa bleibt bis zum ausgehenden Mittelalter vorwiegend die Domäne des pragmatischen Schrifttums. Wenn Vers und Reim das dominante Merkmal von Dichtung ist, gilt dies in besonderem Maße für die Lyrik, wo größtmögliche Formenvielfalt herrscht, was die verwendeten Versund Reimtypen anbelangt. Die Kunstform metrisch gebundener Rede beruht darauf, dass in ihr, im Rahmen sprachimmanenter Eigenheiten, die Worte derart gesetzt sind, dass durch ihre natürliche Betonung eine Rhythmisierung entsteht: „Eine natürliche poetische Metrik, d. i. eine Metrik, die einer Sprachgemeinschaft nicht von außen aufgedrängt ist, sondern sich in ihr über längere Zeiträume entwickelt, stilisiert lediglich Sprachzüge, die auch der Alltagssprache angehören.“3 In lyrischen Texten entfaltet sich die komplexe Klangwirkung darüber hinaus auf mehrfache Weise. Die Form analyse strophischer Texte, die heute üblicherweise unter dem Begriff der Metrik subsummiert wird, erstreckt sich auf zwei Ebenen. Erstens die Betrachtung der Rhythmik der einzelnen Verse sowie der Bauformen der Strophen, d. h. die Metrik im eigent lichen Sinne. Im Hinblick auf den Strophenbau muss zweitens die Beschreibung der Reimtypen mit einfließen, die streng genommen nicht Teil der Metrologie, sondern der Euphonologie ist (→ Form- und Klangkunst). 1 Hoffmann 1981, 97. 2 Die Erstauflage seiner ‚Altdeutschen Metrik‘ stammt von 1967. 3 Vennemann 1995, 196. https://doi.org/10.1515/9783110351859-011
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Minnesang ist gesungene Vortragskunst und als solche nicht nur synästhetische Erfahrung, sondern auch öffentliche Unterhaltung und soziales Ereignis (→ Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs). Das sollte bei der Analyse der Texte zumindest mitbedacht werden. Da für den deutschen Minnesang kaum Melodien überliefert sind (→ Melodien zu Minneliedern), entfällt allerdings die musikalische Gestaltung weitgehend als Analysegröße. Gleichwohl wird man sich vorstellen dürfen, dass das Publikum, je nach Liedtyp und -stimmung, mitgeklatscht, mitgewippt oder zur Musik getanzt hat (→ Tanzlied). Die philologische Analyse hat freilich zunächst allein von den überlieferten Texten auszugehen, sie kann und darf aber im Hinblick auf die Interpretation von Minneliedern nicht reiner Selbstzweck bleiben, sondern ihre Befunde sollten nach Möglichkeit auch auf die jüngeren Theoriedebatten (etwa zu Oralität, Performativität, Intertextualität, Rezeptionsästhetik etc.) hin perspektiviert werden.
2 Grundbegriffe der Metrik: Rhythmus, Prosodie, Takt, Alternation R h y t h m i s i e r u n g entsteht durch eine nachvollziehbare Folge von betonten Silben in regelmäßigen Intervallen. Entscheidend ist dabei für die mittelhochdeutsche Dichtung der Wortakzent, weniger die Quantitäten der einzelnen Silben (wie in der klassischen antiken Versdichtung) oder ihre Anzahl (wie z. B. in der altfranzösischen Dichtung).4 Die Regelmäßigkeit ist wesentliches Abgrenzungskriterium der Versdichtung gegenüber der Prosa, die durchaus auch rhythmisiert sein kann: „[D]er Rhythmus des Verses wirkt neben dem der Prosa geordnet, abgewogen; wir empfinden wiederkehrende Zeitspannen.“5 Die Kunstform der (alt-)deutschen Versdichtung zeichnet sich also durch ein Spracharrangement aus, in dem die Abfolge der Wortakzente solche wiederkehrenden Zeitspannen erzeugt, aus denen sich eine geordnete Rhythmisierung ergibt. Unabdingbare Voraussetzung bei der metrischen Analyse ist mithin die genaue Kenntnis der historischen S p r a c h p r o s o d i e . Dabei sind spezifische Unterschiede gegenüber dem Neuhochdeutschen zu beachten, insbesondere was die Quantitäten anbelangt. Nach Theo Vennemann gehört gar „das heutige Standarddeutsche
4 Erst nach dem „Zusammenbruch der Quantität im Spätmittelalter“ und vor der Opitz’schen ‚Dichtungsreform‘ im siebzehnten Jahrhundert entsteht auch im Deutschen eine silbenzählende Versdichtung; vgl. Vennemann 1995, 203–206 (ob man deswegen ein „dunkles Zeitalter der deutschen Poesie“ [204] postulieren muss, sei dahingestellt; jedenfalls aber eines, das nach anderen ‚Regeln‘ funktioniert). 5 Heusler 1927, § 23. Zum Rhythmus sowie zum Verhältnis von Rhythmus und Metrum vgl. auch Hoffmann 1981, 11–13.
Metrik und Formanalyse
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einem ganz anderen phonologischen Sprachtypus an[]“ als das Alt- und Mittelhochdeutsche. Die Ursache dafür liegt in dem prosodischen Wandel durch die sogenannte Dehnung offener Tonsilben, nach deren Vollzug die Quantitäten von keiner Relevanz mehr für die Metrik sind. Im Mittelhochdeutschen ist dies noch anders: „Die metrischen Besonderheiten des altdeutschen Verses […] beruhen alle auf der Zugehörigkeit der altdeutschen Sprache zum Typus der akzentbasierten Quantitätssprachen.“6 Hierbei bestimmt der Wortakzent den Rhythmus, die Quantitäten spielen aber noch eine wesentliche Rolle in der Versgestaltung;7 besonderes Augenmerk verdienen die kurzen Silben.8 Mittelhochdeutsch klage beispielsweise kann (scheinbar) wie im Neuhochdeutschen als Kombination aus einer betonten und einer unbetonten Silbe im Versinnern einen ganzen Takt füllen; am Versende aber bildet es wegen der Kürze und der damit verbundenen ‚Spaltbarkeit‘ (s. u.) im Mittelhochdeutschen einen männlichen Versschluss (und kann nicht weiblich sein), was im Neuhochdeutschen, nach vollzogener Dehnung der offenen Tonsilbe, nicht mehr möglich ist: Hier wäre umgekehrt der Versschluss ‚Klage‘ zwingend weiblich (oder klingend), könnte aber niemals männlich sein.9 Zudem kann es zwischen den Sprachstufen gelegentlich auch zu Akzentverschiebungen kommen; vgl. mittelhdochdeutsch lében und lébendic versus neuhochdeutsch Lében und lebéndig. Grundsätzlich gilt, dass eine prosodisch akzentuierte Silbe im Vers mit einer Betonung einhergeht, doch sind auch unakzentuierte Silben hebungs- und damit taktfähig (s. u.).10 In der modernen Musiknotation werden die Zeitspannen zwischen zwei (Haupt-) Betonungen in T a k t e n gemessen. Entsprechend analog hierzu hat insbesondere Andreas Heusler in seiner Versgeschichte den Taktbegriff auch auf die Textmetrik übertragen. Diese Analogie hat sich in der Beschreibungspraxis der metrischen Verhältnisse bis heute durchsetzen können, auch weil sie in ihrer Anschaulichkeit „didaktisch von Vorteil“11 ist, so dass gängige Einführungen in die Metrikanalyse sich weiter auf sie stützen, ja sie für unabdingbar halten.12 Sie hat aber auch zu einigem 6 Vennemann 1995, 196. 7 In der mittelhochdeutschen Metrik ist zu unterscheiden zwischen dem Gewicht und der Quantität von Silben: „[N]ur unter rhythmischer Prominenz ist der Unterschied zwischen kurzen und langen Silben für das Silbengewicht relevant, in unprominenter Position hingegen gelten alle Silben gleich, nämlich als leicht“ (Vennemann 1995, 188). 8 Prosodisch ‚kurz‘ sind allein solche Silben, die auf einen kurzen Vokal enden (‚kurzvokalisch offen‘; z. B. tu-gent; ma-nec; kü-ne-gîn etc.); alle anderen Silben sind ‚lang‘, d. h. solche mit langem Vokal oder Diphthong, aber auch kurzvokalische ‚geschlossene‘ Silben, die also auf einen Konsonanten enden (sogenannte ‚Positionslänge‘, z. B. min-ne; sor-ge, aber auch einsilbige Wörter wie walt; tac etc.). 9 Diese prosodische Eigenheit gehört erfahrungsgemäß zu den größten Schwierigkeiten in der Vermittlung der mittelhochdeutschen Metrik. 10 Etwa in der klingenden Kadenz (s. u.), aber auch im Versinnern, z. B. náhtegál; wérdechéit; túgendén etc. oder auch nach sog. beschwerter Hebung (z. B. Wolfram MF 3,1, II, V. 4: diu vríundî̀n); vgl. auch Anm. 27. 11 Bögl 2006, 11. 12 Bögl 2006; Hoffmann 1981; Tervooren 1979.
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begründeten Widerspruch geführt, insbesondere hat man sich an dem zu starren Taktprinzip gerieben, mit dem die Texte in eine korsetthafte und bisweilen spekulative Systematik gedrängt würden.13 Liest man Heusler genau, scheint der Vorwurf des (ahistorischen) Objektivismus nur zum Teil gerechtfertigt.14 Seine Diktion mag zuweilen apodiktisch sein, doch ist es ihm mit großem Weitblick ernsthaft darum zu tun, nicht bloße „Augenphilologie“ zu betreiben,15 sondern den Bedingungen und Regeln der im Vortrag lebendigen Texte nachzuforschen. Die folgende Darstellung bezieht sich weitgehend auf die durch Heusler etablierte Beschreibungssprache, stellt aber gegebenenfalls Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten deutlicher heraus. Insofern ist auch hier von ‚Takten‘ die Rede; der Taktbegriff darf aber keinesfalls absolut gesetzt werden. Wie in der Musik gilt auch in der Metrik, dass ein guter Interpret das ‚Regelwerk‘ mit gewissen Freiheiten handhabt. Ziel von metrischen Analysen kann es nicht sein, Minnelieder mit dem Metronom zu rezitieren. Da die mittelhochdeutsche Lyrik gesungene Poesie, also Musik ist, dürfte die Analogie einerseits grundsätzlich richtig sein. Weil aber andererseits die Melodien fast durchweg fehlen – und wo es sie gibt, in der mittelalterlichen Notation die für den Rhythmus und die Taktierung nötigen Zeitwerte nicht angegeben sind –, steht die Festlegung auf Takte gleichwohl auf unsicherem Fundament. Verlässlichere Einsichten sind hier allenfalls über die Kontrafakturforschung zu gewinnen, wenn nämlich plausibel gemacht werden kann, dass deutsche Sänger Melodien aus der Trouvère dichtung (wo die Melodieüberlieferung ungleich günstiger ist) übernommen haben. Dies ist ein Spezialgebiet der musikhistorischen Forschung, das hier weitestgehend ausgeblendet bleiben muss.16 Stattdessen beschränkt sich das Folgende im Wesentlichen auf die Möglichkeiten der Metrikanalyse anhand der Texte (deren Grenzen zwar zu reflektieren sind, die aber bewusst in Kauf genommen werden müssen). Ein Merkmal und Mittel der Rhythmisierung ist besonders in deutschen Versen das Streben nach A l t e r n a t i o n , d. h. dem regelmäßigen Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben; man spricht auch von ‚Hebung‘ und ‚Senkung‘. Die Alternation, von der Opitz’schen Poetik zum wichtigsten Definitionsmerkmal des Verses überhaupt erhoben, ist indes nicht das einzige bedingende oder auch nur das wichtigste Kriterium im Versbau.17 Das muss hervorgehoben werden, insbesondere gegen13 Zusammengefasst bei März 1999 (der seinerseits Heuslers Verdienste verteidigt), 319–320 mit Anm. 8. 14 Vgl. symptomatisch etwa das Urteil bei Wagenknecht 2007, 143: „Ungeachtet der Anfechtbarkeit seiner Voraussetzungen und seiner Parteinahme: das lehrreichste und anregendste Werk der neueren deutschen Versforschung.“ 15 Heusler 1925, § 14. 16 Vgl. dazu grundlegend Gennrich 1970 [1932]; daneben u. a. Kippenberg 1962; Touber 1965; Heinen 1969; Ranawake 1976; vgl. auch MF2, 31–38. Zum Zusammenhang von Text- und Melodiekritik s. Lomnitzer 1995 [1968]. 17 Heusler 1925, § 13. – Der bei Opitz beschriebene Wechsel betrifft insbesondere die in der jüngeren deutschen Versgeschichte häufigsten Versfüße, den Jambus und den Trochäus. Demgegenüber lehnt
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über vereinfachenden Darstellungen, die oft allzu leicht den Eindruck vermitteln, der verbindliche ‚Normaltakt‘ wäre die Einheit aus betonter und unbetonter Silbe: |x́ x|. Rhythmus aber entsteht zuvörderst durch die zeitlich als geordnet wahrnehmbare Abfolge betonter Silben, der Wechsel mit oder gar die geregelte Anzahl von unbetonten Silben spielt demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Tatsächlich kommt alternierende Versgestaltung sehr oft vor, sie ist ein angestrebtes und oft erreichtes Ideal möglichst ‚glatter‘ Rhythmisierung; Voraussetzung für die metrische Gestaltung ist sie nicht: Man denke an den immer wieder angeführten ‚Parzival‘-Vers 187,21, in welchem der Name Condwîr âmûrs den vierhebigen Vers füllt, indem jede Silbe betont wird: Cón|dwîŕ |ấ|mû́rs. Was im Gerüst des regelmäßig vierhebigen Reimpaarverses gut zu argumentieren ist (und dann umso mehr als stilistische Besonderheit hervortritt), stellt sich in der Lyrik bei prinzipiell nicht festgelegter beziehungsweise eindeutig erkennbarer Verslänge (d. h. Hebungs- beziehungsweise Taktzahl) schwieriger dar: Ob beispielsweise der berühmte refrainartig wiederkehrende tandaradei-Ruf in → Walthers Lindenlied (L 39,11)18 zwei- oder mehrhebig anzusetzen ist (z. B. vierhebig tán|dá|rá|déi),19 wird ohne Kenntnis der musikalischen Gestaltung nicht zu klären sein.20 Von all dem unberührt bleibt die Beobachtung, dass regelhafte Alternation zumal im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts zunehmend angestrebt und vielfach auch erreicht wird, mustergültig etwa bei Dichtern wie → Gottfried von Neifen oder → Konrad von Würzburg (und bei ihm nicht beschränkt auf die Lyrik), der insbesondere der älteren Forschung u. a. genau deswegen als langweiliger Epigone galt. Aber auch schon zuvor ist alternierende Versgestaltung an der Tagesordnung. Das liegt nicht zuletzt begründet in der prosodischen Struktur des Deutschen, das als Akzentsprache natürlicherweise durch den Wechsel von betonten und unbetonten Silben geprägt ist und so die alternierende Versgestaltung von jeher begünstigt (um nicht zu sagen: bedingt und erzeugt).
3 Metrische Analyse Bei der metrischen Analyse lyrischer Texte sind grundlegend drei Ebenen zu betrachten: (1) der einzelne Vers mit seinen Elementen, (2) die Strophe und gegebenenfalls (3) strophenübergreifende metrische Elemente.
schon Heusler den ‚Fuß‘-Begriff überhaupt ab (§ 32). Vennemann 1995, 194 beschränkt diese Ablehnung spezieller auf die mittelalterliche Metrik, wo „diese Konzepte […] von geringem Wert“ sind. 18 Alle Walther-Zitate folgen L/COR. 19 Zu dieser Frage vgl. etwa Kippenberg 1962, 27–29. 20 Vgl. Heusler 1927, § 674 (in Bezug auf andere Beispiele): „Das Gefühl muss entscheiden, ob das Ebenmaß der Strophe und die innere Spannung der Silben diese Zerdehnung rechtfertigen.“
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(1) Metrische Gestaltung des Verses Bei der metrischen Analyse des einzelnen Verses sind wiederum drei Elemente zu untersuchen, nämlich a) der Verseingang, b) das Versinnere und c) das Versende. Bei versübergreifender Betrachtung kommt d) die Frage nach der Versfugung hinzu. a) Verseingang: Jeder Takt beginnt mit einer Hebung (s. dazu den folgenden Abschnitt). Bei Versen, die nicht mit einer betonten Silbe beginnen (d. i. vor der ersten Hebung beziehungsweise dem ersten ‚Takt‘ im weiter unten definierten Sinne), liegt demnach A u f t a k t vor. Der Auftakt ist im zwölften und beginnenden dreizehnten Jahrhundert oftmals frei, d. h., er kann versweise entweder auftreten oder nicht. Daneben gibt es aber auch bereits früh vielfach Verse und Strophen, die regelhaft keinen Auftakt haben, neben solchen, die regelhaft mit einem Auftakt beginnen. Der Umfang (Silbenzahl) des Auftakts ist nicht festgelegt; überwiegend ist er einsilbig,21 seltener auch zwei- oder mehrsilbig. Die Auftaktgestaltung hängt auch mit der Versfugung zusammen – s. dazu unter d) – und sollte daher nicht isoliert betrachtet werden. Gelegentlich steht im Auftakt eine Silbe, der prosodisch und/oder semantisch gleiches oder gar mehr Gewicht zukommt als der Silbe, mit welcher der erste Takt beginnt. Hier wird man gewisse Spielräume beziehungsweise Freiheiten der Betonung einräumen müssen. Ein guter Rezitator dürfte in solchen Fällen die musikalischmetrische und prosodische Betonung dem Vortrag anpassen, um eine Tonbeugung (d. i. eine Betonung gegen die natürliche Prosodie) zu vermeiden. Man spricht von ‚schwebender‘ Betonung. Vgl. etwa Albrecht von Johannsdorf MF 87,29: Ich und ein wîp, wir haben gestriten: Soll man die Betonung auf die erste oder die zweite Silbe ́ (|x́ ᴗᴗ|x́ …) beziehungsweise Ich setzen? Beides ist wohl möglich: Ích und ein wîp ́ (x|x́ x|x́ …). Ersteres entspricht der prosodischen Betonung, zweiteres der únd ein wîp starken Neigung des Liedes zu auftaktigen Versen, was zudem Alternation herstellt. Ebenso verhält es sich mit Walthers Vers: unmâze enlât mich âne nôt. Es ist dies der letzte Vers der Strophe Aller werdekeit ein füegerinne (L 46,32), die den Wert der (personifizierten) Mâze programmatisch im Hinblick auf ein ebene werben betont. Demnach liegt inhaltlich die Betonung auf únmâze als Negation des Prinzips mâze; metrisch hingegen besteht der Abgesang aus drei Vierhebern mit Auftakt. b) Versinneres: Verse bestehen aus einer Reihe von lautlichen Einheiten, die jeweils über eine Betonung definiert sind. Es empfiehlt sich, hier beim Takt-Begriff mit dem Heuslerʼschen Beschreibungsinstrumentarium22 zu bleiben. Der aus der klassischantiken Terminologie seit Martin Opitz auch für die jüngere deutsche Lyrik übernom21 Wo regelmäßig einsilbiger Auftakt vorliegt, hat man früher entsprechend auch von jambischen Versen gesprochen. 22 Heusler 1925, § 41–44, kompakter Heusler 1891. Für den heutigen Studiengebrauch konzise zusammengefasst bei Tervooren 1979 und Bögl 2006.
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mene Begriff des Versfußes (Unterscheidung nach Jambus, Trochäus etc.) bietet hingegen für die mittelalterliche Verskunst kaum einen spezifischen Erkenntniswert.23 Mit seiner strengeren Systematik ist er nicht angemessen, um unter den prosodischen Bedingungen des Altdeutschen die Spezifik des mittelalterlichen Verses zu beschreiben.24 Hier nämlich besteht prinzipiell die sogenannte ‚Füllungsfreiheit‘, d. h., das Alternieren zwischen betonter und unbetonter Silbe mit zweisilbigen Takten kann durch unterschiedliche Silbenzahlen innerhalb der Takte ‚aufgelockert‘ werden. – Hierzu sind noch einmal einige Grundbegriffe zur metrischen Beschreibungssprache vorwegzuschicken: Ein Takt (notiert zwischen zwei Taktstrichen: |…|) umfasst nach Heusler zwei Zeiteinheiten (sogenannte ‚Moren‘; Singular: die ‚Mora‘). So besteht bei Alternation ein Takt aus einer betonten und einer unbetonten Silbe beziehungsweise aus einer ‚Hebung‘ und einer ‚Senkung‘, wobei in der Notation der ‚Iktus‘ (Akzent) die Betonung anzeigt: |x́ x|.25 Takte können aber auch weniger oder mehr als zwei Silben enthalten, so dass der Wechsel aus Hebung und Senkung nicht zur Definition von ‚Takt‘ taugt. Sondern als feste Regel kann gelten: Takte sind „konstante[] und betonungshaltige[] Zeiteinheiten“26, wobei ein Takt immer mit einer betonten Silbe beginnt und immer genau eine betonte Silbe enthält.27 Dabei kann gegebenenfalls zwischen Haupt- und Nebenbetonung zu unterscheiden sein.28 Eine Silbe kann innerhalb eines Verses unterschiedliche Zeitwerte einnehmen, in aller Regel im Rahmen von einer halben Mora bis hin zu zwei Moren. Für die Notation gilt folgende Konvention: Ein „x“ steht für eine Mora; ein langer Strich „–“ hat den Zeitwert von zwei Moren; ein kleiner Haken „ᴗ“ steht für eine halbe Mora (sie kommt immer nur paarweise in ‚gespaltener‘ Position vor: „ᴗᴗ“; s. u.). Silben mit Hauptbetonung werden durch den Akut markiert: „x́ “; für die Nebenbetonung steht der Gravis: „x̀ “. Eine Silbe mit dem Zeitwert von zwei Moren ist per definitionem immer betont.
23 Eine gewisse Ausnahme bildet allenfalls der Daktylus, der einen eigenen, auch für das Mittelhochdeutsche relevanten rhythmischen Typus konstituiert (s. u.). 24 Vgl. Heusler 1925, § 32. – Siehe auch Vennemann 1995, 194: Das Altdeutsche (Alt- und Mittelhochdeutsch) ist aufgrund seiner initialakzentuierenden Sprachstruktur prinzipiell „vom trochäischen Typ. Iambische Füße oder dergleichen gibt es im Altdeutschen nicht. Allerdings sind diese Konzepte bei der Befassung mit dem Altdeutschen von geringem Wert“; für die Metrik gilt, dass „jambische […] im allgemeinen von trochäischer Fußbildung mit Auftakt kaum zu unterscheiden ist“ (216). 25 Man spricht auch vom ‚Skandieren‘ der Verse (Substantivableitung: ‚Skansion‘). 26 Kippenberg 1962, 31. 27 Vgl. Heusler 1927, § 32: „Die geregelten Zeitspannen von Iktus zu Iktus sind die Takte. Wir begrenzen sie so, daß sie mit dem Iktus beginnen.“ 28 Letztere liegt im weiteren Sinne dann vor, wenn eine prosodisch weniger betonte Silbe im Vers eine Betonungsposition einnimmt, z. B. Walther L 54,37, II, V. 1: Vil mínnec-lìchiu Mínne; im engeren Sinne v. a. dann, wenn eine unbetonte Nebensilbe einen Takt eröffnet, insbesondere, wenn ein nur durch eine Silbe gefüllter Takt (mit sogenannter ‚beschwerter Hebung‘) vorausgeht, z. B. Wolfram MF 7,41, IV, V. 2: er múos-tè von ir. – Vgl. auch unten das Beispiel Alle meine Ént-chèn.
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Ein Takt mit zwei Moren kann demnach mit einer einzigen quantitativ langen und metrisch betonten Silbe gefüllt sein: |–́|.29 Er kann zweisilbig sein: |x́ x|, wobei für die einzelne Mora keine speziellen prosodischen Bedingungen gelten. Beide Moren, d. h. sowohl die Hebungs- als auch die Senkungsposition, können ‚gespalten‘ werden (ᴗᴗ), gegebenenfalls auch in Kombination. Bei gespaltenen Moren gilt als feste Bedingung nur (!) für die Hebungsposition, dass die erste Silbe ein kurzer Vokal in offener Silbe sein muss; in der Senkungsposition spielen die Quantitäten keine Rolle. Daraus ergeben sich folgende Möglichkeiten für dreisilbige und (selten) viersilbige Takte: |ᴗ́ᴗx| beziehungsweise |x́ ᴗᴗ| und |ᴗ́ᴗ ᴗᴗ|. Einige Beispiele: Walther L 69,1 Dietmar MF 39,18 Dietmar MF 37,30
Saget mir ieman, waz ist minne | ᴗ́ ᴗ x | x́ x | x́ x | x́ x Slâfest du, friedel ziere | x́ ᴗ ᴗ | x́ x | –́ | x̀ Sich hât verwandelt diu zît x | x́ x | –́ | x̀ x | x́
Bei der Versanalyse gibt man die Anzahl der Takte an; sie entspricht der Anzahl der Hebungen. Der Walther-Vers L 69,1 Ságet mir íeman, wáz ist mínne? (ᴗ́ᴗx|x́ x|x́ x|x́ x) wäre demnach ein vierhebiger und damit viertaktiger Vers (zum Zusammenhang von Kadenz und Hebungszahl sowie zu verschiedenen Notationsweisen s. den folgenden Abschnitt). Verse bis zu vier Takten heißen kurze Verse, ab fünf Takten und mehr spricht man von langen Versen. Aus siebenhebigen Versen besteht beispielsweise Albrechts von Johannsdorf Lied MF 90,32 (Wîź e, rốte rốsen, blấwe blúomen, grǘene grás), wobei der letzte Vers einen zusätzlichen Takt aufweist (nóch gedínge ich, dér ich víl gedíenet hấn, daz sî́ mir lốne); solche ‚Schlussbeschwerung‘ am Strophenende ist ein häufiges Gestaltungsmittel. Vom ‚langen‘ Vers terminologisch strikt zu scheiden ist der zäsu rierte L a n g v e r s (auch: Langzeile). Dieser ist zusammengesetzt aus zwei (meist vier- beziehungsweise dreihebigen) kurzen Halbversen, dem Anvers und dem Abvers. Bekanntestes Beispiel dürfte die Nibelungenstrophe sein – Uns íst in álten mǽrèn | wúnders víl geséit usw. –, deren Bauform weitgehend z. B. auch die Kürenbergerstrophe entspricht (dazu s. u.). Was die Sangbarkeit beziehungsweise rhythmisierte Vortragbarkeit der Texte angeht, gilt es zu beachten, dass oftmals Silben, die sich dem lesenden Auge darbieten, nicht zu hören sein müssen. So kann durch Synkope und Apokope der Nebensilbenvokale der rhythmische Fluss der Worte unterstützt werden. Der häufigste Fall ist, dass ein auslautendes -e, wo es auf anlautenden Vokal im nächsten Wort trifft
29 Zur Definition von ‚langer‘ Silbe vgl. oben Anm. 8. – Eine prosodisch kurze Silbe kann hingegen niemals einen ganzen Takt füllen, wohl aber ein zweisilbiges Wort mit kurzer offener Stammsilbe vom Typus kláge, túgent, jéhen etc.: Ein nur mit einem solchen Wort gefüllter Takt entspräche gewissermaßen dem Typus |–́|.
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(‚Hiat‘), unterschlagen wird (‚Elision‘). Wo auslautender Vokal mit einem folgenden anlautenden verschmilzt beziehungsweise diesen gewissermaßen in sich aufnimmt, spricht man von ‚Synaloephe‘ beziehungsweise von ‚Aphärese‘ (Ausfall des folgenden anlautenden Vokals); zwingend ist diese Verschmelzung nicht; gegebenenfalls kann auch der Hiat erhalten bleiben. In folgendem Beispiel aus → Reinmars sogenanntem Schachmatt-Lied (MF 159,1) liegt im ersten Vers der fünften Strohe Aphärese vor (diuˬich), im folgenden zweimal Elision. Die entsprechend nicht als Silben zu realisierenden Positionen sind hier eingeklammert: Diu jấr diuˬ[i]ch nóch ze lébenne hấn, swie víl der wáer[e], ir wurd[e] ir níemer tác genómen.
In Verbindung mit den sonstigen Mitteln der Auftaktgestaltung und Versfüllung fügt sich selbst ein scheinbar völlig überfrachteter Vers wie MF 159,1, III, V. 2, der dem Strophenbau nach sechshebig zu realisieren ist, einigermaßen zwanglos dem Vortragsrhythmus:30 daz ich áb[e] ir wol rédendem múnd[e] ein kǘssen mác verstéln ᴗ ᴗ | x́ ᴗ ᴗ | ᴗ́ ᴗ x | x́ x | x́ x | x́ x | x́
Als eigener Typus ist noch der Vers mit daktylischem Rhythmus zu erwähnen. Der Daktylus ist bekannt aus der antiken hexametrischen und elegischen Dichtung.31 Der Grundrhythmus ist der dreisilbige Takt mit Betonung auf der ersten Silbe. Nach der Heuslerʼschen Diktion ist er als dreimoriger Takt zu bezeichnen: |x́ xx|,32 was einem Dreivierteltakt- beziehungsweise ‚Walzer‘-Rhythmus entspricht. Im Einzelfall ist der daktylische Takt zu unterscheiden vom dreisilbigen Takt innerhalb des ansonsten alternierenden Verses mit gespaltener Senkung |x́ ᴗᴗ|, der eben nur zwei Moren zählt. Ein daktylischer Vers liegt vor, wenn mehrere dreisilbige Takte aufeinander folgen, die sich einer alternierenden Lesart (mit den beschriebenen Füllungsfreiheiten) sperren. Insgesamt sind Lieder mit daktylischer Rhythmisierung seltener. Beliebt sind sie insbesondere bei manchen nachwaltherschen Dichtern,33 z. B. Hiltbolt von Schwangau.34 30 Der zweisilbige Auftakt sowie die gegenüber reiner Alternation überzähligen Silben in den ersten Takten erzeugen freilich einen Eindruck von Geschwindigkeit, den man gegebenenfalls inhaltlich auf die Hektik des imaginierten Kussraubs beziehen könnte. 31 Der antike Daktylus ist allein über die Quantitäten bestimmt und misst eine lange und zwei kurze Silben: |– ᴗᴗ|, wobei letztere (in den meisten Positionen) durch eine lange ersetzt werden können (sogenannter ‚Spondäus‘: |– –|). 32 Heusler 1927, § 682. 33 Bei Walther selbst zeigt wohl das Lindenlied (L 39,11) daktylischen Rhythmus. Recht eindeutig dagegen die ersten beiden Strophen von L 39,1: Úns hât der wínter geschádet über ál (sehr viel weniger deutlich die weiteren, nur in Hs. E überlieferten Strophen). 34 Vgl. dazu den Kommentar KLD II, 199–201; nicht selten muss die entsprechende Rhythmik durch Eingriffe in die Überlieferung hergestellt werden.
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Vorher kommen sie vereinzelt vor, etwa bei Rudolf von Fenis (MF 83,11), bei Albrecht von Johannsdorf (MF 87,5) und bei → Heinrich von Morungen, „dem wahre[n] meister der deutschen Daktylen“35. Als Beispiel sei die zweite Strophe seines Liedes Uns ist zergangen (MF 140,32) angeführt, in dem der daktylische Rhythmus sich auch über Verse mit Mittelreim legt (V. 1/3 ougen : lougen). Der Text ist hier entsprechend dem Rhythmus skandiert; unterpunktete Buchstaben zeigen an, wo im Vortrag Aphärese (V. 3), Elision (V. 6/7) beziehungsweise Synkope eintritt. Die beigefügte Umschrift in metrische Zeichensprache zeigt zudem, dass auch im daktylischen Vers sowohl in der Hebungs- als auch in der Senkungsposition ‚Spaltung‘ auftreten kann (V. 2/7). Eine gewisse Unsicherheit besteht für V. 5. Hier gibt es unterschiedliche denkbare Realisierungen, entweder in Fortführung des daktylischen Rhythmus oder aber mit Auftakt alternierend (was gegebenenfalls einen Wechsel der Taktart implizieren würde36). Séht an ir óugen und mérkent ir kínne, séht an ir kéle wîz und prǘevet ir múnt. Sí ịst âne lóugen gestált sam diu mínne. mír wart von vróuwen so líebez nie kúnt. Jâ hât si mich verwunt sếrẹ in den tốt. ich verlíuse die sínne. gẹnấdẹ, ein künigínne, du túo mich gesúnt.
| x́ | x́ | x́ | x́ | x́ | x́ | x́
x x | x́ x x | x́ x x | x́ x x x | ᴗ́ᴗ x x | x́ x x | x́ x x | x́ x x | x́ x x | x́ x x x | x́ x x | x́ x x | x́ x x | –́ x | x́ ODER x | x́ x | x́ x | x́ x x | x́ x x | x́ x x | x́ x x ᴗᴗ | x́ x x | x́ x x | x́
c) Versschluss, Kadenz: Am Versende ist grundsätzlich danach zu unterscheiden, ob die letzte Silbe betont oder unbetont ist. Endet der Vers mit einer Betonung – d. h. entsprechend der genannten prosodischen Regeln mit einer langen oder geschlossenen Silbe, beziehungsweise bei kurzer offener Tonsilbe auch auf zwei Silben (vom Typ klage) –, so spricht man von männlichem Versschluss;37 als weiblich bezeichnet man das Versende auf einer unbetonten Silbe.38 In Bezug auf das Taktsystem mit zwei Moren gilt der weibliche Versschluss als ‚voll‘: |x́ x; der männliche ist in der zweiten Takthälfte pausiert (angezeigt durch das Pausenzeichen „^“): |x́ ^ beziehungsweise |ᴗ́ᴗ^.39 Dies sind die beiden Grundtypen, die allein aufgrund der prosodischen Eigenschaften der Texte zu bestimmen sind. Unter Berücksichtigung von Melodieverläufen 35 Heusler 1927, § 704, mit differenzierter Darstellung auch etlicher Mischtypen, § 704–707. – In den Einführungen wird als Beispiel meist das Lied MF 133,13 angeführt: Léitlîche blícke und grốzlîche ́ nâch verlórn etc. ríuwe | hấnt mir das hérze und den lîp 36 Wenn nicht überhaupt der ‚Daktylus‘ ganz anders zu messen wäre, nämlich als Äquivalent aus vier Moren, wobei jeweils die betonte Silbe doppelt so lang ist wie die zwei unbetonten: |–́ x x|; vgl. dagegen abwägend Heusler 1927, § 681–683. 37 Vgl. z. B. Reinmar MF 165,10, I, V. 1–2: […] ich enbin nicht vrố [Versschluss: x́ ] | die vriunt verdriuzet mîner kláge [Versschluss: ᴗ́ᴗ]. 38 Z. B. Reinmar MF 170,1: Ich will allez gấhen [Versschluss: x́ x]. 39 Bisweilen wird der männliche Versschluss auch ‚männlich voll‘ genannt, um ihn von der stumpfen Kadenz abzusetzen. In manchen älteren Darstellungen ist hingegen jeder männliche Versschluss als ‚stumpf‘ bezeichnet.
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beziehungsweise rhythmischer Gestaltung sind weitere Typen zu unterscheiden: die klingende und die stumpfe Kadenz. Als klingende Kadenz bezeichnet man die Abfolge einer taktfüllenden (stärker) betonten Silbe und einer weniger betonten Silbe, die sich also über die letzten zwei Takte des Verses erstreckt, wobei die zweite Silbe (als Nebenbetonung) in die Hebungsposition des letzten Taktes fällt: |–́|x̀ ^|. Aufgrund der genannten prosodischen Eigenheiten kann auch hier der vorletzte Takt mit zwei kurzen (‚gespaltenen‘) Silben statt einer langen gefüllt sein (die aber den gleichen Zeitwert einnehmen wie eine lange): |ᴗ́ᴗ|x̀ ^|.40 Eine stumpfe Kadenz liegt vor, wenn auf eine männliche Kadenz ein pausierter Takt folgt: |x́ ^|^^|. Beides ist oftmals nicht ohne die apriorischen Unterstellungen einer bestimmten Rhythmik auf die mittelhochdeutschen Texte zu applizieren; allein das Fehlen der Melodieüberlieferung (und, wo sie einmal vorhanden ist, die im Notationssystem mittelalterlicher Handschriften nicht markierten Taktgrenzen) rechtfertigt es indes nicht, diese Typen von vornherein für die Analyse zu vernachlässigen oder ganz auszuschließen. Am besten lassen sie sich an einem Beispiel aus der heutigen Liedkultur illustrieren, das jedem geläufig sein dürfte. Man vergleiche das Kinderlied ‚Alle meine Entchen‘: Während die letzte Silbe „-chen“ prosodisch unbetont ist (also weiblicher Versschluss vorliegt), fällt sie doch im Melodieverlauf auf eine taktmetrische Betonungsposition (prosodisch betrachtet als Nebenbetonung): „Álle méine Ént-chèn.“ Der Vers hat demnach entsprechend dem Heuslerʼschen System vier Takte mit klingender Kadenz: |x́ x|x́ x|–́|x̀ ^|. Betrachtet man sodann den folgenden Vers, „schwímmen áuf dem Sée“, allein nach seinen prosodischen Merkmalen, wäre er als dreihebig mit männlichem Versschluss zu beschreiben: |x́ x|x́ x|x́ ^|. Vergegenwärtigt man sich jedoch den Melodieverlauf und die Rhythmik, fällt auf, dass nach der letzten Hebung eine Pause eintritt, bevor im nächsten Vers Text und Melodie wiederholt werden. Das weist die Kadenz als (männlich) stumpf aus, der Vers wäre folglich so zu notieren: |x́ x|x́ x|x́ ^|^^|.41 Das Beispiel ‚Alle meine Entchen‘ lässt sich zwanglos übertragen etwa auf den Langvers des → Kürenbergers MF 8,33: Ich zốch mir éinen válkèn mếre dánne ein jấr. Er weist dieselbe prosodische Struktur auf und dürfte sich aber ebenso wie ‚Alle meine Entchen‘ einer Rezitation widersetzen, die allein den prosodischen Befund auf das taktmetrische System übertrüge und zwei dreihebige (Halb-)Verse, einmal mit weiblicher, einmal mit männlicher Kadenz, läse. Nicht in jedem Einzelfall aber lässt sich
40 D. h., die zwei kurzen Silben haben hier ebenfalls den Zeitwert zweier Moren. Vgl. etwa die Versschlüsse bei Meinloh MF 11,1, V. 1–2: Dô ich dich loben hốrtè: |–́|x̀ versus durch dîne tugende mánigè: |ᴗ́ᴗ|x̀ . 41 Vgl. auch Vennemann 1995, 202–203, am Beispiel der Kinderverse ‚Hoppe hoppe Reiter‘. – Die Beispiele machen auch deutlich, dass der musikalische Taktbegriff nicht deckungsgleich mit dem metrischen ist: Üblicherweise notiert man ‚Alle meine Entchen‘ im 2/4-Takt, wobei der erste Vers zwei Takte umfasst („Alle meine“ = vier Achtelnoten; „Entchen“ = zwei Viertelnoten); im Heuslerʼschen metrischen Taktsystem füllt allein das erste Wort „Alle“ einen gedachten 2/4-Takt.
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hier Sicherheit gewinnen und verlässlich nach weiblich-voller (|x́ x) und klingender (|–́|x̀ ^) Kadenz unterscheiden.42 Daher ist die Notation der metrischen Strukturen in der Lyrikforschung spätestens seit Hugo Kuhn43 zunehmend von der Heuslerʼschen Definition abgerückt und unterscheidet üblicherweise nur nach betonten oder unbetonten Versschlüssen beziehungsweise männlichen und weiblichen Ve r s e n .44 Je nach Darstellungsweise ist dann der zitierte Langvers des Kürenbergers zu notieren als -3-/345, als 3w/3m, oder in jüngerer Zeit vermehrt auch 3ʼ/3.46 Der Vermerk „w“ beziehungsweise der Strich/Apostroph steht dabei für den (prosodisch) weiblichen Versschluss, d. h. Kadenz auf weniger betonter Silbe. Wichtig ist, dass ein Vers damit eben nicht von vornherein im Heuslerʼschen Sinne als ‚weiblich voll‘ definiert wird; im Vortrag kann er ebenso als klingend realisiert werden.47 Will man die für den Vortrag zu vermutende Rhythmik in der metrischen Notation sichtbar machen, wäre der Kürenbergervers hingegen mit Heusler anzugeben als 4k/4s (erster Halbvers mit klingender Kadenz, zweiter Halbvers mit stumpfer Kadenz, die also den pausierenden Takt am Ende mitzählt). Da die unterschiedlichen Betrachtungs- und Notationsweisen erfahrungsgemäß zu Irritationen und Unsicherheiten in der Vermittlung metrischer Analysetechniken führen,48 wäre zu empfehlen, hier strikter auch terminologisch zu unterscheiden: Der Begriff ‚Versschluss‘ argumentiert zunächst prosodisch und unterscheidet lediglich nach männlich (betont) und weiblich (unbetont); bei der rhythmischen Analyse ist hingegen explizit von ‚Kadenzen‘ zu sprechen und zu differenzieren nach männlich, weiblich, klingend und gegebenenfalls stumpf. In jedem Fall sollte man transparent machen, von welchem Standpunkt aus man argumentiert. Dabei ist, auch wenn man der Kuhnʼschen Notationsweise folgt, zu berücksichtigen, dass die Kadenz, insbesondere die klingende, keineswegs eine „quantité négligeable“ ist.49 Um nur ein Beispiel zu nennen: In Burkhards von Hohenfels Lied KLD 11 lautet der Refrain (V. 9–10): fröide unde frîheit ist der werlte für geleit. 42 Zur klingenden Kadenz vgl. Scholz 2009. – Auch ist nicht allein schon durch die Annahme von weiblicher oder klingender Kadenz im musikalischen Sinne die genaue Taktzahl festgelegt. Man vergleiche nur ‚Es ist ein Rosʼ entsprungen‘, dessen erste beiden Verse (prosodisch) strukturanalog zu ‚Alle meine Entchen‘ sind, das aber in der musikalischen Realisation mehr Takte füllt. 43 Kuhn 1967 (1952), 47, Anm. 10 (dazu Scholz 2009, bes. 1–3); Kuhn im Vorwort zu KLD II, VIII. 44 Analog spricht man auch von männlichen und weiblichen Reimen. 45 Der Strich „-“ steht für eine unbetonte Silbe, d. h. hier Auftakt und weiblicher Versschluss im Anvers. In jüngeren Darstellungen wird demgegenüber oft der Auftakt gar nicht eigens bezeichnet. 46 Zu den verschiedenen Darstellungssystemen vgl. überblickhaft Bögl 2006, 28–31. 47 Der Unterschied besteht wesentlich eben darin, dass Heusler mehr nach musikalischem Empfinden Takte ansetzt, was Kuhn und seine Nachfolger ablehnen. 48 Eben weil die Zahl der prosodischen Betonungen einer Textzeile nicht der Hebungszahl des Verses entsprechen muss. 49 Scholz 2009.
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Rein prosodisch analysiert wäre das als 3w 4m zu werten. Das ginge aber an der Rhythmik und Klangwirkung der ansonsten ausschließlich aus vierhebigen Versen ́ éit mit Betonung der letzten Silbe gebauten Strophe vorbei, denn offenbar reimt frîh auf geléit; das ist ein starkes Argument für die Wertung als 4k 4m. Mehr noch: Hier zeigt sich die rhythmische Nähe, ja Kommensurabilität, der klingenden zur männlichen Kadenz, denn beides endet im letzten Takt auf betonter (m: |x́ ) beziehungsweise nebenbetonter (k: |x̀ ) Silbe, was den (männlichen) Reim ermöglicht.50 Dies alles vorweggeschickt, bleibt die folgende Darstellung aus pragmatischen Gründen der Einfachheit und der Vergleichbarkeit weitgehend bei der Notation in Anlehnung an Kuhn (in der Form mit Apostroph für den weiblichen Versschluss: 3ʼ), die sich in jüngerer Zeit durchgesetzt hat, diskutiert aber im Einzelfall dessen etwaige Schwierigkeiten und weist gegebenenfalls auf die demgegenüber vermutlich zu realisierenden Kadenzen hin. d) Versfugung – Synaphie/Asynaphie: Die Rhythmisierung poetischer Sprache endet nicht an der Versgrenze. Diese kann, muss aber nicht, einen Einschnitt markieren (sie tut es zudem oft auch auf syntaktischer und in der Regel auf euphonologischer Ebene durch den Reim). Da der männliche wie auch der klingende Versschluss prinzipiell ‚katalektisch‘ ist, d. h. die zweite Hälfte des letzten Taktes (wenn man den Vers für sich betrachtet) pausiert ist,51 wird ein alternierender Rhythmus ungebrochen fortgesetzt, sofern der folgende Vers mit Auftakt beginnt. Dasselbe gilt, wenn ein Vers weiblich endet und der folgende ohne Auftakt beginnt. Ist derart das Prinzip der Alternation über die Versgrenze hinweg durchgehalten, spricht man von Synaphie, ist es unterbrochen, so dass eine Pause von einem halben Takt eintritt, von Asynaphie (das ist z. B. bei der weiter unten aufgeführten Reinmar-Strophe MF 178,1 der Fall). Bei männlicher oder klingender Kadenz ist in beiden Fällen (Synaphie/Asyn aphie) der rhythmische Fluss grundsätzlich nicht beeinträchtigt. Anders wäre es bei weiblichem Versschluss (Kadenz: ‚weiblich voll‘), wenn der anschließende Vers mit Auftakt beginnt: Dann gerät der fortgesetzte Rhythmus durch (eine) überzählige Silbe(n) ins Holpern. Insofern dürfte – wiederum: unter Annahme eines taktmetrischen Systems – die regelmäßige Kombination von weiblichem Versschluss mit folgendem Auftakt innerhalb einer Strophe ein Indiz für klingende Kadenz sein. Umgekehrt spricht die Verbindung von weiblichem Versschluss mit folgender Auftaktlosigkeit dann eher dafür, dass tatsächlich weibliche (d. h. weiblich volle) Kadenz vorliegt und nicht klingende. Im folgenden Beispiel (Reinmar, MF 170,1) zeigt die Tilde ~ synaphische Verbindung zum folgenden Vers an, das Pausenzeichen ^ hingegen Asynaphie. Dabei sieht 50 Vielleicht könnte man vereinfacht sagen, dass die Rhythmisierung aus einer prosodisch weiblichen Endung eine metrisch männliche macht, die wir (unter Berücksichtigung des prosodischen Befundes) ‚klingend‘ nennen. 51 Männlich: |x́ ^ beziehungsweise |ᴗ́ᴗ^; klingend: |–́|x̀ ^ beziehungsweise |ᴗ́ᴗ|x̀ ^.
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man, dass Letztere mit der kurzen Pausierung die Stollen und den Abgesang52 voneinander absetzt. Innerhalb der einzelnen Strophenteile hingegen herrscht Synaphie. Ích will állez gấhen ~ zúo der líebe, díe ich hấn. ^ số ist ez níender nấhen, ~ dáz sich énde nóch mîn wấn. ^ Dóch versúoche ich ez álle táge ~ und gedíene ir số, daz si ấne ir dánc ~ mit vrö́iden múoz erwénden kúmber, dén ich tráge.
Aber auch hier gelten Unsicherheiten. Will man die Aufgesangsverse 1 und 3 mit klingender Kadenz werten (gấhèn / nấhèn: |–́|x̀ ^) – wofür spräche, dass die Strophe dann dem Typus des isometrischen Vierhebers mit Schlussbeschwerung entspricht (also: 4k 4m, 4k 4m // 4m 4m 5m53) –, dann herrscht auch zwischen den Aufgesangsversen Asynaphie.54
(2) Strophenformen In der strophischen Minnelyrik55 sind mehrere Grundtypen des Strophenbaus zu unterscheiden.56 Der am weitesten verbreitete Typus ist die dreiteilig (‚stollig‘) gebaute Kanzonenstrophe. Historisch voraus gehen ihm einfachere einteilige Strophenformen. Hierzu zählen manche der frühen namenlosen Lieder in ‚Des Minnesangs Frühling‘.57 Sie wurden auch als ‚heimischer‘ Typus bezeichnet, weil ihr grundlegendes Bauprinzip (nach dem Heuslerʼschen Beschreibungssystem) auf dem germanischen Vierhebervers beruht. Häufigstes Element ist der paargereimte Kurzvers.58 Die ein52 Zu den Begrifflichkeiten s. u. die Ausführungen zur Stollen- beziehungsweise Kanzonenstrophe. 53 Es handelt sich hier um eine Kanzonenstrophe; zu deren Beschreibung und dem dazu verwendeten Zeicheninventar s. den folgenden Unterabschnitt. 54 Sicher durchweg Asynaphie – konsequent auftaktlose Verse mit männlicher Kadenz – zeigt das im nächsten Abschnitt angeführte Beispiel Reinmar MF 178,1. 55 Der Leich als eigener Formtypus bleibt hier ausgespart; die vorgestellten Terminologien und Instrumente zur Anaylse lassen sich aber auf Ebene der Verse und Versikel ohne Weiteres übertragen. 56 Überblick bei Schweikle 1995, 160–163. – Für die metrisch-musikalische Struktur einer Strophe verwendet man unter Rückgriff auf mittelalterliche Begrifflichkeiten den Terminus T o n . Im Minnesang bilden die Strophen eines Tons in aller Regel ein Lied, und je Lied verwenden die Dichter nur einen Ton. Eine Ausnahme hiervon gilt z. T. im frühen Minnesang (Kürenberger, Meinloh), wo innerhalb eines Tons die einzelne Strophe von größerer inhaltlicher Selbständigkeit ist. (Dieses Formprinzip der Einstrophigkeit ist ansonsten Gattungsmerkmal der Sangspruchdichtung.) 57 Vgl. auch den Abschnitt „Autorlose Lieder“ in Brunner 2005, 10–27 (unter Einschluss der lateinisch-deutschen Lieder aus den Carmina Burana). 58 Manche dieser früheren Lieder (z. B. MF Namenlos XII, XIV) entsprechen hingegen bereits dem Kanzonentyp.
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fachste Form stellen Minimalstrophen aus zwei vierhebigen Reimpaaren in männlicher beziehungsweise klingender Kadenz dar, z. B. MF Namenlos VI (vgl. auch MF Namenlos II, IV): Swáz hie gất úmbè, dáz sint álle mégedè, díe wéllent ấn mán állen dísen súmer gấn.
Die Bauform wäre in der o. a. Notation zu beschreiben als 3ʼa 3ʼa 4b 4b59, doch dürfte die Kadenz im ersten Verspaar klingend sein. (Das Beispiel zeigt auch die oben beschriebene ‚freie‘ Versgestaltung, bei der die Alternation nicht die übergeordnete Rolle spielt.60) Aus drei Reimpaaren besteht Namenlos XIII (4a 4a 4b 4b 3ʼc 3ʼc); das letzte Reimpaar ist hier wohl ebenfalls klingend zu realisieren. Damit sind die beiden angeführten Strophen ‚isometrisch‘ gebaut, d. h., alle Verse sind von gleicher Taktzahl:61 Dir enbíutet, édel rî́ter gúot, ein vrówe, dér dîn schéiden túot álse hérzeclî́chen wế. nu lís den bríef, er séit dir mếr, Wáz dír enbíutèt, diu dích ze hérzen tríutèt
In gleicher Weise bestehen die Strophen des Dietmar von Aist zugeschriebenen ersten deutschen Tageliedes Slâfest du, vriedel ziere? (MF 39,18) ebenfalls aus zwei Reimpaaren (a klingend, b männlich), allerdings zeigt hier der letzte Vers Schlussbeschwerung, indem er gegenüber den vorangehenden Versen durch eine weitere Hebung heraussticht: daz íst der línden án daz zwî́ gegấn (Strophenbau: 3ʼa 3ʼa 4b 5b). Eine leicht erweiterte Form bietet z. B. die Frauenstrophe MF 3,7 durch die Kombination eines Reimpaars mit einer sogenannten W a i s e n t e r z i n e (d. i. ein Reimpaar, das einen reimlosen Vers, eine sogenannte ‚Waise‘, umschließt: 4a 4a 3ʼb 4x 3ʼb):62
59 Der a-‚Reim‘ beschränkt sich hier auf die Nebensilben. Zu den Reimarten s. u. in Abschnitt 4. 60 Hier wie in den folgenden Beispielen sind die Texte durchskandiert, so dass sie auch als Musterbeispiele für die metrische Analyse dienen können. Das schließt nicht aus, dass im Einzelfall auch alternative metrische Lesarten möglich sind. 61 Mischung von männlicher und klingender Kadenz in diesem Sinne haben auch MF Namenlos I, II, IV, V, VI und IX. 62 Bei Herger ist der Typus nochmals erweitert. Seine Strophen bestehen aus zwei Reimpaaren und einer Waisenterzine.
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‚Wǽre diu wérlt álle mî́n vón deme mére unze án den Rî́n, dés wolt ích mich dárbèn, daz chúnich vón Éngellánt láege an mî́nem ármè.‘
Ebenfalls ‚einteilig‘ gebaut sind die paargereimten Langzeilenstrophen des frühen Minnesangs, insbesondere beim Kürenberger und bei Meinloh von Sevelingen. Grundbaustein des Langverses ist ebenfalls der Vierheber (in klingender, männlicher beziehungsweise stumpfer Kadenz). In der ‚Kürenbergerstrophe‘ (MF Ton II: 3ʼ/3a 3ʼ/3a 3ʼ/3b 3ʼ/4b)63 haben die Anverse klingende, die ersten drei Abverse stumpfe Kadenz und sind damit viertaktig. Der Typus zeigt aber beim Kürenberger größtmögliche Freiheit bei den Kadenzen. Das sei hier illustriert an der ersten Strophe des berühmten Falkenliedes (MF 8,33), die einer weiteren Strophe des Tons mit z. T. anderer Handhabung der Kadenzen gegenübergestellt wird (MF 8,17): Ich zốch mir éinen válkèn mếre dánne ein jấr. dố ich ín gezámetè, als ích in wólte hấn, und ích im sî́n gevíderè mit gólde wól bewánt, er húop sich û́f vil hốhè und vlóuc in ándèriu lánt. Swénne ich stấn aléinè in mî́nem hémedè, únde ích gedénke an dích, rítter édelè, sô erblǘet sích mîn várwè, als der rốse an dem dórne túot, únd gewínnet daz hérzè vil mánigen trû́rìgen múot.
Hier ist nochmals an die analytische Unterscheidung zwischen Versschluss und Kadenz zu erinnern sowie an die erwähnte Kommensurabilität von klingenden und männlichen Kadenzen. Sie sind im Versbau ihrer realisierten Hebungszahl nach gleich und demnach prinzipiell gegeneinander austauschbar, was sich in der Kürenbergerstrophe mehrfach zeigt.64 In heute gängiger Notation wäre die erste Strophe dem Nibelungentypus entsprechend zu beschreiben: 3ʼ/3a 3ʼ/3a 3ʼ/3b 3ʼ/4b; wobei die Kennzeichnung des letzten Halbverses bereits der Formunterstellung entspricht, dass er wie im ‚Nibelungenlied‘ vierhebig sein müsse.65 Die zweite hingegen sähe anders aus, jedenfalls wenn man tatsächlich den Taktbegriff dispensierte und allein den prosodischen Befund wiedergäbe: 3ʼ/2ʼa 4/2a 3ʼ/3b 3ʼ/3b. Hier dürfte sich doch der Vorteil
63 S. o.; der Schrägstrich / zeigt jeweils die Zäsur innerhalb des Langverses an. 64 Seltener bei Meinloh, und bei ihm beschränkt auf die Anverse, die noch gelegentlich männliche Kadenz haben (MF 11,1, V. 3; MF 12,1, V. 1; MF 14,14, V. 5; MF 15,1, V. 3). 65 Rein prosodisch betrachtet wäre er dreihebig männlich zu werten: und vlóuc in ánd(e)riu lánt; einigermaßen eindeutig sind beim Kürenberger nur die wenigsten Verse in dieser Position, vgl. etwa ́ ; oder den letzten Abvers der zweiten Falkenlied-Strophe, MF 9,5, V. 4: […] die gelíeb wéllen gérne sîn ́ . auch MF 8,1, V. 4: […] álder ích geníete mich sîn
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des Heuslerʼschen Systems zeigen, das die Frage nach der Vortragbarkeit der Texte mehr in den Vordergrund stellt. Die erste Strophe wäre dann zu notieren als 4k/4sa 4k/4sa 4k/4sb 4k/4mb. Aber auch die zweite könnte, wenn nicht in den Kadenzen, so doch in der Taktzahl gleich bleiben: Sofern man nämlich in den Abversen der ersten beiden Langzeilen, die klingend zu realisieren sind (*3k), unterstellt, dass auf diese klingende Kadenz ebenso noch ein pausierter Takt folgt, wie es bei der männlich-stumpfen Kadenz (4s = 3m + pausierter Takt) der Fall ist.66 Insofern könnte man die Kürenbergerstrophe mit folgendem ‚flexiblen‘ Schema fassen: 4k(m)/4s(m/k)a 4k(m)/4s(m/k)a 4k(m)/4s(m/k)b 4k(m)/4mb. Auch Langversstrophen können neben dem üblichen Paarreim um (kurze) Waisen (Kürenberger, MF Ton I) beziehungsweise Waisenterzinen erweitert sein, so etwa bei Meinloh (Ton I und III), dessen Töne im Gegensatz zum Kürenberger-Typus nicht die stumpfe Kadenz vorweisen, sondern vierhebig männliche (volle) Abverse haben; vgl. exemplarisch MF 14,1:67 Ích sach bóten des súmerès, daz wấren blúomen álsô rốt. wéistu, schóene vróuwè, waz dír ein ríttèr enbốt? verhólne sî́nen díenèst; ím wart líebèrs nie níet. im trû́ret sî́n hérzè, sît ér nu júngest vón dir schíet. Nu hóehe im sî́n gemǘetè gégen dírre súmerzî́t vrố wírt er níemèr, ê ér an dî́nem ármè sô réhte gǘetlîchè gelî́t.
Dietmar von Aist hat mehrere Töne, die von Langzeilen geprägt sind (MF Töne II, IX, XI, XII) oder ganz aus ihnen bestehen (Töne I und III), daneben aber auch stollig gebaute Strophen, weswegen er auch formal als Dichter des Übergangs zwischen dem ‚frühen‘ und ‚Hohen‘ Minnesang gilt; zu nennen ist hier auch das schmale Œuvre Kaiser Heinrichs, dessen Töne I und II Langzeilen mit Zäsurreim verwenden und die gegebenenfalls schon dem Kanzonentypus zuzurechnen sind. Als eine Art Übergangsform könnte man auch den selteneren Fall einer ungleichversigen paargereimten Strophe bezeichnen, wie er bei Friedrich von Hausen MF 45,37 repräsentiert ist (4a 4a 5b 2b 4c 5c 2d 5d 5e 5e):
66 Es wäre also gewissermaßen eine ‚klingend stumpfe‘ Kadenz (4ks) anzusetzen: |–́|x̀ ^|^^. 67 Ton III umfasst nur eine Strophe. Sie besteht aus sechs paargereimten Langversen und einer Langvers-Waisenterzine, d. h. ein durch einen reimlosen Kurzvers durchbrochenes Langversreimpaar. Damit ist sie gegenüber Ton I um zwei paargereimte Langverse erweitert. – Übrigens widerspricht die Aussonderung der Töne II (2 Strophen) und III bei Meinloh als Formen eigenen Rechts der Überlieferung (B und C): Hier stehen die Strophen eingereiht in jene von Ton I (Ton III: Str. 2; Ton II: Str. 5 und 8), so dass sie gegebenenfalls als verkürzte beziehungsweise erweiterte Variationen derselben Melodie aufzufassen sein könnten.
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Sî́ darf mích des zî́hen níet, ich enhếte sî́ von hérzen líep. des mö́hte sî́ die wấrheit án mir séhen, und wíl si es jéhen. ich kóm sîn díckẹ in sô grốze nốt daz ích den líuten gúoten mórgen bốt gégen der náht. ich wás sô vérre an sî́ verdấht, daz ích mich únderwî́lent níht versán, und swér mich grúozte, daz ích sîn níht vernán.
In die Nähe dieses Typus dürfte auch noch → Hartmanns von Aue sogenanntes Unmutslied MF 216,29 gehören: 4a 4a 3ʼb 3ʼb 4c 4c 4c 4c; da hier die Verse 3 und 4 wohl als klingend zu werten sind, ist die Strophe ihrer Taktzahl nach indes als isometrisch zu beschreiben, d. h., alle Verse haben die gleiche ‚Länge‘ (d. i. Hebungszahl). Den entscheidenden Einschnitt in der Formgeschichte der Lyrik (nicht nur des Minnesangs) markiert die Übernahme der Kanzone aus der Romania.68 Ihre sogenannte ‚stollige‘ Bauform besteht „aus zwei ungleichen Abschnitten, von denen der erste in zwei gleiche, zumindest zweiversige Hälften zerfällt, der zweite zumindest die Länge einer dieser Hälften besitzt“69. Daraus folgt, dass eine Kanzone ein Minimum von sechs Versen hat (vgl. etwa → Heinrich von Veldeke MF 66,32 oder Reinmar der Alte MF 177,10, jeweils mit Kreuzreim im ersten und Paarreim im zweiten Teil: ab, ab // cc); meistens sind sie umfangreicher. Der erste Teil wird als Aufgesang bezeichnet. Er zerfällt formal in zwei metrisch gleichgebaute und auf dieselbe Melodie gesungene sogenannte ‚Stollen‘.70 Darauf folgt der metrisch und musikalisch vom Aufgesang verschiedene Abgesang. Ein einfaches Beispiel aus dem Œuvre Reinmars des Alten (MF 178,1): Lieber bote, nu wirp alsô, sich in schiere und sage ime daz: vert er wol und ist er vrô, ich lebe iemer deste baz. Sage ime durch den willen mîn, daz er iemer solches iht getuo, dâ von wir gescheiden sîn.
4a 4b 4a 4b 4c 5x 4c
} 1. Stollen } 2. Stollen
} }
= Aufgesang
Abgesang
68 Brunner 2013, 25–26. 69 Ranawake 1976, 45. 70 Daher spricht man auch von ‚Stollenstrophe‘. – Die Begrifflichkeit stammt aus der Terminologie der Meistersänger. Mittelhochdeutsch stolle bedeutet ‚Stütze, Stützpfosten‘ u. ä. (vgl. LEXER, Bd. 2, 1209–1210) und ist etymologisch verwandt mit dem Verbum stellen (DWB, Bd. 19, 200): Die Bildlichkeit ist also die, dass der Abgesang gewissermaßen auf den Stützpfeilern des Aufgesangs aufruht (vgl. Hoffmann 1981, 103).
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Die beiden zweiversigen Stollen bilden einen Kreuzreim. Der Abgesang besteht aus einer Waisenterzine, in welcher die Waise gegenüber den anderen Versen durch eine weitere Hebung hervorgehoben ist, ansonsten ist die Strophe isometrisch. Die Verse sind regelhaft auftaktlos bei männlicher Kadenz, d. h., in der Versfugung herrscht durchgehend Asynaphie. Man beachte, dass in ‚Des Minnesangs Frühling‘ die Struktur durch gleiche Einrückung gereimter Verse sowie Großschreibung am Anfang des Abgesangs im Druckbild hervorgehoben ist. Ähnlich verfahren auch weitere Ausgaben (statt Einrückung oft durch halbzeiligen Abstand zwischen den Strophenteilen). In der Notation der metrischen ‚Formel‘ kann man ebenfalls z. B. durch Komma (Stollengrenze) beziehungsweise Schrägstriche (Aufgesang/Abgesang) die Gliederung verdeutlichen, für das genannte Beispiel sieht das dann z. B. so aus:71 4a 4b, 4a 4b // 4c 5x 4c. Ausgehend von diesem einfachen Typus kann der Abgesang durch weitere Verse, etwa durch Einschub eines Reimpaars vor der Waisenterzine, erweitert und in der Verslänge variiert sein, vgl. z. B. Reinmar MF 162,7 (4a 5b, 4a 5b // 7c 7c 4c 4x 5c) oder MF 165,10 (4a 6b, 4a 6b // 6c 7c 4d 5x 5d) etc. Der Umfang der Stollen ist freilich nicht auf zwei Verse festgelegt. Häufig sind es drei oder auch vier Verse, gelegentlich auch mehr,72 wodurch die Abfolge der Stollenreime dann auch andere Konstellationen als den Kreuzreim ergibt, insbesondere den verschränkten Reim abc(d…), abc(d…) (z. B. Friedrich von Hausen MF 51,33, Heinrich von Veldeke MF 62,25) oder den Schweifreim aab, ccb (z. B. Heinrich von Morungen MF 129,14 oder Gottfried von Straßburg MF I) beziehungsweise deren Kombination (vgl. Morungen MF 123,10: abbc, addc). Der Abgesang kann Anklang an den Aufgesang (die Stollen) nehmen, indem er einzelne oder alle Stollenreime wiederaufnimmt. Man spricht von angereimten beziehungsweise durchgereimten Strophen. Der Typus findet sich sehr häufig z. B. bei Heinrich von Veldeke oder Friedrich von Hausen, aber auch bei Rudolf von Fenis oder in Ulrichs von Gutenburg Lied (MF 77,36), bei Gottfried von Neifen (KLD 36 und 42) und anderen. Als Beispiel diene eine durchgereimte Strophe Hartwigs von Raute (MF 116,1; Form: 5ʼa 5b, 5ʼa 5b // 5b 5ʼa 5b):73 Mir tuot ein sorge wê in mînem muote, die ich hin hein ze lieben vriunden hân. obe sî dâ iender gedenken mîn ze guote, als ich hie mit triuwen hân getân? Si solten mich dur got geniezen lân, daz ich ie bin gewesen in grôzer huote, daz sî iemer valsch kunne an mir verstân.
71 So z. B. bei Brunner 2005, KLEIN u. a. 72 Fünf Stollenverse haben → Frauenlobs Lieder (GA XIV) 1, 5 und 6. 73 Angereimte Strophen z. B. bei Rudolf von Fenis MF 80,25 (5ʼa 5ʼb, 5ʼa 5ʼb // 5c 5c 5c 5ʼb) oder bei Bernger von Horheim MF 113,1 (5a 5b, 5a, 5b // 5b 5ʼc 5ʼc 5b).
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Auf anderer Ebene kann die metrische Struktur und/oder die Melodie einzelner Stollenverse beziehungsweise des gesamten Stollens im Abgesang wiederaufgenommen werden. Der dritte Stollen als Abschluss des Abgesangs gewinnt im dreizehnten Jahrhundert deutlich an Beliebtheit und ist insbesondere in der Sangspruchdichtung sehr weit verbreitet,74 findet sich aber auch im Minnesang, etwa bei Konrad von Würzburg oder → Johannes Hadlaub. In Morungens (durchgereimtem) Lied MF 133,13 (Leitlîche blicke) zeigt das Strophenschema die Wiederholung der Stollenstruktur im Abgesang: 4ʼa 4b, 4ʼa 4b // 3/4b, 4ʼa 4b. Hier könnte bereits ebenfalls ein dritter Stollen vorliegen, der nach einem sogenannten ‚Steg‘ (hier: ein zäsurierter Langvers) an den Aufgesang angeschlossen wird. Sicherer Aufschluss darüber wäre freilich nur über die Kenntnis der Melodie zu erlangen, deren Bau dann das Schema A A // B A aufweisen müsste.75 Der metrischen Bauform nach präsentiert sich z. B. folgende Strophe von Hadlaub recht eindeutig als Kanzone mit drittem Stollen (SMS 20,1; Strophenschema ohne Berücksichtigung des Mittenreims76: 4ʼa 4b 5c, 4ʼd 4e 5c // 4c 2 f, 4ʼg 4h 5): Herbst will aber sîn lob niuwen: er will briuwen manigen rât, wan daz stât dien sînen êren wol. Er wil manig her birâten veizzer brâten unde wil trachten vil darzuo si machen vol. Des sîn lob sich üeben sol! niuwen wîn trinkent siu, derz hirne rüeret und ouch vüeret ir muot hô: des siu frô danne alle müezzen sîn.
Sicher nachvollziehen kann man die Bauform bei Walthers Palästinalied (L 14,38), zu dem die Melodie erhalten ist.77 Metrisch gegliedert sind dessen Strophen folgendermaßen:78 4ʼa 4b, 4ʼa 4b // 4c 4c 4c. Daraus lässt sich kein spezifischer Befund ableiten; die Melodie zeigt aber, dass der letzte Vers des Abgesangs die Melodie des zweiten Stollenverses wiederholt. Damit liegt hier der Typus der sogenannten ‚Rundkanzone‘ vor. Die Kanzone bleibt über Jahrhunderte die dominierende Bauform, die zudem durch Walther von der Vogelweide vom Minnesang auch in den Spruchsang über-
74 Brunner 2013, 57. 75 Wobei A der Stollenmelodie entspricht, B der davon abweichenden Melodie des Stegverses. 76 Zu den Reimtypen s. u., Abschnitt 4. 77 Melodieedition in L/COR Nr. 7. 78 Die Strophe ist isometrisch aus vierhebigen Versen gebaut. Innerhalb der Stollen herrscht Synaphie; auch die Melodie weist darauf hin, dass die Kadenz im ersten Stollenvers weiblich (voll) ist und damit hier nicht von klingender Kadenz auszugehen ist.
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nommen wird und damit durch den Meistergesang bis weit in die frühe Neuzeit hinein weiterlebt. Bis heute findet sich dieser Typus im Kinder-, Volks- und Kirchenlied (von ‚Ich gehʼ mit meiner Laterne‘ über ‚Der Mai ist gekommen‘ bis hin zu ‚Großer Gott, wir loben dich‘). Es gibt aber auch noch weitere und neue unstollige Typen. Insbesondere sind hier → Neidharts → Sommerlieder zu nennen (die Winterlieder sind durchweg stollig gebaut). Sie zeigen bei wechselnder Verslänge unter anderem Strophen nur mit Paarreimen, z. B. SL 20 (5ʼa 7ʼa, 4b 4b, 3ʼc 3ʼc); daneben solche, die einfachen oder doppelten Paarreim mit einem Dreireim kombinieren (z. B. SL 21: 5ʼa 5ʼa, 4b 4b 6b; oder SL 18: 3a 7a, 3b 7b, 5ʼc 5ʼc 5ʼc79); oder auch doppelt umarmenden Reim80 (SL 11: 3ʼa 4b 2b 3ʼa 4c 2c 7ʼa). „Die musikalisch zweiteilige Strophenform der Sommerlieder wird gelegentlich […] ‚Reienstrophe‘ genannt, weil der Sänger in Neidharts Liedern manchmal zum Reientanz aufruft.“81 Kann man Neidharts Abkehr von der Kanzone in den Sommerliedern gegebenenfalls begründen durch den unhöfischen (‚dörperlichen‘) Grundtenor der Lieder, gilt solches nicht für die sogenannten ‚Reihenstrophen‘. Hierbei handelt es sich um eine Bauform, die sich durch die „Wiederholung von Zweiversgruppen“ auszeichnet, wodurch jeweils Kreuzreime entstehen.82 Man vergleiche → Burkhard von Hohenfels KLD 15: Ich wil mîn gemüete erjetten, daz niht sorgen drinne sî: trût gespil, nu hilf mir tretten. nû sint doch gedanke frî, daz die nieman überwindet. ich hân funden mir ein spil: der mir mînen vinger bindet, sô wünsch ich doch swaz ich wil.
Dem metrischen Bau nach könnte es sich sogar um eine Kanzone handeln: 4ʼa 4b, 4ʼa 4b // 4ʼc 4d 4ʼc 4d; das wäre wiederum nur anhand der Melodie feststellbar. Auffallend ist der von der französischen Reihenstrophe übernommene, über die „‘Aufgesangs’grenze hinweggehende Wechsel männlicher und weiblicher Kadenz“83. Ulrichs von Winterstetten Lied KLD 26 hat eine im ersten Teil ganz analog aufgebaute
79 Das Lied könnte gegebenenfalls als Kanzone aufgefasst werden (vgl. Wachinger 2006, 645), doch spricht der Kontext der weiteren Sommerlieder dagegen. Eine Melodie ist nicht überliefert. In einem anderen ähnlichen Fall (SL 14) ist über die Melodieüberlieferung in der jüngeren Handschrift c die unstollige Form belegt (vgl. Wachinger 2006, 642). 80 D. h. ein umarmender Reim abba, der gewissermaßen durch einen Schweifreim cca ergänzt ist. 81 Hübner 2008, 55. 82 Ranawake 1976, 288–299. 83 Ranawake 1976, 289. – Die isometrischen Strophen sind durchgehend auftaktlos, so dass bei der Verbindung der einzelnen Verspaare (ab, ab, cd, cd) jeweils Synaphie herrscht; dazwischen, wo männliche Kadenz auf je auftaktfreien Vers trifft, entsprechend Asynaphie.
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Strophe (4ʼa 4b 4ʼa 4b, 4ʼc 4d 4ʼc 4d), die aber jeweils durch einen umfangreichen Refrain ergänzt ist. Otto von Botenlauben (KLD 10) hat dieselbe Reihenstrophe um zwei Verse erweitert (4ʼa 4b 4ʼa 4b, 4ʼc 4d 4ʼc 4d 4ʼc 4d).84 In Variation gibt es den Typus auch ohne den beschriebenen Kadenzwechsel (z. B. Burkhard von Hohenfels KLD 11; Konrad von Winterstetten KLD 10). Dies kann hier nur angedeutet, weitere Sondertypen können nicht im Einzelnen aufgearbeitet werden; beides bliebe Aufgabe einer umfassenden Formgeschichte des Minnesangs. Im Vordergrund steht hier das dargelegte Instrumentarium, dessen es bedarf, um unterschiedliche Formtypen zu beschreiben und auf ihre Architektur hin zu befragen. In diesem Sinne sei abschließend noch Hiltbolts von Schwangau Strophe KLD 11 erwähnt. Sie besteht aus drei gleichgebauten Teilen mit je vier vierhebigen Versen, die durch verschränkten Reim verbunden sind: abcd, abcd, abcd: Wol mich des daz ichs ie gesach, sælic sî diu stunde, dô mîn herze erwelte sie, der tugende meisterinne. gedæhte si, wenn ez geschach daz ich von ir munde dort ir êrsten gruoz enpfie! dô gap mich ir diu minne daz mich ir nieman versprach der ez wizzen kunde. iemer sît sô kerte ich ie gein ir mîne sinne.
Soll das eine Kanzone sein, deren Abgesang nur aus einem dritten Stollen besteht? Eher wäre von einer Periodenstrophe zu sprechen. Von Vers zu Vers wechselt auch hier die Kadenz. Das einzelne Verspaar wäre (prosodisch) zu notieren als 4 3ʼ; doch ist wahrscheinlich von klingender Kadenz auszugehen, so dass die Strophe mit Ranawake auch als „‚Reihe‘ aus sechs Vagantenzeilen“85 beschrieben werden könnte (vgl. den metrisch identischen Eingang der sogenannten Vagantenbeichte des Archipoeta, CB 191: ESTVANS Interius ira uehementi | in amaritudine loquar mee menti etc.).86
84 Es handelt sich um eine Einzelstrophe. Die Verse haben hier allerdings durchgehend Auftakt. 85 Ranawake 1976, 295. 86 Siehe auch unten in Abschnitt 5 das Beispiel Ulrich von Winterstetten KLD 5.
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(3) Strophenübergreifende Elemente Die Strophen eines Liedes können z. T. über Formelemente miteinander verbunden sein, die über die einzelne Strophe hinausgehen. Zu nennen wären etwa Reimresponsionen wie in Walthers von der Vogelweide Kranzlied L 74,20, wo in der ersten Strophe tanz und cranz den ersten Reimklang bilden, was in der vierten Strophe als letzter Reimklang (hier in weiblicher Kadenz tanze : cranze) wieder aufgenommen wird und einen auch inhaltlichen Rahmen bildet.87 Strophenübergreifend ist auch ein sogenannter K o r n r e i m (oder einfach: ‚Korn‘). Er liegt vor, wenn Waisen innerhalb verschiedener Strophen aufeinander reimen. Ein Beispiel bietet Walthers Lied L 119,17.88 In der einzelnen Strophe erscheint V. 7 als Waise, doch reimt dieser (auch durch seine Länge innerhalb der Strophe hervorgehobene) Vers jeweils auf V. 7 der weiteren drei Strophen des Liedes (sît : lît : nît : zît). Der Korn wird im Strophenschema meist mit dem Großbuchstaben K bezeichnet; hier wäre es so zu notieren: 4a 4b, 4a 4b // 4ʼc 4ʼc 8K 4d 4d. Kornreim als strophenbindendes Element kennt schon Heinrich von Veldeke MF 59,23 mit identischem Reim jeweils in V. 8 (rehte[n] minne) innerhalb einer die Strophe abschließenden Waisenterzine, wodurch fast ein refrainartiger Effekt entsteht. In dem fünfstrophigen ReinmarLied MF 154,32 sind die ersten drei Strophen durch Kornreim (ebenfalls innerhalb einer Waisenterzine) gebunden.89 Ein Lied kann auch mehrere Körner haben, so etwa bei Gottfried von Neifen KLD 27: Die ersten beiden Strophen enden im letzten Vers auf den homonymen (d. h. lautgleichen, aber bedeutungsverschiedenen) Reimklang want, die dritte und vierte Strophe sind an derselben Position durch das Reimwort guot gebunden. Überhaupt hat Gottfried „[d]ie Technik des Korns […] auf den Höhepunkt geführt, wenn er im Lied KLD 7 jeden Vers einer Strohe als Waise dichtet und ihm erst in einer späteren Strophe seinen Reimpartner gibt, so daß alle Verse Körner sind, wobei die 1. und die 3., die 2. und die 4. Strophe einander korrespondieren.“90
87 In A und C hat das Lied jeweils fünf Strophen. L/Cor stellt die vierte und fünfte Strophe des Liedes gegen die Überlieferung um, so dass die Lexeme tanz und cranz tatsächlich den klanglichen Anfang und das Ende des Liedes ausmachen. In der vierstrophigen Fassung der Handschrift E ist dies auch in der Überlieferung der Fall, und zwar im Zuge einer Umformulierung gegenüber A und C derart, dass hier der Reim crantze : tanze die Reimwörter vom Anfang des Liedes in chiastischer Umkehr wiederholt. 88 Zweifelhaft hingegen L 45,37, wo nur in zwei der drei Strophen der vorletzte Vers (innerhalb einer Waisenterzine) denselben Reimklang hat. Hier könnte der ‚Korn‘ auch zufällig zustande gekommen sein. 89 Der Blick auf die Überlieferung zeigt hier einen differenzierten Befund; gegebenenfalls können dabei auch Beobachtungen zur Form zum Argument werden, wenn es etwa darum geht, unterschiedliche Fassungen des Liedes zu konstatieren. 90 Hoffmann 1981, 101.
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Als formal-inhaltliches Element ist hier auch der R e f r a i n (‚Kehrreim‘) zu behandeln: ein jeweils auf dieselbe Melodie gesungenes wiederkehrendes Textversatzstück im Umfang eines oder mehrerer Verse, meist am Ende einer Strophe. Der vielleicht früheste Beleg hierfür findet sich in Dietmars von Aist Wechsel MF 38,32 (eine von zwei Männerstrophen gerahmte Frauenstrophe), wo im vorletzten Vers jeweils der Ausruf sô hôh ôwî! wiederholt wird. Der Refrain bindet die Strophen aneinander91 und bezieht hier auch inhaltlich die beiden Sprecher aufeinander. So ist es auch bei Heinrich von Veldeke (MF 60,13). Die beiden Strophen des Liedes stehen in den Handschriften nicht hintereinander, sind aber neben der Tongleichheit durch den Refrain als zusammengehörig zu erkennen. Auch hier handelt es sich um einen Wechsel, in dem es um die Liebesfreude geht. Der Refrain (V. 5–9) ist je Strophe an die Geschlechterrolle angepasst: ‚Der blîdeschaft sunder riuwe hât mit êren hie, der ist rîche. daz herze, dâ diu riuwe inne stât, daz lebet jâmerlîche. Er ist edel unde vruot, swer mit êren kan gemêren sîne blîtschaft, daz ist guot.‘ Diu schoene, diu mich singen tuot, si sol mich sprechen lêren, dar abe, daz ich mînen muot niht wol kan gekêren. Sî ist edel unde vruot, swer mit êren kan gemêren sîne blîdeschaft, daz ist guot.
Refrains haben auch Friedrich von Hausen (MF 49,37) und Albrecht von Johannsdorf (MF 90,16), jeweils in zweistrophigen Liedern. Als Refrain wird man auch das tandaradei in Walthers Lindenlied (L 39,11)92 ansehen dürfen, das jeweils innerhalb eines Satzes eingeschoben ist, der den kurzen Abgesang füllt. Vergleichbar ist das ôwê in Morungens Lied MF 127,34, das in jeder der vier Strophen als Klageruf ebenfalls in den Abgesang inseriert ist. Ein Owê eröffnet als „Eingangskehre“93 auch jede Strophe seines Tageliedwechsels MF 143,22, das jeweils auf den refrainartigen Schluss Dô tagte ez endet, so dass eine wiederkehrende Rahmung entsteht.
91 „An der kompositionellen Zusammengehörigkeit der Strophen kann aufgrund des Refrains kein Zweifel bestehen“ (Kasten 1995, 611). 92 Darauf spielt wohl auch Neidharts einziger Refrain in SL 1 an: traranuretun traranuriruntundeie. 93 Kasten 1995, 799.
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Refrains sind ein beliebtes Gestaltungsmittel, das insbesondere bei den Dichtern des fortschreitenden dreizehnten Jahrhunderts reiche Verwendung findet, reihenweise etwa bei → Steinmar, Konrad von Würzburg oder Ulrich von Winterstetten. Man wird sich vorstellen dürfen, dass sie in besonderem Maße zum Mitsingen einluden, mithin wohl auch als starkes Indiz für den wiederholten Vortrag zu betrachten sind.
4 Reimklang Reiner versus unreiner Reim Das wichtigste klangliche Kriterium neben der Rhythmisierung der Sprache ist der Reim, genauer der Endreim, der die einzelnen Verse oder Versteile als solche hörbar macht und aneinanderbindet. Ab dem ausgehenden zwölften Jahrhundert wird der reine Reim, also der Gleichklang zweier Wörter ab der letzten betonten Silbe, zur Norm. Im frühen Minnesang (bis einschließlich Friedrich von Hausen) herrscht demgegenüber noch die Lizenz zum unreinen beziehungsweise assonierenden Reim.94 Bei der A s s o n a n z liegt ein Gleichklang der (Stammsilben-)Vokale bei unterschiedlicher konsonantischer Umgebung vor. Dies findet sich beispielsweise beim Kürenberger in nahezu jeder Strophe, hier reimt z. B. was auf sach, wünne auf künde, zinne auf singen, hemede auf edele usw. In älterer Dichtung zählt gegebenenfalls auch ein Gleichklang nur der Nebensilben als Reim, zumindest dort, wo die Nebensilbe taktbildend ist, wie z. B. in der klingenden Kadenz in MF Namenlos VI, wo úmbè auf mégedè reimt. Hier gibt es freilich auch Zweifelsfälle. So wäre zu fragen, ob in der berühmten Strophe Dû bist mîn, ich bin dîn (MF 3,1) der zweite Satz, dû bist beslozzen | in mînem herzen, der üblicherweise in zwei Zeilen umgebrochen gedruckt wird, tatsächlich als zwei gereimte Verse zu gelten hat, oder ob er nicht stattdessen als ein langer Vers (als Waisenzeile zwischen zwei Paarreimen) aufzufassen wäre.95 Manches, was als unreiner Reim erscheinen möchte, bietet sich allein dem (modernen) lesenden Auge so dar. So reimt u. a. bei Friedrich von Hausen MF 45,37 das Lexem niht auf liep (so die Handschriften), was als dialektaler Reim niet : liep völlig unanstößig ist. Gerade bei Dichtern, die nicht aus dem hochdeutschen Sprachraum stammen, ist mit entsprechend dialektal geprägter Reimsprache zu rechnen. Dies gilt z. B. für den Niederdeutschen Wizlav von Rügen oder für den aus dem Limburgischen stammenden Heinrich von Veldeke. Während nicht selten die Reime auch dialektüber-
94 Man spricht auch von (vokalischem) ‚Halbreim‘ (zur Kritik am Begriff s. Hoffmann 1981, 37). 95 Denkbar wäre freilich auch eine Rezitation als zwei vierhebige Verse mit klingender Kadenz: dû́ ́ em hérzèn; dann gälte auch hier, dass die taktbildenden Nebensilben durchaus bíst beslózzèn | ín mîn Reimklang erzeugten.
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greifend erkennbar bleiben, ist das beispielsweise in der folgenden, durchgereimten Strophe Veldekes nicht mehr der Fall (MF 56,1): Ez sint guotiu niuwe maere, daz die vogel offenbaere singent, dâ man bluomen siht. zén zî́ten in dem jâre stüende wol, daz man vrô waere, leider des enbin ich niht: Mîn tumbez herze mich verriet, daz muoz unsanfte unde swaere tragen daz leit, daz mir beschiht.
Heinrichs von Veldeke Lieder bieten hier ein Problem für sich. Überliefert sind sie nur in den oberdeutschen Handschriften A, B und C in hochdeutscher Sprachgestalt (die zitierte Strophe nur in B und C), so dass im obigen Beispiel etwa maere (offenbaere, waere, swaere) im Reim auf jâre steht und siht (niht, beschiht) auf verriet. Rein reimen die entsprechenden Lexeme aber im Niederdeutschen: mâre : openbâre : jâre etc. beziehungsweise sît : nît : verrît : geschît.96 An anderer Stelle (MF 60,29) steht z. B. mittelhochdeutsch blat : stat : gehaz in Reimposition. Auch das ist nicht etwa als Assonanz aufzufassen, sondern bildet unter den Bedingungen der nicht durchgeführten hochdeutschen Lautverschiebung einen reinen Reim mit der im Niederdeutschen unverschobenen Form gehat. Auch bei dem Mitteldeutschen Heinrich von Morungen findet sich z. B. in MF 122,1 in den Handschriften (BC) der ‚Reim‘ umbega(n)t : umbevat : giht (zu mittelhochdeutsch umbe gân beziehungsweise gên; umbevâhen; jehen). Im Mitteldeutschen geht das indes auf als umbe gêt : umbevêt : jêt, und so drucken es üblicherweise (nicht selten gegen das sonstige Bekenntnis zur größtmöglichen Handschriftennähe) auch die Editionen.97
Reimstellung Dominant ist der Reimklang am Versende als wichtiges, auch die Strophenstruktur unterstützendes, wo nicht gar konstituierendes Merkmal. Die wichtigsten Reimstellungen von Versen zueinander wurden bereits in der Darstellung der Strophenformen benannt und seien hier nur knapp wiederholt: P a a r r e i m (aa, bb, …), K r e u z r e i m 96 Vgl. in MF die Rekonstruktion in altlimburgischer Sprache (dazu MF2, 80–81), die dem überlieferten Text gegenübergestellt ist. 97 Weitere (vermeintliche) Abweichungen von der zu erwartenden sprachlichen ‚Norm‘ sind ebenfalls nicht als unreine Reime zu werten, so z. B. Reime unterschiedlicher Quantitäten auch bei hochdeutsch Dichtenden (vgl. den Reim naht : brâht bei Friedrich von Hausen MF 45,37, I, V. 7/8, oder bei Wolfram MF 7,41. Geläufig ist auch der Reim vom Typus kan : nan (für mittelhdochdeutsch nam, Präteritum von nemen), z. B. Reinmar MF 159,1, II, V. 8/9, oder Hartmann von Aue MF 214,34, III, V. 1/3.
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(abab), u m a r m e n d e r oder u m s c h l i e ß e n d e r R e i m (abba), S c h w e i f r e i m (aab, ccb), v e r s c h r ä n k t e r R e i m (abc[d…], abc[d…]); zu ergänzen wäre noch der gehäufte Reim oder H a u f e n r e i m (aaaa[…])98. Waisenzeilen (meist mit x,y bezeichnet) stehen für sich, können aber eingebunden sein in eine bestimmte Reimgruppe (oft innerhalb der erwähnten Waisenterzine) oder strophenübergreifend als K o r n r e i m wieder aufgenommen werden. Hinzu kommen sodann die verschiedenen Reimstellungen innerhalb eines Verses (‚Binnenreime‘) beziehungsweise versübergreifende Reime außerhalb des Versendes. Die wichtigsten Typen seien hier kurz benannt und mit wenigen Beispielen illustriert.99 B i n n e n r e i m im eigentlichen Sinne liegt vor, wenn innerhalb eines Verses zwei (oder mehrere) Wörter aufeinander reimen, z. B. Hartmann von Starkenberg KLD 3,1, V. 6: und wil singen ûf gedingen der vil lieben frouwen mîn, oder Wolfram von Eschenbach MF 7,41, I: „Ez ist nu tac. daz ich wol mac mit wârheit jehen. ich wil niht langer sîn.“ ‚diu vinster naht hât uns nu brâht ze leide mir dén mórgenschîn. […].‘
Eine besondere Art des Binnenreims ist der S c h l a g r e i m , bei dem die Reimwörter unmittelbar aufeinander folgen (oft gehäuft innerhalb einer Strophe), z. B. Walther L 47,16: Ich minne, sinne, lange zît, oder Gösli von Ehenhein KLD 1,1: Sît der winter hinter ist verdrungen, sô wirt wunnenclich besungen walt heid anger blüende ouwe über al. gen den morgen sorgen lânt, ir jungen, sît frîlichen stêt entsprungen vîol liljen rôsen, bluomen alle wal. singent vogel, sô sing ich der süezen. mîner frouwen schouwen unde ir grüezen mac mir sendiu leit und trûren büezen.
98 Z. B. Hartmann MF 205,1 mit vierfachem Haufenreim im Abgesang. Auf die Spitze getrieben etwa in Walthers sogenanntem Vokalspiel L 75,25: Das Lied reimt in jeder seiner fünf Strophen in sieben fachem (männlichem) Haufenreim ausschließlich auf einen der fünf (langen) Vokallaute, und zwar in alphabetischer Reihenfolge (erste Strophe alle Reime auf -â, zweite auf -ê usw.). 99 Vgl. auch den Überblick bei Hoffmann 1981, 17–18; Bögl 2006, 20.
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Verläuft die Versgrenze zwischen den Reimwörtern eines Schlagreims, spricht man von ü b e r g e h e n d e m R e i m ;100 vgl. etwa Konrad von Würzburg SCHR 10, V. 18–19: wîbes künne | wünne kan gemêren, oder den Refrain in seinem Lied SCHR 7: Meienbluot hôchgemuot sendes herzen sinne minne- clichen101 tuot.
Der Reim des Versendes auf ein Wort im Innern eins folgenden (oder gegebenenfalls vorausgehenden) Verses heißt M i t t e n r e i m ; z. B. Hadlaub SMS 2,1, V. 1–4: Ich diene ir sît daz wir beidiu wären kint. diu jâr mir sint gar swaer gesîn, Wan si wag so ringe mînen dienest ie: sin wolte nie geruochen mîn.
Reimt der Anfang eines Verses mit dem Ende desselben oder eines späteren Verses, nennt man dies P a u s e n r e i m .102 Vgl. Walther L 62,6, jeweils V. 5 und 10; z. B. II: Wân und wunsch, daz wolt ich allez ledic lân; | […] treit iuch mîn lop ze hove, daz ist mîn werdekeit. Über zwei Verse erstreckt sich der Pausenreim in seinem sogenannten Alterston L 66,21 (Ir reiniu wîp, ir werden man), jeweils V. 5/6 und 7/8: Des habent ir von schulden grœzer reht danne ê. welt ir vernemen, ich sage iu wes: wol vierzic jâr hân ich gesungen unde mê von minnen und alse iemen sol.
Der Pausenreim kann auch noch weiter auseinanderrücken, wobei sich die Frage stellt, ob und wie er dabei noch performativ zur Geltung gebracht (und wahrgenommen) werden kann. Bei → Ulrich von Liechtenstein KLD 40 rahmt der Pausenreim den
100 Der Düring, KLD 4, verbindet in den beiden Stollenversen den übergehenden Reim mit einem weiteren Schlagreim, so dass jeweils eine dreifache Klangkaskade entsteht: Ich hân selken trôst besunnen, | wunnen sunnen glîch ist sî gestalt etc.; da es sich um eine Kanzonenform mit drittem Stollen handelt, gibt es je Strophe drei dreifache Schlagreime. 101 Hier liegt her ein sogenannter g e b r o c h e n e r R e i m vor: Nur ein Bestandteil des Adverbs minneclichen reimt, so dass das Wort durch den Reimklang gewissermaßen in zwei Hälften ‚zerbrochen‘ wird. 102 In einem weiteren Sinne, nicht beschränkt auf ein Versende, versteht Hübner 2008, 80, unter Pausenreim eine „Reimbindung zwischen einem Wort am Versbeginn und einem Wort in einer beliebigen anderen Position“ und verwendet ihn (142) auch für eine Reimbindung jeweils am Versanfang, die man ansonsten auch als A n f a n g s r e i m bezeichnet; vgl. z. B. Konrad von Würzburg SCHR 9, wo jeweils das erste Wort der beiden Stollen aufeinander reimt.
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Abgesang über drei Verse, bei Gottfried von Neifen sind es bisweilen auch vier oder fünf Verse. In seinem Lied KLD 6 reimt jeweils das erste Wort einer Strophe auf deren letztes; hier erstreckt sich der Pausenreim über nicht weniger als elf Verse. Beim M i t t e l r e i m schließlich korrespondiert die Mitte des einen mit der Mitte eines anderen Verses oder auch mehrerer Verse, wie es bei Heinrich von Rugge MF 110,26 gleich vierfach der Fall ist: Ich suochte wîser liute rât, daz sî mich lêren, wie ich sî behalde, diu wandelbaeres niht begât und ie nâch êren vrowen prîs bezalde. mîn heil in ir genâden stât, si kan verkêren sorge, der ich walde. ir güete mich gehoehet hât, daz sol si mêren nâch ir êren manicvalde.
Die Strophe zeigt auch in besonderer Weise die Schwierigkeit, wie dieser Reimtypus einzuschätzen beziehungsweise ob überhaupt von einem eigenen Typus zu sprechen ist. Da der Mittelreim zäsurierte Verse konstituiert, könnte man jeweils auch die Verszeile nach dem Reim umbrechen.103 Im zitierten Fall hätte man es dann mit einer (Perioden-)Strophe von zwölf Versen mit vierfachem verschränktem Reim (abc, abc, abc, abc) zu tun.
Reimarten Eine besondere Form des Reimklangs stellt der r ü h r e n d e R e i m dar, bei dem auch die Konsonanten vor dem Reim (ab der letzten betonten Silbe) gleich sind. Hierbei ist zu unterscheiden nach a) dem identischen Reim, der also zweimal dasselbe Reimwort verwendet; er gilt als verpönt und kommt entsprechend selten vor. Von Kunstfertigkeit zeugt hingegen b) der h o m o n y m e oder ä q u i v o k e R e i m , bei dem vollständig gleich klingende aber bedeutungsverschiedene Wörter aufeinander reimen. Gottfrieds von Neifen Lied KLD 18 besteht ausschließlich aus solchen Reimen. In der ersten Strophe reimt z. B. V. 3, heide und ouwe ist bluomen bar, auf V. 6, swaz der süeze meie bar. Es handelt sich nicht um einen identischen Reim, denn bar ist im ersten Fall ein Adjektiv (‚bar‘, ‚ohne‘), im zweiten Fall das Präteritum vom Verbum bern (‚tragen‘). Gleiches gilt für die zweite Strophe, wo swære als Substantiv auf das Adjektiv swære reimt, ebenso das schwache Verb ringen (‚verringern‘) auf das gleichlautende starke Verb (‚sich abmühen‘) etc.
103 Zur Frage, „ob der Reim durchweg den Vers mache (entsprechend der Grundbedeutung von mittelhochdeutsch rîm = Verszeile)“ s. auch Schweikle 1995, 164–165.
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Erstreckt sich der Reim auf mehr als den Gleichklang ab der letzten betonten Silbe, bezeichnet man das als e r w e i t e r t e n oder r e i c h e n R e i m . Vgl. das Lied KLD 3 des Düring, der in êre bernder blüete auf mit iemer wernder güete reimt (in den folgenden Strophen: sender- inne : swender- inne, also mit gebrochenem Reim, sowie güetlich lachen : müetlich machen). Eine Sonderform des reichen Reims ist der S c h ü t t e l r e i m , bei dem „die anlautenden Konsonanten der reimenden Silben untereinander vertauscht werden“104; vgl. Konrad von Würzburg SCHR 13,1: Jârlanc vrîjet sich diu grüene linde loubes unde blüete guot; wunder güete bluot des meien ê der werlte bar. gerner ich dur liehte bluomen linde hiure in touwes flüete wuot, danne ich wüete fluot des rîfen nû mit füezen bar. mir tuont wê die küelen scharphen winde. swint, vertânez winterleit, durch daz mînem muote sorge swinde! wint mîn herze ie kûme leit, wande er kleiner vogellîne fröude nider leit.
In jeder der drei Strophen des Liedes finden sich drei Schüttelreime, zweimal in Form des (reichen) Mittenreims in V. 2/3 (blüete guot : güete bluot) und 5/6 (flüete wuot : wüete fluot), die zudem auch noch gleichklingend sind, sowie einmal jeweils über die Vers- und Satzgrenze hinweg in V. 7/8 beziehungsweise 9/10 (winde / swint : swinde / wint). Die Strophe ist darüber hinaus mit äquivoken Reimen angereichert, im Abgesang sogar mit dreifachem Homonym: V. 8 leit als Substantiv; V. 10 leit als Adjektiv; V. 11 leit als kontrahierte Form des Verbums legen.105 Schließlich sei noch der g r a m m a t i s c h e R e i m genannt, der als Reimwörter „verschiedene Flexionsformen eines Wortes oder Ableitungen von ein und demselben Stamm“ ausstellt, die jeweils auf die grammatischen Entsprechungen eines gleichklingenden Lexems reimen.106 Vgl. Ulrich von Liechtenstein KLD 52,1: wol her alle, helfet singen wîbes lop, daz ich ie gerne sanc. tuot ir daz, iu mac gelingen, swie mir noch nie wol an in gelanc. doch geloubet daz ir twingen biderben man ûf hôhen muot ie twanc.
104 Hoffmann 1981, 15. 105 Ausführliche Besprechung des Liedes mit Übersetzung bei Hübner 2008, 138–142. 106 Hoffmann 1981, 15; dort als Beispiel Gottfried von Neifen KLD 26.
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Reimartistik Insbesondere die Lieddichter des dreizehnten Jahrhunderts verwenden oft vielfältige Kombinationen aus den verschiedenen Reimarten und -stellungen, so dass sie eine komplexe → Form- und Klangkunst entwickeln.107 Das haben bereits etliche der oben angeführten Beispiele, insbesondere die letzten, gezeigt. Exemplarisch sei hier nochmals auf Gottfried von Neifen und Konrad von Würzburg108 verwiesen. Zwei besonders hervorstechende Formspiele des Letzteren sollen zumindest erwähnt werden: Die beiden Strophen des Liedes SCHR 26 bestehen fast ausschließlich aus Kaskaden von Schlagreimen, die sich je Verspaar als übergehender Reim auch über die Versgrenze fortsetzen. Jeder zweite Vers endet auf ein einzelnes Wort ohne Schlagreimpartner; diese reimen aber wiederum paarweise aufeinander (V. 1–8; V. 9–10 ist zudem durch einen Mittenreim angereichert und bildet einen abschließenden Paarreim):109 Gar bar lît wît walt, kalt snê wê tuot: gluot sî bî mir. gras was ê, clê spranc blanc, bluot guot schein: ein hac pflac ir. schœne dœne clungen jungen liuten, triuten inne minne mêrte: sunder wunder- bære swære wilden bilden heide weide rêrte, dô frô sâzen die, der ger lâzen spil wil hie.
Die Einzelstrophe SCHR 30 besteht aus acht Versen, die zwei Kreuzreimgruppen bilden (abab cdcd). Ihre Besonderheit: „Jede einzelne Silbe jedes Verses reimt mit der metrisch entsprechenden Silbe des übernächsten Verses.“110 Zur Illustration genügen die ersten vier Verse: Swâ tac er- schînen sol zwein liuten, die ver- borgen inne liebe stunde müezen tragen, dâ mac ver- swînen wol ein triuten: nie der morgen minne- diebe kunde büezen clagen.
107 Vgl. Braun 2013. 108 Vgl. Hübner 2008, 73–83 und 132–145 (Beispieltexte mit Übersetzung, Interpretation und Formanalyse). 109 Unterstrichen sind hier die übergehenden Reime sowie die Reime außerhalb der Schlagreimbindung. – Wie die Hebungs- beziehungsweise Taktzahl in den einsilbigen Schlagreimfolgen zu messen ist, muss offenbleiben; vielleicht füllt hier jede Silbe einen Takt, um die Klangästhetik performativ erfahrbar zu machen. 110 Hübner 2008, 143; vgl. 144 auch zur Frage nach der Medialität dieser Art von Texten.
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Ein ebenfalls ganz außergewöhnliches Kunststück gelingt dem Düring. Der Minnespruch KLD 1 besteht aus drei Teilen, die jeweils aus gewissermaßen reihenweise ineinander geschachtelten Pausenreimen bestehen. Wo sie sich in der Mitte treffen, entsteht ein (übergehender) Schlagreim: ein Gebilde, das man als Reim-P a l i n d r o m bezeichnen könnte.111 Auch hier genügt der erste Teil der Strophe, um das Prinzip zu veranschaulichen: Spil minnin wundir volbringin man gît î wîvin, der drûwin deil prîsin ir êre schône: ich spê dâ hô sterke, dî mich hân virladin. Schadin irgân ich hî merke. sô lâ mê dich krône, hêre, dir, wîsin, heil nûwin. wer lîvin î rît an ringin wol sundir sinnin vil?
5 Ausblick: Metrik und Reim als Argument für Textkritik und Interpretation Die Formanalyse ist kein Selbstzweck, sondern zugleich Instrument und Bestandteil des philologisch-literaturwissenschaftlichen Zugriffs auf poetische Texte. Das soll abschließend, z. T. in Fortführung und Ergänzung bereits angesprochener Aspekte, weiter perspektiviert werden. Ein offensichtlicher, wenn auch seltener Nutzen metrischer Analyse ist es, unbekannte Texte zu identifizieren und sie über die Form einem (Ton-)Autor zuzuordnen. So konnten z. B. bei der Beschreibung des in den 1980er Jahren neu aufgefundenen ‚Maastrichter Fragments‘112 mehrere bis dahin nicht bekannte Strophen u. a. auch über die Formanalyse zugeordnet werden.113 Wichtiger und wesentlich häufiger werden Metrum und Reim zum Argument in der Textkritik.114 Ein festes Formgerüst macht Lücken darin oder Abweichungen davon leichter erkennbar und gibt gegebenenfalls die Möglichkeit, solche zu schließen oder form- und ‚normgerecht‘ zu bessern, etwa bei unpassenden oder fehlenden Reimwör111 Vgl. Stridde 2012, 279–284, zur Bauform bes. 281–282. 112 Maastricht, Regionaal Historisch Centrum Limburg, Ms. 237 (früher 167,III-11). 113 Tervooren und Bein 1988. 114 Auf den oben anhand des sogenannten ‚Veldekeproblems‘ angedeuteten Zusammenhang zwischen Reimgrammatik und Normalisierung kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es ist nur daran zu erinnern, dass die Form auch von der dialektalen Einbettung der Sprache abhängt und dass sich deswegen die Formgeschichte eng mit Fragen der Überlieferungsgeschichte und Textkritik berührt.
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tern, bei metrisch unter- oder überfüllten Versen. Bei varianter Mehrfachüberlieferung wird eine textkritische → Edition, die nach dem möglichst authentischen Text hinter der Überlieferung sucht, derjenigen Lesart den Vorzug geben, die dem Formschema entspricht, und diejenige verwerfen, die dagegen verstößt.115 Ein überlieferungsgeschichtlich etwas komplexeres Beispiel: Albrechts von Johannsdorf Lied Ich und ein wîp (MF 87,29; IIIb) ist in den Handschriften B und C mit drei Strophen und weitestgehend identischem Text überliefert. Der Form nach handelt es sich um eine so komplexe wie distinkte Kanzonenform mit 14 Versen unterschiedlicher Länge (drei bis sechs Hebungen), deren Stollen jeweils aus einer Kreuzreimperiode gebildet sind; der sechszeilige Abgesang besteht aus einen Paarreim und einem umschließenden Reim: 4a 3b 5a 3b, 4c 3d 5c 3d // 6e 4e 6 f 3ʼg 5ʼg 6 f. Die erste und dritte Strophe sind in der Handschrift A parallel überliefert (allerdings im Corpus Niunes). Dazwischen ist eine zweite Strophe eingeschoben, die vom Formschema abweicht beziehungsweise es erheblich verkürzt und damit auch die Kanzonenstruktur auflöst. Inhaltlich ist der Text aber an sich unanstößig, die Strophe beginnt in A (Bl. 24r, in leicht normalisierter Umschrift): Ich minne si vur alliu wip. alle mine sinne und och der lip, daz stet in ir gebot.
Die sechs darauf folgenden Verse entsprechen formal genau dem Abgesang der Albrecht-Strophe. Nun gibt es wiederum im Albrecht von Johannsdorf-Corpus in C, allerdings an späterer Stelle, außerhalb des oben genannten Liedzusammenhangs von B und C, eine weitere Strophe, die genau dem genannten Kanzonenschema entspricht und die alle Verse enthält, die auch die zweite Strophe in A hat (s. u.). Damit wäre für diese Strophe aus formgeschichtlicher Perspektive der textkritische Vorrang von C und ein Defekt in A erwiesen.116 Mithilfe des C-Textes kann man entsprechend den in A nur verstümmelt bezeugten Aufgesang ergänzen. Er lautet dann so (zitiert nach MF 87,29 [IIIa], II, V. 1–8; die in A parallel überlieferten Verse sind kursiv hervorgehoben):
115 Diesem produktionsästhetischen Ansatz kann freilich ein (auch editorisches) rezeptionsästhetisches Interesse gegenübergestellt werden, das nach den inhaltlichen und formalen Transformationen von Texten im Laufe des Traditionsprozesses fragt und das ebenso seine Berechtigung hat. Neuere Interpretationen lenken ganz zu Recht den Fokus strenger auf die tatsächlich überlieferten Texte, vgl. aus jüngster Zeit exemplarisch etwa Kellner 2018 und Rudolph 2018. 116 Das schließt auch hier – jenseits der Frage nach der Sangbarkeit der Strophe – nicht die Interpretierbarkeit des Textes in A als Fassung eigenen Rechts aus. Man sollte dann aber klar machen, auf welchen (und auf wessen) Text man sich bezieht. – Vor allem aber ist der Fall auch geeignet, an die Kontingenzen der Überlieferung zu gemahnen. Man stelle sich vor, es wäre ohne jedwede Parallele nur diese eine Strophe in A überliefert: Sie hätte sich keinem bekannten Formtypus zuordnen lassen. Was hätte man damit angefangen?
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Ob ich si iemer mêre gesehe, des enweiz ich niht vür wâr. dâ bî geloube mir, swes ich ir jehe, ez gêt von herzen gar. ich minne si vür alliu wîp, und swer ir des bî gote, alle mîne sinne und ouch der lîp daz stêt in ir gebote.
Auch bei unikaler Überlieferung kann das Formargument die editorische Textherstellung befördern beziehungsweise allererst ermöglichen. Hierzu ebenfalls ein Beispiel. Heinrichs von Rugge allein in C überliefertes Lied MF 101,15 zeigt in der ersten und zweiten Strophe das folgende, durch Mittel- und Binnenreime geprägte Schema:117 2ʼa/2b 5ʼc, 2ʼa/2b 5ʼc // 2ʼd/2ʼd 2ʼe/2ʼe/2 f 5 f 3ʼg/2ʼg. Hiervon weicht die dritte und letzte Strophe des Liedes z. T. erheblich ab. Allerdings ist anhand des überlieferten Wortmaterials eine „Angleichung an Strr. 1 u. 2 […] durch b l o ß e Umstellung möglich“118. Eine Gegenüberstellung des handschriftlichen Textes mit der Rekonstruktion durch Carl von Kraus, der Moser und Tervooren in MF folgen, kann das illustrieren; die umgestellten Passagen sind durch Einklammerung in ˹ ˺ angezeigt. Text nach C:119 Mir hât das herze verrâten den lîp, des was ie flîssig der muot und die sinne, das si mich bâten ze verre umb ein wîb, diu mir nu zeiget das leit für ir minne. dâst an mir gar ein wunder besunder, das ich mich hân verlân ze verre ûf den
wân, der mich ie truog und mir freislîchen loug, sît ich ir dienen begunde, als ich kunde.
Text nach MF: Mir hât ˹verrâten daz herze˺ den lîp, des was ie vlîzic der muot und die sinne, daz si mich bâten ze verre umb ein wîp, diu mir nu zeiget daz leit vür ir minne. Dâst ˹besunder an mir gar ein wunder˺, daz ich mích hân verlân ˹ûf den wân,
der mich trouc und mir ze verre ie˺ vreislîchen louc, sît ich ir dienen begunde, als ich kunde.
Die Rekonstruktion ist „in ihrer Art ein Meisterstück“120, aus formal-produktionsästhetischer Perspektive mag sie ihre Berechtigung haben. Moderne Editionen und Interpretationen sind demgegenüber oft zurückhaltender und bleiben beim überlieferten Wortlaut. Derartige Rekonstruktionsversuche sollten gleichwohl weiterhin erlaubt bleiben, müssen aber als solche transparent gemacht werden. Zurückhaltung ist jedenfalls angebracht gegenüber der (genieästhetischen Vorstellungen verpflich117 Die zweite Strophe zeigt in der überlieferten Form eine leichte Abweichung in V. 3, die aber durch eine geringfügige Wortumstellung behoben werden kann. 118 MF2, 91 (Hervorhebung im Original); allerdings kommt es dabei in V. 6 zu männlichen Kadenzen im Binnenreim, wo die Strophen 1 und 2 weiblichen Reim haben, was den rhythmischen Fluss beeinträchtigt. 119 Abdruck nach Rudolph 2018, 104, der auch knapp die Formfrage diskutiert. 120 MF2, 91.
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teten) Neigung der älteren Forschung, jedwede ‚Abweichung‘ zum Anlass zu nehmen, die Echtheit der Texte in Frage zu stellen oder sie sich zurechtzukonjizieren. Für die Interpretation sind metrische Beobachtungen von Belang, wenn die Form den Inhalt unterstützt oder ihm gegebenenfalls zuwiderläuft. So kann sich etwa ein Augenmerk darauf lohnen, welche semantisch bedeutenden Begriffe auch metrisch hervorgehoben sind und dadurch der jeweiligen Aussage Nachdruck verleihen können. Derart könnte z. B. in Meinlohs von Sevelingen Strophe MF 14,1 in V. 4 und 6 auffallen, dass das Verb trûren und das Adjektiv vrô jeweils in beschwerter Hebung stehen (im trû́rèt sîn hérzè […]; vrố wírt er níemèr), was die Lexeme hervorhebt und den semantischen Kontrast unterstreicht; verstärkt noch dadurch, dass mit dem trûren das herze in klingender Kadenz korrespondiert, wie andererseits das vrô-Sein durch das ebenfalls klingende niemer dauerhaft ausgeschlossen wird, solange nicht der ritter im Arm der Dame liegt (V. 7). – In Friedrichs von Hausen Mîn herze und mîn lîp diu wellent scheiden (MF 47,9) klagt das Ich in der zweiten Strophe sein herze an, das sich von ihm entzweien will (V. 7–8): wer sol dir dîne sorge helfen enden | mit triuwen, als ich hân getan? Der letzte Vers muss dem metrischen Schema gemäß fünf Hebungen haben. Gegen den Skandierungsvorschlag in MF (mít tríuwen …) wäre es denkbar, den Vers – wie auch in den übrigen Strophen an dieser Stelle – mit Auftakt zu lesen und stattdessen beschwerte Haupt- sowie Nebenbetonung auf triuwe zu legen: mit tríuwèn, áls ich hấn getấn (x | –́ | –̀ | x́ x | x́ x | x́ ^). Dadurch gewönne die Treue des Ichs, die sich über zwei Takte erstreckt, ganz besonderen Nachdruck. – In Reinmars Sô vil sô ich gesanc nie man (MF 156,27) beklagt das Ich, dass es im ewig langen, erfolglosen Minnedienst an der Dame alt wird. In der dritten Strophe lautet eine Klage in Bezug auf die Gleichgültigkeit der Dame (V. 7–8): und sol daz alse lange stân | daz si mîn niht nimet wâr etc. Moser und Tervooren übernehmen hier die von Carl von Kraus angesetzte Lücke. Der Vers muss laut Schema sechs Hebungen haben; nach dem Prinzip der Alternation hätte er aber in der überlieferten Form121 nur vier. Aber könnte man nicht auch hier den Vers gewissermaßen ‚ausbremsen‘ durch drei beschwerte Hebungen am Anfang: únd sól dáz álse lánge gấn, wodurch das Langwierige der Werbung, das Auf-der-Stelle-Treten des Ichs hörbar gemacht würde? Nicht selten bewegen sich solche Fragen entlang der Schwelle zwischen Interpretation und Textkritik und bergen freilich auch das Risiko zur Spekulation.122 Auch über den einzelnen Vers hinaus ist zu fragen, ob und inwiefern die Form eine bestimmte Semantik transportieren kann. Neue Perspektiven hat hier Christoph März aufgezeigt, wenn er z. B. darauf hinweist, dass der durchaus topische Natureingang in Ulrichs von Winterstetten Lied KLD 5 mit Vagantenversen beginnt (1, V. 1–4):123 121 So jedenfalls im Text nach C; vgl. aber den Apparat in MF. 122 Umso wichtiger ist es, die jeweilige Beobachtungsebene, von der aus man argumentiert, zu reflektieren und transparent zu machen. Keineswegs sollte man Formanalyse, Textkritik und Interpretation gegeneinander ausspielen. 123 Vgl. dazu bereits oben das Beispiel Hiltbolts von Schwangau.
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Der sumer mit gewalde hât bekleidet walt und ouwe. der anger wol geblüemet stât in süezem meientouwe.
Was inhaltlich als gewöhnlich daherkommen mag, erklingt demnach im Ton der lateinischen weltlichen Liedtradition, wie man sie aus den Carmina Burana kennt: Der „Vagantenton […] verspricht von vornherein eine Leichtigkeit, das Spiel mit der Liebe und die ebenso gespielten Poltertöne enttäuschter Liebe […]. Die Form lacht mit“124. Ausgehend von solchen und weiteren Beobachtungen fragt März weiter, inwiefern nicht einzelne Formtypen auch gewisse semantische Modelle konstituieren können, und wie Texte durch die Einbettung in bestimmte formgeschichtliche Kontexte ‚Sinngehalt‘ jenseits der ‚Aussage‘ erlangen können. Solche Fragen wären für die Interpretation der mittelhochdeutschen Minnelyrik noch weiter zu verfolgen. Das hier Angedeutete möchte immerhin gezeigt haben, dass Metrik eben nicht bloß „eine Wissenschaft zwischen Zählen und Schwärmen“125 ist. Eine genaue Formanalyse, die z. B. auf Formzitate, „Formspiele“126 oder gegebenenfalls auch gezielte Formverstöße eingeht, ist genuiner Bestandteil des literaturwissenschaftlichen Kerngeschäfts.
Literatur Herbert Bögl: Abriss der mittelhochdeutschen Metrik. Mit einem Übungsteil. Hildesheim u. a. 2006. Manuel Braun: Aufmerksamkeitsverschiebung. Zum Minnesang des 13. Jahrhunderts als Form- und Klangkunst. In: Wolfram-Studien 21, 203–230. Horst Brunner (Hg.): Früheste Deutsche Lieddichtung. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Stuttgart 2005 (RUB 18388). Horst Brunner: Formgeschichte der Sangspruchdichtung des 12. bis 15. Jahrhunderts. Wiesbaden 2013 (Imagines medii aevi 34). Friedrich Gennrich: Grundriß einer Formenlehre des mittelalterlichen Liedes als Grundlage einer musikalischen Formenlehre des Liedes [zuerst 1932]. Mit einem Vorwort zum Nachdruck von Werner Bittinger. Darmstadt 1970. Hubert Heinen: Minnesang: Some Metrical Problems. In: Formal Aspects of Medieval German Poetry. A Symposium. Hg. von Stanley N. Werbow. Austin 1969, 79–92. Andreas Heusler: Zur Geschichte der altdeutschen Verskunst. Breslau 1891 (Germanistische Abhandlungen 8). Andreas Heusler: Deutsche Versgeschichte. Mit Einschluß des altenglischen und altnordischen Stabreimverses. 3 Bde. Berlin u. a. 1925–1929 (Grundriß der Germanischen Philologie 8/1–3).
124 März 1999, 329. 125 März 1999. 126 Kragl 2016.
Metrik und Formanalyse
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Werner Hoffmann: Altdeutsche Metrik. 2., überarbeitete und ergänzte Aufl. Stuttgart 1981 (SM 64). Gert Hübner: Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung. Tübingen 2008 (Narr-Studienbücher). Ingrid Kasten: Kommentar. In: KAS, 551–1071. [1995] Beate Kellner: Spiel der Liebe im Minnesang. Paderborn 2018. Burkhard Kippenberg: Der Rhythmus im Minnesang. Eine Kritik der literar- und musikhistorischen Forschung. Mit einer Übersicht über die musikalischen Quellen. München 1962 (MTU 3). Florian Kragl: Formspiele. Zu einem Grundproblem der historischen Poetik. Mit Beispielen von Heinrich von Breslau, Otto von Botenlauben, Reinmar, Walther von Mezze und aus dem ‚Rosenkavalier‘. In: Der philologische Zweifel. Ein Buch für Dietmar Peschel. Hg. von Sonja Glauch, dems. und Uta Störmer-Caysa. Wien 2016, 143–174. Hugo Kuhn: Minnesangs Wende. 2., vermehrte Aufl. Tübingen 1967 (Hermaea NF 1). Helmut Lomnitzer: Zur wechselseitigen Erhellung von Text- und Melodiekritik mittelalterlicher deutscher Lyrik [zuerst 1968]. In: Altgermanistische Editionswissenschaft. Hg. von Thomas Bein. Frankfurt a. M. 1995 (Dokumentation germanistischer Forschung 1), 138–166. Christoph März: Metrik, eine Wissenschaft zwischen Zählen und Schwärmen? Überlegungen zu einer Semantik der Formen mittelhochdeutscher gebundener Rede. In: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hg. von Jan-Dirk Müller und Horst Wenzel. Stuttgart u. a. 1999, 317–332. Silvia Ranawake: Höfische Strophenkunst. Vergleichende Untersuchungen zur Formentypologie von Minnesang und Trouvèrelied an der Wende zum Spätmittelalter. München 1976 (MTU 51). Alexander Rudolph: Die Variationskunst im Minnesang. Studien am Beispiel Heinrichs von Rugge. Berlin u. a. 2018 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 28). Manfred Günter Scholz: Die Kadenz – eine metrische quantité négligeable? In: „Texte zum Sprechen bringen“. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler. Hg. von Christiane Ackermann und Ulrich Barton, unter Mitarbeit von Anne Auditor und Susanne Borgards. Tübingen 2009, 1–17. Christine Stridde: Das hingewürfelte Wort. Ebenen der Unverständlichkeit in mittelalterlichen Sprach-Spielen. In: Sprache und Geheimnis. Sondersprachenforschungen im Spannungsfeld zwischen Arkanem und Profanem. Hg. von Christian Braun. Berlin 2012 (Lingua Historica Germanica 4), 267–292. Helmut Tervooren: Minimalmetrik zur Arbeit mit mittelhochdeutschen Texten. 3., ergänzte und verbesserte Aufl. Göppingen 1979 (GAG 285). Helmut Tervooren und Thomas Bein: Ein neues Fragment zum Minnesang und zur Sangspruchdichtung. Reinmar von Zweter, Neidhart, Kelin, Rumzlant und Unbekanntes. In: ZfdPh 107 (1988), 1–26. Anton H. Touber: Textik. Zur Struktur der mittelhochdeutschen Lyrik. In: Neophilologus 49 (1965), 213–241. Theo Vennemann: Der Zusammenbruch der Quantität im Spätmittelalter und sein Einfluß auf die Metrik. In: ABäG 42 (1995), 185–223. Burghart Wachinger: Kommentar. In: WACH, 609–1022. [2006] Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung. 5., erweiterte Aufl. München 2007.
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Melodien zu Minneliedern Mittelalterliche Lieddichtung, ob in der Kirchen- und Gelehrtensprache Latein oder in den Volkssprachen, hat man sich grundsätzlich gesungen vorzustellen. Die Texte wurden im Chor oder solistisch auf einstimmige Melodien vorgetragen (mehrstimmige deutsche Lieder finden sich, zunächst noch in sehr geringem Umfang, erst seit dem ausgehenden vierzehnten Jahrhundert, zuerst beim Mönch von Salzburg, in größerer Zahl dann bei → Oswald von Wolkenstein). Beteiligung von Saiten-, Blas- und Schlaginstrumenten unterschiedlicher Art1 ist vielfach anzunehmen, war aber wohl in keiner Weise fest geregelt. Moderne Aufführungen, die es auf Tonträgern seit den 1960er Jahren gibt, stellen unterschiedliche, unverbindliche Versuche dar, sich dem vermuteten historischen Klangbild anzunähern. Die Melodien zur deutschen Lieddichtung – Minnesang, Sangspruchdichtung, Leich – des zwölften bis zur Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, bei denen man wohl durchweg oder überwiegend solistischen Vortrag annehmen muss, sind nur sehr lückenhaft und – was die einzelnen Liedtypen angeht – in unterschiedlichem Umfang erhalten. Überliefert sind zahlreiche Melodien zu Spruchtönen, vor allem dank der Jenaer Liederhandschrift J, die 75 Spruchmelodien überliefert. Weitere kommen aus jüngerer Überlieferung hinzu, vor allem aus der Kolmarer Liederhandschrift t, ferner aus Handschriften der Meistersinger des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts.2 Erhalten haben sich außerdem (nicht durchweg vollständig) zehn Melodien zu den etwa 40 erhaltenen Leichdichtungen.3 Zu den Neidhartliedern sind aus Handschriften des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts insgesamt 56 Melodien bekannt;4 18 davon gehören zu von der Forschung als echt angesehenen → Sommer- und Winterliedern → Neidharts, die übrigen zu Liedern seiner anonymen Nachahmer.
1 Bestandsaufnahme Die Melodieüberlieferung zum Minnesang des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts ist nahezu vollständig verloren. Das wenige Erhaltene lässt sich folgendermaßen auflisten:
1 Vgl. Eitschberger 1999. 2 Vollständige Ausgabe aller erhaltenen Fassungen in Brunner und Hartmann 2010. 3 Eine zusammenfassende Edition fehlt. 4 Vollständig ediert zuletzt bei Beyschlag und Brunner 1989; ferner in der SNE. Vgl. dazu jetzt auch Springeth und Spechtler 2018 (darin besonders die Beiträge von Brunner und Lewon). https://doi.org/10.1515/9783110351859-012
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Melodieaufzeichnungen in nichtdiastematischen Neumen Voraussetzung für die Lesbarkeit von Melodien ist ein eindeutiges Aufzeichnungssystem. Die älteste, seit dem neunten Jahrhundert auftretende Notenschrift entspricht dieser Bedingung nicht. Es handelt sich um Notenzeichen, sogenannte Neumen (von griechisch neuma ‚Wink‘), die nicht auf Linien geschrieben sind, durch die die Tonhöhen eindeutig fixiert werden. Nichtdiastematische, d. h. linienlose Neumen liefern zwar Hinweise auf den Bewegungsablauf von Melodien, sind aber, als Gedächtnisstütze, nur für den von Nutzen, der die Melodie bereits kennt. In Gebrauch war diese Art von Notenschrift bis in das Spätmittelalter. Folgende Aufzeichnungen von Minnesangmelodien in linienlosen Neumen wurden von Hellgardt (dort auch Verzeichnis der Ausgaben und der Literatur) und Mertens nachgewiesen:5 a. (Hellgardt, Nr. 8): Anonymes Minnelied (Namenlos KLD El) in Erlangen, UB, Ms. B 5, Bl. 13v–14r (datiert auf 1368). b. (Hellgardt, Nr. 11): Randeintrag mit Minneliedfragmenten in Halberstadt, Domschatz, Inv.-Nr. 468, Bl. 264v (dreizehntes Jahrhundert). c. (Hellgardt, Nr. 17): → Walther von der Vogelweide L 53,25 in Kremsmünster, Stiftsbibliothek, CC 127, Bl. 130rv (zweite Hälfte dreizehntes Jahrhundert; WaltherHs. N); Neumen finden sich nur zu den beiden ersten Zeilen. d. (Hellgardt, Nr. 19): Zwei anonyme Minnestrophen (Namenlos KLD LI) in Leipzig, UB, Ms. 1285, Bl. 98va–vb (dreizehntes/vierzehntes Jahrhundert); ob es sich bei den Zeichen tatsächlich um Neumen handelt, ist ungesichert. e. (Hellgardt, Nr. 23): Zahlreiche neumierte Liedaufzeichnungen auch zu deutschen Strophen finden sich in den Carmina Burana in München, BSB, clm 4660 und 4660a (um 1230); namentlich bekannte deutsche Autoren sind Otto von Botenlauben (KLD 13,2), → Reinmar der Alte (MF 177,10; MF 185,27), → Heinrich von Morungen (MF 142,19), Walther von der Vogelweide (L 51,13, III), Neidhart (SL 11). f. (Mertens): Ein dreistrophiges anonymes Minnelied (Textabdruck bei Mertens)6 in Kremsmünster, Stiftsbibliothek, Cod. 250, Bl. 1r–2r; Neumen finden sich über allen drei Textstrophen.
5 Vgl. Hellgardt 2011; Mertens 1973. 6 Vgl. Mertens 1973, 68–69.
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Melodien in lesbarer Notenschrift Lediglich die folgenden Minneliedmelodien haben sich in eindeutig lesbarer Gestalt erhalten: a. Die Melodie zum Minnelied KLD 6 des Wilden Alexander in der Jenaer Liederhandschrift J, Bl. 25rv, und in der Wiener Leichhandschrift W, Bl. 29r.7 b. Melodien zu zwölf Minneliedern Wizlavs (WIZ 1–12) in der Jenaer Liederhandschrift J, Bl. 75r, 76rv, 77r, 77v–80v (Abb. 1: Lied 6, Bl. 78r).8 c. Die Melodie des im Magdeburger Fragment, Berlin, Staatsbibliothek, mgq 981, unvollständig erhaltenen Frühlingsreigens Namenlos KLD Mb (Abb. 2).9 d. Tannhäusers dreistrophiges Refrainlied SIEB 9 (Abb. 3), melodielos überliefert in einer 20-zeiligen Strophenform in der Manessischen Liederhandschrift C, findet sich außerdem in einer auf 15 Verse verkürzten elfstrophigen Gestalt mit Melodie unter der Bezeichnung ‚Ludeleich‘ in der Kolmarer Liederhandschrift t (um 1460), Bl. 72r–73v;10 weggefallen ist in dieser Fassung der Refrain.
Über Kontrafakturen erschlossene Melodien Unter Kontrafaktur (von lateinisch contrafacere ‚etwas ins Gegenteil verkehren‘) versteht man die Übernahme eines vorhandenen Tons – als ‚Ton‘ wird im Mittelalter die Gesamtheit von Strophenform und zugehöriger Melodie bezeichnet – für ein neues Lied; in der Musikwissenschaft wird hierfür auch der Begriff der Parodie verwendet. Es handelt sich um eine in der Liedgeschichte bis in die Gegenwart vielfach geübte Praxis; so dichtete etwa Paul Gerhardt im siebzehnten Jahrhundert sein berühmtes Passionslied ‚Oh Haupt voll Blut und Wunden‘ auf die Melodie eines älteren Liebesliedes von Hans Leo Haßler und August Heinrich Hoffmann von Fallersleben sein ‚Lied der Deutschen‘ (dessen dritte Strophe die heutige deutsche Nationalhymne ist) 1841 auf Joseph Haydns Kaiserhymne ‚Gott erhalte Franz den Kaiser‘. Die Kontrafakturforschung konnte zeigen, dass im letzten Drittel des zwölften und zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts – in der Phase des ‚rheinischen‘ Minnesangs – manche Minnesänger sich sowohl inhaltlich als auch formal, d. h. durch Übernahme von Tönen, an Liedern von Trobadors und von Trouvères orientierten beziehungsweise bedienten (→ Altokzitanische Lyrik, → Liebeslyrik in Nordfrankreich).11 Da das romanische Melodierepertoire im Gegensatz zum deutschen überaus reichhaltig ist (überliefert sind 7 Vgl. Holz u. a. 1901, Bd. 1, 46–47; Bd. 2, 14; Rietsch 1913, 86. 8 Vgl. Holz u. a. 1901, Bd. 1, 127–135; Bd. 2, 44, 46–52; Ausgabe der Melodien und Texte WIZ. 9 Abbildung des Fragments bei Kippenberg 1962, Tafel II; Übertragung der Melodie in: Kuhn 1953, 157–159. 10 Übertragung der Melodie in Brunner und Hartmann 2010, 398–399. 11 Vgl. Zotz 2005.
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264 Trobador- und über 1400 Trouvèremelodien)12, wurde von der Forschung eine Anzahl von Melodien mit mehr oder weniger großer Sicherheit für deutsche Lieder in Anspruch genommen. Erneute Forschung auf diesem Gebiet ist unbedingt nötig, kann an dieser Stelle freilich nicht geleistet werden. Die lange Zeit grundlegende Zusammenstellung romanischer Kontrafakturen stammt von Aarburg.13 Der neueste Beitrag dazu von Schnell mahnt allerdings, gestützt auf weitere neuere Untersuchungen, (möglicherweise etwas zu sehr) zu Zurückhaltung und Vorsicht; auf ihn kann hier nur pauschal verwiesen werden (zu einzelnen Liedern vgl. unten).14 Aarburg gliedert die für die deutschen Autoren in Anspruch genommenen Melodien in drei Gruppen:
a. Sichere Kontrafakturen romanischer Lieder: Friedrich von Hausen: MF 45,37, Vorlage Folquet de Marseille PC 155,8; MF 49,13, Vorlage das anonyme altfranzösische Lied R 420; MF 51,33 nach Guiot de Provins R 142. Ulrich von Gutenburg: MF 77,36, Vorlage Blondel de Nesle R 482. Rudolf von Fenis: MF 80,1, Vorlage Folquet de Marseille PC 155; MF 80,25, Vorlage Gace Brulé R 1102; MF 84,10, Vorlage Peire Vidal PC 364,37. Albrecht von Johannsdorf: MF 87,5, Vorlage Conon de Bethune RS 1125. Bernger von Horheim: MF 112,1, Vorlage Chrestien de Troyes RS 1664. Heinrich von Morungen: MF 147,17 (Echtheit umstritten)15, Vorlage ein anonymes altfranzösisches Lied RS 1538.
b. Wahrscheinliche Kontrafakturen: Friedrich von Hausen: MF 44,13, Vorlage Gaucelm Faidit PC 167,53; MF 45,1, Vorlage Blondel de Nesle RS 742a; MF 48,32, Vorlage Bernart de Ventadorn PC 70,36; MF 50,19, Vorlage Gace Brulé RS 187. Rudolf von Fenis: MF 81,30 und MF 83,11, Vorlage Gace Brulé RS 42. Bernger von Horheim: MF 115,27, Vorlage Gace Brulé RS 160. Hartwig von Raute: MF 116,1, Vorlage Gaucelm Faidit PC 167,46. Reinmar der Alte: MF 194,18 (Echtheit angezweifelt)16, Vorlage Gaucelm Faidit PC 167,37.
12 Vgl. Stäblein 1975, 77–78; van der Werf 1972. 13 Vgl. Aarburg 1963; auf Aarburg geht auch die (fast) vollständige Edition der einschlägigen Melodien zurück, ediert ist hier allerdings jeweils nur eine einzige Melodiefassung aus dem romanischen Repertoire: Aarburg 1956. 14 Vgl. Schnell 2012. 15 Vgl. Tervooren 1975, 190. 16 Echtheit angezweifelt, vgl. jedoch Tervooren 1991, 176–181.
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c. Mögliche Kontrafakturen: Reinmar (in B)/Dietmar von Aist (in C): MF 35,16, Vorlage Bernart von Ventadorn PC 70,43. Friedrich von Hausen: MF 43,28, Vorlage Gaucelm Faidit PC 167,37; MF 48,3, Vorlage Gontier de Soignies RS 265a/1089/723; (MF 53,31, die möglichen Vorlagen, das anonyme altfranzösische Lied RS 1490 oder RS 288 von Perrin d’Angiecourt [?], sind allerdings ohne Melodie überliefert). → Heinrich von Veldeke: MF 57,10, Vorlage Pierre de Molins RS 221; MF 61,33 und MF 65,28, als Vorlagen kommen mehrere romanische Lieder in Frage. Ebenso für Bernger von Horheim MF 113,1 und MF 114,21, für Bligger von Steinach MF 118,19 und für → Hartmann von Aue MF 215,14. Das Lied des Burggrafen von Riedenburg MF 18,25 in der älteren Fassung von B entspricht formal der altfranzösischen Chanson d’amour RS 1752. Aarburg hält eine Kontrafaktur für möglich. Vorwiegend aus aufführungspraktischen Gründen wurden Versuche unternommen, aus dem romanischen Repertoire Melodien zu Minneliedern Walthers von der Vogelweide zu gewinnen.17 Vermutet wurde neuerdings, wohl zu Unrecht, eine im Liedkorpus des Eberhard von Cersne (um 1400) zu dessen Lied HAG 12 erhaltene Melodie sei Walthers Lied L 92,9 entlehnt.18
2 Die Bedeutung der Melodien für die Formbeschreibung der Minneliedtöne19 Trotz der verbreiteten Überzeugung, mittelalterliche Lieddichtung sei nicht zuletzt Formkunst (→ Form- und Klangkunst), werden in der mediävistischen Forschung Strophenformen und – soweit erhalten – Melodien über die bloße metrische Beschreibung hinaus meist nur am Rande gewürdigt. Indes zeigt sich bei genauerem Eindringen, dass Strophenform, Melodie und Text der einzelnen Lieder in aller Regel komplexe Gebilde darstellen, die aller interpretatorischen Aufmerksamkeit wert sind. Im Bereich der Sangspruchdichtung erlaubt der Umfang der überlieferten Melodien die Rekonstruktion einer zusammenhängenden Formgeschichte.20 Auf dem Gebiet des Minnesangs sind angesichts der dürftigen Melodieüberlieferung die Möglichkeiten zu umfassender Formanalyse zwar äußerst beschränkt, die wenigen erhaltenen oder
17 Vgl. dazu die Abdrucke und Kommentare bei Brunner u. a. 1977, Transkriptionen aller Melodien nach allen Handschriften 94*–98*, Kommentar 71*–72*. 18 Vgl. HAG, 162–164; vgl. dazu Brunner 2001. 19 Vorbemerkung: In den Strophenschemata bleiben männliche Kadenzen unbezeichnet, weibliche werden durch Apostroph markiert. Differente Melodieteile (Distinktionen) werden mit kleinen griechischen Buchstaben angegeben. Hinzugefügt sind Zeilenzähler. 20 Vgl. Brunner 2013.
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mit einiger Sicherheit zuzuweisenden Melodien liefern jedoch wenigstens Fingerzeige auf oft komplexere Formgestaltungen, als man sie der bloßen Textüberlieferung entnehmen kann. Im Zentrum stehen dabei die Abgesänge: Während im Aufgesang melodisches Material exponiert wird, bieten erstere – wie sich insbesondere am Tönerepertoire des Spruchsangs zeigen lässt – den Autoren Gelegenheit zu differenzierten Gestaltungsmöglichkeiten mit Hilfe von Variation oder Repetition. Dafür zunächst einige Beispiele aus dem Bereich des Minnesangs des ausgehenden zwölften Jahrhunderts, für den einige Melodien aus dem romanischen Bereich, mit welcher Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit auch immer, reklamiert werden konnten (Aarburgs „mögliche“ Kontrafakturen bleiben hier beiseite). Prinzipiell zu unterscheiden sind Töne, die sich der Kanzonenform bedienen (Schema AA/B), und solche, die durchkomponiert sind, die also die Form der Oda continua (übliches Melodieschema A/B) verwenden. Beide Formtypen wurden den deutschen Minnesängern durch die Rezeption des romanischen Minnesangs bekannt, die Kanzone blieb fortan die übliche Strophenform; dagegen kam die Oda continua schon um 1200 wieder außer Gebrauch. Manchmal lässt sich bei einzelnen Liedern nur durch die Melodie unterscheiden, ob wir es mit einer Kanzone oder einer Oda continua zu tun haben. Über diese prinzipielle Differenzierung der beiden Formtypen hinaus gibt es freilich weitere Gestaltungsmöglichkeiten, die nur anhand der Melodien erkannt werden können. Eine häufig auftretende Form der Kanzone ist die Rundkanzone. Hier schließt die Abgesangsmelodie mit der metrischen und musikalischen Wiederaufnahme der letzten Stollenzeile, entweder notengetreu oder auch in leicht variierter Gestalt. Rundkanzonen begegnen bei Friedrich von Hausen MF 49,13 (Kontrafaktur eines anonymen altfranzösischen Liedes)21 mit notengetreuer Wiederholung, in Hausens Lied MF 44,13 (nach Gaucelm Faidit)22 erscheint die letzte Stollenzeile am Strophenschluss in variierter Gestalt. Eine Sonderform der Kanzone findet sich ebenfalls bei Hausen in Lied MF 48,32 (nach Bernart de Ventadorn)23; hier folgt auf den Aufgesang (AA) ein ebenfalls stollenförmiger Abgesang, der mit einer Coda schließt (BB/C). Johannsdorfs Lied MF 87,5 (Conon de Bethune)24 zeigt eine vergleichbare, allerdings einfachere Form, bei der die Coda fehlt (AA/BB) – diese Form findet sich, freilich sehr selten, auch in der Spruchdichtung des dreizehnten Jahrhunderts.25 Durchkomponierte Melodien treten meist zweiteilig auf. So findet sich in Hausens Lied MF 45,37 (nach Folquet de Marseille)26 ein deutlicher melodischer Einschnitt
21 Nach Schnell 2012, 132, ist die Übernahme keinesfalls gesichert 22 Nach Schnell 2012, 126, nicht gesichert. 23 Nach Schnell 2012, 132, nicht gesichert. 24 Nach Schnell 2012, 160, ohne Weiteres möglich. 25 Vgl. Brunner 2013, 122–124: ‚Kanzonen mit Abgesangsrepetition‘: Wilder Alexander, Kelin, Kanzler, Singauf. 26 Nach Schnell 2012, 127, sichere Übernahme.
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nach V. 4; vergleichbar der Rundkanzone schließt der zweite Teil des Tons mit der (variierten) Wiederholung der letzten Zeile des ersten Teils. Dies ist auch der Fall in Hausens Lied MF 51,33 (nach Guiot de Provins)27 – diesen Ton würde man ohne Kenntnis der Melodie wohl für kanzonenförmig halten: 3’a 3’b 3c, 3’a 3’b5 3c// 3c 3’b 3c 3c10. Die Melodie zeigt jedoch, dass er zweiteilig aufzufassen ist: [Melodieglied α] 3’a+3’b [β] 3c+3’a [γ] 3’b5+3c // [δ] 3c+3’b [γ variiert] 3c+3c10. Auch in den Melodien zum Minnelied KLD 6 des Wilden Alexander, zu den Liedern Wizlavs und zu Tannhäusers Lied SIEB 9 finden sich unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten.28 In Alexanders Lied und in Wizlavs Liedern 8 und 9 sind die Abgesänge durchkomponiert, es begegnen keine längeren wiederholten Teile. Schematisch kann man dies folgendermaßen wiedergeben: Wilder Alexander: Wizlav 8 und 9:
α :// β γ α β :// γ δ ε
Wizlavs Lied 2 ist eine Rundkanzone, d. h., am Schluss des Abgesangs wird der Stollenschluss wiederholt: α β γ :// δ ε ξ+γ (ξ ist ein neues Melodieglied, endet aber mit dem Schluss von γ). Weitaus am häufigsten finden sich in Wizlavs Liedern Kanzonen mit drittem Stollen, Formen also, bei denen am Ende des Abgesangs die gesamte Stollenmelodie wiederholt wird. Es handelt sich hier um eine Formgestaltung, die – nach unserer Kenntnis – in den 1230er Jahren aufgekommen war und sich im Bereich der Spruchdichtung und im Meistergesang noch bis in dessen Spätzeit im siebzehnten Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute: „Auf diese Weise wurde der künstlerische Aufwand reduziert, es kam ein konstruktivistisches Element in die Form der Töne, beim Vortrag wurde das Gedächtnis entlastet. Vor dem 3. Stollen wird der Abgesang durch ein in aller Regel kürzeres Text- und Melodiestück – den Steg – eingeleitet, das mit oder ohne Repetition erscheint. Schematisch darstellen lassen sich Kanzonen mit 3. Stollen als AA//B(B)/A.“29 Vier der fünf vollständig erhaltenen Spruchtöne Wizlavs weisen den dritten Stollen auf; ausgenommen ist das kurze melodische Virtuosenstück VI, das die Form der Rundkanzone zeigt. Das mutmaßliche oder mögliche Vorkommen des dritten Stollens in melodielos überlieferten Minneliedern des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts ist bisher noch nicht untersucht. Dritte Stollen weisen folgende Minnelieder Wizlavs auf: 1 (mit zweizeiligem Steg), 4 (einzeiliger Steg), 6 (vierzeiliger Steg), 7 (zweizeiliger Steg), 12 (Fragment, dreizeiliger Steg). Formal am interessantesten sind die Lieder 10 und 11. In beiden Fällen würde man ohne Kenntnis der Melodien vermutlich zu falscher Einschätzung der Formen kommen. Metrisch
27 Nach Schnell 2012, 133, nicht gesichert. 28 Vgl. dazu auch Rettelbach 2010; zu Wizlavs Melodien vgl. Jammers 1972. 29 Brunner 2013, 57.
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bestehen beide Töne jeweils aus der viermaligen Repetition eines Stollens, im Ton 11 mit kleiner metrischer Variation zwischen der letzten Zeile der beiden Aufgesangsstollen und den Zeilen 3 und 6 des Abgesangs: 10: 2a 4a 4a 3’b, 2c5 4c 4c 3’b// 2d 4d10 4d 3’e, 2 f 4 f 4f15 3‘e 11: 3’a 4b 3’c, 3’a 4b5 3’c// 3’d 4e 4’f, 3’d10 4e 4’f
Ohne die Melodien würde man wohl für beide Töne die Form AA//AA oder AA//BB annehmen, d. h. die Wiederholung der beiden Abgesangsteile auf die gleiche Melodie (vgl. dazu oben den Hinweis auf das Auftreten dieser Form im Spruchsang). Tatsächlich ist der Abgesang jedoch anders gestaltet: Die Abgesangszeilen 9–12 (10) beziehungsweise 7–9 (11) stellen von den Stollenmelodien melodisch deutlich abweichende Stege dar (δ ε), auf die dann jeweils der dritte Stollen folgt. Zu schematisieren sind die Formen somit als AA/BA. Ein Sonderfall ist Lied 5. Hier greift der Abgesang den Stollen am Ende in verkürzter Form auf, d. h., es fehlt am Ende die letzte Stollenzeile: Melodie:
3’a 3’a 3’a 4b, 3’c5 3’c 3’c 4b α_____ β___
// 3’d 3’d10, 3’e 3’e 3’e [ ] // γ______, α_____ δ (= Coda)
Die Melodie zeigt, dass die beiden ersten Zeilen des Abgesangs (9–10) als Steg aufzufassen sind, es folgt das Eingangsglied der Stollenmelodie, das durch eine neue Coda (δ) abgeschlossen wird. Verkürzte dritte Stollen finden sich in der Spruchdichtung häufig, allerdings nicht in dieser speziellen Form. Ein weiterer Sonderfall begegnet schließlich mit dem → Tagelied 3, dessen Anfang samt der Stollenmelodie allerdings nicht überliefert ist. Der sehr kurze Ton (3’a 3b, 3’a 3b// 4c5 4c 5c) ist durch die überbordende Melismatik der Melodie ein ausgesprochenes Virtuosenstück, vergleichbar nur dem in der Handschrift unmittelbar folgenden Spruchton VI;30 schematisch wiedergeben lässt sich die Melismatik folgendermaßen (Punkte bedeuten Einzelnoten, die Ziffern geben die Anzahl der Noten in den jeweiligen Melismen an): V. 5: . . . . . 11 . V. 6: 2 . . 2 5 . . 4 V. 7: . . . . 2 . . 2 8 7
Tannhäusers Lied SIEB 9 weist in der in t überlieferten jüngeren Fassung folgende Form auf: 4a 4a 6x 3’b, 4c5 4c 6x 3’b // 4d 5’e10 4d 3’e 4 f 4 f 7’e15 α___/β____ :// γ /δ + γ +ε / ξ___ β‘
30 Vgl. Brunner 2013, 137.
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Die Stollenmelodie besteht aus zwei Melodiebögen α β (E–b–g und g–D–a–g–F). Der Abgesang beginnt mit einem zunächst isoliert stehenden Melodieglied γ (F–c–a). Es folgen drei Melodiebögen, wobei in Z. 11 das Eingangsglied des Abgesangs γ wieder aufgenommen wird: δ+γ+ε (Z. 10–12): D–a–F–a–c–a–g–F–g–D; ξ (Z. 13–14): D–g–h– d–c–a; β‘ (Z. 15): D–C–g–a–g–F. Der Schluss des Abgesangs greift die Melodie des Stollenschlusses in etwas verkürzter Gestalt wieder auf, es handelt sich demnach um eine Rundkanzone. Abschließend noch einige Bemerkungen zu dem im Magdeburger Fragment überlieferten „rätselhafte[n]“31 Frühlingsreigen.32 In KLD (Namenlos Mb) sind Strophe 1 und die unvollständige zweite Strophe so abgedruckt, als handle es sich um Kanzonenstrophen: Melodie:
a/3b 3c 3d 3’e 3f5, f/3’e 3d 3c 3b 3a10// 1g/1g 2’h h/3’I i/2’j 3k15, k/3’i 3’h 4’j [2y]33 A___________ // B____________ // C___________________ // D________
Die auffallend stark melismatische Melodie zeigt allerdings, dass der Text anders strukturiert ist. Die Melodie zu dem als angeblichem ersten Stollen erscheinenden Textstück V. 1–5 (A) ist nicht identisch mit dem als zweiten Stollen angesehenen Stück V. 6–10 (B); der fälschlich als Abgesang eingeschätzte Abschnitt besteht ebenfalls aus zwei Teilen V. 11–15 (C) und 16–20 (D). Somit ergibt sich die Struktur ABCD, der Ton ist durchkomponiert. März hat erkannt, dass die vier Teile der Melodie nacheinander die vier Modi der Kirchentöne (D E F G) durchschreiten.34 Die (unvollständig erhaltene) zweite Strophe beweist, dass es sich um ein Strophenlied handelt – wie das Stück formgeschichtlich einzuordnen ist, bleibt offen, vermutlich gehört es in die Reihe der für das vierzehnte und frühe fünfzehnte Jahrhundert signifikanten (noch nicht hinreichend beschriebenen) „artifiziellen“ Lieder.35 Der fast völlige Verlust der Melodien zum Minnesang macht es, wie oben schon erwähnt, unmöglich, auch nur im Ansatz eine Formgeschichte der Gattung zu erarbeiten. Indes sollte bei Einzeluntersuchungen das Augenmerk stets auch auf Möglichkeiten der Tönegestaltung gerichtet sein. Erfahrungen mit Gestaltungsmöglichkeiten von Melodien aus dem Korpus der Spruchtöne und den Neidhartliedern sind dabei zweifellos von Nutzen.
31 Kornrumpf 2010, 44. 32 Grundlegend ist die ausführliche Untersuchung von März 1987, 22–31. 33 Die Strophe schließt mit Euouae, d. h. mit der Saeculorum-Amen-Formel unter Noten. Im Schema markiert mit [2y]. 34 Vgl. März 1987, 24–25. 35 Brunner 2013, 180–181; ähnliche Vermutungen bei März 1987, 29–31.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. El. f. 101, Bl. 78r. Abb. 2: Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, mgq 981, Bl. 1r, 1v. Abb. 3: München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 4997, Bl. 72r.
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Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs […] so bedarf es wohl kaum einer Erläuterung, daß unsre Sänger, sobald sie ein Lied, es sei aus dem Stegreif oder nicht, vollendet hatten, dasselbe nicht auf Papierblättern oder Pergamentrollen mit sich trugen […]. Sie trugen es im Kopfe, oder, wenn man das lieber hört, im Herzen, und die Tonart und Sangweise […] dienten dem Gedächtnisse zum Leitfaden, die vielen Lieder festzuhalten […]; aus dem wahren Sänger fließt Gedanke, Wort, Maß, Reim und Weise in einem Strome. Zu dieser Sangweise also, die man sich so einfach, als es […] nur möglich ist, denken muß, lehrte und übte sich der Sänger eine ebenso einfache Begleitung auf seinem Saitenspiele ein, […] und spielte seine Lieder von Stadt zu Stadt und von Schloß zu Schloß bei Festen und Turnieren oder im stillen Kreise der Frauen […]. Wie lange aber diese lebendige Fortpflanzung gedauert habe, das läßt sich freilich nicht genau bestimmen […]. Man fing an, die Ritterlieder niederzuschreiben, als man aufhörte, sie zu singen. Die Manessen […] waren aber gewiß nicht die einzigen, die es sich angelegen sein ließen, die lebenden Trümmer des Sanges […] auf das tote Papier zu retten.1 Auch ohne strikte Beweise bezweifle ich nicht, daß der Gesangsvortrag vor einer höfischen Gesellschaft – in welchen konkreten Situationen auch immer – die wichtigste Lebensform der Kunstlyrik von ihren Anfängen um 1160 bis weit ins Spätmittelalter hinein gewesen ist.2
Während das zweite Zitat von Burghart Wachinger den aktuellen Forschungsstand prägnant zusammenfasst, stammt das erste von Wilhelm Müller, der sich 1816 die Produktion, Tradierung und Niederschrift von Minneliedern vorstellt, um seine Übersetzungspraxis zu legitimieren (→ Minnesangrezeption literarisch). Auf den ersten Blick sind Müllers Thesen durchsetzt von Ideen, die man gerne als ‚romantisch‘ bezeichnet: die einheitliche und gleichzeitige Produktion von Text, Melodie und Versmaß „in einem Strome“; die positiv konnotierte Einfachheit von Gesang und begleitender Musik; die zunächst schriftlose Tradierung der Lieder „im Herzen“; der Gesangsvortrag in der Gesellschaft als Teil einer „lebendige[n] Fortpflanzung“ der Lieder und im Gegensatz das „tote Papier“ der späteren Überlieferung. Doch so einfach es wäre, sich über solche Ideen zu mokieren, so fällt doch bei näherer Betrachtung auf, wie aktuell viele von Wilhelm Müllers Überlegungen heute noch sind: Genauer als manch aktuelle Forschungsliteratur unterscheidet er im Hinblick auf die Medialität der Lieder zwischen ihrer Produktion, Tradierung und Rezeption, zwischen Text, Melodie und Begleitmusik, zwischen der Entstehungszeit der Lieder (ab 1170) und der Zeit ihrer schriftbasierten Sammlung (um 1300). Er verweist auf Melodie und Versmaß als mnemotechnische Hilfsmittel und unterstellt nicht bloß eine einzige Gebrauchsform des Minnesangs (z. B. beim höfischen Fest), sondern geht von einer Vielzahl von 1 Müller 1994, 13–14, 16. 2 Wachinger 2011, 46. https://doi.org/10.1515/9783110351859-013
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Aufführungssituationen in verschiedenen sozialen Konstellationen aus: in einer größeren Öffentlichkeit genauso wie im kleinen Kreise, in der Stadt ebenso wie am Hofe, vom Vortrag durch den Liedproduzenten genauso wie durch den Berufssänger oder sogenannte adlige Dilettanten. So sehr man aus heutiger Sicht kritisieren würde, dass er das Ende des „lebendige[n]“ Gesangsvortrags mit dem Beginn einer schriftlichen, „tote[n]“ Fixierung gleichsetzt (statt das Nebeneinander von Oralität und Literalität zu betonen), so sieht Müller doch die immensen Leistungen der Sammler. Unter der Hand schildert er die schriftliche Überlieferung sogar ganz ähnlich wie die orale, „lebendige Fortpflanzung“ des Minnesangs: In beiden Medien komme es zu situativen Anpassungen, dialektalen Transpositionen oder zu durch Unkenntnis oder Missverständnisse bewirkten Transformationen der Lieder.3 Auch im Hinblick auf die Quellen, auf die Wilhelm Müller rekurriert, hat sich bis heute nicht allzu viel verändert. Er stützt sich auf den ‚Frauendienst‘ von → Ulrich von Liechtenstein, einige andere epische Texte und ausgewählte Minnelieder. Wie ist nun diese Nähe zwischen der ‚Vorrede‘ von 1816 und der aktuellen Forschung zur Medialität und Pragmatik des Minnesangs zu bewerten? Zeigt sie die Differenziertheit und Hellsichtigkeit der Überlegungen des 19-jährigen Müller oder deutet sie eher an, dass die Minnesangforschung in 200 Jahren kaum weitergekommen und bis heute romantischen Ideen verhaftet geblieben ist? Darauf wird es keine einfachen Antworten geben. Feststellen lässt sich jedoch, dass die Erforschung der Medialität und Pragmatik des Minnesangs deshalb so schwierig ist, weil der Vortrag von Minneliedern mit dem individuellen Zusammenspiel von Stimme, Klang, Gestik und den Interaktionen von Rezipienten und Vortragenden ein „multimediales Ereignis“4 ist, das von vielen hochvariablen und historisch sich ungleichzeitig verändernden Parametern bestimmt wird, die in keinem Einzelmedium, schon gar nicht in der Schrift, reproduziert werden können. Die Quellen, die es zu den einzelnen Parametern (Ort, Frequenz, musikalische Begleitung, Rezipientengruppe usf.) allenfalls gibt, sind spärlich und werden seit 200 Jahren immer wieder neu befragt. Die interpretatorischen Implikationen, die die Bestimmung der einzelnen Parameter nach sich zieht, sind jedoch erheblich: Ob man bei der Interpretation eines Liedes von einer Lieddarbietung im Trubel eines höfischen Festes, von einem Vortrag im kleinen Kreis einer Gruppe von Kennern oder von einem Text ausgeht, der um 1300 auf der Basis allenfalls mehrerer schriftlicher Vorlagen niedergeschrieben worden ist, verändert die Deutung eines Liedes entscheidend. Je nach Annahme werden ganz andere Kohärenzmittel, anderes Rezipientenwissen oder andere Disambiguisierungsstrategien vorausgesetzt. Genauso wenig kann man die kontextuellen Parameter aber unbestimmt lassen. Denn bereits mit der Beschreibungssprache, mit der Rede von ‚Aufführung‘, ‚Rolle‘, ‚Sänger‘ oder ‚Publikum‘ gehen spezifische Annahmen über Kontext und Pragmatik des Minnesangs einher, die eine Interpretation beeinflussen. 3 Vgl. Müller 1994, 20–22. 4 Kasten 2008, 81.
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Im Folgenden werden nur die Quellen behandelt, die außerhalb von Minnesang und Sangspruch mögliche Gebrauchssituationen, Funktionen und Aufführungssituationen5 von Minnesang thematisieren. Im Durchgang durch diese Quellen sollen zugleich verschiedene Forschungsparadigmen zur Pragmatik des Minnesangs vorgestellt und diskutiert werden: das höfische Fest, die höfische Repräsentationskunst, der Vortrag im kleinen Kreis von Kennern sowie das Verhältnis von Oralität und Literalität. Im daran anschließenden Kapitel zum → Thematisierten Singen wird sodann untersucht, wie in den Minneliedern selbst die Aufführungssituation, die Rezipienten oder andere Sängerkonkurrenten diskutiert werden und wie mit diesen Aussagen methodisch umzugehen ist.
1 Performative Kultur Die uns überlieferten Minnelieder sind ab 1250 (→ Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge) und im oberdeutschen Raum mehrheitlich ohne Melodien (→ Melodien zu Minneliedern) schriftlich festgehalten worden. Gleichwohl gehen fast alle Forschenden „[a]uch ohne strikte Beweise“6 davon aus, dass Minnesang ab 1170 und lang über die ersten schriftlichen Minnesangzeugnisse hinaus vor Rezipienten als solistischer Gesang (mit und ohne Begleitung; → Die Rezeption des Minnesangs in der Musik) vorgetragen worden ist. Als Begründung wird unter anderem angeführt, dass die meisten Handschriften zwischen sangbarer Lyrik und kurzen, nicht-sangbaren Versgedichten unterscheiden.7 Ob es überhaupt (und ab wann es) einen „melodielosen lyrischen Vers[]“ gegeben hat, ist umstritten.8 Doch wenn vom Minnesang als „Vollzugskunst“9, „Aufführungskunst“10 oder „Gesellschaftskunst“11 die Rede ist, meint dies noch mehr als bloß den Unterschied zwischen gesungener oder gelesener Lyrik. Angedeutet wird damit vielmehr, dass der Gesangsvortrag in einer Kultur statthat, die gerade in medialer Hinsicht anders
5 Der Begriff der „Aufführung“ geht auf Kuhn 1969b zurück, der den Terminus aus der musikhistorischen Forschung übernommen hat. Vgl. zum Unterschied zwischen einer modernen Theateraufführung und einer Minnesangdarbietung unten Abschnitt 3. Allerdings ist der Begriff in der Forschung so sehr zum Terminus technicus geworden, dass die Theaterassoziation kaum mehr mitschwingt. 6 Wachinger 2011, 46. 7 Wachinger 2011, 48. Ausnahmen und Gegenargumente bei Kartschoke 1981, 131. 8 Bertau (1964, 11) verneint dies für die gesamte „mittelhochdeutsche[] Zeit“. Plenio (1916, 66–67, Anm. 2), Kartschoke (1981, 132), Mertens (1986, 456), Cramer (1998, 19) u. a. gehen von der Möglichkeit der „sprech- und leselyrik“ (Plenio) spätestens ab 1250 aus. 9 Kuhn 1961, 171 (Original 1949); Ortmann und Ragotzky 1990. 10 Bein 2017, 53. 11 Mohr 1961, 197.
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organisiert ist als die unsere:12 Face-to-face-Begegnungen, gesellschaftliche Rituale13 sowie das Sichtbarmachen von sozialem Rang, religiösem Heil oder politischen Konstellationen prägen diese Gesellschaft in einem verstärkten Maße. Auch Schrift hat einen anderen Status: nicht nur, weil die Literalitätsquote eine andere ist, sondern weil schriftliche Zeugnisse viel stärker in oral-körperliche Praktiken eingebettet sind. Es wurde wohl zu großen Teilen murmelnd gelesen,14 schriftliche Botschaften wurden vorgezeigt und vorgetragen, Texte diktiert und die körperliche Anstrengung des Schreibens thematisiert. Wenn dies als „performative Kultur“15 bezeichnet wird, so ist damit gemeint, dass dem körperlichen, kollektiven und häufig multimedialen Vollzug von politischen oder religiösen Praktiken eine entscheidende Rolle zukam: Gesellschaftliche Hierarchien oder politische Entscheidungen wurden nicht bloß festgelegt, sondern mit Hilfe von Ritualen vollzogen, wobei solche Vollzüge nicht selten ästhetische Wirkungen entfalteten. Auch die schriftlich überlieferten Lieder zeichnen sich durch eine Vielzahl performativer Sprechakte aus: Durch Adressierungen des Publikums, durch deiktische Sprechgesten, die auf ein Hier und Jetzt der Rede verweisen, oder durch das Spiel mit der Diskrepanz von Sagen und Tun. Ebenso wird in den Liedern die wirklichkeitsprägende Wirkung des Singens diskutiert. Diese Performativität schriftlich überlieferter Texte verweist auf die skizzierte performative Kultur zurück, bildet sie aber nicht ab (→ Thematisiertes Singen). Doch in welcher konkreten Situation einer solch performativen Kultur hat eine Minnesangdarbietung statt und welche gesellschaftlichen Funktionen kommen ihr zu? Der folgende Überblick über einige Quellengruppen und Paradigmen der Forschungsgeschichte soll aufzeigen, inwieweit solche Fragen beantwortbar sind und wo die Grenzen des Erforschbaren liegen.
2 Das höfische Fest versus der kleine Kreis der Kenner In der Minnesangforschung dominierte längere Zeit die Vorstellung, dass Minnelieder beim „Fest an Adelshöfen“16, im „Kontext von königlichen oder kaiserlichen Hoftagen oder […] als Begleitung von Festessen“17 vorgetragen worden sind. Als Kronzeuge wird meist auf → Heinrich von Veldeke verwiesen, der im ‚Eneasroman‘ (V. 13226–
12 So wegweisend Zumthor 1986, 484. 13 Althoff 1994. 14 Eine Fülle von Belegen mit teilweise problematischer Deutung bei Balogh 1927. 15 Kasten 2008, 80. 16 Hahn 1992, 87. 17 Bein 2017, 54; vgl. zudem: Ortmann und Ragotzky 1990; Willms 1990, 38–40.
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13227) insinuiert, am Mainzer Hoftag (1184) teilgenommen zu haben.18 Da mit Hilfe des Mainzer Hoftags auch die Vermittlung romanischer Literatur- und Kulturtradition in den deutschen Sprachraum erklärt werden kann und nach eigenem Zeugnis auch der Trouvère Guiot de Provins19 anwesend war, kam dem Mainzer Hoftag in der Minnesangforschung eine herausgehobene Rolle zu.20 Allerdings haben wir nur die Selbstzeugnisse der beiden Autoren, denen es primär um die Pracht des Hoffestes und allenfalls ihre Augenzeugenschaft geht und die keineswegs behaupten, sie hätten Literatur oder gar Minnesang vorgetragen.21 Die in den Quellen besser belegten höfischen Feste und Feiern des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts werden durch Instrumentalmusik und visuelle Repräsentationen dominiert, die Darbietung von Literatur findet kaum Erwähnung.22 Die Minnesangforschung hat deshalb immer auch auf die Festschilderungen in der mittelalterlichen Epik verwiesen. Zwar ist hier vom videlen unde singen23 die Rede, allerdings als eine von sehr vielen Unterhaltungsformen wie Turnier, Tanz, Musik, Akrobatik und Musizieren. Wer im Einzelnen vorträgt, wie und wann er auftritt oder wer zuhört, wird in diesen Schilderungen, die idealisierenden Topoi folgen, nicht spezifiziert. Wenn überhaupt erwähnt wird, was gesungen wird, sind es meist epische Stoffe oder Erzählungen in Leichform.24 Immerhin wird in Strickers ‚Daniel‘ sowie im ‚Guoten Gêrhart‘ von Rudolf von Ems betont, dass auch von minnen schône25 gesungen wird – ob damit auch Minnesang gemeint ist, bleibt jedoch offen. In der Forschung stellt sich deshalb je länger, je stärker der Konsens ein, dass das immer wieder als ‚laut‘26 beschriebene Hoffest sicher nicht der einzige Rezep tionsort von Minnesang war. Es handle sich vielleicht sogar um „einen eher irrefüh-
18 Vielleicht behauptet er nicht einmal, daran teilgenommen zu haben, sondern „[spricht] nur im Einverständnis mit seinem thüringischen Publikum“ (Bastert 1994, 269, Anm. 61). 19 Vgl. ‚La Bible‘, V. 277–281 (Orr 1974). Ebenfalls anwesend war selbstredend Heinrich der VI., bezeugt sind zudem die Beziehungen von Barbarossa zu Friedrich von Hausen; vgl. Moraw 1988, 77–78. 20 Vgl. u. a.: Hahn 1992, 87; Sayce 1999, 9; Haubrichs 1978; Schweikle 1994; weitere Literatur und eine pointierte Kritik der entsprechenden Minnesangforschung bietet Willaert 1999, 323–324. 21 Die Chroniken wiederum berichten nur von politisch-diplomatischen Verhandlungen und repräsentativen Ritualen (Festkrönung, Ritterweihe der beiden Barbarossasöhne, Krönungsmahl usf.). Literaturdarbietungen sind von diesen Quellen ausgehend wenig naheliegend; vgl. Moraw 1988, 77; Wolter 1991. So auch Bastert 1994, 268–273; Willaert 1999, 321–324. 22 Cramer 1990, 260–264. 23 ‚Eneasroman‘, V. 13162; ‚Iwein‘, V. 63–72; weitere Belege bei Bumke 1986, 301–309 u. ö., und Willms 1990, 35–46. 24 ‚Tristan‘, V. 3557, 3586, 3616–3617; ‚Kudrun‘, V. 397. 25 ‚Der guote Gêrhart‘, V. 5980–5988: man hôrte minneclîche | […] von minnen schône singen, | von âventiuren sprechen wol, | daz man mit zuht vernemen sol, | von minnen und von ritterschaft | sprechen suoze in süezer kraft (Text nach Asher 1989). ‚Daniel von dem Blühenden Tal‘, V. 8163–8167: zweinzic singære, | die durch vertrîben swære | von minne lieder sungen, | der keln suoze klungen, | die hôrte man dâ singen (Text nach Resler 1995). 26 Belege bei Cramer 1990, 264.
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renden Vorstellungshintergrund“27. Vermehrt wird vermutet, Minnesang sei für eine elitäre Gruppe von Kennern produziert und in halböffentlichen Kreisen vorgetragen worden.28 Hierzu wird weniger auf Quellen außerhalb des Minnesangs verwiesen – obwohl einige ‚Tristan‘-Szenen sich in diese Richtung lesen lassen (s. u.) – als auf das „literarische[] Echospiel“29 in den Liedern. Um die intertextuellen Anspielungen in den Liedern (→ Walther von der Vogelweide, → Reinmar der Alte) zu verstehen und das Spiel mit den Variationen schätzen zu können, brauche es eine konzentrierte Atmosphäre. Nicht die große Menge, sondern nur der kleine Kreis der Spezialisten sei vorrangig als Publikum in Betracht zu ziehen. Doch das höfische Fest und der kleine Kreis der Kenner schließen sich als Situationen der Minnesangrezeption nicht aus. Sie stehen viel eher für zwei Extreme, zwischen denen vielfältige Aufführungsorte und -situationen nebeneinander existiert haben mögen.
3 Höfische Repräsentationskunst Doch welche Funktion hat eine Minnesangdarbietung in einer Zeit, in der das, was wir heute als ‚Kunst‘ bezeichnen, nicht um der Kunst willen rezipiert worden ist, weil unser Konzept von ‚Kunst‘ nicht existierte?30 In der höfischen Epik dienen die diversen musikalischen Darbietungen bei Festen vorrangig der Selbstdarstellung der höfischen Gesellschaft. Sie sind in ihrer Wohlgeformtheit und Harmonie Ausdruck der höfischen vröide, sie machen die Gesellschaftsordnung sichtbar und demonstrieren so die hövischheit des Gastgebers und der an den Unterhaltungsformen partizipierenden Personen. Schon früh hat deshalb Hugo Kuhn die These vertreten, es gehe beim Minnesang nicht um „erlebte Liebe“ oder die „Rede zur Geliebten“, sondern um die „Rede zur höfischen Gesellschaft über die höfische Rolle der Liebe“.31 Durch die strenge Form und durch den wiederholten Vollzug einer Dienst- und Entsagungsethik diene der Minnesang der Propagierung höfischer Lebensformen beziehungsweise der Gemeinschafts- und Identitätsstiftung einer elitären Schicht.32 Minnesang wird so als höfische „Repräsentationskunst“33 verstanden, die durch die Form und den Vollzug der Lieder ihre Wirkung entfaltet. Erich Kleinschmidt hat diese Thesen 1976 his-
27 Schiendorfer 2003, 394; vgl. zudem Bastert 1994, 268–273; Willaert 1999, 321–324; Cramer 1998, 13; Kellner 2018, 20. 28 Bastert 1994, 273; Willaert 1999, 331, 334; Cramer 1998, 18. 29 Willaert 1999, 327. 30 Dazu u. a. und mit weiterer Literatur: Gerok-Reiter 2015, 97–103. 31 Kuhn 1961, 173–174; vgl. zudem den Aufsatz von 1936 (Kuhn 1969a) sowie Kuhn 1980a, 55; Kuhn 1980b; vgl. auch Mohr 1961, 209–214. 32 Kuhn 1961, 174. 33 Kleinschmidt 1985, 104.
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torisch breiter abgestützt34 und die Konsequenzen für die Pragmatik und Funktion der Lieder genauer expliziert: Die Lieder würden weder „Wirklichkeit ab[bilden]“35 noch neue, erfundene Wirklichkeiten entwerfen, sondern sie seien Teil einer „überhöhenden Selbstdarstellung“36, die gerade auch durch das zur Schau gestellte Formbewusstsein Wirklichkeit prägen würde. Diese Bewertung der gesellschaftlichen Funktion des Minnesangs hat wiederum Auswirkungen auf das konkrete Verhältnis von Sänger und Rezipienten. Im Unterschied zum klassischen Schauspiel oder Konzert ist nicht von einer vierten Wand zwischen dem darbietenden Sänger und dem Publikum auszugehen, sondern alle Beteiligten sind Teil einer gemeinsamen Praxis beziehungsweise eines „Vollzugsraum[s]“.37 Um dies zu plausibilisieren, heben Kuhn und Kleinschmidt die Strukturanalogien zu religiösen Praktiken hervor, Kleinschmidt spricht sogar von einem „Zeremonialhandeln“, das alle Beteiligten einschließt.38 Trotz einiger Kritik gerade am Vergleich mit der liturgischen Praxis39 haben diese Thesen bis heute wenig an Geltung eingebüßt, sie wurden insbesondere durch einflussreiche Arbeiten von Jan-Dirk Müller weitertradiert, zum Teil mit anderer Terminologie: So ist vom „pararituell[en]“ Handeln40 oder der Nobilitierung einer exklusiven höfischen Gesellschaftsschicht durch die Verzahnung von ethischen und ästhetischen Werten die Rede.41 Minnesang als höfische Repräsentationskunst zu verstehen, schließt an die sozialhistorischen Thesen zur Dienst- und Lehenssemantik (→ Sozialgeschichte als Forschungsparadigma) an, ohne dass die Lieder auf die Interessen einzelner sozialer Gruppen reduziert werden müssten. Zugleich kommt der pragmatisch-performativen Dimension der Minnesangdarbietung eine hohe Relevanz zu, aber ohne dass diese genauer konkretisiert würde: Argumentiert wird auf der Ebene von allgemeinen gesellschaftlichen Normen, Leitbildern und Vollzügen. Die konkrete Situation, in der Minnesang dargeboten wird, die daran beteiligten Personen, ihr sozialer Status müssen nicht genauer skizziert werden. Das ist der große Vorteil, aber vielleicht auch die Gefahr dieses Ansatzes. Übersehen wird dabei allenfalls, dass ‚das‘ höfische Publikum sowohl in epischen Schilderungen als auch in Liedern ein in sich differenziertes ist, das auf die einzelnen Lieder unterschiedlich reagiert. 34 Kleinschmidt 1985 verweist dazu auf einige wenige historische Quellen, die bereits skizzierten Festbeschreibungen der Epik und vor allem auf didaktische Texte. Er bezieht sich auch methodisch reflektiert auf die Aussagen in den Minneliedern, vgl. dazu → Thematisiertes Singen. 35 Kleinschmidt 1985, 86. 36 Kleinschmidt 1985, 104. 37 Kuhn 1961, 171. 38 Kleinschmidt 1985, 92, Anm. 126. 39 Willaert 1999, 326, der die These auch als germanistisch verengte Sichtweise darstellt; eher polemisch-einseitig ist dagegen die Kritik von Willms 1990. 40 Müller 2001b, 179; vgl. auch mit leicht anderer Terminologie Müller 2001a, 116; Müller 2010. 41 Hausmann 1999, 129. Vgl. zudem Ortmann und Ragotzky 1990; Wenzel 1983; Grubmüller 1986; Hahn 1992; Warning 1979, 125; Hübner 1996, Bd. 1, 29–30, 343; Mertens 1986, 465.
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Dies lässt sich gut am ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg zeigen, der zwar keineswegs Abbild höfischen Lebens ist, aber doch literarisierte Auseinandersetzung mit der höfischen Kultur seiner Zeit. Der Protagonist verschafft sich dank seiner musikalischen Könnerschaft mehrmals Eintritt in eine höfische Gesellschaft (V. 3505–3749, 7507–8001). Ganz im Sinne der These von der höfischen Repräsentationskunst ist seine musikalische Brillanz indexikalisches Zeichen seiner vollendeten Beherrschung der gesamten höfischen Lebensform und damit seines Adels. Allerdings präsentiert Tristan am Marke- und am Isoldehof seine musikalische Kunstfertigkeit, ohne dass er Minnelieder im engen Sinne vortragen würde. Erst in Arundel trägt er im Kreis einer Gemeinschaft, die vom gesinde über Isolde Weißhand und ihre Familie bis zu vrouwen und barûne reicht, Lieder vor, in denen die Geliebte namentlich, aber zugleich mehrdeutig Isolde genannt wird (V. 19206–19214).42 Diese Lieder dienen zum einen der abendlichen Geselligkeit, zum anderen der Selbstverständigung des Protagonisten, die – gewollt oder ungewollt – auch Liebeskommunikation ist. ‚Die‘ höfische Gesellschaft, ihre Normen und die Wirkungen von Musik oder Gesang erweisen sich dabei aber als weit weniger homogen, als das Paradigma der höfischen Repräsentationskunst unterstellt: Tristans höfische Selbstdarstellung durch den musikalischen Vortrag ermöglicht zwar seinen gesellschaftlichen Aufstieg, spaltet aber zugleich die Hoföffentlichkeit; die Position des Herrschers wird langfristig geschwächt, nicht gestärkt (V. 3505–3749, 8310–8349). In der Gandin-Episode (V. 13307–13422) und in Arundel43 wird zwischen individueller und gruppenbezogener Wirkung der Musik unterschieden. Die Gandin-Episode wirft zudem die Frage auf, wie sich die Wirkung der höfischen Repräsentationskunst verändert, wenn nicht ein Repräsentant der höfischen Gesellschaft, sondern wie in den meisten anderen epischen Schilderungen ein spilman44 oder meister45 die Lieder vorträgt. Im ‚Tristan‘ werden also mehrere Situationen und mehrere Funktionen des Musik- oder Gesangsvortrags dargestellt: Neben dem Vortrag in der Hoföffentlichkeit (im Außenraum) werden auch das Singen im geselligen Kreis (im Innenraum) sowie Situationen des gemeinsamen, intimen Musizierens und Singens geschildert.46 Die höfische Selbstdarstellung ist zwar eine wichtige, aber keineswegs die einzige Funk42 Vgl. dazu Draesner 1996 sowie allgemein Kästner 1981. Alle Tristan-Zitate nach der Ausgabe Haug und Scholz 2011. 43 In dieser Passage unterscheidet der Text auch zwischen dem liedinternen Ich und dem Sänger, auch wenn den textinternen Rezipienten diese Unterscheidung gerade missglückt (V. 19182–19239). 44 ‚Eneasroman‘, V. 13167–13170; ähnlich in Strickers ‚Daniel‘ (V. 8141–8171); in historischer Perspektive dazu Moraw 1988, 78. 45 ‚Erec‘, V. 2158; ‚Tristan‘, V. 3511. Adlige singende Protagonisten gibt es selbstverständlich auch eine ganze Reihe; vgl. insb. den ‚Armen Heinrich‘, dessen Protagonist sanc vil wol von minnen (V. 71; Text nach der Ausgabe Mertens 2004); vgl. auch Mertens 1986, 461–468. 46 In der Zweisamkeit der Minnegrotte – fernab der höfischen Gesellschaft, aber diese doch in vielem imitierend und kompensierend – singen die Protagonisten leiche unde noten der minne (V. 17211), wobei abwechselnd der eine die Harfe spielt und der andere singt.
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tion dieser Darbietungen.47 Welche Rückschlüsse erlaubt dies nun für die gesellschaftliche Funktion des Minnesangs in einer höfischen Kultur? Wenn Minnesang am Hof vorgetragen worden ist, so hat er sicher auch die Funktion der Repräsentationskunst erfüllt. Doch ist die gesellschaftskonstituierende Wirkung eine andere, je nachdem, ob die Darbietung im kleinen Kreis oder bei Anlässen in der höfischen Öffentlichkeit statthat.48 Dabei handelt es sich um eine Repräsentationskunst, die nicht wie Rituale auf Repetition, sondern auf Variation ausgerichtet ist.49 Es sind mehrschichtige und mehrdeutige Darbietungen, die – wie der ‚Tristan‘ plausibel macht – nicht von allen Hörenden gleich verstanden werden und die nicht bei allen dieselbe Wirkung auslösen. Statt von einer homogenen Schicht des höfischen Publikums ist von einem intern differenzierten Publikum auszugehen. Diese Annahme lässt sich auch durch Liedanalysen stützen (→ Thematisiertes Singen): Nicht wenige Lieder differenzieren zwischen verschiedenen Rezipientengruppen. Es werden keine höfischen Werte proklamiert, sondern verschiedene Werte und ihr Verhältnis zueinander diskutiert. Auf diese Weise werden mehrere Identifikationsangebote gemacht, um so allenfalls ein in sich differenziertes Publikum in seiner Diversität ansprechen zu können.
4 Funktionsdifferenzierung und Funktionswechsel Der ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Liechtenstein beschreibt, anders als die bisher genannten Quellen, die Produktion, Funktion und Rezeption von Minneliedern detaillierter. In der Ich-Erzählung des steiermärkischen Ministerialen Ulrich von Liechtenstein wird ein epischer Rahmen für die in die Narration inserierten Minnelieder entworfen. Höfisches Leben und höfische Kultur werden hier reflektiert, kritisiert und ironisch überzeichnet. Diese Erzählung aus der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts ist allerdings bereits Effekt des Minnesangs (des klassischen genauso wie desjenigen → Neidharts): Das, was im klassischen Minnesang gezielt offen oder abstrakt bleibt – die konkrete Kommunikations- und Darbietungssituation, die Dame, der Liebende –, wird hier variationsreich und häufig auch komisch konkretisiert. Gleichwohl wurde und wird der Text von der Minnesangforschung als Quelle möglicher realhistorischer Aufführungssituationen von Minnesang geschätzt. Dies ist dann legitim, wenn man sich nicht nur der Literarisierung der Wirklichkeit in Ulrichs Text bewusst ist, sondern den Text auch als Beleg für die immer stärkere Literarisierung adliger Lebensformen und eines schriftliterarischen Umgangs mit Minnesang im dreizehnten Jahrhundert liest.50
47 So auch auf der Basis romanischsprachiger Belege Willaert 1999, 334. 48 So auch Bastert 1994, 272–273, ausgehend von anderen Quellen. 49 Willaert 1999, 326; vgl. ähnlich Müller 2001b, 180. 50 Peters 1971, 204–205; Chinca 2010, 307–308.
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Wie die Forschung früh gesehen hat,51 werden im ‚Frauendienst‘ zwar sehr viele Darbietungsformen von Minnesang geschildert, doch fehlen gerade die Aufführungssituationen, die bis anhin diskutiert worden sind: Weder der Liedvortrag im kleinen geselligen Kreis eines Hofes noch die Darbietung bei einem Hoftag oder höfischen Fest kommen vor. Stattdessen werden die Lieder der Dame vorgesungen (Str. 403), vorgelesen (V. 74,2, 426,5–7), als Schriftstück geschickt (V. 113,1–4, 360,2, 1087,3) und von der Dame selbst gelesen (V. 113,6–7, 165,7–8, 360,5, 1337,5–6). Doch nicht nur die Rezeption durch die umworbene Dame, sondern auch die öffentliche Aufnahme und Verbreitung der Lieder wird beschrieben. Diu liet52 […] hat manic ritter da vernomen (V. 316,1–2), sie werden beim Turnier gesungen (Str. 1425) oder getanzet (V. 1359,1; → Tanzlied).53 Es ist jedoch nicht nur von der oralen, sondern auch von der schriftlichen Verbreitung der Lieder die Rede: Im Epilog werden die Rezipienten aufgefordert, die künftigen Frauenpreislieder des Ich in das vorliegende buoch[] (V. 1847,3) hineinzuschreiben.54 Die Lieder sind somit mehrfach funktionalisiert und kontextualisiert: Sie sind zum einen ‚private‘ Botschaften an die Dame, zum anderen werden sie in der landadligen Gesellschaft verbreitet und dienen ihrer Unterhaltung. Dabei verändert sich die Funktion der Lieder innerhalb der Erzählung – vom ersten zum zweiten Teil,55 aber auch in einzelnen Szenen. So nutzt Ulrichs Bote Walthers Strophe Ir sult sprechen willekomen (L 56,14), um seinem Herrn eine versteckte Botschaft zu vermitteln – dass er nämlich gute Nachrichten von der Dame bringe (V. 775,5–8).56 Dargestellt wird somit, wie eine bekannte Strophe in der konkreten Situation neu funktionalisiert wird und wie sich so verschiedene Funktionen und Kontexte des Gebrauchs von Minnesang problemlos überlagern können. Neben der gesellschaftlichen und der kommunikativen Funktion von Minnesang tritt auch dessen ästhetische Dimension immer wieder in den Vordergrund. Als der Dame Lieder des Ich vorgelesen werden, sagt sie: [D]iu liet diu sint ze ware guot, | […] sin dienst mac mir nicht gezemen (V. 74,4–6). Die Dame schätzt also die ästhetischen Qualitäten der Lieder, geht aber nicht auf die Minnekommunikation ein. An anderer Stelle bewertet sie die in ihrem Auftrag produzierten Frauenpreislieder als guot (V. 360,6) und schickt Ulrich zur miet (V. 360,8), d. h. als Entlohnung, ein hundelin 51 So bereits Kartschoke 1981, 108; Bumke 1986, 755. 52 An der Stelle geht es um ein spezifisches Lied (Nr. 4), im Mittelhochdeutschen wird jedoch, sobald von mehr als einer Strophe die Rede ist, der Plural benutzt. 53 V. 1370,1: Diu liet gesungen wurden vil; V. 1633,1: Diu tageliet maniger gern sanc. Alle Zitate nach FD. 54 [I]ch wil si [d. i. vrowen] gern loben me; | swer welle, daz ez hier an ste, | swenne ichz gesinge, der schribe ez dran: | der hat sin zuht dar an getan (FD, V. 1847,5–8). 55 Nach dem ersten Teil des Romans (dem ‚ersten Dienst‘, Str. 8–1389) tritt der ‚Botschaftscharakter‘ der Lieder zurück. Sie erscheinen nun stärker als Bestandteil einer kollektiven Praxis oder – während der Gefangenschaft des Ich – als erinnerte höfische vröide, die im Kontrast zur tristen Wirklichkeit des erzählten Geschehens steht. Vgl. Linden 2004, 265; vgl. auch Kellermann 2010, 235, 242. 56 Im Beitrag → Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge wird erläutert, was ein solcher Bezug über die Walther-Rezeption aussagt.
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(V. 360,7). Während Ulrich seine Lieder als Werbebotschaft und den Hund als Liebesgabe versteht, unterscheidet die Dame zwischen dem liedinternen Ich und dem Liedproduzenten, zwischen dem minnenden und dem singenden Ich. Diese Unterscheidungsleistung ist durchaus bemerkenswert, da um diese auch in den Minneliedern gerungen wird (→ Thematisiertes Singen). Die bis anhin diskutierten Quellen legen somit nahe, dass die in der Forschung immer wieder gestellte Frage nach ‚der‘ Funktion oder ‚der‘ Aufführungssituation von Minnesang zu modifizieren ist: Es ist nicht von einer, sondern von mehreren Situationen und Funktionen (Geselligkeit, private Kommunikation, höfische Repräsentationskunst, ästhetisches Vergnügen) auszugehen, die spätestens ab 1250 nebeneinanderstehen können.
5 Medienwechsel: Sprechen, Singen, Schreiben Die mittelhochdeutschen Termini lesen, hœren, sprechen, sagen, singen sind medial mehrdeutiger als im Neuhochdeutschen, sie differenzieren nicht so klar zwischen Singen und Sprechen, zwischen schriftlosem und schriftgestütztem Vortrag oder Rezeption.57 Im ‚Frauendienst‘ zeigt sich das, sobald der moderne Rezipient nachzuvollziehen versucht, in welcher medialen Form (singend, sprechend, vorlesend oder geschrieben) die Lieder jeweils von einer Person zur nächsten verbreitet werden. So hat das Ich beispielsweise in Abwesenheit der Dame [g]uot niuwe liet […] von ir […] | gesungen (V. 66,1–2). Singen kann hier sowohl die (laute oder leise) Liedproduktion als auch die gesangliche Darbietung meinen.58 Anschließend sollen die Lieder, so der Auftrag des Ich-Erzählers, der Dame durch eine Botin ze orn gebracht werden (V. 66,3). Diese berichtet, als sie zurückkehrt: [I]ch las ir diniu niuwen liet (V. 74,2). Wird der Dame das Lied nun aus dem Gedächtnis vorgetragen, vorgesungen oder vom Schriftstück abgelesen oder abgesungen?59 In einer anderen Szene bringt der Bote der Dame liet (Str. 1099). Sie erhält ein Schriftstück (brief) und las in hie, si las in dort[] | mit guoter schrift wise und wort; | in las [si] […] | mit spilnden ougen […] | nu hoert diu liet, diu sprechent so (V. 1100,3–8). Entworfen wird hier eine Leseszene, bei der allerdings betont wird, dass nicht nur der Inhalt, sondern auch die Melodie (wise) ‚gelesen‘
57 Vgl. die stärker quantitativen und komparatistischen Analysen bei Scholz 1980, 50–51 u. ö. Vgl. auch die berühmte Aussage zum Minneleich: [d]er leich vil guot ze singen was, | manic schoeniu frowe in gern las (V. 1374,1–2); oder: nu horet, wie diu wise sprach (V. 1356,8). Diskussion von sprechen mit weiteren Belegen bei Kartschoke 1981, 129–130. Vgl. auch das Kap. → Thematisiertes Singen, in dem ähnliche Belege aus dem Minnesang besprochen werden. 58 Weitere Belege bei Kartschoke 1981, 106–107. 59 Zum Verb lesen vgl. Scholz 1980, 50–51.
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wird.60 Anschließend wird auf das in die Handschrift inserierte schriftliche Lied (ohne Musiknotation) mit der Formel nu hoert hingewiesen. Diese mediale Unbestimmtheit mag mit der Gewohnheit des lauten Lesens zusammenhängen oder wie beim zitierten nu hoert damit, dass in schriftlich überlieferten Texten orale Kommunikation formelhaft weitertradiert beziehungsweise für die mündliche Aktualisierung bereitgehalten wird. Im Minnesang selbst wird allerdings die Vermischung der Lexeme des Sprechens und des Singens gezielt eingesetzt, um Aufführungssituation und Minnesituation aufeinander zu beziehen (→ Thematisiertes Singen). Im ‚Frauendienst‘ wiederum zeigt sich trotz der semantischen Unbestimmtheit ein bemerkenswertes Neben- und Ineinander von Oralität und Literalität, von Singen und Sprechen, die der Liedproduktion „in einem Strome“61 – wie Wilhelm Müller sie entworfen hat – entgegensteht:62 Beispielsweise bringt der Bote Ulrich von der vrowe […] | ein wise, diu unbekant | ist in tiutschen landen gar, | […] daz sult ir tiutsch singen in (V. 358,3–7). Das Erzähler-Ich wird somit gebeten, zu einer bestehenden Melodie neue Worte zu dichten beziehungsweise eine Kontrafaktur vorzunehmen. Melodie und Liedtext entstehen getrennt voneinander.63 Ulrich erlernt die Melodie durch Nachsingen und dichtet dazu einen deutschen Text, der die auftraggebende Dame preist (Die wise ich lernte an der stat | und sanc drin reht als si mich bat; V. 359,1–2). Nach der Wiedergabe des Liedes in der Handschrift (cgm 44, Bl. 25v–26r) wird berichtet, dass das Lied aufgeschrieben, der Dame gebracht und von ihr gelesen (V. 360,2–5) wird. Dieser mehrfache Medienwechsel ist höchst aufschlussreich: Die Melodie wird durch Vorsingen und Nachsingen verbreitet. Ohne schriftliche Stütze wird zu dieser Melodie ein neuer Liedtext produziert, der dann aber schriftlich übermittelt und lesend rezipiert wird.64
60 Bechstein (BECH-FD, Kommentar zu Str. 1100) vermutet, dass das Lied mit Neumen versehen war; Kartschoke (1981, 113) meint, wise und wort sei bloß formelhaft zu verstehen; darüber hinaus ist zu überlegen, ob die Melodie (durch Kontrafaktur, s. u.) bekannt ist. Ebenso ist zu fragen, ob wise immer die Melodie meinen muss; vgl. nu hoert die wise. die sprechent so (V. 1351,8); vgl. Kartschoke 1981, 130. 61 Müller 1994, 13. Auch das Ich des ‚Frauendienstes‘ beschreibt die Liedproduktion aus dem herze[n] (V. 351,7). 62 In den Geleitstrophen der Trobadorlyrik (→ Altokzitanische Lyrik) werden ganz ähnlich, aber ‚innerhalb‘ der Lieder, verschiedene Vermittlungs- und Rezeptionsformen thematisiert, darunter auch die lesende Rezeption; vgl. die berühmten Belege mit z. T. kontroverser Deutung: Rieger 1984; Gruber 1985; Selig 1996; Rieger 1997; Gaunt 1999. 63 Hugo von Montfort (Ende des vierzehnten Jahrhunderts) betont ebenfalls: Die weýsen zú den lieden, | der hán ich nicht gemachen (HOF 31, V. 177–178). 64 Auch hier bleibt offen, ob die Dame das Lied vom Text abliest oder singt. Doch auch wenn die Dame nur laut liest und nicht singt, so kennt sie die wise, anders als die Rezipienten der ‚Frauendienst‘-Handschrift, denen das Lied ohne Melodieangabe überliefert ist.
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Sichtbar wird so, dass der Terminus ‚Mündlichkeit‘65 gerade im Minnesangkontext unpräzise ist, weil die Differenzen zwischen gesprochener und gesungener Sprache, Melodie und Liedtext, einstimmigen und mehrstimmigen Liedtraditionen66 eingeebnet werden. Bei einer allfälligen Rede von Mündlichkeit und Schriftlichkeit67 ist zudem sehr genau darauf zu achten, ob die Liedproduktion, die zeitgenössische Verbreitung der Lieder, die Liedrezeption oder die Überlieferung gemeint ist.68 Literalität hat darüber hinaus, zumindest im ‚Frauendienst‘, eine Genderdimension (→ Minnesang in gender- und queertheoretischer Perspektive). Während die Dame des Lesens mächtig ist, wird die Illiteralität des laikalen, Lieder produzierenden Ich mehrfach etwa dadurch betont, dass er auf den schriber warten muss, der ihm die brieve vorliest (V. 169,1–2).69 Allerdings versteht man dies heutzutage als – auch aus anderen Werken bekannte – Autorstilisierung.70 Bereits der Minnesang von beispielsweise Friedrich von Hausen oder → Heinrich von Morungen ist metrisch, reimtechnisch und sprachlich so komplex, dass einige Forschende vermuten, dass diese Lieder nur schriftgestützt haben entstehen können.71 Der ‚Frauendienst‘ zeigt, dass von solchen Medienwechseln – beispielsweise von der Aufzeichnung auf einer Wachstafel zum gesungenen Lied, aber auch vom gehörten Lied zu dessen Verschriftlichung – spätestens ab der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts ausgegangen werden muss. Ein solcher Kontext- und Medienwechsel verändert die Lieder, sie werden durch die neuen medialen Bedingungen geprägt und können im neuen Medium anders funktionalisiert oder gerahmt werden. Dafür steht nicht zuletzt der ‚Frauendienst‘ selbst: Die Lieder Ulrichs, die textintern wenig Kontextualisierungshinweise geben, werden durch das
65 Vgl. zur Geschichte und Systematik der Opposition von „Mündlichkeit/Schriftlichkeit“, die auf problematische Weise immer von einer Schriftkultur aus konzipiert wird: Schüttpelz 2013. 66 Wachinger 2011, 50–52; vgl. auch → Die Rezeption des Minnesangs in der Musik; → Melodien zu Minneliedern. 67 Neben der Unterscheidung der Kommunikationskanäle (phonisch/graphisch) oder Medien (Stimme/Schrift) operiert die mediävistische Forschung zudem mit der Unterscheidung von ‚konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit‘ (Koch und Oesterreicher 1985, 20–27). Fokussiert werden damit standardisierte Semantiken und grammatische Strukturen, die orale oder literale Kommunikation indizieren: Ausrufe, Adressierungen oder Korrekturen können beispielsweise mündliche Rede indizieren, eine hohe Informationsdichte und eine komplexe Syntax können ‚Schriftlichkeit‘ andeuten. Eine solche Unterscheidung hilft beschreiben, wie in schriftlichen Texten z. B. durch Formeln wie nu hoert Mündlichkeit konnotiert wird und vice versa. Allerdings ist diese Unterscheidung nicht unproblematisch. Denn zum einen können einige Indikatoren wie beispielsweise dichte Alliterationen je nach Argumentation sowohl Mündlichkeit als auch Schriftlichkeit andeuten, zum anderen wird die funktionale und soziale Diversität insbesondere der gesprochenen Sprache ignoriert; vgl. Fehrmann und Linz 2009. 68 Vgl. prägnant Selig 1996, 10–12, mit weiterer Literatur. 69 Kartschoke 1981, 111; Kellermann 2010, 240. 70 So bereits überzeugend Herzog 1975, 505–506, Anm. 14. 71 Schiendorfer 2003, 397; für den romanischen Bereich Gruber 1985, 35; anders dagegen Holznagel 1995, 72, der vermutet, dass die „wenigsten Minnesänger lesen und schreiben konnten“.
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Entwerfen von minnekommunikativen Entstehungssituationen im ‚Frauendienst‘ neu gerahmt, motiviert und authentisiert – ähnlich wie dies liedintern auch bei Reinmar, Morungen oder → Hadlaub zu beobachten ist (→ Erzähllied, → Thematisiertes Singen). In der Minnesangforschung wird auch lange nach der Romantik das multimediale Gesamtkunstwerk ‚Minnesang‘ in einer oral-performativen Kultur imaginiert. Es wird sehnsüchtig bedauert, dass wir die Gesten und die Mimik des Sängers, seine Kommunikation mit den anwesenden Rezipienten oder die Reaktionen des Publikums nicht kennen. Selbstredend können bedeutungsstiftende Elemente eines Gesangsvortrags wie Betonungen oder Pausen in der Schrift nicht vermittelt werden72 – und ob und wie die komplexen Texte bei einem einmaligen Gesangsvortrag verstanden worden sind, ist unsicher. Doch literaturwissenschaftlich ertragreicher, als sich den Spekulationen über eine konkrete Aufführungskonstellation hinzugeben, ist es, die thematisierte Medialität in den Texten (im ‚Frauendienst‘ oder auch in den Liedern selbst; → Thematisiertes Singen) und die Materialität der Überlieferung (→ Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge) detailliert zu untersuchen und aufeinander zu beziehen.
6 Medienwechsel: Oralität und Literalität im Bild Auch die Autorminiaturen der Sammelhandschriften B und C (und einiger Fragmente; → Autorbilder) zeigen Lieddarbietungen und Liedproduktionen und entwerfen dabei Szenen des Sprechens, Singens und Schreibens. Da in mehreren Bildern Wachstafeln,73 Diktatszenen,74 unbeschriebene Streifen (Abb. 1–2) oder Blätter in den Händen der Autoren (Abb. 3) vorkommen, wurde vermutet, dass man sich die Produktion von Minnesang spätestens um 1300 als schriftgestützt vorgestellt hat.75 Allerdings stellen die Miniaturen keine konkreten Produktions- oder Aufführungssituationen dar, sondern konnotieren Autorschaft auf einer abstrakteren Ebene. Dies wird nicht zuletzt bei den Autorbildern mit Wachstafeln deutlich: Heinrich von Morungen in B76 und Der von Gliers in C77 sind beide ohne Griffel dargestellt. Das Wachstafeldiptychon erscheint weniger als Medium für Notizen, sondern markiert (im Rekurs auf ältere Bildtraditionen) die Gelehrsamkeit des Autors.78 Sobald man die Autorminiaturen zudem mit Autorbildern aus dem klerikalen oder wissenschaftlichen Kontext vergleicht, fällt auf, dass Schriftlichkeitsattribute (wie Wachstafel, Griffel oder beschrif72 Oesterreicher 2008. 73 Der von Gliers C, Bl. 66v; Reinmar von Zweter C, Bl. 323r; Heinrich von Morungen B, S. 80. 74 Konrad von Würzburg in C, Bl. 383r, Bligger von Steinach C, Bl. 182v. 75 Cramer 1998, 27; differenziert Schnell 2001, 111–112. 76 S. 80. 77 Bl. 66v. 78 Manuwald 2013, 117.
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tetes Pergament) eher selten sind und die Autoren viel häufiger in höfischer Interaktion dargestellt werden.79 In medienhistorischer Hinsicht hat die Forschung insbesondere die Bedeutung der „unbeschrifteten Streifen“80 intensiv diskutiert. Sie sind nicht nur in den Händen der Autoren (Abb. 1),81 sondern auch in denen von Boten82 oder Damen (Abb. 2–3) zu finden. Für diese unbeschrifteten Streifen, die gezielt leer gelassen worden sind,83 gibt es eine ältere Bildtradition.84 Die Forschung konnte verschiedenartige Funktionen der Streifen in einzelnen Bildern ausmachen: In einigen Szenen erinnern sie an Pergamentrollen oder -blätter, die sich mit einem schriftlichen Œuvre in Zusammenhang bringen lassen (Abb. 3).85 In anderen wiederum werden sie mit Gesten und Gesprächsdarstellung kombiniert (Abb. 1–2). Obwohl die Miniaturen in B und C auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen, sind die unbeschrifteten Streifen in C seltener.86 Insgesamt entsteht gleichwohl der Eindruck, dass sie häufig für das „Œuvre“ des dargestellten Autors stehen.87 Während dieses Œuvre in B etwas stärker mit Oralität assoziiert ist, sind die Streifen im Codex Manesse meist Teil einer Minnekommunikation, die einmal mündlich, einmal mündlich und schriftlich stattfinden kann (Abb. 3). Die mediale Pointe der unbeschriebenen Streifen in C bestünde dann darin, dass sie das Œuvre sowohl als „schriftlich fixiert[es]“ wie auch als „[r]ezit[iertes]“ darstellen und Minnekommunikation und Autorschaft aufeinander beziehen.88
79 Peters 2001, 395–396. Nicht wenige Autoren vollführen Gesten der Belehrung, des Gesprächs oder der Demonstration: Otto von Botenlauben B, 23; Rudolf von Fenis B, 4. Vgl. dazu auch Peters 2003. Zudem sind viele Autoren nicht primär als Autoren abgebildet, sondern als „höfische Personen im Minnedienst“ (Holznagel 1995, 73). 80 Holznagel 1995, 71. Bereits mit der Benennung geht eine Deutung einher; vgl. dazu Peters 2001, 398, Anm. 24; Bäuml und Rouse 1983, 221; Holznagel 1995, 71, Anm. 243. 81 Sie sind in B dominant in der Hand des alleine dargestellten Autors (Rudolf von Fenis B, S. 4; Bligger von Steinach B, S. 26; Heinrich von Veldeke B, S. 51, beziehungsweise mit Zeigegeste zum Streifen C, Bl. 30r; Ulrich von Gutenburg B, S. 73), in C werden sie häufig der Dame überreicht (Gottfried von Neifen C, Bl. 32v; Reinmar C, Bl. 98r) oder dem Boten übergeben (Markgraf von Hohenburg C, Bl. 29r). Auch auf den Reiterbildern finden sich die leeren Streifen, hier meist in der Form von Fahnen: Leuthold von Seven B, S. 128, und Heinrich von Rugge B, S. 45. 82 Hartwig von Raute C, Bl. 248v. 83 Bei Eberhard von Sax (C, Bl. 48v) ist der Streifen beschriftet. In der Diktierszene bei → Konrad von Würzburg (C, Bl. 383r) wird Schrift symbolisch (Phantasieschrift) abgebildet. Bei Reinmar von Zweter (C, Bl. 323r), Rudolf dem Schreiber (C, Bl. 362r) und Bligger von Steinach (C, Bl. 182v) werden weiße (Pergament-)Streifen mit einer Feder beschrieben, ohne dass Schrift abgebildet wird. 84 Bäuml und Rouse 1983, 224–226. 85 Rudolf der Schreiber C, Bl. 362r; Herrand von Wildonie C, Bl. 201r; Leuthold von Seven C, Bl. 164v. 86 In C sind z. T. noch Vorzeichnungen der Streifen sichtbar, die gar nicht (Der von Kürenberg C, Bl. 63r) oder nicht vollständig ausgeführt worden sind (Abb. 3; Gottfried von Neifen C, Bl. 32v). Dazu mit weiterer Literatur Holznagel 1995, 71. 87 Peters 2001, 398. 88 Peters 2001, 398.
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Oralität und Literalität werden somit auch in den Autorminiaturen aus der Zeit um 1300 nicht gegeneinander ausgespielt, sondern so verknüpft, dass Liedinhalt und Lieddarbietung, Minnekommunikation und Œuvre eng ineinander verwoben werden.
7 Fazit Die Forschung geht mehrheitlich davon aus, dass Minnesang um 1200 als Gesangsdarbietung in einer performativen Kultur rezipiert worden ist, in der dem multimedialen Vollzug einer Darbietung vor einer Gruppe ein hoher gemeinschaftsstiftender Wert zukam. Doch wissen wir über die genaue soziale, räumliche und musikalische Konstellation einer solchen Darbietung nur sehr wenig. Während die ältere Forschung lange vom Minnesangvortrag bei Hoffesten und Feiern ausgegangen ist, hat die jüngere Forschung die entsprechenden Thesen und Quellen überzeugend in Zweifel gezogen. Stattdessen geht sie von einem Nebeneinander verschiedener Darbietungssituationen aus: Halböffentliche Vortragssituationen in der geselligen Runde, im exklusiven Zirkel der Minnesangkenner oder bei feierlichen Anlässen lassen sich mit den vorhandenen Quellen genauso plausibel machen wie private oder gar intime Vortragssituationen. Ähnliches gilt für die Frage nach den gesellschaftlichen Funktionen von Minnesang: Nach wie vor versteht ein Großteil der Forschung Minnesang um 1200 als höfische Repräsentationskunst, die über den Vollzug von ethischen und ästhetischen Werten zur Konstituierung und Nobilitierung der höfischen Gesellschaft beiträgt. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass ‚die‘ höfische Gesellschaft in sich vielfältig war und die vorhandenen Quellen unterschiedliche Wirkungen ein und desselben Vortrags auf eine Rezipientengruppe schildern. Auch die Lieder selbst verstehen sich nicht als Proklamation höfischer Werte, sondern gehen davon aus, dass je neu verhandelt wird, was ‚richtige‘ Minne, was wertvoller Minnesang ist und in welchem Verhältnis der Gesang zur Gesellschaft steht (→ Thematisiertes Singen). Neben der repräsentativen Funktion ist deshalb auch von weiteren Funktionen wie der Geselligkeit, der personalen Kommunikation oder gar Persuasion, der intertextuellen Kommunikation und ästhetisch ausgerichteten Rezeptionsformen auszugehen. Medienhistorisch hat sich gezeigt, dass man spätestens ab 1250 ein Nebeneinander von oralen und literalen Produktions-, Verbreitungs- und Rezeptionsformen annehmen kann und auch die lesende Rezeption von Minnesang nicht mehr auszuschließen ist. Eine wie auch immer konzipierte dichotomische Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit oder von volkssprachlich-laikaler Oralität und klerikaler, lateinischer Literalität ist dabei für den Minnesang wenig weiterführend, weil der uns überlieferte Minnesang immer schon durch mehrfache Medienwechsel geprägt ist, zu deren Beschreibung es feinere Differenzierungen (wie die zwischen Sprechen und Singen, Melodie und Liedtext usf.) braucht.
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Versucht man abschließend die Medialität und Pragmatik des Minnesangs in einen größeren europäischen Kontext einzuordnen, so werden nicht zu unterschätzende regionale Unterschiede sichtbar: Werden im mittelniederdeutschen Raum Melodien aufgezeichnet und die Lieder nach Tonautoren geordnet (wenn auch nur wenig Minnesang dabei ist; → Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge), interessieren sich die oberdeutschen Sammelhandschriften (A, B, C, E) für die Texte und die Textautoren. Schaut man über die deutschsprachige Liebeslyrik hinaus, so sind die Unterschiede noch beachtlicher: In der provenzalischen und altfranzösischen Liebeslyrik wird stärker als in der deutschsprachigen zwischen Textproduzent und Vortragendem unterschieden,89 mit realhistorischen Anspielungen auf adlige Personen gespielt (→ Altokzitanische Lyrik, → Liebeslyrik in Nordfrankreich)90 und in Geleitstrophen die schriftliche Übermittlung und Rezeption von Liedern thematisiert91. Im italienischen Raum ist wohl am frühesten eine Trennung von „lyrischer Dichtung und Musik“92 zu erkennen und gibt es bereits um 1400 zyklische Lyriksammlungen, die erkennbar zum Lesen konzipiert werden (→ Italienische Liebeslyrik des Mittelalters). Für die lateinische Lyrik gilt es wieder andere Autorschaftskonzeptionen und mediale Formen zu berücksichtigen (→ Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters). Diese wenigen Stichpunkte verdeutlichen: Es gibt keine lineare Entwicklung von der gesungenen Vortragslyrik zur Lese- oder Buchlyrik, sondern die verschiedenen Transformationen, Gebrauchs- und Überlieferungsformen sowie Autorschafts- und Lyrikkonzeptionen sind differenzierter zu beschreiben.
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89 Selig 1996, 16–17. 90 In narrativen Texten des romanischen Sprachraums sind auch das Spektrum an Darbietungssituationen und -funktionen von gesungener Lyrik und die soziale Diversität der Sänger breiter als in den deutschsprachigen Quellen; vgl. Mertens 1986, 455–461; Willaert 1999, 327–334. 91 Vgl. oben Anm. 62. 92 Wachinger 2011, 41–43, hier 42.
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Abb. 1: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 848, Bl. 120v: Meinloh von Sevelingen.
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Thematisiertes Singen Im Minnesang wird nicht nur über minne gesprochen, sondern auch über das Singen selbst, das Publikum und den Wert des Gesangs für eine höfische Gesellschaft. Die entsprechenden Stellen und Lieder sind in der Forschung viel besprochen. Zum einen werden sie in metalyrischer Hinsicht dahingehend untersucht, was sie über die implizite Poetik des Minnesangs aussagen: Welche Gattungsregeln werden hier angedeutet, welcher gesellschaftliche oder ästhetische Wert wird dem Singen zugeschrieben, welche Reflexe einer proto-ästhetischen Diskussion lassen sich erkennen? Zum anderen erhalten diese Stellen aber auch deshalb viel Beachtung, weil sie als Hinweise auf historische Vortragssituationen oder die gesellschaftliche Funktion von Minnesang gelesen werden. Da es nur wenige und vorrangig literarische Quellen außerhalb von Minnesang und Sangspruch gibt, die von mittelalterlichen Minnesangdarbietungen berichten, geben die Lieder diesbezüglich wertvolle Hinweise, auch wenn hier methodisch reflektiert vorgegangen werden muss. Die folgenden Ausführungen bauen eng auf dem vorangehenden Kapitel zur → pragmatischen und medialen Dimension des Minnesangs auf. Während dort anhand der Quellen außerhalb von Minnesang und Sangspruch die Forschungsparadigmen zur Aufführung1 und Pragmatik besprochen worden sind (höfisches Fest, höfische Repräsentationskunst, der kleine Kreis von Kennern, Medienwechsel), geht dieses Kapitel von den Liedern aus. Es wird gezeigt, (1) wie mittels Deiktika auf die Vortragssituation referiert und das Publikum angesprochen wird, (2) wie Minnen und Singen aufeinander bezogen werden und (3) wie in den Liedern ein Diskussionsraum über Minnesang eröffnet wird. Im Fazit (4) wird nach den literarhistorischen Tendenzen gefragt, die mit diesen Entwicklungen einhergehen.
1 Erzeugung eines textinternen Vortragsraums Die Lieder des Minnesangs sind voller deiktischer Sprechgesten: Hie ist des meien hôchgezît (→ Ulrich von Liechtenstein LDM C Liecht 60, V. 1) oder mir ist vil unsanfter nu dan ê (→ Reinmar MF 179,3, I, V. 3) beziehungsweise daz tuot mir hiute und iemer wê (Reinmar MF 163,23, IV, V. 2) oder nu seht, wiez ab allen dingen gê (LDM C Rubin
1 Der Begriff der „Aufführung“ wurde von Kuhn 1969 aus der historischen Musikwissenschaft in die Minnesangforschung eingeführt. Er ist wegen der Assoziation mit Aufführungspraktiken des klassischen Theaters oder Konzerts nicht unproblematisch, da für den Minnesang von einem gemeinsamen, Publikum und Vortragenden umfassenden Interaktions- und Vollzugsraum auszugehen ist (→ Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs). https://doi.org/10.1515/9783110351859-014
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68, V. 5). Deiktika verweisen auf eine Äußerungsinstanz (Ich), von der aus auf den Ort (hie), den Zeitpunkt (nu, hiute) oder die Rezipienten (nu seht oder welt ir vernemen; → Walther von der Vogelweide L 66,21, I, V. 6)2 der Äußerung Bezug genommen wird. Die Rezipienten werden nicht selten als spezifische Gruppe herren unde mâge (→ Hartmann von Aue MF 218,5, I, V. 1) oder [i]r reiniu wîp, ir werden man (Walther L 66,21, I, V. 1) angesprochen. Die Dame wird adressiert: herzeliebe frouwe, […] wie wilt du trœsten mich? (Ulrich von Liechtenstein LDM C Liecht 60, V. 5–6), aber auch an andere Sänger (Ir minnesinger; Hartmann MF 218,5, III, V. 1) werden Äußerungen gerichtet. Solche deiktischen Verweise wurden in der Forschung zeitweise als „Spuren“3 einer realen Vortragssituation gelesen. Daran werde sichtbar, wie das Lied in die orale Situation eingebettet sei, wie es auf den Kontext, z. B. die Jahreszeit, das jeweilige Publikum oder einen spezifischen historischen Kontext (z. B. Kreuzzug), Bezug nehme. Beim schriftlich überlieferten Text entstehe daraus ein „Informationsdefizit“, das den Text mehrdeutiger macht, als er ursprünglich war.4 Bei solchen Schlussfolgerungen ist allerdings Vorsicht geboten,5 denn adressiert werden in den Minneliedern auch Personifikationen wie der Mai: Fröudenrîcher süezer meie, du solt willekomen sîn (Hugo von Werbenwag LDM C Werb 13, V. 1–2). Wie ist also zu entscheiden, ob die Ansprache der herzelieben frouwe auf eine anwesende Dame zurückverweist oder ob die Dame bloß als personifiziertes summum bonum angesprochen wird?6 Bei der Formel nu seht ist medienunabhängig häufig unklar, ob die Rezipienten ihre Aufmerksamkeit auf etwas Sichtbares oder bloß auf etwas Vorstellbares lenken sollen. Im oben zitierten Rubin-Vers (LDM C Rubin 68, V. 5) verweist das Ich mit nu seht nicht auf etwas Konkretes, sondern fordert die Rezipienten auf, den Gegensatz zwischen Gegenwart und Vergangenheit wahrzunehmen. Bei Walther von Mezze (LDM C Mezze 14, V. 3) wird mit nu seht eine Wunschphantasie eingeleitet.7 Bei → Heinrich von Morungen wiederum wird die Formel zum Zitat: Maniger der sprichet: ‚nu sehent, wie der singet!‘ (MF 133,13, II, V. 1). Das nu referiert nicht auf das Jetzt des Liedvortrags, sondern auf iterative Sprechakte in einem realen oder imaginierten Raum, der sich gerade nicht mit dem Äußerungsraum des Ich deckt. Die Deiktika haben also unabhängig davon, ob sie mündlich oder schriftlich kommuniziert werden, prinzipiell mehrfache Referenzmöglichkeiten. Diese Mehrdeutigkeit kann oral oder literal je unterschiedlich disambiguiert, sie kann aber auch aus-
2 Alle Walther-Zitate nach L/COR, wenn nicht anders vermerkt. Alle Hervorhebungen S. R. 3 Müller 1996, XV; Müller 1999b, 384. Vgl. allerdings Müller 1999a, 155. 4 Tervooren 1996, 55; geprägt wurde diese Interpretationsrichtung durch den berühmten Aufsatz von Kuhn 1969. 5 So u. a. auch Kasten 2008, 81–82; Müller 1999a, 155. 6 Ähnlich auch Walther L 97,34, IV; vgl. dazu Bein 1996, 88; Kellner 2018, 34. 7 Nu hân wir iemer wunnen vil, | erwerben wir daz beste wîp. | nu seht, wie ich danne teilen wil (LDM C Mezze 14, V. 1–3). Das Lied ist auch unter Walther von der Vogelweide (E), Ulrich von Singenberg (A) und namenlos in O überliefert; allerdings in all diesen Handschriften ohne das nu seht.
Thematisiertes Singen
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gestellt und genutzt werden. Für die Poetik des Minnesangs ist bezeichnend, dass häufig Letzteres der Fall ist, dass also mit der deiktischen Mehrdeutigkeit gespielt wird.8 Eine Reinmar-Strophe beginnt: In disen boesen ungetriuwen tagen (MF 163,23, V, V. 1). Das dise lässt sich auf den ersten Blick als Referenz auf die Zeit des Liedvortrags (allenfalls der Liedproduktion) verstehen, die vielleicht eine für die gesamte Gesellschaft problematische Zeit war.9 Die daran anschließenden Verse korrigieren jedoch diesen Eindruck: ist mîn gemach niht guot gewesen (V. 2). Das dise verweist auf einen Zeitpunkt im Beziehungsverlauf von Ich und Dame.10 Statt eines liedexternen Referenzraums wird mit der Deixis ein liedinterner Referenzraum entworfen. Allgemeiner formuliert: Deiktika und Adressierungen sind performative Sprechgesten, die etwas als präsent voraussetzen, was nicht vorhanden sein muss. Sie erzeugen einen textinternen Raum, der nicht mit dem textexternen Artikulationskontext übereinstimmt.11 Die oben zitierten Strophen können auch oral rezipiert werden, wenn keine herre oder keine Dame anwesend sind oder wenn nicht gerade Sommerhalbjahr ist. Methodisch ist deshalb zwischen dem textexternen Rezitator12 des Liedes und dem textinternen Ich zu unterscheiden. Es handelt sich um zwei verschiedene Bezugspunkte der Deixis, die einmal den Äußerungsakt und einmal den sprachlichen Referenzraum betreffen.13 In medialer Perspektive ist aber gleichfalls evident, dass die deiktische Performativität im oralen Vortrag eine andere Wirkung als im schriftlich überlieferten Text hat;14 nur können wir Ersteres aufgrund fehlender Daten kaum erforschen. Doch inwiefern geben die Lieder dann überhaupt Auskunft über die historische Vortragspraxis? Können Lieder, die ihre eigene Darbietung textintern skizzieren, belastbare Hinweise dazu geben oder führt dies bloß zu Zirkelschlüssen? Diese Frage
8 Vgl. z. B. auch L 118,24, III, V. 1–2: Disen wunneklîchen sanc | hân ich gesungen mîner frouwen ze êren. Auch hier ist unklar, worauf dise verweist: auf die ersten beiden Strophen, auf das gesamte Lied, auf andere Lieder? Vgl. dazu Bein 1996, 88. Vgl. zudem Reinmar MF 167,31, I, V. 1: Si jehent, der sumer der sî hie. In diesem Vers wird suggeriert, dass das hie für zwei Sprechinstanzen gilt: Sowohl für die zitierte Sprechinstanz (Si) als auch für das Ich des Liedes. 9 So von Kraus 1919, 48. 10 Dies ist je nach Fassung und Strophenanordnung ein anderer: A, b, C und E haben je eine andere Strophenreihenfolge. Vgl. dazu Hausmann 1999, 53–56, 197–207. 11 In der Linguistik wird zwischen verschiedenen Kontexten unterschieden: zwischen einem textinternen (endogenen) und einem textexternen (exogenen) Kontext oder zwischen dem sprachlichen, dem institutionell-diskursiven und dem situativen Kontext. Vgl. Meyer 1983, 20; Franck 1996, 1324; Bussmann 2008, 368. Die neuere Linguistik betont darüber hinaus, dass es sich bei Text und Kontext um relationale Begriffe handelt; der Text prägt durch Kontextualisierungshinweise, was als Kontext wahrgenommen wird; Franck 1996, 1325, 1329. 12 Das Nachsingen der Lieder eines anderen und damit die Unterscheidung von Liedproduzent und Sänger wird in einigen Liedern thematisiert; vgl. Kaiser Heinrich MF 5,16, I, V. 5: Swer nu disiu liet singe vor ir; oder Ulrich von Winterstetten LDM C Wint 16, V. 9; oder Morungen MF 127,1, II, V. 5: […] klaget ir maniger mînen kumber. Vgl. dazu Schnell 2001, 105–109. 13 Vgl. Warning 1979, 122; vgl. dazu unten. 14 Vgl. dazu Schnell 2001.
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hat Erich Kleinschmidt im Anschluss an Hugo Kuhn15 bereits 1976 überzeugend beantwortet: „Der Minnesänger nimmt Elemente der Realität in seine Textrolle auf, die damit in ihrer Strukturierung der Wirklichkeit folgt, ohne in der aktuellen Aussage real zu sein.“16 Das meint: Nicht die einzelne, konkrete Behauptung über den Vortrag, das Publikum oder den Zweck des Singens ist real, aber das Spektrum der Vortragsarten beziehungsweise der Situationen und Interaktionen mit dem Publikum ist wirklichkeitskonform. Diese These wurde in den 1990er Jahren insbesondere von Jan-Dirk Müller aufgegriffen und verbreitet. „Aufführung“ sei nicht als „realhistorische Kategorie“ zu verstehen, sondern als „textuelle“, d. h. als eine, die erst durch die Texte entworfen wird.17 Das methodische Problem des Zirkelschlusses ist damit nicht vollständig gebannt: Die Lieder geben uns zwar historisch denkbare Vortragsmöglichkeiten zu erkennen, aber ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit oder Relevanz.18 Dennoch sind die in den Liedern entworfenen Vortragssituationen, das Verhältnis von Ich und Publikum oder die Aussagen über den gesellschaftlichen Wert des Gesangs kulturhistorisch aussagekräftig, weil sie Teil des kulturell Imaginären19 sind: Es sind gesellschaftlich verbreitete Ideen und Diskurselemente, die eine Kultur auch dann prägen, wenn sie der historischen Wirklichkeit nicht entsprechen.
2 Die Interdependenz von Minne- und Vortrags situation und die Entdeckung der Performativität des Gesangs Schaut man sich die Semantik an, mit der das Singen und das Gesungene in den Liedern thematisiert werden, so fällt auf, dass das Lexem singen sowie die sprechaktbezogenen Verben loben/klagen zwar auch vorkommen,20 dass aber noch häufiger die Lexeme sprechen, sagen, reden verwendet werden. Bei der Kommunikation mit der Dame ist dies noch unauffällig: Die Dame habe selten | mîne klagende rede vernomen (Reinmar MF 170,1, IV, V. 1–2).21 Aber auch bei der expliziten Bezugnahme auf
15 Kuhn 1969. 16 Kleinschmidt 1985 [1976], 107. 17 Müller 1999a, 152, 156; Müller 1999b, 385; vgl. auch Hausmann 1999, 33, 36; Hahn 1992, 86. 18 Die Hinweise in den Texten zur Vortragssituation und zum Publikum sind zudem so abstrakt, dass sie kaum weiterhelfen. In welcher sozialen Situation beispielsweise gesungen wird (höfisches Fest, kleiner geselliger Kreis, Gruppe von Kennern), wird bis zu Neidhart oder Hadlaub nicht spezifiziert. 19 Vgl. dazu Anderson 1991; Müller 2010. 20 Vgl. u. a. Bernger von Horheim MF 115,3, I, V. 2, 4; Reinmar MF 163,23, VI, V. 8–9; MF 165,10, V, 5–6; Walther L 48,12, I, V. 4; L 72,31, I, V. 2; Heinrich von Rugge MF 103,3, III, V. 3. 21 Die Liste der Beispiele ist hier lang, vgl. u. a. Walther L 85,34, I, V. 2; LDM C Rubin 65, V. 4.
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eine Lieddarbietung vor Publikum werden Gesprächslexeme verwendet: Ich hân ir sô wol gesprochen, | daz si meneger in der welte lobet (Walther L 40,19, I, V. 1–2), oder: [s]waz ich nu niuwer maere sage (Reinmar MF 165,10, I, V. 1), oder: wold ich in [d. i. bœsen liuten] der rede verjehen (Günther von dem Forste LDM C Günth 36, V. 4).22 Zwar mag die mittelhochdeutsche Semantik im Hinblick auf die Differenz zwischen Sprechen und Singen etwas unspezifischer sein als die neuhochdeutsche, die Distinktionsmöglichkeit ist aber sehr wohl vorhanden, wie sich am Spiel mit der semantischen Differenz zeigt: Dis ist ein klage und niht ein sanc (Hartmann MF 206,19, III, V. 1, nach BC).23 Um die Klage zu steigern, verneint das Ich das Singen augenzwinkernd und spielt so mit der Diskrepanz von Sagen und Tun. Die Vermischung der Lexeme des Singens und Sprechens geschieht wohl mehrheitlich gezielt und ist sowohl für die textinterne Pragmatik als auch für die Poetologie des Minnesangs aussagekräftig. Sie ist deshalb nicht nur in diesem Abschnitt, in dem es um die Interdependenz von Minnen und Singen, sondern auch im nächsten Abschnitt, in dem es um das Entwerfen eines gesellschaftlichen Diskursraums geht, Thema. Ein wichtiger Effekt dieser Vermischung ist, dass unklar wird, worauf das Pronomen ich referiert: Bezieht es sich auf denjenigen, der das Lied vorträgt, den Singenden, oder bezieht es sich auf denjenigen, der um die Dame wirbt, also den Minnenden? Wenn es bei Albrecht von Johannsdorf (MF 91,22) heißt: Der ich diene und iemer dienen wil, diu sol mîne rede vil wol verstân. spraeche ich mêre, des wurde alze vil (IV, V. 1–3),
dann wird hier als textinterner Kontext der Äußerung24 die Minnedienst-Situation aufgerufen. Der männliche Sprecher denkt über die Dame und die Minnekommunikation nach: Versteht sie ihn und wie viel darf er sagen? Insbesondere der dritte Vers lässt sich aber auch auf die Situation der Lieddarbietung beziehen: Wie viel darf oder soll das Ich dem Publikum mitteilen? Das ich verweist dann nicht nur auf den Minnenden, sondern auch auf den Singenden. Das sprechen wiederum hängt nicht (nur) von der Beziehung von Ich und Dame, sondern auch von den Erwartungen und Ansprüchen des Publikums und den Folgen einer öffentlichen Mitteilung ab. Minnetheoretische, 22 Vgl. auch Reinmar MF 165,10, V, V. 8–9; MF 163,23, VI, V. 4. 23 Auch beim Vergleich mit dem Gesang der Vögel ist beispielsweise immer vom singen die Rede. Vgl. LDM C Rubin 2, V. 5–6: ir vogel, singent iuwern sanc, sô singe ich mite | in einem süezen dône. Auch die Doppelung von singen und sagen/sprechen ist vielfach zu beobachten. Sie steht allenfalls dafür, dass die Rede zur Dame vor einem größeren Rezipientenkreis statthat: Swaz ich singe ald swaz ich sage (Morungen MF 140,11, III, V. 1), oder: Waz sol lieblich sprechen, waz sol singen (Walther L 112,3, II, V. 1); vgl. auch Walther L 72,31, I, V. 5; LDM C Rubin 1, V. 3; Reinmar MF 165,10, V, V. 6. Zur Paarformel vgl. Lachmann 1969 [1835]. 24 S. o. Anm. 11.
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gesellschaftliche und ästhetische Fragen werden so miteinander verknüpft. Allerdings gibt es in dieser Strophe und in diesem zweistrophigen Lied25 keine weiteren Anhaltspunkte dafür, dass auch über die Bedingungen der Lieddarbietung nachgedacht wird. Die Vortragssituation wird textintern an keiner anderen Stelle durch Deiktika, Publikumsadressierungen oder die Semantik des Liedvortrags evoziert. Ähnlich wie in vielen Liedern, die dem frühen Minnesang zugerechnet werden, wird die Minnesituation hier höchstens schwach mit der Vortragssituation verknüpft. Dagegen blenden viele Lieder des sogenannten Hohen Sangs die beiden Situationen des Minnens und der Lieddarbietung gezielt ineinander.26 Besonders prägnant geschieht dies, wenn das Ich ein mögliches Verstummen andeutet: si saelic wîp enspreche: ‚sinc!‘, | niemer mê gesinge ich liet (Reinmar MF 163,23, VI, V. 8–9). In dieser Reinmar-Strophe macht das Ich sein Singen davon abhängig, dass die Dame, von der er bisher niemals Lohn erhalten hat (V. 5), ihn zum Singen auffordert.27 Der (künftige) Gesang, von dem in der Strophe gesagt wird, dass er gesellschaftliche Freude herstellt (die welt gevröite, V. 1), wird davon abhängig gemacht, ob es eine minimale Reaktion der Dame gibt. Das Verhältnis von Ich und Dame, der Zustand der Gesellschaft und die Lieddarbietung beeinflussen sich somit textintern gegenseitig, gehen aber nicht vollständig ineinander auf.28 Das Motiv der potenziellen Sangesverweigerung29 betrifft darüber hinaus selbstredend auch die textexterne Vortragssituation. Doch welches zeitgenössische Publikum eine solche Drohung als argumentatives, intertextuelles Spiel und wer es als Referenz auf die Verzweiflung des Sänger- oder Autor-Ich verstanden hat, wissen wir nicht. Statt hier groß zu spekulieren,30 ist es produktiver zu
25 Nach den Handschriften B und C, anders die Edition in MF. 26 Vgl. die präzise Liedzusammenstellung zu diesem Thema bei KLEIN, 147–188, teilweise im Rückgriff auf Bein 1996. 27 Vgl. zur Strophe beziehungsweise dem Lied mit weiterer Literatur Hausmann 1999, 197–207; Kellner 2018, 105–114. Vgl. zudem Reinmar MF 177,10, III, wo diese Aussage aus Frauenperspektive reflektiert wird. 28 Kellner 2018, 111, betont diesbezüglich, dass das Ich sich zwar der Minne nicht verweigern kann, aber sehr wohl den Gesang abbrechen kann. 29 Vgl. auch Morungen MF 123,10, II, und 127,34, II, sowie die Stellenangaben in Anm. 32. Vgl. zum Motiv mit weiterer Literatur: Stock 1999; Wallmann 1985. 30 Die Ansichten der Forschenden gehen hier weit auseinander. Harald Haferland hat provokant behauptet, die Ich-Aussagen seien vom Publikum als Bekenntnis des Sängers rezipiert worden; die deiktischen Hinweise im Text versteht er (methodisch problematisch) als Hinweise auf die textexterne Vortragssituation; vgl. Haferland 2000, 101–109, 151–164. Jan-Dirk Müller gibt Haferland insofern Recht, als er der Minnesangforschung ein zu modernes Rollenverständnis beziehungsweise eine zu moderne Differenzierung von Ich-Rolle und Sänger vorwirft. Er schlägt vor, dass ein exemplarisches Ich spricht, das gesellschaftliche Werte vorführt und verbreitet; vgl. Müller 2010, 68, im Anschluss an den wegweisenden Aufsatz von Grubmüller 1986. Zu einem ‚fiktiven Ich‘ tendieren dagegen Warning 1979 und Strohschneider 1996. Schnell 2001 wiederum betont, dass das ich im oralen Vortrag und im schriftlich überlieferten Text eine andere Referenz habe (einmal auf den Sänger, einmal auf den Autor).
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fragen, wie eine solche Drohung sich auf die anderen Strophen und die textinterne Vortragssituation auswirkt: Während die Drohung in E am Ende des Liedes steht und so das textinterne Weitersingen ausbleibt, folgen in bC weitere Strophen. Sind sie ein Zeichen dafür, dass die Dame in der textinternen Situation bereits reagiert hat, oder singt das Ich weiter, um seine Drohung besser verständlich zu machen?31 Die Interdependenz von Singen und Minnen, oder noch genauer: von Minne situation und Vortragssituation, wird in den Liedern unterschiedlich weiterentwickelt. Erstens führt sie zur Differenzierung zwischen Affekten und Worten beziehungsweise zwischen den Erfahrungen des minnenden Ich und den gesellschaftlich-ästhetischen Erwartungen an das singende Ich: In der bereits zitierten Reinmar-Strophe heißt es: mîn ungebaerde sach lützel iemen (MF 163,23, VI, V. 6). Die eigene Verzweiflung war (bis anhin) kaum sichtbar. Jetzt aber hat das Ich genug davon, der welt Freude zu bereiten (V. 3). Der Anspruch der höfischen Gesellschaft auf vröide und die Affektlage des Ich lassen sich nicht mehr miteinander vereinbaren. Deshalb droht das Ich, seinem Inneren singend Ausdruck zu geben, statt das zu singen, was das Publikum hören möchte. Die Forschung deutet diese und ähnliche Stellen32 als Strategie der Authentisierung. Die offengelegten Spannungen zwischen den Affekten des Ich und den Publikumserwartungen würden beglaubigen, dass die Rede des Ich authentisch ist, d. h. seinen Erfahrungen und Gefühlen entspricht. Allerdings wird der Hiat zwischen Worten und Erfahrungen in den entsprechenden Liedern immer schon vorausgesetzt. Dass das Ich seine Klage bloß vortäuscht (ze spotte künne klagen; Reinmar MF 165,10, V, V. 5), wird als Möglichkeit aufgerufen, bevor beteuert wird, dass das eigene Wort lige […] herzen bî (V. 9).33 Mittels der Interdependenz von Minnen und Singen kann so auch die prekäre Verbindung zwischen den Erfahrungen und den Worten erforscht werden. Die Interdependenz von Minnesituation und Vortragssituation führt zweitens zur Entdeckung der Performativität des Gesangs beziehungsweise zur Reflexion der Auswirkungen des Gesangs auf die Gesellschaft und die Dame. Besonders prägnant ausgestaltet wird dies im sogenannten Sumerlaten-Lied (L 72,31)34, das dreistrophig in b (im zweiten Reinmarteil) und fünfstrophig in ACE unter Walther überliefert ist. In der weniger aggressiven Fassung b betont das Ich, dass es die Dame an ir werdekeit gebracht hat. Da ihr muot deshalb hôhe stât, | sô enweiz ich, wenne ouch mich mîn singen lât, | und als ir hœhstez lop zergât (L 72,31, II, V. 4–7, nach b). Da mit dem Gesang
31 Es handelte sich dann um einen performativen Widerspruch (zwischen Sagen und Tun); vgl. dazu unten Anm. 53. 32 Ähnliche Stellen finden sich z. B. in Bernger von Horheim MF 115,3, II, V. 5–6: Noch niene wart sô trûric man. | daz verswîge ich, als ich wol kan; oder Ulrich von Singenberg SMS 23,1, V. 4. KAS, Registerbegriff „Authentizitätspostulat“. 33 Diese Strophe ist nur in E überliefert; vgl. zum Liedzusammenhang Kellner 2018, 395–404. 34 Vgl. dazu mit weiterer Literatur: Bauschke-Hartung 2010; Hübner 1996, 219–225; Kellner 2018, 360–365.
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auch das Lob der Dame verschwindet, würde sie selbst zu etwas Gewöhnlichem.35 Die werdekeit der Dame, ihre Ehre und Würde, ist deshalb nicht oder nur partiell ihr selbst zuzurechnen, sie wird durch den lobenden Gesang erzeugt. Der Status der Frau ändert sich damit radikal. Sie ist nicht das summum bonum, sondern sie wird erst durch den Frauenpreis zum summum bonum. Dem Gesang wird damit im Lied eine wirklichkeitsprägende, wenn nicht gar wirklichkeitskonstituierende Wirkung zugeschrieben. In der fünfstrophigen Fassung wird dies noch weiter zugespitzt. Die Aussage eines anderen Reinmarliedes stirbet sî, sô bin ich tôt (MF 158,1, III, V. 8) wird abgewandelt in sterbet si mich, sô ist si tôt (L 72,31, IV, V. 6, nach A). Stirbt das ich (wegen der Dame), dann ist auch die Dame in dem Sinne tot, dass sie als etwas, das erst durch den Gesang geprägt worden ist, verschwindet. Nicht das liebende Ich ist von der Dame abhängig, sondern die Dame vom singenden Ich. Neben dem Singenden und dem Minnenden, auf die das Pronomen ich verweist, kommt hier – deutlicher als in anderen Liedern – aber auch der Liedproduzent ins Spiel. Dessen Begehren und dessen Imaginationskraft sind für das ‚Erschaffen‘ oder auch nur ‚Prägen‘ des Bildes der Dame genauso relevant wie der Sänger, der das Lied darbietet und damit die Darstellung der Dame verbreitet. Die Interdependenz von Vortragssituation und Minnesituation hat drittens Konsequenzen für das Verhältnis von Gesellschaft und Gesang. Dieses wird jedoch leicht anders ausgestaltet als das von Dame und Gesang: Üblicherweise wird betont, dass der Gesang gesellschaftliche vröide herstellt (oder herstellen sollte),36 und es wird angedeutet, dass diese fehlen würde, sobald der Gesang ausbleibt (L 72,31, III). Diese Interdependenz von Gesang, Minne und Gesellschaft wird nun aber insbesondere bei Walther nochmals gesellschaftskritisch gesteigert: In L 112,3, II, betont das Ich, dass das Singen sinnlos wird, wenn in der Gesellschaft die zentralen höfischen Werte wie triuwe, milte, […] êre nicht eingehalten werden; in L 90,15, V, droht das Ich, den sanc aufzugeben, wenn die werlt nicht besser wird; in L 48,12, I, erklärt es seinen unminneclîche[n] Gesang damit, dass die Minnepraxis verdorben ist. Der Gesang wird so zum Indikator für den Zustand der Gesellschaft. Jede Kritik am Gesang fällt auf den Kritikübenden zurück, da dieser Teil der Gesellschaft ist. Die Interdependenz von Gesang und Gesellschaft ermöglicht so, sich gegen ästhetische oder ethische Kritik zu immunisieren. Die vielfältigen Beispiele zeigen: Der Reiz der Interdependenz von Minnen und Singen, von Minnesituation und Vortragssituation besteht zum einen darin, dass man die doppelte Abhängigkeit von Gesang und Dame beziehungsweise Gesang und Gesellschaft unterschiedlich gewichten und in eine der beiden Richtungen kippen lassen kann: Man kann sowohl die radikale Abhängigkeit des Gesangs von der Dame und der Gesellschaft als auch die Abhängigkeit der Dame oder der Gesellschaft vom 35 Dies wird in der dritten Strophe in b und in der fünften Strophe in AC (b: L 72,31, III; AC: L 72,31, V) dadurch verdeutlicht, dass das mögliche Altern der Dame in Anlehnung an Schwankmotive evoziert wird. 36 Belege dazu in Anm. 63.
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Gesang behaupten. Der Reiz der Interdependenz besteht zum anderen darin, dass man mit den Divergenzen oder Konvergenzen zwischen der im Text erzeugten Vortragssituation und der im Text erzeugten Minnesituation spielen kann: Thematisiert werden kann auf diese Weise, dass die Minne-Erfahrungen des Ich nicht mit seinen Liedaussagen übereinstimmen oder dass die ästhetisch-gesellschaftlichen Anforderungen an den Singenden und die Gefühle des Ich nicht im Einklang sind. Generell ist hierbei auf die Positionierung einer Strophe, die das Singen thematisiert, in der Liedeinheit zu achten. Häufig sind diese metakommunikativen Strophen mit solchen kombiniert, in denen nur die Minne-, nicht aber die Vortragssituation aufgerufen wird. Stehen die Strophen über das Singen am Anfang eines Liedes, erzeugen sie eine Art Rahmensituation und haben Einfluss auf die Strophen mit einem ‚gewöhnlichen‘ Frauenpreis oder einer ‚gewöhnlichen‘ Klage,37 manchmal ist gar vom „Lied im Lied“38 die Rede. Stehen sie am Ende, kann die Thematisierung des Singens für eine revocatio oder eine Kritik an Konkurrenten genutzt werden.39 Den metakommunikativen Strophen wird so häufig ein großer Einfluss auf andere Strophen zugeschrieben. Doch ist – gerade im Vergleich der verschieden überlieferten Strophenformationen – genau zu evaluieren, wie weit sie auf die gesamte Liedeinheit ausstrahlen. Abschließend ist noch kurz ein Blick auf die Forschungsgeschichte zur Interdependenz von Minnen und Singen zu werfen. In einem die germanistische Forschung prägenden Artikel hat Rainer Warning 1979 beobachtet, wie in der Trobador-Lyrik das „Singenkönnen mit Liebenkönnen sich legitimiert“40. Er beschreibt dies luzide als „Simultaneität zweier Situationen, die über ein je eigenes deiktisches System verfügen“41. Bei der Lieddarbietung komme es zu einer „Situationsspaltung“ in eine „externe Rezeptionssituation“ und eine „interne Sprechsituation“.42 Warning deutet dies als „fiktive[s] Rollenspiel“, das mit der Möglichkeit spielt, dass „besungene[] und reale[] Erfahrung“ identisch sein können.43 Warnings Ansatz wurde für den Minnesang vielfach übernommen,44 doch zeigen sich im Detail erhebliche Unterschiede. Gemäß Jan-Dirk Müller beispielsweise gilt die „Einheit von ich singe und ich minne“45 – die häufig auch als ‚Minnender-Singender-Rolle‘ bezeichnet wird –
37 Reinmar MF 159,1, I–II (nach bC); Morungen MF 127,34. 38 Rodewald 1966, 287; Kasten 1986, 327; beide in Bezug auf Morungen MF 133,13. Vgl. hierzu auch die präzisen Überlegungen von Selig 1996, 26, zur kommunikativen Funktion der tornada. 39 Morungen MF 138,17, V; Reinmar MF 170,1, IV–V (nach bC); Hartmann MF 218,5, III. 40 Warning 1979, 130. 41 Warning 1979, 122. Mir scheint die Pointe jedoch weniger in der „Simultaneität“ als in der Interdependenz der beiden Handlungen zu liegen. 42 Warning 1979, 122–131, hier 122. 43 Warning 1979, 130. 44 Kritik findet sich bei Haferland 2000, 17–47; Egidi 2002, 18–19; Egidi 2004, 20–21. 45 Müller 2010, 78–79; Müller (2001a, 112) spricht auch von einer Verklammerung „referentialisierende[r] und fiktionale[r] Rede“ oder davon, dass die „Unterscheidung von interner Werber- und externer Sängerrolle kollabiert“ (116). Er betont zudem, dass es nicht nur um die Verklammerung von
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primär für die Lieder, die das Singen nicht thematisieren. Wenn dagegen die Interdependenz explizit gemacht wird, deute dies auf eine Auflösung derselben und auf einen „Einübungsprozess“ in die Differenzierung von Sänger und liedinternem Ich hin.46 Auch Strohschneider nimmt eine anfängliche Übereinstimmung von Affekt und sprachlicher Äußerung an, die im Hohen Minnesang eine fingierte Annahme sei, deren Status in den Liedern verhandelt werde.47 Hausmann schließt hier an, bindet einen solchen Prozess aber wieder stärker an literarhistorische Beobachtungen. Im frühen Minnesang und im Wechsel bleibe die Instanz, die die Strophen anordnet, unbestimmt. Erst im Hohen Sang werde die Anordnung der Aussagen dem (textinternen) Ich zugeschrieben. Die Interdependenz von Minne- und Vortragssituation sei dementsprechend „keine sich aus der Aufführungssituation ergebende Selbstverständlichkeit“, sondern sie müsse „im Text jeweils erst etabliert werden“.48 Nach der „zunehmende[n] Konventionalisierung von Fiktionalität“49 sei die Minnender-Singender-Rolle eine neue Form der Authentizitätsbeteuerung. Aus der Interdependenz von Minne- und Vortragssituation werden so weitreichende Schlussfolgerungen gezogen. Die unterschiedlichen Forschungspositionen eint, dass sie von einer Entwicklung von einer ‚naiven‘ Einheit von textinternem und textexternem Ich hin zur Etablierung einer Fiktionskonvention ausgehen, wobei dieser Prozess je nach Forscher um 1200 an einem unterschiedlichen Punkt angelangt ist. Doch weshalb sollte man eine solch lineare Entwicklung annehmen? Ausgehend von den Beobachtungen in anderen Quellen (z. B. Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘) ist es plausibler, von unterschiedlichen Rezipientenhaltungen zur gleichen Zeit auszugehen (→ Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs). Aus produktionsästhetischer Perspektive liegen hier zudem Interferenzen mit der Sangspruchdichtung nahe (→ Sangspruch – Minnesang): Die Rolle des Sängers und das Thematisieren der Vortragssituation entstehen wohl auch dadurch, dass beispielsweise die Ratgeber- oder andere Ich-Rollen aus dem Sangspruch im Minnesang übernommen worden sind.50 Hinzu kommt: Bei jeder (auch bei jeder modernen) Thematisierung der Darbietungssituation ergeben sich Divergenzen und Konvergenzen zwischen textinternem und textexternem Ich. Ist es nötig, deshalb gleich von ‚Fiktion‘ zu sprechen?51 Die Interdependenz von Singen und Minnen lässt sich methodisch Ich und Sänger, sondern auch um die von Ich, Sänger und Autor geht (111); vgl. auch Müller 1999b, 402. Mir scheint ‚Interdependenz‘ präziser als ‚Einheit‘, denn sobald die Interdependenz thematisiert ist, ist es keine Einheit mehr. Wenn sie nicht thematisiert wird, wissen wir nicht, ob die Einheit vorausgesetzt werden kann. 46 Müller 2001a, 112; vgl. auch Müller 1999b, 402–403; Müller 2010, 78–79. 47 Strohschneider 1996, 29–30. 48 Hausmann 1999, 149. 49 Hausmann 1999, 99, Anm. 50. 50 Hausmann 1999, 123–129; Brem 2003, 161. 51 Vgl. die pointierte Kritik bei Culler 2015, 109–111, der die Gefahr hervorhebt, dass Lyrik dadurch zum „mini-novel“ werde (Culler 2015, 111). Ein Überblick über die voraussetzungsreiche Fiktionali-
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‚schlichter‘ als zwei verschieden ausgerichtete Kontextualisierungshinweise52 verstehen: Das Ich wird durch sprachliche Indizes sowohl im Vortrags- und Gesellschaftskontext als auch im Minnekontext situiert. Die Lieder spielen mit den verschiedenen textintern erzeugten Kontexten, die sie nur mittels weniger Andeutungen aufrufen und die sie je unterschiedlich aufeinander beziehen. Geht man (wie in diesem Abschnitt) von den einzelnen Liedern aus, führt die Interdependenz von Minnen und Singen nicht zum Methodenkomplex ‚Fiktionalität‘, sondern zu dem der ‚Performativität‘. Indem die Minne- und die Vortragssituation textintern voneinander abhängig sind, kann die Performativität des Gesangs ausgestellt werden: Zum einen wird die wirklichkeitskonstituierende Wirkung des Gesangs behauptet. Der Gesang prägt das gesellschaftliche Bild der Dame (oder erschafft sie als Teil eines gesellschaftlich Imaginären), er prägt aber auch die Gesellschaft und kann diese – nicht zuletzt durch Gesellschaftskritik – beeinflussen. Zum anderen wird die Divergenz zwischen Sprachhandeln und Aussage hervorgehoben. Was das Ich tut (singen, werben, um die Gunst der Rezipienten ringen) und was es behauptet zu tun (z. B. schweigen, lieben usf.), ist nicht dasselbe. Die Lieder explorieren diese Divergenz anhand von performativen Widersprüchen53 und performativen Verdoppelungen.54 Dadurch tritt nicht zuletzt die Prozessualität der einzelnen Lieder in den Vordergrund, die sowohl im oralen wie auch im schriftlichen Medium relevant ist und die orale und schriftliche Lieddarbietung aufeinander beziehbar macht.55
3 Eröffnung einer gesellschaftlichen Diskussion über Minne und Gesang Ausgangspunkt des letzten Abschnitts war die auffällige Vermischung der Semantik des Singens und des Sprechens. Dies führt nicht nur zur Interdependenz von Vortragssituation und Minnesituation, sondern damit wird auch unterstrichen, dass Minnesang sowohl Gesangs- als auch Argumentationskunst ist oder zumindest so wahrgenommen werden möchte. Hinzu kommt: Preis, Werbung oder Klage werden häufig indirekt geäußert und als Beitrag zu einer Diskussion über Minne dargestellt. tätsdiskussion bei Glauch 2009. 52 Ein Kontextualisierungshinweis ruft jeweils einen möglichen „textrelevante[n] Umstand“ beziehungsweise einen textinternen Kontext auf, so Franck 1996, 1324. Vgl. dazu oben Anm. 11. 53 Anders als bei Müller 1999b, 389, sollte man im Minnesang unter ‚performativem Widerspruch‘ die Stellen fassen, in denen etwas behauptet wird (z. B. zu schweigen), aber etwas Gegenteiliges getan wird (z. B. zu reden); weitere Beispiele dazu in Anm. 67. 54 So wie es den performativen Widerspruch gibt, gibt es auch die performative Verdoppelung: Was getan wird, wird zugleich nochmals gesagt; z. B. welt ir vernemen, ich sage iu wes; Walther L 66,21, I, V. 6. 55 Egidi 2004, 22–24; Schnyder 2008, 132–133; Zumthor 1985, 371–372.
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Formal spiegelt sich das im fast schon übermäßigen Gebrauch der indirekten Rede. Es wird berichtet, was die Dame gesagt hat (diu daz hât von mir geseit, | daz ich singe owê; Morungen MF 140,11, I, V. 3–4), was → Dritte sagen (Si vrâgent mich; Bernger von Horheim MF 115,3, I, V. 1; Die hêrren jehent; Walther L 44,35, I, V. 1; Maniger grüezet mich alsô; Hartmann MF 216,29, I, V. 1)56 oder was das Ich zu einem früheren Zeitpunkt gesagt beziehungsweise gesungen hat: Waz unmâze ist daz, ob ich des hân gesworn, | daz sî mir lieber sî (Reinmar MF 196,35, II, V. 1–2).57 Die Dame, das Publikum oder die Kritiker werden also nicht nur in der zweiten Person adressiert, sondern über sie wird gesprochen58 – häufig, indem ihre Rede wiedergegeben wird: Daz sî daz sprechent von verlorner arbeit (Reinmar MF 158,1, IV, V. 5), oder: Die hôchgemuoten zîhent mich (Reinmar MF 165,10, II, V. 1); Die zwîvelære sprechent (Walther L 58,21, I, V. 1). Die vielen indirekten Sprechakte präsupponieren einen gesellschaftlichen Diskursraum, in dem die Aussagen des Ich Gehör finden, zirkulieren und diskutiert werden. Das jeweilige Lied wird als Reaktion auf diese Diskussionen präsentiert. Allerdings werden viele (indirekte) Aussagen nicht als tatsächliche vergangene Rede präsentiert, sondern als ungenaue Paraphrasen, als Rede der Vielen oder als Rede, die sich das Ich vorstellt (z. B. [s]wer nu giht; Reinmar MF 165,10, V, V. 5).59 Dies verdeutlicht, dass der in den Liedern erzeugte Diskussionsraum nicht mit dem historischen Gespräch über den Minnesang verwechselt werden darf. Es handelt sich auch hier um einen textinternen Kontext, mit dem die Lieder das Minne- und Werbungsgeschehen rahmen. Gleichwohl ist dieser textinterne Diskussionsraum pragmatisch und medienhistorisch aussagekräftig: Zum Ersten wird damit ein oraler Raum von Rede und Gegenrede entworfen, der nicht face to face statthat, sondern das Hier und Jetzt überschreitet: Abwesende Dritte oder Kritiker werden genauso paraphrasiert wie vergangene Aussagen des Ich oder der Dame in Erinnerung gerufen. Auf diese Weise wird eine orale Diskussion über Minne und Minnesang skizziert, die abwesende, vergangene und potenzielle Entgegnungen einbezieht. Während die üblichen Zuschreibungen an die mittelalterliche Mündlichkeit fast durchgehend eine „Kommunikation unter Anwesenden“60 postulieren, wird hier eine orale Kommunikation unter Abwesenden entworfen. Indem die Lieder einen solchen gesellschaftlichen Diskussionsraum entwerfen, behaupten sie zum Zweiten die gesellschaftliche Relevanz des Minnesangs. Sie geben vor, dass es eine Gemeinschaft gibt, die sich für die Lieder und die Liedinhalte interessiert, diese erörtert, kritisiert oder lobt. Doch weshalb sorgen die Lieder auf der
56 Vgl. u. a. Reinmar MF 177,10, I, V. 4: als sie sagent und ich dich hoere jehen; Morungen MF 127,1, II, V. 5: Doch klaget ir maniger mînen kumber. 57 Morungen MF 140,11, I, V. 1; Walther L 40,19, I, V. 1. 58 Günther von dem Forste LDM C Günth 36, V. 1: Guoten liuten wil ich kenden; LDM C Rubin 1, V. 1–2: Ich solt […] klagen | allen wol gemuoten liuten; LDM C Rubin 64, V. 1: Ich wil urloup von vriunden nemen. 59 Zum ebenso häufigen Konditional vgl. Eikelmann 1988, 61–71. 60 Müller 2001a, 109; Schlögl 2008, 155.
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Ebene der Selbstbeschreibung für so viel Gesprächsstoff? Diese Frage wird nur implizit beantwortet, indem immer wieder betont wird, dass der Gesang vuoge, höfischheit, hôhen muot und gesellschaftliche vröide nicht nur darstellt, sondern auch herstellt.61 Der sanc wird – in der gewollten Parallele zum Dienst an der Dame – als Dienst an der Gesellschaft verstanden (Mîn minnensanc, der diene iu dar; Walther L 66,21, I, V. 11). Dabei stehen vuoge, höfischheit und vröide für höfische Universalwerte, die in einem umfassenden Sinne sozial, ethisch und ästhetisch zugleich sind und die sich erst im Vollzug, bei der Interaktion von Einzelnem, Kollektiv und ästhetischem Produkt entfalten.62 Greifbar werden diese Werte in den einzelnen Liedern aber erst, indem sie problematisiert und diskutiert werden – indem also alternative Positionen zu Wort kommen. Dass mit dem Gesang die Pflicht zur vröide einhergeht, wird, wie bereits gesehen, meist dann erwähnt, wenn das Ich aufgrund seines Minneleids nicht oder kaum in der Lage ist, per Gesang vröide zu verbreiten.63 Ähnliches gilt im Hinblick auf die vuoge: In einer berühmten Strophe Walthers wirft das Ich der Gesellschaft vor, aufgrund der gesellschaftlichen unvuoge könne keine fröide[] verbreitet werden (L 48,12, I, V. 2, 7, nach Fassung A).64 Wie häufig bei Walther, hat die Gesellschaftskritik eine zeit liche Dimension (→ Zeit):65 Im Gegensatz zu früher sei die minne verd[orben] und der eigene sanc […] ein teil unminneclîche (V. 3–4). Wenn die gesellschaftliche Unordnung (unvuoge) aber aufgehoben ist, dann werde er von höfschen dingen singen (V. 7–8). sô erkande ich wol die vuoge, | wenne und wie man singen solte (V. 12–13). Erneut wird also der höfische Wert (hier der vuoge) vom Zustand des Verlusts aus thematisiert. Dabei wandelt sich der Wert aber unter der Hand: In den Schlussversen bezieht er sich nicht mehr wie die unvuoge (V. 7) auf den Zustand der Gesellschaft, sondern auch auf die Erkenntnis, zu welchem Zeitpunkt man wie zu singen hat. vuoge bezieht sich nun nicht nur auf den Zustand einer Gesellschaft, sondern auch auf die Erkenntnis dieses Zustands und die Pragmatik des Singens. Soziale, pragmatische und vielleicht auch ästhetische Dimensionen werden so im Wert der vuoge verschmolzen.66 Die Lieder entwerfen auf diese Weise einen oralen Diskussionsraum, in dem gesellschaftliche Werte sowie das Verhältnis von ‚richtigem‘ Singen, ‚richtigem‘ Minnen und 61 Die Kultivierung des Mannes durch die Dame wird nur selten explizit hervorgehoben (z. B. bei Ulrich von Gutenburg MF 77,36, III, V. 7–9). 62 Müller 2001b; Gerok-Reiter 2015. 63 Reinmar MF 163,23, V, V. 8–9: nu muoz ich vröiden noeten mich, | dur daz ich bî der welte sî; VI, V. 1–3: Der ie die welt gevröite baz danne ich, | […] der tuoz ouch noch, wan sîn verdriuzet mich. Otto von Botenlauben LDM A Botenl 1, V. 1–3: Wizzet, daz ich singen wil, | daz der werlde mêre | vröude, swie mîn kumber sî; (vgl. auch LDM C Rubin 26, V. 1–3; Walther L 44,35, I); Gottfried von Neifen LDM C Neif 176, V. 1–3: Sît diu welt an fröuden wil verswinden, | sô möht ich wol lâzen ungesungen; | wan ein wîp […]. 64 Vgl. dazu mit weiterer Literatur: Müller 2001b, 84–89; Kellner 2018, 436–448. 65 Analog in L 90,15, III; L 44,35; vgl. dazu auch Obermaier 1995, 96–97. Vgl. auch LDM C Rubin 4, V. 2. 66 Vgl. Kellner 2018, 440; Gerok-Reiter 2015, 107.
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‚richtigem‘ Verhalten diskutiert werden. Die entsprechenden Werte werden einerseits (wie in L 48,12 I, V. 7–13) so überzeugend als ideale Werte entworfen, dass die Rezipienten zur Nachfolge animiert werden. Andererseits zeichnet sich aber hier wie anderswo auch ein spielerischer Umgang mit den skizzierten Normen und Werten ab. Das Ich kann sich kokett als ungefüege beschreiben (L 48,12, IV, V. 1, nach Fassung C), um zugleich die eigene vuoge, zu der auch Bescheidenheit gehört, performativ vorzuführen.67 In einem anderen Lied droht das Ich, swenne ich nû lâze mînen sanc (L 72,31, III, V. 2), würden die 1000 Herzen, die dank der Dame froh geworden sind, jene verfluchen (V. 4–6) – von Bescheidenheit ist nun keine Spur mehr. Das Ich nimmt hier die selbstbewusste oder gar großsprecherische Ich-Rolle aus der Sangspruchtradition ein und gibt damit punktuell die Rolle des Minnenden, der um jeden Preis an der stæte festhält, auf. Die Lieder demonstrieren somit keineswegs nur den idealisierten Vollzug von höfischen Werten und höfischer Praxis – wie die These der höfischen Repräsentationskunst (→ Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs) teilweise suggeriert –, sondern reflektieren und problematisieren diese Werte. Was ‚richtiges‘ Minnen und ‚richtiges‘ Singen ist, ist keineswegs gegeben, sondern wird mit Verweis auf alternative Positionen immer wieder neu verhandelt. Textintern stellen die Lieder sich damit als Teil eines größeren, gesellschaftlich-oralen Diskussionsraums dar, in dem Normen, Werte und Praktiken unter Abwesenden kasuistisch erörtert und mit viel Witz erprobt werden. Formal basiert diese Wertediskussion auf einer Struktur von Rede und Gegenrede, die aber nicht dialogisch, sondern mithilfe indirekter Rede, konditionalen Strukturen sowie performativen Widersprüchen aufeinander bezogen werden. Dementsprechend lässt sich auch die Rolle des Ich beschreiben: Es positioniert sich einerseits in Differenz zu den manigen, widerspricht ihnen oder übt gesellschaftliche Kritik. Andererseits wirbt das Ich um gesellschaftliche Anerkennung, markiert seine Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Zustand und erweist sich so als zentraler Bestandteil der skizzierten Gesellschaft.68 Pragmatisch betrachtet eröffnen die Lieder durch diesen textinternen Diskussionsraum auch eine textexterne Diskussion. Sie zeigen auf, dass und wie man über die höfischen Werte und den Wert des Gesangs für die Gesellschaft debattieren kann. Nur wissen wir nicht, ob, wann und mit welcher Breitenwirksamkeit dieses Angebot angenommen worden ist. Damit ist nicht widerlegt, dass die Lieder extratextuell die Funktion haben, eine aristokratisch-elitäre Gesellschaftsschicht zu etablieren und zu bestätigen. Es zeichnet sich bloß ab, dass eine solche Funktion auf eine sehr komplexe und reflexive Art und Weise erfüllt worden wäre.
67 Vgl. auch: wær ez niht unhövescheit, | sô wolt ich schrîen […] (L 90,15, I, V. 3–4). Oder es wird behauptet, dass man über Frauen nur Gutes sagen darf, zugleich werden sie aber kritisiert (Reinmar MF 170,36, I; Wolfram von Eschenbach MF 5,16, III). 68 Grubmüller 1986.
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Der textinterne Diskussionsraum, den die Lieder entwerfen, ist jedoch nicht nur ein gesellschaftlicher, sondern auch ein innerliterarischer. Suggeriert wird, dass mit Gesang auf Gesang reagiert wird, dass Aussagen aus anderen Liedern aufgegriffen und kritisch oder lobend reflektiert werden. Auch bei den Deiktika im ersten Abschnitt (insbesondere beim nu seht) wurde deutlich, dass sie nicht bloß auf mögliche historische Vortragssituationen referieren, sondern immer auch eine innerliterarische Referenz haben: Sie beziehen sich auf andere Lieder und andere Ausprägungen des Minnesangs. Dementsprechend geht die Minnesangforschung von dichten intertextuellen Bezugnahmen auf unterschiedlichen Ebenen aus: von Zitaten, Motivresponsionen, Parodien oder Kontrafakturen.69 Allerdings sind diese Bezugnahmen im Detail auch häufig umstritten,70 da durch die semantische Knappheit die Referenzdichte im Minnesang per se hoch ist. Dass die Lieder sich selbst aber als Teil eines größeren Diskussionszusammenhangs darstellen, weist die intertextuellen Bezüge als Teil des historischen Möglichkeitsraums aus.
4 Fazit: Literarhistorische Tendenzen Versucht man aus den vorgestellten Beobachtungen literarhistorische Tendenzen herauszudestillieren, so ist man versucht, die Thematisierung des Singens, die Reflexion über ästhetische Normen und Publikumserwartungen, die Hinweise auf andere Lieder und Liedproduzenten sowie die zeitliche und räumliche Entgrenzung des oralen Diskussionsraums dahingehend zu deuten, dass sich im Minnesang ein literarischer Diskurs und vielleicht auch eine neue Autorkonzeption ausdifferenzieren. Hinzuweisen wäre hier für die Zeit um 1200 besonders auf die Stellen, in denen die Lieder ihre eigene Position im Rückgriff auf Publikumserwartungen und Gattungskonventionen begründen und der Gesang als Tätigkeit dargestellt wird, die nicht in anderen Funktionskontexten (Alltagsrede, individuelle Liebeskommunikation) aufgeht. Auch Strophen, in denen dem Gesang eine wirklichkeitskonstituierende Wirkung zugeschrieben wird, können solche Thesen belegen. In der Forschung wird dies häufig als „Literarisierungsprozeß“71 oder als „Autonomisierungstendenzen“72 des literarischen Systems beschrieben. Darunter ist zu verstehen, dass die Liedproduktion eigenen, minnesanginternen Konventionen gehorcht und kaum durch anderweitige gesellschaftliche Funktionen oder Anforderungen geprägt wird.
69 Scholte 1947; Scholz 1999, 129–147; Willaert 1999; KLEIN, 230–231 (mit graphischer Aufstellung der Beziehungen); Bauschke-Hartung 2013. 70 Schweikle 1994a; Schweikle 1994b; Bauschke 1999. 71 Bein 1996, 82. 72 Braun 2005, 1.
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Auch der berühmte Morungen-Vers, in dem es heißt: wan ich dur sanc bin ze der welte geborn (MF 133,13, I, V. 7), scheint auf den ersten Blick eine solche Deutung zu stützen: Das Ich präsentiert sich als jemand, der nicht um der Minne oder des gesellschaftlichen Ansehens willen, sondern nur um der Kunst willen lebt.73 Schaut man sich die Stelle aber genauer an, fällt auf, dass sich die zentrale Finalkonstruktion mit dur dreimal wiederholt: Das Ich singt dur die Dame und es beruft sich, als es seine triuwe betont, auf Gott (sô velsche dur got nieman mîne triuwe, V. 6). Das Ich handelt somit nicht autonom oder ästhetisch, sondern es singt für die Dame und seine Aufrichtigkeit wird durch den Bezug zu einer transzendenten Ordnungsmacht gestützt.74 Gleichwohl entsteht hier wie anderswo der Eindruck, dass über das Selbstverständnis des Liedproduzenten nachgedacht wird. Belegen lässt sich eine solche Tendenz einerseits mit der in den Liedern immer wieder thematisierten Konkurrenz zwischen Sängern oder Liedproduzenten75 oder mit einem Ich, das (bei Walther oder Neidhart) bilanzierend über sein Liedschaffen nachdenkt.76 Andererseits bleibt an vielen prominenten Stellen offen, ob das Ich nach der Anerkennung als Liedproduzent, als Sänger oder als Liebender strebt. Besonders prägnant findet sich dies bei Morungen in MF 138,17: Das Ich kündigt an, wie der Schwan singend zu sterben, hofft aber zugleich, dass die Klage weitertradiert und es um seinen Kummer beneidet wird.77 Wird die Minne hier zum bloßen Mittel, mit dem um den Nachruhm als Sänger gerungen wird? Auch hier ist Vorsicht geboten: Ob das Ich hofft, dass sein kumber wegen der Unbedingtheit seiner Minne oder wegen der Qualität des Gesangs weitertradiert wird, wird nicht spezifiziert. Gesellschaftliche Anerkennung als Liebender oder als Liedproduzent oder Sänger wird hier wie an vielen anderen Stellen nicht unterschieden. In MF 129,14, als das Ich seinen eigenen Grabspruch imaginiert, ist es sogar explizit die Liebes-nôt (III, V. 7) und nicht die Qualität des Singens, die den Nachruhm bewirkt.78 Dies lässt sich durchaus verallgemeinern: Zwar ist häufiger davon die Rede, dass um der gesellschaftlichen Anerkennung willen gesungen wird, doch diese Anerkennung scheint sich nicht auf den Sänger oder Liedproduzenten alleine zu konzentrieren, sondern gilt auch dem Ich, das beim Singen Minne exemplarisch vorführt.
73 Abriss über die entsprechende Forschung zu dieser Stelle bei: Obermaier 1995, 48–50. Vgl. zudem: Rodewald 1966, 282, 288; Hübner 1996, Bd. 1, 145–148; Kasten 1986, 324–328; Strohschneider 1996, 28–29. Zur Diskussion um einen möglichen Ovidbezug vgl. Kasten 1995, 775. 74 So insb. Hübner 1996, Bd. 1, 145–148. 75 In der Forschung ist auch von einer „Professionalisierung des Singens“ (Müller 2010, 78) die Rede. Allerdings ist dabei sehr genau zwischen dem „dichterischen Selbstverständnis“ (Hübner 1996, Bd. 1, 148) und der sozialen Situation der Liedproduzenten zu unterscheiden; vgl. dazu Kasten 1986, 329–359. 76 Walther L 66,21; Neidhart WL 30,9c (SNE I: c 90,12). 77 Morungen MF 138,17, V, V. 6–8: waz ob mir mîn sanc daz lîhte noch erwirbet, | swâ man mînen kumber sagt ze maere, | daz man mir erbunne mîner swaere? Vgl. dazu mit weiterer Literatur: Kasten 1986, 319–322; Obermaier 1995, 60–61; Kellner 2018, 82–90. 78 Vgl. Gerok-Reiter 2015, 112–116; weitere Literatur zum Motivkomplex: Kasten 1995, 765–766.
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Die Frage, was die Lieder über ihre eigene pragmatische Situierung aussagen, lässt sich so kaum von der Frage nach ihrer impliziten Poetik, den Gattungsregeln und der Selbstpositionierung im gesellschaftlichen Feld lösen. Das ist für die Zeit um 1200 durchaus als Ergebnis zu begreifen: Zwar zeichnen sich bestimmte Ausdifferenzierungstendenzen im Hinblick auf einen literarischen Diskursraum ab, doch diese führen keineswegs zu einem autonomen Verständnis von Literatur oder einem Liedproduzenten, der aus ästhetischer Berufung singt. Vielmehr bleiben die Rolle des Liedproduzenten und die Rolle des Gesangs in der Gesellschaft an die Rolle des Minnenden beziehungsweise die Interdependenz von Minne, Gesang und Gesellschaft gebunden. Schon ab 1250 ist das Bild wieder ein anderes. Zwar kommt dem Textproduzenten in den großen Minnesanghandschriften ein zentraler Stellenwert zu und Autorschaft wird in den → Autorbildern im Spannungsfeld von Oralität und Literalität spezifisch konturiert.79 Doch einerseits verlagert sich die Reflexion über das Singen und über das Verhältnis von Minne, Gesellschaft und Gesang vom Minnesang in den Sangspruch.80 Andererseits findet metalyrische Reflexion häufig über das intertextuelle Spiel mit tradierten Rollen und Positionen oder über Sprachartistik und Klangkunst statt (→ Form- und Klangkunst).81 Im Rahmen von Narrativierungen werden Vortragssituationen in den Liedern nochmals auf ganz andere Weise, aber auch höchst vielfältig und spielerisch darstellbar (→ Hadlaub, Neidhart). Eine klare Tendenz hin zu einer immer stärkeren Autonomisierung und Literarisierung der Gattung Minnesang wird durch die heterogenen Entwicklungen im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert82 widerlegt. Stattdessen zeigt sich, dass literarische Ausdifferenzierungstendenzen auch wieder abnehmen können, weil sich die Gattung dank des Bezugs auf andere literarische Textsorten und veränderte gesellschaftliche und mediale Bedingungen öffnet und wandelt.
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79 Peters 2001, vgl. auch → Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs. 80 Egidi 2002. 81 Bauschke-Hartung 2013; Händl 1987, 224–411; Obermaier 1995, 107–148. 82 Erste Ansätze zu einer Kartographierung dieser Entwicklungen bei Hübner 2008. Zu verweisen ist hier zudem auf die Tendenz zu einer Re-Anonymisierung der Lieder in der Überlieferung nach 1300 (vgl. → Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge).
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Ricarda Bauschke-Hartung: Minnesang zwischen Gesellschaftskunst und Selbstreflexion im Alter(n)sdiskurs – Walthers von der Vogelweide „Sumerlaten“-Lied. In: Jahrbuch der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf (2008/2009). Düsseldorf 2010, 333–344. Ricarda Bauschke-Hartung: ‚Poetologisches Spiel und Poetik als Spiel‘. Intertextualität in den Minneliedern Ulrichs von Winterstetten. In: Wolfram-Studien 21 (2013), 147–163. Thomas Bein: Das Singen über das Singen. Zu Sang und Minne im Minne-Sang. In: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994. Hg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart u. a. 1996 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 17), 67–92. Manuel Braun: Autonomisierungstendenzen im Minnesang vor 1200. Das Beispiel der Kreuzlieder. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hg. von Beate Kellner, Peter Strohschneider und Franziska Wenzel. Berlin 2005 (PhStQ 190), 1–28. Karin Brem: Gattungsinterferenzen im Bereich von Minnesang und Sangspruchdichtung des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts. Berlin 2003 (Studium litterarum 5). Hadumod Bussmann: Lexikon der Sprachwissenschaft. 4., durchges. und bibliogr. erg. Aufl. unter Mitarbeit von Hartmut Lauffer. Stuttgart 2008. Jonathan D. Culler: Theory of the Lyric. Cambridge u. a. 2015. Margreth Egidi: Höfische Liebe: Entwürfe der Sangspruchdichtung. Literarische Verfahrensweisen von Reinmar von Zweter bis Frauenlob. Heidelberg 2002 (GRM-Beiheft 17). Margreth Egidi: Der performative Prozess. Versuch einer Modellbildung am Beispiel der Sangspruchdichtung. In: Sangspruchtradition. Aufführung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder. Hg. von ders., Volker Mertens und Nine Miedema. Frankfurt a. M. u. a. 2004 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 5), 13–24. Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Untersuchungen zu Aufbau, Erkenntnisleistung und Anwendungsgeschichte konditionaler Strukturmuster des Minnesangs bis um 1300. Tübingen 1988 (Hermaea NF 54). Dorothea Franck: Kontext und Kotext. In: Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Hg. von Marcelo Dascal u. a. Berlin u. a. 1996 (Handbücher zur Sprach-und Kommunikationswissenschaft 7/2), 1323–1335. Annette Gerok-Reiter: Die ‚Kunst der vuoge‘: Stil als relationale Kategorie. Überlegungen zum Minnesang. In: Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf. Hg. von Elizabeth Andersen u. a. Berlin u. a. 2015, 97–118. Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik 1). Klaus Grubmüller: Ich als Rolle. ‚Subjektivität‘ als höfische Kategorie im Minnesang? In: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983). Hg. von Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller. Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), 387–408. Harald Haferland: Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone. Berlin 2000 (ZfdPh-Beiheft 10). Gerhard Hahn: dâ keiser spil. Zur Aufführung höfischer Literatur am Beispiel des Minnesangs. In: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert. Hg. von dems. und Hedda Ragotzky. Stuttgart 1992 (Kröners Studienbibliothek 663), 86–107. Claudia Händl: Rollen und pragmatische Einbindung. Analysen zur Wandlung des Minnesangs nach Walther von der Vogelweide. Göppingen 1987 (GAG 467). Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität. Tübingen u. a. 1999 (BiblGerm 40).
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Form- und Klangkunst 1 Formenvielfalt und Sprachklangästhetik im Minnesang Formenvielfalt ist ein wesentliches Kennzeichen des Minnesangs. Grundlage hierfür ist das ab dem Hohen Sang geltende Prinzip, dass der Ton eines Liedes, die konkrete formale Baustruktur, die die Strophen gemein haben, sich von Tönen anderer Lieder unterscheidet (Text-Ton-Prinzip). Wiederaufnahmen von Tönen bilden im Gegensatz zum Sangspruch die Ausnahme, und stattdessen werden bis hin zum späten Minnesang kontinuierlich tradierte Formen variiert. Die zweiteilige Stollenstrophe (Kanzone), deren Bauprinzip am häufigsten Anwendung gefunden hat, ist in vielen Ausprägungen überliefert, und neben ihnen haben die Minnesänger eine große Zahl an weiteren, teils noch komplexeren Strophenformen entwickelt (→ Metrik und Formanalyse). Doch anders als in anderen Lyriktraditionen ist für den Minnesang nicht die Etablierung einzelner kanonischer Strophenformen kennzeichnend, sondern die variantenreiche Ausführung, Abwandlung und Erweiterung konventionalisierter Aufbauprinzipien. Der Formenreichtum auf Strophenebene geht auf Ebene der Metrik und Lexik vielfach mit einer hohen Dichte an formalen Stilmitteln einher, die klangliche Effekte erzeugen. Beides hat zum Resultat, dass die Texte, die zum überwiegenden Teil ohne Melodien tradiert sind (→ Melodien zu Minneliedern), auch in ihrer überlieferten, textlichen Form wesentlich von Klang geprägt sind. Rhythmik, End- und Binnenreime, Alliterationen, Assonanzen und weitere rhetorische Figuren bewirken, dass in vielen Texten der Sprachklang einen zentralen Bestandteil ihrer Funktionsweise und Ästhetik bildet. Der Klang auf Textebene ist mit Blick auf die Pragmatik der Texte in einem doppelten Verhältnis dazu zu sehen, dass sie als Lieder ursprünglich für den mündlichen, gesungenen Vortrag konzipiert waren (→ Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs). Einerseits ist der Sprachklang als Teil der übergeordneten Musikalität der Texte im Liedvortrag aufzufassen und im Verhältnis zum melodischen Aufbau eines Liedes zu sehen. Dies erklärt auch, warum Formkunst im Minnesang nahezu ausnahmslos auch Klangkunst ist.1 Andererseits ist der Sprachklang für das Textverständnis selbst von Relevanz. Da die formalen Mittel, die ihn konstituieren, von der Wortwahl über Satz- und Versbau bis hin zur Strophenform grundlegend in die Pro1 Einen Fall von Formkunst, der primär schriftlich und weniger über Klangeffekte im mündlichen Vortrag rezipierbar ist, stellt lediglich das Palindrom-Gedicht Spil minnin wundir volbringin man gît des Dürings dar (KLD 1). Vgl. dazu den Schlussabsatz im Abschnitt „Reimdichte und Reimspiel“ unten. https://doi.org/10.1515/9783110351859-015
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zesse eingreifen, die die Bedeutungsmuster eines Textes bilden, stehen die Klang- und Bedeutungsstrukturen in einem Wechselverhältnis. Dass die musikalische Dimension der Lieder größtenteils verloren ist, bedeutet folglich nicht, den Klang auf Textebene lediglich als Relikt einer genuin performativen Liedkunst begreifen zu können.2 Insofern die Funktionsweise und Ästhetik des Sprachklangs nicht darin aufgehen, als rhetorischer Schmuck bestimmbar zu sein, hat auch seine Analyse mehr als eine bloße Formanalyse zu sein.3 Sie hat die Präsenzeffekte und das „ästhetische[] Intensitätserleben“4, auf die der Klang in einer Vortragssituation zielen kann,5 ebenso zu berücksichtigen wie die Funktionen, die ihm in semantischer Hinsicht zukommen. Diese können, wie die Beispiele im Folgenden verdeutlichen, von der Vervielfältigung oder Untermalung bis hin zur Störung oder Brechung von Sinnpotenzialen reichen. Dementsprechend sind die Formenvielfalt im Minnesang und die durch sie bedingte Sprachklangästhetik sowohl als Ausdruck einer ausdifferenzierten kompositorischen Praxis und Komponente der Liedhaftigkeit der Texte zu verstehen als auch als Bestandteil ihrer Semantizität.
2 Form- und Klangkunst als Verfahren Form- und Klangkunst bilden einen spezifischen Schwerpunkt im Spektrum der literarischen Verfahren des Minnesangs. Bereits im zwölften und zunehmend im dreizehnten Jahrhundert begegnen Lieder, in denen durch Strategien der Verdichtung und Häufung formaler Aufbauelemente der Klangstruktur erhöhte bis maximale Aufmerksamkeit gilt. Auf Ebene der Lexik handelt es sich dabei vornehmlich um Formen der Anaphorik, Alliteration, Assonanz, persistenter Wortwiederholung oder auch Lautmalerei, während auf Ebene der Metrik klanglich signifikante Abweichungen sowie im Hinblick auf die Reime insbesondere Reimdichte, komplexe Reimformen und teils stupende Reimformkombinationen zu beobachten sind. Sie können auf Ebene der Strophik durch Elemente wie Kornbindung – strophenübergreifende Reime – und Refrains erweitert sein. Im zwölften sowie um die Wende zum dreizehnten Jahrhundert begegnen solche Form- und Klangspiele vereinzelt. Ausgiebige Wortspiele etwa mit dem Begriff minne finden sich bei → Heinrich von Veldeke (MF 61,33) und Heinrich von Rugge (MF 100,34); Reimspiel und Reimdichte hohen Ausmaßes sind in Texten von Heinrich von Veldeke über Bernger von Horheim bis hin zu → Reinmar dem Alten und → Walther
2 Vgl. konzeptuell dazu Stock 2016, 369–370. 3 Vgl. dazu Köbele 2013, 324; Stock 2016, 370. 4 Stock 2016, 381. 5 Vgl. Stock 2016, 381.
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von der Vogelweide überliefert.6 Auch wenn es unstrittig ist, dass diese hier einen punktuelleren Charakter haben, als es bei späteren Sängern der Fall ist, verdeutlichen die Beispiele, dass Form- und Klangspiele schon früh einen Bestandteil der literarischen Praxis bilden. In den Korpora vor und um 1200 stellen sie eine von vielen Ausprägungen des Minnesangs dar, koexistieren als eine Facette der Variationskunst der Sänger neben anderen. Im dreizehnten Jahrhundert nimmt das Interesse der Sänger an Form- und Klangkunst zu. Das geht damit einher, dass ein nicht unwesentlicher Teil der Texte auf inhaltlicher Ebene eine Musterhaftigkeit in der Verwendung topischer Aufbauelemente – vom → Natureingang über die Schilderung der Dame bis hin zur Leidsituation des Minners – aufweist. Als beispielhaft kann hierfür das Korpus → Gottfrieds von Neifen gelten:7 Dass viele der ihm zugeschriebenen Lieder „auf einer Kombinatorik verwechselbarer Elemente beruhen“8, verhält sich komplementär dazu, dass in ihnen die Klangebene oft besonders ausgeprägt ist. Die Formelhaftigkeit der sprachlichen Aufbauelemente korrespondiert mit einer Formlastigkeit in ihrem Arrangement, die eine Vielfalt an Klangspielen erzeugt. Gottfrieds Texte sind paradigmatisch für einen ausgeprägten Schwerpunkt des Minnesangs im dreizehnten Jahrhundert,9 der seinen Höhepunkt in den Formexperimenten → Konrads von Würzburg und des Dürings erfährt. Diese Tendenz des Minnesangs im dreizehnten Jahrhundert ist von der Forschung unter dem Stichwort des ‚Formalismus‘ beschrieben worden.10 Maßgeblich geprägt wurde der Begriff durch Hugo Kuhn und seine wirkmächtige These einer „Wende“ des Minnesangs nach Walther von der Vogelweide.11 Kuhn postuliert, Minnesänger wie → Burkhard von Hohenfels, Ulrich von Winterstetten und Gottfried von Neifen hätten sich vermehrt der inhaltlichen Arbeit am Minnekonzept ab- und der artistischen Gestaltung nun etablierter Inhalte zugewendet. Zu beobachten sei ein „vom Erringen der Inhalte abgerücktes, ein ausgesprochen formales, d. h. auf Methoden, Kombinationen und formtechnischen Schmuck gerichtetes Interesse der Künstler“12. Obwohl Kuhn damit am streng dualistischen Form-Inhalt-Verständnis der älteren
6 Vgl. insbesondere Heinrich von Veldeke MF 66,24; MF 66,32; Bernger von Horheim MF 115,27; Reinmar der Alte MF 198,4; Reinmar der Alte / Walther von der Vogelweide L 47,16 sowie Walther von der Vogelweide L 75,25. Vgl. zur Formkunst bei → Heinrich von Morungen auch den Artikel von Beate Kellner im vorliegenden Handbuch. 7 Vgl. zur Form- und Klangkunst bei Gottfried von Neifen u. a. Stock 2004; Bleumer 2010, 45–49; Stock 2012; Hübner 2008, 73–83; Stock 2016, 380–386. 8 Stock 2016, 386. 9 Vgl. konzeptuell dazu Hübner 2013, 400–401. 10 Vgl. zur generellen Einordnung der mittelalterlichen Liebeslyrik als „poésie formelle“ Guiette 1978 [1949] sowie in differenzierender Kritik insbesondere Kuhn 1980 [1977]; Kuhn 1980 [1978]; Warning 1997 [1979]; Müller 2010 [2004]; sowie Rudolph 2018, 37–45. 11 Kuhn 1967. 12 Kuhn 1967, 144–145.
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Forschung festhält, zielt seine Argumentation auf eine Aufwertung des Minnesangs ‚nach Walther‘. Hatte die ältere Forschung diesem mit den Verdikten des Schematismus und Manierismus primär epigonalen Charakter zugeschrieben, verdeutlicht Kuhns Studie bereits im Titel (‚Minnesangs Wende‘ als Pendant zu ‚Des Minnesangs Frühling‘) das Bestreben, die Form- und Klangkunst des späteren Minnesangs nicht als Verfallserscheinung, sondern als eigens untersuchungswerte Errungenschaft zu verstehen.13 Diesen Impuls haben in der Folge Kuhns zahlreiche Forscherinnen und Forscher aufgegriffen.14 Bis in die jüngere Forschung hinein wird die Form- und Klangkunst des Minnesangs im dreizehnten Jahrhundert dabei als Resultat einer „Aufmerksamkeitsverschiebung“ der Gattung beschrieben.15 Deren „artistischer Zweig“ setze, so Manuel Braun, „weit stärker auf Form und Klang“ als der Minnesang des zwölften Jahrhunderts, während „die Inhaltsseite der Texte eher ins Hintertreffen“ gerate.16 Konzeptualisiert als Formalismus, geht die Einordnung der Form- und Klangkunst im dreizehnten Jahrhundert somit forschungsgeschichtlich sowohl mit einem Form-Inhalt-Dualismus als auch damit einher, sie als Folge einer gattungsgeschichtlichen Transformationsbewegung zu begreifen. Beide Aspekte gilt es, im Anschluss an neuere Forschungsbeiträge17 zu relativieren: 1. Das zunehmende Interesse an Form- und Klangkunst im dreizehnten Jahrhundert lässt sich nur schwerlich im Sinne Kuhns als Ausdruck einer generellen gattungsgeschichtlichen Entwicklung weg vom Inhalt hin zur Form beschreiben.18 Auch im dreizehnten Jahrhundert liegen weiterhin zahlreiche Ausprägungen des Minnesangs vor, die nicht vornehmlich durch Formkunst geprägt sind und die teils nahtlos an das anknüpfen, was als kennzeichnend für den Minnesang ‚vor Walther‘ gilt. Die diachrone Beobachtung einer Zunahme der Verwendung sprachklangästhetischer Mittel ist deshalb ins Verhältnis zu ihrem synchronen Entstehen mit den Texten zu setzen, die nicht als formalistisch bezeichnet werden können. Statt die Form- und Klangkunst der Sänger als Resultat einer Transformation des Minnesangs ‚nach Walther‘ zu beschreiben, liegt es vielmehr nahe, sie im Rahmen der ‚Variationsgeschichte‘ des Minnesangs (Hübner)19 als e i n e n Schwerpunkt seiner Variationskunst aufzufassen. Er war zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten zwar in verschiedenem Maße ausgeprägt, koexistierte und interagierte stets aber – korpusübergreifend wie korpusintern – mit anderen Verfahren. Zudem ist zu bedenken, dass
13 Kuhn zieht hier mentalitäts- und kunstgeschichtliche Parallelen zwischen der Entwicklung des Minnesangs sowie zeitgleicher Entwicklungen von Architektur und Musik. Vgl. Kuhn 1967, 151‒156, sowie die konzise Zusammenfassung bei Hübner 2008, 7–13. 14 Vgl. hierzu ebenfalls Hübner 2008, 7–13, mit entsprechenden Literaturhinweisen. 15 Braun 2013, mit direkter Bezugnahme auf Kuhn insb. 205–206 und 211–212. 16 Braun 2013, 229. 17 Vgl. insbesondere Hübner 2013; Köbele 2013; Stridde 2013; Kragl 2016; Stock 2016. 18 Vgl. dazu grundlegend Hübner 2013. 19 Hübner 2013, 405–406.
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die beschriebene Tendenz zur Musterhaftigkeit in der Auswahl und im Arrangement der Inhalte, die für Korpora wie das Gottfrieds von Neifen kennzeichnend ist, zwar häufig, aber nicht zwangsläufig mit einem erhöhten Maß an Form- und Klangspielen einhergeht. Auch deshalb gilt es, sie positiv als Mittel der Evokation von Sprachklangästhetik zu beschreiben und nicht ex negativo als eine Ablösungserscheinung vom Inhalt. 2. Der Formalismus-Begriff droht aufgrund seiner dualistischen Ausrichtung die semantischen Funktionen der formalen Prinzipien, die die Klangstruktur eines Textes konstituieren, aus dem Blick zu verlieren. Nicht nur erzeugen Wortwiederholung, Rhythmus und Reim paradigmatische Bezugsmuster, die intra- und intertextuelle Sinnbezüge potenzieren, veruneindeutigen oder unterstreichen können. 20 Auch bleibt die Sprachklangästhetik als solche nicht folgenlos für das inhaltlich Verhandelte. Wird etwa – um das häufigste Beispiel zu nennen – in einem klanglich virtuosen Text die Leidsituation eines Liebenden thematisiert, partizipiert die performative Spannung zwischen Wohlklang und Leidartikulation an der Darstellung und Reflexion der Minne.21 Umgekehrt vermag die Klangebene – etwa in der Schilderung von Sommerszenerien – mit Blick auf Strategien der Euphorisierung und Erotisierung semantisch produktiv zu werden.22 So sehr der Sprachklang auf Präsenzeffekte zielt, so sehr variiert er seinerseits die Perspektivierung der Liebe. Form- und Klangspiele sind nicht das Andere einer inhaltlichen Verhandlung von Minne, sondern (auch) ein anderes Mittel ihrer Artikulation und Ausgestaltung. Dass Form- und Klangkunst im Minnesang die Zuspitzung der in einer Liedgattung immer schon gegebenen Verflechtung von Semantik und Klang darstellen, lässt sich schließlich auch am spätesten Minnesang beobachten. Am prominenten Beispiel → Oswalds von Wolkenstein zeigt sich besonders deutlich, inwiefern „Klangästhetik über eine selbstzweckhafte Demonstration artistischer Virtuosität weit“23 hinausreichen kann. In der persistenten Verwendung von Lautmalerei, Wortwiederholungen und Reimdichte zielt der Klang in vielen seiner Lieder auf Effekte der Ironisierung oder Erotisierung.24 Das Spiel mit ihm kann sich als eigene Strategie in einer mehrsinnigen Darstellung von Minne erweisen, wenn beispielsweise die Übererfülltheit des Reims im Kontrast zur Unerfülltheit der Liebe steht. Dass Form- und Klangkunst im Minnesang breite Anwendung gefunden haben, liegt folglich nicht zuletzt in ihrem Potenzial begründet, Formulierung und Verhandlung von Minne in ihren Bedeutungsstrukturen zu dynamisieren.
20 Vgl. grundsätzlich Köbele 2013 sowie im Anschluss daran Stock 2016, 388–389. 21 Vgl. beispielsweise die Überlegungen von März 1999, 328–329, zu Ulrich von Winterstetten KLD 5,1–2. 22 Vgl. am Beispiel Oswalds von Wolkenstein Köbele 2013, 299–308. 23 Köbele 2013, 306. 24 Vgl. Köbele 2013, 299–318.
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3 Ausprägungen und Funktionen Im Folgenden sind zentrale Ausprägungen von Form- und Klangkunst im Minnesang ausgehend von den ihnen zugrundeliegenden formalen Prinzipien skizziert. Ihre Darstellung zielt jedoch weniger auf eine schematische Kategorisierung rhetorischer Verfahren. Sie verfolgt vielmehr das Anliegen, der Ausgestaltung und Funktionalisierung des Sprachklangs im Hinblick auf seine Effekte und semantischen Implikationen nachzugehen.
Alliteration und Assonanz Auf mikrostruktureller Ebene wird der Sprachklang vielfach signifikant, wenn anhand von Alliterationen und Assonanzen Momente der klanglichen Verdichtung erzeugt werden. Wo ihre Funktion über die einer artistischen Erweiterung und Intensivierung der Klangstruktur hinausgeht, kann das klangliche Hervorheben einzelner Formulierungen und Wendungen produktiv ins Verhältnis zum inhaltlich Ausgedrückten gesetzt werden. So steht beispielsweise die Ästhetik der alliterierenden Formulierung Si wunderwol gemachet wîp zu Beginn von Walthers L 53,25 in evidenter Relation zur beschriebenen Schönheit der Geliebten. Demgegenüber legt die Alliteration der s-Laute in den Schlussversen der Folgestrophe (II, V. 9–10: ich iunge, und tuot si daz, | und wirt mir gernden siechen senender sühte baz) eine Emphase mit beschwörendem Charakter auf die Artikulation der Hoffnung, vom Liebesleid geheilt zu werden.25 Während Assonanzen insbesondere im früheren Minnesang anstelle von Endreimen begegnen, kann ihre Verwendung im Versinneren ebenfalls der Emphase des Formulierten zuarbeiten. In → Heinrichs von Morungen MF 141,37 insistiert der Sänger etwa darauf, lieber einen baldigen Tod sterben zu wollen, als für immer aussichtslos zu dienen: Des bin ich worden laz, alsô daz ich vil schiere wol gesunde in der helle grunde verbrunne, ê ich ir iemer diende, in wisse umbe waz. (II, V. 7–10)
Indem die Verbform verbrunne mit den vorausgehenden Endreimen assoniert, akzentuiert die klangliche Zuspitzung die Drastik der Aussage.26
25 Vgl. dazu Kellner 2018, 276, 278. Walther-Zitate nach L/COR. 26 Vgl. dazu Kellner 2018, 216.
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Wortwiederholung 1: Anaphorik Unter den Figuren der Wortwiederholung hat im Minnesang insbesondere die Anapher breite Anwendung gefunden.27 Auch sie hat vielfach emphatische Funktion, schafft aber in Ergänzung zu Versmaß und Reimen eine Klangstruktur, der übergeordnete Bedeutung zukommen kann. Besonders deutlich lässt sich das im Korpus Gottfrieds von Neifen nachvollziehen. Wenn hier teils über den Verlauf ganzer Strophen Anaphern den Text inhaltlich wie klanglich strukturieren, erzeugt dies nicht nur paradigmatische Bezugsmuster, die das Syntagma überlagern oder gänzlich überblenden, sondern etabliert die Paradigmatik gleichsam als inhaltliches Prinzip. Indem etwa in regelmäßigem Duktus variiert wird, was ein wîp im Allgemeinen auszeichnet (KLD 7,3; KLD 22,3), was von der adressierten Minne zu erwarten ist (KLD 22,4), warum der rote Mund der Geliebten nu lachen soll (KLD 23,3) oder was es im Winter zu beklagen gilt (KLD 25,1, V. 1–6), vollführt die Anaphorik auf komprimierte Weise, was für die Variationskunst des Minnesangs strukturell grundlegend ist: Wiederholung und Variation zielen auf ein kontinuierliches, vielfach artistisches Reformulieren zentraler Inhalte, das die Notwendigkeit, Unabschließbarkeit und damit auch Unerschöpflichkeit ihrer Thematisierung exponiert. Der Einsatz von Anaphern spiegelt formal und evoziert klanglich, dass auch inhaltlich das kontinuierliche Wiederholen von Vorgeprägtem, das es zu aktualisieren und auf dessen Wirksamkeit es zu insistieren gilt, im Vodergrund steht. Die Stilfigur kann dabei, insbesondere im Falle des Begriffs wîp, persuasiven, appellativen oder gar Anbetungscharakter annehmen (KLD 7,3; KLD 22,3). Sie kann Lobpassagen euphonisch untermalen (KLD 13,1 und 5) oder auch die Dringlichkeit einer Klage zum Ausdruck bringen (KLD 33,1, V. 1–3). In all diesen Fällen stellt die Anapher aber nicht nur eine rhetorische Figur dar, die der Ästhetik des Sprachklangs zuarbeitet. Im Zusammenspiel von Klang und Inhalt demonstriert sie zugleich die strukturelle Logik und Funktionalität des Wiederholens.
Wortwiederholung 2: Lexikalische Häufung und Wortspiel Imposante Beispiele dafür, wie klangliche Verdichtung die Funktion, inhaltliche Aspekte hervorzuheben, transgredieren oder auch subvertieren kann, stellen Texte und Textstellen dar, in denen persistente, teils exorbitante Wiederholungen und Abwandlungen einzelner Worte vorliegen. Sie konzentrieren sich vornehmlich auf 27 Vgl. bereits im frühen Sang Der von Kürenberg MF 8,1 und 8,9. Vgl. neben den im Folgenden ausgeführten Beispielen aus dem Korpus Gottfrieds von Neifen im Minnesang des dreizehnten Jahrhunderts als einige prägnante Beispiele unter vielen weiteren: Der Wilde Alexander KLD 3,5; Heinrich von Breslau KLD 2,1; Heinrich Hetzbold von Weißensee KLD 6; Hiltbolt von Schwangau KLD 10,3; Der Kanzler KLD 6,3; KLD 7,1; KLD 8,3; Konrad von Landeck SMS 4,5; Ulrich von Liechtenstein KLD 17,2; Ulrich von Winterstetten KLD 12,3; KLD 18,4.
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die Zentralbegriffe minne und liebe (→ Minnekonzepte und semantische Felder). In Heinrichs von Veldeke zweistrophigem Lied Swer ze der minne ist sô vruot (MF 61,33) wiederholt sich beispielsweise das Wort minne je nach Fassung in jedem oder nahezu jedem Vers.28 Es wird durchgehend positiv bestimmt, was in pointiertem Kontrast dazu steht, dass die minne […] sunder danc (II, V. 1) bleibt. Das beständige Wiederholen und die klangliche Exposition des Wortes lassen sich somit als Strategie verstehen, auf der Wirksamkeit der minne trotz fehlender Gegenliebe zu insistieren. Dabei unterläuft die klangliche Ebene die inhaltliche Bestimmung der Liebe ([v]on minne kumet uns allez guot, I, V. 5) insofern, als minne primär im Sang selbst gegeben scheint und nachgerade nicht in der thematisierten Relation zwischen Ich und Dame. In noch zugespitzterer Weise zeigt sich in Wortspielstrophen, dass der durch lexikalische Häufung herbeigeführte Sprachklang die Artifizialität und Selbstbezüglichkeit in der Auseinandersetzung mit Minne zu exponieren vermag. Hier nimmt der spielerische Umgang im Wiederholen und Abwandeln des minne-Begriffs dominanten Charakter ein.29 In Heinrichs von Rugge Einzelstrophe MF 100,34 etwa finden sich 21 variierende Nennungen von minne im Rahmen von elf Versen. Sie arbeitet klanglich intensiv mit figura etymologica und Polyptoton, der Wortwiederholung in unterschiedlichen grammatischen Formen, die hier in evidentem Maße darauf zielt, den Begriff so oft wie möglich fallen zu lassen. Im Zuge dessen wird die Motivation zu lieben gänzlich als Selbstzweck dadurch bestimmt, daz ich ûf minne minne minne (V. 8).30 Je nach Rezeptionshaltung wird man hierin eine Komik, eine Ironisierung oder auch eine spielerische Demonstration der Ausweglosigkeit sehen, Alternativen zur fehlenden Gegenliebe der Dame zu finden. Sie werden jeweils durch die Dominanz der Klangebene hervorgerufen, indem nach viel klingt, was inhaltlich wenig Folgen zeitigt. Wortspiele mit dem Begriff liebe loten zum einen die sprachkünstlerischen Möglichkeiten aus, die das lexikalische Spektrum von liep (‚Liebes‘), liep (Geliebte/r) und liebe (Liebesregung) bietet, indem figura etymologica und Polyptoton in ihnen in maximaler Verdichtung Anwendung finden.31 Zum anderen nutzen sie die positive Konnotation des liebe-Begriffs, um auf Klangebene Strategien der Euphorisierung und
28 In der B-Version fällt der Begriff in jedem Vers, ihr fehlt jedoch der vierte Vers der ersten Strophe. In C fällt der Begriff lediglich in diesem sowie im letzten Vers der zweiten Strophe nicht. 29 Weitere Beispiele für minne-Wortspiele sind Ulrich von Singenberg SMS 3,4 und 20,2 (V. 1–2); Von Hohenburg KLD 6,4; Konrad von Kilchberg KLD 3,2 (V. 1–3) sowie Konrad von Landeck SMS 2,3 (V. 1–2) und 20,5 (V. 8–11). Vgl. am Beispiel von Ulrich von Singenberg SMS 3,4 zur Artistik des Wortspiels mit minne Braun 2013, 219. 30 In MF ist die Strophe als letzte eines fünfstrophigen Liedes gekennzeichnet. Sie stellt zu den Vorstrophen allerdings eine Tonvariante dar und ist in C auch durch den Wechsel der Initialenfarbe gesondert markiert. Vgl. zur Strophe und ihrer Überlieferung Rudolph 2018, 86–88. 31 Vgl. insb. Gottfried von Neifen KLD 10,2; Der Kanzler KLD 15,2–3; Konrad von Landeck SMS 1,5 und 4,5 sowie Heinrich von Tettingen SMS 1,1–2. Vgl. als weitere prägnante Beispiele für die spielerische Verwendung von figura etymologica und Polyptoton im Minnesang Hartmann von Aue MF 212,13, III, V. 7–8 (Wortspiel mit gâhe); Walther von der Vogelweide L 62,6, III, V. 10 (Wortspiel mit guot).
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Erotisierung zu verfolgen. So gehen etwa im Lied Fröit iuch, stolzen leien des Kanzlers (KLD 15) eineinhalb Strophen Sommereingang, in denen mehrfach die klangliche Qualität des Mais mit seinem Nachtigall- und Lerchengesang betont wird,32 in eineinhalb Strophen über, deren Sprachklang anhand von nicht weniger als 26 variierenden Nennungen des liebe-Begriffs den freudvollen Charakter des Sommerbeginns sowie sein erotisches Potenzial veranschaulichen. Die zu Textbeginn akzentuierten Aspekte der Freude und des Vogelgesangs werden performativ in das Erfreuen am Wortklang überführt. Gleichzeitig lässt sich das klangliche Berauschen am Wort liebe aber auch als Mittel zum Zweck deuten, die Aufmerksamkeit eher auf die Virtuosität des Sangs selbst als auf das inhaltlich Beschriebene zu lenken. Ein besonders prägnantes Beispiel dafür, wie dieses Verfahren wiederum mehrsinnig dem Leid des Liebenden gegenübergestellt werden kann, ist Gottfrieds von Neifen Wir suln aber schône enpfâhen (KLD 3).33 Hier wird in der ersten Strophe durch eine achtfache Nennung von fröide (jeweils vor dem Reimwort), die vom Sommerbeginn ausgeht, sowie eine je fünffache Variation von lachen und liebe in der vierten Strophe, die die vom roten Mund der Geliebten ausgelöste Liebesregung zum Ausdruck bringt, das Auslösen positiver Empfindung klanglich intensiv miterzeugt und gleichsam performativ umgesetzt. Doch steht dies stets in unmittelbarem, teils gleichzeitigem Kontrast zu Aussagen des Ich, selbst freudlos zu sein. Sie gipfeln in der Formulierung, dass es in den fröiden fröiden âne ist (3, V. 7). Indem Euphonie, Sommer und Dame ein Potenzial innewohnt, was sich zugleich dem Ich entzieht, erweist sich die Fülle des Klangs als Gegenpart zur Unerfülltheit der Liebe. Sie oszilliert produktiv dazwischen, als Kompensation oder aber Verdeutlichung der Trauer zu fungieren.
Lautmalerei und Klangrede Dass Walthers tandaradei (L 39,11) das vielleicht berühmteste Wort des Minnesangs ist,34 zeigt eindrücklich, wie einprägsam Klangwörter in ihrer Eigenheit sein können, keine festgelegte Bedeutung zu haben, gerade deshalb aber „hohe semantische Energie“35 auf sich zu ziehen. Sie haben im Minnesang nur punktuell, dafür aber auf prägnante Weise Einsatz gefunden. Dass sie insbesondere bei → Neidhart und Oswald von Wolkenstein begegnen, steht zumeist im Zusammenhang erotischer Schilderungen. Ausdrücke wie die Beschreibung, Ritter und junge Frau hätten getiselt und getaselt (Neidhart SL 23,9b, V. 5),36 oder lautmalerische Sequenzen wie 32 Vgl. ausführlich zum Verhältnis von Vogelgesang, Klang und Performanz im Minnesang Hochkirchen 2015, 191–296. 33 Vgl. ausführlicher hierzu Stock 2004, bes. 195–200. 34 Vgl. dazu jüngst Kellner 2018, 177–178. 35 Köbele 2013, 310. 36 Vgl. dazu Köbele 2013, 309–310.
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Frisch frei fro frölich ju jutz jölich gail gol gölich gogeleichen hurtig tum tümbrisch knauss bumm bümbrisch tentzsch krumb rümblisch rogeleichen so ist mein hertz an allen smertz, wenn ich an sich meins lieben buelen gleichen (Oswald von Wolkenstein OSW 82, Refrain)
lassen eher offensichtlich als subtil sexuelle Konnotationen erkennen. Neben der Funktion, Redetabus zu umgehen, können lautmalerische Worte und Wortpassagen in variierender Weise dazu dienen, die Sonorität der inhaltlich entworfenen Situationen performativ zu veranschaulichen. So wird bei Gottfried von Neifen die Szene, ein Kind singend in den Schlaf zu schaukeln, mit wigen wagen, gigen gagen (KLD 50, V. 7) ausgedrückt, während der tandaradei-Refrain im Lindenlied mit dem schönen Gesang der Nachtigall assoziiert ist. Demgegenüber illustriert der Refrain traranuretun traranurirunt und eie in Neidharts SL 1 die Euphorie der Sprechenden klanglich und nimmt zudem auch rhythmisch den perspektivierten Tanzreigen voraus (→ Tanzlied). Nicht zufällig steht die Lautmalerei in all diesen Beispielen wiederum im Kontext erotischer Begegnungen, die retrospektiv beschrieben oder prospektiv anvisiert werden. Der für den Minnesang wichtige Zusammenhang von „Rhetorik und Erotik“37 wird somit beim Einsatz von Klangrede besonders deutlich. Der Klang erfüllt hier nicht zuletzt die zentrale Funktion, die → Imagination anzuregen.38
Metrische Abweichung Während in der älteren Forschung Störungen des metrischen Schemas vornehmlich der Überlieferung zugeschrieben und in den → Editionen vielfach durch Konjekturen und Umstellungen behoben wurden, hat die jüngere Forschung vermehrt darauf hingewiesen, dass sie im Einzelfall auch semantische Funktionen einnehmen können.39 Dabei gibt es evidente Beispiele: In Heinrichs von Rugge Lied Diu welt mit grimme wil zergân nu vil schiere (MF 108,22) etwa sieht sich das Sänger-Ich dem Vorwurf ausgesetzt, aus Kummer seiner Aufgabe zu singen nicht nachzukommen. In der C-Fassung ist die Formulierung – gegenüber dem in A und B überlieferten war umbe ich niht singe (I, V. 6; so auch MF) – metrisch überfüllt: war umbe ich tumbe niht singe. Hier akzentuiert das metrische Aus-dem-Schema-Fallen bei gleichzeitigem Binnenreim klanglich pointiert den inhaltlich ausgedrückten Umstand, Erwartungen nicht zu erfüllen. Der 37 Köbele 2013. 38 In diesem Sinne versteht Kellner 2018, 178, das tandaradei als „Chiffre der Imagination und des Imaginären schlechthin“. 39 Vgl. insbesondere die grundsätzlichen Überlegungen von Kragl 2016.
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umgekehrte Fall liegt vor, wo metrische Unterfüllung Pausen erzeugt, die etwa zur Emphase dienen.40 Wenngleich solche Semantisierungen formaler Abweichungen nicht auszuschließen vermögen, dass sie im Einzelfall auch auf die Überlieferung oder gar mangelnde Formbeherrschung der Sänger zurückführbar sein könnten, legen sie gleichwohl nahe, dass sie als semantisch produktives Stilmittel regelmäßig Einsatz gefunden haben.
Reimdichte und Reimspiel Reime bilden von vornherein einen integralen Bestandteil der Liedform im Minnesang (→ Metrik und Formanalyse). Die Kanzone und alle weiteren Strophenformen, die die Gattung hervorgebracht hat, sind wesentlich durch die Struktur der Endreime geprägt; ihre Realisierung im mündlichen Vortrag hat dominanten Charakter für die Konstitution des Sprachklangs. Dementsprechend stellt die Erweiterung des Endreim-Schemas durch Binnenreime und weitere Reimformen das häufigste Mittel dar, das die Minnesänger im und zum artistischen Umgang mit Sprachklang verwendet haben. Dabei haben das Entwickeln komplexer Reimschemata sowie die Verwendung und Kombination verschiedener Reimarten nicht selten überbietenden Charakter. So begegnen beispielsweise Schlagreime, rührende, grammatische oder Pausenreime regelmäßig,41 und es findet sich bei Konrad von Würzburg zudem ein imposantes Beispiel für den spielerischen Umgang mit Schüttelreimen (SCHR 13). Der Einsatz von Reimen stellt somit im Rahmen der Variationskunst des Minnesangs eine der meistgenutzten Optionen dar, die Inhalte variierend zu Gehör zu bringen und ihre Artikulation durch klangliche Verdichtung zu ästhetisieren. Ähnlich breit gefächert wie das Spektrum an Reimformen sind die performativen Effekte und semantischen Implikationen, die der Einsatz von Reimen für Rezeption und Verständnis der Lieder haben kann. Sie reichen von der Produktion zusätzlicher Sinnzusammenhänge über das Erzeugen eines Sprachklangs mit beispielsweise
40 Vgl. am Beispiel von Heinrich von Breslau KLD 2 Kragl 2016, 151–154. 41 Für Beispiele von rührenden (äquivoken und identischen) sowie grammatischen Reimen s. u. sowie die Ausführungen im Artikel → Metrik und Formanalyse. Für Schlagreime vgl. insbesondere das unten thematisierte Lied SCHR 26 Konrads von Würzburg, des Weiteren z. B. Burkhard von Hohenfels KLD 14; Der Kanzler KLD 14; Ulrich von Baumburg SMS 7; Oswald von Wolkenstein OSW 51 und 53. Auch die Schlagreim-Sonderform des übergehenden Reims (erstes Wort einer Verszeile reimt auf vorausgehenden Endreim) findet sich vielfach, vgl. beispielsweise Der Düring KLD 5; Gottfried von Neifen KLD 16; Walther von Breisach KLD 3. Für Pausenreime (erstes Wort eines Verses reimt auf letztes eines späteren) vgl. etwa Walther von der Vogelweide L 66,21; Gottfried von Neifen KLD 5 und 6 (wobei die gängige Bezeichnung hier insofern missverständlich ist, als dass, da gleichzeitig Endreime vorliegen, gerade keine ‚Pause‘ entsteht, sondern die Pausenreime hier Erweiterungen des Reimschemas darstellen). Die verkürzte Variante, dass sich erstes und letztes Wort einer Zeile reimen, findet sich etwa bei Walther von der Vogelweide L 62,6.
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euphorisierender oder kontrastiver Wirkung bis hin zur Beeinträchtigung des Sinnzusammenhangs. Grundlegend hierfür ist zunächst die literaturwissenschaftlich basale Beobachtung, dass die Äquivalenz der Reime eine paradigmatische Struktur schafft, die in variierender Relation zum syntagmatisch Entfalteten stehen kann. Wie unterschiedlich diese auszufallen vermag, sei anhand von drei Beispielen angedeutet: In Heinrichs von Morungen Lied Si hât mich verwunt (MF 141,37) akzentuiert der Reim von sêle (I, V. 2) auf quêle (V. 5) das Leid des Liebenden, während eine Reimkette von verwunt (V. 1) über munt (V. 6) bis zu gesunt (V. 10) die Möglichkeit der Linderung durch einen Kuss veranschaulicht, die sich parallel zum Syntagma entfaltet.42 Demgegenüber steht der Gleichklang von sumer auf kummer, der sich ebenfalls bei Heinrich von Morungen (MF 140,32, I) oder auch beim Düring (KLD 2,1) findet, in pointiertem Kontrast zum Gegensatz zwischen positiv konnotierter Jahreszeit und negativer Empfindung. Hier hebt der Reim hervor, dass für den Liebenden zusammenfällt, was nicht zusammenfallen sollte. Dass die durch Reime generierte paradigmatische Struktur sich auch gegenläufig zum inhaltlich Ausgeführten gestalten lässt, machen sich unter anderem Dialoglieder zunutze (→ Dialoglied – Wechsel – Botenlied). In → Ulrichs von Liechtenstein Lied Frouwe schœne, frouwe reine (KLD 30) exponieren in der letzten Strophe die Reimworte meinen, dich, vereinen, ich (V. 1–4) offensiv den Wunsch des Mannes nach Zweisamkeit, der in der binnenreimenden Formulierung wis du mîn, sô bin ich dîn gipfelt (V. 5). Die Frau antwortet darauf mit einer Ablehnung, in der die Wendungen des mac niht gesîn und ich bin mîn (V. 6‒7) auf den letzten Vers der Männerrede reimen. Die klangliche Responsion steht in pointierter Differenz zum inhaltlichen Widerspruch, da im Erfüllen des Reims das Nicht-Erfüllen des Wunschs ausgedrückt wird. Im artistischen Umgang mit Reimen wird die paradigmatische Struktur zum dominanten Prinzip der Textorganisation. Sie verfährt in einer klanglichen Verdichtung, in der die Ausgestaltung des Sprachklangs nunmehr konstitutiven Charakter für die Ästhetik und Funktionsweise des Einzeltextes hat. Dies kann etwa darin bestehen, dass die Reime die Aufmerksamkeit auf die Klangqualität der Sprache selbst lenken. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist Walthers Vokalgedicht L 75,25, in dem jeweils sämtliche Endreime der fünf Strophen auf je einem Vokal in der alphabetischen Reihenfolge â, ê, î, ô, û basieren.43 Der Unterhaltungscharakter der Artistik hat hierbei auch inhaltliche Konsequenzen. Indem die Betrübnis über den eingebrochenen Winter etwa dadurch ausgedrückt wird, verlegen als ein sû zu sein (V, V. 1) oder lieber Mönch ze Toberlû zu werden (V. 7), entfaltet das Erfüllen des Reimschemas eine Komik, die die inhaltlich apostrophierte Sorge unterläuft. Die Verwendung von Vokabular, das für den Minnesang außergewöhnlich ist, scheint weniger eine Verlegenheitslösung aufgrund von Reimzwang zu sein, als dass sie diesen vielmehr zum Produzieren von 42 Vgl. zum zweiten Aspekt Kellner 2018, 216. 43 Dieses Prinzip wurde, womöglich in direkter Variation des Walther-Textes, auch von Rudolf dem Schreiber (KLD 1) und Ulrich von Singenberg (SMS 27) adaptiert.
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Überraschungseffekten nutzt. Die beschriebene Sorge dient gleichsam als Folie dafür, die Freude am Sprachspiel kontrastiv hervorzutreiben. Ein Funktionalisieren von Reimen zu Unterhaltungszwecken liegt des Weiteren dort vor, wo Reimspiele illustrativen Charakter annehmen. Dies begegnet zum einen im Zuge von Sommereingängen44 oder Tanzschilderungen, wenn freudiges Empfinden sowohl auf Inhalts- als auch auf Klangebene evoziert wird. Folgen von Binnenreimen erzeugen, häufig in Kombination mit Assonanzen, eine klangliche Sinnlichkeit, die etwa im Falle einer Tanzszene der Darstellung von Rhythmik, Euphorie und Erotik zuarbeitet: sô sun wir smieren und zwinken und zwieren nâch lieplicher gir, heißt es zum Beispeil bei Burkhard von Hohenfels (KLD 1,1, V. 4), sô sun wir rucken und zocken und zucken, daz êret den tanz (2, V. 4). Zum anderen vermag dieses Verfahren wiederum in pointiertem Gegensatz zum Inhalt gestaltet sein, wenn die Dynamik des Reimspiels mit der Statik einer Leidsituation einhergeht. In Eberhards von Cersne Lied HAG 2 wird beispielsweise der erfolglose Versuch, die Distanz zur Dame zu überwinden, als ein slufin unde slichen, | krychen, | nicht wichen (2, V. 7–9), als ein umfagen, | tzutrechen, | vursechen, | tzustechen (V. 12–15) von Hindernissen beschrieben. Dass die Reimdichte die Intensität der Bemühungen lautlich spiegelt, führt hier auch dazu, dass die Leiddarstellung Unterhaltungscharakter gewinnt. Noch artistischer gestaltet sind Reimspiele, die nicht nur – wie in Walthers Vokalspiel – die Klangqualität einzelner Laute exponieren, sondern die sprachliche Konstitution der Reimwörter im Ganzen zur Basis haben. So bilden bei grammatischen Reimen unterschiedliche Flexionsformen desselben Wortes die Reime, was in Texten wie Reinmars Er hât ze lange mich gemiten (MF 198,4) etwa dazu genutzt wird, beständig präsentische und vergangene, indikativische und konjunktivische Perspektiven abzugleichen.45 Demgegenüber werden bei äquivoken Reimen46 die klangliche Identität und semantische Differenz unterschiedlicher Worte oder Wortbestandteile gegeneinander ausgespielt. Eindrucksvoll zeigt sich dies in einem Lied des Düring (KLD 4).47 Hier liegen pro Strophe drei Schlagreimfolgen mit je drei Wörtern vor, von denen erstes und drittes (im gereimten Wortbestandteil) stets homophon sind, während das zweite einen übergehenden Reim darstellt. Das klingt zu Liedbeginn wie folgt: Ich hân selken trôst besunnen, wunnen sunnen glîch ist sî gestalt, die mir tuot mîn leit verswinden. binden swinden muot kan ir gewalt. (V. 1–4)
44 Vgl. exemplarisch Gottfried von Neifen KLD 46; Heinrich von Mügeln STMN XVI,1–3. 45 Weitere Beispiele sind etwa Heinrich von Veldeke MF 66,24 und MF 66,32 sowie Gottfried von Neifen KLD 26. 46 Eine Unterform des rührenden Reims, vgl. dazu die Ausführungen im Artikel → Metrik und Formanalyse. 47 Weitere Beispiele sind etwa Gottfried von Neifen KLD 27 und Konrad von Würzburg SCHR 13.
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Nicht nur korrespondiert die Ästhetik des Sprachklangs mit der beschriebenen Schönheit der Dame. Auch wird im rührenden Reim der Präsenzeffekt der klanglichen Identität effektvoll gewendet, wenn im syntagmatischen Verlauf deutlich wird, dass, was gleich klingt, anderes bedeutet. Nötig wird ein genaues ‚Hinhören‘: Weil der Gleichklang die semantische Verschiedenheit zunächst kaschiert, fordert gerade dies, sucht man dem Textverlauf inhaltlich zu folgen, zum Unterscheiden der Bedeutungen auf.48 Die Differenzierung von Klang- und Bedeutungsstrukturen wird hier zum ästhetischen Programm. Gleiches anders und Anderes gleich hörbar zu machen, korrespondiert mit dem Anliegen, die immergleichen Qualitäten der Geliebten stets aufs Neue als besondere darzustellen, sie anders zu formulieren und damit das topische Lob in einer spezifischen Klangqualität zum Ausdruck zu bringen. Neben Texten des Düring sind die vielleicht größten Formexperimente, die der Minnesang hervorgebracht hat, Reimspiele Konrads von Würzburg.49 SCHR 13 kombiniert in einem stupenden Reimschema äquivoke, identische und Schüttelreime, SCHR 26 besteht fast durchgängig aus Schlagreimen (beide haben zudem Kanzonenform), und SCHR 30 ist versweise komplett durchgereimt, sodass wie in SCHR 26 jede einzelne Silbe einen Reim darstellt. Inhaltlich bietet SCHR 13 eine Liebesklage samt Bitte an die Werlt um Hilfe, SCHR 26 einen Wintereingang sowie eine Bitte an die Dame, das Leid zu lindern, und SCHR 30 eine allgemeine Beschreibung der Tageliedsituation (→ Tagelied). Unumstritten ist, dass alle drei Texte beeindruckende Zeugnisse von Kunstfertigkeit darstellen; kontrovers bleibt die Frage, ob sie mehr als dies sind oder in ihnen die Formkunst gänzlich an die Stelle einer inhaltlichen Verhandlung von Minne tritt. Entscheidend hierfür ist die Beurteilung des Umstands, dass dem Sprachklang in ihnen maximale Aufmerksamkeit gilt, sie inhaltlich weitgehend von Konventionalität geprägt sind, das inhaltlich Ausgedrückte stellenweise klanglich motiviert wirkt und der Sinnzusammenhang durch die Dominanz des Klangs teils beeinträchtigt erscheint (etwa SCHR 26,1, V. 7–8: sunder wunderbære swære wilden | bilden heide weide rêrte). Sieht man hierin das Indiz, dass die Texte ihre Inhaltsseite vernachlässigen und dementsprechend bei Rezipierenden wenig Interesse an ihr zu wecken vermögen, hat man es mit klangintensiven Formspielen zu tun, die sich in ihrer Artistik genügen. Doch spricht einiges dafür, die Exorbitanz der Reimspiele bei Konrad auch als ein besonders radikales Beispiel für das Interagieren von Klang- und Bedeutungsstrukturen zu beschreiben:50 Die Variationsleistung der Texte liegt darin, konventionalisierte Inhalte auf ‚neue‘, hochgradig artistische Weise zu Gehör zu bringen, sie dabei aber mitnichten zu überwinden, sondern gleichsam zu aktualisieren. Im 48 Anders Stridde 2012, 278–279, die „mit erheblichen Irritationen“ rechnet. Meines Erachtens ist jedoch ein Nachvollzug des Inhaltlichen durchgängig möglich. Er bedarf zwar einer gesteigerten Aufmerksamkeit, doch scheint mir das Textverfahren gerade dies auch zu provozieren. 49 Vgl. zu → Konrad von Würzburg den Artikel von Eva Bauer sowie zu Konrad als Formkünstler insbesondere Hübner 1994; Stridde 2012, 284–285; Stridde 2013. 50 Vgl. hierzu auch Stridde 2013, 219–221.
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Allgemeinen wertet die Klangstruktur ihre Thematisierung ästhetisch auf. Im Besonderen wird die Ausgestaltung des Klangs, da sie die Aufmerksamkeit auf ihn zieht, für das inhaltlich Ausgesagte selbst bedeutsam. Wenn in SCHR 30 etwa die Tatsache, dass sich die Liebenden am Morgen trennen müssen, in Versen beschrieben wird, in denen jede Silbe einen Reim darstellt, dann stehen Gleichklang und Euphonie in produktiver Spannung zum trennenden Moment des Morgens und der Klage der Liebenden. Der Text bringt, zugespitzt formuliert, ihre Innigkeit klanglich zum Ausdruck. Ebenso wird zu Beginn von SCHR 26 der Sprachklang effektvoll wirksam: Während in den ersten vier Versen die Gegenwart des Winters mit ausschließlich einsilbigen Worten beschrieben wird, besteht die Deskription der vergangenen Sommerfreuden in den folgenden vier Versen durchgehend aus mehrsilbigen Worten. Dadurch wird ein fließender Sprachklang erzeugt, der pointiert die Dynamik des Vergangenen gegenüber der Statik des Aktuellen hervorhebt: Das träge kalt snê wê tuot (V. 2) geht in das beschwingte schoene doene clungen jungen liuten (V. 5) über.51 Konrads Reimspiele sind somit nicht nur Höhepunkte der formkünstlerischen Ausprägungen des Minnesangs, sondern gleichsam exemplarisch dafür, wie die Präsenzeffekte des Sprachklangs als eigenständiges und wirkmächtiges Verfahren einer variierenden Darstellung von Minne fungieren können. Einen Sonderfall stellt schließlich das Palindrom-Gedicht Spil minnin wundir volbringin man gît des Düring (KLD 1) dar, das der Formartistik Konrads in nichts nachsteht. Es besteht formal aus drei Einheiten, in denen die Silbenfolge jeweils ein Palindrom bildet (V. 1–8, 9–12 und 13–18), was zur Folge hat, dass auch hier sämtliche Worte Reimworte sind.52 Doch sind sie als diese kaum hörbar. Vielmehr lädt erst die teils erheblich konstruierte Satzstruktur, die den Verstehensprozess vielfach erschwert, dazu ein, hinter Wortwahl und -stellung ein übergeordnetes Prinzip zu vermuten, das sich gleichsam nur in der Schriftlichkeit nachvollziehen lässt.53 Dieses Formexperiment ist folglich auch deshalb singulär, weil die Formkunst hier nicht primär mit Klangeffekten einhergeht. Dass sie gleichwohl auf Silben basiert und damit Reime produziert, verdeutlicht, wie konstitutiv der Reim für die Formkunst im Minnesang ist.
51 Vgl. des Weiteren zur Interaktion von Klang- und Bedeutungsstrukturen in SCHR 13 Hübner 1994, 78–81. 52 Wie im KLD-Apparat ersichtlich ist, muss dafür mehrfach in den Text eingegriffen werden. Gleichwohl ist das Prinzip selbst aber auch in der Überlieferung in C erkenntlich. Vgl. das Schema bei Stridde 2012, 282. 53 Vgl. ausführlich dazu Stridde 2012, 280–286.
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Refrain Strophenübergreifende Klangstrukturen finden sich neben Formen der Wortwiederholung und des Reims54 zum einen – und deutlich seltener – im Falle einzelner Kehrverse.55 Zum anderen entstehen sie als eigenes, bei Sängern wie Ulrich von Winterstetten regelmäßig verwendetes Formelement durch Refrains, die stets am Strophenende begegnen und mehrere Verse umfassen. Sie treten ab dem dreizehnten Jahrhundert zunehmend auf56 und sind, insbesondere durch den Einsatz von Binnenreimen, vielfach klanglich dichter gestaltet als der vorangehende Strophenteil. Ihre bis in die heutige Liedkunst dominante Funktion besteht darin, im Zusammenspiel mit der klanglichen Exposition zentrale Inhalte hervorzuheben und so einen ‚Kern‘ der Liedaussage zu formulieren. Ebendiese Funktion wird von den Minnesängern jedoch nicht selten spielerisch abgewandelt und unterlaufen. Pointiert gestaltet sich dies etwa im Falle der je dreistrophigen Lieder SIEB 9 und 10 des Tannhäuser. In beiden folgt auf eine Reihe grotesker, gänzlich unerfüllbarer Wünsche, die das Ich der Dame erfüllen soll (Flüsse großräumig umzuleiten, dem Mond seinen Schein zu nehmen, die Arche Noah zu beschaffen usw.), ein Refrain, der die Hyperbolik der Forderungen kommentiert. In SIEB 9 beginnt er mit Ausrufen der Affirmation, schließt hingegen mit der Feststellung, dass der Liebende wegen der Dame leide.57 Noch fatalistischer heißt es in SIEB 10, es solle dem Liebenden wohl gut vorkommen, dass sich die Dame, um die nur Gott wisse, vor ihm bewahre.58 Indem beide Passagen anhand von Assonanzen (SIEB 9) beziehungsweise Binnenreimen (SIEB 10) die klangliche Exposition des Refrains noch steigern, arbeitet die Klangebene dem Kontrast zwischen der Anspruchshaltung der Dame und der Selbsteinschätzung des Ich zu. Was klanglich hervorgehoben wird, erfüllt hier wirkmächtig die Funktion der Ironisierung. Komplexer noch ist der Fall, wo sich die Bedeutung des Refrains im Liedverlauf wandelt. In Ulrichs von Winterstetten Lied Komen ist der winter kalt (KLD 36) etwa formuliert der Refrain am Schluss der ersten Strophe zunächst die topische Position des Liebenden, kontrastiv zum Vergangen-Sein des Sommers seine stæte zu versichern. Dabei geht die inhaltliche ‚Kernaussage‘ auch hier mit einer klanglichen Verdichtung einher, die durch Assonanz und Binnenreime erzeugt wird:
54 Strophenübergreifende Reime, sogenannte Körner, begegnen im Minnesang vereinzelt. Vgl. etwa Gottfried von Neifen KLD 7 und 27. 55 Vgl. im Minnesang um 1200 beispielsweise Heinrich von Rugge MF 101,15; Heinrich von Morungen MF 143,22; Walther von der Vogelweide L 39,11. 56 Vgl. zu Aufkommen und Ausprägungen des Refrains in der mittelalterlichen Lyrik Haug 2004. 57 V. 17–23: Ja hiute und iemer mere ja, | heilalle und aber ja, | ziehet her, ze wafena! | wie tuot mir diu liebe so, | diu reine und diu vil guote! | daz si mich niht machet fro, | des ist mir we ze muote. 58 V. 13–18: Ich han den muot, swaz si mir tuot, | daz sol mich allez dunken guot. | si hat sich wol an mir behuot, | diu reine. | sunder got al eine | so weiz die frouwen nieman, diech da meine.
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hundert wundert wâ si sî: in dem muote ist mir diu guote stæteclîchen bî. (V. 12–14)
Im weiteren Strophenverlauf folgt auf den → Natureingang ein rhetorisch effektvoller Registerwechsel: Berichtet wird von einer einstigen Begegnung mit der Dame, zitiert werden daraus Aussagen, in denen sie sich anhand von teils derbem Vokabular in wüsten Beschimpfungen des Liebenden ergeht. Sie stehen in starkem Kontrast zum unveränderten Refrain, der aufgrund der klanglich pointierten Ausgestaltung der nun in neuem Licht erscheinenden stæte-Bekundung sichtlich humoristischen Charakter gewinnt. Was sich in klanglicher Exposition inhaltlich wiederholt, wird dadurch zunehmend als floskelhaft entlarvt. Der Text nutzt die durch den Refrain produzierte Erwartungshaltung, beständig Beständigkeit zu versichern, um die Formulierung von stæte vom inhaltlichen Argument zur bloßen Stilfigur werden zu lassen: Sie klingt schön, hat aber inhaltlich nachgerade kontraproduktive Folgen. Was sich wiederholt, so die Pointe, entfaltet seine Wirkung nicht im Werben, sondern im Singen.
4 Fazit Form- und Klangkunst sind im Minnesang nicht nur Mittel und Ausdruck rhetorischer Artistik zu Unterhaltungszwecken. Sie bieten auch die Option, die inhaltlichen Aporien mit den Kompetenzen des Dichtens und Singens in ihrer Darstellung wie Einordnung zu dynamisieren. Welche Funktionalisierung der spielerische Umgang mit dem Sprachklang erfährt, variiert hierbei ebenso wie die Artikulation und Verhandlung der Minne selbst. Sie reicht von Veranschaulichung und Emphase bis hin zum Überblenden und Unterlaufen des Inhaltlichen, kann in Strategien der Euphorisierung und Erotisierung, aber auch Ironisierung und Komisierung bestehen. Dass der artistische Umgang mit dem Sprachklang vielfach die Aufmerksamkeit auf das Singen lenkt und auf Präsenzeffekte im performativen Liedvollzug setzt, stellt folglich mitnichten zwangsläufig eine Überwindung der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Minne dar. Vielmehr vermögen Form- und Klangspiele sie anders zu perspektivieren, semantisch zu potenzieren und ästhetisch zu nobilitieren. Nicht unerwähnt bleiben soll zuletzt, dass für eine gattungsübergreifende literarhistorische Einordnung der Form- und Klangkunst im Minnesang, die ihre Semantisierungen und ihre verschiedenen Ausprägungen vom zwölften bis ins fünfzehnte Jahrhundert gleichermaßen im Blick hat, ihre Eigenheiten insbesondere ins Verhältnis zur Form- und Klangkunst im Sangspruch (→ Sangspruch – Minnesang)59 sowie zur lateinischen Rhetorik und mittellateinischen Liebeslyrik (→ Die Lateinische Liebes59 Vgl. zu Form- und Klangkunst im Sangspruch Stridde 2012; Haustein 2015; Runow 2015.
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lyrik des Mittelalters)60 zu setzen wären. Vermehrte Forschungsbemühungen in diese Richtungen sind insofern vielversprechend, als dass sie die Anwendung der Verfahren im Minnesang noch spezifizieren könnten.
Literatur Hartmut Bleumer: Der lyrische Kuss. Emotive Figurationen im Minnesang. In: Machtvolle Gefühle. Hg. von Ingrid Kasten. Berlin u. a. 2010 (TMP 24), 27–52. Manuel Braun: Aufmerksamkeitsverschiebung. Zum Minnesang des 13. Jahrhunderts als Form- und Klangkunst. In: Wolfram-Studien 21 (2013), 203–230. Robert Guiette: Dʼune poésie formelle en France au Moyen Age [zuerst 1949]. In: Ders.: Forme et senefiance. Études médiévales. Hg. von Jean Dufournet, Marcel De Grève und Herman Braet. Genf 1978 (Publications romanes et françaises 148), 9–32. Andreas Haug: Musikalische Lyrik im Mittelalter. In: Musikalische Lyrik. Teil 1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert. Hg. von Hermann Danuser. Laaber 2004 (Handbuch der musikalischen Gattungen 8,1), 59–129. Jens Haustein: Grenzgänger. Formexperimente in der Sangspruchdichtung des Marner, Konrads von Würzburg und Frauenlobs. In: Sangspruchdichtung um 1300. Akten der Tagung in Basel vom 7. bis 9. November 2013. Hg. von Gert Hübner und Dorothea Klein. Hildesheim 2015 (Spolia Berolinensia 33), 249–262. Eva-Maria Hochkirchen: Präsenz des Singvogels im Minnesang und in der Trouvèrepoesie. Heidelberg 2015 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte). Gert Hübner: Versuch über Konrad von Würzburg als Minnelyriker. In: Artibus. Kulturwissenschaft und deutsche Philologie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Festschrift für Dieter Wuttke zum 65. Geburtstag. Hg. von Stephan Füssel, dems. und Joachim Knape. Wiesbaden 1994, 63–94. Gert Hübner: Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung. Tübingen 2008 (Narr-Studienbücher). Gert Hübner: Konzentration aufs Kerngeschäft. Späte Korpora der Manessischen Liederhandschrift und die Gattungsgeschichte des Minnesangs im 13. Jahrhundert. In: Wolfram-Studien 21 (2013), 387–411. Beate Kellner: Spiel der Liebe im Minnesang. Paderborn 2018. Susanne Köbele: Rhetorik und Erotik. Minnesang als „süßer Klang“. In: Poetica 45 (2013), 299–331. Florian Kragl: Formspiele. Zu einem Grundproblem der historischen Poetik. Mit Beispielen von Heinrich von Breslau, Otto von Botenlauben, Reinmar, Walther von Mezze und aus dem ‚Rosenkavalier‘. In: Der philologische Zweifel. Ein Buch für Dietmar Peschel. Hg. von Sonja Glauch, dems. und Uta Störmer-Caysa. Wien 2016, 143–174. Hugo Kuhn: Minnesangs Wende. 2., verm. Aufl. Tübingen 1967 (Hermaea NF 1). Hugo Kuhn: Determinanten der Liebe [zuerst 1977]. In: Ders.: Kleine Schriften. Bd. 3: Liebe und Gesellschaft. Hg. von Wolfgang Walliczek. Stuttgart 1980, 52–59. Hugo Kuhn: Liebe und Gesellschaft in der Literatur [zuerst 1978]. In: Ders.: Kleine Schriften. Bd. 3: Liebe und Gesellschaft. Hg. von Wolfgang Walliczek. Stuttgart 1980, 60–68. Christoph März: Metrik, eine Wissenschaft zwischen Zählen und Schwärmen? Überlegungen zu einer Semantik der Formen mittelhochdeutscher gebundener Rede. In: Mittelalter. Neue Wege
60 Vgl. hierzu die Hinweise bei Köbele 2013, 317, sowie Worstbrock 1975.
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durch einen alten Kontinent. Hg. von Jan-Dirk Müller und Horst Wenzel. Stuttgart u. a. 1999, 317–332. Jan-Dirk Müller: Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs. Zum Verhältnis von Liedkunst und Lebenskunst [zuerst 2004]. In: Ders.: Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien. Berlin u. a. 2010, 65–81. Alexander Rudolph: Die Variationskunst im Minnesang. Studien am Beispiel Heinrichs von Rugge. Berlin u. a. 2018 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 28). Holger Runow: Hât ieman sin sô snellen … Rezeptionsbedingungen des Sangspruchs um 1300 zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Sangspruchdichtung um 1300. Akten der Tagung in Basel vom 7. bis 9. November 2013. Hg. von Gert Hübner und Dorothea Klein. Hildesheim 2015 (Spolia Berolinensia 33), 89–108. Markus Stock: Das volle Wort – Sprachklang im späteren Minnesang. Gottfried von Neifen, Wir suln aber schône enpfâhen (KLD Lied 3). In: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik. Hg. von Albrecht Hausmann, unter Mitwirkung von Cornelia Logemann und Christian Rode. Heidelberg 2004 (Euphorion-Beiheft 46), 185–202. Markus Stock: Autorität und Intensität. Normierung und volles Wort bei Gottfried von Neifen und Rudolf von Ems. In: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium. Hg. von Elke Brüggen u. a. Berlin u. a. 2012, 385–400. Markus Stock: Triôs, triên, trisô. Klangspiele bei Wernher von Teufen und Gottfried von Neifen. In: PBB 138 (2016), 365–389. Christine Stridde: Das hingewürfelte Wort. Ebenen der Unverständlichkeit in mittelalterlichen Sprach-Spielen. In: Sprache und Geheimnis. Sondersprachenforschungen im Spannungsfeld zwischen Arkanem und Profanem. Hg. von Christian Braun. Berlin 2012 (Lingua Historica Germanica 4), 267–292. Christine Stridde: Innovativer Formalismus und Konkretheit des Symbolischen. Konrads von Würzburg poetologisches Programm. In: Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität. Hg. von Manuel Braun. Göttingen 2013, 205–231. Rainer Warning: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. Wilhelm IX. von Aquitanien: Molt jauzens, mi prenc en amar [zuerst 1979]. In: Ders.: Lektüren romanischer Lyrik. Von den Trobadors zum Surrealismus. Freiburg i. Br. 1997 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae 51), 45–84. Franz Josef Worstbrock: Rhetorische Formtypen der mittelalterlichen Lyrik. In: DVjs 49 (1975), 8–31.
Themen und Semantiken
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Minnekonzepte und semantische Felder I Minnekonzepte 1 Variabilität der Minnevorstellungen und Minnekonzepte Minnesang ist Variationskunst. Dementsprechend variieren die Minnekonzepte vom frühen zum späten Minnesang und unterscheiden sich nach den jeweiligen Gattungen. Neben der einseitigen unerfüllten Liebe in den aus männlicher Perspektive gesungenen → Kanzonen des Hohen Sangs begegnen vom frühen bis zum späten Sang Spielarten mit Hinweisen auf gegenseitige Liebe bis hin zur Liebeserfüllung. Mitunter sind diese als niedere, körperliche Formen der Minne gekennzeichnet. Erfüllte Liebe ist von den Anfängen des Minnesangs an im → Tagelied gegeben, dessen Grundkonstellation vielfach variiert wird (etwa im geistlichen Tagelied oder durch Verschiebung des Milieus). In → Frauenliedern zeigen sich die Frauen nicht nur häufig in der Spannung zwischen Minne und Ehre, sondern offenbaren auch, meist unter dem Vorbehalt des Stillschweigens und Verhüllens, ihre Liebessehnsüchte. Mitunter geben sie zu erkennen, dass die Liebe erfüllt worden ist oder in der Zukunft erfüllt werden wird (u. a. bei → Reinmar und → Walther von der Vogelweide). Parodistische Verkehrungen erfährt die Hohe Minne ab dem dreizehnten Jahrhundert vor allem durch ihre Versetzung ins Dörpermilieu (insbesondere bei → Neidhart), aber auch durch andere Formen der Persiflage, indem die Werbung zum Beispiel durch Wörtlichnehmen und Hyperbolik der Dienstminne ins Lächerliche gezogen wird (u. a. bei → Ulrich von Liechtenstein).
2 Lexik der Minne Als Bezeichnung für die Liebe koexistieren im Minnesang vor allem die Begriffe minne und liebe. Gemein ist ihnen die Bezeichnung von Liebesempfinden in einem ursprünglich positiven Sinne: minne hat – abgeleitet vom Bedeutungskern ‚Erinnerung‘, ‚Andenken‘1 – die Grundbedeutung „freundliches Gedenken“2; liebe bezeichnet das ‚Wohlgefallen an etwas‘ und allgemein ‚Gunst‘ oder ‚Freude‘.3 Im Minnesang bringt minne erstens die emotionale Bindung zwischen dem Liebenden und der geliebten Dame zum Ausdruck und steht zweitens für Liebe als ein Prinzip, dem eigene Hand1 Vgl. BMZ, Art. minne; LEXER, Art. minne; Bein 2017, 116. 2 Vgl. Schweikle 1995, 169. 3 Vgl. DWB, Art. liebe, Abschnitt 7; BMZ, Art. liebe; LEXER, Art. liebe; Bein 2017, 116. https://doi.org/10.1515/9783110351859-016
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lungsmacht zugeschrieben werden kann. liebe verweist in erster Linie auf die Liebesregung und das Wohlgefallen am geliebten Gegenüber. Deutlich wird der Unterschied besonders dort, wo die Wörter gemeinsam auftreten: si ist mir vor liebe ze verre in dem muote. | Daz tuot die minne, diu benimt mir die sinne (Heinrich von Rugge MF 101,15, I, V. 4–5);4 das Liebesempfinden wird demnach durch die als Instanz auftretende, aktive minne ausgelöst. Die vielfache Variation beider Begriffe hat jedoch auch zur Folge, dass immer wieder Schnittmengen im Bedeutungsspektrum aufscheinen, wo von Liebe als Emotion die Rede ist. So steht die Wendung [e]in rehtiu liebe mich betwanc (Dietmar von Aist MF 34,19, I, V. 5) neben des die tumben niene beginnen, | wan sî diu minne noch nie betwanc (→ Heinrich von Veldeke MF 67,25, V. 7–8), und bei → Heinrich von Morungen heißt es: nâch der liebe sent ‹ie› mîn herze sich (MF 137,27, I, V. 7), während Walther von Klingen formuliert: nâch der besten minne senet mîn lîp (SMS 2,4, V. 2). Solche Beispiele verdeutlichen, dass jeweils am Einzelfall zu prüfen ist, ob der Begriffswahl dezidiert differenzierender Charakter zukommt oder unspezifischere Formen der Verwendung vorliegen. Im Blick auf das Leid, das die unerfüllte Liebe verursacht, wird ihrem Wesen immer wieder negatives Potential attestiert. Dies hat zur Folge, dass minne zwar zum einen als Freude und Leid umfassendes Prinzip kenntlich wird, zum anderen aber auch der negative Aspekt verallgemeinert werden kann: minne riuwe heizen mac (Reinmar MF 187,31 IV, V. 4); mîn minne ist ein nôt (Markgraf von Hohenburg KLD 6,4, V. 5). In der topischen Gegenüberstellung von liebe und leit wird die Grundbedeutung von liebe als Freude besonders deutlich; der Gegensatz kann jedoch auch abgeschwächt werden oder gänzlich aufgehoben sein (vgl. bspw. Albrecht von Johannsdorf MF 94,15 III, V. 2: wie vil mir doch von liebe leides ist beschert!; Bernger von Horheim MF 113,33 I, V. 1: Mir ist von liebe vil leide geschehen; Wenzel von Böhmen KLD 1,3, V. 10: daz leit was frô, diu liebe klaget). Parallel zu diesen allgemein gefassten Begriffen begegnen im Minnesang schon früh Spezifizierungen: Neben dem zentralen Begriff der hôhen minne für das höfische Liebeskonzept einer unerfüllten, ethisch idealisierten und sozial distinkten Liebe ist erstmals bei Walther von einer primär körperlich verstandenen nideren minne als Gegenbegriff die Rede (L 45,37 beziehungsweise L 46,32; vgl. → Ulrich von Liechtenstein KLD 3,6; Der von Buchein KLD 5,3). Ebenfalls ab dem Hohen Sang tritt der Begriff der unminne auf, der zur Stigmatisierung von Formen der valschen minne dient.5 Auf 4 Vgl. des Weiteren bspw. auch Albrecht von Johannsdorf MF 94,15 II, V. 1–2: Minne, lâ mich vrî! | du solt mich eine wîle sunder liebe lân; Bernger von Horheim MF 113,1 II, V. 2: mir ist von minne sô liebe geschehen (Text nach C). 5 Vgl. Reinmar der Alte MF 178,1, V; Walther von der Vogelweide MF 214,34, V (MF führt die nur bei Walther bezeugte Strophe unter → Hartmann von Aue); vgl. stellvertretend für den späteren Sang Ulrich von Winterstetten KLD 14,4 und 13,1; Walther von Klingen SMS 6,2. Der invers dazu konzipierte Begriff der widerminne, einer Liebesentgegnung, begegnet bei Rubin (KLD 4,2) und Walther von Mezze (KLD 6,3 mit Parallelüberlieferung bei Reinmar in B).
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der Fluchtlinie der Abstrahierung des minne-Begriffs liegt es, dass Minne personifizierend angesprochen werden kann6 und in expliziter Personifikation ab Walther auch als frouwe Minne adressiert wird.7 Eine Zuspitzung des liebe-Begriffs stellt der Ausdruck herzeliebe dar, der in der Form herzeliep bereits bei Dietmar von Aist bezeugt ist.8 Er bezeichnet im Sinne einer Intensivierung und Steigerung eine Liebe ‚von Herzen zu Herzen‘ und ist vor allem im Rahmen der prominenten Begriffsreflexionen bei Heinrich von Morungen (MF 131,25, IV) und Walther von der Vogelweide (insb. L 45,37 beziehungsweise L 46,32) von Bedeutung.
3 Hohe Minne Paradoxe amoureux Die Fiktion der Hohen Minne, die in der Forschung so sehr als Inbegriff des Minnesangs betrachtet wurde, dass sie mit diesem nahezu in eins gesetzt wurde,9 lehnt sich an die romanische fin’amors an (→ Altokzitanische Lyrik). Begriff und Konzept treten zum ersten Mal bei Friedrich von Hausen (um 1170/1180) auf: Hete ich sô hôher minne mich nie underwunden, mîn möhte werden rât. (MF 51,33, II, V. 1–3)
Der Sänger thematisiert das Dienen um einen Lohn, der von der abweisenden Dame nicht gegeben wird und den Liebenden ins Leid führt, weil sein Herz sich ze hôhe huop (MF 49,13, III, V. 6). Häufig wird die Liebeswerbung im Hohen Sang in einer Raumsemantik der Höhe entfaltet, die ständische und ethische Aspekte umfasst. Das Streben nach oben kann neben dem in die Höhe heben durch eine ganze Reihe weiterer Metaphern ausgedrückt sein, so zum Beispiel auch durch Hochfliegen, Hochschweben und Hochspringen (vgl. etwa Bernger von Horheim, Mir ist alle zît, als ich vliegende var, MF 113,1; oder Heinrich von Morungen, In sô hôher swebender wunne, MF 125,19). Im Zuge des Singens von der Hohen Minne soll sich beim Liebenden und bei dem von ihm immer wieder angesprochenen Publikum das Hochgefühl des hôhen muotes als Ausdruck der höfischen Freude und Idealität einstellen (vgl. etwa Reinmar 6 Vgl. etwa Friedrich von Hausen MF 52,37, IV; Rudolf von Fenis MF 80,25, I. 7 Vgl. bei Walther L 13,33; L 40,19; L 54,37; L 181,1; L 97,34; vgl. im späteren Sang stellvertretend Burkhard von Hohenfels KLD 17; Gottfried von Neifen KLD 1, KLD 5, KLD 14, KLD 15, KLD 21, KLD 25, KLD 45, KLD 48; Der Wilde Alexander KLD 6. 8 Vgl. Dietmar von Aist MF 34,19, III, V. 2. Wie beim Begriff liebe auch, kann herzeliebe sowohl die ‚Herzensliebe/-freude‘ als auch die oder den ‚Herzensliebste(n)‘ bezeichnen; vgl. etwa bei Albrecht von Johannsdorf MF 91,22, I, V. 4, gegenüber MF 94,15, IV, V. 5 und 8. 9 Vgl. Schweikle 1995, 171.
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MF 182,14, II). Durch die Virtuosität des Dienstes, der trotz der Unerfülltheit der Liebe zu einer Steigerung von Wert (werdekeit, wirde) und Ansehen (êre) des Liebenden und Sängers führt, kann er sich zum Vorbild der höfischen Gesellschaft stilisieren. Kennzeichnend für die Figur des Sängers ist daher einerseits seine Herausgehobenheit aus der höfischen Gesellschaft (Exklusion), zum anderen seine Verankerung in der Gemeinschaft der anderen, die seinen Sang anerkennen sollen (Inklusion).10 Angesichts der Verweigerung von Lohn durch die Dame und der vielfach mangelnden Wertschätzung seines Sangs durch die Gesellschaft droht der Sänger immer wieder mit Dienstabsage und Verstummen, was ihn, im fortgesetzten Singen vorgebracht, in performative Widersprüche bringt.11 Die Liebe richtet sich an eine zum Idol erhöhte Dame von Stand. Sie erscheint als Inbegriff des Guten und Schönen, sie kann der Darstellung der Sänger nach heilen und Wunder wirken (L 53,25, II), ihre Verehrung kann an Adoration grenzen. Die supponierte Vollkommenheit übersteigt jede leibliche Frau, sie ist eine Abstraktion, individuelle Züge einer konkreten Person und Gestalt spielen kaum eine Rolle (vgl. etwa Morungen MF 122,1). Die Unerreichbarkeit der Dame wird häufig in einer Semantik der Höhe oder der Ferne ausgedrückt. Zu denken ist an die etwa bei Friedrich von Hausen anzutreffende Fernliebe (MF 45,1; MF 51,33) oder die Erhöhung der Dame in kosmischen Metaphern vor allem bei Morungen (MF 124,32; MF 129,14; MF 134,14). Die Spannweite der Möglichkeiten zeigt sich bei Morungen zwischen der Apotheose der Dame als ein Venus hêre (MF 138,17, III) und ihrer Dämonisierung als Elbe (MF 126,8). Der Versuch, die ideale Dame zu vergegenwärtigen und sich ihr in der poetischen Rede zu nähern, wird zum Antrieb der poetischen Rede. Das Singen kann nie aufhören, da man das summum bonum ästhetisch niemals erreichen kann. Es geht um den bestmöglichen, den vollkommenen Sang, dem man sich in stets neuen Reflexionen und → Imaginationen anzunähern versucht. Insofern verlagert sich das Gewicht von der Inhaltsseite der Liebeswerbung immer wieder auf die Ausdrucksseite des Poetischen. Der Frauenpreis ist die ästhetische Antwort des Liebenden und Sängers auf die Idealität der Dame, die Klage ist Ausdruck seines Schmerzes über die unerfüllte Liebe. Klagelied und Preislied sind daher die wichtigsten Formen des sogenannten genre subjectif. Konstitutiv für die fin’amors und die Hohe Minne ist die Zuspitzung im Paradox einer Werbung, deren Ziel die Erfüllung einer Liebe ist, die gerade nicht erreicht werden darf: paradoxe amoureux (Minneparadox).12 Würde die Minnedame den Wunsch des Liebenden nach Erfüllung erhören, wäre sie gerade nicht die Beste, die Vollkommene und Unantastbare, als die er sie verehrt. Das liebende Ich wünscht sich also etwas, das es sich gar nicht wünschen darf. Dies stürzt den Liebenden und Sänger in ein Dilemma, das in den Liedern in der Formulierung von Paradoxien und 10 Zu Strukturen und Semantiken der Inklusion und Exklusion im Minnesang vgl. Reichlin 2012. 11 Vgl. Müller 2001 [1999]. 12 Vgl. dazu Schnell 2018.
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Aporien zum Ausdruck kommt. In Reinmars des Alten Lied Swaz ich nu niuwer maere sage (MF 165,10)13 wird dies besonders deutlich, wenn der Sänger sich die Paradoxien der Minne als Fall vorlegt und über die in seinem Herzen widerstreitenden Gedanken räsoniert (IV nach MF). Was er als Liebender auch will, sein Begehren führt in die Aporie, denn weder kann er sich wünschen, dass die Dame in ihrem Wert herabgesetzt werde, wenn sie sich ihm hingebe, noch dass sich ihr Ansehen weiter steigere und sie damit für ihn und alle Männer unverfügbar bleibe. Beide Alternativen bereiten dem Sänger und Liebenden Schmerz. Das Konzept der Hohen Minne wird auch im gesamten dreizehnten Jahrhundert noch fortgeführt (vgl. stellvertretend → Burkhard von Hohenfels KLD 6; → Gottfried von Neifen KLD 1; Ulrich von Winterstetten KLD 34; Rudolf der Schreiber KLD 2). Hugo Kuhns These einer „Wende“ des Minnesangs14 ist insofern zu relativieren, als neben den Tendenzen zur Musterhaftigkeit, Formalisierung sowie formalen Artistik und Klangkunst (→ Form- und Klangkunst) weiterhin Lieder entstehen, die das paradoxe amoureux fortschreiben und variieren.15
Dynamik des Hohen Sangs Zweifellos stellt die überwiegende Zahl der Kanzonen in der Hohen Minne das Leiden des Liebenden ins Zentrum, weshalb Minnesang auch als „Leidsang“ verstanden wurde.16 Trotz der Vergeblichkeit seines Ringens um die Dame hält der Liebende an seinen trügerischen Hoffnungen, dem sogenannten wân (vgl. etwa Morungen MF 145,1, IV) fest, weshalb auch von „wân-Minne“ gesprochen wurde.17 Die Iteration der auf den ersten Blick immer gleichen Minnekonstellation bringt dem Hohen Sang bis heute die Vorwürfe der Monotonie und Statik ein. Diese Perspektive, die häufig damit einhergeht, dass man Minnesang auf „Entsagungsminne“, „Läuterungsminne“ und „Kompensationsminne“ im Sinne einer ethisch-moralischen Läuterung der Liebenden festgelegt hat,18 bedeutet jedoch eine Verengung der Vielfalt des höfischen Liebesdiskurses,19 die sich bei näherer Betrachtung auch im Hohen Sang zeigt. Statt der vermeintlichen Monotonie des Hohen Sangs lässt sich auch hier eine Fülle von Gegenstrebigkeiten erkennen, die seine Dynamik ausmachen. Es gibt daher nicht die
13 Vgl. dazu Hausmann 1999, 138–148; Kellner 2018, 395–404, mit Dokumentation der älteren Forschung. 14 Vgl. Kuhn 1967. Vgl. dazu Hübner 2008; Köbele 2013. 15 Vgl. etwa auch die prägnanten Variationen bei Burkhard von Hohenfels KLD 5; Der Tannhäuser SIEB 9 und 10; Der Wilde Alexander KLD 6. 16 Schweikle 1995, 173. 17 Schweikle 1995, 173. 18 Schweikle 1995, 173. 19 Vgl. dazu besonders Schnell 1990.
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‚Minnedoktrin‘ oder das ‚Regelsystem der Hohen Minne‘, vielmehr stellt jedes Lied einen Beitrag zum höfischen Liebesdiskurs dar und bezieht seine eigene Position. Zwar herrscht das Lob auf die vollkommene, als summum bonum gefeierte Dame vielfach vor, doch lassen sich auch zahlreiche explizite und implizite Formen der Kritik und des Tadels an ihr erkennen. Häufig wird zu wenig gesehen, dass Frauenlob und Frauenschelte sich in nicht wenigen Liedern gegenseitig relativieren. Vielfach wird die Vorstellung von der zeitlosen Schönheit der Dame gefeiert, doch konterkarieren die eingestreuten Hinweise auf Prozesse des Alterns, auf ihre Kreatürlichkeit und Vergänglichkeit das Bild ihrer Vollkommenheit. Auf der anderen Seite stehen der Inszenierung von Beständigkeit des Sängers Andeutungen gegenüber, in denen er durchblicken lässt, dass sein Liebesdienst Zeitverschwendung sei. Auch das Beharren auf der Treue der Liebenden und Sänger ist oft nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, da es mit versteckten und offenen Absagedrohungen und Hinweisen auf ein Glück jenseits der Liebeserfüllung durchsetzt sein kann. Zugleich finden sich unter der Oberfläche des paradoxe amoureux mit seinem Postulat der unerfüllbaren Liebe eine große Zahl von inszenierten Imaginationen, in denen Erfüllung erträumt wird und in denen Phantasien von Rache und Gewalt entwickelt werden (→ Imagination). Die totale Unterwerfung des männlichen Ichs unter die höherstehende Dame erfolgt über die Dienstmetaphorik in Anlehnung an Rechts- und Lehnstermini (→ Sozialgeschichte als Forschungsparadigma) und kulminiert im sozialen Paradox der Auslieferung des (adligen) Liebenden und Sängers an die Dame, in seiner Selbststilisierung als Gefangener und Leibeigener, als man oder eigenman. Gegenläufig zu dieser Inszenierung des Dienens gibt es allerdings ein ganzes Spektrum von Phantasmen der Selbstermächtigung des männlichen Ichs. Diese relativieren und verkehren die Vorstellung der Subordination und entwerfen die Geschlechterordnung noch einmal im Gegenspiel. Die mittelalterliche Liebesdichtung erweist sich insgesamt als besonders ergiebiges Feld, wenn es um eine Rekonstruktion poetisch inszenierter und vielfach umbesetzter Geschlechterrollen als Teil einer Kulturgeschichte der Geschlechter geht (→ Minnesang in gender- und queertheoretischer Perspektive). Erotik wird in den Liedern als innerweltliches Heilsversprechen gefeiert, zugleich aber besonders in Altersliedern und → Kreuzliedern mit der Notwendigkeit, sich um sein Seelenheil zu kümmern und Gott zu dienen, konfrontiert.
Hohe Minne als Ausgangspunkt für Selbstreflexion: Radikalität der Ich-Perspektive In den seltensten Fällen begegnen uns direkte Werbelieder, zumeist wird in vermittelten Werbeliedern vor einem in den Texten adressierten Publikum über die Dame gesprochen. Diese Indirektheit der Werbung ist ein wichtiges Moment der Distanzierung, was den Freiraum für die Selbstthematisierung des Singens sowie für Minneund Selbstreflexion eröffnet. Häufig wird die Liebe zum Ausgangspunkt einer Zer-
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gliederung und Reflexion der eigenen Affekte und Gefühle des Sängers, was etwa bei Reinmar bis zu dem Punkt gehen kann, dass die Minnekonstellation und die Dame sich zum Gedankenspiel zu verflüchtigen drohen (vgl. etwa MF 162,7; MF 163,23; MF 165,10).20 Hinter dem amor tui tritt der amor sui hervor. Am luzidesten lässt sich dies an Heinrichs von Morungen Narzisslied (MF 145,1) erkennen. Über den Vergleich der Liebe des Sängers zur Dame mit einem Kind, das sich im Spiegel oder in der Quelle erblickt, wird die Beziehung von Ich und Du in der Anspielung auf den und zugleich der Abwandlung des Narzissmythos grundsätzlich in Frage gestellt, denn sie wird als Selbstprojektion entlarvt. Im Zentrum des Netzes von Bildern und Vergleichen, der Variation von Begehren im Imaginieren und Träumen, von Verletzen und Zerstören, welches das Lied aufbaut, steht der Sänger selbst. Ich, nicht Du, heißt das vielleicht wichtigste Wort des Hohen Minnesangs. Dementsprechend erscheint der Sang als zentral für die Geschichte der Reflexion auf das Ich. Gerade hier wird die Alterität der mittelalterlichen Literatur deutlich, denn das mittelalterliche Sprechen über das Ich in der Liebeslyrik lässt sich nicht kurzschließen mit neuzeitlicher Subjektivität und neuzeitlichen Inszenierungen des Bewusstseins.21 Dennoch ist seine Erforschung im Hinblick auf eine Rekonstruktion der Geschichte von Ich-Reflexion und Innerlichkeit im Sinne einer Archäologie des Wissens, die mit Brüchen und Disparitäten im Verlauf der Geschichte rechnet, höchst ergiebig. Das in der Poesie zu beobachtende, spezifisch literarische Nachdenken über das Ich, seine Affekte, Gefühle und Verstandeskräfte, unterscheidet sich zudem deutlich von zeitgenössischen theologischen und philosophischen Gedankengängen, doch ist es in seiner Eigenart nicht minder einschlägig für eine Geschichte des Bewusstseins und der Innerlichkeit.
4 Gegenseitige Liebe, erfüllte Liebe Der Nichterfüllung der Liebe in der aus männlicher Sicht gesprochenen Kanzone steht die Rede über die Erfüllung der Liebe im → Tagelied und bisweilen auch im → Frauenlied (vgl. dazu Abschnitt 7 unten) gegenüber. Das Frauenlied zeigt die Kehrseite der Projektionen des Männerliedes. Auch Tagelied und Kanzone sind als komplementär aufzufassen. Der Zusammenhang zeigt sich jedoch weniger in einer wie auch immer gearteten psychischen Ventilfunktion, die dem Tagelied in der älteren Forschung zugeschrieben wurde,22 sondern vielmehr in den dargestellten Affekten und Gefühlen. Dominiert in den Liedern der Hohen Minne zumeist die swære des Liebenden, die für jenen nur zu verkraften ist, wenn sie gelegentlich von Freude durchbrochen 20 Vgl. zu den genannten Liedern Hausmann 1999, 120–130, 138–148, 197–207; Kellner 2018, 106– 114, 395–416. 21 Anders Grubmüller 1986. 22 Vgl. dazu die Diskussion bei Cormeau 1992.
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wird, so zeigen die Tagelieder den Wechsel von Leid und Freude im Rhythmus von Tag und Nacht. Da zumeist auch im Tagelied die Trauer über den Abschied der Liebenden überwiegt, ist die im Tagelied und in der Kanzone dargestellte Gefühlskonstellation durchaus vergleichbar, Freude und Leid werden auf der Zeitachse jedoch unterschiedlich abgebildet. Wechselseitige Minne begegnet verstärkt im frühen Minnesang (vgl. z. B. → Kürenberger MF 7,1; Meinloh von Sevelingen MF 12,14; angedeutet auch bei Kaiser Heinrich MF 5,16), was nicht zuletzt mit dem hohen Anteil an Frauenstrophen zu tun hat, kehrt aber im Minnesang bis zum Ende des dreizehnten Jahrhunderts immer wieder (vgl. die Belege in Abschnitt 7 unten). Eheliche Liebe tritt punktuell in einem Tagelied Wolframs auf (MF 5,34) und ist insbesondere bei → Oswald von Wolkenstein von Relevanz.23 Gleichzeitig gibt es parodistische Darstellungen von Ehe, in denen Ehefrau und Minnedame nicht deckungsgleich zu sein scheinen (vgl. → Hadlaub SMS 7). Die vor allem als körperlich verstandene Liebe wird von Walther als Niedere Minne bezeichnet und von der Hohen Minne abgesetzt: Nidere minne heizet, diu sô swachet, | daz der muot nâch kranker liebe ringet (L 46,32, II, V. 1–2).24 Fälschlich hat die ältere Forschung Walthers Vorstellung von der herzeliebe (V. 8) als erfüllte wechselseitige partnerschaftliche Liebe verstanden.25 Im Zusammenhang damit wurde postuliert, dass der Sänger vor allem in der Gruppe der sogenannten ‚Mädchenlieder‘ (L 49,25; L 74,20 u. a.) das überspannte Ideal der Hohen Minne zugunsten der herzeliebe hinter sich gelassen habe. Dies und die Existenz der Subgattung der Mädchenlieder wird heute zu Recht in Frage gestellt.26 Allerdings weisen Walthers Kritik an den als überhêr bezeichneten überspannten frowen (L 48,12, II) sowie insbesondere das Lied Herzeliebez vrowelîn (L 49,25) mit der Passage: Swaz si sagen, ich bin dir holt | und nim dîn glesîn vingerlîn vür einer küneginne golt (IV, V. 5–6), und dem inszenierten Vorwurf des Publikums, Sî verwîzent mir, daz ich | zuo nider wende mînen sanc (II, V. 1–2), darauf hin, dass Walther seinen Sang ständisch geöffnet und damit um eine weitere Variante bereichert hat. Dies spiegelt sich auch in der Ambivalenz des Status der Frauenfigur etwa im Kranzlied (L 74,20) oder im Lindenlied (L 39,11). Insgesamt zeigt sich, dass die Einteilungen der Liedlyrik Walthers in Lieder der Hohen Minne, der Niederen Minne, Mädchenlieder und Lieder der neuen Hohen Minne (oder ähnliche Kategorisierungen) zu kurz greifen und verfälschen.
23 Die Gret vieler Liebeslieder Oswalds (vgl. bspw. Lied 33, 75) kann identifiziert werden als Margarete von Schwangau, mit der er ab ca. 1417 verheiratet war. 24 Walther-Zitate nach L/COR. 25 Kritisch zu diesen Forschungspositionen bereits Ranawake 1983; Kasten 1989a. 26 Vgl. zur Diskussion um die Mädchenlieder Walthers u. a.: Pretzel 1966; Masser 1989; Bennewitz 1989; Heinzle 1997.
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5 Reflexion von Wesen und Begriff der Minne Insbesondere im Hohen Sang findet sich eine intensive und komplexe Reflexion von Wesen und Begriff der Minne. Im Zuge der Abstrahierung des minne-Begriffs etabliert sich ein Diskurs über die Liebe und ihre Bezeichnungen, der bei Friedrich von Hausen bereits greifbar ist (MF 52,37, III) und sich bei Heinrich von Morungen fortsetzt (MF 131,25, IV).27 Im Zentrum dieser Diskussion stand schon immer Walthers Lied Saget mir ieman, waz ist minne? (L 69,1) respektive Kan mîn frouwe süeze siuren? (L 69,22). Der opinio communis der Forschung nach hat Walther hier mit der Hohen Minne gebrochen und sie in Richtung der wechselseitigen Liebe überschritten.28 Nach der Strophenfolge von EFO (O ohne die erste Strophe) räsoniert der Sprecher in den ersten beiden Strophen über die Minne und sucht den Konsens mit dem höfischen Publikum. Er stellt dem Publikum die Frage nach dem Wesen der Minne: Saget mir ieman, waz ist minne? (I, V. 1). Mit seiner Definition [m]inne ist minne, tuot sie wol (V. 5) legt der Sänger die Liebe allein auf ihre beglückende Dimension fest und konstatiert zugleich, dass eine Minne, die weh tut, nicht Minne heißen könne (V. 6–7). Eine zweite Definition der wahren Minne wiederholt das Moment der Beglückung, betont jedoch nun besonders den Aspekt der Gegenseitigkeit und gleichen Verteilung der Liebe auf zwei Herzen: minne ist zweier herzen wunne: | teilent sie gelîche, sô ist die minne dâ (II, V. 3–4).29 Indem im Verlauf des Liedes auch die Minnewerbung des Sängers ins Spiel kommt (ab II, V. 7) und der Redegestus sich vom spruchdichterlich räsonierenden Sprechen zum Reden aus der persönlichen Betroffenheit heraus ändert, wird das vorher Gesagte in ein neues Licht gerückt. Dabei wird deutlich, dass demjenigen, der von der Minne betroffen ist und der offenbar gerade keine glückhafte gegenseitige Liebe erfährt, die Argumente nichts nützen, die vorab vorgebracht worden sind. Logisch rationale Gedankengänge können das Wesen der Minne und ihren Begriff zwar analytisch fassen, doch sie ändern nichts an den Affekten und Emotionen, welche die Minne auslöst: Der Diskurs über die Minne ist das eine, das Leiden an der Minne ist das andere.30 Eben diese existentielle Betroffenheit durch die Hohe Minne stellt das Lied dem Diskurs über die Minne gegenüber. 27 Die Überlieferung der Strophe Sît si herzeliebe heizent minne, die in A die dritte, in B und C die vierte Strophe des Liedes MF 131,15 ist, unterscheidet sich insbesondere im Abgesang je nach Handschrift markant. MF bietet die A- und B-Version sowie einen diplomatischen Abdruck der C-Version. 28 Vgl. Wapnewski 1962, 229, 280; Bachofer 1963, 146; Borck 1975; Ehlert 1980, 151–170; Hahn 1992, 96–98; Nolte 1991, 289; Wenske 1994, 51–85; Strohschneider 2001, 67; Volfing 2004, 128– 130; Scholz 2005, 103–104. „Mit diesem Lied kehrt Walther in gewisser Weise zur unkomplizierten Liebesauffassung des früheren Minnesangs zurück, wie sie sich etwa beim Kürenberger ausgedrückt findet (MF 9,23–24: lieb unde leide daz teile ich sant dir) […]“ (Scholz 2005, 103). 29 Vgl. auch Walther, Bin ich dir unmære (L 50,19), IV nach C. Auf die lateinischen und romanischen Kontexte von Walthers Ideal der gegenseitigen Liebe hat Knapp 2007, 87–96, aufmerksam gemacht. 30 Wachinger 1989, 253–254, spricht trefflich von der Diskrepanz zwischen „Erfahrung“ und „Theorie“. Vgl. dazu auch Ranawake 1982, 14; Eikelmann 1988, 287–295; Steinmetz 2003, bes. 434.
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Aus der Perspektive des Minner-Ichs fallen die vermeintlichen Weisheiten des Sänger-Ichs in sich zusammen und überzeugen die Schlussfolgerungen nicht, weil es eben liebt. Damit führt das Lied performativ vor Augen, dass ein rationaler Diskurs über die Minne der Liebe selbst nicht beikommen kann. Minnediskurs und Minne werden in diesem Lied zwar verknüpft, aber logisch-argumentativ gerade auseinandergenommen. Das Sänger-Ich diskreditiert eine Minne, die nicht nur Freude, sondern auch Schmerz und Kummer einschließt, als absurd. Das Minner-Ich kann nicht anders, als ihr verhaftet zu bleiben. Von einer Verabschiedung des Sprechers von der Hohen Minne kann daher keine Rede sein. Vielmehr wird gegen die minnesangtypische Einheit der Sänger-Liebender-Rolle der Widerstreit der Ich-Instanzen von Sänger-Ich und Minner-Ich mit ihren jeweiligen Positionen und Anliegen vor Augen gestellt.31 Hervorzuheben sind auch die Einlassungen zum Wesen der Minne im Lied Herzeliebez vrowelîn (L 49,25), dem in der Forschung ebenfalls eine Schlüsselposition für Walthers Sang zugewiesen worden ist.32 Es beginnt mit einer innigen Liebeserklärung des Sängers, begibt sich davon ausgehend jedoch auf die Ebene der Begriffsreflexion und Minnetheorie. Der Sänger bezieht sich wahrscheinlich auf die aus der Antike überlieferte Güterlehre mit ihrer Dreiteilung des Guten33 und macht vor diesem Hintergrund klar, dass es in der Liebe vor allem auf die inneren Werte und nicht auf äußere Schönheit und Besitz ankommt. Im Anschluss an Walther finden sich im Minnesang des dreizehnten Jahrhunderts nur noch vereinzelt explizite Begriffsreflexionen (vgl. Ulrich von Liechtenstein KLD 28,4; Markgraf von Hohenburg KLD 6,4; Der Tugendhafte Schreiber KLD 5,5). Von besonderem Interesse ist ein Lied des Wilden Alexander (KLD 6),34 in dem die Minne selbst als Sprecherin auftritt und den Leid-Charakter ihres Wesens betont: dâ stêt an dem brieve mîn daz ich Minne niht enhieze, ob ich unversêret lieze zwei diu von einander sîn. (4, V. 5–8)35
Häufiger begegnet im dreizehnten Jahrhundert ein wortspielerischer Umgang mit der Begrifflichkeit, in dem die Aussagen über das Wesen von minne oder liebe mit lexikalischen Häufungen und Formkunst einhergehen (vgl. die Belege im Artikel → Formund Klangkunst).
31 Zu den Gewichtungen der C-Version siehe Strohschneider 2001. 32 Vgl. die Dokumentation der Forschung bei Kellner 2018, 431–436. 33 Vgl. Kuhn 1982, 70–89, bes. 72–73. 34 Vgl. zu diesem Lied Worstbrock 1996. 35 In C ist der Wortlaut von V. 8: zwei diu lieb einander sîn.
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6 Dörperminne Formen außerhöfischer Liebe im Dörpermilieu besingt Neidhart in seinen → Sommerund Winterliedern. In diesen Parodien auf die höfische Liebe werden nicht nur Sexualität sowie damit verbunden Entehrung und Schwangerschaft (vgl. etwa SL 7, SL 15, SL 18) offen angesprochen, sondern der höfische Verhaltenskodex wird insgesamt ins Groteske und Zotige verkehrt. Dementsprechend kann auch die Minnesituation umgedreht werden, indem Frauen um einen Ritter werben, der sich gegen andere Dörper als Rivalen durchzusetzen hat. Die Sommer- und Winterlieder Neidharts entwickeln dabei ihre eigene Spezifik. In einer Reihe von Winterliedern erscheint der zunächst von den Frauen begehrte Ritter nur noch als in der Liebe erfolglose, traurige Figur. Das Spektrum der in den Liedern auftretenden Personen erweitert sich gegenüber dem Hohen Sang nicht nur soziologisch um die Bauern, sondern auch typologisch. Neben die bekannten Frauenfiguren der vrouwe als Herrin (vgl. etwa SL 15, WL 7) und der maget (u. a. SL 8, SL 9, SL 14) treten Figuren wie die liebesgeile Alte (u. a. SL 1, SL 3), die Mutter und die Tochter (u. a. SL 2, SL 6, SL 23), die dierne im Sinne von Magd (WL 7,8), das dorfwîp (WL 4,2) und die meisterinne (u. a. SL 11). Während Namensnennungen im Hohen Sang tabu sind, erfolgt zudem eine scheinbare Konkretisierung des Personals über Namen wie zum Beispiel bei der immer wieder angesprochenen Vriderûn (u. a. WL 14, WL 22, WL 23; vgl. auch die Namensliste in SL 27,5 und 7). Nicht selten werden diesen Figuren höfische Attribute (z. B. stolziu magedîn, u. a. SL 16) zugeschrieben, was Brüche und Komik erzeugt. Tumulte, Gewalt und Prügelszenen treten bevorzugt in den Winterliedern auf, die etwa durch den Raum der Stube geprägt sind, während die Sommerlieder immer wieder Szenerien der freien Natur entfalten. Neben der stube finden sich auch weitere Angaben, die den außerhöfischen Raum kennzeichnen, wie stadel, strou, höi oder schiure. Neidharts gegenhöfischer Sang fand Nachahmer unter den späteren Sängern; sie griffen einzelne Motive auf und variierten sie weiter. Nicht selten wurden gerade diese Lieder, wo sie nicht den Schwerpunkt eines überlieferten Korpus bilden, von der älteren Forschung für unecht erklärt.36 Neben möglichen späteren Zuschreibungen ist jedoch auch damit zu rechnen, dass Variationen der Dörperminne ab Neidhart37 als konventionalisierte Bestandteile von Minnesang-Œuvres gelten konnten. So findet sich etwa bei Burkhard von Hohenfels ein Aufruf zum Wintertanz in der Stube mit erotischen Anspielungen (KLD 1) sowie bei Gottfried von Neifen die Rede einer jungen Mutter, die zum Sommertanz ze den linden aufbrechen will und eine Amme beauftragt, sie von ihrer swære zu befreien (KLD 50). Vielfach spielen die Lieder in der Tradition Neidharts dabei mit dem Vokabular der Hohen Minne und nutzen es für Umkehrungen und Parodien. Einen prominenten Platz nimmt die Versetzung der
36 Vgl. die eckig eingeklammerten Lieder in KLD, etwa bei Gottfried von Neifen. 37 Vgl. aber auch bereits die in MF für unecht erklärten Lieder im Reinmar-Korpus, 398–403.
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Liebeskonstellation ins Dörpermilieu besonders in den Korpora → Steinmars, Hadlaubs und Oswalds von Wolkenstein ein. Hier dient etwa die Tageliedsituation der Darstellung erotischer Szenen (vgl. bspw. Steinmar SMS 8; OSW 48).
7 Minne in Frauenstrophe, Frauenlied, Wechsel und Dialoglied Erst in der Komplementarität der subjektiven Genres von Männerlied und → Frauenlied wird deutlich, dass nicht nur dem männlichen Liebenden, sondern auch den Frauenrollen im Hohen Sang erotisches Begehren zugesprochen wird. Im deutschen Minnesang haben wir es allerdings nicht mit Strophen zu tun, die von Frauen verfasst wurden,38 vielmehr ist die Stimme der Frau, die als Ich-Sprecherin auftritt, eine von den männlichen Sängern geliehene.39 Da Frauen nur sagen können, was Männer ihnen in den Mund legen, ist es nicht nachvollziehbar, wenn in der Forschung behauptet wird, Frauen bekämen in diesen Liedern einen eigenen Spielraum, um ihre Liebesgefühle und inneren Konflikte im Horizont gesellschaftlicher Zwänge zu äußern.40 Während die männlichen Sänger in den Männerkanzonen häufig beklagen, dass ihnen das Innere der Frau nicht zugänglich sei (vgl. etwa Walther L 13,33), erlauben Frauenstrophen und Frauenlieder eine aus männlicher Perspektive vorgegebene Introspektion in Herz und Seele der Frau. Proportional ist das Verhältnis von Frauenstrophen zu Männerstrophen im frühen Sang besonders hoch. Bei Sängern wie dem Kürenberger (u. a. MF 8,1 und MF 8,17), Meinloh von Sevelingen (u. a. MF 14,26), dem Burggrafen von Regensburg (MF 16,1; MF 16,15, II), dem Burggrafen von Riedenburg (MF 18,1, I) oder Dietmar von Aist (u. a. MF 32,1) äußern die Frauenfiguren nicht nur recht unverhohlen und mitunter aggressiv (MF 8,1) ihr erotisches Begehren, sondern es findet sich auch der Dienstgedanke bezogen auf die Frau (vgl. den Burggrafen von Regensburg MF 16,1: Ich bin mit rehter stæte einem guoten rîter undertân). Während Frauen im frühen Minnesang recht häufig zu Wort kommen, dominiert im Hohen Sang zwar die Kanzone in der Perspektive des männlichen Liebenden, doch finden sich auch hier eine nicht zu unterschätzende Zahl von Frauenliedern und Frauenstrophen. Zum einen bestätigen diese die in den Männerliedern entwickelten Vorstellungen von der Kälte und Unnahbarkeit der Frau, doch gibt es auch Beispiele, die zeigen, dass die Damen durchaus selbst von Liebe erfüllt sind, ebenso brennend begehren wie die männlichen Werber und ihre Sehnsüchte äußern. Die Frauen, die 38 Im Romanischen dagegen finden wir bekanntlich männliche und weibliche Verfasser von Frauenliedern. 39 Vielfach ist es schwierig zu entscheiden, ob eine Männer- oder eine Frauenstrophe vorliegt. Vgl. dazu vor allem Cramer 2000. 40 Vgl. etwa Jackson 1981, 335; vgl. dazu Hoffmann 1986, 28; Kasten 1990, bes. 22; Hausmann 1999, 225.
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hier sprechen, wirken liebesbereit und ungeduldig, erbitten Nachrichten von ihren Geliebten und wollen jenen Nachrichten senden. Sie geben sich gerade nicht als die über allem stehenden unnahbaren und abgeklärten Wesen zu erkennen, als die sie in den Männerkanzonen besungen werden. Häufig zeigen sich die weiblichen Personen in Frauenliedern und Frauenstrophen in der Spannung zwischen Begehren und Versagen, Sagenwollen und nicht Sagenkönnen, was nicht selten in die Darstellung von Erstarrung und Bewegungslosigkeit und wie bei den Männern in performative Widersprüche führt. Symptomatisch hierfür sind die beiden Reinmar-Lieder Sage, daz ich dirs iemer lône (MF 177,10) und Lieber bote, nu wirp alsô (MF 178,1).41 Höfische zuht auf der einen Seite und Verlangen nach Liebe auf der anderen Seite treiben die Frauenfigur hier in ein Dilemma, in dem sie zwischen êre und minne zerrissen erscheint. Der Vollzug der Liebe wird dabei nicht durch äußere Instanzen der huote, durch Neider, Feinde und falsche Freunde, verhindert, denn die Dame hat die höfischen Normen und Werte internalisiert. In den Reden zu einem Boten, der als Vermittlungsinstanz eingeführt wird (ohne diese Rolle tatsächlich auszuführen), verstrickt sie sich daher wie der Liebende in den Männerliedern Reinmars in der Widersprüchlichkeit ihres eigenen Wollens: Ihren erotischen Begierden steht ihr eigener Wunsch entgegen, den hohen ethischen Anforderungen an weibliche stæte und mâze gerecht zu werden. Die Verinnerlichung moralischer Ansprüche durch die Frau erscheint komplementär zur Verinnerlichung des Dienstethos, welche der männliche Werber und Sänger in den Männerliedern besonders Reinmars zum Ausdruck bringt. Daneben findet sich in Frauenstrophen jedoch auch die recht unverhohlene Ausstellung von Erotik: So bringt die Dame in Reinmars Wechsel Si koment underwîlent her (MF 151,1)42 zum Beispiel nicht nur ihre Liebe zum Ausdruck, sondern es wird auch deutlich, dass es in der Vergangenheit bereits zu beglückenden Erfahrungen in der Liebe mit dem Werber gekommen ist.43 Zugleich verkündet sie, dass sie den Liebenden künftig so in ihr Bett legen möchte, dass es selbst der Kaiser schätzen würde: ich sage ime liebiu maere, daz ich in gelege alsô, mich dûhte vil, ob ez der keiser waere. (IV, V. 6–8; vgl. dazu auch Reinmar MF 152,15) 41 Vgl. zu den beiden Liedern etwa Jackson 1981, 251–266; Kasten 1987; Kasten 1993; Köhler 1997, 202–205; Hausmann 1999, 207–223; Schnell 1999, 137, 144–145; Obermaier 2000 [1990], 34–36; Schmid 2000 [1990], 57; Haferland 2006, 368–389; Boll 2007, 70–72, 411–422; Brüggen 2008; Egidi 2011, 120–124; Hausmann 2011, 171–175; Kellner 2018, 150–160. 42 Vgl. zu diesem Lied besonders Jackson 1981, 196–210; Köhler 1997, 178–182; Hausmann 1999, 101–110, 117–119; Boll 2007, 377–382; Kellner 2018, 132–136. 43 Wenn der Wechsel in toto als frühminnesängerisch eingestuft wird (vgl. etwa Jackson 1981, 206– 210; Köhler 1997, 181–182), wird postuliert, dass es ein Sprechen über sexuell erfüllte Liebe im Hohen Sang nicht geben könne. Damit liegt eine petitio principii vor, die nur in Zirkelschlüsse führen kann, denn diese These verkennt, dass es auf die Gattung und den Modus des Sprechens ankommt. Vgl. dazu Hausmann 1999, 103–110.
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In Reinmars Wechsel War kan iuwer schoener lîp (MF 195,37)44 imaginiert die Sprecherin überdies, wie sie ihrem Geliebten vorschlägt, gemeinsam auf der Heide Blumen brechen zu gehen. In der Sicht dieser Frauenfigur stellt die erfüllte körperliche Liebe den Grund und Nährboden ihrer Schönheit und ihr Lebenselixier dar (vgl. zur Äußerung von Liebesfreuden aus dem Mund der Dame auch Reinmar MF 203,10). Das kunstvoll schlichte Lindenlied Walthers von der Vogelweide (L 39,11), das seine Rezipienten bis heute in den Bann schlägt45 und für das es angefangen mit Walthers Selbstzitaten (etwa in L 74,20) und Hadlaubs Blumenbettliedern in Mittelalter und Neuzeit eine ganze Reihe von Rezeptionszeugnissen gibt,46 ist prima vista ein Frauenlied, das die Vorstellung einer Unmittelbarkeit der Liebe hervorruft. Es erzeugt eine Wirkung, als könnten Hörer und Leser das Erlebnis der Liebe, von der die Frau aus ihrer Erinnerung heraus spricht, umstandslos nachempfinden. Insofern kommt es den neuzeitlichen Erwartungen an eine Liebesdichtung als Erlebnislyrik scheinbar recht nahe. Man hat das Lied dementsprechend fälschlich im Zentrum jener Lieder angesiedelt, mit denen Walther von der Vogelweide im deutlichen Gegensatz zu seinem Antipoden Reinmar das starre Konzept der Hohen Minne in Richtung von herzeliebe und wechselseitig erfüllter Minne aufbreche.47 Ordnet man es in die Tradition der Frauenlieder ein, ergibt sich eine andere Perspektive, denn dass eine Frau in dieser Gattung von erfüllter Liebe spricht, stellt keine absolute Ausnahme dar. Im WaltherKorpus sind darüber hinaus besonders die Dialoglieder von Interesse, in denen männliche und weibliche Sprecher im Unterschied zum Wechsel unmittelbar miteinander kommunizieren.48 Das Lied Genâde, frouwe, alsô bescheidenlîche (L 70,22), in dem sich Männer- und Frauenrede konsequent abwechseln, kreist gegen alle Beteuerungen von stæte und triuwe in den Werbungskanzonen um die Frage der männlichen Freiheit und Untreue in Liebesdingen (→ Dialoglied – Wechsel – Botenlied). Das Spektrum der Haltungen, welche die Dame in Frauenstrophen zum Ausdruck bringt, reicht insgesamt von der Abwehr der Minne und ihrer Gleichsetzung mit Verderben und Tod über das Bekenntnis der Liebe, das monologisierend vor dem Publikum, aber auch im Dialog mit dem Boten zur Schau gestellt wird, bis hin zum Eingeständnis der gegenseitigen Liebe und zu Hinweisen auf den Liebesakt. In immer neuen Facetten zeigen die Frauenlieder auch, welche Wirkung die Werbung und vor allem auch der Sang ‚tatsächlich‘ auf die Frau haben. Ihrer Inszenierung nach ermög44 Das Lied wurde Reinmar in der älteren Forschung abgesprochen. Vgl. den Überblick über die ältere Forschung bei Kasten 1995, 896. Vgl. dazu Jackson 1981, 280–283; Tervooren 1991, 107–114; Kellner 2018, 145–148. 45 Die umfangreiche ältere Forschungsliteratur zu diesem Lied ist zitiert bei J.-D. Müller 2007, 291– 302, 305; U. Müller 2007, 82–83; Jacobs 2009; Köbele 2009, 294–296; Mertens 2009, 66–75; Brunner 2010, 201–206; Kellner 2018 173–183. 46 Vgl. Müller 1983; Mertens 2009, 63–75. 47 Vgl. zu solchen Einordnungen, die sich noch in jüngeren Forschungsbeiträgen wie bei Jacobs 2009 finden, bereits Sievert 1990, 93–106; Sievert 1993, 140–141. 48 Vgl. Kasten 1989b, 81–93.
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lichen sie also nicht nur die Introspektion in das Affektleben der Frau, sondern sie spiegeln auch die Rezeption der Männerlieder. Als exemplarische Adressatin seines Sangs bietet die Dame dem Sänger ein Medium, durch das er sich unverhohlen loben kann, ohne dem Vorwurf des unhöfischen Eigenlobs (sich rüemen) anheimzufallen. Aus dem Frauenlob der Männerlieder wird solchermaßen das Männerlob der Frauenlieder. Die Frauenlieder des Hohen Sangs sind nicht als überschüssige Reste des donauländischen Sangs zu denken, die mehr oder weniger gut zu dem passen, was den vermeintlichen Kern des Hohen Sangs ausmacht. Vielmehr zeigt sich in den Frauenliedern eine besondere Vielfalt der Minnevorstellungen und Minnekonzepte. Diese ist auch im Horizont der europäischen Kontexte zu perspektivieren. In den Frauenliedern der Romania geht die Aggressivität, mit der die Frauen ihren Geliebten für sich reklamieren, die Art und Weise, wie sie ihn immer wieder auch gegen den ungeliebten Ehemann ausspielen oder mit Gewaltphantasien, die zum Teil drastisch anmuten, gewinnen und gegen Rivalinnen verteidigen wollen, über die Darstellungen in den meisten deutschen Liedern weit hinaus.49
II Semantische Felder 1 Minnesang als Kunst der Wiederholung und Variation: Lexikalische Armut, semantische Fülle Die Variation der beschriebenen Minnekonzepte ist konstitutiv für den deutschen Minnesang. Wiederholungsstrukturen auf allen Ebenen kennzeichnen vor allem die stark formalisierten Kunstformen des Hohen und späten Sangs einschließlich seiner gegenhöfischen Parodien. Als besonders charakteristisch für den Hohen Sang kann seine ‚lexikalische Armut‘ gelten,50 seine Neigung zur Abstraktion, die damit korrespondierende weitgehende Ereignislosigkeit, die Aussparung von Namen und historischen Referenzen.51 Die Thematik der Lieder konstituiert sich über einen insgesamt extrem schmalen Bestand an semantischen Isotopien, den Rainer Warning gültig als Liebe, Gesang, Freude, Schmerz, Schönheit, Güte und Dienst umrissen hat.52 Zentrale Lexeme wie vröide, swære, hôher muot, triuwe, stæte, fuoge, mâze und tugent bleiben denotativ unterbestimmt. Leitbegriffe und Ideale changieren häufig zwischen ethischen und ästhetischen, gesellschaftlichen und individuellen Bedeutungen. Es 49 Vgl. das reiche Material bei: RF; FdM; Cramer u. a. 2000. 50 Vgl. Warning 1997 [1979], 58–69. 51 Im späten Sang verändert sich dies bekanntlich, wie man an Neidhart ebenso ablesen kann wie an Oswald von Wolkenstein. 52 Vgl. Warning 1997 [1979], 58. Zur Vorstellung von ‚semantischen Isotopien‘ vgl. Greimas 1983 [1966], 78–115.
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kommt weniger auf die Denotation der Begriffe an als auf ihre Konnotation. Nur indem man die jeweilige Dynamik der Leitbegriffe in den Liedern verfolgt, kann man ihre Konnotationen erschließen. Insgesamt steht der auf denotativer Ebene gegebenen lexikalischen Armut der Lieder eine große semantische Fülle durch den konnotativen Reichtum der Begriffe gegenüber. Der Sänger stellt seine Kunst in der Variation der genannten Leitbegriffe und dessen, was auch andere über Minne sagen, unter Beweis: Minnesang als Kunstform besteht in der Spannung von Wiederholung und Variation. Der Text des Einzelliedes erschließt sich erst in der engen strukturellen wie lexikalischen Bindung an die anderen Lieder, die ihn über gleichzeitige Momente der variatio der gleichen semantischen Isotopien als semiotische und semantische Differenzleistung zu erkennen gibt. In der Variation konkurriert der Sänger mit seinen Rivalen, hier gewinnt er die Spielräume für das Exponieren der eigenen Kunstfertigkeit. Kennzeichnend für die Leitbegriffe des Minnesangs ist zudem ihre doppelte Wertigkeit. Erstens stellen sie das Grundvokabular der Liebesdeskription und Liebesreflexion dar, zweitens erfolgt über die Minnethematik eine Betrachtung der höfischen Gesellschaft.53
2 Minnesang und gesellschaftliche Semantik Die Beurteilung des gesellschaftlichen Zustandes, Lob und Tadel, Kritik und Polemik werden an die Situation der Werbung des Minners um eine Dame gebunden. Frauenpreis und Minneklage werden so zum Ausgangspunkt für eine Diskussion von höfischen Normen und Werten. Das Ich, das in den Liedern spricht, räsoniert darüber, was die höfische Konsoziation zusammenhält, stabilisiert oder gefährdet. Der Sänger macht der höfischen Gesellschaft Angebote zur Orientierung und Sinnbildung, indem verschiedene Vorstellungen, Konzepte und Begriffe von Minne, aber auch ethischnormative Standpunkte entfaltet und durchgespielt werden. Tugent im Sinne von Vortrefflichkeit, im Einzelnen vor allem stæte, triuwe und güete, zuht und mâze, aber auch scheiden als Form der ethisch-moralischen Urteilskraft sind die ethisch-normativen Leitvorstellungen, die in der Minnereflexion immer wieder zum Thema werden. Der Sänger und Liebende verschreibt sich der tugent und will auch die Minnedame und die höfische Gesellschaft darauf verpflichten. Dennoch muss er immer wieder konstatieren, dass die Ideale nicht erreicht werden. Auf der Zeitachse betrachtet, kann dieses Nicht-Erreichen als ein ‚noch nicht‘ oder ein ‚nicht mehr‘ konzipiert sein. Im einen Fall wird eine Vision für die Zukunft entworfen, im anderen der Verlust einer besseren Vergangenheit im Sinne einer laudatio temporis acti bedauert. Häufig wird die höfische Gesellschaft daher nicht in ihrer Idealität dargestellt, sondern als ethisch-moralisch defizitär gekennzeichnet. Neid, Missgunst und 53 Grundlegend dazu Warning 1997 [1979] sowie die Aufsätze in Müller 2001, darin besonders: Müller 2001 [1994], 107‒128.
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Prahlerei werden ebenso angeprangert wie übertriebener Stolz, Hartherzigkeit, Feindseligkeit und die Unfähigkeit zur Urteilsbildung. Der Sänger berichtet von Angriffen auf seine Person, gibt sich gekränkt, droht mit Abbruch des Singens, Verstummen und dauerhaftem Schweigen, verteidigt sich und holt zum Gegenangriff gegen die Damen und das Publikum, gegen Rivalen in der Werbung und Konkurrenten im Sang aus (vgl. etwa Walther von der Vogelweide L 48,12). Nicht selten wird das Bild einer Welt gezeichnet, in der die vielen Verwerflichen und Nichtsnutzigen Anerkennung finden, während die wenigen Vortrefflichen missachtet werden (vgl. etwa Heinrich von Rugge MF 108,22; Reinmar MF 150,10, III). Im Zusammenhang mit dieser Semantik des Sangs beanspruchen die Sänger, in der höfischen Gesellschaft ihrem Wert entsprechend geachtet zu werden (vgl. etwa Heinrich von Morungen MF 133,13, II). Schließlich wollen sie mit ihrem Sang zu einer ethisch-moralischen Wende der Gesellschaft beitragen. In welchem Maße die Semantik von Dienst und Lohn, die in der romanischen und deutschen Liebeslyrik äußerst breit entfaltet wird, im Rekurs auf Rituale und Begrifflichkeiten des Lehnswesens erfolgt ist, wurde seit dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts diskutiert. Im Lichte neuerer Forschungen zum Lehnswesen hat sich in der rezenten romanistischen Forschung mehr und mehr die Ansicht durchgesetzt, dass die mit Servilitätsbeteuerungen verbundenen Bitten um Lohn bei Trobadors und Trouvères zwar vielleicht in Einzelfällen von feudalen Riten abgeleitet sein könnten, insgesamt aber auf ein wesentlich breiteres Spektrum von auch lokal unterschiedlich ausgeprägten Rechtstraditionen, gesellschaftlichen Praktiken und Vertragsmodalitäten sowie personalen Verbindungen zu beziehen seien.54 Auch im Blick auf die Verbindung des deutschen Minnesangs mit gesellschaftlichen Semantiken ist man heute zu der Überzeugung gelangt, den wesentlich weiteren Kontext des mittelalterlichen Rechts und des gesellschaftlichen Ritualhandelns berücksichtigen zu müssen (→ Sozialgeschichte als Forschungsparadigma).55
3 Minnesang und religiöse Semantik Bei der Entwicklung und Nuancierung der Sprache der Liebe ist in vielen Liedern zudem die Verknüpfung mit religiöser Semantik zu greifen (→ Religiöse Semantiken). Häufig erfolgt die Darstellung der Minne in Anlehnung an religiöse Vorstellungen, wodurch es zu komplexen Prozessen der Übertragung und Umbesetzung zwischen religiösem und literarischem Sprechen kommt.56 Da der Erfolg in der Liebe über Wohl und Wehe des Minners und Sängers entscheidet, erscheint die höfische Liebe als Weg zum Heil und als eigentliches Ziel seines Lebens. Durch die assoziative Aneig54 Vgl. zur Debatte mit umfassender Dokumentation der Forschungsliteratur Peters 2015. 55 Peters 2015, 659. 56 Siehe zum gesamten Horizont besonders: Huber u. a. 2000; Strohschneider 2009.
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nung religiös und kosmologisch konnotierter Metaphern, Symbole und Analogien wird die Dame erhöht und mitunter in die Nähe der Gottesmutter gerückt.57 Bei aller Verbindung mit religiöser Semantik ist evident, dass der christliche Heilsbegriff im Minnesang durch einen erotisch-innerweltlichen ersetzt wird. Insgesamt entsteht ein sehr bemerkenswertes Geflecht von religiöser und erotischer Semantik – eine Symbiose, die jederzeit auseinanderbrechen kann. In der Forschung hat man in Bezug auf die Verbindung von religiösen und gesellschaftlichen Semantiken mit der Idee der finʼamors von „konnotative[r] Ausbeutung“ gesprochen, um die beschriebenen Konstellationen semiotisch fassen zu können.58 Um das Geben und Nehmen zwischen religiöser Literatur und weltlicher Liebesdichtung und noch allgemeiner zwischen literarischen und gesellschaftlichen Semantiken beschreiben zu können, hat man auch den Begriff der ‚symbiotischen Bereicherung‘ geprägt.59
4 Semantische Isotopien des Sangs Leid, Freude und hôher muot Da die Liebe des Sängers zur vollkommenen Dame in der Hohen Minne allermeist als unerfüllt dargestellt wird, dominiert in der überwiegenden Zahl der Kanzonen das Leiden des Werbers. Es wird über die Begriffe von swære, leit, nôt, riuwe, kumber, arebeit variationsreich formuliert. Der ästhetische Ausdruck dieses Leidens ist die Klage. Ihr Thema sind einerseits Gefangensein und Verharren im endlosen Leid, doch andererseits auch Strategien der Leidbewältigung. Immer wieder zeigt sich in den Liedern der Hohen Minne, wie sich das Augenmerk vom Preis der Dame auf die Reflexion der eigenen Gemütslage des Sängers verschiebt. Der Sänger zeigt, wie er über die Modulation und Beherrschung der eigenen Affekte – auch unabhängig von einer Erfüllung der Liebe – den Weg zum Ziel eines höfisch vorbildlichen Lebens beschreiten kann. Gegenläufig zur vordergründig inszenierten Unterlegenheit und Unterwerfung unter die Herrin im Dienst, vermag der Sänger sich durch die gedankliche Bearbeitung seiner Affekte und Gefühle und die damit verbundene Selbstreflexion ihr gegenüber zu behaupten. Wie bei keinem anderen Sänger werden trûren und Klage bei Reinmar kultiviert. In der Forschung hat man von ihm daher als „Scholastiker der unglücklichen Liebe“60 und „Meister des ‚schönen Schmerzes‘“ gesprochen61 und seinem Sang bescheinigt, 57 Vgl. bereits Kesting 1965. Vgl. mit Blick auf die späte Minnelyrik Frauenlobs die Überlegungen bei Köbele 2003, 217–249. 58 Warning 1997 [1979], 65. 59 Köbele 2000, 231. Vgl. ausführlicher zum Thema den Artikel → Religiöse Semantiken. 60 So Ludwig Uhland, vgl. Stange 1977, 23–24. 61 Vgl. Kasten 1986, 310–11.
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er sei Ausdruck einer ‚Poetik des trûrens‘.62 Dass die Stilisierung zum idealen Sänger der Hohen Minne, der sich in Enthaltung übe, nach ethischer Vervollkommnung strebe und den Zustand der unerfüllten Liebe geduldig hinnehme, eine Verengung und Reduktion des vielfältigen Œuvres von Reinmar darstellt, hat die neuere Forschung inzwischen erwiesen.63 Die Haltung des Trauerns wird in Reinmars Liedern als besondere höfische Leistung dargestellt und positiviert, mag der mit dem Dienst verbundene Kummer auch noch so tief sein. Im Dienst selbst liegt bereits eine Form der Befriedigung, die dem Sänger trotz aller swaere Freude und hôhen muot verheißt. Zudem trägt der Sang auch im Modus der Klage zur höfischen Freude und zum hôhen muot der anderen bei. Dieser sublimen Konstellation entsprechend finden sich in den Liedern immer wieder komplexe Umwertungen von Trauer und Freude, Schmerz und Wohlbefinden, die mit fein abgestuften Differenzierungen, Steigerungen und Nuancierungen dieser Affekte verbunden sind (vgl. besonders MF 170,1; MF 170,36; MF 175,1). Paradigmatisch kommt dies in Reinmars Lied Mich hoehet, daz mich lange hoehen sol (MF 163,23) zum Ausdruck. Das in den Handschriften bCAE mit unterschiedlicher Strophenzahl überlieferte Lied macht über die Vorstellung des Erhöhens deutlich, dass es der eigene Sang, die eigene Rede, ist, die erhebt. Zentral für das Lied sind die Verse, die wörtlich an die Strophe Des einen und dekeines mê (MF 162,7, V) erinnern: wan daz ich leit mit zühten trage, | in kunde niemer sîn genesen (MF 163,23, III nach bC, V. 3–4).64 Deutlich wird hier, dass in der Strategie des Sängers, sein Leid mit höfischer zuht zu ertragen, das eigentliche Heilmittel für seinen Schmerz gesehen wird. Zugleich wird der in den Liedern Reinmars immer wieder geäußerte Gedanke variiert, die höfische Gesellschaft würde der Klagen des Sängers überdrüssig. Im Blick darauf gibt der Sänger zu verstehen, dass er sich auch um des Publikums willen zu einer Haltung der Freude durchringen kann. Diese wiederum ist die Voraussetzung dafür, mit dem Sang zur höfischen Freude und dem hôhen muot der höfischen Gesellschaft beitragen zu können. Das Auseinandertreten von Affekt und Ausdruck bringt dem Sänger allerdings den in verschiedenen Liedern thematisierten Vorwurf der Unaufrichtigkeit ein, gegen den er die Authentizität seiner Liebe und seines Sangs verteidigen muss (vgl. prägnant MF 165,10). Obgleich vor allem im Hohen Sang in der überwiegenden Zahl der Kanzonen die Affektkonstellation der Dysphorie im Zentrum steht, finden sich sowohl im Romanischen65 wie im Deutschen aber auch Texte, die gegenläufig dazu vor allem von der
62 Bertau 1972, 749. 63 Siehe dazu Tervooren 1986; Tervooren 1991; Hausmann 1999; Kellner 2018. 64 Vgl. auch die folgende vierte Strophe aus dem Reinmar-Lied Mir ist ein nôt (MF 169,9): Wol den ougen, diu sô welen kunden, | und dem herzen, daz mir riet | an ein wîp; diu hât sich underwunden | guoter dinge und anders niet. | Swaz ich durch si lîden sol, | daz ist kumber, den ich harte gerne dol. 65 Vgl. z. B. Bernart de Ventadorn, Lonc tems a qu’eu no chantei mai (vgl. den Text in der Ausg. Felbeck und Kramer 2008, 136–143).
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Freude sprechen und von der Freude ausgehen. Auf den ersten Blick brechen sie mit der Erwartung, die man an ein Lied der Hohen Minne hat, doch bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als eine weitere Variation der vielschichtigen Verbindungen von Freude- und Leidsemantik. Im Blick auf die Semantik des hôhen muots und der vröide sind grundsätzlich folgende Aspekte zu unterscheiden: Zum einen geht es um die vröide des Liebenden, die durch das Wohlwollen der umworbenen Dame erreicht werden kann. Diese soll dazu bewegt werden, den Liebenden in den Zustand des hôhen muots zu versetzen. Der Affekt der Freude ist zunächst also Ziel der individuellen Minnewerbung. Zum anderen will der Sänger mit seinem Sang zur vröide in der höfischen Gesellschaft beitragen, denn der Zustand der vröide wird als gesellschaftliches Ziel und Ausdruck höfischer Idealität gesehen. Befindet sich die Gesellschaft im Zustand der Freude, heißt dies zum einen, dass ethisch-moralische Werte und Leitvorstellungen realisiert sind. Zum anderen bedeutet es aus der Perspektive der Minnesänger auch, dass dem höfischen Sang adäquate Geltung in der Gesellschaft zukommt. Vröide fungiert als Scharnier zwischen individuellen Interessen und individuellem Begehren sowie gesellschaftlichen Ansprüchen und Idealen. In kaum zu überbietender Weise bringt Heinrich von Morungen im Lied In sô hôher swebender wunne (MF 125,19) die Freude des Liebenden und Sängers zum Ausdruck. Das Lied setzt mit einem wahren Freudentaumel des Liebenden ein, der in einer Raumsemantik der Höhe entfaltet wird.66 Im trôst der Dame (I, V. 5–7), dem wunniclîchen maere (III, V. 1), liegt für den Liebenden eine Quelle der Kraft, durch die es ihm nicht nur möglich wird, im Minnedienst auszuharren, sondern durch die seine Stimmung als hochsteigende und schwebende Wonne (V. 1) vor Augen gestellt wird.67 Das Lied akzentuiert, dass sich der Liebende im hôhen muot befindet, und diese Freude soll sich im Kosmos spiegeln (II). Die Freude bleibt dabei nicht abstrakt, sondern sie manifestiert sich in körperlichen Reaktionen: Überbordend steigt sie aus dem Herzen in die Augen und ergießt sich als Tau, der aus den Augen dringt (III, V. 6–7). Die Bewegung des Eindringens und Herabsinkens der Botschaft der Dame wird hier in der Bewegung des nach außen Strömens der Tränen umgekehrt. Die zahlreichen Verben der Bewegung vom varn und vliegen in der ersten Strophe bis hin zum Sinken, Entspringen und Dringen der dritten Strophe bringen die emotionalen Regungen des Minners immer wieder zum Ausdruck. Besonders die vierte Strophe des Liedes zeigt die Nähe der Sprache der Liebe zur geistlichen Poesie (vgl. zur Freudethematik bei Morungen auch MF 143,4). Dass sich Lieder und Strophen, die momenthafter Freude Ausdruck verleihen, auch bei mehreren weiteren Sängern finden (vgl. etwa Heinrich von Rugge MF 103,3; Reinmar MF 168,30; MF 182,14; Walther L 118,24; Der Düring KLD 5), verdeutlicht das dynamische Verhältnis von Leid und Freude im Minnesang. Weder führt die Liebe
66 Vgl. zu dieser Raumsemantik Fuchs-Jolie 2007, 35–37. 67 Tubach 1969, 201–202; vgl. Kellner 2015, 166–172.
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immer zu Trauer, wenn Beweggründe und Motivation des Liebens im Vordergrund stehen. Noch liegt dort, wo von Freude durch Liebe die Rede ist, zwingend ein Gegenentwurf zur unerfüllten Liebe vor. Vielmehr fokussieren die Texte mit der Leid bewirkenden Ausweglosigkeit des Minnedienstes auf der einen und den Freude auslösenden Beweggründen des Liebens auf der anderen Seite unterschiedliche Aspekte der Minne, die sich komplementär zueinander verhalten.
Beständigkeit und Treue in der Liebe Die Sänger stilisieren ihren Dienst in der Liebe insbesondere seit dem Hohen Minnesang nach den ethischen Idealen von Treue und Beständigkeit, triuwe und stæte, worin ihre Vortrefflichkeit, tugent, im besonderen Maße zum Ausdruck kommen soll. Zur triuwe gehört die Ausschließlichkeit der Bindung an die geliebte Dame, an der unter allen Umständen festgehalten wird. Auch wenn die Dame den Liebenden nicht erhört und sich als hartherzig und unzugänglich erweist, will der Liebende ihr sein Leben lang in unverbrüchlicher triuwe verbunden bleiben. Das Festhalten an der triuwe kann in Metaphern des Herzenstausches gefasst werden, sich in einer nach außen abgeschirmten inneren Gemeinschaft von Liebendem und Dame im Herzen ausdrücken (vgl. etwa Heinrich von Morungen MF 124,32; Ulrich von Liechtenstein KLD 36,4) und bis zur inszenierten Selbstaufgabe des männlichen Liebenden gehen (vgl. etwa Reinmar MF 158,1, III). Gegenläufig zu den omnipräsenten Treuebekundungen gibt es jedoch auch vereinzelte Hinweise auf eine mögliche Aufkündigung des Dienstes sowie auf eine etwaige Wahl anderer Damen durch den Sänger (vgl. etwa Walther L 52,23). Obgleich es die Subgattung der chanson de change im Hohen Minnesang nicht gibt, zeigen doch insbesondere Frauenstrophen und Frauenlieder, dass mit der Möglichkeit der Untreue auf Seiten der Männer immer wieder gerechnet wird (vgl. etwa Reinmar MF 177,10, V; Walther L 70,22, II). Während der eifersüchtige Ehemann (gilos) die Treuebindung der Liebenden in romanischen Liedern stört, spielt ein möglicher Ehemann im frühen und Hohen deutschen Minnesang keine Rolle, es bleibt vielmehr allermeist im Unklaren, ob es sich bei der Geliebten um eine verheiratete Frau handelt. Über die Leitvorstellung der stæte kommt die zeitliche Dimension der triuwe zum Ausdruck. Die stæte grundiert die Minnebindung und garantiert Kontinuität. Als Zentralbegriff der Hohen Minne wird sie in vielen Liedern als notwendige Bedingung des Dienstes vorausgesetzt (vgl. etwa Rudolf von Fenis MF 80,25, III; Bernger von Horheim MF 112,1, II; Heinrich von Morungen MF 136,1, II). Das Dienstethos des Hohen Sangs kann aber auch über den Begriff der stæte zergliedert, problematisiert und distanziert werden. → Hartmann von Aue stilisiert sich in seinem dreistrophigen Lied Der mit gelüke trûric ist (MF 211,27) als unschlagbarer Meister der stæte. Besonders die ältere Forschung hat postuliert, dass stæte hier geradezu lehrhaft vermittelt wird, denn vordergründig gibt das Lied Anweisungen, wie man im Minnedienst durch
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Beständigkeit reüssieren kann.68 Dagegen lässt sich das Lied auch als Persiflage der stæte verstehen,69 denn indem der Sprecher erläutert, wie er nach seinem Misserfolg in der Werbung seine Unbeständigkeit aufgibt, sich zur stæte bekehrt und eine neue Werbung bei einer anderen Dame beginnt, führt er selbst seine Unbeständigkeit performativ vor Augen. Im Rahmen seiner Minneklagen hinterfragt auch Reinmar die stæte, obgleich er sie wie kein anderer Sänger zelebriert. Im Lied Als ich mich versinnen kan (MF 172,23) wird die stæte in der dritten Strophe zum Thema gemacht, wobei die persönliche Treue des Sprechers in Relation zum absoluten Wert der stæte tritt. Die ‚stæte an und für sich‘ wird als unberechenbar entlarvt, sie nimmt in der personifizierenden Darstellung Reinmars Züge der Fortuna oder der Frau Sælde an, die ihre Gaben willkürlich verteilt. Ist Stæte ihrem Wesen nach Beständigkeit, so wird sie hier mit Unbeständigkeit und Wankelmut konnotiert und auf diese Weise als Wert destruiert. Sie spielt mit den Menschen und sie spielt auch mit dem Sprecher, der sich ihr seit eh und je in unverbrüchlicher Treue verschrieben hat (V. 1–4). Obgleich der Sänger im Lied erwägt, seine Beständigkeit aufzugeben (V. 5), unterwirft er sich letztlich weiterhin dem Treiben der Stæte (vgl. auch Reinmars Auseinandersetzung mit der stæte in MF 162,7). Walther von der Vogelweide übersteigert die bei Reinmar angelegten Reflexionen noch in der persiflierenden Personifikation einer frô Stæte, die den Minner in ihrer Beständigkeit gefangen hält (L 96,29).70 Sein Lied über die stæte71 umkreist den Begriff in spruchdichterlicher Manier, bringt aber zugleich individuelle Erfahrungen des Sängers aus dem Minnedienst ein. Unterschieden werden neben dem Abstraktum stæte (I, V. 1), das auch als frô Stæte (V. 7) personifiziert wird, die gelebte stæte des Liebenden (V. 4–6) und die stæte der Dame, durch die er Leid erfährt (V. 9). Die Unterordnung des Minners unter die frouwe und frô Stæte im Zeichen seiner stæte und die Abwendung der Dame vom Minner als Ausdruck ihrer stæte vergegenwärtigen die Spannung der Minnebindung und spiegeln in geradezu parodistischer Hyberbolik das Ethos der Hohen Minne. Der Sänger entlarvt die Absurdität eines Dienstes, dem er gerade aufgrund seiner stæte nicht entrinnen kann. Was bleibt, ist nicht nur der Dienst, sondern auch das Ausüben der stæte im stæten Singen.
68 Vgl. Blattmann 1968, 125–129, 206–208; so auch Cormeau und Störmer 2007, 85–86. 69 Vgl. von Reusner 1984, 15–17; von Reusner 1985, 119–122. 70 Vgl. an neueren Beiträgen zu diesem Lied Scholz 2001, 39–50; Haferland 2002, 41–42, und mit dem Fokus auf der Ironie bei Walther: Köbele 2009, 303–309; Kellner 2018, 309–313. 71 Möglicherweise antwortet das Stæte-Lied auf die Ausstellung der Unbeständigkeit des männlichen Partners in Walthers Lied Genâde, frowe, alsô bescheidenlîche (L 70,22).
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Minnewerbung und Minnesang als Ausdruck und Garant gesellschaftlicher Ordnung: fuoge Die Semantik der fuoge/vuoge ist besonders im Minnesang Walthers von der Vogelweide von Belang (vgl. darüber hinaus z. B. Albrecht von Johannsdorf MF 89,9, II; Reinmar MF 191,34, I). Im Rahmen seiner Reflexion von Minne und Gesellschaft bezeichnet fuoge in erster Linie den geordneten Zustand der Gesellschaft, der zu Minnesang und Minnewerbung ins Verhältnis gesetzt wird. Im Lied Hie vor, dô man sô rehte minneclîchen warp (L 48,12) stellt die Frage nach der Funktion des Sangs für die Gesellschaft das Hauptthema dar.72 Im Sinne einer laudatio temporis acti wird der früheren Zeit richtiger Frauendienst bescheinigt, während von der Gegenwart gesagt wird, sie sei von einem Verfall der höfischen Ideale gekennzeichnet. Da Sang als Spiegel der höfischen Gesellschaft verstanden wird, muss er sich ändern, wenn die Gesellschaft sich nicht mehr im Zustand der Ordnung befindet (I, V. 5–6 nach A). Deshalb erfordert ein kritischer Zustand der Gesellschaft einen Sang, der Kritik übt.73 Diese Reziprozität wird über die Gegensätze von fuoge und unfuoge erläutert.74 Im Verlauf der Strophen wird deutlich, dass dem Sang das Vermögen zugesprochen wird, die Ordnung der Gesellschaft (fuoge) nach einem Verfall der Werte wieder herzustellen und zu stabilisieren. Indem das Ich seine Fähigkeiten und sein Wissen als Sänger ebenfalls als fuoge (I, V. 12–13) bezeichnet, zeigt sich zudem, dass der Begriff sowohl ethisch-normative wie ästhetische Konnotationen umfasst. Dies wird besonders auch in der Weiterentwicklung der Begriffsreflexion in derjenigen Strophe deutlich, die sich ausschließlich in den Handschriften C und e findet und dem Lied in der älteren Forschung den Titel Zwô fuoge hân ich doch, swie ungefüege ich sî (V; L 47,36) gegeben hat. In Walthers Lied Die hêrren jehent, wan sul den frowen (L 44,35) erheben die Herren wie vor Gericht Klage gegen die frowen und machen diese für den desolaten Zustand der Gesellschaft verantwortlich.75 Mit seinem Frauenpreis möchte der Sänger dagegen den Weg weisen, den schlechten Zustand der Gesellschaft wieder zum Positiven zu verändern. Das Lied zeigt seine Überzeugung, dass sein Sang, der auch angesichts 72 Die Forschungsgeschichte ist stark von den editorischen Entscheidungen Lachmanns (→ Edition und Editionsgeschichte) geprägt gewesen. Er setzte gegen sämtliche Textzeugen die nur in C (als fünfte) und e (als zweite) überlieferte Strophe Zwô fuoge hân ich doch (L 47,36) an den Anfang des Liedes und gab diesem damit seinen Namen in der Mediävistik. Heute wird das Lied nach der ersten Strophe von A, B, C und e mit dem Titel Hie vor, dô man sô rehte minneclîchen warp (L 48,12) zitiert. Vgl. an neueren Arbeiten zu diesem Lied: Müller 2001 [1989], 84–89; Obermaier 1995, 97–99; Cramer 1998, 100–107; Scholz 2005, 105–106, 110–111. 73 Vgl. Müller 2001 [1989], 87. 74 Vgl. zum Begriff der fuoge in diesem Lied Müller 2001 [1989], 84; Cramer 1998, 103–104. 75 Nach Kuhn 1982, 44–48, setzt das Lied in BC „wie ein Prozeß-Bericht in juristischer Terminologie“ ein. Nach Hahn 1996, 96, stellt sich das Lied als eine „eindringliche Darstellung des Motivkomplexes um die Unterscheidung“ dar.
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von Widrigkeiten, angesichts des Verlustes des hôhen muots in der Gesellschaft, noch lobes rîche sei, wieder zur höfischen Freude führen könne. Deren Wiederherstellung würde die Rückkehr zur fuoge als Ausdruck der erwünschten Ordnung bedeuten. Ganz in diesem Sinne verbindet sich auch im Lied Bî den liuten nieman hât (L 116,33)76 die Gesellschaftsklage mit einer Zeitklage über den Verfall der Ordnung und der Hoffnung auf die Wiederkehr der höfischen Freude und Idealität in der Zukunft (vgl. dazu etwa auch L 90,15 und L 64,31). Eine so zentrale Rolle wie bei Walther spielt der fuogeBegriff in den Korpora anderer Minnesänger nicht. Im späteren Sang begegnet er zwar hin und wieder, bezeichnet dort aber vornehmlich ein anständiges Handeln in konkreten Situationen und weniger die allgemeine soziale Ordnung (vgl. etwa Ulrich von Liechtenstein KLD 49,1; Der von Gliers SMS 3,1; Heinrich Teschler SMS 10,2).
Liebe als Gefährdung gesellschaftlicher Ordnung: Minne und mâze Wie die fuoge, so ist auch die mâze ein Zentralbegriff der Minnereflexion. Da diese als Inbegriff höfischer Idealität gilt, ergeben sich aus der Bestimmung der Relationen von Minne und mâze erneut Schlussfolgerungen für die Situierung der Minne im Spannungsfeld der höfischen Werte. Einerseits wird mâze als höfische Leitidee vorausgesetzt, was sich insbesondere an Redewendungen wie ze mâze zeigt (vgl. etwa Albrecht von Johannsdorf MF 90,32, II; Reinmar MF 191,7, III; Otto von Botenlauben KLD 13, 1). Doch andererseits zeigt sich auch, dass Minne und mâze in grundsätzlicher Spannung zueinander stehen (vgl. etwa Heinrich von Rugge MF 101,15; Bernger von Horheim MF 112,1, I; Reinmar MF 196,35, II). Exemplarisch lässt sich das intrikate Verhältnis zwischen Minne und mâze in den beiden Strophen von Aller werdekeit ein vüegerinne (L 46,32) erläutern, die man heute als Liedeinheit mit dem Preislied Sô die bluomen ûz deme grase dringent (L 45,37) versteht.77 In der Forschung hat man die beiden Strophen als programmatisch für Walthers biographische Abwendung von der Niederen Minne und seine Distanzierung von der Hohen Minne aufgefasst und aus der dem Lied inhärenten Vorstellung des ebenen werbens einen Begriff der ebenen minne abgeleitet,78 der bei Walther zwar nirgends belegt ist, den man aber gleichwohl als zentral für diesen Sänger betrachtet und in Richtung einer gegenseitigen Liebe ausgelegt hat.79
76 Vgl. zu diesem Lied besonders Bauschke 2004, 187–208. 77 Vgl. L/Bein Ton 23. 78 Vgl. besonders Stamer 1976, 25–43. 79 Vgl. zu diesen Strophen an neueren Arbeiten u. a.: Kern 1995, der die Positionen der älteren Forschung resümiert; Hübner 1996, 237–245; Willemsen 2006, 109–130, 217–225; Kern 2009, 73–81, 92–97; Haustein 2012, 78–81. Zweifel am Ernst und an der Programmatik des Liedes finden sich bereits bei Schweikle 1963 sowie bei Ruh 1985; vgl. auch Scholz 2005, 97–101; Kellner 2018, 469–479.
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Der Sprecher führt die personifizierte Mâze (V. 1–2) als die entscheidende Instanz (vüegerinne, V. 2) der werdekeit (V. 1) ein. Dementsprechend lässt sich frowe Mâze (V. 2) als diejenige betrachten, welche die fuoge der Gesellschaft herbeiführt und zugleich garantiert. Der Sänger sucht ihren Rat in Angelegenheiten der Liebe und erhofft sich von ihr eine Anweisung für das ebene werben (V. 7), denn ihn leitet, wie er sagt, nicht frowe Mâze, sondern die Unmâze (V. 11) hält ihn im Griff und bewirkt seine Qual. Während sowohl die körperliche Niedere Minne wie auch die Hohe Minne durch unmâze, Krankheit, Tod und Leid gekennzeichnet sind, ist das ebene werben der mâze zugeordnet (I). Sodann zeigt sich der Sprecher als einer, der ganz und gar der herzeliebe ausgeliefert ist (II), der Liebe zu einer Frau, die auch schaden (V. 11) mit sich bringen kann. Dreh- und Angelpunkt des Liedes ist, dass der Sänger die Erwartungshaltung aufbaut, die Mâze könnte ihn in Liebesdingen belehren, doch diese Argumentation kollabieren lässt, indem er deutlich macht, dass die Mâze einem, den die herzeliebe ergriffen hat, in keiner Weise helfen kann. Das Lied läuft daher auf die Schlussfolgerung zu, dass Minne und Mâze letztlich nicht zusammenpassen. Vielmehr erweist sich gerade die Maßlosigkeit, die totale Hingabe an die geliebte Person, als das Wesen der Minne.80 Diese lässt sich nicht nach Maß ordnen, sie hat ihre eigene Sphäre und ihre eigenen Gesetze. Wer sich auf sie einlässt, treibt ein gefährliches Spiel, das zu Schmerz, Krankheit und Tod führen kann. Doch wird der Sänger sich, ungeachtet dieser Gefahren, die er selbst schon erfahren hat, immer wieder darauf einlassen und weiß, dass er kein Risiko scheut, wenn es um herzeliebe geht. Das ebene werben wäre risikolos, es stünde nicht in der Gefahr, maßlos zu sein, aber es wäre auch ohne Reiz, während Hohe und Niedere Minne verlocken, reizen und verführen. Mit dieser Einsicht entzieht sich der Sänger als vermeintlicher Schüler der Frau Mâze der angerufenen Lehrmeisterin (vgl. bei Walther außerdem L 43,9).
Instanzen der Sozialaufsicht: merkære, huote Die Kontrolle der Dame durch Instanzen der Sozialaufsicht spielt vor allem im frühen Minnesang und in den Übergangsformen zur Hohen Minne eine Rolle (vgl. etwa die merker/merkæare beim Kürenberger MF 7,19; Meinloh von Sevelingen MF 13,14; sowie die huote bei Dietmar von Aist MF 32,1; Friedrich von Hausen MF 43,28). Die Motivik tritt im Hohen und späten Sang zwar zurück, begegnet aber insbesondere im Begriff der huote auch hier immer wieder. Aufpasser drängen sich zwischen die Liebenden und stören sie (vgl. etwa Heinrich von Morungen MF 136,25; Reinmar MF 176,5, III), die Liebenden verwünschen sie (vgl. etwa Otto von Botenlauben KLD 14,1; Reinmar von Brennenberg KLD 5,3), oder der Liebende tritt in Konkurrenz zu diesen dritten Instan-
80 Weitere Beispiele dafür, dass minne und mâze nicht zusammenpassen, finden sich bei Schweikle 1963, 513; vgl. auch Haustein 2012.
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zen, was zur Thematik von Eifersucht gegenüber Rivalen und Neid führt (vgl. etwa Bernger von Horheim MF 113,1, III; Der Tugendhafte Schreiber KLD 11,3). Der Sänger kann aber auch ein Spiel mit der Dame spielen, um die huote zu überlisten. In Walthers Lied Bin ich dir unmære (L 50,19) fordert der Sprecher die Dame in diesem Sinne auf, ihm durch bestimmte Blicke versteckte Zeichen zu geben, was dem Liebenden auch in Anwesenheit anderer eine geheime Kommunikation mit der umworbenen Dame ermöglichen soll. Die Absenz der huote wird besonders in Albrechts von Johannsdorf Lied Ich vant si âne huote (MF 93,12) betont, das von einer Begegnung des Liebenden mit der Umworbenen ohne störende Aufpasser weiß. Im Dialog zwischen Sänger und Dame wird erläutert, dass die Dame unter keinen Umständen Minnelohn gewähren wird, doch soll der Sänger auch nicht ohne Lohn bleiben. Dieser besteht ihren Worten nach darin, dass er sich vervollkommne und hochgestimmt werde: ‚[…] âne lôn sô sult ir niht bestân.‘ „Wie meinent ir daz, vrowe guot?“ ‚daz ir dest werder sint unde dâ bî hôchgemuot.‘ (VII, V. 4–6)
Die Dame benötigt keine äußere huote, denn sie hat die höfische zuht internalisiert. Dass sich eine solche Verinnerlichung der huote immer wieder in Frauenstrophen und Frauenliedern zeigt, wurde oben ausgeführt. Begegnungen mit der Dame ohne → Dritte können aber auch eine gefährliche Nähe zu ihr mit sich bringen. Das zeigt sich etwa bei Morungen in Ich hôrte ûf der heide (MF 139,19), das möglicherweise Anleihen bei der Gattung der Pastourelle nimmt. In Reinmars Lied Mich hoehet, daz mich lange hoehen sol (MF 163,23) wird betont, dass die Freude beim Anblick der Dame, beim Zusammensein âne huote (V. 3), so groß sei, dass der Liebende nicht mehr sprechen kann (vgl. dazu auch das Motiv des Verstummens des Liebenden vor der Geliebten bei Morungen MF 135,9).
III Fazit Der Artikel verdeutlicht die Variabilität der Minnekonzepte vom frühen bis zum späten Sang. Die Lieder differenzieren und nuancieren die mittelalterliche Sprache der Liebe. Dies zeigt sich sowohl auf der Ebene der Lexik wie auch der Begriffe und der Begriffsreflexion. Die Gattung Minnesang ist daher für eine Archäologie der Sprache und Analytik der Liebe von besonderem Belang. Auffällig ist besonders die lexikalische Armut auf der einen Seite und der semantische Reichtum der Begrifflichkeiten auf der anderen Seite. Im Zentrum stehen die Isotopien von Dienst und Werbung, Schönheit und Vollkommenheit, Leid und Freude, Treue und Beständigkeit. Häufig verbindet sich mit dieser Liebessemantik eine Selbstthematisierung des Singens, besonders in den Ausprägungen von Lob und Klage. Die ganze Vielschichtigkeit der Minnevorstellungen erschließt sich nur in der Zusammenschau der verschiedenen Genres und
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Sprechhaltungen. Insbesondere Männerlied und Frauenlied, Kanzone und Tagelied sind in ihren Perspektivierungen als komplementär zu betrachten. Immer wieder wird die Liebeswerbung zum Ausgangspunkt der Selbstreflexion des Sängers, weshalb die Lieder auch für eine Rekonstruktion der Geschichte des Ich-Bewusstseins von Interesse sind. Zudem spielen religiöse Semantik und Liebessemantik auf komplexe Weise ineinander. Über die Doppelkodierung der Liebessemantik erfolgt eine differenzierte Auseinandersetzung mit der höfischen Gesellschaft. Indem ethisch-normative Standpunkte im Zusammenhang mit der Werbungssituation erörtert werden, findet die laikale Adelskultur im Minnesang ein Medium ihrer Selbstdeutung und Selbstbeobachtung.
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Beate Kellner und Alexander Rudolph
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Judith Klinger
Minnesang in gender- und queertheoretischer Perspektive Geschlechterverhältnisse und Artikulationen von Begehren sind gattungsbildender Gegenstand von Minnesang. Daher stehen seit Beginn der Forschung Fragen nach den Inszenierungen der frouwe und des werbenden Sängers, nach den Konzepten, Spielarten und Regulierungen von minne im Mittelpunkt des Interesses. Dass Minnesang eine ständisch exklusive und poetisch verfasste Kunst des Liebens oder Begehrens entwirft, gehört inzwischen zu den interpretatorischen Grundannahmen. Genderund queertheoretisch orientierte Untersuchungen verstärken und ergänzen diesen Zugang, denn sie betonen die historisch und kulturell spezifische Varianz der Konstruktionen von Geschlecht, Körperlichkeit, Begehren und ‚Sexualität‘ und fragen nach den ebenso variablen Prozessen der Differenzierung, Normierung und Naturalisierung kultureller Parameter im Feld von Geschlecht und Begehren.1 Die Produktivität von Minnelyrik auf dem eben umrissenen Gebiet ist kaum zu überschätzen. Dabei fordern genuin poetische Techniken wie das Spiel mit Mehrdeutigkeiten und strategisch platzierten Leerstellen Deutungen heraus und nötigen bei Übertragungen ins Neuhochdeutsche vielfach zur Vereindeutigung. Umso mehr gewinnt aber die Frage, welche Prämissen und Vorannahmen die (zeitgenössische und moderne) Rezeption der Lieder begleiten, an Brisanz. Verweist Minnesang auf ein kulturelles Umfeld, dem erotisches Begehren zwischen den Geschlechtern als natürlich gegebener Standard von Liebe gilt? Beziehen die Lieder ihre Energie aus der Erfindung neuartiger, provokanter Modelle und Redeweisen? Grenzen sie sich von einem Horizont ab, der variable Auffassungen von gleich- und zwischengeschlechtlicher Liebe und Begehren umfasst? Modifizieren sie womöglich einen Diskurs, der Bindungen und Begehren zwischen Mitgliedern der männlichen Eliten privilegiert?2 Welche kulturellen Annahmen zur Geschlechterdifferenz, zum Spektrum des Männlichen und des Weiblichen werden Gegenstand literarischer Aushandlungen? Welche weiteren Identitätszuschreibungen – wie Stand, Rang, Alter – modellieren die Geschlechterkonstrukte, stören sie oder treten in Spannung zu ihnen? Gegenüberstellungen mit anderen (erzählenden, räsonierenden, lehrhaften) Textgenres und zeitgenössischen (theologischen, rechtlichen, medizinischen u. a.) Wissensordnungen können an der Beantwortung dieser Fragen mitwirken. Zugleich können genaue Lektüren von Min-
1 Gender und Queer Studies sind aus Emanzipationsbewegungen hervorgegangen, lassen sich darauf aber weder in ihrer theoretischen Reichweite noch hinsichtlich ihrer Untersuchungsgegenstände beschränken. Einführend zur Queer-Theorie: Krass 2003; Babka und Hochreiter 2008; Degele 2008. 2 Zur These, dass die zwischengeschlechtliche ‚höfische Liebe‘ auf Parameter homosozialer Freundschafts- und Liebesdiskurse rekurriert, Jaeger 1999; Tin 2012, 3–15. https://doi.org/10.1515/9783110351859-017
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Judith Klinger
neliedern zeigen, wie sich im Bereich von Geschlechterverhältnissen und Begehren Modelle und normative Ansprüche formieren, aber auch, welche Spielräume und Beweglichkeiten auftreten. Die folgenden Abschnitte widmen sich den Schwerpunkten Geschlecht, Geschlechterverhältnisse und Subjektivierung, Begehrensdynamiken, Verkörperung und Erotisierung aus gender- und queertheoretischer Perspektive und konzentrieren sich auf Konfigurationen im hochhöfischen Minnesang.
1 Geschlechtsidentität: Differenz und Abstraktion Minnekanzonen des Hochmittelalters gestalten die Dame zum Fluchtpunkt von Werbung, Dienst, → Imagination und Sehnsucht eines (männlichen) Ich, wobei die kommunikativen Positionen ‚ich‘ und ‚du‘ in einen Bezugsrahmen generalisierter Geschlechtskategorien – man, wîp – eingelagert werden. Derart abstrakte Bezeichnungen von Geschlechtsidentität gelten dem modernen Blick als Selbstverständlichkeit. Im Kontext der hochmittelalterlichen Adelsliteratur, die Einzelne stets nach Stand, Rang und Rechten in Verwandtschafts- und Herrschaftsverbände einordnet, stellen sie eine Ausnahme dar. Gender-Theorie hat ihren Ausgangspunkt in Wissensordnungen, die Geschlecht über soziale (gender) und körperlich-anatomische (sex) Zuschreibungen als unveräußerliches, ‚natürliches‘ Fundament von Identität setzen.3 Die Prozesse der Differenzierung von männlich und weiblich werden gendertheoretisch als kulturelle Bezeichnungspraxis verstanden, die sich über performative Wiederholungen stabilisiert – oder stören und variieren lässt.4 Ähnlich elementar fassen mittelalterliche Identitätsmodelle den angeborenen Stand als leibhaftige Natur. Standesabstrakte Universalien von Männlichkeit und Weiblichkeit legt dieses Deutungsmodell aber gerade nicht nahe. Wenn im Feld der Hohen Minne von man und wîp die Rede ist, handelt es sich also um bemerkenswerte Abstraktionsleistungen, die experimentell eine Ablösung der Geschlechterdifferenz aus den vielfach gegliederten Herrschaftsstrukturen betreiben, ohne sie allerdings vollständig zu vollziehen. Minnesang entwirft ständisch exklusive Modelle und wirkt an adlig-höfischer Gemeinschaftsbildung mit. In einem hoch artifiziellen Redesystem wird die Kategorie Geschlecht indes für neue Zuschreibungen verfügbar. Wenn → Reinmar in einer bekannten Strophe formuliert: Sô wol dir, wîp, wie rein ein nam! | wie sanfte er doch z’erkennen und ze nennen ist (MF 165,10, III, V. 1–2), wird 3 Grundlegend Butler 1991 und Butler 1995: Entscheidend ist die Beschreibung des biologischen Geschlechts (sex) als Effekt performativer Prozesse der Materialisierung. Einführend zur Theorie Degele 2008; Walgenbach 2012; in mediävistischer Perspektive Klinger 2002; Bausch u. a. 2004. 4 Zur Performativität von ‚Geschlecht‘ als Bezeichnungspraxis und Effekt kulturell regulierter Wiederholungsprozesse Butler 1991, 212–213. Der Wiederholung liegt jedoch kein Ursprung, der Imitation kein Original zugrunde, vielmehr konstituiert sich das nie vollständig situierte Subjekt in einem instabilen Zirkulationsprozess.
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die Besungene auf den Begriff idealisierter Weiblichkeit gebracht und Geschlecht als Identitätskategorie freigestellt.5 Die angesprochene Eine geht aber nicht nur im Abstraktum der Geschlechtsidentifikation auf, sie wird stilisiert zum summum bonum, das höchstes Lob (und höchste poetische Anstrengungen) verdient: ez wart nie niht sô lobesam, | swâ dûz an rehte güete kêrest, sô du bist. (V. 3–4). Entsprechend manifestiert sich ihre Wirkung in der gesamten (höfischen) Welt: dû gîst al der welte hôhen muot (V. 8). Zwei für die Geschlechterkonstruktionen im Minnesang charakteristische Spannungen sind an dieser Stelle zu beschreiben. Erstens ermöglicht die abstrahierende Redeweise ein Oszillieren der Standes- und Geschlechtsbegriffe zwischen sozialer Uneindeutigkeit, generalisierter Vorbildlichkeit und herrschaftsständischem Prestige. So kann frouwe einerseits als Bezeichnung für die adlige Herrin sozial fixiert, andererseits als Ausweis ihrer Idealität oder ihrer Minneherrschaft über das begehrende Ich verwendet werden.6 Umgekehrt lassen sich Begriffe wie wîp oder maget, die in der älteren Forschung als Hinweise auf nichtadlige Geliebte gelesen wurden,7 auf adlige Frauen übertragen und distanzieren Weiblichkeit von faktischen Herrschaftsverhältnissen.8 Reduktionen und Ausblendungen sind für diese Abstraktionsverfahren unverzichtbar: Eine Verkörperung der Besungenen und Begehrten, ihr Name, Angaben zu ihrem Rang, Status und Familienstand oder zu den Gründen ihrer Unerreichbarkeit bleiben generell aus. Dass Männlichkeit nicht mit derselben imaginativen und rhetorischen Intensität als generalisierte Kategorie besprochen wird, ist Folge der Dominanz einer männlichen Subjektposition in der Mehrzahl der Lieder und Strophen. Zweitens aber verbindet sich das so gewonnene Paradigma der Weiblichkeit vielerorts mit Wertbegriffen, die gerade nicht geschlechtsspezifisch sind, sondern im Gegenteil standesübergreifend Verbindlichkeit beanspruchen: Reinmars Strophe identifiziert die Besungene beispielsweise über rehte güete, triuwe, hôhen muot und vröide (MF 165,10, III, V. 4–9). Wenn Reinmar andernorts von wîplîchen tugenden spricht (MF 159,1, I, V. 8), rückt nicht ein ‚natürliches‘ Geschlecht, sondern Gesellschaftlichkeit in den Blick. Die Formulierung [v]il wîplîch wîp (→ Heinrich von Morungen MF 123,10, IV, V. 1) ist dementsprechend keine Tautologie,9 vielmehr avanciert die frouwe der Minne5 Vgl. Schweikle 1994, 50; Huber 2005, 27. 6 Vgl. Schweikle 1994, bes. 52–55. 7 Beispielhaft dafür ist die Forschungsdiskussion um die sogenannten Mädchenlieder Walthers von der Vogelweide: vgl. Bennewitz 1989; Bennewitz und Grafetstätter 2008, 150–152. 8 Das Thema der Standesdifferenz ist konstitutiv für die im deutschsprachigen Raum zunächst nicht überlieferte Pastourelle (zur Gattung Brinkmann 1985; Kasten 1996). Im Neidhart-Corpus werden außer dem Stand auch Verwandtschaft und Gewalt zum Spielmaterial für vielfältige Brechungen, Ironisierungen und Kontrafakturen (vgl. Müller 1986). 9 Im Sprachgebrauch des späten zwölften und frühen dreizehnten Jahrhunderts ist für die Semantik von manlîch (tapfer, kampfstark) und wîplîch, das sich nicht in gleicher Weise generalisierend übertragen lässt, eine Asymmetrie festzustellen, die sich auch im weit häufigeren Auftreten von manlîch und manheit in der Erzählliteratur niederschlägt (vgl. Klinger 2010, 189–190).
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sänger zur Instanz höfischer Vorbildlichkeit.10 Mit diesem Befund korrespondiert das generelle Ausbleiben einer anatomischen Begründung der Geschlechterdifferenz,11 die ebenso wenig an naturbedingte12 Persönlichkeitsprofile oder verallgemeinernde Aussagen über Geschlechtsunterschiede gekoppelt ist. Vielmehr wird sie gleichsam von außen konkretisiert: etwa durch Verhaltensentwürfe, durch die Verteilung von Redepositionen, durch die Zuordnung zu unterschiedlichen Handlungssphären, durch räumliche (Im-)Mobilität oder durch sprachlich-rhetorische Verfahren. Allerdings handelt es sich dabei um ein Spektrum an Differenzierungsmöglichkeiten, die noch für verschiedene Liedtypen zu präzisieren wären,13 nicht um ein gattungsübergreifend kohärentes System. Grundlegend für die Stabilität der Geschlechterdifferenz ist die Distanz zwischen man und wîp, die räumlich, gesellschaftlich oder affektiv codiert sein kann. So zeichnet sich insgesamt eine Geschiedenheit anstelle einer Unterschiedlichkeit der Geschlechter ab. Den generalisierten Geschlechtskategorien fällt damit eine doppelte Funktion zu: Einerseits verbürgen sie eine begriffliche Ordnung der Unterschiede, andererseits erweitern sie Bedeutungsspielräume und generieren Unschärfen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Identifikation der frouwe mit Leitbegriffen höfischer Gesellschaftlichkeit. Wo (männliches) Minnewerben als Prozess der Wertsteigerung und die Dame als Inbegriff idealer höfischer Identitätsbildung aufgefasst wird, stehen Gemeinsamkeit und Angleichung, nicht Unterschiedlichkeit der Geschlechter im Vordergrund. Vor diesem Hintergrund wird es möglich, dass Heinrich von Morungen in seinem Narzisslied das Begehren nach der frouwe mit dem Griff nach dem eigenen, aber unerreichbaren Spiegelbild verbindet (MF 145,1, I).
2 Subjektivierungen: Stimmen und Machtverhältnisse Der hochhöfische Minnesang bildet ein wirkmächtiges Deutungsmodell der Geschlechterverhältnisse außerhalb der Ehe aus, das sich a s y m m e t r i s c h , h i e r a r c h i s c h und d i s t a n z i e r t gestaltet (auf dieser Grundlage aber variiert, bestritten und weiter10 Vgl. Grubmüller 1986, bes. 396; Schweikle 1994; Mertens 2005, bes. 37; zur Figuration der frouwe außerdem Kellner 2018, 75–129. Schultz 2006a, 52, 83 u. ö., beschreibt mit Bezug auf die höfische Literatur Aristophilie (nicht Heterosexualität) als Grundmuster von Begehren. 11 Zur höfischen Literatur Schultz 2006a, 30–37, 80–82. 12 Bezüge auf Natur ergeben sich mitunter über Natureingänge, deren Topik allererst für die Herstellung einer Eigenzeitlichkeit der Minne genutzt wird (Lieb 2001), nicht aber zur Naturalisierung von Geschlechtszuschreibungen. 13 Sie sind bislang vor allem mit Blick auf die Kombination von Frauen- und Männerstrophen (→ Frauenlieder) und die darüber konstruierten Geschlechterdifferenzierungen behandelt worden: z. B. Haubrichs 1989; Ehlert 1997; Schnell 1999; Boll 2007.
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entwickelt werden kann). Ohne Bezug auf konkrete Herrschaftsbeziehungen ist die frouwe dem Werber übergeordnet, der sich in der Position des Unterworfenen identifiziert: Ich bin gebunden ze allen stunden als ein man der niht kan gebâren nâch dem willen sîn. (Hartwig von Raute MF 117,1, V. 1–5)
Diese und zahlreiche ähnliche Formulierungen14 lassen sich diskurs- und gendertheoretisch als dialektischer Mechanismus der S u b j e k t i v i e r u n g beschreiben: Der Akt der Unterwerfung unter die Macht positioniert das Subjekt und ermöglicht zugleich ein Selbstverhältnis, das sich im Bezug auf die je geltenden Regulierungsmechanismen (auch des Geschlechts) mit Hilfe selbstreflexiver Kompetenzen ausbildet.15 Dialektisch heißt hier, dass die Ohnmacht des Unterworfenseins Bedingung ist für die Ermächtigung zur Artikulation und zur Reflexion des Ich. Hartwig von Raute setzt an die Stelle seiner Handlungsunfähigkeit Rede und Gesang als Konsequenz des betwungen-Seins (V. 6–8), an die Stelle eines Vollzugs seines Willens die ersehnte Verbalisierung: wan ich enmac niht geruowen, ich enkome ir nâhe bî sô daz ich ir gesagen müeze, waz mîn wille sî. (V. 9–11)
Zwang und Gewalt gehen von der Dame sowie von der Minne als externer Macht aus16 und begründen die Frauendienst-Programmatik. Das (adlige, folglich herrschaftsberechtigte) männliche Subjekt situiert sich in einer Grundspannung aus Zwang und freiwillig gewählter Unterwerfung.17 Den Bezugsrahmen für die Frauendienstkonzeption bilden Treue- und Gefolgschaftsverhältnisse unter adligen Herren (→ Sozialgeschichte als Forschungsparadigma). Im Minnesang wird die Semantik von Vasallität und Herrendienst, Huld und Gunst umcodiert und auf die zwischengeschlechtliche Werbung übertragen.18 Die
14 Z. B. Friedrich von Hausen: Mîner vrowen was ich undertân, | diu âne lôn mînen dienst nan (MF 45,37, IV, V. 1–2). Vgl. auch MF 51,33, IV, V. 9–10; Reinmar MF 159,1, V, V. 3–4. 15 Vgl. Butler 2015, 7–8. 16 So formuliert beispielsweise Walther: Süeze Minne, sît nâch dîner süezen lêre | mich ein wîp alsô betwungen hât (L 109,1, III, V. 1–2). Ulrich von Gutenburg nennt Alexander den Großen als Beispiel dafür, dass Minne unwiderstehliche Macht (meisterschefte) ausübe (MF 69,1, V, V. 41–45). Zur Exogenese der Minne als Wirkung eines äußeren Zwangs Schultz 2006a, 52, 71 u. ö. 17 So schon bei Dietmar von Aist: Nu ist ez an ein ende komen, dar nâch ie mîn herze ranc, | daz mich ein edeliu vrowe hât genomen in ir getwanc. | der bin ich worden undertân (MF 38,32, I, V. 1–3). 18 Vgl. u. a. Warning 1979; Burns 1985; Gaunt 1995, 138–140, 144–147; Mecklenburg 2004, 90–91.
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Frage, ob mit der literarischen Figuration der Minneherrin auch der Herr (möglicherweise der Ehemann der besungenen Dame) angesprochen werde, hat insbesondere die Forschung zur Troubadourlyrik beschäftigt.19 Der Transfer männlich definierter Herrschaftsmacht auf die literarische Figuration der Dame20 legt aber auch liedintern eine Überschreitung der Geschlechterdifferenz und eine Ausstattung der frouwe mit männlichen Qualitäten sowie die Mobilisierung geschlechtsspezifischer Subjekt- und Objektpositionen nahe.21 Im frühen Minnesang zeigt sich dieses Potential an einer → Kürenberger-Frauenstrophe, in der die Sprechende mit der Selbstverständlichkeit einer Landesherrin über den begehrten Ritter verfügen will: er muoz mir diu lant rûmen, alder ich geniete mich sîn (MF 8,1, V. 4).22 Wiewohl es sich dabei um eine Ausnahme handelt, attestiert das dominant männliche Ich der Minnekanzone seiner frouwe doch generell eine Machtvollkommenheit, die kosmische Dimensionen annehmen kann und bis zur Verfügung über Leben und Tod reicht. Dem Minnewerben sind Machtverhältnisse eingeschrieben, die einerseits homosoziale Strukturen und Semantiken auf heterosoziale übertragen, andererseits die geläufige Geschlechterhierarchie verkehren. Während in den Diskursfeldern der Theologie, der Medizin und des Rechts ein nachrangiger Status der Frau zugrunde gelegt wird, entwerfen Minnelieder ein eigenwilliges, selbstmächtiges weibliches Subjekt, das sich der Werbung häufig hartnäckig verweigert. Wo Herrschaftsmacht von der Minne oder der Dame ausgeht, verlagert sich die Gewalteinwirkung allerdings von der physischen Waffengewalt – identitätsbildendes Privileg des männlichen Adels – ins emotionale Register: Das begehrende Ich ist im Herzen wunt.23 Das Dienstverhältnis, das unter Männern Anspruch auf Lohn und wechselseitige Verbindlichkeit begründet, figuriert der hochhöfische Minnesang asymmetrisch. Begehren, Unterwerfung, Dienst initiieren eine einseitige (männliche) Abhängigkeit, wobei wechselseitige Zuneigung und Hingabe erhofft und imaginiert, im Kontext der Hohen Minne aber selten erlangt werden. Die Liedtypen des Wechsels und des Dialogs (→ Dialoglied – Wechsel – Botenlied) inszenieren ebenfalls keine wechselseitig-ausgewogene Gemeinschaft: Der Wechsel gestaltet Kombinationen isolierter männlicher und weiblicher Monologe,24 in Dialogliedern werden zwar tatsächliche Begegnungen geschildert, doch überwiegt die Zurückweisung des Werbers durch die Dame.25 Gegenentwürfe gelungener Paarbildung, wie etwa im → Tagelied,
19 Kay 1999, 220–221, betont für die Troubadourlyrik, dass sich das Idealbild der Dame im Zeichen ihrer ‚männlichen‘ Qualitäten formiere. Weiter Gaunt 1995, 132–135; Burns 1985, 258–259, 263, 267. 20 Vgl. Ortmann und Ragotzky 1999, 73. Kellner 2018, 32, spricht von einer „Leitfiktion“. Auch Herrscherinnen werden männlich konnotierte Befugnisse beigelegt: Fössel 2013, 78, 81. 21 Vgl. Kay 1999, 224, 226. 22 Dazu auch Kasten 2000, 13. 23 Vgl. z. B. Bligger von Steinach MF 118,19, III, V. 2; Heinrich von Morungen MF 130,9, II, V. 7. 24 Vgl. Köhler 1997; modifizierend Kerth 2007. 25 Vgl. Schnell 1999, 158–160; Hübner 2008, 25; Hübner 2011, 36–37.
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formieren sich vor diesem Horizont: Auch die Idealisierung erwiderter Minne setzt voraus, dass die Geliebte über sich selbst verfügen kann. Anders gestaltet sich die Geschlechterverteilung der Stimmen, denn die Asymmetrie der Machtverhältnisse in der Minne wird mit einer gegenläufigen Asymmetrie der Sprecher*innen-Positionen verschränkt. Im Zentrum der Minnekanzone steht die Disziplinierung, Kultivierung und Selbstreflexion eines männlichen (leidenden) Subjekts, stets aufs Neue angeregt und angetrieben von der Distanz zur frouwe als dem Objekt des Begehrens sowie deren Abwehr.26 Indem das männliche Ich die kunstvolle Faktur seiner Preisreden, Imaginationen, Klagen ausstellt, formiert sich eine genretypische Konvergenz von Begehren, Werbung und Dienst mit Singen und Sprachkunst.27 Vorbildliche Männlichkeit realisiert sich demnach prägnant über die Qualität poetischen Sprechens. Im Verbund mit den generalisierten Geschlechtsidentifikationen wird es Minnesängern außerdem möglich, die Dame zu virtualisieren28 und als Projektionsfigur eigener poetischer Schaffenskraft zu exponieren.29 So kann der Sänger mit einem Kunstgriff die Machtverhältnisse abrupt in ihr Gegenteil umschlagen lassen: Nimet si mich von dirre nôt, | ir leben hât mînes lebennes êre; sterbet si mich, sô ist si tôt (L 72,31, IV, V. 5–6). Mit dieser Formulierung im sogenannten sumerlaten-Lied weist → Walther von der Vogelweide Autorschaft als Macht über das (gesellschaftliche) Leben der Dame aus30 und schließt eine Rachefantasie an.31 Fantasierte Gewalt gegen die frouwe konterkariert allerdings die Machtverhältnisse der Minnewerbung, so dass männlicher Gewaltverzicht nur imaginär suspendiert werden kann, wenn nicht die zugrunde gelegte Identitätskonstruktion aufs Spiel gesetzt werden soll. 32 Angesichts rigoros eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten werden Leid und Schmerz zu Medien der (männlichen) Selbstbehauptung. Die dialektische Grundfigur der Subjektivierung tritt in der Minnekanzone also explizit hervor, indem erfahrene Ohnmacht vielfältige Anlässe zur Inszenierung virtuosen Sprechens bietet. Das (männliche) Sprecher-Subjekt konstituiert sich in der Doppelung ‚ich singe‘ / ‚ich minne‘, die als Überblendung oder Spaltung in Erscheinung treten kann.33 Seine besondere Kompetenz besteht in der wortgewandten Veräußerlichung innerer Verfassungen, die als poetische Formulierung von Wünschen und 26 Vgl. Kartschoke 2005, 141–142; Hübner 2008, 12. 27 Vgl. Hübner 2011, 43. Schon im frühen Minnesang gilt Minne als ‚lehr- und erlernbare Kunst‘ (Kasten 1986, 211; zur Troubadourlyrik Gaunt 1995, 125–126). 28 Vgl. Warning 2009, 53. 29 Vgl. Kellner 2004, 125, 132; Huber 2005, 30. 30 Vgl. Kellner 2018, 296–297. In der Formulierung lässt sich eine Replik auf Reinmars stirbet sî, sô bin ich tôt (MF 158,1, III, V. 8) erkennen. Zum Lied vgl. Kellner 1997, 49–50; Bauschke-Hartung 2010. 31 Vgl. Wenzel 1999, 276. 32 Vgl. Kellner 1997, 66; Warning 2009, 53; zu ähnlich gelagerten Ambivalenzen gegenüber der Dame bei den Troubadours Burns 1985, 254. 33 Vgl. Strohschneider 1996; Müller 2004; Boll 2011, 78–82.
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Begehren aber auf Erwiderung (im Entgegenkommen der frouwe) und Anerkennung (des Publikums) ausgerichtet ist. Ausbleibende Wertschätzung kann diesen Subjektentwurf destabilisieren, wenn das Sänger-Ich den Sinn seiner Werbung bezweifeln muss und sich in einer Position der Vereinzelung aus der Gemeinschaft aller ausgegrenzt sieht.34 Möglichkeiten einer Stabilisierung ergeben sich im Kontext der Hohen Minne nur selten über die Geschlechterbeziehung, doch kann eine Bestätigung des IchEntwurfs fallweise durch die Übereinstimmung mit dem Kollektiv oder durch seine Perspektivierung in Frauenstrophen und -liedern (→ Frauenlieder) erfolgen. Allerdings zeichnen dafür nicht belegbare Verfasserinnen, sondern wiederum männliche Sänger verantwortlich: Die ‚weibliche‘ Stimme wird durch den (männlichen) Sänger fingiert und bleibt auch dann noch Bestandteil seiner Rede, wenn dialogisch widerstreitende Positionen entfaltet werden. Dabei kritisieren, bestätigen oder ergänzen Frauenstrophen und -lieder männliche Selbstinszenierungen nicht nur,35 sie machen Männlichkeit überhaupt erst als Gegenstand von Rede und Betrachtung sichtbar.36 Denn das generalisierte Ich der Minnekanzone ist zuerst als unmarkierte Kategorie eingeführt: Identifikationen mit dem männlichen Geschlecht ergeben sich über Autorenzuschreibungen, über den öffentlichen Status des Sprechens, über die Ansprache der Dame oder die Selbstthematisierung in der dritten Person.37 Konkurrierende Entwürfe von Männlichkeit in der Außensicht treten selten auf, werden aber in der → Neidhart-Überlieferung mittels Brechungen der Sängerfigur und deren Konfrontation mit gewaltbereiten Dörpern breit entfaltet.38 Die (männliche) Subjektposition erweist sich insgesamt als expansiv und möglicherweise transgressiv, wenn sie sich selbst um eine weibliche Stimmfacette anreichert.39 In diese Richtung deutet Gottfrieds Literaturexkurs (‚Tristan‘, V. 4751–4820), der die hoch geschätzten Minnesänger, diu von Hagenouwe (vermutlich Reinmar) und Walther, als Nachtigallen ins grammatische Femininum setzt und sie wechselweise als leitevrouwe, meisterinne und kameraerîn anspricht. Trotz des Inszenierungscharakters weiblicher Stimmen kann deren Gestaltung Auskunft über Mechanismen und Gegenstandsbereiche von Geschlechterdifferen34 Vgl. Grubmüller 1986, bes. 390–392, 403; Müller 1986, 416–417. Zu Hartmanns Männlichkeitskonstruktionen Kasten 1999, bes. 429, 434. 35 Zur weiblichen Stimme Kasten 1987, 1993, 2000; Bennewitz 1991; Rasmussen 1991, 2002; Cramer u. a. 2000; Mecklenburg 2004; Boll 2007, 2011. 36 Vgl. Haubrichs 1989, 46–47; Mecklenburg 2004 zu Walther-Liedern. Bennewitz 2000, 84, betont den so erzeugten Blick auf den männlichen Körper. 37 Vgl. Rasmussen 1991, 70; Boll 2007, 106, 117. Während die Nomenklatur der Weiblichkeit (frouwe, wîp, maget) wiederholt diskutiert worden ist, fehlt es derzeit noch an systematischen Untersuchungen zu den Begriffen und Beschreibungen von Männlichkeit. 38 Vgl. Müller 1986; Müller 2001; Haufe 2003. 39 Zur möglichen performativen Umsetzung Mertens 1983, bes. 168–170; Cramer 2000, 21; Müller 2001, 236–240; Mecklenburg 2004, 85–87; Lechtermann 2011, 248–249.
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zierungen geben. Dies betrifft zum einen die Zuschreibung von Strophen an Sprecher*innen, die textintern markiert oder (beispielsweise in der Handschriftenüberlieferung) konventionalisiert sein kann, in nicht wenigen Fällen aber nach wie vor strittig ist.40 Zum anderen stehen inhaltliche Unterscheidungskriterien zur Debatte, die kontrovers gesehen werden. Differenzierungsfunktion übernimmt etwa die huote,41 die nicht nur den Zugang zur frouwe verstellt, sondern auch deren Handlungsmöglichkeiten und -orte sowie die Gelegenheiten zur Ansprache der höfischen Öffentlichkeit einschränken kann.42 ‚Weibliche‘ Subjektivierung kann im frühen Minnesang analog zur männlichen formuliert sein,43 artikuliert sich prinzipiell jedoch mit Bezug auf das vom männlichen (Autor-)Subjekt entworfene Minnekonzept: Damit verhält sich die weibliche Subjektposition asymmetrisch zur männlichen und bleibt funktional auf sie bezogen. Über diese Positionierung hinaus sind keine Typisierungen von Weiblichkeit – z. B. über präferierte Themen, Sprachgebrauch, Emotionalität – abzuleiten. Im Gegenteil fehlen derartige Festlegungen weitgehend, so dass die ‚weibliche‘ Stimme für unterschiedliche Besetzungen und Typenbildungen offen bleibt.44 Die inhaltliche Nähe zum männlich beherrschten Diskurs bedingt es zudem, dass eine beträchtliche Anzahl von Strophen nicht abschließend als Männer- oder Frauenrede identifiziert und (beispielsweise durch Variationen in der Strophenfolge) unterschiedlich zugeordnet werden kann.45 Diese überraschende Offenheit für variable Geschlechtszuweisungen ließe sich als Folge einer ständisch-exklusiven Minnekonzeption der ‚Aristophilie‘ und der Dominanz einer generalisiert-männlichen Subjektposition deuten, womit die binäre Konfiguration männlich/weiblich weniger oppositionell als hierarchisch zu bestimmen ist. Aus dem einen adligen (männlichen) Geschlecht leitet sich ein zweites, weibliches ab. Nebenher unterstreicht die Gruppe geschlechtlich unspezifischer Strophen, welches Gewicht der Performance im prinzipiell unabschließbaren Prozess der Bezeichnungspraktiken zukommt. Ist davon aus-
40 Exemplarisch zum sogenannten Falkenlied des Kürenbergers (mit einem Resümee der Forschungspositionen) Boll 2007, 107–114: Die Identifikation als Wechsel lässt sich ebenso wie eine durchgängige Zuordnung der Strophen zur männlichen oder weiblichen Stimme plausibel machen. 41 Vgl. Boll 2007, 243–244. huote gegenüber Frauen folgt dem Rechtsprinzip männlicher Vormundschaft und erscheint als Instanz gesellschaftlicher Regulierung und Integritätssicherung. 42 Schnell 1999, 143–152, setzt eine durchgehaltene Geschlechterverteilung auf die Räume der Öffentlichkeit und der ‚Privatheit‘ voraus (kritisch dazu Mecklenburg 2004, 88–89). Kontroverse Deutungen einzelner Lieder, Strophen- und Liedgruppen (vgl. etwa Rasmussen 1991 und Münkler 2011 zu L 43, 9) zeigen, wie unterschiedlich die Einschätzungen gemäß den jeweiligen analytischen Prämissen ausfallen können. Ebenso führt die Untersuchung von Überlieferungsvarianten zu divergenten Beurteilungen (vgl. Brüggen 2008 gegenüber Kasten 1993). 43 Burggraf von Regensburg MF 16,1, I, V. 1: Ich bin mit rehter stæte einem guoten rîter undertân. 44 Vgl. Kasten 2000, 9, 14. 45 Der von Cramer 2000, 24, dafür vorgeschlagene Begriff der Androgynie ist missverständlich; die hier zusammengestellte Liste der 114 ‚androgynen‘ Strophen (31–32) stellt aber eine wichtige Diskussionsgrundlage dar.
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zugehen, dass solche Strophen durch die Vortragenden geschlechtlich vereindeutigt wurden, oder konnten sie im Gegenteil mit spielerischer Offenheit, als Irritations- oder Verrätselungsstrategie gehandhabt werden? Fragen nach der Geschlechtszuweisung (und ihren Kriterien) verlagern sich dann in den Rezeptionsvorgang.46
3 Begehrensdynamiken und Modellbildungen Minnesang gewinnt seine Produktivkraft über ein Begehren, das sich in der Distanz artikuliert und durch Wünsche nach Distanzüberwindung in Bewegung bleibt. Diese elementare Struktur ist abzugrenzen von den Semantisierungen des Begehrens, das sich nicht auf sexuelle Impulse oder Ziele reduzieren lässt.47 Artikuliertes Begehren kann dialogisch auf Anerkennung oder Erwiderung der Minne durch die Dame, auf ihre Präsenz und Nähe, den viel berufenen, variabel besetzbaren lôn der Minneherrin oder auf (ideelle, emotionale, körperliche) Minnegemeinschaft gerichtet sein. Wo Bestätigung von Ich-Entwürfen, die Anerkennung männlicher Identitätsbildung und (poetischer) Leistungen oder die Kunstform selbst ins Zentrum rücken, zeigt sich ein eher monologisch akzentuiertes Begehren. Die asymmetrische Verteilung der Subjektpositionen bedingt es aber, dass sich ‚weibliches‘ Begehren stets im Referenzrahmen des generalisiert-männlichen artikuliert und insofern einen re-aktiven Grundzug erhält. Schon die fehlende Symmetrie macht darauf aufmerksam, dass die im Minnesang entworfenen Geschlechter- und Begehrenskonstellationen in wesentlichen Punkten nicht dem modernen Konzept von Heterosexualität48 und hetero-romantischer Liebe entsprechen. Das moderne Modell setzt eine symmetrische Korrespondenz männlicher und weiblicher Subjekte voraus, deren Geschlechtsidentität biologisch fundiert ist und sich im reziproken Begehren nach dem geschlechtlich Anderen, also heterosexuell stabilisiert.49 Gender- und Queer-Theorie befassen sich kritisch mit den historisch heterogenen Prozessen, die diese heteronormative Matrix erzeugt haben.50 Gilt
46 Vgl. Kerth 2007, 158–159. 47 Auf beiden Ebenen, der literarischen Dynamiken und der Semantiken, ist der hier verwendete Begriff von Begehren entschieden vom modernen Konzept der Libido abzugrenzen (dazu auch Eming 2013, bes. 116–117; Reichlin 2009, 22–23; Klinger 2017): Er erfasst allererst diskursive Strukturen und Produktionsmechanismen. 48 Die Begriffe Homo- und Heterosexualität sind Kategorien des neunzehnten Jahrhunderts: vgl. Katz 2007, 19–32. 49 Butler 1991, bes. 22–24; Genschel u. a. 2001, 168; Schultz 2006b; Krass 2015. 50 Vgl. Genschel u. a. 2001; Perko 2008. Die hier angestellten Überlegungen richten sich ausdrücklich nicht darauf, Minnesangskonstellationen von Geschlecht und Begehren als Prototypen moderner Modelle von Liebe und Sexualität, sondern vielmehr als historisch eigenständige und literarisch spezifische Entwürfe zu verstehen.
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Heterosexualität in der Moderne als ‚natürlicher‘ Standard von Liebe, so zelebriert das Minnelied zwischengeschlechtliches Begehren und Geschlechterbeziehungen im Zeichen von Kunst und Artifizialität. Wesentlich dafür ist die Auratisierung der frouwe und des (männlichen) Begehrens nach der Herrin, die als Objekt und Subjekt von Begehren entworfen wird. Im Medium der Distanz wird sie als das begehrte ‚Andere‘ beschworen, doch erweist sie sich zugleich als Repräsentantin geschlechtsübergreifender Wertvorstellungen, wodurch Ähnlichkeiten und Angleichung, nicht Differenz das Geschlechterverhältnis prägen. Die literarischen Potentiale hetero-erotischer Anziehung entfalten sich zudem in einem kulturellen Umfeld, das von homosozialen Bündnissen und Konflikten unter Männern und einem männlich definierten Subjektstandard beherrscht wird.51 Zwar werden homosoziale Verbindungen im Minnesang ebenso weitgehend ausgeblendet wie Ehe- und Verwandtschaftsverhältnisse, sie zeigen sich bisweilen aber an den Rändern der Minnekonstellationen oder rücken durch thematische Verschiebungen in den Vordergrund.52 Aus diesem Bezugsfeld lassen sich weitergehende Fragen ableiten, die die literarische Ausdifferenzierung der Geschlechterminne und ihre Ausgestaltung zum Faszinosum betreffen. Im frühen Minnesang begegnen beispielsweise Strophen und Formulierungen, die das Geschlecht der Sprechenden ebenso wenig festlegen wie das der Angesprochenen.53 Mit den Worten got sende sî zesamene, die gelieb wellen gerne sîn schließt das Falkenlied des Kürenbergers (MF 9,5, V. 4). Eine weitere KürenbergerStrophe, die einer ‚weiblichen‘ Stimme zugeordnet werden könnte, artikuliert ein Verlangen nach dem Unerreichbaren und fügt hinzu: jône mein ich golt noch silber: ez ist den liuten gelîch (MF 8,25, V. 4) – also (höfischen?) Menschen gleich, aber nicht zwangsläufig männlich. Die Konventionalisierung bestimmter Redeformen in der Weiterentwicklung des Minnelieds legt nahe, dass ab einem gewissen Zeitpunkt auch derart unspezifische Formulierungen auf Geschlechterverhältnisse bezogen wurden. Solche Vereindeutigungen gehen aber aus einem breiten Spektrum an Liebes- und Freundschaftsdiskursen hervor, in dem die männliche Freundesliebe einen wichti-
51 Grundlegend Gaunt 1995, 22–70; Clark 2009. Haubrichs 1989, 54–55, zieht in Betracht, dass der frühe Minnesang seinen Platz in Männergemeinschaften gehabt haben könnte. Homosoziale Verhältnisse und das Spektrum ‚homosozialen Begehrens‘ (Sedgwick 1985) dominieren auch die Erzählliteratur vor und neben dem Artusroman (vgl. Klinger 2017). 52 So etwa, wenn Hartmanns Minneklage jäh umschlägt in eine Klage um den verstorbenen Herrn (MF 205,1, III; vgl. Kasten 1999, 435). Für die Korrelation von Geschlechterminne und homosozialen Verhältnissen bildet insbesondere die Neidhart-Überlieferung ein reiches Untersuchungsfeld. 53 Auch das berühmte Versprechen Dû bist mîn, ich bin dîn. | des solt dû gewis sîn (MF 3,1, V. 1–2) könnte gleichermaßen zwischen Partner*innen gleichen oder unterschiedlichen Geschlechts ausgetauscht werden (vgl. Ohly 1974 zur ebenso offenen ‚Verlöbnisformel‘). Die Verse stehen am Abschluss eines lateinischen Briefs zur amicitia, als dessen Verfasserin eine Nonne firmiert: vgl. Kühnel 1977, 6–18.
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gen Platz besetzt.54 Wie sich Liebes- und Freundschaftssemantik55 im Minnelied entwickeln und an der Ausdifferenzierung eines spezifischen Minnemodells mitwirken, wäre vor diesem Horizont noch genauer zu untersuchen. Insbesondere für die Konzeption einer wechselseitigen Minne mit egalitären Zügen könnte die Bezugnahme auf homosoziale Bindungstypen von Bedeutung sein.
4 Verkörperung und Erotisierung Löst das Distanzverhältnis der Geschlechter im Minnesang vielfach variierte Begehrensspannungen aus, so stellt sich zwangsläufig die Frage nach den Möglichkeiten und Spielarten einer Erfüllung des Ersehnten – und damit auch die Frage nach der Bezugnahme auf und der Bedeutung von ‚Sexualität‘. Der Begriff ist hier in Anführungszeichen gesetzt, weil er in der Moderne neben der Konzeption sexueller Identitäten eine Systematik sexueller Empfindungen, Verhaltensweisen und Praktiken beinhaltet.56 Beide Aspekte haben in der Laienkultur des Adels und den volkssprachlichen Literaturen des Hochmittelalters zunächst keine Entsprechungen.57 Verschiedene literarische Genres arbeiten vielmehr an Artikulationsformen für körperliche Anziehungskräfte und Lüste, bieten aber nur selten (meist knappe) Schilderungen sexueller Akte.58 In Minneliedern entwickeln Strategien der Ab- und Ausblendung sowie Inszenierungen des Nicht-Sagbaren in diesem Bereich eine ebenso hohe Produktivkraft wie die Prämisse einer unüberwindbaren Distanz zu dem oder der Begehrten. Von (tatsächlichen oder behaupteten) Verboten und Ausschlussregeln gehen also höchst wirksame Diskursanreize aus.59 Die Frage nach der Verkörperung von Begehren im Minnesang lässt sich in zwei Dimensionen weiter entfalten, nämlich mit Blick auf die Imaginationen von Körperlichkeit und die Strategien der Erotisierung. Im hochhöfischen Minnesang ist eine grundlegende Spannung zwischen den intensiv empfundenen Wirkungen von Minne und der körperlichen Konkretisierung ihrer Auslöser zu beobachten. Aus der asym54 Vgl. Krass 2016. 55 Die Begriffe vriunt (zu den Bedeutungsspielräumen Miedema 2015) und geselle können geschlechtsunspezifisch verwendet werden. Zur Freundschaftssemantik der ‚höfischen Liebe‘ Oschema 2006, 112–116; Oschema 2007. 56 Grundlegend Foucault 1983. 57 Forschungen zur ‚Sexualität‘ im Mittelalter beziehen sich oft auf klerikale Systematisierungen (dazu Payer 2009). Diese sind aber weder darauf ausgerichtet, sexuelle Vorlieben als identitätsbildend zu verstehen, noch interessieren sie sich für die Verbindungen von sinnlichen, emotionalen, erotischen und sexuellen Erlebnisweisen, die für das moderne Sexualitätsverständnis zentral sind. 58 Zeyen 1996, 216–217, weist die Vorstellung einer Tabuisierung zurück, geht aber von Sprachrestriktionen aus. 59 Vgl. Foucault 1983, bes. 27–49. Eine ähnliche Untersuchungsperspektive schlägt Kellner 2018, 296, vor.
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metrischen Verteilung von Subjektpositionen geht eine Blickregie hervor, die weibliche Schönheit unter die typischen Faktoren ihrer Anziehungskraft reiht und visualisiert. Doch begegnet diese generalisierte Schönheit stets im Verbund mit gesellschaftlichen Vorzügen und Tugenden und sie wird vorwiegend metonymisch, über die Evokation einzelner Körper- oder Gesichtspartien (insbesondere des roten Mundes) repräsentiert.60 Verweise auf geschlechtsspezifische Körpermerkmale bleiben durchgängig aus.61 Während ein fixiertes (und geschlechtlich differenziertes) Körper-Objekt von Minnebegehren also weitgehend fehlt, kann sich die Aufmerksamkeit zu Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Empfindungsvorgängen verschieben sowie zu den poetischen Möglichkeiten, körperliche Nähe zu vergegenwärtigen: Mit den imaginativen Potenzen rückt die Erweiterung literarischer Artikulationsformen in den Vordergrund.62 Derartige Erweiterungen sind ebenso im Bereich der erwünschten, imaginierten oder bereits vergangenen sinnlichen Genüsse festzustellen: Das Ausbleiben eindeutig sexueller Details scheint diese Spielräume überhaupt erst zu ermöglichen.63 Als Bezeichnung des Geschlechtsakts ist bî ligen noch die akkurateste Formel;64 weniger präzise, aber offenbar schon konventionalisiert sind Formulierungen des ‚erfüllten Willens‘ und des Umfangens, deren Bedeutungspotentiale anhand einer anonym überlieferten Frauenstrophe umrissen werden können: ‚Mir hât ein ritter‘, sprach ein wîp, ‚g e d i e n e t nâch dem w i l l e n mîn. ê sich verwandelt diu zît, sô muoz ime doch g e l ô n e t sîn. Mich dunket winter unde snê schoene bluomen unde klê, swenne ich in u m b e v a n g e n hân. und waerz al der welte leit, sô muoz sîn w i l l e an mir ergân.‘ (MF 6,5; Hervorhebungen J. K.)
60 Zu Schönheitsbeschreibungen im Minnesang Tervooren 1988; weiter Ehrismann 1993, 20; Wenzel 1999, 269. 61 Anders verhält sich dies im späteren Minnesang, etwa beim Tannhäuser (vgl. Zeyen 1996, 182). 62 Kellner 2018, 189, erwägt anhand des poetischen Wechsels von Bewusstseinsebenen, „ob diese inszenierten Imaginationen nicht gerade das Imaginative der Literatur selbst spiegeln und ob sich in ihnen modellhaft die poetologische Dimension der Lieder zeigt“. Vgl. zur Tagelied-Konstellation beim Mönch von Salzburg Lieb 2008, 289, 292. 63 Ob in den Volkssprachen überhaupt ein sexuelles Vokabular existierte, das die gemeinten Sachverhalte eindeutig benannte, scheint fraglich (vgl. Zeyen 1996, 26, 216). In Überblicksdarstellungen wird häufig auf ein Mären und Schwänken entnommenes Vokabular verwiesen; als älteste Kronzeugen gelten oft Neidhart-Lieder (vgl. Hoven 1978, 327–342). 64 Vgl. Zeyen 1996, 169–175. Die Variation an sînem / an liebes arme ligen (z. B. Burggraf von Regensburg MF 16,23, II; Dietmar von Aist MF 34,11) weist aber in dieselbe Richtung wie das gern verwendete umbevangen, da Nähe und Intimität gegenüber sexueller Aktivität in den Vordergrund rücken. Die Metaphorisierung bei Reinmar (MF 165,19, I, V. 8: ich engelige herzeliebe bî) wäre bei einer auf den Beischlafsakt fixierten Bedeutung von bî ligen wohl kaum plausibel.
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Der Wechsel in der Dominanz des Willens – über den Dienst bestimmt die Frau, bei der körperlichen Realisierung des Lohns hingegen der Wille des Ritters – ist insofern typisch, als sexuelle Akte zumeist aus generalisiert-männlicher Perspektive benannt werden. Die häufig verwendete Geste des Umfangens steht demgegenüber variablen Besetzungen offen (im zitierten Beispiel geht die Aktivität von der Sprecherin aus). Sie lässt sich als Euphemismus für einen Beischlafsakt,65 ebenso aber als Evokation inniger körperlicher Nähe auffassen, womit konkretisierende Bedeutungsbildung der Fantasie des Publikums überlassen bleibt. Eine solche Wirkungsästhetik zeichnet sich überall dort ab, wo sich Suggestionen, Anspielungen und Sprachbilder der Übersetzung in ein ‚eigentlich‘ Gemeintes – nämlich eine klar umrissene sexuelle Handlung – sperren. Mit ‚Erotisierung‘ soll daher nicht eine verhüllende Repräsentation sexueller Inhalte, sondern im Gegenteil eine Differenzqualität bezeichnet werden: die Dialektik einer literarischen Spielform, die Sexuelles andeuten kann, dabei aber weitere Konnotationen ins Spiel bringt und nicht auf Vereindeutigung, sondern auf die Freisetzung von → Imagination zielt. Weniger eine Entschlüsselung des Gemeinten als Imaginationen des Möglichen bilden den Fluchtpunkt.66 Beobachten lässt sich das beispielsweise an Walthers Lied Si wunderwol gemachet wîp (L 53, 25). Zwei Strophen etablieren auf je unterschiedliche Weise einen Bezugsrahmen für erotische Imagination, die zwar angeregt, aber nicht ausgeführt wird. Einmal geschieht dies über ein Wortspiel, indem das Bild des roten Kissens (küssen) den Mund der Dame und das Begehren nach ihrem Kuss evoziert, wobei zur sinnlichen Vergegenwärtigung die Schmerz- und Krankheitssemantik der Minne tritt (IV, 1–8). Mithilfe von Anspielungen und Assoziationen stellt sich eine über die bewegliche Sinneswahrnehmung vermittelte Bedeutungsebene her, ohne dass der Kuss selbst zur Darstellung gelangt. Eine weitere Strophe hat die heimliche Beobachtung der Dame im Bad zum Thema, fokussiert statt einer Visualisierung des entblößten Körpers jedoch die Wirkungen leibhaftiger Präsenz.67 Nur die öffentlich sichtbaren Körperpartien kommen lobpreisend zur Sprache (V, V. 1–2), worauf sogleich die Lückenhaftigkeit der poetisch erzeugten Körperimagination unterstrichen wird: ob ich da enzwischen loben muoz, | sô wæne ich mê beschowet hân (V. 3–4). Diese Verse vollziehen eine doppelte Virtualisierung der weiblichen Nacktheit: Nicht nur wird sie dem Publikum vorenthalten, auch die Wahrnehmung des Sprechers bleibt in ungewisser Schwebe (sô wæne ich). Die inhaltlich und sprachlich vollzogene Grenzüberschreitung dringt in einen Raum der Intimität vor, den das Lied gleichermaßen erzeugt, um eine Imaginationslenkung auf das Ungesagte, das ‚Dazwischen‘ zu provozieren. Am Abschluss der Strophe springt die Beobachtung der Begehrten abrupt um zur heftigen Wirkung auf 65 So bei Zeyen 1996, 169–179, der eine ganze Reihe von ‚Euphemismen‘ diskutiert, wobei die Vielfalt denkbarer sexueller Praktiken allerdings unberücksichtigt bleibt. 66 Ausführlicher zum hier vorgeschlagenen Konzept und mit weiteren Analysen Klinger 2017. 67 Zum Lied Tervooren 1988, 178–181; Ehrismann 1993; Endres 2009, bes. 302–305.
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den Beobachter: si sach mich niht, dô si mich schôz, | daz mich noch sticht als ez dô stach (V. 7–8). Der riskante Blick führt mit dem absichtslos verschossenen Liebespfeil zur fortwährenden Reizung des Begehrens. Das Wechselspiel verhüllender und enthüllender Sprachgesten zielt insgesamt nicht auf sexuelle Vereindeutigung, sondern auf die Dynamik erotischer Spannungen.68 Von solchen Strategien zu unterscheiden sind – trotz fließender Übergänge – obszöne Redeweisen, die ein Bildfeld (beispielsweise aus dem Bereich des Krieges oder des Handwerks) mit sexuellen Inhalten aufladen: Über die Reibung der divergenten Bezugssysteme erzeugen sie einen intensiven Reiz, an dessen Herstellung Rezipierende durch den Entschlüsselungsvorgang aktiv beteiligt werden.69 Ein prägnantes Beispiel dafür gibt – wiederum als Frauenrede gestaltet – eine Strophe aus dem Reinmar-Corpus der Handschrift E ab: mîne vriunt die vörhtent, daz ich werde wunt mit sîme scharpfen spieze. Daz er mich erschieze, des ich gar ân angest bin. schiuzet er, sô stiche ich in, sô sehe, waz ers genieze. (MF LXVII, V, V. 2–6)70
Die obszöne Beschreibung stimuliert die Vorstellung eines aggressiven sexuellen Akts, dem sich die Sprecherin allerdings wehrfähig, unter metaphorischer Bezugnahme auf die stechenden Liebespfeile Venus’ und Amors, entgegenstellt. Literarische Topik wird an dieser Stelle – trotz ähnlicher Formulierung ganz anders als bei Walther – in aggressive weibliche Potenz umgemünzt, so dass der männliche Genuss am Ende ironisch in Frage stehen kann.71 Wenn Erotisierungsstrategien und obszöne Sprechweisen ein neuartiges literarisches Spielfeld eröffnen, das sinnlich-körperliche Wahrnehmungen zur Mobilisierung der Imagination einsetzt, können weitere Analysen zeigen, ob und wie damit Geschlechtsidentitäten und Machtverhältnisse festgeschrieben oder irritiert und
68 Vgl. Klinger 2008 und Largier 2008 zu Nemt, frowe, disen kranz (L 74, 20). 69 Mit dieser Definition soll zugleich eine Unterscheidung obszöner von pornographischen Darstellungsweisen angeregt werden, die der von Stempel (1968, bes. 191–193) vorgeschlagene Obszönitätsbegriff – direkte Benennung und detaillierende Repräsentation von Geschlechtsorganen, sexuellen Akten und skatologischen Elementen – nicht erlaubt. Zur historischen Verselbständigung von Pornographie in der Frühen Neuzeit Hunt 1994. 70 Zum Lied Bennewitz 2000, 72–74. In besonderer Häufung treten obszöne Redeweisen in NeidhartLiedern auf, wo sie allerdings beiden Geschlechtern in den Mund gelegt werden. 71 Bennewitz 2000, 74, zieht daraus den Schluss: „[G]erade die erotische Ebenbürtigkeit […] bzw. Überlegenheit der Frau […] beweist ihre Laszivität und damit (unter moralisch-ethischem Gesichtspunkt) zugleich ihre Fragwürdigkeit, ja Minderwertigkeit.“ Kerth 2007, 155, erkennt darin eine Demontage der Minnedame.
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destabilisiert werden.72 Für die Untersuchung einer literarisch geformten Erotik bietet sich unter anderem das Genre des Tagelieds an, das in der Schwellensituation der Morgendämmerung und der unvermeidlichen Trennung einen Raum schafft, Intimität (meist rückblickend) zu inszenieren. Einzelanalysen können zeigen, ob und wie sinnliche Reize und körperliche Nähe mit Aktivität oder Passivität und diese wiederum mit Geschlechtszuschreibungen verbunden, welche Geschlechtsdifferenzierungen dabei vorgenommen oder aufgehoben werden. Am literarischen Spiel mit Verweisen, Andeutungen und Polysemien kann eine weiterführende Diskussion ansetzen, die den je angelegten Referenzrahmen der ‚Sexualität‘, der Geschlechterordnungen und -identitäten kritischer Reflexion unterzieht und dabei Deutungsmöglichkeiten berücksichtigt, die quer zu modernen Auffassungen von Liebe und Sexualität stehen.
Literatur Anna Babka und Susanne Hochreiter, unter Mitarbeit von Meri Disoski u. a. (Hg.): Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen. Wien 2008. Constanze Bausch u. a: Begehrende Körper und verkörpertes Begehren. Interdisziplinäre Studien zu Performativität und gender. In: Paragrana 13 (2004), 251–309. Ricarda Bauschke-Hartung: Minnesang zwischen Gesellschaftskunst und Selbstreflexion im Alter(n)sdiskurs – Walthers von der Vogelweide „Sumerlaten“-Lied. In: Jahrbuch der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf 2008/2009. Düsseldorf 2010, 333–344. Ingrid Bennewitz: ‚vrouwe/maget‘. Überlegungen zur Interpretation der sogenannten Mädchenlieder im Kontext von Walthers Minnesang-Konzeption. In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Hg. von Hans-Dieter Mück. Stuttgart 1989 (Kulturwissenschaftliche Bibliothek 1), 237–252. Ingrid Bennewitz: Das Paradoxon weiblichen Sprechens im Minnesang. Überlegungen zur Funktion der sog. ‚Frauenstrophen‘. In: Mediaevistik 4 (1991), 21–36. Ingrid Bennewitz: Die obszöne weibliche Stimme. Erotik und Obszönität in den Frauenstrophen der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Cramer u. a. 2000, 69–84. Ingrid Bennewitz und Andrea Grafetstätter, unter Mitarbeit von Lydia Miklautsch: Gender Studies. Begehren und Erhören. In: Walther von der Vogelweide und die Literaturtheorie. Neun Modellanalysen von „Nemt, frouwe, disen kranz“. Hg. von Johannes Keller und Lydia Miklautsch. Stuttgart 2008 (RUB 17673), 141–158. Katharina Boll: Alsô redete ein vrowe schoene. Untersuchungen zu Konstitution und Funktion der Frauenrede im Minnesang des 12. Jahrhunderts. Würzburg 2007 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 31). Katharina Boll: „Vrowe, nû verredent iuch niht“. Die Inszenierung von Frau und Mann als Dialogpartner im frühen und hohen Minnesang. In: Aspekte einer Sprache der Liebe. Formen des Dialogischen im Minnesang. Hg. von Marina Münkler. Bern u. a. 2011 (Publikationen zur ZfG 21), 59–76.
72 Weiter zu untersuchen wären die Semantiken der Erotisierung, wobei sich besonders die beliebten Sprachbilder aus dem Bereich der Natur für Fragen nach der Naturalisierung oder der ausgestellten Artifizialität von Geschlecht und sexuellen Empfindens- und Verhaltensweisen anbieten.
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Sozialgeschichte als Forschungsparadigma Diese Forschungsrichtung hat in der Mediävistik eine lange Tradition, hatten doch schon im frühen neunzehnten Jahrhundert die Romantiker die höfische Liebes- und Ritterdichtung des zwölften Jahrhunderts in aller Selbstverständlichkeit im adligen Rittertum der Stauferzeit, ihrer Frauenverehrung und Galanterie eingebunden.1 Es folgten bald, vor allem in der Romanistik, bezogen auf die Trobadorlyrik (→ Altokzitanische Lyrik), die verschiedensten Versuche einer historischen Konkretisierung ihrer gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen und funktionshistorischen Bestimmung. Neben spezifischen Liedtypen, die wie die lateinisch-romanische Pastourelle2 oder das deutsche → Neidhart-Corpus3 mit der Opposition von Adel vs. Bauern explizit eine Gesellschaftsthematik profilieren und deshalb im Blick auf ihre Entstehung und Rezeption schon immer sozialgeschichtliche Überlegungen provoziert haben, konzentrierte sich die gesellschaftsgeschichtliche Lyrikforschung im Wesentlichen auf das monologische Werbungslied, die sogenannte Minnekanzone mit ihren Reflexionen des männlichen Ich über den mehr oder weniger aussichtlosen (Liebes-)Dienst und den mit der Unterwerfung unter die Liebe verbundenen Ergebenheitsgesten gegenüber der Dame. Damit war zugleich das Provokationspotenzial einer literarischen Thematik angesprochen, die seit Gaston Paris’ wirkungsmächtigem Aufsatz von 1883 im Rahmen von Entstehungstheorien der europäischen Liebeslyrik unter dem Konzeptbegriff der ‚höfischen Liebe‘ (fin’amors / amour courtois) intensiv diskutiert wurde und mit der Wende des neunzehnten Jahrhunderts im Ausgreifen auf wechselnde Kontexte eine Vielzahl funktionsgeschichtlicher Erklärungen für ihre Ausbildung und Attraktivität im elften/zwölften Jahrhundert erfahren hat. Dabei boten sich für die angesichts der historisch bezeugten Geschlechterhierarchisierungen der Adelsgesellschaft höchst ungewöhnlichen Inferioritätsbehauptungen des liebenden männlichen Ich im Wesentlichen zwei Verfahrensmodelle der gesellschaftlichen Kontextualisierung an: Während man unter der methodischen Prämisse einer Äquivalenz gesellschaftlicher und literarischer Faktoren, sei es im Rahmen des materialistischen Basis-Überbauoder eines weiter gefaßten Strukturhomologie-Konzepts, nach einer sozial inferioren Gruppe als Resonanzboden der literarischen Produktion und Rezeption suchte, konzentrierte man sich unter der Perspektive eines Literaturkonzepts ideologischer Inversion auf die poetischen Selbsterniedrigungsposen in ihrer Gegenläufigkeit zu sozialgeschichtlichen Faktoren, wobei hinter beiden Optionen das literatursoziologische 1 Liebertz-Grün 1977, 69–88; Heinzle 1997, 93–101. 2 Zur sozialgeschichtlichen Deutung des „Standesunterschiedes“ in der lateinisch-romanischen Pastourelle vgl. Brinkmann 1985, 55–65. 3 Zur älteren sozialgeschichtlich orientierten Neidhart-Forschung vgl. Schneider 1976, zur neueren Peters 2000. https://doi.org/10.1515/9783110351859-018
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Deutungsmuster einer krisensymptomatischen Verbindung von gesellschaftlichem Mangel und literarischer Kompensation stand. Die Parallelisierung poetischer Dienstaussagen mit der gesellschaftlichen Dienstsphäre ihrer Autoren bestimmte den Anfang der sozialgeschichtlichen Lyrikdeutung. So konzentrierte sich Eduard Wechssler zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf die soziale Abhängigkeit der trobadoresken Hofdichter, die ihre Ergebenheitswendungen als panegyrische Lobesrede an die Dame des Hofes richteten, aber zugleich mit ihrer ausgeprägt vasallitischen Liebesmetaphorik den fürstlichen Ehemann adressierten. Als Reaktion auf diese Funktionsbestimmung der Trobadorpoesie als „politischer Panegyrikus in der Form der persönlichen Huldigung“4 aus der Perspektive abhängiger Berufssänger analysierte Kluckhohn im Jahre 1910 die gesellschaftsterminologische Spezifik der Ergebenheitsbeteuerungen im deutschen Minnesang, die gerade nicht auf Ausdrucksformen vasallitischer Bindungen und Treueversicherungen rekurrierten, sondern sich um die Begriffe dienst, undertân und vor allem eigen gruppierten, dabei eher ministerialische Denkmuster aufgriffen und auf diese Weise sehr direkt von einer spezifischen Gesellschaftsentwicklung des Adels im deutschen Herrschaftsraum, der Herausbildung und zunehmenden Bedeutung der Ministerialität, geprägt zu sein schienen.5 Ende der 1930er Jahre verband dann Norbert Elias Wechsslers Aussagen zur besonderen Rolle der abhängigen Hofdichter mit zivilisationshistorischen Überlegungen zur Einbindung der Liebespoesie in die (auch sexuellen) Bedrängtheiten des engen Zusammenlebens einer niederadligen Kriegerkaste am Fürstenhof mit seinen Notwendigkeiten der Selbstdisziplinierung. Wesentlich weniger stark vertreten war die Gegenposition, die bei den Ergebenheitswendungen des poetischen Ich den Aspekt der Gegenläufigkeit zur sozialgeschichtlichen Lebenswelt betonte, deshalb von einem hochadligen Selbstentwurf freiwilliger Erniedrigung ausging und für das damit verbundene Irritationspotential einen gesellschaftsgeschichtlichen Anlass identifizierte, der über den generellen Aspekt einer Adelsprogrammatik christlicher humilitas und Selbstüberwindung hinausführte: Reto R. Bezzola machte dafür die Attraktivität verantwortlich, die reformmonastische Ideale in Frankreichs Südwesten um die Wende des elften Jahrhunderts für hochadlige Damen hatten und als Reaktion in der okzitanischen Liebespoesie ein männliches Anspruchskonzept entsagungsvoller Dienstbarkeit herausgetrieben haben mochten.6 Mit diesem Nebeneinander literatursoziologischer Erklärungsmuster gesellschaftshomologer vs. gesellschaftsadverser Orientierung brach die Diskussion über 4 Wechssler 1909, 113. 5 Vier Jahre später sollte allerdings Kluckhohn 1914 eher von einer unkonkret-generalisierenden Dienstmetaphorik des Minnesangs ausgehen und in ihr weniger ministerialische Spezialformulierungen als „eine allgemeine Ausdrucksweise der ritterlichen Kultur im ganzen“ (81) sehen. Zur wechselvollen Problemgeschichte dieser Diskussion Liebertz-Grün 1977, 72–83; neuerdings Peters 2015. 6 Bezzola 1940.
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die gesellschaftsgeschichtlichen Entstehungshypothesen der volkssprachigen Liebeslyrik ab und machte in den späten 1940er und 1950er Jahren, der Phase eines dezidiert textimmanenten Literaturverständnisses, spezifisch literarästhetischen, autorbiographischen und themenorientierten Arbeiten wie Einzelinterpretationen Platz.7 Sobald aber mit den 1960er und frühen 1970er Jahren in den Literaturwissenschaften auf breiter Front eine höchst kontroverse Diskussion um die Diffizilitäten des Gesellschaftsbezugs der Literatur einsetzte, griff die Mediävistik wieder auf diesen Fundus sozialhistorischer Argumentation zurück und erprobte – nun unter neuen Theorieprämissen – an der höfischen Dichtung, speziell der Liebespoesie, die verschiedensten gesellschaftsbezogenen Lektüren: Unter den Rahmenbedingungen der die DDR-Germanistik bestimmenden materialistischen Geschichtstheorie war die höfische Dichtung, vor allem ihre Themenbündelungen von höfischer Liebe und ritterlichem Kampf, idealem Artuskönigtum und adligem Dienstethos, ein ideologisches Nebenprodukt der feudalen Ausbeutung und diente in erster Linie der Verschleierung der sich längst abzeichnenden gesellschaftlichen Widersprüche der Feudalgesellschaft: Die Artusromane boten dem in dem hochmittelalterlichen „Feudalstaat“ von Funktionsverlust bedrohten Adel in der Protagonistenfigur des Aventiureritters eine höchst attraktive Selbstdeutung, die Liebeslyrik reagiere demgegenüber auf die Krisensituationen der „feudalen Anarchie“ des zwölften Jahrhunderts mit höchst anspruchsvollen Formund Minnekonzepten und ziele damit auf eine „Sicherung des Herrschaftsanspruches der Feudalklasse durch den Nachweis ethischer und ästhetischer Qualitäten beziehungsweise Erziehung der eigenen Klasse zu diesen Qualitäten“8. Während bei dieser funktionsgeschichtlichen Generaldeutung der gesamte ‚Feudaladel‘ angesprochen ist, knüpft Köhler sowohl mit seinem Chrestien-Buch von 1956 als auch mit seinen seit den frühen 1950er Jahren erschienenen Arbeiten zur Trobadorlyrik an die gruppenspezifische Exegese der älteren sozialhistorischen Lyrikforschung an, ergänzte sie allerdings durch ein Ausgreifen auf ideologische Bedürfnisse des Dynastenadels. So führt er in einem folgenreichen Aufsatz des Jahres 1964 in einer Kombination von gesellschaftshistorischem Aufriss und exemplarischer Analyse von Bernarts de Ventadorn Lerchenlied vor, wie der Liedtypus der Liebeskanzone mit ihrer Figurentrias von liebendem Ich, Dame und einer eher feindlichen Gesellschaft in den Ich-Beteuerungen eines unverzagten (Liebes-)Dienstes zwar in erster Linie den sozioökonomischen Problemen einer von ihm mit dem Kunstbegriff „niederes Rittertum“ bezeichneten heterogenen Gruppe besitzloser beziehungsweise verarmter Kleinadliger, ihren sozialen Aufstiegsbestrebungen und vergeblichen Hoffnungen auf ein Lehen, eine poetisch wie ethisch höchst attraktive Stimme verleihe, aber zugleich 7 Dies gilt – mit der Ausnahme von Hauser 1953, Bd. 1, 201–242, 523–525, hier vor allem 217–234 – in erster Linie für die westdeutsche Mittelalterphilologie, während in der DDR bereits in den frühen 1950er Jahren Erich Köhler (1962, 21–204, 237–293) literatursoziologisch orientierte Arbeiten zur Trobadorlyrik vorgelegt hat. 8 Spiewok 1963, 488.
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in der lyrischen Rollenfigur des selbstlos dienenden Ich auch die Zustimmung des Hochadels9 finde, der sich nicht nur als Gönner, sondern auch als Trobador dieser faszinierenden Selbstdeutung bemächtige. In eben diesem Jahr 1964 erschien Georges Dubys Annales-Aufsatz über die „jeunes“, jene Gruppe unverheirateter Adelssöhne, die durch die Familienpolitik der seit dem elften Jahrhundert zunehmend agnatisch orientierten Adelshäuser, ihrer strikten Erbregelungen und wohlerwogenen Heiratsstrategien, in eine sozial unsichere Existenz an fremden Höfen, auf den Schlachtfeldern und Turnieren abgedrängt worden seien und deshalb ihre Deklassierungsängste und Aufstiegswünsche in Phantasmen kämpferischer Erfolge, ritterlicher Abenteuerlust und prestigiöser Eheschließungen umgepolt hätten. Köhler besetzte daraufhin das „niedere Rittertum“ im Blick auf die programmatische Rolle der ‚ Jugend‘ bei den Trobadors10 mit Dubys „jeunes“ und legte diese unter dem Oberbegriff joven auf die (noch) nicht in den Adel integrierten Angehörigen eines besitzlosen Rittertums fest. Ihre sozialen Aufstiegswünsche bestimmten die Dienstbeteuerungen des liebenden Ich der trobadoresken canso, während ihre sozialen Verlustängste und Frustrationen eher die typenspezifische Sirventes-Polemik gegen den Geiz und die Unaufrichtigkeit der senhors und rics malvatz [Herren und habgierige Reiche] grundierten.11 Auf dem Berliner Germanistentag des Jahres 1968 erprobte Köhler schließlich eine modifizierende Übertragung dieses Deutungsmodells auf den deutschen Minnesang. Zwar partizipiere dieser an vergleichbaren gesellschaftlichen Widersprüchen der Adelsgesellschaft wie in Frankreich, sei aber mit seiner Zurückhaltung gegenüber dem sozialen Konfliktpotential der romanischen Vorbilder offenbar von der gesellschaftlichen Situation einer noch abhängigeren niederen Adelsschicht geprägt: der deutschen Ministerialität, die im Rahmen der herrschaftlichen familia geistlicher wie weltlicher Fürsten zu wichtigen Ämtern, erheblichem Reichtum und großem Ansehen gelangen konnte. Ihre juristische Unfreiheit und ihre dementsprechend sehr viel engere Bindung an ihre Herren habe allerdings ihre Bemühungen um Integration in den Adel ganz empfindlich behindert und auf der Ebene der literarischen Konstruktion des Minnesangs in der Ich-Rede des liebenden Sängers über seinen aussichtslosen Dienst einen eher resignativen Ton bewirkt, dem sich nur → Walther von der Vogelweide als freier Ritter entzogen habe.12
9 In seinem, in den späten 1970er Jahren verfassten, erst nach seinem Tod publizierten, Beitrag von 1987 spricht Köhler von einem „kompromißuelle(n) Konsensus des Hochadels“ (55) und sieht in der Kanzone die „kompromißuelle, weil alle Widersprüche vermittelnde Form par excellence“ (111). 10 Köhler 1966. 11 Köhlers Überlegungen zum leicht divergierenden ‚Sitz im Leben‘ der Sirventes und der ‚Mischgattung‘ Sirventes-Kanzone baut Rieger 1976 zu einer übergreifenden Typengeschichte aus. 12 Köhler 1970. Vergleichbare Überlegungen hatte bereits Moller 1959 unter dem sozialpsychologischen Konzept des marginal man in die Diskussion eingebracht.
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Diese sogenannte Ministerialenthese wurde schließlich in den frühen 1970er Jahren mit Gert Kaisers Arbeit zu den Artusromanen → Hartmanns von Aue,13 als germanistischem Pendant zu Köhlers Chrestien-Buch, zum Standardmodell eines gesellschaftsgeschichtlichen Verständnisses der höfisch-ritterlichen Dichtung in Deutschland, die zutiefst von dem zwischen Aufstiegsambitionen und rechtlichen Einschränkungen schwankenden ministerialischem Selbstverständnis geprägt sei. In einer Art Nebenschauplatz hat Kaiser auch den ministerialischen Charakter des Minnesangs betont, ließe sich doch mit ihm der überragende Erfolg der minnesängerischen „Nomenklatur der Unterwerfung“14 plausibel machen: Die Ministerialität habe ja nicht nur eine ihrem prekären Sozialstatus entsprechende, dezidiert gruppenspezifische Dienstideologie ausgebildet, sondern zugleich das von den Koordinaten humilitas, Selbstdisziplinierung und Aggressionslenkung bestimmte „Dienstethos der Kirche“15 für ein Laienpublikum in „eine offensive und attraktive Selbstinterpretation verwandelt“16. Die kritische Auseinandersetzung mit diesen historisch-soziologischen Deutungsmodellen der Strukturparallelisierung gesellschaftlicher und literarischer Faktoren setzte bereits in den frühen 1970er Jahren ein. Sie war zwar eingebunden in eine weit über die Mediävistik hinausgreifende literaturwissenschaftliche Diskussion über das Theorieproblem der literarischen Vermittlung gesellschaftlicher Sachverhalte, bewegte sich allerdings im Falle der mediävistischen Lyrikforschung disziplinen- wie länderspezifisch in unterschiedliche Richtungen: Die germanistische Kritik17 konzentrierte sich auf die thematisch-ideologische Ebene literarischer Dienst- und Unterwerfungsdiskurse und inkriminierte in erster Linie das von Köhler als Basisverfahren eingesetzte Analogie- beziehungsweise Homologiemodell der Relationierung poetischer und gesellschaftlicher Sachverhalte,18 da es bei der Bestimmung des genuinen Gesellschaftsbezugs literarischer Produktion und Rezeption notwendigerweise eine Engführung von literarischer Dienstthematik und einer der gesellschaftlichen Dienstsphäre angehörenden Gruppe impliziere und deshalb anderen Deutungsperspektiven, vor allem den Bemühungen um ein gesellschaftsgeschichtliches Verständnis der poetischen Unterwerfungsposen als einer vom Hochadel ausgehenden Umkehrung der 13 Kaiser 1973. 14 Kaiser 1980, 187. 15 Kaiser 1980, 170. 16 Kaiser 1980, 171. 17 Vgl. Peters 1973; Bumke 1976, 7–13; Kleinschmidt 1976, mit Abstrichen, da hier unter dem Aspekt des „höfischen Zeremonialhandelns“ die Ministerialität weiterhin einen bedeutenden Platz in der Argumentation hat; Liebertz-Grün 1977, 97–111, und vor allem Schnell 1990; Schnell 1991; Schnell 1994; Schnell 2012a, 44–46; Schnell 2012b, 95–101. 18 Wie sehr Köhler noch im Jahre 1977 an dieser Homologie-Modellierung festhält, die letztlich auf einem stark relativierten Widerspiegelungsbegriff aufbaut, zeigen seine Überlegungen zu einer systemtheoretischen Vermittlung der „strukturellen Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft“ (12).
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Geschlechterrollen keinen originären Raum lasse, ihnen bestenfalls die nachgeordnete Aufgabe der Erschließung eines Sekundärphänomens der Rezeption konzediere. Die Minnesangforschung hat allerdings bald diese Unterscheidung von niederem und hohen Adel, von freiem Adel und unfreier Ministerialität hinter sich gelassen und unter der Prämisse eines übergreifenden Adelsethos als sozialgeschichtliche Folie und Resonanzraum der Ich-Aussagen der Minnekanzone diese in ihrem irritierenden Innovationspotential, ihrer Widerständigkeit gegen entscheidende gesellschaftliche Adelsnormen, wenn nicht gar ihrem gegenkulturellen Gestus analysiert und damit eher ein Gegenkonzept verfolgt, das die für die Minnekanzone charakteristische Rhetorik der Unterwerfungsposen unter dem Aspekt der ‚Umwertung‘ gesellschaftlicher Normen diskutiert. So sieht Bernd Thum – wie Bezzola – in den poetischen Ergebenheitswendungen der Ich-Rede eine Reaktion der adligen Dichter auf eine in den religiösen Bewegungen des zwölften Jahrhunderts aufbrechende „Adelskrise“19 als „Geschlechterkrise“20: Die Verweigerungshaltung religiös bewegter Damen beantworteten sie mit einem Extrem „völliger Unterwerfung“21. Während diese wenig überzeugenden Überlegungen – wie schon Bezzolas These – zu Recht wenig Resonanz in der Forschung gefunden haben, bietet Rüdiger Schnell22 in seinen weit in die verschiedensten Literaturbereiche höfischer Dichtung ausgreifenden Arbeiten zu den „wesentlichen Leitvorstellungen der ‚höfischen Liebe‘“23, einem acht grundlegende Merkmale umfassenden Kriterienkatalog,24 eine gute Basis für ein gesellschafts- wie kulturgeschichtliches Verständnis der Ergebenheitsrhetorik der Minnekanzone. Denn das Merkmalbündel an Zielvorstellungen referiert gerade nicht im Sinne einer Gesellschaftsaffinität auf aristokratische Verhaltensnormen, sondern basiert im Gegenteil auf Innennormen, die in ihrer Negierung bestimmter adliger Verhaltensmodelle wie Sozialpraktiken prägnant nicht nur generell das „provozierend Neue des Diskurses über die ‚höfische Liebe‘“25 profilieren, sondern in besonderer Weise den Provokations-, ja Überbietungscharakter der Ich-Rede der freiwilligen Unterwerfung be leuchten.26
19 Thum 1980, 343. 20 Thum 1980, 378. 21 Thum 1980, 378. 22 Vgl. vor allem die in Anm. 17 genannten Arbeiten, aber auch Schnell 1985, 126–135. 23 Schnell 1990, 238. 24 Zu den acht Leitideen Ausschließlichkeit, Beständigkeit, Aufrichtigkeit, Selbstlosigkeit, Gegenseitigkeit, Freiwilligkeit/Rücksichtsnahme, Maß/Vernunft/Über-Vernunft und Leidensbereitschaft vgl. Schnell 1990, 239–275; Schnell 1991, 399–419. 25 Schnell 1991, 423. 26 Einen wenig ausgewogenen kritischen Überblick über die neueren Minnesangarbeiten aus dem Bereich der „Sozial- und Mentalitätsgeschichte“ bietet Haferland 2003, 129–138.
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In der Romanistik hatte Köhlers gesellschaftsgeschichtliche Lyrikdeutung hingegen, vor allem in Deutschland, sehr viel länger ein zutiefst positives Echo.27 Erst in der Mitte der 1980er Jahre setzte auch hier die Kritik an seinem gesellschaftsgeschichtlichen Allegorese-Modell ein,28 wobei die angelsächsische Romanistik, am prägnantesten etwa Sarah Kay im Jahre 1990,29 sich weniger auf die thematisch-ideologische Ebene der Ich-Rede des trobadoresken Dienstgedankens konzentrierte, diesen jedenfalls von vornherein nicht als „synecdoche for the social group“30 fasste, sondern eher als stilistisch-rhetorischen „detour“31, als „veil“32 zur poetischen Formulierung eines Begehrens, das unabhängig von sozialen Hierarchien in der Werbung um die domna vor allem auf „status“ im Sinne von „inherent value“33, d. h. in Abwendung von geburtständischem „rank“, ziele und sich in artistisch ambitionierten Wettbewerbsfigurationen von Überbietungsrhetorik und poetischer Konkurrenz vollziehe. Damit ist eine Funktionsebene trobadoresker Ich-Rede angesprochen, in der Hugo Kuhn34 bereits in den späten 1970er Jahren eine zentrale Gesellschaftsthematik der höfischen Dichtung, zumal des Minnesangs, gesehen hat: die „freie Konkurrenz der ‚artistischen‘ Kompetenz, eine Interaktion von Meisterschaft und Schülerschaft“35, die im Liedvollzug alle sozialen Hierarchien überforme und – wie Gerhard Hahn im Anschluss an Kuhns Konzeptformulierung des „artistischen Meistertums“36 an Walthers Liedœuvre herausstellt – auf „meisterliche Selbstbehauptung“37 setze. Auf dieser Argumentationsbasis, die die sozialgeschichtliche Faktorenebene des Auf- und Abstiegs adliger Gruppen in ihren vermuteten sozialpsychologischen Auswirkungen 27 Während in Frankreich Köhlers historisch-soziologische Arbeiten übergreifende Würdigungen aus einer materialistisch-literaturwissenschaftlichen Perspektive erfahren haben, vgl. etwa Thoma 1981, bestimmten in der deutschen Romanistik vor allem die Lyrikarbeiten der Köhler-Schüler Mölk 1982 und Rieger 1976 bis weit in die 1980er Jahre hinein die Diskussion im Sinne einer geradezu autoritativen Kanonisierung von Köhlers sozialhistorischer Deutung der Trobadorlyrik, die schließlich in funktionsgeschichtlich orientierten Überblicksdarstellungen des occitanischen Lyriksystems endgültig zum gesicherten Handbuchwissen avanciert (Rieger 1983; Rieger 1987). Im Rahmen dieses Forschungskonsenses bewegt sich auch Kaehne 1983. Und dass selbst im Zuge der neueren literarhistorischen Wende zur Ökonomie, die im Falle der mittelalterlichen Lyrik vornehmlich einen Rückgriff auf das wissenschaftliche Diskursfeld vormoderner Gabenökonomie bedeutet (vgl. Peters 2018, 36–47), die romanistische Lyrikforschung Köhlers Kleinadelsthese verbunden bleibt, zeigt etwa der Beitrag von Rossell 2019. 28 Eine scharfsinnige Auseinandersetzung mit Köhlers mediävistischen Arbeiten bietet SchulzBuschhaus 1984, 152–153. 29 Kay 1990, 111–130. 30 Kay 1990, 127. 31 Kay 1990, 116. 32 Kay 1990, 118. 33 Kay 1990, 120. 34 Kuhn 1977. 35 Kuhn 1977, 53. 36 Kuhn 1977, 54. 37 Hahn 1979, 138.
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zugunsten der von Kuhn im Liedvollzug angesiedelten „‚artistischen‘ LegitimitätsNormen“38 verlässt, entwickelte sich in der Germanistik seit den späten 1970er Jahren eine in die verschiedensten sozialanthropologischen Deutungsmodelle ausdifferenzierte funktionsgeschichtliche Minnesang-Diskussion, die in wechselnden terminologischen Bündelungen um die Konzeptbegriffe ‚Zeremonialhandeln‘, ‚Repräsentation‘, ‚Vollzugskunst‘, ‚Ritual‘ beziehungsweise ‚(Para-) oder (Quasi-)Ritual‘, aber auch ‚Situationalität‘, ‚Institutionalität‘ und – neuerdings in einer dezidiert wissenssoziologischen Variante – ‚Konsoziationsmodellierung‘39 kreist und ungeachtet aller terminologisch-konzeptionellen Modulationen den Gesellschaftsbezug des Minnesangs in der poetischen Bewältigung sozialer Komplexität und damit zugleich in der Programmatik kollektiv verbindlicher Handlungorientierung sieht. Dass allerdings mit dieser Zuspitzung des funktionsgeschichtlichen Minnesangverständnisses auf eine im literarischen Symbolhandeln vermittelte Gesellschaftsreflexion, ja sogar Verhaltenskonformität andere Aspekte der minnesängerischen Ich-Rede, vor allem mögliche gesellschaftsinverse Irritationspotentiale und Provokationsabgründe, ausgeblendet sind, haben zu Recht Mark Chinca und Timo Reuvekamp-Felber moniert.40 Die von Daniel Eder neuerdings vorgeschlagene lacanianisch inspirierte Lesart der Registerund Kulturpoetik der Minnekanzone öffnet sich zwar dem Gesamtpanorama „einer diffizilen literarischen Auslotung des komplexen Verhältnisses von Subjektposition und soziokultureller Ordnung“41. Wie weit es allerdings dieser kulturwissenschaftlichen Perspektivierung gelingt, die methodischen Fallstricke der sozialgeschichtlichen Minnesangforschung zu vermeiden und in der Mediävistik ein belastbares soziokulturelles Lyrikverständnis zu etablieren, wird die Zukunft zeigen.42 38 Kuhn 1977, 93. 39 Während der frühe Beitrag von Kleinschmidt 1976 die Konzeptbegriffe „Zeremonialhandeln“, „höfische Repräsentation“ und „ritualisierte Vortragsform“ zusammenbindet, greifen Ortmann und Ragotzky 1990 zusätzlich auf Kuhns Konzept der „Vollzugskunst“ zurück; Müller 1996 und 1999 wie auch Strohschneider 1999 diskutieren hingegen den (para-)rituellen Charakter des Minnesangs, und Strohschneider 2001 gibt Kuhns Aufführungskonzept eine institutionalitätstheoretische Wendung, indem er – angesichts der im Mittelalter noch fehlenden beziehungsweise noch nicht hinreichend ausgeprägten Ausdifferenzierung eines Subsystems ‚Literatur‘ und der sich daraus ergebenden ‚Situationalität‘ des Liedvortrags – die spruchdichterlichen und minnesängerischen Ich-Aussagen auf ihre funktionshistorische Bestimmung im Sinne literarischer Geltungsbehauptungen, spezifischer Akte der Selbstpositionierung und Authentisierungsstrategien befragt. Mohr 2019a und 2019b) untersucht hingegen unter dem Diktum einer Wissenssoziologie vom Hof, wie „eine höfische Gesellschaft sich in der Thematik von Minne als Sozium thematisieren bzw. voraussetzen kann“ (2019a, 12). 40 Vgl. Chinca 1995 und Reuvekamp-Felber 2004. 41 Eder 2016, 379. 42 Nicht sehr vielversprechend sind die neueren Trobadorstudien von Fajardo-Acosta 2010, der im Rahmen einer von Jacques Lacan und Slavoj Žižek bestimmten Theoriekulisse eine wenig gelungene Engführung literarischer Faktoren, der von ihm als feudale, populare und bürgerliche ‚Klassendiskurse‘ (2010, 120 beziehungsweise 128) bezeichneten lyrischen Sprechregister, mit den durch Handel, Markt und Geldwirtschaft entstandenen neuen „commerce and exchange value principles“ (108) zusammenbindet.
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Rüdiger Schnell: Minnesang II: Der deutsche Minnesang von Friedrich von Hausen bis Heinrich von Morungen (ca. 1170–1190/1200). In: GLMF 3: Lyrische Werke. Hg. von Volker Mertens und Anton Touber. Berlin u. a. 2012, 83–182. [2012b] Ulrich Schulz-Buschhaus: Rez. von Erich Köhler: Literatursoziologische Perspektiven. Gesammelte Aufsätze. Hg. von Henning Krauss. Erich Köhler: Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur. Vorklassik – Klassik I – Klassik II. Hg. von Henning Krauss. In: Romanistisches Jahrbuch 35 (1984), 150–156. Wieder in: Das Rezensionswerk von Ulrich SchulzBuschhaus: eine Gesamtausgabe. Hg. von Klaus-Dieter Ertler und Walter Helmich. Tübingen 2005, 330–336. Wolfgang Spiewok: Minneidee und feudalhöfisches Frauenbild. Ein Beitrag zu den Maßstäben literaturhistorischer Wertung im Mittelalter. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald 12 (1963), 481–490. Peter Strohschneider: Tanzen und Singen. Leichs von Ulrich von Winterstetten, Heinrich von Sax sowie dem Tannhäuser und die Frage nach dem rituellen Status des Minnesangs. In: Mittelalterliche Lyrik. Probleme der Poetik. Hg. von Thomas Cramer und Ingrid Kasten. Berlin 1999 (PhStQ 154), 197–231. Peter Strohschneider: Institutionalität. Zum Verhältnis von literarischer Kommunikation und sozialer Interaktion in mittelalterlicher Literatur. Eine Einleitung. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hg. von Beate Kellner, Ludger Lieb und dems. Frankfurt a. M u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), 1–26. Heinz Thoma: Pour une science historico-sociologique de la littérature. Quelques remarques sur l’oeuvre d’Erich Köhler. In: Littérature 43/3 (1981), 100–115. Bernd Thum: Aufbruch und Verweigerung. Literatur und Geschichte am Oberrhein im hohen Mittelalter. Aspekte eines geschichtlichen Kulturraums. Bd. 2. Waldkirch i. Br. 1980. Eduard Wechssler: Das Kulturproblem des Minnesangs. Studien zur Vorgeschichte der Renaissance. Bd. 1: Minnesang und Christentum. Halle a. d. S. 1909.
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Der Dritte / das Dritte Psychoanalytische, sozialgeschichtliche und poetologische Aspekte Dieser Beitrag stellt einen Forschungsdiskurs vor, der die konventionelle Deutung der im Minnesang präsentierten Liebesbeziehung als einer bloß dyadisch bestimmten Relation zurücklässt zugunsten eines Ansatzes, der die in der Zweierbeziehung möglicherweise virulenten triangulären Strukturen aufdeckt. Dieser Diskurs ist Teil eines umfassenderen kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsels.1 Angestoßen wurde der Diskurs über den Dritten zwar bereits von dem Soziologen Georg Simmel und dem Psychoanalytiker Sigmund Freud.2 Doch erst gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich in der Sozialtheorie auf breiter Front die Erkenntnis durchgesetzt, dass es eine Fülle von sozialen Konstellationen gibt, in denen ein Dritter auf eine Zweierbeziehung einwirkt, ja dass solche Dritte zuweilen eine Zweierbeziehung allererst konstituieren.
1 Der Dritte (Soziologie) und der Andere (Psychoanalyse) In Soziologie und Psychoanalyse werden freilich oft dieselben Termini für unterschiedliche Sachverhalte beziehungsweise unterschiedliche Bezeichnungen für ähnliche Sachverhalte verwendet.3 In der Soziologie meint der Terminus ‚der Andere‘ das Spektrum an (dyadischen) Beziehungstypen, in denen einem ego ein alter ego gegenübersteht (in der Liebe, Freundschaft, Zusammenarbeit, im Konflikt, u. a.). Den ‚Dritten‘ denkt sich die Soziologie als konkrete Person/Partei (u. a. Bote, Übersetzer, Rivale, Mediator, Beobachter, Voyeur, Intrigant, Richter, Fremder; auch ausgeschlossene Dritte wie der Sündenbock).4 Der Dritte der Soziologie wirkt auf eine ‚reale‘
1 „Seit ungefähr zehn Jahren verdichten sich in den Kultur- und Sozialwissenschaften systematische Erkenntnisinteressen an der Figur und Funktion des ‚Dritten‘“ (Fischer 2014, 61). Vgl. auch Fischer 2006; Fischer 2008. 2 Wetzel 2003, 188; Fischer 2013a, 88–89. 3 Zu den Schwierigkeiten des Zusammenspiels von Soziologie und Psychoanalyse Schülein 2016. 4 Vgl. etwa Lenz 2010. Nicht damit zu verwechseln ist der sozialtheoretische Terminus ‚d a s Dritte‘, der einen dritten (abstrakten, transsubjektiven) Bereich meint: die Sprache, das soziale System, den Diskurs, eine Institution. Zur Abgrenzung von ‚Anderen‘ und ‚Dritten‘ im Bereich des Politischen und Ethischen Wetzel 2003. In der Psychoanalyse Lacans hingegen wird die (symbolische) Ordnung der https://doi.org/10.1515/9783110351859-019
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Zweierbeziehung ein. Dieser (konkrete) Dritte der Soziologie hat wenig zu tun mit der psychoanalytischen Vorstellung vom ‚Dritten‘ (meist als ‚der Andere‘ bezeichnet) als Repräsentanten der symbolischen Ordnung. Der (große) Andere der Psychoanalyse interessiert weniger in seiner Funktion für eine Zweierbeziehung als in seiner Bedeutung für die Subjektwerdung eines einzelnen Menschen. Doch in der literaturwissenschaftlichen Forschung werden die (soziologisch oder aber psychoanalytisch bestimmten) Termini ‚der Andere‘ beziehungsweise ‚der Dritte‘ zuweilen austauschbar verwendet,5 was dann zur Überblendung unterschiedlicher theoretischer Konzepte führt.6
2 Der Dritte in literarischen Liebesbeziehungen In der Literaturwissenschaft ist die Bedeutung der Figur des Dritten für die Darstellung von Liebesbeziehungen schon seit vielen Jahrzehnten erkannt. Ohne auf sozialtheoretische oder psychoanalytische Theorien zurückzugreifen, hat der Literaturwissenschaftler René Girard (1961) aufgrund seiner Analyse zahlreicher neuzeitlicher Romane die These aufgestellt, dass Begehren stets ein – durch einen Dritten (Anderen) – vermitteltes (mimetisches) Begehren sei.7 Menschliches Begehren lasse sich nicht durch ein direktes Verhältnis zwischen begehrendem Subjekt und Objekt, sondern nur durch ein Dreiecksverhältnis zwischen Subjekt, Vermittler (einem Dritten) und Objekt beschreiben. Girard konstatiert in seinen Romanlektüren, eine literarische Figur „begehrt ein Objekt dann, wenn (sie) davon überzeugt ist, daß dieses Objekt bereits von einem Dritten, der ein gewisses Ansehen genießt, begehrt wird“8. Demzufolge spricht Girard vom „triangulären Begehren“9 beziehungsweise vom „Begehren gemäß dem Anderen“10.
Sprache und des Diskurses als ‚d e r große A n d e r e ‘ bezeichnet. Für terminologische Verwirrung ist gesorgt. 5 Freilich verwendet Lacan zuweilen selbst den Terminus ‚der Dritte‘ anstelle des ‚(großen) Anderen‘; Lacan 1986, 77, kokettiert mit dem Gedanken, „Gott als Dritten […] im Geschäft der menschlichen Liebe“ zu setzen. 6 Was etwa die Soziologin Lindemann (2010) über den Dritten ausführt, steht weitab von dem, was die psychoanalytisch orientierte Literaturwissenschaftlerin Lüdemann (2010) über den Dritten schreibt. 7 Girard 2012 [1961]. In seiner späteren Schrift ‚La violence et le sacré‘ (1987 [1972]) grenzt Girard das ‚mimetische Begehren‘ von Freuds ödipaler Trias ab; dazu Koschorke 2002. 8 Girard 2012 1961], 16. 9 Girard 2012 [1961], 11–58 (Überschrift des ersten Kapitels). 10 Girard 2012 [1961], 46, 57, 89 u. ö. Girard verwendet zuweilen ‚der Andere‘ und ‚der Dritte‘ austauschbar (s. o. Punkt 1). Freilich hätte Girard diese Einsicht schon bei Ovid vorfinden können: ‚Amores‘ III 4,27–29; ‚Ars amatoria‘ III 593–596 (ein Rivale mache eine weibliche Person begehrenswerter).
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Girards Ansatz aufnehmend, aber ihn zuspitzend, arbeitet Eve Kosofsky Sedgwick (1985) eine spezielle Art literarischer Triangularität an Texten des siebzehnten bis zwanzigsten Jahrhunderts heraus.11 Unter der heterosexuellen (dyadischen) Oberflächenstruktur eines literarischen Textes verberge sich eine homosexuelle Tiefenstruktur. Wenn zwei Männer um eine Frau würben, begehre der eine nicht die Frau, sondern das Begehren des Rivalen. Daraus entstehe homosoziales Begehren.12 Der Soziologe Joachim Fischer hat insgesamt sieben verschiedene Funktionen der Figur des Dritten in (literarischen) Liebesdyaden ausgemacht: der Dritte als Verbotsinstanz (Inzestverbot), als Vermittler (Bote, Amor), als Ausgeschlossener, als Zuschauer, als Rivale, als Kind, als Transsexuelle(r).13
3 Höfische Liebe – eine trianguläre Relation? Die triangulären Lektüremodelle von René Girard (kein Begehren ohne Vermittlung) und von Eve Kosofsky Sedgwick (Frau als Medium des Begehrens zwischen Männern) haben, wie wir sehen werden, in die Forschung zum Minnesang beziehungsweise zur höfischen Liebe hineingestrahlt. Die Vorstellung von der höfischen Liebe als einer triangulären Relation wurde zusätzlich gestützt von psychoanalytischen Theorien (Freud, Lacan). Mit den 1960er/1970er Jahren setzte eine Forschungsrichtung ein, die die irritierenden Aussagen der Minnesänger – einerseits die Liebe der umworbenen Dame begehrend, andererseits zum Verzicht auf Liebeserfüllung bereit –, nicht mehr (allein) mit den Schwierigkeiten einer (individuellen) Zweierbeziehung erklärte, sondern als Ausdruck überpersönlicher sozialgeschichtlicher Faktoren oder aber unbewusster psychischer Prozesse deutete (→ Sozialgeschichte als Forschungsparadigma). Hier kommen ‚Dritte‘ ins Spiel. So postulierte der Romanist Erich Köhler (1964, 1970) eine Homologie zwischen der sozialpsychologischen Struktur einer sozialen Aufsteigerschicht (des sogenannten ‚niederen Rittertums‘, der paubres cavaliers) einerseits und der liebespsychologischen Struktur des werbenden Trobadors andererseits: Streben nach Liebesgunst (sozialem Aufstieg) und doch Bereitschaft zum Liebesverzicht (unbelohntem Hofdienst).14 Zeitgleich mit, vor allem aber nach Köhlers soziologischem Forschungsansatz etablierte sich eine Richtung, die ‚die‘ höfische Liebe mit Hilfe von psychoanalytischen Erklärungsmodellen zu verstehen versuchte. Anglophone Studien der 1960er
11 Sedgwick 1985, 21–28. 12 Zu weiteren homosozialen Varianten des erotischen Dreiecks Krass 2010, 233. 13 Fischer 2014, 64–69. 14 Vgl. dazu den Beitrag → Sozialgeschichte als Forschungsparadigma von Peters in diesem Band; dort auch zur Rezeption von Köhlers These in der germanistischen Minnesangforschung.
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Jahre machten den Anfang;15 germanistische Beiträge folgten in den 1980er Jahren.16 Für diese Studien bildete Freuds ‚Ödipuskomplex‘ den Referenzpunkt. Resümierend und affirmativ schreibt Friedrich Wolfzettel (2015): „So stellt das zentrale Phänomen der sog. höfischen Liebe ohne Zweifel eine ödipale Neurose dar, die der verehrten Dame eine Mutterrolle zuweist und das gegen den ‚Vater‘ gerichtete Begehren des verehrenden Ich dem ödipalen Tabu unterwirft“17. In den 1980er Jahren vollzog sich in der anglo- und frankophonen Romanistik insofern ein Paradigmenwechsel, als nun Jacques Lacans Theorie des Begehrens zur Leitlinie für psychoanalytische Deutungen der höfischen Liebe beziehungsweise des Minnesangs avancierte. Der Freud-Nachfolger Lacan verortet das menschliche Begehren – anders als Girard – innerhalb einer umfassenderen triangulären Relation von imaginärer Ordnung (Phantasmata, Illusionen, Bilder), symbolischer Ordnung (Codes, Konventionen, Sprache) und dem ‚Realen‘ (dem ‚Unbewussten‘). Demnach vollzieht sich Begehren als schmerzvolle Auseinandersetzung zwischen der Konstruktion eines imaginären autonomen und ganzheitlichen Subjekts und der Unterwerfung unter die symbolische Ordnung, wobei in diesen Konflikt stets die dritte Ordnung (das Reale, das Unbewusste) hineinwirkt. Wie Lacans Verständnis von höfischer Liebe innerhalb dieses Gesamtkonzepts genau zu bestimmen ist, fällt jedoch schwer, weil seine einschlägigen Bemerkungen eher assoziativ als argumentativ sind.18 Hinzu kommt, dass sich Lacans Einschätzung der höfischen Liebe zwischen 1959 und 1973 verändert hat. In seinen frühen Schriften hat Lacan der höfischen Liebe einen „zutiefst narzisstische(n) Charakter“ bescheinigt.19 Die narzisstische Spiegelung des Ich im Liebesobjekt organisiere zugleich die „Unerreichbarkeit des Objektes“, weil der Spiegel stets eine Grenze markiere.20 Damit das sich imaginierende imaginäre Ich (moi) dieses Spiegelstadium verlassen und die imaginäre Selbsttäuschung überwinden könne, bedürfe es des Eingreifens des großen Anderen (des Vaters, der Sprache, der symbolischen Ordnung) – also eines (funktional) Dritten. In seinen späteren Schriften hat Lacan nicht nur eine positivere Sicht der höfischen Liebe vertreten, sondern sie stärker an seine Theorie vom ‚absolut Anderen‘ angebunden.21 Demzufolge lässt sich das Dreiecksverhältnis der höfischen Liebe in etwa so beschreiben:22 Die Frau als begehrtes Objekt (klein a) ist ein imaginäres phantasmatisches Anderes, 15 Askew 1965; Koenigsberg 1967, 36–50. 16 Urban 1985; Kühnel 1986, bes. 268; Müller 1986; Birkhan 1983. 17 Wolfzettel 2015, 463. 18 Vgl. etwa Lacan 1986; Lacan 1996. 19 Lacan 1996, 185. Dass das trobadoreske Text-Ich in der perfekten Dame einen Spiegel seiner selbst entwirft, hat die Trobadorforschung freilich auch ohne Kenntnis Lacans unterstellt; Burns 1985, 258–259. 20 Lacan 1996, 196. 21 Ragland 1995, 16; Frelick 2003, 109. 22 Labbie 2006, 107–145, hält gleich zu Beginn ihrer Darstellung von Lacans Position fest: „The triangular configuration of desire is represented in the scene of courtly love.“
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fungiert jedoch als Stellvertreterin des unerreichbaren transzendenten Anderen (groß A). Der Kontakt zum Anderen (groß A) könne für das Subjekt nur über Objekt a gesucht werden. Doch eine Vereinigung mit dem Anderen (A), mit dem Ding, sei unmöglich, weshalb das Begehren nie an sein Ende komme. Die domna repräsentiere die Unmöglichkeit, jemals das Reale zu erreichen.23 Lacans Ausführungen zur höfischen Liebe sind jedoch keineswegs so eindeutig, wie dieses Schema suggeriert. Deshalb hat es zahlreiche Versuche gegeben, Lacans Auffassung von ‚der‘ höfischen Liebe zu konturieren.24 Doch steht fest, dass Lacans Begehrensbegriff die weitverbreitete und langtradierte These, wonach die Minnesänger auf eine Erfüllung ihres Begehrens verzichteten, weil dies das Ende ihres Begehrens impliziert hätte, insofern korrigiert hat,25 als nun Begehren grundsätzlich als zur Unerfülltheit verdammt begriffen wird.26 Girards und Lacans Vorstellungen vom Begehren als dem Begehren eines Dritten beziehungsweise Anderen haben insbesondere die romanistische courtly-love-Forschung beeinflusst (→ Altokzitanische Lyrik).27 Als repräsentativ für die Lacan-Rezep23 Der (große) Andere (l’Autre) bei Lacan erscheint als eine Art von black box. Es ist das Unbewusste, die Sprache, Gott, überdies „cet Autre absolu, cet inconscient fermé, cette femme impénetrable, ou bien derrière celle-ci, la figure de la mort, qui est le dernier Autre absolu“ [dieses absolut Andere, dieses unbewusst Verschlossene, diese unzugängliche Frau, oder dahinter, die Figur des Todes, welche das letzte absolut Andere ist; Übersetzung R. S.] (Lacan 1994, 431). 24 Ragland 1995; Žižek 1996; Hollywood 2002, bes. 146–170; Frelick 2003; O’Donoghue 2006 (hier ist von einem sozialpsychologischen Ansatz Lacans die Rede, nicht von einem psychoanalytischen); Labbie 2006, 107–145; Mancini 2009, 14–29. 25 Seit Leo Spitzer (1959 [1944]) wird in der courtly-love-Forschung die Auffassung vertreten, die Trobadors hätten selbst äußerliche Hindernisse (‚Dritte‘) aufgerichtet, um den Wert des Objekts zu erhöhen oder um das Begehren besser genießen zu können. Spitzer (1959, 364): Die Trobadorliebe sei eine Liebe, „qui ne veut posséder, mais jouir de cet état de non-possession, amour-Minne contenant aussi bien le désir sensuel […] qui veut ‚have and not have‘“ [welche nicht besitzen will, jedoch diesen Zustand des Nicht-Besitzens genießen möchte, amour-Minne, die auch das sinnliche Verlangen enthält […], die ‚haben und nicht haben‘ will; Übersetzung R. S.]. Diese Forschungsposition hat Lacan zurückgewiesen: Nicht wir würden die Hindernisse aufrichten, sondern es sei per se unmöglich, zum begehrten Objekt zu gelangen, da dieses eine Leerstelle sei. Vgl. Žižek 1996, 49–50. Ähnlich argumentiert der Freud-Schüler Rey-Flaud 1983 (was den Trobador an der Erfüllung seines Begehrens hindere, sei nicht die Figur der lauzengiers, sondern die Struktur des begehrenden Subjekts: ein inneres zwanghaftes Verbot; was begehrt werde, sei ohnehin ein Phantasma, die „Femme absolue“, 34–36. Der einzige Dritte in der höfischen Relation sei der Tod, 24). All diese Autoren argumentieren, als ob es in den Trobadorliedern um eine lebenswirkliche Liebe und nicht um einen Liebesdiskurs ginge. Zu dieser Forschungsdiskussion Schnell 2018. 26 Zu Lacans Sicht auf die höfische Liebe ist kritisch anzumerken, dass sie auf dem einschlägigen Forschungsstand der 1950er/1960er Jahre basiert. Überdies stützt sich seine Deutung der höfischen Liebe auf einen einzigen Liedtyp, die Kanzone. Auch nimmt er nicht zur Kenntnis, dass in den Hunderten von Kanzonen unterschiedliche Liebesbeziehungen ausspekuliert werden. Lacans psychoanalytische Theorie erklärt auch nicht, weshalb die höfische Liebe gerade im zwölften Jahrhundert aufgetreten ist. 27 Freilich werden Girard und Lacan auch oft nur als Pflichtlektüre anzitiert, ohne dass dies Konsequenzen für die eigene Einschätzung der höfischen Liebe hätte; so etwa bei Fajardo-Acosta 2010, 49.
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tion dürfen die Studien von Sarah Kay, Simon Gaunt und Jean-Charles Huchet gelten.28 Sarah Kay übernimmt Lacans Interpretation der höfischen Liebe eins zu eins. In ihrem Aufsatz ‚Desire and Subjectivity‘ versucht sie zu zeigen, dass Lacans einschlägige Einlassungen das Verständnis des (occitanischen) Minnesangs gefördert haben.29 Demnach komme es in der Trobadorlyrik zu einer Interaktion von imaginärer und symbolischer Ordnung. Die Macht, der sich das Text-Ich unterwerfe und die es als unmenschlich erfahre, stelle die symbolische Ordnung (den großen Anderen) dar. Die Furcht, die diese Macht dem Ich (Subjekt) einflöße, rühre daher, dass der poetische Code des Minnesangs die Dame auf das radikal Andere hin ausrichte. Das Nebeneinander von Frauenpreis und Frauenkritik im Minnesang verdanke sich dem Umstand, dass das Text-Ich einerseits in seinen narzisstischen Selbstentwürfen gefangen sei und sich über den Status des begehrten Objektes täusche, andererseits aber die Abwesenheit des begehrten Objekts erkenne und dessen Macht fürchte. Das Text-Ich sei in Wirklichkeit nicht Subjekt beziehungsweise Ursprung des Begehrens, sondern das Begehren komme ihm von dem Anderen (A) zu, wobei die Frau unterstützend wirke.30 In ihrer Monographie ‚Courtly Contradictions‘ (2001) macht Sarah Kay Lacans Theorie zur Grundlage ihrer Lektüre mehrerer höfischer Dichtungen des zwölften Jahrhunderts. Die zahlreichen Widersprüche in der höfischen Literatur (nicht nur im Minnesang) – Liebe als sinnliches und spirituelles Phänomen; Liebe als Leiden und als Freude, als Ekstase und als Tod, u. a. – meint sie mit Hilfe von Lacans Theorie besser verstehen zu können.31 Simon Gaunt (2006) übernimmt für seine Analysen einzelner Trobadorlieder ebenfalls die Argumentation und Terminologie Lacans. Das Text-Ich (Subjekt) begehre das Begehren des Anderen (der Dame) und mache sich so zum Objekt von dessen (deren) imaginiertem Begehren, etwa dadurch, dass es begehrt, von der Dame – die aber als ein Drittes, als „the Other“ imaginiert werde – angeschaut zu werden.32 Gaunt sieht Lacans Theorie des ‚Anderen‘ durch die Trobadors bestätigt.
4 Lauzengiers, gilos, merkaere, huote – Figuren des Dritten Der Forschungsdiskurs über ‚den Dritten‘ im Minnesang hat sich vor allem mit den Figuren befasst, die in den Minneliedern als Feinde oder Rivalen des männlichen Werbers auftreten: die gilos (eifersüchtige Ehemänner) und lauzengiers (Übelredner, 28 Zu Huchet s. u. Abschnitt 4. 29 Kay 1999. 30 Kay 1999, 220. 31 Kay 2001, 25–39, 170–176, 259–288, 300–314. 32 Gaunt 2006, 28–42 und 180–191.
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Schwätzer, Rivalen),33 über deren Präsenz und Wirken sich die Trobadors so entschieden beklagten.34 Ducey (1988) wählt Girards These als Ausgangspunkt.35 Ihr zufolge haben die Trobadors das Begehren der Rivalen imitiert. Huchet (1987) hingegen folgt Lacans Thesenbildungen.36 Zwar repräsentieren auch für Huchet die lauzengiers die Figur des Dritten,37 doch das Objekt des Begehrens des Text-Ich ist nicht eine Frau als ‚Nebenmensch‘, sondern die Frau als die ‚Andere‘ (l’Autre-femme), als ein verlassener Ort.38 Damit werden die lauzengiers nicht soziologisch als Rivalen des Liebenden,39 sondern psychoanalytisch als Teil der Konstruktion des ‚Anderen‘ verstanden. Mehr auf Freud als auf Lacan stützt sich Cholakian (1990), der die gilos und lauzengiers ebenfalls als die Figur des Dritten sieht, in der Trobadorlyrik aber vor allem deshalb eine trianguläre Beziehung zu erkennen meint, weil sich im dortigen Diskurs Männer ihrer Macht über die Frau versichern und zugleich ihre Schuldgefühle gegenüber der Mutter- und/oder Vaterfigur zum Ausdruck brächten.40 Obwohl der deutsche Minnesang mit den merkaeren und der huote ähnliche Instanzen wie die lauzengiers kennt,41 hat die germanistische Forschung diese nicht als Figuren des Dritten thematisiert, sondern als Repräsentanten der Gesellschaft beziehungsweise der gesellschaftlichen Moral gedeutet.42 Dies provoziert freilich die Frage, wie es zu erklären ist, dass ein Minnesänger mit Zustimmung der Gesellschaft ein Minnelied vorträgt, dessen Inhalt deren Moral widerspricht.43
33 Die Wächterfigur im Tagelied hingegen steht ganz auf der Seite des Liebespaares und kann wohl kaum als eine Figur des Dritten gelten. 34 Belegstellen sind aufgeführt bei Lazar (1959, 376–377), Cropp (1975, 237–250) und Kay (1996, 245–251). 35 Ducey 1988. 36 Huchet 1987. 37 Huchet 1987, 38–40. 38 Huchet 1987, 13–38. 39 So sieht etwa Rieger (1983, 291) in den lauzengiers „die sozial und ökonomisch arrivierten allgegenwärtigen Rivalen um die Gunst der Dame […], die aus Angst vor dem nach oben drängenden, noch nicht arrivierten, sondern erst nach sozialem Aufstieg und ökonomischer Sicherung strebenden Trobador dessen ‚Liebesglück‘ um jeden Preis und mit allen Mitteln zu verhindern trachten“. 40 Cholakian 1990, 181–190. 41 Kolb 1958, 196–198 und 368–370 (Kolb versteht die lauzenjaires als die Unhöfischen schlechthin, als Lügner, Schmäher, Neider und setzt sie den merkaeren, der huote gleich). Belegstellen bei Hofmann 1974, 192–193 (merkaere), 181–186 (huote). Der eifersüchtige Ehemann tritt im deutschen Minnesang nicht in Erscheinung. 42 Boll 2007, 244; Hausmann 2011, 161; Zapf 2012, 91. In der deutschsprachigen Romanistik begegnet diese Auffassung ebenfalls; vgl. Rieger 1983, 342. 43 Diesen Widerspruch glaubt Warning (1979, 131) dadurch aufheben zu können, dass er dem Sänger-Ich unterstellt, es wolle mit seinen Anklagen gegen die lauzengiers das reale Publikum auf seine Seite ziehen. „Das lyrische Ich sucht die Solidarisierung dieser Öffentlichkeit gegen jene, die gebundene [eheliche] Liebe repräsentieren, um in dieser Solidarisierung die fin’amors als die gerade gesellschaftlich überlegene auszuspielen.“ Ähnlich Kay 1990, 162–163.
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5 Männer als Dritte – Frauen als Dritte Huchets Monographie von 1987 (s. o.) lässt sich überdies an das trianguläre Lektüremodell von Sedgwick (s. o.) anschließen. Denn sie postuliert, dass es in der Trobadorlyrik in Wirklichkeit um homosoziales Begehren gehe. Wie in der südfranzösischen Feudalgesellschaft die Frauen lediglich als Tauschobjekte zwischen Männern zirkulierten, so fungierten die Frauen in den Minneliedern als Medium zwischen Männern. Da homosexuelles Begehren nicht habe ausgesprochen werden dürfen, sei es über das Begehren einer Frau artikuliert worden.44 In den 1980er/1990er Jahren wurde es in der Trobadorforschung (einer bestimmten feministischen Richtung) geradezu Mode, die These von der angeblichen Frauenverehrung zu dekonstruieren45 beziehungsweise Minnesang als ein Gespräch zwischen Männern zu verstehen beziehungsweise hinter dem Werben um eine Dame einen homosozialen Diskurs zu vermuten.46 Demzufolge verliert die domna ihre Position als das Du einer Zweierbeziehung und wird zur Figur des Dritten.47 Bei diesem Forschungsansatz wird ausgeklammert, dass die einzelnen Lieder des Minnesangs „virtuell Fragmente eines verschlüsselten Minnedialogs zwischen ‚Verstehenden‘ [sind], die einander an gedanklicher Subtilität und formaler Virtuosität zu überbieten streben“48. Nicht nur Liebe ist das Thema des Minnesangs, sondern auch die ‚Kunst‘. Dann hätte der Minnesang weniger der Kommunikation zwischen Männern über Frauen gedient als der Kommunikation zwischen Kunstkennern.49 Als eine Art von Kompromisslösung lässt sich R. Howard Blochs These (1991) verstehen,50 wonach die Trobadorlyrik misogynes Reden sei, diese Misogynie aber zugleich rhetorisch höchst anspruchsvoll daherkomme. Für Bloch ist jedes abstrahierende Sprechen über (a l l e) Frauen misogyn. Die domna der Trobadorlyrik sei lediglich ein Abstraktum für die Kategorie W (= woman, women).51 Wie bei frauenkritischen Texten werde in der trobadoresken Dichtung von Männern zu Männern
44 Huchet 1987, 22–25. 45 Burns 1985. In späteren Aufsätzen bezieht Burns eine mittlere Position zwischen ‚Degradierung der Frau‘ und ‚Macht-Status der Frau‘: Burns 1999, 261–262; Burns 2001. 46 Marchello-Nizia 1981; Duby 1987, 61; Cholakian 1990, 188; Rasmussen 1994; Burgwinkle 1997; Gaunt 1990; Gaunt 1995, 135–148; Gaunt 2004; Schultz 2006, 164. 47 Gegen die ‚Degradierung‘ der Frau im Minnesang formierte sich aber eine andere feministische Richtung, die auf dem Subjekt-Status der Frau in der höfischen Literatur insistierte; vgl. Burns 2001. 48 Gruber 1983, 256. Vgl. auch Gaunt 1989; Meneghetti 1999. 49 Vgl. dazu Rüdiger 2001, 145–146 und 196–198; Gruber 1983. Zur Sängerkonkurrenz vgl. auch Kendrick 1988, 184; Gaunt 1995, 149–158; Unzeitig 2005. 50 Bloch 1991; Bloch (1989, 10) parallelisiert seine eigene These und die von Sedgwick 1985: Der Diskurs der Misogynie sei ein Reden von Männern für Männer über Frauen. Bloch übersieht, dass das Mittelalter auch einen Diskurs von Männern für Männer über Männer kennt; vgl. Schnell 1998. 51 „Misogyny“ und „courtliness“ seien miteinander verbundene Abstraktionen des Weiblichen.
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über Frauen als Abwesende gesprochen, wodurch diese zum Verschwinden gebracht würden.52 Auch in Blochs These wird ‚die‘ Frau zur Figur des Dritten degradiert. Als ganz andere Art von ‚Drittem‘ erscheint die Dame der Trobadorlyrik in einer Studie von Sarah Kay. Dort wird die domna als drittes Geschlecht verstanden, weil sie maskuline und feminine Merkmale in sich verbinde, u. a. etwa als midons angerufen werde.53
6 Amors/Amour/Minne – eine Figur des Dritten Im Minnesang wird die duale Beziehung Werber/Dame auf Textebene immer wieder dadurch in eine trianguläre Beziehung verwandelt, dass Minne/Amors/Amour das Begehren des Werbers initiiert.54 Zwischen das liebende Subjekt und das umworbene Objekt frouwe/domna schiebt sich die Figur eines Dritten.55 An den entsprechenden Textstellen unterwirft sich das männliche Ich der Macht Amors, nicht der domna. Andererseits dient in einigen Minneliedern die Frau als Instrument beziehungsweise als Mediator dieser ‚Liebe‘. Dadurch rückt die frouwe/domna in die Position des Dritten, weil sie gleichsam zwischen Minne und männlichem Werber ‚vermittelt‘. Die Verdoppelung der für die Liebe des männlichen Werbers verantwortlichen Instanzen (frouwe, Minne) eröffnet dem Text-Ich die Option, das Klagen über leidvolles, erfolgloses Werben an zwei Orten vorzubringen beziehungsweise an zwei Adressaten zu richten: an die frouwe (und damit eine dyadische Beziehung suggerierend) oder aber an Minne/Amors (und damit eine trianguläre Relation einführend). Die Minnelieder nutzen jedoch die Differenz zwischen der abstrakten Macht Amors/ Minne und der (angeblich) konkreten domna zu allen möglichen argumentativen und
52 In diesem Punkt kommt Bloch Lacans Position nahe, die besagt, dass die höfische Liebe in der Konstituierung eines (weiblichen) Objekts dieses Objekt zum Verschwinden bringe. Vgl. zu Lacan Ragland 1995, 19. Mancini (2009, 14–22) stellt seine Ausführungen über Lacans Thesen zur höfischen Liebe unter das Leitwort „Abwesenheit“. Lacan zufolge werde die Frau begehrt, nicht obwohl, sondern weil sie fern sei (22). Die höfische Liebe werde zur „Metapher der Unmöglichkeit des ‚Geschlechtsverhältnisses‘“ (17). „Wenn man liebt, geht es nur um einen selbst, um das Eigenbild, das im Spiegel des Anderen entgegentritt, ein Beweis für den unaufhebbaren Egotismus des Subjekts“ (17). In der germanistischen Minnesangforschung wird diese Einsicht in ein anderes Vokabular gekleidet, weil in einem anderen Problemhorizont verortet. Vgl. Bleumer 2012, 79. 53 Kay 1990, 86–93. Eine wiederum andere Triangularität konstruiert Burns (1985, 255 und 265): In den Trobadorliedern finde zwischen Text-Ich, Dame (domna) und Frau (femna) ein Kampf um die Herrschaft statt. 54 Rüdiger (2001, 233) versteht die höfische Liebe als eine triadische Konstellation ‚Mann-FrauAmor‘, unter Hinweis auf ein Lied Raimons de Miravel (PC 406,1, V. 10–11). 55 Der Soziologe Joachim Fischer nennt u. a. Amor als Figur des Dritten in (literarischen) Liebesdyaden; Fischer 2014, 65. Psychoanalytische Studien gebrauchen dafür den Terminus ‚der Andere‘ („the Other“); Gaunt 2006, 31.
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poetischen Raffinessen innerhalb eines Liedes: a. zur Tabuisierung, Verhüllung (das Auftreten der Personifikation Minne/Amors ermöglicht die Tabuisierung des sexuellen Begehrens);56 b. zur Abstrahierung, Entsinnlichung, Entkonkretisierung (indem sexuelles Begehren Minne/Amors genannt wird, verliert es an Sinnlichkeit);57 c. zur Positivierung, Idealisierung (indem Liebe a priori als bonum vorausgesetzt wird, kann auch das als Minne personifizierte Begehren Anerkennung für sich beanspruchen).58 d. Die Einführung der Figur Minne erlaubt es dem leidgeprüften Text-Ich auch, sich über sein Liebesleid zu beklagen, ohne die Dame anzuklagen.59 Dort, wo eine Anklage gegen die Dame tabuisiert ist, kann stellvertretend die Minne angeklagt werden. Die Minnesänger/Trobadors weisen also den beiden Instanzen Minne/Amors und domna/frouwe unterschiedliche Funktionen zu.60 Die höfische Literatur des Mittelalters differenziert durchaus zwischen Frauendienst und Minnedienst. In höfischen narrativen Texten wird konsequent zwischen (negativ konnotierten) Frauensklaven und (positiv bewerteten) Minnesklaven unterschieden.61 Minnesklaven werden als Teil einer triadischen, Frauensklaven als Bestandteil einer dyadischen Relation gedacht.
7 Das (fiktive, reale) Publikum – ein Dritter? Die referierten Versuche, das in den Minneliedern präsentierte Liebeswerben als eine trianguläre Struktur zu verstehen, müssen erweitert werden um die Einsicht, dass die in den Minneliedern thematisierte Zweierbeziehung überlagert wird vom Dialog zwischen (liebendem) Sänger und dessen (fingiertem und ‚realem‘) Publikum. Das Publikum wirkt – textuell im Prozess der Liedproduktion und performativ bei der Aufführung des Liedes – auf die Präsentierung der Zweierbeziehung ein. Der Liedinhalt mag auf einen Dritten der Liebesbeziehung referieren (etwa die Feinde der Liebe); in der Aufführungssituation jedoch bildet das Publikum den ‚Dritten‘,62 vor dem sich der Liebende/Sänger für sein Lieben rechtfertigt und den er oft als über seine Liebe urtei-
56 Schnell 1985, 396–409. 57 Schnell 1985, 391–399 und 471–474. 58 Schnell 1985, 391–393, 405, 407, 453–453, 472–473. 59 Vgl. etwa Friedrich von Hausen MF 52,37, I und IV gegenüber II. Der Minne wird Rache angedroht, die Dame von Vorwürfen aber verschont. Der Dritte erfüllt hier die poetologische und konzeptionelle Funktion einer Entlastung der frouwe. 60 Dies wird in psychoanalytischen Studien meist ausgeblendet. 61 Schnell 1985, 253–274, 346–348, 398–399, 452–505. Dennoch werden in der mediävistischen Forschung bis heute Minnesklaven und Frauensklaven vermengt. 62 In der Sozialtheorie werden Beobachter/Publikum als Drittenfiguren analysiert; Fischer 2013b, 2 und 5.
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lende Richterinstanz anspricht.63 Das Publikum rückt – performativ – in die Position des Dritten.64 Der Blick auf das Publikum als ‚den Dritten‘ verändert die Suche nach den Gründen für die Darstellung eines erfolglosen Werbens.65 So wäre zu überlegen, ob sich die Erwähnung der lauzengiers/merkaere nicht allein einer sozialen Realität, sondern auch einer poetischen Funktion verdankt. Mal wird der Eindruck erweckt, der Unwille der Dame sei schuld am langen erfolglosen Werben, mal sind die lauzengiers/ merkaere verantwortlich für die Distanz zur Dame.66 Im letzteren Fall erscheint das Werben nicht mehr ganz so aussichtslos, zumal dann, wenn zugleich davon gesprochen wird, dass diese Aufpasser überlistet werden können.67 Die Rolle der lauzengiers als einer Figur des Dritten ist nicht nur sozialhistorisch vorgegeben, sondern auch ihrer liedspezifischen poetischen Funktion geschuldet.68
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63 Zu diachronen Verschiebungen in der Thematisierung der Aufführungssituation im Minnesang Schnell 2013, bes. 308–324. 64 Bleumer (2012, 71) spricht von der „triangulären Struktur des minnesängerischen Diskurses“. Das Prestige des Minnesängers entstehe nicht schon in einer diskursiven Beziehung zwischen Mann und Frau, sondern erst im Rahmen der gänzlich triangulären Struktur des minnesängerischen Diskurses. Der Lohn sei nicht von der Dame, sondern vom Publikum zu gewähren. Bleumer verweist auf Ruh (1986, 269). Warning (1979, 131) zitiert Kuhn (1972, 173–174: „Minnesang ist immer nur Rede zur höfischen Gesellschaft über die höfische Rolle der Liebe“). Warning (1979, 131–132) selbst schreibt: „Die fiktive Rede sucht das Publikum als ihren eigentlichen Adressaten.“ 65 Dass es gegen den literarischen und gesellschaftlichen Kodex verstoßen hätte, in der Ich-Rede von einer sexuellen Vereinigung zu sprechen, sei hier nur angemerkt. Tagelieder bestätigen diese Regel. 66 Meinloh von Sevelingen MF 13,14; Friedrich von Hausen MF 50,19; Heinrich von Morungen MF 131,25; MF 136,25 (jeweils sind die merkaere schuld); Dietmar von Aist MF 43,28; Albrecht von Johannsdorf MF 92,14, II; Heinrich von Morungen MF 123,10, V (jeweils die Dame ist verantwortlich). Die beiden konträren Positionen können sogar innerhalb eines Liedes unverbunden nebeneinander stehen. Bernart von Ventadorn PC 70,37, Str. 3 (Dame schuld), Str. 5 (lauzengiers schuld). 67 Vgl. etwa Jaufre Rudel PC 262,4, Str. 6; Meinloh von Sevelingen MF 12,14, V. 4; Heinrich von Veldeke MF 63,28, II, V. 5–9; MF 67,33, V. 8; Albrecht von Johannsdorf MF 93,12; Heinrich von Morungen MF 143,4, III. 68 Ähnlich äußert sich Monson 2002a, 497; Monson 2002b, 508.
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Religiöse Semantiken 1 Problemaufriss
Religiöse Semantik und Liebessemantik verbinden sich im Minnesang auf vielfache Weise. Dies zeigt sich auf den ersten Blick im Bereich der Lexik, Motive, Topoi und Metaphern sowie in der Subgattung des → Kreuzliedes. Doch auch die Gattungsinterferenzen des Minneliedes zum Sangspruch (→ Sangspruch – Minnesang), zum geistlichen → Tagelied, zum Marienlied und zur Mystik eröffnen Spielräume für Transferbewegungen in beide Richtungen.1 Im Minnesang führen die komplexen Vorgänge der Umbesetzung von religiöser und weltlicher Semantik zu spezifischen Nuancierungen und Dynamisierungen der entfalteten Liebeskonstellationen. Auf diese Weise entstehen neue Varianten im Rahmen einer Gattung, die ganz besonders als Kunst der Variation gelten kann (→ Minnekonzepte und semantische Felder). Systematisch reicht die Verknüpfung mit religiöser Semantik von Aufwertung und Steigerung der Liebe bis hin zu ihrer Abwertung und Verwerfung, von Analogisierungen zwischen Minnedienst und Gottesdienst bis hin zur Betonung von Spannungen, Konkurrenzen und Gegensätzen. Den komplexen Verbindungen liegt eine Nähe zwischen religiöser Semantik und Liebessemantik zugrunde, die auf einer tiefer liegenden strukturellen Ebene anzusetzen ist. Dies lässt sich gleichermaßen an den Rollen der Minnedame und des Werbers verdeutlichen. Der Werber begibt sich nicht nur in den Dienst der Dame, sondern er zeigt sich so sehr darin gefangen, dass er der einzig Geliebten sein ganzes Leben zu überantworten bereit ist. Dem Ideal der Hohen Minne nach harrt er in der Hoffnung auf Liebeserfüllung sein Leben lang aus. Auch wenn die Minne, und insbesondere die Hohe Minne, immer wieder als Leid und Selbstaufopferung dargestellt wird, erscheint sie doch zugleich als Weg zum Heil und als eigentliches Ziel des Lebens. Insofern stehen die Paradoxien von Freude und Schmerz, Zuversicht und Hoffnungslosigkeit in vielen Liedern im Vordergrund. Zugleich kann die Verehrung der Dame Züge einer Adoration annehmen. Christliche Horizonte werden dabei umgewertet, was sich auch daran zeigt, dass die Bitte des Werbers um güete und Mitleid der Dame gerade nicht auf christliche misericordia, sondern auf die Erlösung diesseitiger Begierden zielt. Die vrouwe des Hohen Sanges repräsentiert als summum bonum sowohl das Ideal der Schönheit als auch die ethischen Normen und Werte der höfischen Gesellschaft. Die häufig verwendeten Motive der Ferne und Unerreichbarkeit der Herrin rufen die 1 Siehe zum gesamten Horizont besonders die Sammelbände Huber u. a. 2000; Strohschneider 2009; Köbele und Quast 2014; Krass und Standke 2020 sowie Fischer 1985; Tervooren 1993; Tervooren 2000; Eikelmann 2015. https://doi.org/10.1515/9783110351859-020
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Vorstellung von Transzendenz hervor. Das geht damit einher, dass die Dame nicht selten über religiöse und kosmische Metaphern konnotiert wird.2 Als Grundkonstellation begegnet immer wieder: Der Heilsfülle bei der in einer Raumsemantik der Ferne und Höhe imaginierten Dame steht der Mangel an Heil im Hier und Jetzt des Liebenden gegenüber.3 Bei aller Verbindung mit religiöser Semantik ist evident, dass der christliche Heilsbegriff im Minnesang durch einen erotisch-innerweltlichen ersetzt wird: Wie sehr sie auch erhöht wird, die Dame bleibt das innerweltliche Ziel des Begehrens. Die Tatsache, dass christliche Erlösungssehnsucht und Erlösungshoffnung auf die innerweltliche Minnekonzeption transferiert werden, hat Auswirkungen in zweierlei Hinsicht: Zum einen können die Sänger die Verbindlichkeit und Geltung ihrer Lieder erhöhen, indem sie christliche Semantik in Anspruch nehmen. Zum anderen wird ebendiese Semantik um ihre genuine Funktionalität gebracht und ausgehöhlt, wenn ihr Potential in der Poesie für ein erotisches Programm in Anspruch genommen wird. Der Minnesang ist somit eine der literarischen Gattungen, in der neben Korrespondenzen auch Spannungen zwischen höfischen und christlichen Werten, zwischen weltlichen und geistlichen Lebensentwürfen zum Ausdruck kommen und verhandelt werden. Dass Liebe zumeist mit Blick auf ihre Unerfülltheit thematisch wird, garantiert zwar einerseits, dass christlich Tabuisiertes im Sprechen über Sexualität kaum je explizit wird. Andererseits ermöglicht es, sexuelle Liebe gleichwohl anzudeuten. Die Rede über sie ist mit Blick auf normative religiöse Wertvorstellungen eine Rede an der Grenze des Sagbaren, die diese umspielen und teils auch probeweise überschreiten kann. In diesem Sinne wird das potentiell Sündhafte der Orientierung auf innerweltliche Liebe immer wieder selbst zum Gegenstand von Reflexion. Doch liegt der Fokus der Texte weniger darauf, die Spannungen zwischen Weltlichem und Geistlichem zu glätten oder gar aufzulösen. Sie werden vielmehr exponiert, begründet, differenziert und variantenreich diskutiert. Rainer Warning hat mit Bezug auf die Verbindung von religiösen und gesellschaftlichen Semantiken mit der Idee der finʼamors von „konnotative[r] Ausbeutung“ gesprochen, um die beschriebenen Konstellationen semiotisch fassen zu können.4 Im Blick auf die christliche Semantik bietet dieser Vorschlag den besonderen Vorteil, fälschliche Unterstellungen von Säkularisierung oder Säkularisation nicht aufkommen zu lassen. Statt der mit diesem Konzept gegebenen Vorstellung von einseitiger „Ausbeutung“ der religiösen Konnotationen durch die weltliche Liebespoesie wird man aber eher von einem Transfer in beide Richtungen ausgehen dürfen: Zum einen schließt sich die weltliche Liebesdichtung an die christliche Semantik an, zum anderen inkorporiert aber auch die religiöse Literatur Elemente, Figuren, Denk- und Argumentationsmuster der Liebesdichtung. Das geistliche Tagelied ist ein Beispiel, bei dem die semantische Aneignung in die andere Richtung erfolgt, indem Strukturen und 2 Vgl. bereits Kesting 1965. 3 Vgl. mit Blick auf die späte Minnelyrik Frauenlobs etwa die Überlegungen bei Köbele 2003, 217–249. 4 Warning 1997 [1979], 65.
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Elemente des erotischen Tageliedes in der geistlichen Dichtung verwendet werden. Erotische Phantasmen wandern zudem auch in die Mystik, die Hymnik, das Marien lied oder den geistlichen Sangspruch ein. Damit verändern sich auch ihre Funktionen: Dienen sie im Minnesang primär der Ausgestaltung des Werbungsverhältnisses, so werden sie im geistlichen Kontext im Hinblick auf Reflexion, Meditation, Kontemplation, Erbauung und Didaxe genutzt. Die Semantiken und Topoi von Sünde, Buße und Reue, Erweckung, Aufrüttelung und Umkehr, Verweigerung und Vereinigung, Bitte um Erhörung sowie Erlösungsund Heilssehnsucht stellen ein Reservoir dar, aus dem geistliche ebenso wie weltliche Dichtung im Mittelalter schöpfen können. Susanne Köbele spricht im Blick auf diese Wechselwirkungen von ‚symbiotischer Bereicherung‘, denn dieser Begriff scheint für „nicht eindeutig hierarchisierte, vielmehr perspektivisch umschlagende Verweissysteme“ sehr geeignet zu sein.5 Die Interferenzen müssen in beide Richtungen erforscht werden, die Frage nach dem, was primär ist, lässt sich dabei nicht immer klären. Um den Wechselbeziehungen zwischen dem Minnesang und den religiösen Sprechweisen, Motiven und Topoi auf den Grund zu gehen, sind zudem (besonders im späten Sang) auch mögliche Bezüge auf kanonische Texte wie das Hohe Lied und die Psalmen sowie zu den epistemischen und institutionellen Kontexten (wie Liturgie, Theologie, Philosophie) zu bedenken. Auf dieser Basis gilt es, die literarischen und rhetorischen Strategien der Umsemantisierung, Hybridisierung, aber auch Polemik und Parodie zu erfassen.
2 Gott im Minnesang Vor dem Hintergrund, dass die Liebe im Minnesang als irdischer Heilsweg gekennzeichnet ist, ist es bemerkenswert, dass der christliche Gott nicht selten erwähnt wird. Er erscheint als Adressat von Bitten, wird als Zeuge genannt, gerät als Schöpfer der Geliebten in den Blick und wird dabei immer wieder auch argumentativ instrumentalisiert. Die Tonlage reicht von ernster Anrufung über floskelhafte Repetition bis hin zu humoreskem oder ironischem Spiel. Besonders breit ist das Spektrum der Bitten an Gott. Es variiert je nach Perspektivierung der Liebe. Begründet der Sänger seine Liebe, formuliert er vielfach eine Bitte um Schutz der Geliebten. Sie fungiert zugleich als Wunsch, die Minne auf Dauer zu stellen und die Chance auf eine Erfüllung des Begehrens zu bewahren. Da der Sänger weiß, dass all seine Freude von seiner geliebten Dame abhängt, lässt zum Beispiel → Hartmann von Aue ihn bitten:
5 Köbele 2000, 231.
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swaz si mîn wil, daz ist ir iemer bereit. wart ich ie vrô, daz schuof niht wan ir güete. got sî der ir lîp und êre behüete. (MF 215,14, II, V. 6–8)6
Wie ein Segenswunsch mutet auch der Anfang von → Walthers von der Vogelweide Lied an eine tugendhafte, aber nicht notwendigerweise standesgemäße Geliebte an: Herzeliebez vrowelîn, | got gebe dir hiute und iemer guot! (Walther L 49,25, I, V. 1–2).7 Dabei kann sich die Bitte, die Dame zu bewaren, auch als explizit funktional erweisen, wenn es etwa beim Düring heißt, got sî bewar mit willeclîchem muote (KLD 3,1, V. 7), um dann zu präzisieren: mîn wunsch ist gar daz mir diu reine guote | noch füege alsô daz hô mîn sin | stê […] (V. 8–10).8 Hier zeigt sich, dass die Anrufung Gottes primär den Zweck einer externen Hilfe für Probleme erfüllen soll, die gänzlich innerweltlich bleiben, und an die Stelle einer Bitte um Seelenheil der Wunsch nach diesseitiger Liebeserfüllung rückt. Ganz in diesem Sinne zeigen sich wiederholt Versuche, Gott als Helfer bei der Minnewerbung zu gewinnen und zu instrumentalisieren. So wird regelmäßig die Bitte geäußert, Gott solle bewirken, dass die Dame den Sänger beachte, dass er in ihre Nähe kommen und sie erlangen könne.9 Das kann so weit gehen, dass in einem Lied Brunos von Hornberg Gott ersucht wird, der Frau die Verstandeskraft zu geben, um die Liebe des Sängers zu erkennen (KLD 1,3). In solchen Beispielen wird von Gott nicht nur Beistand im Liebesbestreben erwünscht, sondern seine Anrufung dient auch dazu, der eigenen Hilfsbedürftigkeit Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit zu verleihen. Dementsprechend kann er umgekehrt auch mit der Bitte adressiert werden, dem Minner und Sänger den sin einzugeben, das zu tun, was der Dame zusage (Bernger von Horheim MF 112,1, II, V. 8–9).10 Bemerkenswert ist, dass Gott nicht nur als externe Hilfe für das Zustandekommen der Liebe adressiert wird, sondern Bitten an ihn auch im Zusammenhang mit der im Minnesang nicht seltenen Thematisierung von Wut, Gewalt und Rache fallen können. Das spitzt den instrumentellen Charakter der Gottesansprache noch zu. Während es bei → Ulrich von Liechtenstein etwa heißt, Gott möge den Liebenden vor dem zürnen 6 Vgl. des Weiteren auch Gottfried von Neifen KLD 25,3, V. 16–17; KLD 48,1, V. 10. Variationen dazu bieten die Bitten, Gott möge die Geliebte krönen (Heinrich Hetzbold von Weißensee KLD 8,2, V. 1–2) oder ihr Ehre zuteilwerden lassen (Hartmann von Aue MF 207,11, IV). 7 Alle Walther-Zitate nach L/COR. 8 Vgl. auch Heinrich von Morungen MF 122,1, III. 9 Vgl. bspw. Heinrich von Veldeke MF 63,20; Reinmar MF 154,32, IV (nach C), V. 10–11; MF 156,10, V. 10–15; Hiltbolt von Schwangau KLD 17,4, V. 6–9; Ulrich von Liechtenstein KLD 3,3, V. 6–7; KLD 17,5, V. 4–6; KLD 24,6; Steinmar SMS 10,2, V. 9–10. Selbiges findet sich auch nicht als Bitte, sondern als Feststellung formuliert. So wird in einem Lied Heinrichs von Morungen der Überzeugung Ausdruck gegeben, die Minnewerbung werde bei der hartherzigen Dame erfolglos bleiben, wenn Gott nicht ein Wunder an ihr wirke (MF 127,1, III). 10 Vgl. auch Reinmar MF 153,14, I, der den Ich-Sprecher wünschen lässt, dass er mit Gottes Hilfe den Zustand dessen erkennen könne, dem Liebe widerfahre, die von Herzen komme.
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der Dame bewahren (KLD 35,4, V. 3–4), soll er bei Walther in einer Rachephantasie Beistand leisten (Sumerlatenlied; L 72,31, V [nach A], V. 5–6). Dass auch in → Reinmars Lied Ich wirbe umbe allez, daz ein man (MF 159,1) im Zuge eines frivolen Kussraubs Gottes Hilfe imaginiert wird (III, V. 3), macht kenntlich, dass die Anrufungen und Bitten an Gott floskelhaft werden oder mit Humor und Ironie gebrochen sein können. In den weiteren Nennungen Gottes variieren Modus und Funktion seiner Thematisierung ebenfalls beachtlich. Topisch ist es, dass im Zuge des Frauenlobs Gott als Schöpfer in den Blick gerät, wenn von der Schönheit und Güte der geliebten Dame die Rede ist.11 Diese Verknüpfung von weiblicher Tugend und Attraktivität mit religiöser Semantik birgt vielfach eine intrikate Legitimierung von Minne. Wenn es bei → Gottfried von Neifen etwa heißt: âne got sô kan dich nieman alse wol geroeten; | got der was in fröiden dô er dich als eben maz (KLD 4,4, V. 8–9), so impliziert das Frauenlob nicht nur zugleich ein Gotteslob. Vielmehr erscheinen die Minne und das Bedürfnis, der Dame ansichtig zu werden und in ihre Nähe zu gelangen (wan durch schouwen | sô geschuof si got dem man; → Heinrich von Morungen MF 136,25, III, V. 3–4), nachgerade als göttlich induziert. Dementsprechend wird auch die Exzeptionalität der Dame als summum bonum mehrfach als wunder der göttlichen Schöpfung perspektiviert.12 Ihre güete und schoene derart zu überhöhen, erweist sich nicht selten als Strategie, genau jener Fixierung auf die Geliebte eine religiöse Dimension zu verleihen, die andernorts im Verdacht steht, Sünde zu sein (s. u.). Steht demgegenüber die abweisende Haltung der Dame zur Diskussion, wird als anderes Extrem der Gottesthematisierung kenntlich, dass sich die klage des Minners in Einzelfällen auch auf Gott selbst beziehen kann. So ist in einem Lied Ulrichs von Baumburg von der ungenâde der Dame die Rede (SMS 3,3, V. 4), worauf die anmaßende Frage folgt (V. 5–6): wer gesaz bî gote an dem râte, dâ diu guote | mir wart widerteilet? Solche Passagen könnten geradezu blasphemisch erscheinen. Doch eher stellen sie rhetorisch gewitzte Variationen der Leidformulierung dar, denn sie zielen nicht auf die Verhandlung religiöser Inhalte wie des consilium dei oder der Theodizee, sondern auf die semantische Anreicherung der Liebesklage. Diese lässt das Leiden des Liebenden als geradezu universelle Ungerechtigkeit erscheinen. Auch wenn in dieser Weise die Ignoranz der Dame als Sünde bezeichnet wird (s. u.), kann die Nennung Gottes pointiert dazu dienen, die konkrete Liebesrelation offensiv auf religiös konnotierte Moral zu beziehen. Beispielweise formuliert der Minner bei Walther: nû vergebez ir
11 Vgl. über die hier und im folgenden Abschnitt zum Heilscharakter der Dame genannten Beispiele hinaus: Heinrich von Morungen MF 133,13, IV, V. 1–2; MF 140,32, III, V. 1–2; Walther L 65,33, IV, V. 1–3; Gottfried von Neifen KLD 12,3, V. 4; Graf Heinrich von Anhalt KLD 1,2; Der Wilde Alexander KLD 3,3, V. 3–4; Friedrich von Leiningen KLD 2, V. 6–11; Konrad von Landeck SMS 14,4, V. 7–10. 12 Vgl. bspw. Friedrich von Hausen MF 49,37, I, V. 1–2; Heinrich von Morungen MF 133,13, IV, V. 1–2; Gottfried von Neifen KLD 12,3, V. 4.
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got, daz si an mir missetuot. | her nâch mac si sichs bekêren (L 56,14, VI, V. 7–8). Die geistliche Semantik fungiert hier dazu, rhetorisch Druck auf die Dame auszuüben. Sie wird genutzt, um der ausweglosen Situation des Liebenden Relevanz zuzuschreiben und argumentativ neue Dynamik zu verleihen. Die große Bandbreite an Funktionen, die die Thematisierung Gottes im Minnesang annehmen kann, kommt schließlich auch im Gebrauch der formelhaften Wendung got weiz wol zum Ausdruck, die der Bekräftigung ganz unterschiedlicher Aussagen dient. So soll Gott die ablehnende Haltung der Dame bezeugen13 oder umgekehrt die Treue des Liebenden beglaubigen14. In allgemeinem Sinne kann die Wendung auch zur Rechtfertigung gebraucht werden, dass die Werbung um die Dame ernsthaft ist: Got weiz wol, mir ist ir êre | lieber dan diu êre mîn (Ulrich von Liechtenstein KLD 58,7, V. 1–2). In der Summe verdeutlichen die Beispiele, dass Gott im Minnesang nur selten um seiner selbst willen genannt wird. Zuallermeist erfüllt er die Funktion, der jeweils zur Verhandlung stehenden Liebesthematik ein Mehr an Bedeutung zu verleihen. Dies kann primär rhetorischer Natur sein oder aber inhaltlich forciert einer Legitimierung von Minne zuarbeiten.
3 Der Heilscharakter der Dame Da die Dame als Inbegriff der Tugenden gilt, wird sie immer wieder als saelic wîp und als diu guote, als süeze und reine bezeichnet und auch mit güete, gnâde und erbarmen sowie trôst, helfe und heil in Verbindung gebracht. All dies sind Lexeme, die in der geistlichen und weltlichen Sprache des hohen und späten Mittelalters gleichermaßen Verwendung finden, was zur Folge hat, dass sie geistlich wie weltlich perspektiviert werden können.15 In ihrer konnotativen Fülle fungieren sie geradezu als Scharniere zwischen religiöser und weltlicher Liebessemantik. Begrifflichkeiten wie gnâde und erbarmen oder heil und saelde lassen, in der Liebesdichtung verwendet, stets auch den Reichtum der religiösen Konnotationen mitschwingen, ob dies vom jeweiligen Sänger intendiert ist oder nicht. Über ihre religiösen Konnotationen diffundiert religiöse Semantik in die Sprache der Liebe ein und umgekehrt gelangt die Liebessemantik über ihre erotischen Konnotationen in die religiöse Dichtung. Besonders deutlich wird dies, wenn zum Beispiel Walther seine Dame mit der Formel adressiert: ir sît doch genâden rîche (L 51,13, V, V. 6), denn hier springt die Nähe zum englischen Gruß mit der Formel gratia plena unmittelbar ins Auge.16 Das Gleiche gilt für die zahl-
13 Bspw. Heinrich von Morungen MF 135,9, II, V. 5–7; Heinrich Teschler SMS 3,3, V. 1–3. 14 Bspw. Heinrich von Veldeke MF 67,33, V. 3–5; Reinmar MF 160,6, I, V. 4–6; MF 174,3, V, V. 5–6; Heinrich der Rost SMS 6,1, V. 1–3. 15 Vgl. in diesem Sinne auch Tervooren 1993, bes. 219–220; Tervooren 2000, 29. 16 Vgl. Kesting 1965, 131.
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losen Bitten der Sänger um Gnade, so etwa in der Wendung Reinmars17 an die Herrin: genâde, vrouwe, saelic wîp (Heinrich von Rugge MF 103,35, VI, V. 5).18 Das Bedeutungsspektrum des Begriffs der saelde ist besonders groß, denn einerseits tendiert es zu fortuna im weltlichen Verständnis einer Auf- und Abwärtsbewegung des Schicksals, aber andererseits zu salus und beatitudo im Sinne geistlicher Fülle des Heils.19 Das Epithethon rein begegnet gleichermaßen bezogen auf die Jungfräulichkeit Marias20 wie auf die Qualitäten der Minnedame,21 das Gleiche gilt für guot und güete.22 Das Lexem trôst umfasst das Bedeutungsspektrum von auxilium und consolatio. Um trôst können ebenso Gott, Maria und die Heiligen angefleht werden wie die Minnedame: wan al mîn trôst und al mîn leben | daz muoz an eime wîbe sîn (Reinmar MF 163,23, V. 8–9). Die vielfachen Bitten an die Dame, erbarmen zu zeigen,23 profilieren sich vor dem Hintergrund des christlichen Begriffs von misericordia. Umgekehrt kann die Härte und Unnahbarkeit der Dame besonders dadurch ausgedrückt werden, dass ihr Erbarmen abgesprochen wird: wê mir armen! âne erbarmen | diene ich ir mit triuwen gar (Konrad von Altstetten SMS 2,4, V. 7–8).24 In der rekurrenten Bitte der Minnesänger um ein gutes Ende verbinden sich Vorstellungen von der erhofften endlichen Erlösung des Liebenden aus seinem Leid durch die Dame durchaus nicht selten mit christlichen Konnotationen von der endlichen Erlösung aus dem Erdenleben im Tod.25 In Rein-
17 MF ordnet die nur unter dem Namen Reinmars tradierte Strophe aufgrund ihres Überlieferungszusammenhangs Heinrich von Rugge zu. Vgl. zur komplexen Überlieferung von Rugges Ton VII Rudolph 2018, 148–149. 18 Vgl. auch pointiert bspw. Reinmar MF 156,27, IV, V. 8; Heinrich von Morungen MF 140,32, II, V. 7; Burkhard von Hohenfels KLD 6,3; Konrad von Landeck SMS 14,5; weitere Beispiele bei Kesting 1965, 138. 19 Im Althochdeutschen ist sâlig wîp überwiegend auf den geistlichen Bereich beschränkt; vgl. Kesting 1965, 131. 20 Vgl. bspw. Eberhard von Sax SMS 1,13, V. 6; Der Mönch von Salzburg SPECH G 11,1, V. 1; G 20,2, V. 14; G 22 mehrfach; Muskatblut GROOTE 26, V. 33, 65, 90; GROOTE 27, V. 1; Oswald von Wolkenstein OSW 111,6, V. 13. 21 Vgl. etwa Walther L 42,31, IV, V. 1–2: Vrouwe, als ich gedenk an dich, | waz dîn reiner lîp erwelter tugende pfliget; des Weiteren u. a. Ulrich von Liechtenstein KLD 11,2, V. 1; Kraft von Toggenburg SMS 2,1, V. 6‒8, und 2,2, V. 3; Johannes Hadlaub SMS 16,1, V. 3; SMS 53,3, V. 7, und 5, V. 2. 22 Vgl. exemplarisch Der Mönch von Salzburg SPECH G 6,3, V. 1–2: Maria guete, | edle Jesse bluende ruete, und Heinrich von Morungen MF 146,11, IV (nur unter Walther überliefert), V. 6–8: vrouwe, dîne güete, | sît ich die alrêrst sach, | sô weste ich wol, waz ich sprach. 23 Vgl. etwa Schenk von Limburg KLD 1,5, V. 4; Konrad von Würzburg SCHR 27, V. 9‒12; Konrad von Landeck SMS 6,4, V. 3–5; SMS 11,5, V. 7–10; SMS 20,5, V. 1–6; SMS 22,5, V. 7–10; Steinmar SMS 9, Refrain; Johannes Hadlaub SMS 12,4, V. 5–6; SMS 49,3, V. 5–8; SMS 54,4, V. 8–10; allgemein als Potenzial bei frouwen Düring KLD 2,3, V. 1–3. 24 Vgl. dazu Heinrich der Rost SMS 6,1, V. 8–10. 25 Signifikant ist etwa eine Stelle bei Ulrich von Gutenburg (Leich), wo es heißt: Ich ergibe mich unde enbar | an ir genâde gar, | daz si mir, dar nâch ich strebe, | ein wunnenclîchez ende gebe (MF 77,32); vgl. des Weiteren bspw. Reinmar MF 156,27, V, V. 6. Vgl. entsprechende Beispiele aus der Marienlyrik bei Kesting 1965, 140.
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mars Lied Ich spriche iemer, swenne ich mac und ouch getar (MF 173,6) wird besonders deutlich, dass die frouwe zur eigentlichen mediatrix des Heils wird, wenn der Sänger sagt: Swie mîn lôn und ouch mîn ende an ir gestê, | daz ist mîn alremeistiu nôt (V, V. 1–2). Wenn ihr Lohn ausbleibt, ist der Sprecher nach seinen eigenen Worten an vröiden tôt (V. 4) und hat keine Hoffnung mehr für seine Seele: sô gedinge ich ûf die sêle niemermê (V. 7). Im Sinne hyperbolischer Sprechweise wird die Dame vielfach über christliche Semantik erhöht. Reinmar bezeichnet sie als seinen Ostertag (MF 170,1, III, V. 5), was die scharfe Kritik Walthers hervorgerufen hat (L 111,22). Bei näherem Zusehen wird jedoch deutlich, dass die Vorstellung von der Dame als Ostertag nicht exklusiv bei Reinmar begegnet, sondern auch bei mehreren anderen Sängern, mit Varianten als ôsterspil.26 Auch sonst wird die Dame häufig über Vergleiche, Metonymien und Metaphern über den irdischen Bereich hinaus transzendiert. So heißt es etwa bei Ulrich von Liechtenstein, sie sei schöner als alle Engel (KLD 46,5, V. 5–6). Auch bei Walther wird sie gewissermaßen in den Himmel gehoben: Ir houbet ist sô wunnenrîch, alse ez mîn himel welle sîn. wem solde ez anders sîn gelîch? ez hât doch himeleschen schîn. (L 53,25, II, V. 1–4)
Solcher Hyperbolik entsprechen Apostrophen der Dame, die beinahe Gebetscharakter annehmen können (Gottfried von Neifen KLD 22,3). In Morungens Venuslied wird die Vorstellung der Transzendierung der Dame zudem auch auf eine heidnische Göttin bezogen: Ich waene, si ist ein Vênus hêre, die ich dâ minne (MF 138,17, III, V. 1). Vor dem Hintergrund dieser Erhöhungen kann es nicht erstaunen, dass der Dame nahezu göttliche Kräfte zugesprochen werden: Wie der auferstandene Christus vermag sie der poetischen Inszenierung Morungens nach durch Wände zu gehen (II, V. 3–5). Zugleich wird ihr zugeschrieben, in der Lage zu sein, Wunder am Liebenden zu wirken: Diu süeze klâre wunder tuot | gar mit zühten an mir jungen (→ Burkhard von Hohenfels KLD 5,1, V. 1–2)27 und den nicht selten krank dargestellten Sänger zu heilen und zu verjüngen: sô möhte ein wunder wol geschehen: ich junge, und tuot si daz, und wirt mir gernden siechen seneder sühte baz. (Walther L 53,25, II, V. 8–10)
26 Vgl. Heinrich von Morungen MF 140,11, I, V. 6; Rudolf von Rotenburg KLD 15,2, V. 7–8; Der Düring KLD 7,2, V. 7; Heinrich von Frauenberg SMS 4,1, V. 5; Der Wilde Alexander KLD 3,3, V. 2; ôsterspil: Der von Trostberg SMS 3,3, V. 5; Von Buchheim KLD 4,3, V. 5. 27 Vgl. des Weiteren Gottfried von Neifen KLD 22,2, V. 1; Ulrich von Singenberg SMS 18,3, V. 5.
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Heil und die Kraft zur Heilung werden der Dame gleichermaßen zugesprochen. Komplementär zu solchen Phantasmen, welche die Dame der poetischen Inszenierung nach beinahe in den Rang einer göttlichen Instanz erheben, verhält sich der bereits angesprochene Topos, dass die Dame mit Blick auf ihre Schönheit und Tugend als ein exzeptionelles Geschöpf Gottes dargestellt wird.28 Dies eröffnet nicht zuletzt die Möglichkeit, ihre Vollkommenheit und heilsspendende Kraft unmittelbar in Gott zu begründen. So heißt es etwa bei Friedrich von Hausen: Swes got an güete und an getât noch ie dekeiner vrouwen gunde, des gihe ich ime, daz er daz hât an ir geworht, als er wol kunde. (MF 44,13, II, V. 1–4)
Dementsprechend ist es in dieser Perspektive Gott, der bei ihrer Erschaffung Wunder wirkte: Ich sihe wol, daz got wunder kan | von schoene würken ûz wîbe (Friedrich von Hausen MF 49,37, I, V. 1–2). Gelegentlich wird in pointierter Variation des Topos aber auch als negativ herausgestellt, dass Gott die Dame zum Leidwesen des Liebenden geschaffen hat, wenn es etwa bei Heinrich von Rugge heißt:29 Got hât mir armen ze leide getân, daz er ein wîp ie geschuof als guote. solt ich in erbarmen, sô het erz gelân. (MF 101,15, I, V. 1–3)
Im Blick auf die Geschöpflichkeit der Dame kommt zudem auch der Sänger selbst ins Spiel, der nicht selten zu erkennen gibt, dass er es ist, der die Dame im Lied erschafft (z. B. Walther L 72,31, II). Im Effekt kann das Zusammenspiel, aber auch die Konkurrenz zwischen den schaffenden Instanzen von Gott und Sänger betont werden (vgl. z. B. Walther L 53,25, III).
4 Marienlyrik und Minnelyrik Die Nähe zwischen Marienlyrik und Minnelyrik30 wird zum einen über die bereits erwähnten Begrifflichkeiten von gnâde, trôst, güete, saelde, erbarmen, helfe deutlich, zum anderen aber auch durch geteilte Attribute und Prädikationen. So finden sich unter den für die Tugenden und die Schönheit Marias verwendeten Symbolen immer wieder die Bilder von Rose und Lilie,31 die auch im Minnesang zur Heraushebung
28 Vgl. die Beispiele im Abschnitt zu „Gott im Minnesang“ oben sowie dort in Anm. 11. 29 Vgl. dazu ausführlicher und mit weiterer Literatur Rudolph 2018, 93–100. 30 Vgl. grundsätzlich insb. Kesting 1965; Tervooren 2000. 31 Vgl. die Belege bei Salzer 1967, 162–170, 183‒192.
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der frouwe vielfach begegnen.32 Bei Walther wird die Zusammenstellung von Lilien und Rosen im Wort lilienrôsevarwe nachgerade zur Formel für Frauenschönheit (L 66,21, V, V. 7). Mit der häufigen Metaphorisierung Marias über Sonne, Mond und Sterne33 korrespondieren im Minnesang die auf die frouwe bezogenen kosmischen Bilder und Vergleiche, die im Œuvre Heinrichs von Morungen besonders häufig auftreten.34 Bei Heinrich von Morungen (MF 122,1) findet sich wohl auch ein Anklang an die in Exegese und Predigt oft mariologisch gedeutete Passage aus der Apk 12,1: Mulier amicta sole, et luna sub pedibus eius, et in capite eius corona stellarum duodecim [eine Frau, mit der Sonne bekleidet, der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Kopf eine Krone von zwölf Sternen]35. Im Minnelied wird die Vorstellung vom Sonnenkleid auf das Umfangensein der schönen Dame mit Güte bezogen, was zugleich mit dem weithin über die Erde leuchtenden Mondlicht verbunden wird (I). Danach strahlt die Dame Güte aus wie der Mond das Licht. Im selben Lied heißt es auch: Ir tugent reine ist der sunnen gelîch (IV, V. 1). Darüber hinaus wird auch das für die jungfräuliche Empfängnis Marias häufig verwendete Bild von der Sonne, die durch das Glas tritt, ohne es zu brechen, in abgewandelter Form auf die Dame übertragen: Sî kan durch diu herzen brechen | sam diu sunne dur daz glas (MF 144,17, II, V. 1–2). Darauf reimen die folgenden Verszeilen mit ihrer Edelsteinmetaphorik, indem sie die frouwe als Diamant der Tugenden bezeichnen: ich mac wol von schulden sprechen: | ‚si ganzer tugende ein adamas!‘ (V. 3–4). Auch bei Albrecht von Johannsdorf heißt es in Bezug auf die Minneherrin, dass sie ein Edelstein der Güte sei: si ist aller güete ein gimme (MF 92,14, IV, V. 7). Zweifellos liegen hier Analogien zum Leitbild der Jungfrau Maria vor, die häufig über Edelsteinmetaphorik gekennzeichnet ist, was etwa in Bezeichnungen als virgo gemma virtutum [Jungfrau, Edelstein der Tugenden] oder als pulchra super gemmas [die Schöne, schön über die Edelsteine hinaus] oder als Tu gemma mulierum [Du Edelstein der Frauen] zum Ausdruck kommt.36 Besonders signifikant im Hinblick auf Metaphern, die in Minnelyrik und Marienpreis gleichermaßen auftreten, ist auch die in Morungens Lied Ez tuot vil wê (MF 134,14) entfaltete Vorstellung von der Minnedame als aufgehendem Morgenstern, aufgehender Sonne, Sonne auf dem Zenit und Abendsonne, denn Morgenstern und Sonne finden sich als besonders häufige Mariensymbole.37 Zudem lässt sich auch die im Minnesang nicht seltene Bezeichnung der Dame 32 Vgl. prägnant bspw. Morungen MF 136,1, I, V. 5; Walther L 43,9, III, V. 1–4; L 74,20, III, V. 3–4; L 114,23, V; Hugo von Werbenwag KLD 2,2, V. 4–6; Wachsmut von Mühlhausen KLD 3,1, V. 1–4. 33 Vgl. die Belege bei Salzer 1967, 377–384, 391–418. 34 Heinrich von Morungen MF 122,1, I und IV; MF 124,32, I; MF 129,14, I, V. 7–8; MF 134,14, II und III; MF 136,1, I; MF 136,25, I und II; MF 138,17, III, V. 5–6; MF 144,17, II. Vgl. darüber hinaus bspw. Heinrich von Veldeke MF 58,11, I, V. 10–12; MF 64,34, V. 5–7; Burkhard von Hohenfels KLD 10,1, V. 1–3; Gottfried von Neifen KLD 5,2, V. 3–4; Christan von Hamle KLD 3,3, V. 3–5; Markgraf Otto von Brandenburg KLD 6,2, V. 5; Jakob von Warte SMS 3,3, V. 1–3; Der von Trostberg SMS 2,2. 35 Hier und im Folgenden Übersetzung der Vf. 36 Vgl. die Belege bei Kesting 1965, 14–15; Salzer 1967, 222–225. 37 Vgl. Anm. 31 und dazu die Belege Anm. 34.
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als Königin besonders dort, wo sie mit der Anrufung um Gnade und der Semantik des Heils verknüpft ist, als Analogie auf Maria als Himmelskönigin verstehen: genâde, ein küniginne, du tuo mich gesunt (Heinrich von Morungen MF 140,32, II, V. 7).38 Es sind jedoch nicht nur die genannten Metaphern und Prädikationen, über die sich die Darstellungen der frouwe im Minnesang und der Gottesmutter Maria in geistlicher Dichtung annähern, sondern es ist bisweilen auch die Sprechweise. So finden sich an die Hymnik angelehnter Lobpreis und Seligpreisungen auch im Minnesang, was sich etwa bei Morungen in folgender Passage zeigt:39 Saelic sî diu süeze stunde, saelic sî diu zît, der werde tac, dô daz wort gie von ir munde, daz dem herzen mîn sô nâhen lac. (MF 125,19, IV, V. 1–4)40
Auch Gottfried von Neifen jubelt in der durch siebenmalige anaphorische Wiederholung besonders intensivierten Anrufung der Frau, von der der Sänger seine eigene Seligkeit ableitet: Wîp, dîn minnenclîch gebâren kan der senden herzen vâren: wîp, du bist ein süezer nam: wîp, du kanst wol fröide mêren: wîp, du kanst wol fröide lêren […]. (KLD 22,3 V.1‒5)
Der in der Mariendichtung verbreitete Unsagbarkeitstopos hat ebenfalls einen Widerhall in der Minnelyrik. Immer wieder heißt es in der lateinischen Mariendichtung, dass niemand das Lob Marias hinreichend aussprechen kann: Te, Maria, certa via Vitae, quae non deficit, Ut te laudem, tuam laudem Nemo loqui sufficit.41 [Niemand ist im Stande, Dein Lob hinreichend auszusprechen, um Dich, Maria, sicherer Weg zum Leben, der keinen Mangel aufweist, zu loben.]
38 Vgl. des Weiteren etwa Albrecht von Johannsdorf MF 92,14, IV, V. 1–4; Walther L 118,24, I, V. 6; Gottfried von Neifen KLD 14,2, V. 11; KLD 15,5, V. 4–6; KLD 34,4, V. 1; KLD 51, V. 5; Ulrich von Liechtenstein KLD 42,2, V. 6; KLD 44,7, V. 6. 39 Vgl. hierzu Tervooren 1993, 216–219; Eikelmann 2015, 70–76. 40 Ob dieses Lied auch die Vorstellung von der Empfängnis Marias durch das Ohr nachahmt, wie Kesting 1965, 96–98, meint, scheint uns sehr unsicher. Vgl. dazu auch Eikelmann 2015, 74–75. 41 Vgl. Kesting 1965, 28.
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Zu diesem Schluss kommt auch → Konrad von Würzburg in seinem weit ausholenden volkssprachlichen Marienpreisgedicht ‚Goldene Schmiede‘42: nu bin ich an der künste liden so meisterliche niht bereit, daz ich nach diner werdekeit der zungen hamer künne slahen, und minen munt also getwahen daz er ze dime prise tüge. (V. 10–15)
In ähnlicher Weise kapituliert der Sänger im Minnesang immer wieder vor der Aufgabe, das Lob der Minnedame erschöpfend darbieten zu können. Ganz in diesem Sinne heißt es bei Reinmar: Dîn lop mit rede nieman volenden kan (MF 165,10, III, V. 5). Nicht selten ist es sogar so, dass der Liebende und Sänger angesichts ihrer Machtfülle und bei ihrem Anblick machtlos ist und verstummt, statt sie zu preisen.43 Insbesondere in späten Minneliedern kann die Minnedame über geistliche Konnotationen ihrer Qualitäten so sehr der Gottesmutter Maria angenähert werden, dass Minne- und Marienlied nahezu ununterscheidbar werden. So ließe sich etwa die in → Heinrichs von Mügeln zweitem Minnelied (STMN XVI,4–6) wuchernde Naturmetaphorik ebenso auf Maria wie die Minnedame beziehen.44 Die besungene reine wird als Leid vertreibend und Freude spendend gepriesen, als Inbegriff von zucht, Treue und Tugend bezeichnet und als mines heiles ostertag und mins lebens amm gefeiert. All diese Prädikationen könnten sich mit ihren mehr oder weniger deutlich ausgeprägten geistlichen Konnotationen auf Maria beziehen. Auch die für die Gottesmutter typische Edelsteinmetaphorik klingt über die Vorstellung des Goldes in der letzten Strophe an: Über alle blum der heide grünt sie sam ein blünder hag rich in der tugent kleide mines heiles ostertag, und über des meien früte als ein golt sich fengt ein flamm, sus klert sich mins lebens amm in steter tugent blüte. (STMN XVI,6)
Dazu kommt: Die Naturmetaphorik wird von Mügeln genutzt, um die Vorzüge der Geliebten herauszustellen, doch zugleich wird deutlich, dass die Dame in ihren Qualitäten die Natur übertrifft. Das in der zitierten Strophe zweimal wiederholte über markiert diese Tendenz zur Transzendierung der Dame ebenso wie sich die geistlichen
42 Zitiert nach Schröder 1926. 43 Vgl. etwa Heinrich von Morungen MF 125,19, IV; Burkhard von Hohenfels KLD 16,3, V. 7–10. 44 Vgl. allgemein zu Interferenzen von Natureingang und Mariendeskription Tervooren 2000, 30–38.
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Konnotationen in der Gold- und Feuermetaphorik und den Bezeichnungen der Geliebten als mines heiles ostertag und mins lebens amm verdichten. Im Gegenzug kann sich die Marienlyrik über Topik, Lexik und Bildlichkeit dem Minnesang anverwandeln. Die Tendenzen zur Erotisierung der Marienfigur in der Marienlyrik lassen sich jedoch nicht nur durch Übertragungen aus dem Minnesang erklären, sondern hier spielt auch die Rezeption des Hohen Liedes sowie der Weisheitsbücher aus dem Alten Testament eine große Rolle. Da sich die Braut des Hohen Liedes allegorisch als Maria auffassen ließ, konnte die Erotik in die Mariendarstellungen Einzug halten und war gewissermaßen legitimiert. Möglicherweise war dies ein Einfallstor für die weitere Erotisierung der Mariengestalt im Rückgriff auf lateinische und vernakulare Liebesdichtung (→ Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters). Gerade hier zeigt sich, wie komplex die Übertragungsprozesse zwischen geistlicher und weltlicher Dichtung sind, denn sie lassen sich nicht über ein einfaches binäres Modell erklären.45 Auffällig sind besonders Marienlieder, die sich so stark dem Minnesang annähern, dass sie auf den ersten Blick suggerieren, ein Minnelied zu sein. Exemplarisch lässt sich dies an Marienliedern → Oswalds von Wolkenstein illustrieren.46 Oswalds Lied OSW 34 beginnt mit einem Auftakt, der einem erotischen Tagelied entstammen könnte: Es leucht durch grau die vein lasur durchsichtiklich gesprenget. Blick durch die brau, rain creatur, mit aller zier gemenget. (1, V. 1–4)
Die Nähe zum Minnesang lässt sich nachweisen, da die Formulierung blick durch die brau vom Mönch von Salzburg in erotischem Kontext verwendet wird (MÄRZ W 2,1, V. 2). Der Liedanfang könnte sich damit auf den Moment beziehen, da die Liebenden nach gemeinsam vollbrachter Nacht bei Anbruch des Morgens erwachen und sich trennen müssen. Als untypisch für das Vokabular des Minnesangs erweist sich dann im weiteren Verlauf der ersten Strophe die Bezeichnung der Dame als Breislicher jan (OSW 34,1, V. 5), also preisenswertes Garbenfeld, womit über Garbe und Ähre Mariensymbole aufgerufen werden.47 Auch im Folgenden arbeitet das Lied zunächst mit topischen, aus dem erotischen Tagelied und den Kanzonen entnommenen Darstellungen des Tagesanbruchs und der Natur. Erst durch den Hinweis, dies alles diene der Krone, die uns gebar | ein sun keuschlich zu freuden (2, V. 9–10), weiß man gegen Ende der zweiten Strophe sicher, dass es hier nur um den Preis der Jungfrau Maria gehen
45 Vgl. hierzu mit Blick auf die Hohe-Lied-Rezeption auch Tervooren 1993, 224–231. Vgl. zum Einfluss des Hohen Liedes auf die Liebeslyrik insb. Tervooren 2000. 46 Vgl. dazu u. a. Wachinger 2001 sowie jüngst Hofmeister 2020. 47 Vgl. Wachinger 2006, 1019.
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kann. Sodann reiht das Lied mit dem unversehrten Leib, der Symbolik des reinen Gartens und dem Heilkraut fröhlicher Ostern typische Marienprädikationen und verfällt immer deutlicher in einen Gebetsgestus. Doch in überraschender Pointe mündet es bei der Ausmalung der Todesqualen und Todesängste am Ende in die Andeutung eines erotischen Kusses: Ste für die tür grauslicher not. wenn sich mein houpt wirt senken Gen deinem veinen mündlin rot, so tue mich, lieb, bedenken. (3, V. 9–12)
Indem das Ich sich vorstellt, sein Haupt würde sich am Lebensende dem roten Mund Mariens zuneigen, kehrt die in der dritten Strophe abgeschwächte Erotisierung der Marienfigur mit Wucht zurück. Das Lied macht die Grenzen zwischen Marienlied und Minnelied durchlässig und spielt gezielt mit ihnen.48 Wie weit die Erotisierung der Mariengestalt in der Marienlyrik geht, zeigt in einer anderen Gattung insbesondere auch → Frauenlobs Marienleich (WACH 1).49 Schon gleich zu Anfang öffnet der Sprecher mit dem Hinweis, er sehe Maria vor seinem ougen anger (1, V. 4), den Leich auf die Liebesdichtung hin, denn in Frauenlobs Lied 3 bekundet das Ich, dass es die Geliebte als der lüste garten | sach in spilnder ougenweide (WACH 7,2, V. 2–3) vor sich stehen, und Lied 4 setzt ein: Ahi, wie blüt der anger miner ougen (GA XIV,16, V. 1).50 Die Nähe zum Minnesang wird an verschiedenen weiteren Stellen des Leichs deutlich, sie zeigt sich besonders in der Bezeichnung des liebenden und geliebten Gottes als vriedel oder alter vriedel und in der Naturmetaphorik, die dem Natureingang des Minnesangs an manchen Stellen zum Verwechseln ähnlich ist (→ Natur und Natureingang): man höret der turteltuben singen erklingen, volringen nach des süzes meien horden. hin ist des winters orden, die blünden winrebe diner frucht sint vollen smachaft worden. (WACH 1,3, V. 4–7)
Durchgängig zeigt sich im Leich die Gestaltung des Inkarnationsgeschehens als Liebesbegegnung zwischen Maria und ihrem göttlichen Partner. Signifikant im Hinblick auf die Nähe zum Minnesang ist hier etwa auch folgende Stelle:
48 Vgl. des Weiteren bspw. OSW 40, denn auch hier verweist der Anfang auf ein erotisches Tagelied, zudem bietet der Refrain eine Aufforderung an Jung und Alt, sich im Mai zu neuem und fröhlichem Leben zu erheben, was auf den ersten Blick so gar nicht nach geistlicher Dichtung klingt. 49 Vgl. dazu ausführlicher Kellner 2021. 50 Vgl. Köbele 2000, 215–216, 220.
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wan er wil erkosen sich mit dir in den rosen. des soltu, tochter, muter, meit, mit liebem liebe im losen. (3, V. 12–14)
Gerade weil Frauenlob die Lilien, die sich in vergleichbaren Passagen des Hohen Liedes finden (vgl. Ct 6,1–2), durch Rosen ersetzt, nähert er die Passage so sehr der Liebesdichtung an, dass sie auch einem Minnelied entstammen könnte. Und in der Tat ist die inhaltliche und klangliche Nähe zu Frauenlobs eigenem Lied 3 (WACH 7) sehr groß.51 Während solche Tendenzen zur Erotisierung Marias in der Marienlyrik Lexik und Topik aus der Minnelyrik adaptieren und variieren, dient die Übertragung von Metaphorik und Begrifflichkeit aus der Marienlyrik im Minnesang dazu, den Heilscharakter der Dame zu profilieren. Nur selten wird allerdings der Bezug zu Maria explizit gemacht. Geschieht dies doch, können in gewitztem Unterlaufen des Verdachts, die Geliebte könne aus religiöser Sicht unzulässig überhöht werden, die Dame und Maria enggeführt werden, wie die letzte Strophe von Ulrichs von Liechtenstein Lied Nu schouwet wie des meien zît (KLD 9) demonstriert: Si jehent ich solde ûf gotes wege dîn lop niht singen, frouwe mîn. sît ez in an mir missehaget, sô wil ich sprechen mîn gebet. dîn êr hab got in sîner pflege: sô müez dîn lîp enpfolhen sîn Marîen der vil hêren maget, diu nie an iemen missetet.
Statt einer Konkurrenz von Frauendienst und Gottesdienst werden hier religiöse und Liebespraxis in eins gesetzt, wenn das gebet, das in Reaktion auf die Forderung artikuliert wird, auf „Gottes Weg“ kein Frauenlob zu singen, die Sorge um die Geliebte beinhaltet. Dass die Dame Maria anempfohlen wird, differenziert ihren Heilscharakter von jenem der Gottesmutter ebenso, wie es ihre Güte umso mehr nobilitiert. Statt Spannungen zwischen Weltlichem und Geistlichem auszustellen, dient der Bezug auf Maria, wie es insgesamt im Minnesang für die Interferenzen mit der Marienlyrik gilt, primär zur Aufwertung der Geliebten und damit auch der Werbung um und des Singens über sie.
51 So daz ich mich müze erkosen | mit der süzen, zarten, losen, | die sich in mins herzen closen | hat verwieret als in gold ein liecht rubin (WACH 7,4, V. 7–10). Vgl. dazu Köbele 2000, 217.
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5 Minne und Sünde Häufig wird die Geltung der Liebe im Rückgriff auf religiöse Semantik gesteigert, doch gibt es umgekehrt auch Abwertungen der irdischen Liebeskonstellation, indem sie mit der christlichen Vorstellung von Sünde und dem christlichen Verständnis von Reue, Buße und Umkehr in Verbindung gebracht wird. Dem Sangspruch nicht unähnlich kann zudem auch im Minnesang Kritik an der Sündhaftigkeit der Welt und an einzelnen Lastern geübt werden.52 Beim Verständnis von Sünde ist allerdings Vorsicht geboten: Wie unterschiedlich diese Semantik im Minnesang funktionalisiert werden kann, zeigt, dass die Liebe über ihre Gleichsetzung mit Sünde zum einen als falsche Orientierung des Lebens verstanden werden kann,53 während zum anderen gerade die Verweigerung der irdischen Liebe als Sünde und Irrweg gesehen wird. So passt es zum christlichen Sündenverständnis, wenn die Furcht geäußert wird, dass die Intensität des Liebesempfindens bereits Sünde sei (Ulrich von Baumburg SMS 2,2, V. 5–8). Auch, wenn der Sänger in der berühmten letzten Strophe von Morungens Venuslied (MF 138,17) konstatiert: Wê, waz rede ich? jâ ist mîn geloube boese | und ist wider got (V, V. 1–2), kommt ein Konflikt von Minne und religiöser Moral zum Ausdruck. Doch genauso, wie sich der Sänger im Venuslied weiterhin in seiner Minnebindung gefangen zeigt,54 führt die Perspektivierung der Liebe als potentiell sündhaft nur selten zu einer tatsächlichen Abkehr. Mit Ausnahme expliziter Minne- und Weltabsagen (s. u.) werden, wie vielfach auch im → Kreuzlied, vielmehr die Spannungen zwischen Frauen- und Gottesdienst ausgestellt, häufig, um gerade dadurch die Dringlichkeit des Liebesempfindens zu begründen. Als paradigmatisch hierfür können folgende Verse Friedrichs von Hausen gelten: ich bin ir holt; swenne ich vor gote getar, sô gedenke ich ir. daz geruoch ouch er vergeben mir: ob ich des sünde süle hân, wie geschuof er sî sô rehte wol getân? (MF 45,37, II, V. 6–10)
Obgleich im weiteren Verlauf des Liedes dann eine neuerliche Ausrichtung auf Gott beteuert wird, ist es nicht ohne Pointe, dass in den Handschriften darauf wiederum Lieder folgen, die das Gefangen-Sein in der Liebe erneut betonen und die Spannung somit weiterhin austragen.55 52 Vgl. etwa bei Heinrich von Rugge die Kritik an der avaritia in MF 108,22, II, V. 3–6, sowie MF 102,1, II. Vgl. dazu Rudolph 2018, 115–121 und 206–211. 53 Vgl. dazu Tervoooren 1993, 223–224. 54 Vgl. dazu ausführlich und mit kritischer Sichtung der älteren Forschung Kellner 2018, 87–90. 55 In C schließt sich das Kreuzlied Mîn herze und mîn lîp diu wellent scheiden (MF 47,9) an, das ebenfalls den Konflikt zwischen Frauen- und Gottesdienst verhandelt, worauf ein Lied folgt, in dem die Dame Gott anbefohlen wird (MF 48,3). In B folgt das kurze Traumlied, in dem der Minner die Dame die ganze Nacht vor Augen hat (MF 48,23).
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Umgekehrt wird im Sinne vituperativer Rede nicht selten der Vorwurf an die Dame erhoben, sie versündige sich durch ihre Zurückhaltung und ihr ablehnendes Verhalten am Liebenden. Bei Bernger von Horheim heißt es etwa:56 ich hange an getwange, daz gît, diu sich sündet; wan si michs ie niht erlie, sine twanc Mich nâch ir, diu mir sô betwinget den muot. ich singe unde sunge, betwunge ich die guoten, daz mir ir güete baz tete. si ist guot. (MF 115,27, V. 3–7)
Der Sänger zeigt sich hier von der Liebe derer bezwungen, die sich an ihm versündigt habe, und will die Dame nun seinerseits bezwingen, auf dass sie ihn in ihrer Güte besser behandele. Der an die Dame gerichtete starke Vorwurf der Sünde wird durch die umstandslose Voraussetzung ihrer Güte relativiert. Obgleich die Dame sündigt, ist sie doch eigentlich guot, wie mit dem letzten Wort der Strophe noch einmal betont wird. Insofern ergibt sich aus der Spannung zwischen den Behauptungen von Sünde und bonitas der Dame ein starker Appell zur wohlwollenden Annahme der Werbung des Liebenden. Wie wenig der hier sich artikulierende Sündenbegriff mit dem christlichen Verständnis zu tun hat, wird auch an der im Minnesang mitunter geäußerten generellen Ansicht deutlich, der Liebe nicht zu entsprechen, sei bereits Sünde (Heinrich Hetzbold von Weißensee KLD 3,3, V. 6–7). Im ironischen Sinne bezichtigt sich der Sänger bei Walther der Sünde, wenn er bekennt, dass er die Dame lieber ansehe als den Himmel (L 53,25, III, V. 5–7), denn dahinter steht ein klares Bekenntnis zur irdischen Liebe. Es zeigt sich deutlich, dass an diesen Stellen der christliche Sündenbegriff ausgehöhlt und im Sinne der Minneideologie funktionalisiert und umgewertet wird. Ganz auf dieser Fluchtlinie liegt es, dass von denjenigen gesagt wird, sie würden sich versündigen, die Minne nicht gönnen und anerkennen wollen57 oder die den Damen ihre Ehre absprechen wollen58. Minne erscheint in dieser Perspektive als Gegenteil von Sünde.59 In einer Strophe, die von der Überlieferung ebenfalls Walther zugesprochen wird, wird sie mit dem Argument, dass sich aus der rechten Minne êre, staete und saelikeit ableiten, geradezu leidenschaftlich gegen den Vorwurf der Sünde verteidigt (Hartmann von 56 Vgl. des Weiteren etwa Heinrich von Rugge MF 99,29, III, V. 7; Heinrich von Morungen MF 129,14, III; Gottfried von Neifen KLD 32,4, V. 8; Ulrich von Winterstetten KLD 9,2; KLD 14,5; KLD 24,2; KLD 30,3, V. 1–2; Johannes Hadlaub SMS 7,5, V. 4–5; Heinrich Teschler SMS 2,2, V. 9–12. Eine Variation dazu stellt es dar, wenn die Minne selbst als Sünderin dargestellt wird, da sie die Liebe zu einer Dame zu verantworten habe, die sich gänzlich ignorant zeige, vgl. Hiltbolt von Schwangau KLD 1. 57 Vgl. etwa Kaiser Heinrich MF 5,16, IV, V. 1–4; Heinrich von Morungen MF 138,17, II, V. 1–2; Reinmar MF 179,3, V. 58 Vgl. Heinrich von Veldeke MF XXXVI; Hugo von Mühldorf KLD 2. 59 Vgl. Walther L 44,23, III (= L 172,1), V. 5–6; L 219,10 (= L/COR 93, IV); Markgraf Otto von Brandenburg KLD 4,2–3.
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Aue MF 214,34, V)60. In konsequenter Weise wird dann rechte, sündenlose Minne von falscher Minne im Sinne von unminne abgegrenzt (V. 8). Wie die Berufung auf Gott wird die Sünde als Argument somit höchst unterschiedlich funktionalisiert. Aspekte der Minne als Sünde zu bezeichnen oder gegen den Vorwurf der Sünde zu verteidigen, erweist sich als eines von vielen Mitteln der Variationskunst des Minnesangs, Liebe immer wieder aufs Neue zu perspektivieren und die Relevanz ihrer Verhandlung hervorzuheben. So erscheint es nur bedingt als Widerspruch, dass sowohl die Ausrichtung auf Liebe (auf Seiten des Mannes) als auch das Ausbleiben von Liebe (auf Seiten der Dame) als Sünde stilisiert werden können. Vielmehr lässt es sich mit Blick auf die Intensität eines Liebesempfindens, dessen Wunsch nach Entsprechung unerfüllt bleibt, auch als komplementär verstehen.
6 Minne- und Weltabsage Die an der Sündenthematik erläuterten Konkurrenzen zwischen höfischen und christlichen Leitvorstellungen sind in vielen Liedern implizit. Voll zum Ausdruck kommen sie besonders in denjenigen Liedern des Minnesangs, in denen Minnedienst und Gottesdienst explizit kontrastiert werden. Dies geschieht in → Kreuzliedern, die das Ich häufig in der Spannung zeigen zwischen der Verpflichtung zum Kreuzzug und dem Wunsch, bei der Geliebten zu bleiben. Revokationen und Infragestellungen der Minne sowie der Minneideologie finden sich jedoch vereinzelt auch in anderen Liedern. So scheint der Sänger in Morungens Lied Owê, war umbe volg ich tumbem wâne (MF 136,1) genug vom Sprechen und Singen über die Liebe zu haben, er zeigt sich müde und erhitzt: Ich hân sô vil gesprochen und gesungen, | daz ich bin müede und heis von der klage (III, V. 1–2). Rückblickend wird der Minnedienst als Zeitverschwendung betrachtet, gleichzeitig bereut der Sänger, dass er sich nicht stärker um Gott als um die Minnedame bemüht hat. Morungen macht hier eine Rechnung auf, bei der die Kosten und Nutzen des Dienstes abgewogen werden. Hätte er sich nur halb so sehr um Gott wie um die Dame bemüht, würde Gott ihn bei sich aufnehmen, während ihm der Dienst an der Dame nichts an Lohn eingebracht hat. Das höhere Ziel, nach dem Tod in den Himmel einzugehen, wäre also mit der Hälfte der Anstrengung erreichbar gewesen, die der Sänger umsonst in die Verfolgung der irdischen Liebe investiert hat. So endet das Lied mit dem Seufzer (V. 8): ach mîner tage! Die Rolle des Alten erlaubt und ermöglicht dem Sänger eine Außenposition, er erscheint nicht mehr als Werber in eigener Sache und mit eigenen Interessen, sondern kann Minne- und Gottesdienst (scheinbar) nüchtern abwägen. In Altersklagen, Minne- und Weltabsagen werden die höfische Liebe und das Leben im Dienst der Welt 60 MF schreibt die nur bei Walther in E überlieferte Strophe Hartmann von Aue zu, da die ersten drei Strophen des Tons in A und C Hartmann zugeordnet sind.
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als problematische und verkehrte Orientierungen des irdischen Daseins entlarvt.61 So entsteht der Eindruck, als distanziere der Sänger sich nun vom Minnedienst und Weltleben und bekehre sich zum Gottesdienst und damit zu einem Leben, das ihm das Heil seiner Seele zu sichern verspricht. Die christlichen Leitvorstellungen von contemptus mundi, metanoia und Buße werden dabei literarisch adaptiert und produktiv gemacht. Bei näherem Zusehen zeigt sich allerdings, dass die dichotomische Vorstellung eines Übergangs vom Minne- zum Gottesdienst und damit zur Sorge um das eigene Seelenheil, nicht selten zu kurz gegriffen ist, denn die Relation von Minne- und Gottesdienst bleibt intrikat. In diesem Sinne bietet etwa Walthers Alterston Ir reiniu wîp, ir werden man (L 66,21) eine kritische Reflexion von Minne und Sang.62 In der Rolle des alten Mannes blickt der Sänger auf gut vierzig Jahre Dienst an der Gesellschaft durch seinen Sang zurück. Beide Komponenten der Walther’schen Sangeskunst werden dabei ins Spiel gebracht, Minnesang und Sangspruch: wol vierzic jâr han ich gesungen unde mê | von minnen und als iemen sol (I, V. 7‒8). Der Sänger setzt sich mit der trügerischen Welt auseinander und betont, dass diese im Alter ihr Possenspiel mit ihm treibe, während er Leib und Seele für sie riskiert habe (III). Der vormalige Dienst an der Gesellschaft durch den Sang, mit dem der Sänger Freude gestiftet hatte, wird nun als Gefahr für das eigene Heil gesehen. In einem inszenierten Dialog mit dem Ich rügt die Seele das Lob des Sängers auf die höfische Minne und setzt der innerweltlichen Liebe zu den Frauen die wahre Gottesminne entgegen (IV). Was in den Liedern der Hohen Minne als beständige Minne verherrlicht ist, wird vor dem Hintergrund des im Lied entfalteten Vanitasgedankens und in der Perspektive des Altersrückblicks in seiner Unbeständigkeit enthüllt. Auch die Dame, die im Alterston im Begriff des bilde repräsentiert ist, erscheint nicht länger der Zeit enthoben, sondern wird im Verfall gezeigt. Zugleich wünscht der Sänger sich, die platonische Vorstellung vom Eingekerkertsein der Seele im Leib aufrufend, den Leib als das Hinfällige verlassen zu können, aber dereinst in der Auferstehung im Fleische wieder frô in ihn zurückkehren zu können (V, V. 9–12). Doch auch dieser Wunsch bleibt wiederum mit der Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung mit der Dame verbunden. Insofern spiegelt die Gefangenschaft der Seele im Leib das Gebundensein des Sängers in der Minne. Zwar gilt Walthers Lied Frô Welt, ir sult dem wirte sagen (L 100,24) der opinio communis der Forschung nach als religiös motivierte Weltabsage, die in den größeren Kontext der mittelalterlichen Contemptus-mundi-Literatur gehört,63 bisweilen wurde aber auch betont, dass die Eindeutigkeit der Abkehr im Minnelied relativiert wird.64 Das Ich distanziert sich einerseits scharf von der frowe, die ihrerseits zwischen der Figur der Frau Welt und der Minnedame changiert. Doch andererseits wird deutlich, 61 Vgl. allgemein zur Thematik Cormeau 1985; Mertens 2006; Goller 2008. 62 Vgl. dazu etwa Mohr 1971; Cormeau 1985; Mertens 2006; Kellner 2013; Kellner 2018, 375–381. 63 Vgl. Kellner 2018, 369–375, mit Dokumentation des Forschungsstandes. 64 Vgl. Wehrli 1989, prägnant 110; Kartschoke 2001.
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wie schwierig diese Entscheidung ist und wie sehr das Ich selbst noch immer in der Welt verhaftet ist. In Walthers sogenannter Elegie (L 124,1) verbindet sich die Weltabsage im Rückblick des alten Sängers auf das eigene Leben mit einer grundlegenden Zeit- und Gesellschaftskritik. Im Zentrum steht die problematische Spannung zwischen einer christlichen Ausrichtung des Lebens im Gottesdienst und dem Verhaftetsein in der Welt. Sich den Freuden dieser Welt hinzugeben und sie zu erstreben, wird als Weltverfallenheit und als Risiko für das Seelenheil entlarvt. Durch Umkehr, Buße und den Aufbruch zum Kreuzzug, zur lieben reise (III, V. 15), könne der Mensch aus den Sünden und den Verstrickungen in die Welt erlöst werden (III, V. 6). Wenn das Ich gegen Ende seines Lebens Bilanz zieht, durchschaut es den Scheincharakter der Welt, doch bleibt es im Zustand der Unsicherheit und die Möglichkeit einer lieben reise bleibt ungewiss. Weltabsagen, Todesangst, Gebet und Hoffnung auf die Gnade Gottes verbinden sich auch in geistlichen Liedern immer wieder mit der Minnethematik. Bei Oswald von Wolkenstein geschieht dies auf besonders komplexe Weise. Die Vorstellung von einer Gefangenschaft in der Minne als Ausdruck des Gefangenseins in der irdischen Welt wird ganz besonders im programmatischen Lied Ain anefangk (OSW 1) zum Thema gemacht.65 Der Inszenierung des Liedes nach treibt den Sänger seine Todesangst (1, V. 7‒8) dazu, sich zu besinnen und sich bereit zur Buße zu zeigen. Die Liebesfreuden, die der Sprecher vormals im langen Minnedienst erfuhr, haben sich nun in leidvolle Trauer verkehrt, denn statt in den Armen, die ihn einst umfangen haben, liegt er jetzt in Ketten: mit trauren ich das überwind, | seid mir die bain und arm beslagen sind (2, V. 17‒18). Diese Gefangenschaft in Ketten, mit der die Vorstellung von der Minnegefangenschaft wörtlich genommen wird, erscheint als Buße für die sündhafte Verstrickung des Sprechers in die irdische Liebe. In dieser Perspektive fungiert die Geliebte als instrumentum dei, denn der richtende Gott vollzieht seine Strafe am sündigen Sprecher durch sie. Der Sänger bedauert zutiefst, dass er seine Liebe zärtlich auf eine Frau gerichtet hat, die ihm am Ende nur Schaden zugefügt habe, statt sich sein Seelenheil durch die Liebe zu Gott zu verdienen (5, V. 13–17). Das Lied ruft die Liebeskonstellation des Minnesangs also auf und distanziert sie im geistlichen Sinne. Die Geliebte wird nicht explizit als Frau Welt in Szene gesetzt und allegorisiert, doch diese Vorstellung schwingt mit, denn sie ist die Verkörperung der irdischen Liebe und ihrer Verlockungen schlechthin. Die Ketten, Eisenschellen und Seile, die ihn seiner Darstellung nach umklammern, stellen auf allegorischer Ebene Metaphern für die Fallstricke dar, die jedem Menschen in seinem Leben ausgelegt sind. Die Geliebte kennt wie Frau Welt kein Erbarmen und dennoch gilt nach wie vor, dass der Sänger ihr als Gefangener verfallen bleibt, auch wenn er die Falschheit der irdischen Liebe durchschaut. Um seinen guten Willen und seine Reue zu bekunden, bittet er nach dem Vorbild Christi 65 Das Lied wurde in der Forschung immer wieder auf Oswalds Gefangenschaft auf der Burg Forst 1421 und seine Liebesbeziehung zu Anna Hausmannin bezogen. Vgl. zu diesem Lied Wachinger 2006, 1005–1008, und Kellner 2013 mit weiterführender Literatur.
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am Kreuz (Lk 23,34) am Schluss des Liedes für seine Feinde und insbesondere auch für seine Geliebte (7, V. 10–16). Hier könnte sich exemplarisch andeuten, wie sich der irdische amor in christliche caritas wandelt.66
7 Spiel mit geistlichen Allegorien Allegorien, wie sie in geistlichen Liedern und Sangsprüchen häufig begegnen, finden sich im Minnesang vereinzelt. Neben den regelmäßigen Personifikationen von (Frau) Minne und den für Minne- und Weltabsagen typischen Auseinandersetzungen mit Frau Welt liegen sie, vornehmlich im Minnesang des dreizehnten Jahrhunderts und im späten Sang, insbesondere dort vor, wo im Rückgriff auf naturkundliches Wissen Tierallegorien entfaltet werden. Die entsprechenden Passagen machen Interferenzen mit dem Sangspruch kenntlich und weisen im Hinblick auf die religiöse Sinnebene der Allegorien, für die unter anderem der ‚Physiologus‘ als wesentliche Bezugsgröße gelten kann, vielfach intrikate Engführungen und Überblendungen von geistlicher und Liebessemantik auf. Bei Burkhard von Hohenfels endet ein Lied, das über seinen gesamten Verlauf Aspekte der Liebeskonstellation mit Eigenheiten verschiedener Tiere vergleicht (KLD 2; Minnebestiarius), mit einer prägnanten Nennung des Einhorns: Der einhürne in megede schôze gît durch kiusche sînen lîp. dem wild ich mich wol genôze, sît ein reine sælic wîp mich verderbet […]. (5, V. 1–5)
Aufgerufen wird hier das gelehrte Wissen, dass sich das Einhorn erst erjagen lässt, nachdem es sich in den Schoß einer Jungfrau gelegt hat, was vielfach auf die Inkarnation und Passion Christi – mit Gott verstanden als Jäger – hin gedeutet wurde.67 Die zweifelsohne erotische Komponente des Bildes wird im Kontext der Minnelyrik ebenso herauszuhören gewesen sein, wie der Vergleich des Liebesleids mit dem Tod des Tieres eine Pointe darstellt. Denn dass sich im allegorischen Zweitsinn der Kummer des Liebenden auch auf die Passion Christi beziehen lässt, nutzt die religiösen Konnotationen einerseits dazu, die Drastik seiner Lage zu überhöhen. Andererseits vermag es durch die Überzogenheit des Vergleichs je nach Rezeption auch primär als gelehrter Witz fungiert haben. Zudem ist der Vergleich auch insofern semantisch vielschichtig gestaltet, als sich das reine sælic wîp nicht einfach mit der maget in Vers 66 Vgl. als weitere Beispiele für Weltabsagen etwa Hugo von Montfort HOF 29; Der von Kolmaz MF/ LH, 120–121. 67 Vgl. dazu Einhorn 1976 (sic), 195–197.
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1 gleichsetzen lässt, da es der Bildlogik nach ja nicht diese ist, die den Gejagten verderbet. So erweist sich die Geliebte in komplexer Überblendung sowohl als potenzielle Heilsspenderin als auch als aktuelle Verderbensbringerin und erscheint in einer spielerischen Analogie zu Maria, die sogleich wieder gekappt wird. Ähnlich komplex sind die zahlreichen Tierallegorien in den Liebesliedern Heinrichs von Mügeln gestaltet,68 die in enger Interferenz zu ihrer Verwendung in Mügelns Sangsprüchen stehen.69 So wird in der zweiten Strophe von Lied 1 (STMN XVI,2), nachdem der Sänger dazu aufgefordert hat, die hohe Würde der Dame(n) lobend zu verbreiten (V. 1–2), ihr Beistand mit dem Löwen verglichen: ir stür recht sam des louwen lut frut tut versorgen mannes mut und uß leid erwecket. (V. 3–5)
Dass der lut beziehungsweise das Brüllen des Löwen ‚erweckende‘ Wirkung hat, bezieht sich auf die ihm zugeschriebene Eigenschaft, dass der Löwenvater das totgeborene Löwenjunge am dritten Tag nach der Geburt anhaucht und dadurch zum Leben erweckt. Deren naheliegende geistliche Bedeutung besteht in der ‚Physiologus‘-Tradition darin, dass Gott Vater seinen Sohn am dritten Tage von den Toten auferweckt hat.70 Bei Mügeln nun wird dies mit der stür der Dame(n) verglichen, die von Leid zu befreien vermag – wobei bereits die Wahl des Verbs erwecken (V. 5) die religiöse Dimension des Vergleichs offenlegt. War zuvor schon der edeln frouwen nam (STMN XVI,1, V. 14) auf die lebensspendende Wirkung des Sommers bezogen worden, wird ihrem Beistand hier ein Heilscharakter zugeschrieben, der im ‚Erwecken‘ göttlichen Charakter hat. Durch die Allegorie vermag es der Text, die Analogie mit Gott im Impliziten zu belassen und die Überhöhung der Geliebten zugleich bildmächtig herauszustellen. Bisweilen begegnen in den Korpora von Minnesängern auch Texte, die nicht nur einzelne Allegorien enthalten, sondern auch eine Form des allegorischen Sprechens entfalten, bei der sich auf den verschiedenen Sinnebenen religiöse und weltliche Thematik überlagern. Das sogenannte Kindheitslied des Wilden Alexander (LDM J WAlex 30–36)71 zum Beispiel ist zwar nicht im engeren Sinne als Minnesang zu bezeichnen, doch verbindet es auf diese Weise Minnesang-Motivik und geistliche Semantik. Zu Beginn des Liedes wird eine Vergangenheit angesprochen, do wir kynder waren (V. 1). Sie ist geprägt von Bildlichkeit, wie sie aus Sommereingängen bekannt ist (→ Sommer68 Vgl. Lieder 1 (STMN XVI,1–3), 4 (STMN XVI,10–12) und 6 (STMN XVI,16–18). Vgl. dazu auch Frauenlobs Lied 4 (GA XIV,16–20) und zum Zusammenhang von Mügeln und Frauenlob diesbezüglich Köbele 2003, 148–162. 69 Vgl. u. a. STMN, Str. 42, 128, 130, 184, 188, 193, 212, 228, 374, 381–383. 70 Vgl. Schönberger 2001, 7. 71 KLD 5. Vgl. dazu Wachinger 2006, 780–782, sowie die dort aufgeführte Literatur; in LDM Kragl, Kommentar zu: J WAlex 30–36.
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und Winterlieder): einer dynamischen Bewegung in die Natur, dem Tanzen, Verweilen unter Blumen, dem Binden von Kränzen usf. (1–2). Dies wird im Liedverlauf als eine potentiell sündhafte Hinwendung zu Diesseitigem kenntlich, dessen Gefahren durch Schlangen (4, V. 7), die in dem krute (5, V. 1) lauern, symbolisiert werden. Dass das Spiel auch eine erotische Dimension hat, wird nicht explizit, durch die Bildwahl aber gleichwohl evoziert:72 Wir untfiengen alle masen,73 gestern, do wir ertberen lasen: daz was uns ein kintlich spil. (4, V. 1–3)
Wenn am Schluss des Liedes mit Bibelbezügen Mahnungen formuliert werden,74 dann erweist sich das Entfalten der Szenerie rückblickend als allegorisches Sprechen, das die Verführungen des Weltlichen geißelt. Dessen Mehrdeutigkeit besteht aber nachgerade darin, dass es zunächst eine Liebessemantik zu suggerieren vermag, die erst final von der religiösen Deutung überlagert wird. Ebenso wie Allegorien im Minnesang der Liebesverhandlung zusätzliche Sinndimensionen zu verleihen vermögen, wird hier kenntlich, dass ein allegorisches Sprechen mit religiöser Sinnebene gleichwohl Liebesthematik implizieren und seinen Reiz daraus beziehen kann, erotische Szenerien im Modus ihrer rekursiven Verurteilung dennoch imaginär zu evozieren.
8 Minnesang-Motivik in geistlicher Literatur Dass nicht nur im Minnesang religiöse Semantik von Relevanz ist, sondern umgekehrt auch die geistliche Literatur Topoi, Begriffe und Gedankenfiguren aus der Minnelyrik aufnimmt,75 konnte in den vorangehenden Abschnitten bereits anhand von Beispielen aus der Marienlyrik sowie Weltabsagen in geistlichen Liedern aufgezeigt werden. Ein weiteres prominentes Beispiel hierfür ist die Gattung des geistlichen Tageliedes oder Weckrufs, die sich vom dreizehnten bis ins sechzehnte Jahrhundert, also über einen sehr langen Zeitraum, nachweisen lässt.76 Die Lieder transformieren die Konstellation des weltlichen Tagesliedes, nach der sich zwei Liebende nach gemeinsam vollbrachter Nacht bei Anbruch des Morgens trennen müssen, über Allegorisierungen in den geistlichen Kontext. Die Personen Ritter und Dame sowie gegebenenfalls die Figur des Wächters, die Situation der Gefahr für das Paar und des drohenden Abschieds, 72 In diesem Sinne auch in LDM Kragl, Kommentar zu: J WAlex 30–36. 73 Im KLD normalisiert zu: Wir enpfiengen alle mâsen (Der Wilde Alexander KLD 5,4, V. 1). 74 Str. 7 spielt insbesondere auf Mt 25,1–13 an. 75 Vgl. auch die entsprechenden Hinweise bei Tervooren 1993, 224–226. 76 Vgl. hierzu in vorliegendem Handbuch auch den Artikel zum → Tagelied von Jan Mohr, des Weiteren Mohr 2016, sowie grundlegend Schnyder 2004.
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oft verbunden mit Kummer, Klagen und Tränen, die Temporalität von Tag und Nacht, die Raumsemantik von innen und außen, eröffnen systematisch unterschiedliche Möglichkeiten der geistlichen Transposition. So kann die Dame zum Beispiel allegorisch als Seele, der Ritter als Leib verstanden werden, das Paar kann aber auch für die Relation von Gott und Maria oder von Frau Welt und dem Christen stehen. Der Tagesanbruch kann im allegorischen Sinne den Tod, aber auch das individuelle Strafgericht oder das Jüngste Gericht bedeuten, schließlich kann er im Zeitalter der Reformation auch auf die konfessionelle Erneuerung des Glaubens verweisen. Die Nacht ist im weltlichen Tagelied eine Zeit der Liebesfreuden, im geistlichen Tagelied eine Zeit des Sündenschlafs und der Säumigkeit. Der Wächter, der die Liebenden im weltlichen Tagelied schützt und rechtzeitig weckt, damit sie durch ihre Trennung Gefahren entgehen, wird im geistlichen Kontext zum Warner vor dem sündigen weltverfallenen Leben und zum Mahner zu Umkehr, Reue und Buße. Während das Aufwachen für das Liebespaar ein Erschrecken bedeutet, ist es im geistlichen Wecklied positiv konnotiert. Der Wächter drängt dazu aufzuwachen, und das heißt, die falschen irdischen Freuden, nicht selten repräsentiert in Frau Welt, aufzugeben, er rüttelt auf zu einem Leben in Gott, bevor es zu spät ist. Er beschützt durch sein Wachen, aber er droht auch mit den Strafen, die der Sünder im Jenseits in der Hölle erleiden muss, wenn er nicht bereit ist, aufzuwachen und sein Leben im Jetzt und Hier zu ändern. Es gibt geistliche Tagelieder, welche die konstitutiven Merkmale des weltlichen Tagesliedes mehr oder weniger vollständig umbesetzen.77 Häufig greifen sie jedoch nur einzelne Elemente auf. Dies gilt vor allem für die mit der Situation des Tagesanbruchs verbundene Warnung und die Gerichtsvorstellung.78 Ein frühes Beispiel stellt etwa Walthers von der Vogelweide Sangspruch Nû wachet! uns gêt zuo der tac (L 21,25) im Wiener Hofton dar.79 Über die Formel ein ieglich kristen, juden unde heiden (V. 3) fordert der Sprecher die gesamte Menschheit auf zu erwachen und kündigt das bevorstehende Endgericht an. Sein Wissen über die bevorstehende Apokalypse leitet er aus den Endzeitzeichen ab, die für alle sichtbar seien und die in der Heiligen Schrift schon angekündigt wurden (V. 1–6).80 Unter den Unheilszeichen werden vor allem Untreue, gesellschaftlicher Verfall, Gewalt und Rechtlosigkeit betont sowie auch eine Verfinsterung der Sonne. Der mögliche Rekurs auf eine Sonnenfinsternis von 1201 und Anklänge an den ersten und dritten Reichston machen es wahrscheinlich, dass Walther sich auf das Interregnum nach dem Tod Heinrichs VI. bezieht. Insofern handelt es sich eher um eine politische Endzeitvision, die religiös überhöht ist.81
77 Man kann sie mit Schnyder 2004 als „Geistliche Tagelieder im engen Sinn“ verstehen. Vgl. die Texte 20–78, den Kommentar 195–265. 78 Vgl. bei Schnyder 2004 die Texte 79–191, den Kommentar 266–425. 79 Der Spruch führt die in den Handschriften C und D vorangehende Weltanklage fort. 80 Vgl. etwa Mt 24,29–31; Mk 13,24‒27; Lk 21,25–27; Apk 6,12–16 u. ö. 81 Vgl. Bauschke-Hartung und Schweikle 2011, 473–475; Schnyder 2004, 266–269.
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Während Walther nur punktuell an die Konstellation des weltlichen Tageliedes anschließt, wird diese in anderen Liedern recht genau umgesetzt. Im anonymen geistlichen Lied Vrône wahter, nû erwecke (Namenlos KLD 234–238 D) klingt die für das erotische Tagelied typische Situation des Erwachens eines Liebespaares am Morgen bei drohender Gefahr an, indem vom Ich-Sprecher ein Wächter angerufen wird, der Werlte minner aufzuwecken (1, V. 2), ehe der Tag, der allegorisch als Tod verstanden wird, sie erschrecke (V. 3). Auch die für das weltliche Tagelied typische Relation einer Raumsemantik von innen und außen ist über die Vorstellung, der Tag dringe durch die Fenster in den sal, vergegenwärtigt (V. 4). Aufgegriffen werden zudem auch der Begriff urloup (V. 8), der häufig für das Abschiednehmen der Liebenden bei Tagesanbruch steht, und die Vorstellung der Heimlichkeit. Die Geliebte erscheint als Frau Welt, die dem Teufel, der den Samen der Sünde aussät, als Pflügerin zugeordnet ist (3–4). Der Liebende, der im generischen Singular alle Menschen repräsentiert, wird als Sünder verstanden, der davor gewarnt wird, für seinen Dienst an seiner vermeintlich süßen Braut, der Frau Welt, nur Kummer und Eiter, schlechten Lohn an Leib und Seele, Maden für den Leib und die Hölle für die Seele, zu erhalten (2). Im Spätmittelalter sind es insbesondere Hugo von Montfort82 und Oswald von Wolkenstein, die die Grenzen von weltlichem und geistlichem Tagelied umspielen. So fordert der Sprecher als Wächter in Oswalds Lied Wol auf und wacht (OSW 118)83 die Sünder mit besonders eindrucksvollen Bildern auf, im Diesseits achtsam zu sein und ihr sündhaftes Verhalten bei Tag und Nacht genau zu betrachten und zu erforschen, damit es sich im Jenseits nicht im feurigen Abgrund der Hölle entzünde: Wol auf und wacht! acht, ser betracht den tag, die nacht eur fräveleiche sünde, das sich die selbig nicht erzünde tiefflich in der helle gründe. (1, V. 1–6)
Die Klangfülle mit den Schlagreimen wacht, acht, betracht intensiviert den Aufruf, die Melodie ahmt mit den Quarten zu Beginn den Wächterruf nach. Der Sünder soll sich gegen seine Sünden wie ein Ritter gegen Löwen, gegen ihr Beißen, Malmen und Reißen (peissen, keuen, reissen; V. 8–9) wehren. Oswald knüpft hier an die etwa auf 1 Pt 5,8 zurückgehende ikonographische Vorstellung vom Löwen als figura diaboli an, verlegt den ritterlichen Kampf gegen die Löwen aber in das Innere des Sünders und macht daraus das Ringen gegen die Verlockungen des Teufels und die Kämpfe der Reue. Minnemotivik und die im Minnelied mit der Minne verbundene Dienstvorstellung werden im Verlauf des Liedes auf das ‚Paar‘ von Sünder und Teufel übertragen, 82 Vgl. bspw. HOF 10, in dem die Situation des nahenden Tagesanbruchs auf die Lebenszeit des IchSprechers bezogen wird. Vgl. zur Tageliedrezeption bei Hugo von Montfort Mohr 2016. 83 Vgl. dazu Schnyder 2004, 317–320, mit weiterführender Literatur.
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der Teufel erscheint als Lehnsherr, der Sünder als Diener. Der hier, ähnlich wie im Minnelied der Liebende, als Gesell (2, V. 1) bezeichnete Sünder soll aus seinem Schlaf aufwachen und den vertreiben, der ihm seinen Dienst tückisch mit bösen Küssen schlecht belohnt (2). Im Rekurs auf die Dornenkrone der Passion fordert der Sprecher den Sünder dagegen eindringlich (Los, hör mein don!; 3, V. 1) auf, statt dem Teufel dem Erlöser zu dienen (3), doch er scheint skeptisch, ob die Sünder die Dringlichkeit seiner Worte verstehen, denn sie scheinen ihm nur träge und unwillig zuzuhören: Ir horcht mich sain (4, V. 1), obwohl er betont, wie aufrichtig und gut er es mit ihnen meint. In der Folge bringt sich der Wolkenstainer (V. 7) mit aller Dringlichkeit selbst ein und bekundet, wie sehr ihn das allenthalben in der Welt spürbare sündhafte Verhalten schmerzt, doch er nimmt sich nicht davon aus, sondern ordnet sich über das kollektive unsre wort, werk und gepäre (V. 6) selbst in die Schar der Sünder ein. Schließlich droht er mit dem Zorn Gottes und ruft mit einem Singen, das als Schrei aus seinem Herzen kommt und weithin hörbar über Berge und Täler tönt und hallt, zum Dienst am dreieinigen Gott auf (4–5).84 Während im geistlichen Wecklied somit direkte Analogien und konkrete Umbesetzungen zwischen Minne- und geistlicher Lyrik bestehen – insbesondere bei Dichtern wie Oswald, die beide Gattungen bedienen –, liegt in anderer geistlicher Literatur eine Bezugnahme auf den Minnesang vornehmlich auf Basis einzelner Topoi wie dem → Natureingang vor.85 Als ein weiteres wichtiges Beispiel dafür sei hier abschließend die Gattung der Mystik genannt.86 Die Mystik, in der die in Visionsschilderungen dargelegte Begegnung der Seele mit Gott im Zentrum steht, verbindet mit dem Minnesang die Thematik der Liebe. Gleichzeitig stellt die Konzeption von Minne einen der konstitutiven Unterschiede der Gattungen dar: Wo sich die liebende Seele in der Mystik in einem transzendenten Geschehen auf Gott hin orientiert, zielt dies auf eine Überwindung von allem Innerweltlichen, auf ein Auseinandertreten von Körper und geist, das wesentlich mit der Absage an diesseitige Aspekte körperlicher Freuden verbunden ist. Hinzu kommt, dass die Vereinigung der Liebenden im Minnesang allermeist unerfüllt bleibt, während die unio mystica den eigentlichen Fluchtpunkt der mystischen Visionsschilderungen bildet.87 Im Minnesang haben die Reflexionen ihren Ausgangspunkt in der klage darüber, dass die Liebe unerwidert bleibt; in der Mystik konzentrie-
84 Vgl. dazu auch die Thematik des Aufweckens und Aufrüttelns in anderen geistlichen Liedern Oswalds, z. B. OSW 2. Zu OSW 34 und OSW 40 siehe oben unter Abschnitt 4. 85 Vgl. exemplarisch für ein ausführliches Entfalten des Jahreszeitentopos im geistlichen Lied Muskatblut GROOTE 18, dazu Rudolph 2020. 86 Vgl. zu Liebeslyrik und Mystik zuletzt u. a. Suerbaum 2015; Stridde 2017, 496–500, sowie bereits Lüers 1926, bes. 55–80. 87 Vgl. zu Vorstellungen vom Einssein der Liebenden in der unio, bei denen sich Analogien zwischen höfischen und mystischen Darstellungen von Liebe beobachten lassen, Hasebrink 2002, der aber auch betont, dass hierbei ein wesentlicher Unterschied zum Minnesang besteht (464–465).
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ren sie sich auf die Bedingungen und Eigenheiten einer gottgefälligen Lebensweise, die es möglich machen, Gott nahezukommen. Die geistliche Liebe der Mystik und die weltliche Liebe des Minnesangs sind folglich zunächst strikt voneinander zu trennen. Dennoch lassen sich in der Darstellungsweise der Minne in mystischen Texten ähnliche Momente der Erotisierung erkennen, wie sie oben für Beispiele der Marienlyrik, etwa den Marienleich Frauenlobs, beschrieben wurden. Eine wesentliche Basis hierfür ist die etwa bei Mechthild von Magdeburg prominente Analogisierung der Seele mit der Braut des Hohen Liedes. Dieser Bezug öffnet die Visionsdarstellungen für eine Sprache der Liebeslyrik, die immer wieder auch Anleihen beim Minnesang nimmt.88 Als beispielhaft hierfür kann etwa das 44. Kapitel des ersten Buches in Mechthilds ‚Fließendem Licht der Gottheit‘ gelten.89 Es beschreibt teils in Dialogen, teils narrativ, wie sich die minnendú sele (58,3) auf eine Begegnung mit dem mit Gott identifizierten jungeling (58,11) beziehungsweise fúrst (58,20) vorbereitet, diesen trifft und sich dann mit ihm im „Liebesbett“, dem minne bette (64,3), vereinigt. Dabei ist die Passage zum einen von evidenten Erotisierungen durchzogen, wenn der Herre (64,8) in der verholnen kammeren (64,1‒2) die Geliebte etwa auffordert: Ir soͤ nt úch usziehen! (64,7), oder diese antwortet: nu bin ich ein nakent sele (64,17). Zum anderen findet sich mehrfach Natur-Bildlichkeit, die für Minnelyrik topisch ist. So heißt es, der Fürst komme ihr entgegen in dem schoͤ nen vogelsange (58,21–22), und beim Tanz, wo er sie antrifft, sängen Nachtigallen (58,30). Am Ende der Begegnung steht zudem eine Schilderung, in der die Grundsituation des weltlichen wie geistlichen Tageliedes anklingt: Nu dis mag nit lange stan; wa zwoͤ i geliebe verholen zesamen koment, si muͤ ssent dike ungescheiden von einander gan (64,22–24).90 Zwar wird man in diesen Formulierungen weniger ein direktes Zitieren von Wendungen aus dem Minnesang sehen dürfen. Doch legen es nicht zuletzt auch die im ‚Fließendem Licht‘ rekurrent verwendeten höfischen Elemente nahe,91 dass Begrifflichkeit und Bildlichkeit aus dem Minnesang zum Einflussbereich des Textes gehören. Mechthilds im dreizehnten Jahrhundert verfasstes Werk ist insofern beispielhaft für die Interferenzen zwischen Mystik und Liebeslyrik, als bei je andersartiger Konzeption von Minne gleichsam sprachliche Äquivalenzen in der Darstellung von Liebesbegehren und -begegnungen kenntlich werden.
88 Vgl. Tervooren 1993, 224–225. 89 Zitiert nach Vollmann-Profe 2010. 90 Vgl. zur Stelle und Tagelied-Anklängen bei Mechthild auch Köbele 1993, 95–96; Suerbaum 2013, 245–248. 91 Vgl. dazu auch die knappen Hinweise bei Vollmann-Profe 2010, 677.
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9 Fazit Bei den Verbindungen und Umbesetzungen zwischen religiöser Semantik und Liebessemantik zeigen sich Bewegungen in beide Richtungen. Zum einen wird das christliche Heilsversprechen im Minnesang auf das Programm der irdischen Liebe übertragen, zum anderen lassen sich in der geistlichen Lyrik zahlreiche Aufnahmen von Minnesangtopoi und für den Minnesang typischen Sprechweisen erkennen. Insgesamt erweist sich Minnesang als Gattung, für die religiöse Semantik eine bedeutsame Rolle spielt. So werden über Lexeme wie erbarmen, genâde, güete, trôst, helfe, heil, saelde, süeze, wunder häufig implizit geistliche Konnotationen auf die Vorstellungen von irdischer Liebe übertragen. Nicht selten wird der christliche Gott explizit erwähnt, mitunter setzt sich der Sänger zu Gott ins Verhältnis oder betont, dass die Dame von Gott so herrlich geschaffen ist. Dazu kommen Anrufungen Gottes, Bitten an Gott, Betonungen des Heilscharakters der Dame und Erhöhungen und Transzendierungen der Dame über Metaphern. Gerade indem die Minnedame Züge der Himmelskönigin und Gottesmutter Maria annehmen kann, ergibt sich eine Nähe zur Marienlyrik, die besonders im späten Sang so weit gehen kann, dass die Gattungen nur schwer zu unterscheiden sind. Wird die Geltung der Liebe solchermaßen im Rückgriff auf religiöse Semantik gesteigert, so gibt es umgekehrt auch Abwertungen der irdischen Liebeskonstellation, indem sie mit Sünde und/oder mit der Notwendigkeit zu Reue, Buße und Umkehr in Verbindung gebracht wird. Die Sündenmetaphorik ist jedoch intrikat, da im Minnesang auch die Ablehnung der Minne als Sünde verstanden werden kann, die im Sinne der innerweltlichen Orientierung Umkehr und Reue erfordert. Dagegen kommt es besonders in Liedern, in denen der Sänger in der Altersrolle spricht, zu Revokationen und zu Welt- und Minneabsagen im Zeichen einer Zuwendung zu Gott und der Vorbereitung auf das ewige Leben. Es finden sich auch Allegorisierungen der Liebeskonstellation oder ein beinahe unentflechtbares Ineinander von literalem Sinn und allegorischem Zweitsinn. Im Kreuzlied hält die Kreuzzugsthematik ins Minnelied Einzug. Gottes- und Minnedienst werden hier in ein oft unauflösliches Spannungsverhältnis zueinander gesetzt. Indem besonders in Altersklagen, Minne- und Weltabsagen die höfische Liebe und das Leben im Dienst der Welt als problematische, ja verkehrte Orientierungen des irdischen Daseins entlarvt werden, entsteht der Eindruck, der Sänger bekehre sich vom Minnedienst und Weltleben zum Gottesdienst und damit zu einem Leben, das ihm das Heil seiner Seele zu sichern verspricht. Umgekehrt werden erotische Metaphern und Topoi in der geistlichen Literatur aufgegriffen und neu perspektiviert. Ganz in diesem Sinne wird auch die Gattung des erotischen Tageliedes in geistlichen Weckliedern ins Religiöse transformiert. Insgesamt etabliert sich mit beträchtlicher Stimmenvielfalt ein Diskurs über die Widersprüche zwischen Minneideologie und christlicher Existenz, über die Analogien und Affinitäten, Spannungen und Konkurrenzen zwischen literarischer und religiöser Rede.
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Ludger Lieb
Natur und Natureingang Natur erscheint im deutschen Minnesang meist in der Form ihrer jahreszeitlichen Veränderung (wandelunge).1 Als solche stellt sie häufig eine argumentative Folie für das Minnethema dar. Der Naturvorgang, der kollektiv Affekte auslöst (Freude durch den anbrechenden Frühling/Sommer oder Leid durch den anbrechenden Winter), und die Minneerfahrung des Sängers (Freude oder Leid) stehen hierbei meist im Kontrast zueinander oder werden parallelisiert. Grundsätzlich ist (siehe unten Abschnitt 1) die Darstellung der Natur stereotyp und formelhaft und es genügen schon wenige Stichworte oder Requisiten, um diese Folie aufzurufen. Fast immer auch steht (Abschnitt 2) der jahreszeitliche Naturbezug am Anfang eines Liedes (daher: Natur‚eingang‘) und dient einer topisch erzeugten argumentativen Bewegung und Vielfalt. Gelegentlich und vor allem in erzählenden Liedern bildet (Abschnitt 3) die Natur auch den Ort (in der Regel einen locus amoenus), an dem eine Liebesbegegnung oder eine Gesprächsszene stattfindet. Schließlich erscheint (Abschnitt 4) die Natur im Minnesang auch in der Form einzelner Gestirne, Tiere oder Pflanzen, die als Metaphern oder Vergleiche, als Allegorien und Personifikationen zur Profilierung der Minne eingesetzt werden. ‚Natur‘ und ‚ Jahreszeit‘ sind ein thematisch-semantisches Feld des deutschen Minnesangs, das der moderne Rezipient in der Regel als besonders konventionell, stereotyp, topisch und damit tendenziell als unoriginell und uninteressant wahrnimmt. Daher eignet es sich vorzüglich, um an ihm die poetisch-ästhetische Alterität der mittelalterlichen Literatur zu exemplifizieren. Entscheidend hierbei ist die Einsicht, dass die Wiederholung an sich eine poetisch-ästhetische Qualität darstellt. 2 Dasselbe noch einmal singen zu können, ohne es einfach wortwörtlich zu wiederholen, ist eine Kunst, und dasselbe wieder neu zu hören ist ein Genuss. Mittelalterliche Literatur zielt auf Wiederholung, denn die Wiederholung schafft Vertrauen in die Erwartungen des Rezipienten, verbindet das Publikum miteinander und mit dem Sänger beziehungsweise Erzähler, indem es das gemeinsam Gewusste bestätigt, und sie ermöglicht und befördert zugleich die Phantasie, im Horizont desselben Neues zu schöpfen. Am besten lässt sich dies mit dem terminologischen Instrumentarium eines erweiterten Topos-Begriffs beschreiben, wodurch vier Funktionsmomente sichtbar werden:3 Der Natur- und Jahreszeitenbezug aktualisiert die Geltungsansprüche einer opinio communis, nach der Vorgänge der Natur und Vorgänge der Liebe in enger Relation zueinander stehen (‚Habitualität‘); diese Relation ist zugleich hinreichend unbestimmt und polyvalent (‚Potentialität‘), so dass sie die Phantasie des Sängers 1 Adam 1979. 2 Vgl. mit Bezug auf die Sommerlieder Neidharts Bleuler 2013; ferner Lieb 2000; Lieb 2001. 3 Grundlegend Bornscheuer 1976, 91–108; dort werden auch die im Folgenden benutzten Begriffe Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität erläutert. https://doi.org/10.1515/9783110351859-021
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für die konkrete Ausgestaltung befördert, zumal der Topos immer auf eine bestimmte Situation bezogen werden muss (‚Intentionalität‘) und erst so seine Argumentationskraft entfaltet; um all dies erfüllen zu können, muss der Topos leicht wiedererkennbar sein, bildet also einen Elementarcharakter mit konkreten sprachlichen Merkformen aus (‚Symbolizität‘).4
1 Die ‚Natur‘ des Minnesangs Im Folgenden soll zu heuristischen Zwecken mit ‚Natur‘ all das bezeichnet werden, was nicht Kultur ist und was dem Menschen außerhalb seiner selbst und seiner Mitmenschen nicht verfügbar ist, was er aber (prinzipiell und immerzu) mit den äußeren Sinnen beobachten und wahrnehmen kann. Zu diesem durchaus nicht mittelalterlichen Begriff von ‚Natur‘5 rechne ich hier daher sowohl die Jahreszeiten6 als auch Sonne, Mond und wilde Tiere. Zugleich ist diese Natur nicht ein vom Menschen gänzlich geschiedenes Anderes, sondern sie ist als Schöpfung zu begreifen, deren Teil der Beobachter selbst ist.7 Wenn der Minnesänger auf die Natur Bezug nimmt, ist das also nicht eine beliebige Möglichkeit unter vielen, sondern die Natur ist privilegierter Bezugspunkt im Sinne des Makrokosmos, demgegenüber der einzelne Mensch einen Mikrokosmos darstellt, und beide sind in vielfältiger Weise miteinander verbunden. Andersherum resultiert daraus auch der Befund, dass es so gut wie keine ‚reinen‘ Naturlieder in der mittelalterlichen Lyrik gibt.8 Die Darstellung der Natur im Minnesang ist auf der Oberfläche des Ausdrucks auffallend reduziert. Die Elemente der Natur, die überhaupt im Minnesang vorkommen, lassen sich in drei große Gruppen einteilen. Erwähnt werden dabei im Folgenden nur die typischen Naturelemente, die weit über 90 % der Belegstellen ausmachen, wobei grundsätzlich auffällt, dass statt der konkreten (Gattungs- oder Art-)Namen der Dinge gerne die Kollektiv-Bezeichnungen benutzt werden, also ‚Vogel‘ statt ‚Nachtigall‘ und ‚Baum‘ statt ‚Linde‘ (zu den seltener vorkommenden einzelnen Dingen der Natur vgl. auch unten, Abschnitt 4). Die Elemente werden zur leichteren Übersicht in neuhochdeutscher Sprache wiedergegeben: 1. die unbelebte Natur: Typisch sind Elemente des Kosmos (Sonne, Mond, Sterne), der Erde (Berg, Tal, Bach, Meer) und des Wetters (Wärme, Kälte, Tau, Sonnenschein, Regen, Schnee, Eis, Reif).
4 Zum kreativen Potential des Topos vgl. zuletzt Eder 2016, 229 u. ö., sowie Klein 2011, 83. 5 Vgl. etwa Grubmüller 1999; Wachinger 2011, 73–75, sowie mit Bezug auf den Natureingang Eder 2016, 360–379. 6 Anders Eder 2016, der daher zwischen einem Natur- und einem Jahreszeiteneingang unterscheidet. 7 Vgl. Blank 1994, 20. 8 Vgl. Wachinger 2011, 69‒70.
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2. die belebte Natur: Bei den Tieren dominieren die Vögel (Nachtigall, gelegentlich auch Amsel, Schwalbe, Lerche usw.), sonstige wilde Tiere kommen kaum vor. Unter den Pflanzen werden typischerweise die Bäume erwähnt (manchmal spezifiziert als Linde), sodann Blumen und Kräuter, darunter vor allem Rose, Lilie, Klee und gelegentlich das Veilchen. Sehr häufig erscheint die Flora als Wald, Heide, Anger, Wiese oder Gras. 3. Naturveränderungen und Naturzustände: Hierzu gehören die Jahreszeiten, von denen bis in die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts literarisch lediglich zwei aktualisiert werden, nämlich auf der einen Seite der Frühling (Mai, gelegentlich auch April) und der Sommer, die faktisch synonym verwendet werden, auf der anderen Seite der Winter; der Herbst als eigenständige, dritte Jahreszeit tritt erstmals bei → Steinmar auf.9 Meist werden die Übergänge von einer zur anderen Jahreszeit fokussiert, wobei sich diese jahreszeitlichen Veränderungen in der Regel an den unter 1. und 2. genannten Bestandteilen zeigen, insbesondere an den Vögeln, die wieder oder nicht mehr singen, am Wald, der Blätter (Laub) und Blüten bekommt oder fahl wird, an den Blumen, die aufblühen oder verwelken, usw. Auch die Tageszeiten (Nacht, Morgen, Mittag, Abend) gehören im Prinzip hierher (→ Zeit).
2 Natureingang und Jahreszeitentopos Da der Bezug auf Jahreszeit und Natur häufig am Beginn des Minneliedes steht, nennt man dieses Phänomen auch kurz ‚Natureingang‘ oder „saisonal organisierte[r] Natureingang“10. Dass dieser geradezu als poetologische Regel wahrgenommen wurde, mag eine (allerdings erst aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammende) Handschrift belegen, die die Minnelieder → Heinrichs von Mügeln mit dem singulären Hinweis einführt, dass ein Minnedichter den Liedbeginn gegen dem Meyen, gegen dem Somer, gegen dem wintter setzen vnd blumen (d. h. mit [rhetorischen] ‚Blumen‘ ausschmücken) soll.11 Ob der Natureingang dabei auf die in der Situation der Aufführung textextern wahrnehmbare Jahreszeit verweist, ist in der Forschung umstritten und kann kaum pauschal gelöst werden.12 Während einiges dafür spricht, dass durch den Jahreszeitenbezug ein gemeinsamer Erfahrungsraum von Sänger und Publikum erzeugt wird, legen die (allerdings bis 1200 seltenen) → Tagelieder und vor allem die → Neid-
9 Müller 1995, 30–32. Zum Herbst und zum Wettstreit der Jahreszeiten (Mai vs. Herbst) in Liedern, Erzählungen und Spielen des Spätmittelalters vgl. Adam 1979, 88–151. 10 Eder 2016, 97 u. ö. 11 Zitiert nach Eder 2016, 68; zu weiterer Forschungsliteratur vgl. Eder 2016, 66–74. 12 Vgl. u. a. Bein 1995, 223; Müller 1995; Philipowski 2011, 91; sowie Eder 2016, 75–78 und (leider dysfunktional ausschweifend) 128–166.
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hart-Lieder mit ihren (teils deiktischen) Imaginationen von Situationen, die in der Aufführung des Liedes gar nicht präsent sein können, nahe, dass es auch möglich gewesen sein dürfte, im Sommer ein Winterlied zu singen und andersherum.13 Die Begriffe ‚Natureingang‘ und ‚ Jahreszeitentopos‘ werden zu Recht meist synonym gebraucht.14 Sie müssen nicht gegeneinander ausgespielt werden,15 weil sie cum grano salis auf dasselbe rhetorische Phänomen zielen und dieses nur unterschiedlich perspektivieren: ‚Natureingang‘ legt – im Sinne der Exordialtopik der rhetorischen dispositio16 – den Akzent auf die quantitativ deutlich vorherrschende Anfangsstellung des jahreszeitlichen Naturbezugs im Minnelied, während ‚ Jahreszeitentopos‘ nicht die typische Position im Lied, sondern die topisch-argumentative Kraft des symbolisch wiederholten Jahreszeitenbezugs akzentuiert. Der Natureingang erfüllt grundsätzlich mindestens drei wichtige Funktionen: 1. Er knüpft als rhetorischer Exordialtopos an das an, was für die höfische Gesellschaft allgemein bekannt ist und gewusst wird, dient somit der Kontaktaufnahme von Sänger und Publikum17 und kann den Sänger vom Druck entlasten, einen immer wieder neuen Beginn für sein Singen zu finden. Drei Ebenen der Anknüpfung lassen sich hierbei unterscheiden: a.) körperlich: Für jeden einzelnen mittelalterlichen Menschen ist die jahreszeitliche Veränderung ubiquitär körperlich erfahrbar; b.) sozial: Das soziale Leben, besonders auch alle mit Minne und Minnesang verbundenen Praktiken sind in hohem Maße von der Jahreszeit abhängig; und c.) literarisch: Der Jahreszeitenbezug ist konventionell, er ist ein „Kunstprinzip“ der mittelalterlichen Lyrik.18 2. Er bietet einen Anlass zur vergleichenden Reflexion der konkreten Situation des Sängers (Intentionalität) und ist eine Hilfe nicht zur Eintönigkeit, sondern gerade zur Vielfalt der Argumentation (Potentialität). 3. Er ermöglicht dem Sänger, sich auf die sprachliche Variation dieser Vorgabe zu konzentrieren und bereits in ihr zu brillieren.19 Die meisten Natureingänge lassen sich einem der folgenden vier argumentativen Typen zuordnen. Diese stellen den „Dominanzbereich“20 der Anwendung des Natureingangs dar, nämlich die topische Verbindung mit der M i n n e des Sänger-Ichs. Die kontrastiven Typen 3 und 4 kommen hierbei am häufigsten vor.21 Allerdings ist zu 13 Weiterführende Überlegungen dazu bei Philipowski 2011. 14 Man kann auch aus sprachästhetischen Gründen gegen den Begriff ‚Natureingang‘ sein und sich damit Henning Brinkmann anschließen, der den Begriff schon 1925 „abscheulich[]“ nannte (zitiert nach Adam 1979, 35, Anm. 1). 15 Mit wenig analytischem Nutzen tut dies jüngst vor allem Eder 2016, 99 u. ö. 16 Vgl. Lieb 2000, 129‒130. 17 Vgl. Bein 1995, 222‒223. 18 Müller 1995. 19 Die sprachliche Variation stellt Adam 1979, 35–87, anhand der Lieder → Hadlaubs besonders in den Vordergrund und entwickelt von ihr her seine Typologie des Natureingangs. 20 Eder 2016, 192. 21 Zum Folgenden vgl. Eder 2016, 169–196, bes. 194 (Schaubild II) und 195‒196 (Beispiele).
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bedenken, dass aufgrund der potentiellen Kreativität des Topos diese Typen oftmals nicht so klar zu erkennen und zu differenzieren sind. 1 . S o m m e r e i n g a n g k o m p l e m e n t ä r : Der Sänger beschreibt die frühlingshaftsommerliche Natur und die daraus resultierende Freude, die alle, auch den Sänger umfasst, z. B. Dietmar von Aist (LDM C Dietm 7 / MF 33,15): Ahî, nu kumt uns diu zît, der kleinen vogellîne sanc. ez grüenet wol diu linde breit, zergangen ist der winter lanc. nu siht man bluomen wol getân, an der heide üebent si ir schîn. des wirt vil manic herze vrô, des selben trœstet sich daz mîn.
Das Potential dieses Typs äußert sich vor allem in der Vielfalt der Liebesfreude, die die Sänger thematisieren: → Heinrich von Veldeke (MF XXXVII, nur in C) lässt eine Frau von der Freude des Sommers sprechen, die darin bestehe, dass sie sich dann wieder mit ihrem Geliebten unter der Linde vereinen kann, → Burkhard von Hohenfels (KLD 11) entwirft – gegen Neidhart – einen maßvollen und höfisch-kontrollierten Eros im ländlichen Milieu22 und → Konrad von Würzburg (SCHR 7) lässt das Ich nahezu ganz verschwinden in einer kollektiven Freude, die vom Frühling und der Liebe gemeinsam hervorgebracht wird.23 2 . W i n t e r e i n g a n g k o m p l e m e n t ä r : Der Sänger beschreibt den Einbruch des Winters, seine Wirkung auf die belebte Natur und parallelisiert damit seine eigene Trauer, vgl. z. B. Veldeke Sît diu sunne ir liehten schîn (MF 58,35, II) oder → Neifen Walt heid anger vogel singen (KLD 5). Obwohl dieser Typus dem vorherrschenden Klagegestus des Minnesangs zu entsprechen scheint, ist er in dieser Form dennoch relativ selten. Das liegt wohl daran, dass selbst bei einer komplementären Gefühlslage der Sänger doch in der Regel bemüht ist, seinen Zustand als anders, existentieller, wichtiger etc. darzustellen, mithin den Naturvorgang zu überbieten. 3 . S o m m e r e i n g a n g k o n t r a s t i v : Der Sänger beschreibt die frühlingshaftsommerliche Natur und die daraus resultierende Freude aller, beklagt aber zugleich, dass er selbst wegen der unerfüllten Minne zu seiner Dame traurig ist, z. B. Ulrich von Winterstetten (KLD 9,1, V. 1–8): Sumer wil uns aber bringen grüenen walt und vogel singen; […] sich fröit al diu welt gemeine, nieman trûret wan ich eine.
22 Vgl. Wachinger 2011, 80–82. 23 Vgl. Wachinger 2011, 83‒84.
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Für die in der Tradition der Hohen Minne stehenden Lieder, in denen das unerfüllte Minnebegehren des Sänger-Ichs vorherrscht, ist dieser Typ einschlägig. Das eigene Leiden gegenüber der kollektiven Freude aller anderen auszustellen, ermöglicht dem Ich eine besondere Form der Selbstinszenierung als der Andere, der Ausgeschlossene, als derjenige, der gegen die Verlockungen der Gemeinschaft an etwas festhält (staete), das ihn unglücklich und traurig macht. Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil die konkrete Aufführungssituation die paradoxe Spannung noch dadurch verschärft, dass das Singen von Minneliedern auch der allgemeinen (Fest-)Freude dienen sollte. Schon im frühen Minnesang nimmt das Ich dies geradezu als Zwang wahr.24 Später setzt → Walther von der Vogelweide in seinem Mailied (L 51,13) die über drei Strophen sich erstreckende exaltierte Beschreibung der Natur und der Freude, die der hereinbrechende Sommer auf die Gesellschaft ausübt, in scharfen Kontrast zur mangelnden Gnade seiner Dame, die ihm nicht einmal eine kleine Freude gewährt.25 4 . W i n t e r e i n g a n g k o n t r a s t i v : Der Sänger beschreibt die winterliche Natur, die alle betrifft, markiert aber, dass sein Zustand davon unberührt ist. Anders als beim Sommereingang wird hierbei seltener auf den kollektiven Verlust der Freude aller rekurriert, sondern meist unvermittelt die Situation des Sängers entgegengesetzt, z. B. bei Dietmar von Aist (LDM C Dietm 25 / MF 37,30): Sich hât verwandelt diu zît, daz verstên ich bî der vogel singen: geswigen sint die nahtegal, si hânt gelân ir süezez klingen. unde valwet oben der walt. ienoch stêt daz herze mîn in ir gewalt, der ich den sumer gedienet hân. diu ist mîn vröide und al mîn liep, ich wil irs niemer abe gegân.
Im frühen Minnesang wird diese Opposition noch sehr schlicht beschrieben (vgl. z. B. Der Burggraf von Riedenburg MF 18,17), doch gerade dieser Typ scheint großes argumentatives Potential zu bergen. So meint Rudolf von Fenis (MF 83,25), dass schon der Sommer keine Minneerfüllung gebracht habe, und wenn der Winter sie für ihn bringen würde, würde er einfach den Winter loben. Heinrich von Rugge (MF 106,24) konstatiert den negativen Einfluss des Winters auf seine Dame (I, V. 4: daz tuot ir wê), um dagegen seine heimliche unwandelbare Liebe in Stellung zu bringen, die wiederum ihn traurig mache, aber es zugleich ermögliche, einen Sommer zu imaginieren (III, V. 7–8), der durch ihre Hinwendung zu ihm hervorgerufen würde. → Hartmann von Aue (MF 216,1) argumentiert, dass man seine Freude nicht an den Blumen ausrichten und daher im Winter traurig sein müsse, vielmehr könne man im Winter lange Nächte bei einer Frau liegen und sich so den langen Winter ohne Vogelsang kürzen,
24 Vgl. hierzu Lieb 2000, bes. 137–139. 25 Vgl. Wachinger 2011, 77–80.
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und → Ulrich von Liechtenstein koppelt – nach einem Seitenhieb auf die ‚Wettersorger‘ – das Ich ganz von der Vorgabe der Jahreszeit ab: mir hât hôhen muot ein wîp gesendet. dâ von ist daz herze mîn, swie ez witert, frô, frô, frô. (KLD 39,2, V. 3–5)26
Die Kontrastierung (Typ 3 und 4) kann vor allem im Hohen Minnesang so weit gehen, dass die Erwähnung der Jahreszeit überhaupt negiert wird. Am bekanntesten ist diese Ablehnung bei → Reinmar in Bezug auf den Winter: ich hân mêr ze tuonne danne bluomen klagen (MF 169,9, I, V. 6). Als eine Folge solcher Kontrastierung dürfte auch die Vermeidung des Jahreszeitentopos schlechthin zu verstehen sein:27 Unter den Minnesängern des zwölften Jahrhunderts nutzen der → Kürenberger, Kaiser Heinrich, Friedrich von Hausen, Bernger von Horheim, Hartwig von Raute und Bligger von Steinach in keinem ihrer Lieder einen Natureingang; bei Meinloh von Sevelingen, Albrecht von Johannsdorf, → Heinrich von Morungen, Reinmar dem Alten, Hartmann von Aue und Walther von der Vogelweide ist er auffallend selten und meist ungewöhnlich eingesetzt.28 Monokausal wird das nicht zu erklären sein, wichtige Gründe sind sowohl die „Eigenzeit der Minne“29 als auch die Tendenz des (Hohen) Minnesangs zu „Ent-Konkretisierung“30. Tatsächlich wird spätestens seit Mitte des dreizehnten Jahrhunderts der Natureingang als „Teil eines ganzen Ensembles verschiedener Konkretisierungs-Strategien wie Rollenhaftigkeit, Biographisierung, Narrativierung“31 sehr häufig verwendet. Statt für eine Profilierung der Minne wird das Potential des Natur- und Jahreszeitenbezugs gelegentlich auch für eine Thematisierung des Singens genutzt.32 Im Minnesang des dreizehnten Jahrhunderts gibt es sodann einige Autoren, bei denen der Natureingang eher eine formale Funktion gewinnt, vor allem bei → Gottfried von Neifen und in den → Sommer- und Winterliedern Neidharts. Die Sommerlieder Neidharts gewinnen aber auch ein weiteres Potential des Jahreszeitentopos dadurch, dass neben der typischen Entgegensetzung von Winter (= Leid) und Sommer (= Freude) auch die Inszenierungsform einer zyklischen Wiederkehr des Sommers betont wird,
26 Vgl. Müller 1995, 43‒44. 27 Vgl. Bein 1995, 219, sowie die Liste mit absoluten und Prozentangaben bei Eder 2016, 407–409. Zu beachten ist allerdings, dass Eder nur die Natureingänge zählt, nicht aber die durchaus vorkommende Nutzung des Jahreszeitentopos innerhalb eines Liedes. 28 Lieb 2001, 199–206, differenziert folgende Applikationen des Jahreszeitentopos im Hohen Minnesang: Kontrastierung, Überbietung, Verkehrung und Substitution. 29 Lieb 2001. 30 Philipowski 2011, 94. 31 Philipowski 2011, 102. 32 Beispiele bei Bein 1995, 230 und 236.
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die eher aus der lateinischen Vagantendichtung bekannt ist (→ Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters).33 Schließlich ist der Natureingang gelegentlich auch ohne Jahreszeitenbezug zu erkennen. Vor allem im Tagelied und in Tagelied-Allusionen steht ein Naturvorgang (die Morgendämmerung, der beginnende Vogelgesang) gerne am Anfang eines Liedes, etwa wenn dadurch das heimlich beieinanderliegende Liebespaar geweckt wird. Diese Rolle der Natur wird in den Tageliedern seit Wolfram von Eschenbach und bis → Oswald von Wolkenstein jedoch weitgehend vom Wächter übernommen.34
3 Die Natur als Ort der Begegnung: der locus amoenus Ein weiterer Typus, in dem Natur im Minnesang erscheinen kann, ist der seit der Antike vielfach belegte locus amoenus (‚schöner Ort‘, ‚Lustort‘). Er kommt deutlich seltener und vor allem kaum im Hohen Minnesang, sondern insbesondere im Minnesang ab Walther und Neidhart vor. Er lässt sich ebenfalls als Topos beschreiben und ist trotz seiner partiellen Ähnlichkeit vom (sommerlichen) Natureingang deutlich zu unterscheiden.35 Während beim Letzteren die „Darstellung des Atmosphärischen“ überwiegt und diese „nur lose an Lokalitäten gebunden ist“, bildet „bei der Lustortbeschreibung die Raumausstattung die Substanz des Topos“.36 Der locus amoenus erscheint im deutschsprachigen Minnesang in der Regel in → Erzählliedern oder in Erzählpassagen innerhalb von Werbe- oder → Tanzliedern. Zu den Merkmalen des locus amoenus gehören 1. ein Set von Naturelementen, die als stereotype Requisiten erscheinen: a.) eine Linde (oder ein anderer Baum, mehrere Bäume, der Wald usw.), b.) Vögel (die schön singen, oder nur ein Vogel, eine Nachtigall o. Ä.), c.) Blumen (die blühen, Blüten der Bäume o. Ä.) und d.) eine Quelle (die kalt oder rein ist, lieblich plätschert oder rauscht usw.); 2. jahreszeitlich immer der Frühling/Sommer beziehungsweise schönes Wetter (Sonnenschein, schattenspendende Bäume u. Ä.); 3. die Abgeschiedenheit des Ortes (er ist nicht leicht zugänglich, geheim, häufig auratisch) sowie 4. die Begegnung von Menschen an diesem Ort (es werden Gespräche geführt, es wird belehrt, geküsst usw.).
33 Bleuler 2013. 34 Vgl. Wachinger 2011, 71. 35 Vgl. Adam 1979, 46‒47 u. ö., sowie Wachinger 2011, 72. 36 Adam 1979, 154.
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Auch dieser Topos weist eine hohe Potentialität auf, was überrascht, zumal die im Altfranzösischen am weitesten verbreitete Ausgestaltung des Topos zum Ort sexueller Freuden des Ritters mit einem Mädchen von niederem Stande (‚Pastourelle‘) im deutschen Minnesang kaum vorkommt. Vielmehr wird der locus amoenus zum Erinnerungsort (Dietmar von Aist MF 34,3) oder zum idealen ‚Nicht-Ort‘ wechselseitig gewollter Liebeserfüllung, der trotz topisch-konkreten Bezeichnens (Under der linden an der heide …) zugleich im tandaradei verschwiegen wird (Walther von der Vogelweide L 39,11) oder wie bei Albrecht von Johannsdorf (MF 90,32) zur „Chiffre“ wird „für das, was für das Ich noch in der Zukunft liegt“37.
4 Naturelemente als Vergleich, Metapher, Allegorie, Personifikation Das Vorkommen einzelner Bestandteile der Natur als Tropen im Minnesang lässt sich teilweise auf Natureingang und Jahreszeitentopos zurückführen, denn Sommer und Winter werden schon im frühen und Hohen Minnesang „zu Metaphern für Hoffnung und Versagen“38 und seit Neidhart auch zunehmend allegorisiert.39 Als Personifikationen können die topischen Naturrequisiten angerufen werden und als Helfer des Ichs gegen die ungnädige Dame auftreten (vgl. z. B. Heinrich von Breslau KLD 2). Sie werden immer wieder auch dezidiert metaphorisch oder allegorisch verwendet, wie z. B. beim Wilden Alexander (LDM C WAlex 9 / KLD 3,3, V. 2‒7): sîst mînes herzen ôstertac. got hât ir lîp gebildet wol, si liljenschîn unde balsemsmac. mîn meien zît und heide glanz ist sî, mîn spilnder sunnen brehen; si treit der êren rôsenkranz.
Auch Sonne, Mond und Sterne dienen – vor allem bei Heinrich von Morungen – als Vergleich und Metapher (Ulrich von Gutenburg MF 69,1, V. 21‒22; Morungen MF 134,14; vgl. auch MF 136,1; MF 136,25; MF 144,17, II u. ö.; Walther L 45,37, II, V. 6), ebenso Blumen (schon die Rose am Dornbusch für das Erröten der Dame beim Kürenberger MF 8,17). Besonders beliebt aber sind einzelne Vögel, mit denen der Minnesänger sich vergleicht, z. B. die Nachtigall (Wolfram MF 7,11), Nachtigall vs. Schwalbe (Morungen MF 127,34), Sittich und Star (Morungen MF 127,1, III) oder der Schwan, der singt, wenn
37 Wachinger 2011, 71. 38 Müller 1995, 46. 39 Vgl. Philipowski 2011, 103–119.
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er stirbt (Veldeke MF 66,9; vgl. Morungen MF 138,17, V). Eine Sonderrolle nimmt hierbei der Falke ein, denn er trägt in sich selbst die Grenze zwischen Kultur (Falknerei) und Natur (Wildheit). So wird er zum ausgezeichneten Symbol für die Minne selbst, die ebenso zwischen Kulturtechnik (Erziehung, höfische Praktiken) und unverfügbarer, unkontrollierbarer Natur (Eros, Trieb) steht, beziehungsweise für diese Seite des oder der Geliebten, so im Falkenlied des Kürenbergers (MF 8,33; vgl. auch Dietmar von Aist MF 37,4; Reinmar MF 156,10; MF 179,3, VI; Burkhard von Hohenfels KLD 12,1, V. 7). * Diese skizzenhafte Beschreibung hat deutlich gemacht, dass der Natur- und Jahreszeitenbezug im deutschen Minnesang erstens ein sehr häufiges und konventionalisiertes Phänomen ist und dass er gerade deswegen zweitens verschiedene Funktionen übernehmen kann und einen Ermöglichungsraum für poetische Rede darstellt. Vor allem diesen zweiten Aspekt angemessen zu würdigen, ist heute schwierig. Denn als moderne Rezipient*innen können wir nicht einfach aus unserem habituellen Verständnis heraustreten, in welchem Literatur immer schon als Möglichkeit gegeben ist, in dem der ästhetische Wert von Literatur sich gerade in der Originalität zeigt und in dem die (hoch)literarische Produktion das Topische als das Minderwertige ganz zu meiden trachtet oder unterläuft. Dieses Verständnis äußert sich im Übrigen schon darin, dass heute jene Minnelieder bevorzugt gelesen und interpretiert werden, die besonders kreativ mit den Topoi umgehen und daher unserem Habitus am ehesten zu entsprechen scheinen. Auch die heutige Rezeption von Minnesang in einem institutionalisierten Literatur- und Wissenschaftsbetrieb, in dem ein Lied in der Regel wie ein modernes Gedicht in gedruckten (!) Textsammlungen (!) neben und mit anderen Liedern gelesen (!) wird, steht einem Verständnis der Leistungen topischer Rede eher im Wege. Minnesänger aber sind keine Germanisten und gerade an der Topik von Natureingang und Jahreszeitentopos lässt sich schulen, wie man fruchtbar mit mittelalterlicher Literatur umgehen kann.
Literatur Wolfgang Adam: Die „wandelunge“. Studien zum Jahreszeitentopos in der mittelhochdeutschen Literatur. Heidelberg 1979 (Euphorion-Beiheft 15). Thomas Bein: Jahreszeiten. Beobachtungen zur Pragmatik, kommunikativen Funktion und strukturellen Typologie eines Topos. In: Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993. Hg. von Peter Dilg¸ Gundolf Keil und Dietz-Rüdiger Moser. Sigmaringen 1995, 215–237. Walter Blank: Naturanschauung im Mittelalter. Freiburg i. Ü. 1994 (Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanische Philologie. Vorträge 1). Anna Kathrin Bleuler: Zwischen Tradition und Innovation. Zur Poetizität des Jahreszeitenbildes in Neidharts Sommerliedern. In: Wolfram-Studien 21 (2013), 123–146.
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Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1976. Daniel Eder: Der Natureingang im Minnesang. Studien zur Register- und Kulturpoetik der höfischen Liebeskanzone. Tübingen 2016 (BiblGerm 66). Klaus Grubmüller: Natûre ist der ander got. Zur Bedeutung von natûre im Mittelalter. In: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997. Hg. von Alan Robertshaw und Gerhard Wolf, in Zusammenarbeit mit Frank Fürbeth und Ulrike Zitzlsperger. Tübingen 1999, 3–17. Dorothea Klein: Amoene Orte. Zum produktiven Umgang mit einem Topos in mittelhochdeutscher Dichtung. In: Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Hg. von Sonja Glauch, Susanne Köbele und Uta Störmer-Caysa. Berlin u. a. 2011, 61–84. Ludger Lieb: Der Jahreszeitentopos im ‚frühen‘ deutschen Minnesang. Eine Studie zur Macht des Topos und zur Institutionalisierung der höfischen Literatur. In: Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium. Hg. von Thomas Schirren und Gert Ueding. Tübingen 2000 (Rhetorik-Forschungen 13), 121–142. Ludger Lieb: Die Eigenzeit der Minne. Zur Funktion des Jahreszeitentopos im Hohen Minnesang. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hg. von Beate Kellner, dems. und Peter Strohschneider, Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), 183–206. Jan-Dirk Müller: Jahreszeitenrhythmus als Kunstprinzip. In: Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993. Hg. von Peter Dilg, Gundolf Keil und Dietz-Rüdiger Moser. Sigmaringen 1995, 29–47. Katharina Philipowski: die werlt ist uf den herbest komen. Vom Natureingang zur JahreszeitenAllegorie in der Lyrik des 13. bis 15. Jahrhunderts. In: Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Hg. von Sonja Glauch, Susanne Köbele und Uta Störmer-Caysa. Berlin u. a. 2011, 85–119. Burghart Wachinger: Natur und Eros im mittelalterlichen Lied. In: Ders.: Lieder und Liederbücher. Gesammelte Aufsätze zur mittelhochdeutschen Lyrik. Berlin u. a. 2011, 67–95.
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Imagination 1 Inszenierte Imaginationen, Träume und Erinnerungen In den Liedern inszenierte Imaginationen der Sänger begegnen besonders ab dem Hohen Sang. Die genaue Betrachtung der Modi des Sprechens im Indikativ und Konjunktiv sowie der Tempora kann Aufschluss geben über den Wechsel zwischen Träumen und Wachsein, zwischen Phantasie und erlebter ‚Wirklichkeit‘, doch sind auch innerhalb einer Imagination, eines Traumes oder einer Erinnerung Veränderungen des Modus sowie Verschiebungen von Tempus und Perspektive möglich, was eine Differenzierung der verschiedenen Bewusstseinsebenen der Sänger schwierig macht. Umgekehrt drängt sich der Eindruck auf, dass die Grenzen zwischen Wachen und Erinnern, Träumen und Imaginieren in den Liedern häufig in der Schwebe gehalten werden sollen. Es sind beispielsweise Blicke auf den weiblichen Körper und seine Schönheit, Attribute der Dame, Chiffren und Verdinglichungen wie der Kranz oder Szenen wie der Tanz, von denen her die Sänger sich über die in den Liedern angedeuteten Situationen hinaus denken. Vielfach verschränken sich dabei höfischer und nichthöfischer Raum und spielen Grenzbereiche wie die heide eine Rolle. Die Semantiken von wân, wænen und wünschen, gedenken, gedanke, troum, tröumen, sin, sinne, aber auch fliegen, springen, toben kommen sowohl auf der literalen wie auf der metaphorologischen Ebene immer wieder zum Einsatz. Über Imaginationen, Träume und Erinnerungen kann die präsentische Sprechweise der Kanzonen durch miniaturhafte Narrationen und die Entwicklung von kürzeren Syntagmen unterbrochen werden. Zugleich bieten Imaginationen die Möglichkeit, die Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verbinden und die statische Vorstellung von der Kontinuität des unerfüllten Minnedienstes auf diese Weise zu dynamisieren (→ Zeit). Nicht selten ergeben sich über Imaginationen auch paradigmatische Variationen innerhalb der Strophen und auch über die Strophengrenzen hinaus. Daher lassen sich aus der Analyse der Traumund Imaginationslogik neue Einsichten bezüglich der Anordnung der Strophen und ihrer Kohärenzmuster gewinnen. Gegenläufig zur Vorstellung von der Unmöglichkeit einer Liebeserfüllung in der Hohen Minne (→ Minnekonzepte und semantische Felder) erlauben es Träume, Wünsche und Hoffnungen des Minners, innerhalb der inszenierten Imagination Verbote zu umgehen. Die für die Kanzonen des Hohen und späten Sangs erwartbaren Machtverhältnisse der Geschlechterrollen von dienendem Minner und hochstehender, unerreichbarer und mächtiger Herrin können sich hier verkehren. Während die ältere Forschung davon ausging, das Minnebegehren werde im Wünschen und https://doi.org/10.1515/9783110351859-022
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Träumen sublimiert, dadurch kanalisiert und im höfischen Kontext beherrschbar gemacht,1 ist in vielen Fällen nicht eindeutig zu erkennen, wie stabil der Rahmen ist, innerhalb dessen Freiräume für Imaginationen eröffnet werden. Die Sänger balancieren an der Grenze zwischen Tabu und Tabubruch und vielfach bleibt unklar, ob sie sich am Ende der jeweiligen Imaginationen oder erwacht aus einem Traum wieder mit der Situation eines unerfüllten Minnedienstes zufriedengeben und die Bedingungen der Hohen Minne akzeptieren. Hier ist von Fall zu Fall zu entscheiden, ob indikativische und konstatierende Aussagen ihrerseits wieder durch bestimmte rhetorische Strategien erschüttert, ob sie etwa durch revocationes in Frage gestellt, durch Ironie relativiert oder durch Gattungsüberschreitungen transgrediert werden. In diese Überlegungen sind auch die Relationen der Textmenge einzubeziehen, welche die Sänger dem Tabubruch einerseits und dem Tabu andererseits widmen. Insgesamt ergibt sich aus der eingehenden Betrachtung der inszenierten Imaginationen ein dynamischeres und vielfältigeres Bild auch des Hohen Sangs, als es die Vorstellung der Bestätigung seiner ‚Regeln‘ vermuten lässt, bedenkt man auch, dass jene Regeln von Philologen aus wenigen Liedern, denen prototypischer Charakter zugesprochen wurde, abgeleitet worden sind.2
2 Imaginative Aufspaltung des Ich in verschiedene Instanzen Nicht selten erscheint das textuelle Ich des Liebenden und Sängers im Zuge seines Nachdenkens und Imaginierens zwischen verschiedenen Zielen, Orten und Rollen zerrissen, was bis zur Vorstellung seiner Aufspaltung in divergierende Instanzen gehen kann. Körper und Körperteile, Herz, Sinn und Gedanken, Minne und Begehren, hôher muot und wilder muot, kumber und swære scheinen mitunter ein Eigenleben zu entwickeln, das vom Ich nicht mehr oder nur noch bedingt zu kontrollieren ist. Ob Fragmentierung und Zerfall der Ich-Rolle noch durch die Totalität der Ich-Figuration des Liebenden und Sängers aufgefangen werden können, ist jeweils für das einzelne Lied zu prüfen.3 In → Kreuzliedern werden häufig die Relationen von Minnedienst und Gottesdienst reflektiert. Da der Liebende hier bekennen muss, wo seine Prioritäten liegen, werden die Liebe zur Dame und die Liebe zu Gott immer wieder argumentativ gegeneinander abgewogen. Dass dies eine Zerreißprobe für den Liebenden sein kann, ver1 Vgl. z. B. Haug 2003, 472–475. 2 Vgl. dazu Kellner 2018, 187‒300. 3 Komplementär dazu gibt es die topische Rede, dass die Geliebte dem Liebenden herze, muot und sinne genommen oder erhöht habe. Vgl. zum Beispiel Gottfried von Neifen KLD 13,3 und 16,4; von Sachsendorf KLD 1,3; Heinrich der Rost SMS 8,2.
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deutlichen Phantasien, welche der Trennung des Liebenden von der Dame eine Dissoziation des Ich folgen lassen, wie sie etwa in Friedrichs von Hausen Lied Mîn herze und mîn lîp diu wellent scheiden (MF 47,9)4 gedanklich durchgespielt wird. Während der Körper des Liebenden und Sängers nach diesem Lied beabsichtigt, in die Ferne zu ziehen und mit den Heiden zu kämpfen, möchte sich das Herz, das im Mittelalter als eigentlicher Sitz der Affekte und Gefühle verstanden wurde, nicht von der erwählten Minnedame trennen. Damit zeigt das Lied, in welches Dilemma das Ich des Liebenden stürzt, wenn Herz und Körper auseinanderstreben und gewissermaßen ein Eigenleben führen, das vom Ich nur bedingt beherrscht werden kann. Auch in Friedrichs von Hausen Lied Sich möhte wîser man verwüeten (MF 51,13) wird die Nähe zur Dame angesichts räumlicher Distanz als Vereinigung der Herzen auf der Basis einer Dissoziation von Körper und Herz gedacht: vert der lîp in ellende, | mîn herze belîbet dâ (II, V. 7‒8). Hier wird offensichtlich, dass der Liebende sich über Imaginationen zumindest partiell aus der äußeren Situation lösen und eine gewisse Unabhängigkeit von den Verhaltensweisen seiner Dame gewinnen kann. Er vermag ihr nämlich in seinen Gedanken und mit seinen Liedern nahe zu sein, auch wenn jene sich äußerlich ablehnend zeigt und es nicht zu einem körperlichen und unmittelbaren Austausch von Liebesbezeugungen kommt.5 In → Reinmars Kreuzlied Des tages dô ich das kriuze nam (MF 181,13) wird die Vorstellung vom Eigenleben der Gedanken auf die Spitze getrieben.6 Während der Sänger sich auf Kreuzfahrt befindet, lenken ihn seine gedanken vom Gottesdienst ab. Statt sich auf das Seelenheil, die sælde (II, V. 5), zu verpflichten, schweifen diese zu den alten Minnefreuden zurück. Der Sprecher erkennt, dass er seinen Gedanken, die personifiziert werden, zunehmend ausgeliefert ist: Gedanken nu wil ich niemer gar verbieten – dês ir eigen lant –, in erloube in eteswenne dar und aber wider sâ zehant. (III, V. 1‒4)
4 Siehe dazu an neueren Arbeiten ab den 1990er Jahren etwa: Hahn 1991, 33‒34; Fuss u. a. 1997, 343–362; Klein 2000, 83–90; Braun 2005, 10–13; Kellner 2018, 190‒194, mit Zitation weiterer Forschungsliteratur. 5 Vgl. zur Vorstellung von der Dissoziation von Herz und Körper z. B. auch Heinrich von Rugge MF 101,15, III, V. 1–4: Mir hât verrâten das herze den lîp, | des was ie vlîzic der muot und die sinne, | daz si mich bâten ze verre umb ein wîp, | diu mir nu zeiget daz leit für ir minne. Der inverse Fall liegt vor in Heinrich von Rugge MF 103,3, II, V. 1‒4: Mir gap ein sinnic herze rât, | dô ich si ûz al der welte erkôs, | ein wîp diu manege tugent begât, | ir lop mit valsche niene verlôs. Vgl. dazu auch Reinmar MF 159,1, II nach bC; Hartmann von Aue MF 215,14, II. 6 Vgl. an neueren Beiträgen mit Berücksichtigung der älteren Literatur besonders Hausmann 1999, 271–277; Reichlin 2014, 191–194.
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Auf diese Weise wird vermittelt, dass der Kreuzfahrer eigentlich guten Willens wäre und in stæte und triuwe am Gottesdienst festhalten würde, wären da nicht die durch seine gedanken hervorgerufenen Phantasien von vergangenen Liebesfreuden. Der Sänger inszeniert sich mithin geradezu als Opfer seiner gedanken.7 Von einem Streit der Gedanken im Herzen des Sängers ist in Reinmars Lied Swaz ich nu niuwer mære sage (MF 165,10, IV nach ABCE) die Rede. Der Widerstreit der Gedanken, in dem das Dilemma des Liebenden in der Hohen Minne gespiegelt ist, wird hier als Kasus der Liebe der beurteilenden Ich-Instanz vorgelegt: Zwei dinc hân ich mir vür geleit | diu strîtent mit gedanken in dem herzen mîn (IV, V. 1–2). Zu einer Dissoziation von Sänger-Ich und wildem muot kommt es in Reinmars Lied Als ich werbe unde mir mîn herze stê (MF 179,3).8 Der Sänger vergleicht sich (in der sechsten Strophe nach b) selbst mit einem Falken, der zwar gezähmt ist, aber dennoch in seinem wilden muot (V. 2) hoch hinaufstrebt. Die Virtuosität und höfische Vorbildlichkeit von Reinmars Dienst (V, V. 9) werden durch das nicht auszulöschende, über den Falkenvergleich als animalisch-natürlich und ursprünglich gekennzeichnete Wilde der Minne unterminiert. In den Imaginationen des Sängers manifestiert sich eben jener wilde muot, der im unbändigen Begehren nach Wegen sucht, auszubrechen und frei zu sein. Diese Wildheit als sexuelles Streben erweist sich als die abgründige Kehrseite der hövischeit. In der Vorstellung des Sängers löst sich der wilde muot von seiner Person und folgt seinem Drang: Und vliuget alsô von mir hin | und dienet ûf ungewin (VI, V. 5‒6). Hier verschiebt sich die Personifikation als wilder valk vom Ich auf den wilden muot. Eine Variation zur Reinmarstrophe bietet → Burkhards von Hohenfels Lied Sî gelîchet sich der sunnen (KLD 10), was zeigt, dass die Vorstellung von der Aufspaltung des Ich in verschiedene Instanzen auch im späteren Sang nicht aufgegeben wird. Ein besonders pointiertes Beispiel findet sich unter den Liedern → Frauenlobs, bei dem die Legitimierung der Sprecher-Instanz durch ihre Aufspaltung auf verschiedene Instanzen etwa auch in der Leichdichtung (vgl. etwa Minneleich, V. 2–7) oder im Streitgedicht ‚Minne und Welt‘ zu beobachten ist. Lied 1 Got grüze mines herzen wirt (GA XIV,1‒5) zeigt eine Steigerung dieser rhetorischen Strategie, die bis zur Differenzierung des Ich in witze, herz, sinne, ougen und Her[rn] Mut geht.9 Ab der dritten Strophe tritt das Ich in einen Dialog mit seinem Mut ein, in dem dieser als Stellvertreter anderer Instanzen mit dem Ich um die Frage des möglichen Besitzes der Dame ringt.10
7 Vgl. zur Rolle der gedanken und des Gefangenseins durch die gedanken auch Morungen MF 138,17, II; Reinmar MF 152,15, II nach C. Bei Burkhard von Hohenfels KLD 3,4 spricht der Sänger davon, dass eine ganze Schar von gedanken zur Dame fliegt und nach ihr auf die Jagd geht. 8 Vgl. die Belege zur Falkenmotivik im Minnesang REI, 381. Vgl. zur Strophe besonders Hausmann 1999, 292‒293. 9 Vgl. dazu auch Heinrich von der Mure KLD 4,1, V. 1‒3: Herze, dû bist âne sin, | volgest dû den ougen nâch: | du maht niht volenden allez daz si wellent spehen. 10 Vgl. dazu Köbele 1994, bes. 383‒384, und Köbele 2003, 166‒179, bes. 169‒170. Vgl. auch Lied 6 (GA XIV, 26‒30).
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3 Fernliebe Die Möglichkeit, dass die Dame in der Phantasie des Liebenden unabhängig von der Frage ihrer Präsenz vergegenwärtigt werden kann, wird im deutschen Minnesang zuerst vor allem bei Friedrich von Hausen genutzt. Sie verbindet sich im Corpus seiner Lieder immer wieder mit der Vorstellung einer räumlichen Trennung der Liebenden, die durch das Wegziehen des Geliebten in die Ferne (als Kreuzzug) konkretisiert wird. Dies wird ganz besonders in der Gedankenminne deutlich, die Friedrich von Hausen im Lied Ich denke underwîlen (MF 51,33) ins Zentrum stellt.11 Obgleich der Liebende sich in der Ferne befindet, kann er sich doch in die Nähe der Dame denken und so die Distanz zu ihr zu verkürzen (I). Auch wenn ihm dies in seiner Situation wenig konkreten Nutzen bringt (IV, V. 1), so gibt ihm seine Gedankenliebe doch Anlass sich zu freuen, weil ihm niemand verwehren kann, dass er sich in die Nähe der Dame denkt, wo auch immer er hinzieht. In der Tatsache, dass die Dame dem Ich diesen Trost nicht verwehren kann, liegt für den Sänger eine Form der Selbstermächtigung. Stellt man der in den Liedern Friedrichs von Hausen akzentuierten Verbindung von imaginativer Nähe zur Geliebten und räumlicher Ferne des Liebenden die Konzeption der Fernliebe bei Jaufré Rudel gegenüber (→ Altokzitanische Lyrik), lassen sich zwar gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Vorstellung von der Fernliebe beim Trobador und der Liebe aus der Ferne beim deutschen Sänger erkennen. Dennoch wirkt die Fernliebe bei Jaufré Rudel noch imaginärer, da der Sänger besonders im Lied Lan qand li jorn son lonc e mai12 von einer Liebe spricht, die er noch nie gesehen hat. Hier bleibt offen, um welche Art von Fernliebe es sich handelt, um die irdisch-erotische Liebe zu einer höfischen Dame, deren Unerreichbarkeit über die räumliche Kategorie der Ferne konnotiert wird, oder um die religiöse Liebe zur Gottesmutter Maria, zum heiligen Land und zum himmlischen Jerusalem. Die Hinweise auf die religiöse und die erotische Ausrichtung der Liebe überlagern sich, was dem Konzept der Fernliebe besonderen semantischen Reichtum verleiht. Der amor de loing lässt sich nicht auf ein bestimmtes Objekt festlegen, sondern wird zum Inbegriff des Sehnens, Begehrens und Träumens, zur Chiffre des Imaginativen schlechthin.13
11 Vgl. zur Gedankenminne bei Friedrich von Hausen vor allem die Überlegungen bei Grubmüller 1986, 387–406 und 399–401; Strohschneider 1996, 20–22; Schmitt 2008, 255–257; Emmelius 2011, 227‒228; Lauer 2013 (mit Rekurs auf Guiot de Provins Ma joie premerainne). 12 Vgl. Pickens 1978, 150–213, Version I, 164–169; RGR I, 40–43, Kommentar, 243–245. 13 Vgl. dazu als prägnantes Beispiel im späteren Sang Heinrich von Sax SMS 4,3, V. 1–2: Swie gehaz sî mir diu guote, | doch bin ich ir mit gedanken bî.
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4 Traumglück Wie die Gedankenminne bietet auch der Traum die Möglichkeit, sich die Dame zu vergegenwärtigen. Dies wird zum Beispiel in Friedrichs von Hausen sogenannter Traumstrophe In mînem troume ich sach (MF 48,23) deutlich.14 Personifizierend klagt der Liebende in den letzten beiden Verszeilen seine Augen an, die ihm seiner Darstellung nach beim Erwachen die Freude über das Sehen der Dame genommen haben. In → Heinrichs von Morungen Narzisslied Mir ist geschehen als einem kîndelîne (MF 145,1) ist es die Minne, die dem Sänger die Dame in troumes wîs (II, V. 2) so nahe bringt, dass er sich in wonnevollem Schauen an ihr ergötzen kann. Innerhalb der Traumphantasie erfährt die Freude des Sängers jedoch eine Störung durch die kleine Verletzung am Mund der Dame (V. 7‒8). Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an die Traumphantasien beim Dürner (KLD 3) und bei Günther von dem Forste (KLD 6,4), wo es heißt: mir enmohte niht gebrechen, mohte ich noch in troumen sîn ofte be ir, sô wolde ich riuwe lân unde vil unsenfte pîne die ich von der guoten hân. (V. 3–7)
Das sogenannte Kranzlied (L 74,20)15 → Walthers von der Vogelweide (nach A), das mit Motiven der Pastourelle spielt, setzt mit einer Anrede an eine Dame ein, die im Text auch als maget bezeichnet wird: ‚Nemet, frowe, disen kranz‘, | alsô sprach ich zeiner wol getâner maget (I, V. 1‒2).16 Ausgehend vom Angebot des Kranzes übersteigt der Werber und Sänger die zugrunde gelegte Situation des höfischen Tanzes in seiner Phantasie und formuliert mit seiner Aufforderung zum gemeinsamen Blumenbrechen auf der heide ein zweideutiges Liebesangebot, das die Umworbene errötend, voll Scham, mit einer vieldeutigen Geste beantwortet. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen der Imagination des Sängers und der Situation beim höfischen Tanz (II und III). In einer zweiten Tanzsituation sucht der Sänger eine respektive seine Dame unter dem Kranz (IV). Die letzte Strophe nach Handschrift A, die möglicherweise als alternativer Schluss zur vierten zu sehen ist, entfaltet eine Erfüllungsphantasie in einem Traum und überschreitet die Kanzone in Richtung → Tagelied (V). Der Liebende fühlt sich im Traum reich und mächtig, in troume rîche (V. 7), doch im freudigen Lachen angesichts seiner Liebeswonnen erwacht er bei Tagesanbruch. 14 Vgl. Kasten 1995, 653‒654, mit Verweisen auf Motivverwandtschaft im deutschen und romanischen Sang; vgl. dazu auch Bosy 2012, 263. 15 Vgl. an neueren Arbeiten etwa Fuchs-Jolie 2006, 275–297; die Beiträge in Keller und Miklautsch 2008; Kellner 2013, 184–205; Kellner 2018, 283–296. 16 Vgl. zur Diskussion um die sogenannten ‚Mädchenlieder‘ Walthers u. a.: Masser 1989, 3–15; Bennewitz 1989, 237–252; Heinzle 1997, 145–158.
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Die Fäden des dichten Netzes intertextueller Verweise und Verknüpfungen, mit denen sich die Lieder wechselseitig kommentieren, laufen immer wieder im Fokus des Imaginierens zusammen. Dementsprechend gibt es auch Lieder, welche die anderweitig diskutierten Vorstellungen vom Glück des Träumens distanzieren, indem sie gerade die Flüchtigkeit und Unzuverlässigkeit der Imaginationen, Träume und Traumauslegungen in den Vordergrund stellen und damit den wân der Minne parodieren (vgl. etwa das ‚Traumglück‘ in Walthers Dô der sumer komen was, L 94,11, und das ‚Halmorakel‘, In einem zwîvellîchen wân, L 65,33).17
5 Intensität, Überschwang und Flüchtigkeit der Freude Gegenläufig zur Vorstellung, im Minnesang würden in erster Linie Leid und Kummer (swære, kumber) der Liebenden und Sänger artikuliert, finden sich sowohl im Romanischen18 wie im Deutschen auch Texte, in denen der Affekt der Freude in den Vordergrund gerückt wird. Gerade auch hier ist meist wiederum die Ebene der Imagination zentral. Von der höchsten Intensität des Glücks, aber auch von seiner Flüchtigkeit ist in Berngers von Horheim Lied Mir ist alle zît, als ich vliegende var (MF 113,1) die Rede.19 Der Liebende und Sänger bringt seine Stimmung imaginierten überschäumenden Jubels über Metaphern des Fliegens, Springens, Laufens, Jagens und Tobens zum Ausdruck, doch in der Figur der revocatio nimmt er diese am Strophenschluss jeweils wieder zurück. So werden bei Bernger imaginierte Erfüllung, erhoffte Liebe und Liebesleid in harter Fügung nebeneinandergestellt. In kaum zu überbietender Weise bringt Heinrich von Morungen im Lied In sô hôher swebender wunne (MF 125,19) die Freude des Liebenden und Sängers zum Ausdruck. Diese wird in einer imaginativen Raumsemantik der Höhe umgesetzt,20 das Herz des Liebenden befindet sich ganz oben, seine Hochstimmung wird als hochsteigende und schwebende Wonne (I, V. 1) bezeichnet. Dem Sänger kommt es vor, als ob er fliegen könne und mit seinen Gedanken unaufhörlich die Geliebte umkreise (V. 2‒3). Diese Semantik des gedanklichen Höhenflugs wird mit der Vorstellung einer Tiefe der Innerlichkeit verbunden, denn die Strophe vollzieht nach, wie der Freude auslösende Trost der Dame (I, V. 5; III, V. 1; IV, V. 3) immer weiter in den Liebenden eingedrungen ist. Der Inszenierung des Sängers entsprechend gewinnt seine individuelle Freude Züge 17 Vgl. dazu z. B. auch OSW 33. 18 Vgl. stellvertretend für andere Beispiele das Lied Lonc tems a qu’eu no chantei mai von Bernart de Ventadorn, Felbeck und Kramer 2008, 136–143. 19 Vgl. zum Lied etwa Siekhaus 1971, 237–239; Touber 2005, 75; Fuchs-Jolie 2007, 32–34; Kellner 2018, 202–206; vgl. zum Kontext Speckenbach 2001, 66–82. 20 Vgl. zu dieser Raumsemantik Fuchs-Jolie 2007, 35–37.
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eines kosmischen Ereignisses, denn sein Herz und seine Seele spiegeln als Mikrokosmos den Makrokosmos und umgekehrt. Eben darin liegt eine Allmachtsphantasie, denn letztendlich wird die eigene Freude auf die Dinge dieser Welt projiziert, die dem Betrachter dann als wunneclîch erscheinen. Die Wahrnehmung der Außenwelt wird in dieser Gedankenfigur zur Selbstbespiegelung und die Natur zur Projektionsfläche des Ich, die je nach dem eigenen Gefühlszustand imaginativ modelliert werden kann. In ebendieser Selbstbezüglichkeit liegt zweifellos ein Selbstgenuss (vgl. dazu auch Morungens Lied Wie sol vröidelôser tage, MF 143,4).21 Walthers Freudengesang Ich bin nû sô rehte vrô (L 118,24) zeigt deutliche intertextuelle Bezüge zu den erwähnten Morungenliedern (MF 125,19; MF 143,4).22 Der Sänger stellt in der Minnerrolle in Aussicht, dass er vor lauter Freude schon bald anfangen werde, Wunder zu wirken (I, V. 1‒2). Sollte er (swenne, I, V. 3) die Minne seiner Dame erwerben können, dann würden seine Gedanken sich höher aufschwingen als der Schein der Sonne (I, V. 5‒6). Die erste Strophe zeigt mit dieser Hyperbolik und Lichtmetaphorik eine enge Anlehnung an Morungens Höhenflug der Gedanken.23
6 Inneres und äußeres Sehen: Imaginative Verinnerlichungen der Dame Das Imaginieren als Sehen mit den ‚inneren Augen‘ spielt im Minnesang eine zentrale Rolle. Es wird über komplexe Metaphoriken, Vergleiche und Analogien sprachlich gefasst und immer wieder zum Sehen mit den ‚äußeren Augen‘ ins Verhältnis gesetzt. Die Dame des Hohen Sangs, die der liebende Sänger zu sehen begehrt, die in Erscheinung tritt, sich jedoch oft auch seinen Blicken entzieht oder ihm durch die huote entzogen ist, kann in Vorgängen des inneren Sehens vergegenwärtigt werden. Auf diese Weise ergeben sich paradoxe Spannungen von Nähe und Distanz, die besonders in den Liedern Morungens mit je anderen Akzentuierungen umkreist werden.24 Beispielsweise erzeugt im Lied Het ich tugende niht sô vil (MF 124,32)25 die Blickord21 Vgl. dazu Fisher 1996, 69–73; Fuchs-Jolie 2007, 35–37; Kellner 2015, 163‒166, mit Zitation der älteren Forschung. 22 Auf die formalen und metrischen Ähnlichkeiten wird besonders hingewiesen bei Ashcroft 1975, 205. 23 Vgl. zu den Imaginationen der Freude auch Reinmar MF 168,30 und MF 182,14. Auch im späten Sang finden sich gelegentlich Freudephantasien, z. B. bei Konrad von Landeck SMS 15, insbesondere Str. 2. Vgl. auch die gewitzte Variation bei Christan von Hamle (KLD 2), wo Hêr Anger darauf angesprochen wird, was für eine Freude es gewesen sein muss, die nackten Füße der Dame berührt zu haben, verbunden mit dem Wunsch, an dieser Freude zu partizipieren. 24 Vgl. Kasten 1986, 319; vgl. zum ‚Schauen‘ bei Morungen auch besonders Scheer 1990, 72–77, 97‒98, 100–102, 106–112, 117‒118, 141‒142, 147–151, 158–162 und passim. 25 Vgl. u. a. Scheer 1990, 107–109; Fisher 1996, 60–65; Irler 2001, 92–94; Kellner 2018, 207‒211.
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nung einen gemeinsamen Raum für das Ich und die Dame im Inneren des männlichen Körpers, die topologische Ordnung besteht demgegenüber auf ihrer äußeren Trennung. Zugleich werden die Vorgänge des Sehens auf kosmische Metaphern übertragen. In Morungens West ich, ob ez verswîget möhte sîn (MF 127,1) entwickelt der Sänger die Phantasie, dass das Publikum die Dame in seinem Inneren sehen könne, wenn jemand ihm sein Herz entzweibräche (I, V. 1–4). Eine ganz ähnliche Variation dieser Vorstellung findet sich im späteren Sang bei → Hadlaub (SMS 1,6). Besonders einschlägig unter dem Aspekt der Imagination ist auch Morungens Lied Mir ist geschehen als eime kindelîne (MF 145,1), das in der bekannten vierstrophigen Form ausschließlich in der Würzburger Liederhandschrift E unter dem Namen Reinmars überliefert ist, während die Manessische Liederhandschrift C (daneben Ca) nur die erste Strophe unter dem Namen Heinrichs von Morungen bezeugt. Die Paradoxie von Nähe und Distanz sowie die Kreatürlichkeit und Hinfälligkeit der Dame werden hier in Abwandlung des Narzissmythos imaginiert.26 Dame und Liebender werden einander über Spiegelrelationen zugeordnet, wodurch die Liebe des Sängers zum Du auf die Selbstliebe und die Selbstreflexion hin durchsichtig wird,27 was auch vor der Folie von Bernarts de Ventadorn Lerchenlied Can vei la lauzeta mover28 zu sehen ist (vgl. dazu u. a. Morungen MF 133,13; MF 138,17, III und IV). Imaginative Verinnerlichungen der Dame, die dadurch als für den Liebenden und Sänger verfügbar inszeniert wird,29 werden häufig als morungenspezifisch betrachtet, finden sich jedoch auch bei einer Reihe von anderen Sängern.30
7 Phantasien von Rache und Gewalt Während das Bild- und Imaginationsfeld von Rache, Gewalt und Krieg in der älteren Forschung unterschätzt wurde, zeigt sich bei näherer Betrachtung, wie verbreitet derartige Phantasien im Minnesang sind.31 Potentiell unterminieren diese die Leitvorstellungen von zuht und mâze. In Friedrichs von Hausen Wâfena, wie hat mich minne gelâzen (MF 52,37) beklagt der Sänger sich bitterlich darüber, dass die Minne
26 Vgl. jetzt die Beiträge in Kern u. a. 2015; Kellner 2018, 224‒236; jeweils mit Dokumentation der vorgängigen Forschungsliteratur. 27 Vgl. dazu auch etwa Frauenlob, Lied 1 (GA XIV,1‒5). 28 Vgl. Nichols und Galm 1962, 166–188; RGR I, 108–113, Kommentar, 263–265; Felbeck und Kramer, 124–129. Siehe auch den Vergleich von Bernarts Lerchenlied und Morungens Narzisslied bei Wolf 2004, 525–533. 29 Grundlegend dazu Von Ertzdorff 1965, 6–46; Ohly 1983, 128–155. 30 Vgl. etwa auch Heinrich von Rugge MF 103,3, III; Burkhard von Hohenfels KLD 11,5; Hadlaub SMS 1,6; Frauenlob, Lieder 1, 3 und 4 (GA XIV,1‒5 und 11–20). Vgl. dazu auch die umgekehrte Imagination vom Wohnen des Sängers im Herzen der Dame bei Burkhard von Hohenfels KLD 16,4. 31 Vgl. Kellner 1997.
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ihm Schmerzen zufüge und ihn seiner Sinne beraube (II). Er nimmt dieses Leid jedoch nicht passiv hin, sondern ruft in seinem Lied zu den Waffen (Wâfena, I und II, V. 1) und fordert Gott auf, ihn an der Minne zu rächen (IV, V. 1). Der Sänger und Liebende ergeht sich in seiner Rache, indem er imaginiert, er würde der personifizierten Minne gerne ihr krumbez ouge ausstechen und sich dabei angesichts seines erlittenen Kummers durchaus im Recht fühlen (IV, V. 3‒4). Das Lied mündet schließlich in den Wunsch, die Minne sollte tot sein, was dem Sprecher endlich Erleichterung verschaffen könne (IV, V. 6‒7). Eine Rachephantasie, die mit der Imagination des Todes verbunden ist, findet sich zum Beispiel auch in Morungens dreistrophigem Lied Sach ieman die vrouwen (MF 129,14),32 denn das Ich stellt sich in der dritten Strophe vor, wie seine vergebliche Werbung und die schlechte Behandlung durch die verehrte Dame auf einer Inschrift seines Grabsteins festgehalten werden (V. 1–5), wodurch die Sünde (V. 9) der Dame auf Dauer in Erinnerung bleiben werde. Besonders auffällige Gewalt- und Rachephantasien finden sich im Zusammenhang mit der Dämonisierung der Dame als Elbe in Morungens Elbenlied Von den elben wirt entsehen vil manic man (MF 126,8), subtile Andeutungen von Gewalt werden in seinem Narzisslied chiffriert (MF 145,1). Wiederholt ist bei Morungen auch von Gewalthandlungen der Dame die Rede, so von einer tödlichen Verletzung des Sängers durch die Dame (MF 140,32, II; MF 141,37, I und II; MF 147,4). Im Lied Sîn hiez mir nie widersagen (MF 130,9) wird die Herrin als rouberîn bezeichnet, die dem werbenden Ich ohne korrekte Kampfansage zu schaden versucht und alle Länder verheeren will (I, V. 1–3). Auf andere Weise imaginiert Reinmar, dass der Tod der Dame jenen des Liebenden nach sich ziehen würde, wenn es im Lied Wol ime, daz er ie wart geborn (MF 158,1) heißt, stirbet sî, sô bin ich tôt (III nach AC, V. 8). In Walthers Sumerlatenlied (L 72,31) wird diese Vorstellung zur Drohung des Sängers gemacht, indem dieser seine Rachegedanken in einer Todesphantasie auslebt: sterbet si mich, sô ist si tôt (IV, V. 6, nach C und A).33 Das Bildfeld verliert seinen Einfluss auf den Minnesang auch bei den späteren Sängern nicht. Ein pointiertes Beispiel stellt Heinrichs von Breslau Gespräch mit personifizierten Naturerscheinungen und Venus dar (KLD 2), in dem diese drastische Gewaltphantasien gegenüber der Dame entfalten.
32 Vgl. u. a. Fisher 1996, 102–107; Kellner 1997, 50; Irler 2001, 130–135; Leuchter 2003, 143; Kellner 2018, 211‒214. 33 E schwächt die Gewalt etwas ab, wenn es heißt: sturbe aber ich, sô ist si tôt (V. 6).
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8 Frivolitäten: Kussraub, Probebeischlaf, voyeuristischer Blick auf die Dame und Liebeserfüllung auf der heide Wie wichtig die Rolle von Imaginationen gerade auch im Reinmar-Corpus ist, zeigt u. a. das für sein Œuvre programmatische Schachlied Ich wirbe umbe allez, daz ein man (MF 159,1), welches das etwa auch bei Morungen (MF 141,37) und Walther (L 53,25) begegnende Motiv des Kussraubs variiert.34 Der Kuss wird hier auf witzige Weise verdinglicht (MF 159,1, III). Er ist ein Etwas, das man erhalten, wegtragen und verbergen kann, eine Trophäe der Liebe, durch deren Besitz der Sänger triumphieren will. Den Wunsch der Dame nach ‚Rückgabe‘ des Kusses voraussetzend, zeigt sich der Sänger, voll Witz und Ironie, bereit zu einem erneuten Kuss und macht klar, dass er damit nur das Begehren der Dame erfüllen würde. Der Minner und Sänger betont hier im Modus der Imagination, dass er die Dame überlisten kann. Die Imagination erweist sich als Möglichkeitsraum, in dem er der Dame nicht nur gefährlich nah zu kommen vermag, sondern in dem es ihm auch nach Belieben gelingt, die Oberhand über sie zu gewinnen. Phantasien dieser Art legen überdies offen, dass der Minner und Sänger nach den Inszenierungen der hier besprochenen Lieder in seinem Dienst vom Handeln der Dame weitgehend autonom werden kann. Zudem ist es ihm aus der Virtuosität seines eigenen Dienstes und über den Weg der Imagination möglich, sich aus dem Zustand des Leides aus eigener Kraft in jenen der Freude zu versetzen. In Walther von der Vogelweide hat Reinmars Schachlied einen Rezipienten gefunden, der diese Imaginationen und Geltungsansprüche seines Sangeskonkurrenten im Lied Ein man verbiutet ein spil âne pfliht (L 111,22) trefflich zu parodieren wusste. Die Frivolität der Kussraubstrophe wird in Reinmars Text Der lange suozer kumber mîn (MF 166,16) noch übertroffen. Im Gedankenexperiment schlägt der Liebende seiner Dame Beischlaf vor (VI nach C). Das Gedankenspiel zielt auf die Empfehlung an die Dame, den Liebenden auszuprobieren und dabei Geschmack an der körperlichen Liebe zu finden.35 Bedingungssätze, Modalverben und Konjunktive machen zwar deutlich, wie weit das Gedankenspiel von der Realität entfernt ist. Doch andererseits bietet der Sänger auch hier Strategien der Ermächtigung auf. Eine besondere Pointe besteht darin, dass er in seiner Phantasie die Aktivität in der Liebe von der Dame ausgehen lässt, womit er seiner Darstellung nach beim möglichen Beischlaf bloß ihrer Einladung folgen würde. Das Risiko für die Dame wird durch den Probecharakter 34 Vgl. zu diesem Lied etwa Eikelmann 1988, 283–285; Behr 1993, 344–357; Bennewitz 1995, 7–11; Bauschke-Hartung 1999, 61–76; Hausmann 1999, 177–185; Bauschke-Hartung 2004, 227–250; Kellner 2018, 239‒246. 35 Vgl. Kasten 1995, 850‒851, wo im Kommentar zur Strophe auf Belegstellen aus der deutschen und altfranzösischen Lyrik hingewiesen wird, in denen das Motiv der Probenacht mit der Vorstellung von Restriktionen verbunden ist.
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und die Zusicherung des Stillschweigens durch den Sänger nur scheinbar minimiert, zumal der Kasus im Liedtext und in einem möglichen Vortrag ausführlich thematisiert wird und das Schweigen damit schon im Vorfeld – dem Publikum gegenüber – performativ gebrochen wird. Auf diese Weise wird sowohl in der Imagination wie auch in der Performativität des Sprechakts gegen das Gebot der Zurückhaltung verstoßen. Was wünschen und wænen für Walthers Entwürfe von Minne und Minnesang bedeuten,36 wird nachgerade in der sogenannten wân-wîse, im Lied Ich wil nû mêr ûf ir genâde wesen frô (L 185,1), reflektiert.37 Schon von Kindesbeinen an, so bekennt der Sänger nämlich hier, habe er die Gewohnheit gehabt, sich ins wünschen und wænen zu flüchten (I). Der liebende Sänger denkt sich in die Nähe seiner Herzensdame, so nahe will er bei ihr liegen, dass er ihr ins Auge sehen kann, er phantasiert sich wie der Sänger Reinmar in das Bett der Geliebten.38 In seinen Wunschträumen nimmt er dabei die Position des Überlegenen ein (II), er will vollenclîchen (V. 3) über die Dame siegen (V. 1–3), die er sich gänzlich willfährig vorstellt bis zu dem Punkt, dass sie ihm nach dem rash-boon-Motiv alles versprechen würde, worum auch immer er sie frage (V. 4). Die Rollen von Sänger und Dame kehren sich also in der Phantasie um, der Dienende wird zum Herren, dem Abgewiesenen wird vermeintlich alles gewährt. Ausgehend von diesen Imaginationen wird die Fiktionalität des Minnesangs in diesem Lied offen ausgestellt, denn Freude und Trauer werden nicht primär als Ausdruck authentischer Gefühle begriffen, sondern erscheinen gleichermaßen als Masken oder Haltungen, die frei wählbar sind (III).39 Im Lied Si wunder wol gemachet wîp (L 53,25)40 denkt sich der Sänger wie bei Morungen und Reinmar über das Kussraubmotiv (MF 141,37; MF 159,1) in die intime Nähe der Dame hinein (IV nach DN), doch er geht hier so weit zu imaginieren (so wæne ich, IV, V. 4), dass er die Dame nackt im Bade gesehen habe (V nach DN). Erinnern und Imaginieren changieren hier in der zentralen Vorstellung des wænens, dessen Semantik beides abdeckt. In Frauenstrophen und → Frauenliedern können die als weiblich inszenierten Sprecher nicht nur im Frühen, sondern auch im Hohen Sang ihre Begierden und Sehnsüchte sowie auch ihre Bereitschaft zur Liebe äußern.41 Das berühmteste Beispiel dafür ist Walthers Lindenlied Under der linden (L 39,11), in dem die Sprecherin im Gestus erinnernder Rückschau von der Liebeserfüllung auf
36 Vgl. dazu ausführlicher und auf breiterer Textbasis Kellner 2018, 268‒295. 37 Vgl. etwa Kaiser 1968, 243–279; dazu Kellner 2018, 268‒272. 38 Vgl. Reinmar MF 167,4 und MF 180,1. 39 Vgl. dazu die Einzelstrophe, die in BC im Ton L 185,1 überliefert ist. Das für die volkssprachliche Lyriküberlieferung ungewöhnliche Incipit Ich wil niht mê ûf ir gnâde wesen vrô (L 61,32) stellt die Verbindung zu L 185,1 her, wandelt aber die erste Verszeile dieses Liedes ab, indem es sie ins Negative verkehrt. 40 An neueren Arbeiten vgl. etwa: Ehrismann 1993, 9–28; Cramer 1998, 82–93; Bauschke-Hartung 1999, 109–133; Fritsch 2000, 103–113; Laude 2007, 213–232; Kellner 2018, 273‒283. 41 Vgl. dazu auf breiter Textbasis Kellner 2018, 129‒186.
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der heide erzählt. Das refrainartige a-semantische tandaradei lässt sich hier geradezu als Chiffre der Imagination sowie des Verhüllens und Enthüllens der Liebe verstehen.
9 Epistemische Kontexte Der Befund, dass die Relationen von Erinnern und Imaginieren in den Liedern häufig ineinander übergehen, entspricht der Darstellung Thomasins von Zerklaere, nach der die beiden maßgeblichen Vermögen des Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesses einander so nahestehen, dass er sie als Schwestern bezeichnen kann. Als Vorstellungskraft bringt die imaginatio, die zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und der übergeordneten ratio angesiedelt ist, Thomasins Ansicht nach Gedanken, Dinge und Taten hervor, während sie die memoria als Sachwalterin der Erinnerungen dabei unterstützt.42 Was bei Thomasin in der Volkssprache angedeutet ist, beruht auf einer langen gelehrten Tradition.43 In der Antike wurden phantasia und imaginatio erkenntnistheoretisch und psychologisch einerseits der sinnlichen Wahrnehmung zugeordnet, andererseits dem Verstand. So fasst Aristoteles die phantasia in seiner Schrift ‚Über die Seele‘ als eine von der Wahrnehmung verschiedene Kraft auf, die es uns ermöglicht, Bilder und Vorstellungen, eben phantasmata, zu erzeugen, die dem Verstand das Material liefern, das dieser bearbeiten kann.44 Das Vermögen zur Produktion von Bildern wird dabei gerade nicht an die gegenwärtige Affektion der Sinne gebunden, phantasmata können vielmehr auch Erinnerungs- und Traumbilder sein. Wie in der Antike changieren phantasia und imaginatio auch im Mittelalter zwischen bildhafter Repräsentation und produktiver Einbildungskraft. Autoren wie Thomas von Aquin machen deutlich, dass die vis imaginativa einerseits Bilder von abwesenden Gegenständen formen kann, die man vorher bereits erblickt hat, aber andererseits auch Bilder von niemals gesehenen Dingen.45 Demnach stellt sie eine dynamische Kraft dar, die sich nicht auf das bloße Ordnen der Sinneseindrücke beschränkt. Im christlichen Kontext ist die kritische Beurteilung und Ablehnung der imaginatio weit verbreitet. Augustinus zum Beispiel bewertet phantasia und phantasmata negativ und versteht die phantasia als eine Kraft, welche die Seele durch die Hervorbringung von phantasmata daran hindere, sich auf Gott und die Wahrheit zu richten. Im Blick auf die phantasmata werden zudem besonders ihre Unzuverlässigkeit und ihr wuchernder, negativer Einfluss auf die Seele betont. In diesem Sinne hebt Augustinus in den 42 Vgl. Thomasin: ‚Der Welsche Gast‘, V. 8799–8812. 43 Grundlegend und ausführlich dazu mit breiter Quellenarbeit: Bundy 1927; Yates 1994 [1966], bes. 54–81; Javelet 1967; Mainusch und Warning 1976, 217–220; Kelly 1978, bes. 26–56; Schulte-Sasse 2001, 88–120. 44 Vgl. Aristoteles: ‚Über die Seele‘, III, c. 3, 427b–429a. 45 Thomas: ‚Summa theologica‘, I, q. 85, a. 2, ad 3: Alia operatio est formatio, secundum quod vis imaginativa format sibi aliquod idolum rei absentis, vel etiam numquam visae. Text nach der Ausg. 1937, 307.
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‚Confessiones‘ hervor, dass corporalia phantasmata als falsa corpora unsere Seele durch das Auge berücken. Aufgrund ihrer Zuordnung zur Sinnlichkeit und Körperlichkeit rücken phantasia und imaginatio systematisch in die Nähe der für das Seelenheil höchst gefährlichen Augenlust, der sündhaften concupiscentia oculorum. Verbunden mit jener wird die Imagination in den ‚Confessiones‘ daher geradezu als Medium der Gottesferne und Weltverfallenheit gesehen.46 Die bei Augustinus vollzogene Zuordnung von imaginatio, concupiscentia oculorum und curiositas wird traditionsbildend. Augenlust und erotisches Begehren, das dem christlichen Verständnis nach aus dem Sündenfall und der Erbsünde herrührt, erscheinen als zwei Seiten einer Medaille. Es soll nicht postuliert werden, dass die genannten Vorstellungen und Wertungen über phantasia und imaginatio unmittelbaren Einfluss auf die mittelalterliche Literatur hatten, doch als epistemische Kontexte sind sie in einem diskursanalytischen Sinne von Relevanz. In der höfischen Kultur und namentlich im Minnesang wird die imaginatio, mit ihrer im christlichen Verständnis gefährlichen Nähe zur Augenlust, positiv gefasst. Im Minnesang vollzieht sich dies auf der Ebene der impliziten Poetologie und manifestiert sich in den Texten in der Betonung des Schauens (→ Visualität) und in der Fülle der Imaginationen und Projektionen, von denen die Rede ist. Die theologisch prekäre concupiscentia oculorum ist ebenso wie die imaginatio auf das Engste mit der Struktur des unerfüllten Minneverlangens verbunden. In den Freiräumen der höfischen Laienkultur wird es möglich, die eigentlich zur Sünde verleitende – weil überall in der Welt herumschweifende und den Menschen über die concupiscentia oculorum an die Welt ausliefernde – imaginatio zu einem ästhetischen Produktionsprinzip zu machen. Modellhaft spiegelt sich diese poetologische Dimension in den inszenierten Imaginationen der Lieder.
10 Fazit Es zeigt sich, dass der Liebende und Sänger in seinen Phantasien nahezu beliebig über die Dame verfügen kann. Hier kann er die Tabus der Hohen Minne umgehen, sich in die Nähe der Dame denken, ihr Küsse rauben und sich in die Liebeserfüllung hineinträumen. Er kann die Relationen der Macht verändern und das vordergründig inszenierte Verhältnis der Geschlechter von dienendem Mann und dominanter Dame umkehren. Dabei kommt es gegen die Behauptungen von der Schönheit und Vortrefflichkeit der Dame zu Anschuldigungen und Dämonisierungen ihrer Person, zu Zuschreibungen von Gewalt und Verletzung. So konterkarieren Gewalt- und Rachephantasien und das gesamte Bildfeld von der Liebe als Krieg der Geschlechter das Ethos von zuht und mâze. Gerade in den Phantasien werden dabei auch die Verletz46 Vgl. Augustinus: ‚Bekenntnisse‘, Lib. III, 6,10; Lib. X, 35,54. Vgl. etwa auch Valerianus: ‚Homilia‘ XVIII, 746.
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lichkeit, die Kreatürlichkeit und Sterblichkeit der Dame sichtbar gemacht. Wünschen, Träumen und Imaginieren bilden im Minnesang daher ein Reservoir, in dem schließlich doch vieles gesagt werden kann, was an der Oberfläche der Lieder tabuisiert ist. Je mehr Begehren und sexuelle Wünsche in höfischer zuht und mâze eingehegt werden sollen, desto deutlicher werden sie selbst in der Hohen Minne unter dem Vorbehalt von Traum und Imagination diskursiviert. Was hier aufblitzt, kann allerdings im nächsten Argumentationszug wieder relativiert, umgedeutet und revidiert werden. Häufig werden auf diese Weise Eindeutigkeiten unterlaufen und bleiben Ambivalenzen im Raum.
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Visualität
1 Einführung Seit gut 30 Jahren steht im Zentrum der Minnesangforschung die intrikate Frage nach dem Status dieser Kunst zwischen Performanz, Text, Ritual, höfischer Repräsentation und authentischer Selbstaussage. Das Problem der Referenzialisierung des sprechenden Ich führte zu intensiver Reflexion über den Fiktionalitätsstatus dieser Lieder, die als Vortragskunst auf einen Gegenwartsraum von Sänger und Rezipienten hin konzipiert sind, den „Zeigeraum mündlicher Rede“.1 In Abgrenzung zu neueren Formen theatralischer, inszenierter Aufführungen wird dieser Raum in jüngerer Forschung auch gern als Raum eines nicht gesicherten Fiktionalitätskontrakts gesehen.2 Gleichzeitig wurde im Zusammenhang eines erstarkten Interesses an Medialität und der Debatten um ‚Mündlichkeit und Schriftlichkeit‘ die Aufführungsthematik und damit die Kontextualisierungsfrage neu gestellt (→ Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs). Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei in erster Linie auf die Formen des Vortrags sowie der Rezeption über das Ohr, auf die Wortfelder von singen und reden sowie hœren. In diesem Zusammenhang wird die Authentizitätsfrage, die in den Fiktionalitätsdebatten nur noch Hintergrundfolie ist, mit neuem Nachdruck gestellt, bis dahin, dass wieder von Erlebnislyrik die Rede ist.3 Bei fast all diesen Studien fällt auf, dass der Aspekt der Visualität kaum bis gar nicht berücksichtigt ist.4 In Bezug auf die Aufführungspragmatik wird auf die auch in den Texten z. T. ausgestellte Möglichkeit einer Diskrepanz von Sängererscheinung und Sängerwort hingewiesen, und im Kontext der Minnekonzepte wird immer wieder auf die im Text genannte Frauenschönheit verwiesen, das vrouwen schouwen als Anfang der Minne und Kern des Sangs.5 In diesem Zusammenhang werden Sehtheorien der Zeit zitiert, und im Rückgriff auf das neuplatonisch begründete Modell des spirituellen (inneren) Sehens wird das in den Texten aufgerufene Traum-Sehen in die Nähe geistes- und religionsgeschichtlicher Visionstheorien gestellt.6 Die Visualität als im Text inszenierte spezifische Medialität, den Text leitende Funktion und Thema des Textes ist aber kaum mit ins Spiel der Lektüren gebracht. Die wenigen Ausnahmen, die sich vor allem in neueren Studien finden, bestätigen 1 Müller 1994, 20. 2 Vgl. Müller 1994 und 2004; Strohschneider 1996. 3 Vgl. Haferland 2000, 26–28. 4 Ausnahmen sind: Kasten 1986, 319–329; Scheer 1990; Kellner 1997; Lucken 1998 (zur französischen Literatur). 5 Vgl. Scheer 1990, 11. 6 Vgl. Kellner 1997; Leuchter 2003. https://doi.org/10.1515/9783110351859-023
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die Regel.7 Das erstaunt. Einerseits im Kontext einer Mediävistik, zu deren topischem Wissen es seit dreißig Jahren gehört, dass die höfische Kultur eine Kultur der Visualität ist,8 andererseits angesichts des mittelalterlich-liebestheoretischen wie auch forschungsgeschichtlichen Topos der im Auge beginnenden Liebe. Auffallend ist auch, dass mit der in jüngster Zeit verstärkten Fokussierung visueller Phänomene im Minnesang v. a. rhetorische Evidenz-Strategien sowie Aspekte einer ImaginationsPoetik, mit einer starken Fokussierung auf das Werk → Heinrichs von Morungen, in den Vordergrund rückten.9 Die konzeptuell eng damit zusammenhängende Visualität als konkretisierende Wahrnehmung über das Auge, wie sie in den Texten evoziert und inszeniert wird, ist hinter diesem poetologisch-ästhetischen Interesse verblasst. Der vorliegende Beitrag will entsprechend diese Aspekte einer konkreten Visualität in den Blick nehmen, auch in Abgrenzung und Ergänzung zu dem Artikel → Imagination.10 Das Spiel mit innerem und äußerem Sehen, über das sich eine Poetik des Minnesangs konstituiert, wird in diesem Beitrag also für einen Moment stillgestellt, um die eine Seite genauer zu analysieren. Dabei kommen Aspekte einer Theorie der Visualität ins Spiel, die einerseits die an Sichtbarkeit anschließenden Machtmechanismen und die eng damit zusammenhängenden Inszenierungen und Beobachtungen eines Ich reflektieren (Foucault), anderseits eine Visualität der Oberfläche und eine Differenz-Semantik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit gegenüberstellen (Didi-Huberman).11 Damit führt die Frage nach Visualität im Minnesang zu Fragen a) der Inszenierung von Sichtbarkeit und damit einer Präsenz stiftenden und reflektierenden Rhetorik; b) der Evokation visueller Wahrnehmung im Sinne einer konkretisierenden Ekphrasis; c) der Konkretisierung von Raumverhältnissen und darin sich konstituierenden Hierarchien und Semantiken; d) von Blickchoreographien, über die öffentliche Ordnungen sich offenbaren, aber auch unterlaufen werden können. Darüber ergeben sich grundlegende Beobachtungen:
2 Raum Über die visualisierende Evokation von Raumverhältnissen durch Perspektivierungen und Aufmerksamkeitslenkungen installiert sich der Minnesang immer wieder als Poiesis der Grenze, als ein raffiniertes Spiel mit Nähe und Distanz, Innen und Außen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Durch deiktische Formulierungen, wie 7 Vgl. z. B. Young 2000; Köbele 2003, 166–198; Kellner 2004; Fuchs-Jolie 2006; Schnyder 2008; Paddock 2008; Huber 2009; Wachinger 2011 [2001]; Toepfer 2013; Kirchhoff 2015. 8 Vgl. Wenzel 1995 und 2009; Müller 2003; Starkey und Wenzel 2008; Velten 2014. 9 Vgl. Huber 2009; Toepfer 2013. 10 Zur Interdependenz dieser zwei Visualitätsformen vgl. Schnyder 2008. 11 Vgl. Didi-Huberman 2000.
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v. a. das indizierende seht, wird der Blick der Zuhörer als ein in den präsentischen Raum (Zeigeraum) hinein imaginierendes Sehen angesprochen: Seht an ir ougen und merkent ir kinne, | seht an ir kele wîz und prüevent ir munt (Heinrich von Morungen KAS 119,2, V. 1–2 / MF 140,32, II).12 Damit wird der Blick des Publikums zu einem Instrument der Imagination des Ich, überschreitet, an der Hand der sprachlichen Lenkung sozusagen, die Grenze in die Welt der Vorstellung: seht, dêst mîn wân (Friedrich von Hausen KAS 53,2, V. 5 / MF 52,37, II). Der so geleitete Blick führt ins Herz des Sänger/ Minner-Ich und in seine stillen Gedanken (vgl. Friedrich von Hausen KAS 53 / MF 52,37; Morungen KAS 100 / MF 123,10; Morungen KAS 112 / MF 135,9). Über diesen sprachgeleiteten Blick öffnet sich ein Schauraum für das Publikum, in dem das Bild der Frau zu entdecken ist, der aber – als Raum des Geheimnisses – dem öffentlichen Raum entzogen und entsprechend auch nicht verbalisiert wird: West ich, ob ez verswîget möhte sîn, ich lieze iuch sehen mîne schœne frouwen. der enzwei bræche mir daz herze mîn, der möhte si schône drinne schouwen. (Morungen KAS 104,1, V. 1–4 / MF 127,1, I)
So wird die indizierende Sprache zum Instrument des Geheimnisses, bis hin, dass das deiktische seht schließlich zum Indiz der tabuisierten Intimität werden kann: seht, dô muoste ich von vröiden lachen (→ Walther von der Vogelweide KAS 178,4, V. 5 / L 74,20, IV). Der durch die Sänger-Rede geleitete Blick des Publikums kann aber auch zum Stellvertreterblick des Minnenden in der Öffentlichkeit werden, der diesem einen direkten Blick erlaubt, selbst da, wo es nicht möglich ist: nu sehent, wie mînem herzen sî: | ich getar ir leider niht gesehen (Dietmar von Aist KAS 27,2, V. 7–8 / MF 34,19, II). Im Gegensatz zu dem innerlich-heimlichen Schauraum ist der öffentliche Raum als Ort des Redens konstituiert. In ihm wird der Blick des Sänger-Ich durch das Reden der Gesellschaft geleitet: Dô ich dich loben hôrte, dô het ich dich gerne erkant. | durch dîne tugende manige fuor ich ie wallende, unz ich dich vant (Meinloh von Sevelingen KAS 18,1, V. 1–2 / MF 11,1, I). Aber oft bleibt das Auge in dem spracherfüllten Raum leer: sô si mîn ouge niht ensiht, daz sint dem herzen vil leidiu mære. ir tugende die sint valsches vrî, des hœre ich ir die besten jehen. (Dietmar von Aist KAS 27,2, V. 3–6 / MF 34,19, II)
Die Unsichtbarkeit der diskursiv präsenten Minne (daz diu werlt heizet minne [KAS 53,3, V. 1 / MF 52,37, III]) bringt Friedrich von Hausen dann fast schon concettistisch ins Spiel, um darüber die Minne grundsätzlich anzuzweifeln:
12 Die Texte werden hier und im Folgenden nach KAS oder WACH zitiert, Walther von der Vogelweide nach L/COR.
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getorste ich es jehen, daz ich ez hete gesehen, dâ von mir ist geschehen alsô vil herzesêre, sô wolte ich dar an gelouben iemer mêre. (KAS 53,3, V. 5–8 / MF 52,37, III)
Es braucht die personifizierende Imagination der Minne als Objekt des Begehrens und Subjekt von Gewalt mit gefährlich-zerstörerischen Augen, um eine Sichtbarkeit zu evozieren, über die sie sich in dem als wân bezeichneten Ideal, daz ich in der werlte bezzer wîp iender funde (KAS 53,2, V. 4 / MF 52,37, II), regelrecht verkörpern kann. Der passionierte Blick des Mannes als ein ins Imaginäre gewendeter Blick wird öffentlich als Leerstelle ersichtlich und beweist gerade darüber die Minne als ein sich in wân öffnendes Begehren (vgl. Friedrich von Hausen KAS 58 / MF 48,23). Damit aber die Leere im Blick zu einem Raum der Interaktion, wenn nicht der heimlichen Vertrautheit werden kann, braucht es einen poetischen Sprechakt des Ich: Sol daz sîn dîn huote, daz dîn ouge mich sô selten siht? tuost du daz ze guote, sône wîze ich dir dar umbe niht. sô mît mir daz houbet, daz sî dir erloubet, und sich nider an mînen fuoz, sô du baz enmugest: daz sî dîn gruoz. (Walther KAS 168,2 / L 50,19, II)
Öffentliche Sichtbarkeit kann so zu einem Mittel des Verbergens werden (vgl. → Der von Kürenberg KAS 17,6 / MF 10,1).13 Damit konstituiert sich der Raum der Minne als ein für die Öffentlichkeit unsichtbarer Raum, der über die Sprache aber gerahmt werden kann. Und genauso wird auch die Frau, das Minneobjekt, nur durch die Rede des Ich in die Sichtbarkeit gebracht: ich setze ir minneclîchen lîp | vil hôhe in mînen werden sanc (Walther KAS 171,1, V. 3–4 / L 53,25, I). Entsprechend entwickelt sich genau auf dieser Grenze von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit das Singen als Sprach- und Liebeskunst.
3 Zeit Die Leere der visuellen Präsenz im Raum kann durch eine Verzeitlichung des Blicks gefüllt werden. Es sind die Erinnerung und die Sehnsuchtsspannung der Zukunftshoffnung, die den direkten Blick im Lied ermöglichen. Im Modus des Erinnerns oder des Erhoffens kann sich der Liebesmoment als ein präsentisches Geschehen in einem distanzierten Raum der Sichtbarkeit realisieren. Damit ist die Liebespräsenz immer 13 Vgl. dazu Schnyder 2008.
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schon aus der Gegenwart ausgegrenzt, nur noch über Worte, Reime, Assoziationen und dann auch intertextuelle Vernetzungen evoziert: Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was, dâ mugent ir vinden schône beide gebrochen bluomen unde gras. (Walther KAS 160,1, V. 1–6 / L 39,11, I)
Über die Zeitstruktur eröffnen sich Sehnsuchts- und Erinnerungsräume für ein Minnegeschehen, auf das sichtbare Zeichen verweisen können, deren Lektüre aber immer in imaginäre, sich dem Jetzt entziehende Räume führt.14 Aber auch in diesen entziehen sich die intimen Liebesmomente einer präsentierenden Visualisierung und bleiben ein unausgesprochenes surplus, ein mê: der ougenweide was dâ mê (Walther KAS 179,2, V. 4 / L 75,25, II), sô wæne ich mê beschowet hân (Walther KAS 171,5, V. 4 / L 53,25, V). Dagegen zeigt sich die unerfüllte Liebe deutlich im Jetzt, z. B. in den Augen des Minnenden: seht, des belîbe ich fröidelôs, | und wirt an mînen ougen schîn (Dietmar von Aist KAS 27,3, V. 7–8 / MF 34,19, III) oder an seiner Kommunikationsunfähigkeit: ich kom sîn dicke in sô grôze nôt, daz ich den liuten guoten morgen bôt engegen der naht. ich was sô verre an si verdâht, daz ich mich underwîlent niht versan, und swer mich gruozte, daz ich sîn niht vernan. (Friedrich von Hausen KAS 55,1, V. 5–10 / MF 45,37, I)
Meistens aber verbalisiert sich der Herzenskummer im Lied: Mit sange wânde ich mîne sorge krenken (Rudolf von Fenis KAS 64 / MF 81,30). Im Gegensatz zum Kummer des Minnenden, der sich in der Regel im Lied versprachlicht, visualisiert sich die Liebe der Frau (mit Ausnahme der → Frauenlieder) auf ihrem Körper: als Erröten (vgl. Der von Kürenberg KAS 17,2 / MF 8,17) oder als von Sehnsucht beeinträchtigte Schönheit: War kan iuwer schœner lîp? wer hat iuch, sælic vrouwe, den benomen? ir wâret ein wunneclîchez wîp, nu sint ir gar von iuwer varwe komen. (→ Reinmar KAS 154,1, V. 1–4 / MF 195,37, I)
14 Huber (2009, 98) spricht von einem „Ungenügen an der verkörpernden Visualierung im Wort“.
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4 Gesellschaft Es gehört zum öffentlich-höfischen Habitus, dass Frauen betrachtet werden, und kann so, als vrouwen schouwen, zum kollektiven Unternehmen der potenziellen Minner werden: Hartmann, gên wir schowen | ritterlîche frowen (→ Hartmann von Aue KAS 96,1, V. 3–4 / MF 216,29, I). Denn Gott hat die Frau für das Auge des Mannes geschaffen: wan durch schouwen | sô geschuof sie got dem man (Morungen KAS 114,3, V. 3–4 / MF 136,25, III). So ist der Blick auf die Frau öffentlich-höfischer Gestus der vröide: Swâ ein edeliu frowe schœne, reine, wol bekleit und dar zuo wol gebunden, dur kurzewîle zuo vil liuten gât, […] waz ist dâ sô wunneclîchez under, als ir vil minneclîcher lîp? wir lâzen alle bluomen stân, und kapfen an daz werde wîp. (Walther KAS 163,2 / L 45,37, II)
Der begehrende Blick ist damit aber gebunden, in die Distanz gedrängt und verallgemeinert. Gleichzeitig ist der Blick des Minners über die öffentlich-höfische Rede evoziert und geleitet und führt bestätigend dann wieder in diese zurück: Der Augenschein bekräftigt, was man sich erzählt (vgl. Meinloh von Sevelingen KAS 18,1 / MF 11,1). Den direkten Blick der Frau kann der Minner jedoch nur erhoffen, darauf warten, wie die Vögel auf den Tag: unde warte der frouwen mîn | rehte als des tages diu kleinen vogellîn (Morungen KAS 103,2, V. 6–7 / MF 126,8, IV). Der Blick der Frau ist so als Anfang und Anlass des Sangs thematisiert und ihr (An-)Blick außerhalb höfischer Kommunikation in den Kontext eines (zum Teil mythisierten) Naturgeschehens gestellt. Und so wird er gefährlich. Nicht nur entzündet der Blick der Frau den Minnenden: Mich entzündet ir vil liehter ougen schîn, | als daz fiur ein türre zunder tuot (Morungen KAS 103,3, V. 1–2 / MF 126,8, III), sondern auch der Anblick ihrer Schönheit fasziniert gefährlich: Ir schœnen lîp hân ich dâ vor erkennet, | er tuot mir als der fiurstelîn daz lieht (Rudolf von Fenis KAS 64,5, V. 1–2 / MF 81,30, V). Die Wirkung des Blicks der Frau ist die von Tristans Minnetrank (vgl. Bernger von Horheim KAS 70 / MF 112,1; Reinmar von Zweter WACH 4) und ihre Schönheit hat die Kraft eines mythischen Zaubers: Von der elbe wirt entsehen vil manic man, alsô wart ich von grôzer liebe entsên von der besten, die ie dehein man liep gewan. (Morungen KAS 103,1, V. 1–3 / MF 126,8, I)
So wird der Moment einer direkten Wahrnehmung oder sogar eines Blickwechsels, wenn sich die in Hoffnung und Erinnerung auf Distanz gehaltene Minnepräsenz im Gegenwärtigen ereignet, zum Moment einer Implosion der im Sang gebannten Begehrensspannungen: Nicht nur verliert der Sänger/Minner seine Sprache und seinen Willen (vgl. Reinmar KAS 126 / MF 153,14; Reinmar KAS 133 / MF 163,23), sondern er
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wird von der Frau um den Verstand gebracht (vgl. → Heinrich von Veldeke KAS 32 / MF 56,1). Während der Blick des Minners einer gesellschaftlichen Erwartung entspricht und in eine öffentlich-höfische Ordnung eingebunden ist, ist der begehrende Blick der Frau nicht Teil eines kollektiv-öffentlichen Handelns, in seiner Vereinzelung aber gerade machtvoll und wirksam. Es ist das Auge der Frau, das aktiv den Geliebten wählt (vgl. Meinloh von Sevelingen KAS 18,11 / MF 13,27; Dietmar von Aist KAS 25 / MF 37,4). Entscheidend ist dabei aber, dass es nicht das Ich der Frau ist, das wählt, sondern die Gewalt wird an den Blick abgegeben: mir erwelten mîniu ougen ist die topische Formulierung. Damit ist der begehrende Blick der Frau nicht als ein öffentlich-höfischer Habitus gezeigt, sondern wird zum Instrument eines über das Auge wirkenden Affekts. Ist der begehrende Blick des Mannes Teil einer höfisch-öffentlichen Ordnung, ist der begehrende Blick der Frau Teil einer affektiven Un-Ordnung. Entsprechend wird er über die Metaphorik in Bereiche gesetzlosen Handelns wie Raub, Mord, Magie gestellt (vgl. Morungen KAS 107 / MF 130,9). Und es ist dieser Blick der Frau, in dem sich der gesellschaftlich gehaltene Blick des Mannes im Affekt verliert und die ordnende Rede in einem Chaos der Dunkelheit, Selbstvergessenheit und Undifferenziertheit verstummt (vgl. Morungen KAS 112 / MF 135,9; Reinmar KAS 126 / MF 153,14; Reinmar KAS 133 / MF 163,23). Die Möglichkeit der Grenzüberschreitung, die sich über den affektgeladenen Blick der Frau öffnet, bedroht sowohl – als Sprachverlust – das Ich des Sängers wie – als Zurückweisung – das Ich des Minnenden (vgl. Heinrich von Veldeke KAS 32 / MF 56,1; Hartwig von Raute KAS 74 / MF 117,26). Die realisierte Grenzüberschreitung aber, das präsentische Minnegeschehen, in dem das Begehren stillgestellt ist, entzieht sich der visualisierenden Darstellung. Da, wo sich die Liebenden finden, wo eine gelingende Vereinigung stattfindet, ist die Sichtbarkeit gestört durch verschwimmende Linien und eine identifizierende Verschmelzung von Ich und Du in der spiegelnden Pupille: Ir houbet ist sô wünnenrîch, als ez mîn himel welle sîn. wem möhte ez anders sîn gelîch? ez hât ouch himeleschen schîn. dâ liuhtent zwêne sternen abe, dâ müeze ich mich noch inne ersehen, daz si mirz alsô nâhe habe! sô mac ein wunder wol geschehen: ich junge, und tuot si daz, und wirt mir gernden siechen seneder sühte baz. (Walther KAS 171,2 / L 53,25, II)
Dabei kommt es nicht nur zu einer Entdifferenzierung von Ich und Du in der die Sichtbarkeit störenden Nähe, sondern auch zu einer Aufhebung zeitlicher Logiken im kleinen Spiegel-Bild in der Pupille der Frau:
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Ir spiegelliehten ougen clâr, sold ich die mit gewalt an sehen, sô swüere ich wol, daz mir gewüehse niemer grâwez hâr. (→ Gottfried von Neifen WACH 5,3, V. 5–7)
Auch da zeigt sich deutlich: Gelingende Liebe schließt die visuelle Präzision, ja die Visualisierung per se aus. Liebe ist blind und macht blind. Nicht nur findet sie in der Dunkelheit der Nacht statt: naht was ez dô | mit drucken an die bruste dîn kus mir in an gewan (Wolfram von Eschenbach KAS 216,3, V. 9–10 / MF 4,8, III), sondern selbst mit Licht ist das Bild der Vereinigung nicht visualisierbar, jedem Maler zu schwer: swelh schiltær entwurfe daz | geselleclîche als si lâgen, des wære ouch dem genuoc (Wolfram von Eschenbach KAS 215,3, V. 7–8 / MF 3,1, III). Es ist diese Unsichtbarkeit, die die in Blickordnungen sich konstituierende soziale Ordnung bedroht. Während die öffentlichen Blicke von der Sprachmacht des Sänger/ Minner-Ich oder einer öffentlichen Rede bestimmt und geleitet sind, verstummt in diesen unsichtbaren Momenten jede Rede. Entsprechend ist es das Interesse der Gesellschaft, diese Momente in die Sichtbarkeit zu ziehen und damit zu (zer)stören. Die huote der Frau, als Verhinderung möglicher Liebeserfüllung, wird so nicht nur zum Motor des Begehrens, sondern auch Bedingung einer Verbalisierung und Visualisierung in der Öffentlichkeit. Die merkaere, die Beobachter und Neider, die Aufpasser und Störenfriede, versuchen mit ihren Blicken, diese aus der Ordnung fallenden Momente, die magisch-affektiv und mythisch-mächtig das gesellschaftliche Subjekt bedrohen, in die Sichtbarkeit und damit in die Sprache und Kommunikation zu ziehen. So sind es die gestörten Vereinigungen, die in der Distanz sich ergebenden Begehrensspannungen, über die sich die sozialen Netzwerke und Ordnungen in der Sichtbarkeit festigen und in der Sprache legitimieren.
5 Kosmos Während der Blick der Frau als Instrument des überwältigenden und die Sprache zerstörenden Affekts den Mann erwählt, wählt der Sänger die Frau als Objekt seines Sangs (vgl. Walther KAS 171 / L 53,25). Damit aber macht er sie erst zum Objekt des Begehrens, zum Kunstwerk, das zu beschreiben ist und das im Augenblick des Singens auch entsteht: singen und minnen bedingen sich nicht nur gegenseitig, sondern sind in Bezug auf den Sänger manchmal fast synonym gesetzt. So sagt Morungen: wan ich dur sanc bin ze der welte geborn (Morungen KAS 109,1, V. 7 / MF 133,13, I), aber auch: wan ich wart dur si und durch anders niht geborn (Morungen KAS 111,2, V. 6 / MF 134,14, II). Im Blick auf die Frau erschließt sich so auch eine poetische Ordnung, die sich über ihre Schönheit als göttlich erweist: Die ich mit gesange hie prîse unde krœne, | an die hât got sînen wunsch wol geleit (Morungen KAS 119,3, V. 1–2 / MF 140,32, III). Die ins Detail zielende Ekphrasis des Frauenkörpers begründet sich so in dessen göttlichem Ursprung:
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Ich sihe wol, daz got wunder kan von schœne würken ûz wîbe. daz ist an ir wol schîn getân, wan er vergaz niht an ir lîbe. (Friedrich von Hausen KAS 59,1, V. 1–4 / MF 49,37, I)
Und entsprechend finden sich in Natur und Himmelskosmos Deutungsmuster für die Frauenschönheit. Doch konstituiert sich in dieser Beschreibungskunst auch eine Distanz, deren Problematik mit thematisiert wird. Das ins Lied gesetzte Wunderwerk entzieht sich gerade über diese Idealisierung: Wâ ist nu hin mîn liehter morgensterne? wê, waz hilfet mich, daz mîn sunne ist ûf gegân? si ist mir ze hôh und ouch ein teil ze verne gegen mittem tage unde wil dâ lange stân. (Morungen KAS 111,3, V. 1–4 / MF 134,14, III)
Das Kunstwerk bringt so den Minner/Sänger, als seinen Schöpfer, ins Unglück: owê waz lob ich tumber man? mache ich mir si ze hêr, vil lîhte wirt mînes mundes lop mîns herzen sêr. (Walther KAS 171,3, V. 8–10 / L 53,25, III)
Gleichzeitig dient die visualisierende Erschaffung des Frauenkörpers auch wieder dazu, den Rahmen zu bilden für eine Erotik, die mit den Grenzen der zuht spielt, indem sie explizit Leerstellen schafft, den Blick des Publikums auf blinde Flecken lenkt, deren visuelle Leere sich in Räume der Imagination öffnet. So schlägt der Moment der ekphrastischen Kreation immer da in eine verschwiegene Erinnerung oder eine unerreichte Vorstellung um, wo die Grenze der zuht erreicht ist und die Nacktheit und sexuelle Erreichbarkeit thematisiert werden könnten. Der vage erinnerte Blick auf die nackte Frau bricht deren im Text konstituierte (höfische) Erscheinung auf, stellt sie aber auch – über Metaphorik und Intertextualität – in die größeren Kontexte kultureller Imaginationen oder vor allem auch natürlicher Prozesse und Ordnungen. Momente einer Transgression oder Störung der zuht können so bestätigend in kulturelle und natürliche Ordnungen eingebunden werden, wie wenn z. B. Walther den Blick auf Bathseba im Bade aufruft: si sach mich niht, swie si mich schôz, daz mich noch stichet als ez stach, swanne ich der lieben stat gedenke, dâ si reine ûz einem bade trat. (Walther KAS 171,5, V. 7–10 / L 53,25, V)
Dabei fällt auf, dass sich der Blick auf die Frauenschönheit im späteren Sang auf die Natur verschiebt, um in deren Fülle respektive Leere – unabhängig vom begehrten Objekt – die eigene Liebesempfindung zu spiegeln oder einen metaphorischen Raum zu finden für konkretes Liebesgeschehen:
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wir suln schouwen vor den ouwen maneger hande bluomen brehen. (→ Neidhart WACH 7,2, V. 4–6)
Was früher der wân war, die in die Imagination verschobene Liebeshoffnung, ist später das Naturbild, als Affekt-Szenerie mit dem Signalwort ougenweide (Neidhart WACH 1,1, V. 3; Der Tannhäuser WACH 2, V. 4). Gleichzeitig verkörperlicht sich das Liebesgeschehen in den Dingen und der Blick wird regelrecht haptisch: Swen ie beruorte ir ougen swank, | was der frô, der sol des danken (→ Burkhard von Hohenfels WACH 1,5, V. 1–2). Es kommt zu einer Dynamisierung der Bilder, in deren Bewegung die Körperlichkeit sich detaillierter präsentiert und im Lied Verborgenes, das Unsichtbare und Unsagbare des Hohen Sangs, als Erotikon aufscheint: Nu tanze eht hin, mîn süezel! sô hol, sô smal sô wurden nie kein füezel. swem daz niht gevellet, daz wizzet, der enhât niht guoter sinne. Wîz sint ir beinel, lindiu diehel, reitbrûn ist ir meinel, ir sitzel gedrolle. swes man an frouwen wünschen sol, des hât si gar die volle. (Tannhäuser, Gên disen wîhennahten, WACH 4,3, V. 5–12)
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Beate Kellner
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1 Kontinuierliche Dauer der Werbung und des Sangs Zeit kommt im Minnesang, und zwar gleichermaßen im Hohen und im Späteren Sang, häufig als Dauer in den Blick, als langer Zeitraum eines unerfüllt bleibenden Minnedienstes.1 Zumeist wird der Beginn der Minnebindung nicht in besonderer Weise als Ursprung der Liebe ausgezeichnet, doch gelegentlich wird erwähnt, dass es einen Zeitpunkt gegeben habe, an dem das Ich die Dame zum ersten Mal gesehen und zu seiner Geliebten erwählt habe oder an dem es zu einer ersten Gunstbezeugung gekommen sei.2 Der überwiegenden Darstellung der Sänger nach besteht die Minnewerbung ‚immer schon‘ und soll auch in einer sich in unbestimmte Ferne dehnenden Zukunft ‚immerfort‘ aufrechterhalten bleiben (vgl. z. B. → Heinrich von Morungen MF 123,10, I, V. 4: iemer mê).3 Der Liebende will der Dame alle seine Tage, alle seine Jahre, sein ganzes Leben zu eigen geben und betont mitunter sogar, dass bereits seine Geburt im Zeichen der Liebe zur Dame gestanden habe.4 Bei → Hartmann von Aue wird der Eindruck einer endlosen Zerdehnung der Zeit im Minnedienst im Lied Mîn dienst der ist alze lanc (MF 209,5) sprachlich durch die Stilfigur der Anadiplose besonders nachdrücklich zum Ausdruck gebracht: sît ist mir gewesen vür wâr | ein stunde ein tac, ein tac ein woche, eine woche ein ganzez jâr (I, V. 9–10).5 Wenn vom ende der Liebesbeziehung die Rede ist (vgl. Morungen MF 145,1, IV, V. 5–7), dann ist dies zumeist nicht primär zeitlich gedacht, sondern als das ferne und unerreichbare Ziel der Liebeserfüllung. Ein zeitliches Ende des Dienstes darf es zumindest nach den Idealen der Hohen Minne im Leben des Minners und Sängers nicht geben, entsprechend ist dieses tabuisiert. Zeitliche Grenzen der Minnebindung kommen allerdings dann in den Blick, wenn die Minner und Sänger über ihren Tod
1 Vgl. zum Folgenden Baumgarnter und Kellner 2014, 201–224; Kellner 2018, 301‒392, und die dort verzeichnete Forschungsliteratur. 2 Vgl. z. B. Meinloh von Sevelingen MF 13,1, V. 2; Morungen MF 130,31, I, V. 1‒2; MF 134,14, II, V. 1‒2; MF 138,17, IV, V. 1‒2. 3 Der Gedanke erfährt vielfache Variation im späten Sang. Vgl. stellvertretend für andere z. B. Gottfried von Neifen KLD 20,2, V. 1–4. 4 Vgl. Reinmar der Alte MF 159,1, II nach b, V. 7–9; V nach b, V. 1‒2; MF 171,32, IV, V. 1; V, V. 4–6; Reinmar MF 170,36, II, V. 3; MF 170,1, I, V. 5; Morungen MF 134,14, II, V. 6‒7; MF 136,1, II, V. 1–3; Walther L 120,16 / MF 214,34, IV, V. 2; Burkhard von Hohenfels KLD 6,5, V. 6; Leuthold von Seven KLD 2,1‒3; Von Sachsendorf KLD 7,3, V. 4. 5 Vgl. komplementär dazu die Formulierungen beim Wilden Alexander KLD 6,5, V. 1‒2: Mir wære ein jâr alsam ein tac | swen ich bî liebe wære; und bei Ulrich von Singenberg SMS 12,5, V. 7‒8: Nu lâ mich, frowe, varn mit dînen hulden! | mir wære ein jâr ein tac bî dir von schulden. https://doi.org/10.1515/9783110351859-024
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reflektieren (z. B. Morungen MF 138,17, V, V. 5).6 Doch selbst die Vorstellung vom eigenen Tod kann im Zeichen des Wunsches der Sänger nach einer Fortsetzung des Minnedienstes im Jenseits überschritten werden (vgl. bereits Meinloh von Sevelingen MF 13,1, V. 6‒7: sturbe ich nâch ir minne | und wurde ich danne lebende, sô wurbe ich aber umbe daz wîp; und besonders Morungen MF 147,4). Indem derartige Beispiele das Begehren sichtbar machen, den Minnedienst über das irdische Leben hinaus zu verlängern, zeigen sie ein Spiel mit der Temporalität und den Grenzen von Immanenz und Transzendenz. Als Garanten der Kontinuität der Liebe und als ethischer Ausdruck der Minnewerbung werden Beständigkeit (stæte) und Treue (triuwe) der Sänger in den Liedern vom frühen bis zum späten Minnesang beteuert (vgl. z. B. → Reinmar MF 172,23; Hartmann von Aue MF 211,27; → Walther von der Vogelweide L 96,29). Aus der Spannung zwischen kontinuierlichem Minnedienst und gleichzeitiger Perspektivenlosigkeit des Werbens wird nicht nur großes Reflexionspotential gewonnen, sondern es wird auch die Statik der erfolglosen Werbung immer wieder dynamisiert. 7 Dies gilt auch für die Temporalität der Sprechhaltung in den Kanzonen, die sich mit Klaus Hempfer als „Performativitätsfiktion“ bestimmen lässt.8 Die Situationen, auf welche sich die Sprechakte der Sänger beziehen, entstehen der Inszenierung der Lieder nach im Sprechen, sodass es „eine gemeinsame hic-et-nunc-Deixis für das Sprechen und die im Sprechen entworfene Situation gibt“9. D. h., wovon gesprochen wird, ereignet sich gewissermaßen im Sprechen, woraus sich die „Simultaneität bzw. Koinzidenz von Sprechsituation und besprochener Situation“ ergibt.10 Im schriftlichen Text ist diese notgedrungen immer eine durch Nachträglichkeit gekennzeichnete Fiktion.
2 Wandel und Zyklik Während Aspekte und Möglichkeiten der Liebesfreude im frühen Minnesang auf den ersten Blick öfter begegnen, entspricht der langen Dauer der Werbung im Hohen Sang das Leid (swære, nôt, leit), welches das Leben des Werbers in all den Jahren und Tagen seines Dienstes bestimmt und dessen ästhetischer Ausdruck die Klage ist. Doch indem die Sänger zu erkennen geben, dass ihnen immerhin Momente des Glücks als Quelle der Hoffnung zuteilwerden, wird deutlich, dass es trotz aller swære auch in der Hohen 6 Der Begriff des ‚Sterbens‘ wird überdies zumeist zur Illustration der Drastik des Liebesleids benutzt. Vgl. aus der Fülle der Beispiele folgende prägnante Formulierungen: Heinrich der Rost: Bezzer waere mir ein sterben | danne lebende verderben (SMS 2,1, V. 5‒6), und Der Püller (KLD 2,2, V. 1–3): Ich muoz werben umbe ein sterben, | troestet mich diu liebe niht enzît, | diu mich toetet. 7 Vgl. die Ansätze bei Köbele 2009, 289–317; Kellner 2018, 75‒186. 8 Vgl. Hempfer 2014, 30–45, bes. 31. 9 Hempfer 2014, 31. 10 Hempfer 2014, 32.
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Minne einen zeitlichen Wandel von Dysphorie und Euphorie gibt, der grundlegend für ein Liebeskonzept der Hohen Minne ist, in dem Liebe und Leid als Einheit gedacht werden und in dem keine teleologische Entwicklung vom Leid zur Freude und zum Glück als Endzustand erfolgen kann (→ Minnekonzepte und semantische Felder). Die statische Vorstellung der Zeit, die den Gedanken des endlosen Minnedienstes bestimmt, wird solchermaßen immer wieder relativiert. Dies zeigt sich auch besonders an den inszenierten Erinnerungen an vergangene Ereignisse und Zuwendungen durch die Dame, den gedanklichen Antizipationen eines möglichen Glücks in der Zukunft, den → Imaginationen von Freude und den Reflexionen auf Veränderungen und mögliche Fortschritte im Verhältnis zur Dame. Diese erlauben den Sängern ein Ausschweifen in Raum und Zeit und geben ihnen die Möglichkeit zur Dynamisierung von Zeit sowie zur gedanklichen Verbindung der Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.11 Das Auf und Ab der Liebe kann in den Liedern auch in der Zyklik der Jahreszeitenfolge gespiegelt sein. Ebenso bildet der Wechsel der Tageszeiten Liebe und Leid auf der Zeitachse ab. In einer Reihe von Liedern wird die Minnebindung in der Relation auf diese natürlichen Ordnungen der Zeit bestimmt. Sie gliedern die Zeit der Werbung, setzen aber keine Anfangs- oder Endpunkte, sondern verstärken den Eindruck der Dauer. Leid und Freude können sich immer wieder abwechseln wie Sommer und Winter oder wie Tag und Nacht. Den Rekursen auf die Abfolge der Jahreszeiten liegt das für die volkssprachliche Literatur im Mittelalter leitende Wissen um die Zweiteilung des Jahres zugrunde, das in der Literatur, wie Jan-Dirk Müller herausgestellt hat, zum Kunstprinzip stilisiert worden ist.12 In der Minnelyrik tritt dementsprechend neben die Vorstellung vom Gleichklang zwischen Affekt und Jahreszeit jene von ihrer Dissonanz. So können Sommerfreude und Liebe harmonieren, doch der Sommer kann umgekehrt auch im Kontrast zur Trauer des Minners und Sängers stehen. Ebenso kann dem liebesfeindlichen Winter der Kummer entsprechen, doch gilt jener mit seinen langen Nächten auch als Chance für Minne und Freude.13 Während die Sänger im frühen und auch im späten Minnesang häufig auf die Topik der Jahreszeiten zurückgreifen und diese bei manchen Sängern wie → Neidhart oder → Gottfried von Neifen so regelmäßig vorkommt, dass sie zum prägenden Stilmerkmal wird,14 tritt sie im Hohen Sang auffällig zurück.
11 Vgl. dazu Bleumer und Emmelius 2011. 12 Grundlegend dazu Adam 1979; Müller 1995, 29–47; vgl. dazu die ausführliche Kritik von Eder 2016, 341–360. Siehe auch die lange wirkmächtigen Ausführungen von Curtius 1942, 219–256, und Curtius 1965, 191–206. 13 Vgl. Lieb 2000, 121–142; Lieb 2001, 183–206; Köbele 2003, 47–116; Wachinger 2011, 67–95; Philipowski 2011, 85–119; Eder 2016; Kellner 2018, 314‒354. 14 Vgl. zu Neidhart besonders Bleuler 2008 und Bleuler 2013, 123–146.
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Sieht man von Heinrich von Rugge und → Heinrich von Veldeke ab, hat man geradezu von einer Ausblendung der Jahreszeitentopik gesprochen.15 Demgegenüber gibt es aber dennoch im Hohen Sang eine Anzahl von Liedern, in denen die Sänger vor der Folie der sich wandelnden Jahreszeiten zumeist das eigene Recht und die eigene Zeit der Minne betonen.16 Der Akzent liegt hier besonders auf der Abgrenzung des menschlichen Innenraums gegen ein Außen der Natur und auf der Reflexion innerer Vorgänge (vgl. z. B. Morungen MF 140,32). Indem die Endlosigkeit und Monotonie des Dienstes dem Wandel in der Natur entgegengesetzt werden, können die Sänger über die Zeitsemantik auch die Virtuosität ihrer Werbung betonen und deutlich machen, dass sie in ihrer stæte die sich wandelnde Natur übertreffen. Die Schwere des Kummers, Verlust und Tod des Geliebten (vgl. etwa Reinmar MF 167,31; Hartmann MF 217,14) können zudem deutlich machen, wie wenig Trost im Rhythmus der Natur zu finden ist. Mitunter entlarven die Sänger über die Kontrastierungen mit der Zeit der Natur auch den Leerlauf und die Absurdität ihres nicht enden wollenden Dienstes. Poetologisch kann vor der Folie der natürlichen Zeitordnung besonders die Freiheit des Sangs betont werden, der im Unterschied zu den Naturlauten des Vogelsangs nicht an die Rhythmen der Natur gebunden ist (z. B. in Wolframs von Eschenbach MF 7,11). Gleichzeitig versuchen die Sänger aus dem Wandel der Natur abzuleiten, warum auch sie im Hier und Jetzt ihres Sangs ein ‚Naturrecht‘ auf Liebe und Freude haben (z. B. Walther L 51,13). Mit hohem rhetorischem Aufwand, ernsthaft oder im Scherz, werden die zeitlichen Veränderungen der Natur wieder und wieder zum Argument, um die verehrten Damen rhetorisch zur Liebe zu bewegen. Bereits im Hohen Sang und verstärkt im späten Sang wird mit der Jahreszeitentopik (→ Natur und Natureingang) gespielt und experimentiert (Walther L 75,25; vgl. die Corpora von → Gottfried von Neifen, → Konrad von Würzburg, Ulrich von Winterstetten und Neidharts → Sommerund Winterlieder). Dies zeigt sich in den Modellierungen und Semantiken von Zeit ebenso wie rhetorisch-argumentativ und formal auf der klanglichen Seite der Lieder (→ Form- und Klangkunst). Dominiert in den Kanzonen zumeist die swære des Liebenden, die für jenen nur zu verkraften ist, wenn sie gelegentlich von Freude durchbrochen wird, so zeigen die → Tagelieder den Wechsel von Freude und Leid im Rhythmus von Tag und Nacht. Die Schwellensituation der erzwungenen Trennung von Liebenden bei Anbruch des Tages nach gemeinsam verbrachter Nacht wird in ihrer besonderen Zeitlichkeit in den Liedern in der Spannung von Liebesfreude und Trennungsschmerz vom Frühen bis zum späten Sang je aufs Neue reflektiert und in neuen Varianten dynamisiert. Im Blick auf Temporalität ist in den Tageliedern nicht nur der Wechsel von Tag und Nacht von Interesse, sondern auch der herausgehobene Augenblick. Insbesondere in den Tageliedern Wolframs verbinden sich Vereinigung und Trennung, Liebesschmerz
15 Vgl. Lieb 2001, 189–194, mit Zahlen und Auswertungen dazu. 16 Vgl. Kellner 2018, 314‒337.
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und Liebesfreude, im exzeptionellen Moment des urloup-Nehmens (vgl. besonders MF 3,1; MF 4,8). In der Intensität der Liebe im Angesicht der Trennung kann die Zeitlichkeit des Morgens momenthaft ausgeblendet werden und die Liebe sich auch hier nochmals einen ganz eigenen Raum und eine eigene Zeit schaffen. Die Vorstellung der Exzeptionalität, die sich mit dem urloup-Nehmen verbindet, steht dabei häufig in Spannung zum Gedanken des wiederholten Beisammenseins der Liebenden (vgl. auch → Ulrich von Liechtenstein KLD 40,1, V. 7). Die Affektkonstellationen der Tagelieder sind den Umschlägen von Leid und Freude in den Kanzonen in vielen Fällen nicht so fremd, wie es zunächst vielleicht scheinen könnte,17 doch werden sie auf der Zeitachse anders veranschlagt.18 Dazu kommt der poetologisch wichtige Unterschied, dass das für die Kanzonen typische Sprechen aus der Präsenz, in dem der Sprecher den Eindruck erzeugt, dass das, worüber er spricht, sich gerade eben im Hier und Jetzt entfaltet, in den Tageliedern von einer Tendenz zur rückblickenden Rede und zur Episierung verdrängt wird, was durch die Einführung einer ‚Erzählerinstanz‘ unterstützt werden kann.19 Wie die Temporalität der Erzählerrede sich von jener der Figurenrede des Tageliedes (Mann, Frau, Wächter oder andere dritte Instanzen) unterscheidet, ist von Fall zu Fall zu betrachten. Insgesamt stellt es noch immer ein Desiderat der Forschung dar, Tagelieder und Kanzonen (unter Einschluss der → Frauenlieder) hinsichtlich ihrer Temporalität vergleichend zu untersuchen.
3 Alter und Verfall, Wegziehen und Aufkündigungen des Minnedienstes Gegenläufig zur Inszenierung einer vermeintlichen ‚Ewigkeit‘ des Sangs wird in einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Liedern auch mit dem Ende des Sangs und der Verweigerung des Minnedienstes gedroht. Dass Aussagen, künftig nicht mehr weitersingen zu wollen, in der Performativität des Weitersprechens über Liebe und Sang bereits wieder unterlaufen werden, ist ein wesentliches Merkmal dieser Formen lyrischen Sprechens (vgl. z. B. Walther L 48,12). Die Simultaneität von Dienstaufsagen, Sangesverweigerung und gleichzeitigem Sang ist als performativer Widerspruch in der Mündlichkeit von Liedvorträgen besonders schlagend, doch auch bei der Rezeption als Schrifttext bleibt sie als Gestus mündlicher Inszenierung virulent. Besonders im frühen Sang ist öfter vom Wegziehen des Geliebten und von der Trennung der Liebenden die Rede (z. B. → Der von Kürenberg MF 8,33; MF 9,13; 17 Vgl. die Anstöße bei Cormeau 1992, 695‒708. 18 Zu Aspekten von Zeit und Zeitlichkeit siehe Goheen 1990, 41–53; Kellner 2018, 301‒391. 19 Vgl. dazu den Überblick bei Ranawake 2003, 577–580, mit umfassender Dokumentation der Forschung.
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MF 9,29). Doch es gibt auch eine Reihe von inszenierten oder angekündigten Minneabsagen im Hohen Sang, denn nicht selten wird auch hier mit Dienstaufkündigung gedroht. Dabei kann das in der Hohen Minne eigentlich ausgeblendete zeitliche Ende der Minnebindung thematisch werden, wie z. B. in Walthers Lied Mîn frowe ist ein ungenædic wîp (L 52,23). Der Sänger bedauert hier das Vergeuden von Lebenszeit im Minnedienst und erteilt seiner frowe die Quittung, indem er die Absicht bekundet, wegzuziehen und in fremden Ländern nach anderen Frauen fragen zu wollen. Das Lied lässt sich damit auf die in der Romania verbreitete Subgattung der chanson de change beziehen (vgl. etwa auch Walther L 70,22).20 Lieder, in denen das Verfließen der Zeit im Sinne einer Verschwendung von Lebenszeit im Minnedienst thematisiert wird oder die das Altern von Minner und Dame reflektieren, brechen explizit mit Tabus. Sie konterkarieren die Vorstellung von der Zeitlosigkeit der Dame und der Ausblendung des Alterns. Demgegenüber bringen sie über die Kategorien von Kreatürlichkeit, Vergänglichkeit und Tod andere Formen von Temporalität ins Spiel.21 Wenn Reinmar etwa in dem Lied Sô vil sô ich gesanc nie man (MF 156,27) auf sein Altern eingeht (Ich alte ie von tage ze tage; II nach A, V. 1),22 wird dem Gedanken des lebenslangen Dienstes zwar nicht grundsätzlich eine Absage erteilt, aber er wird doch über die anklingenden Vorstellungen von Altern, Zeitverschwendung und Minnetorheit relativiert und gebrochen (vgl. z. B. auch Gottfried von Neifen KLD 1,2, V. 7‒8). Im Sumerlatenlied Walthers von der Vogelweide (L 72,31) werden nicht nur das Vergehen der Zeit und das Alter des Sängers, sondern auch jenes der Dame zum Thema gemacht. Der Sänger droht mit der Aufkündigung seines Dienstes und steigert sich in eine Todesphantasie hinein, nach der sein von der Dame herbeigeführter Tod den ihren nach sich ziehen müsste (sterbet si mich, sô ist si tôt; IV, V. 6, nach C und A; abgeschwächter: sturbe aber ich, sô ist si tôt; V. 6 nach E; vgl. dazu Reinmar MF 158,1, III nach AC, V. 8). Zugleich entwickelt er, Schwankmotivik in den Minnesang einspeisend, die krude Phantasie einer derben Züchtigung der altgewordenen Dame durch einen jungen Mann mittels junger Zweige, sogenannter sumerlaten (V, V. 1–6, nach C und A).23 Die Rache für das erlittene Leid wird hier an einen jüngeren Mann delegiert, welcher der alten Frau an Schönheit und Vitalität kraft seiner Jugend überlegen ist (V. 5‒6).24 Um einem solchen Dilemma zu entgehen, betont die Dame im Wechsel Reinmars Ich wirde jaemerlîchen alt (MF 152,15), dass sie nicht ohne die Liebe auf jämmerliche Weise alt werden möchte. Nicht deutlicher
20 Vgl. Köhler 1987, 151–156. 21 Siehe zu diesen Zeitaspekten besonders Mohr 1971, 329–356; Cormeau 1985, 147–165; Blank 1988, 23–33; Mertens 1989, 197–215; von Bloh 2002, 117–144; Mertens 2006, 409–430; Goller 2008, 157– 173; Pfeiffer 2008, 473–494; Bauschke-Hartung 2010, 333–344; Linden 2009, 148–152. 22 Vgl. dazu auch Reinmar MF 171,32. 23 Ob das Schlagen mit jungen Zweigen neben den Konnotationen von Züchtigung und Bestrafung auch Aspekte von Verjüngung und Lebenskraft einschließt, muss offengelassen werden. 24 Vgl. dazu auch die Rachephantasie bei Morungen MF 124,32, III.
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könnte die zumeist alterslos gedachte Dame des Hohen Sangs in den Zeithorizonten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als eine sich verändernde und wie der Sänger der Vergänglichkeit und dem Tod unterworfene Person gezeichnet werden (vgl. z. B. auch Morungen MF 145,1).25 Demgegenüber wird in Reinmars Lied Der lange süeze kumber mîn (MF 166,16) die Frage nach dem Alter der Dame den anderen, den Spöttern, in den Mund gelegt. Damit kann sich der Sprecher in die Position dessen bringen, der sie gegen das zudringliche Gerede anderer zu verteidigen versucht. Der Sänger gibt vor, die Fragerei unterdrücken zu wollen, doch im Akt des Singens stellt er die Frage der anderen in den Raum und fordert die Dame auf, ihn für die unhöfische Frage der anderen zu entschädigen. Tabubrüche, in denen vom zunehmenden Altern und vom Verfall der Damen die Rede ist, finden sich besonders auch im romanischen Bereich, wie ein Seitenblick auf die französische Trouvèredichtung exemplarisch veranschaulichen kann. Z. B. verkehrt die Tenzone Conons de Béthune L’autrier avint en cel autre pais einen débat amoureux, in dem sich der weibliche Part in der Regel vor einem zudringlichen Ritter zu schützen versucht.26 Der Casus amoris besteht hier darin, dass das Liebesgeständnis einer Dame, die ihrem Ritter zu lange ihre Liebe verweigert hat, schließlich ins Leere läuft, denn der Ritter hat erkannt, wie hässlich sie inzwischen geworden ist, und gibt ihr in den unhöfischsten Worten zu verstehen, dass er an ihrem zwar einstmals schönen und liliengleichen, jetzt aber verfallenen Gesicht kein Interesse mehr habe. Vielmehr hat er für die verblühte Schöne, die mit einer Ruine verglichen wird, nur mehr Spott und Hohn übrig. Über den Einzelfall hinaus zeigt der Casus, dass Damen, die den rechten Zeitpunkt zur Liebe verpassen, sich in erster Linie selbst schädigen und ihre besten Chancen vergeben. Gnadenlos, das wollen die genannten deutschen und französischen Beispiele zeigen, spielt die Zeit den Männern in die Tasche, was die Machtverhältnisse der Darstellung der Lieder nach zugunsten der Männer verkehrt. Der Gedanke, dass es kluge Damen gar nicht erst so weit kommen lassen sollten, liegt in der Fluchtlinie dieser Argumentation. Alter, Vergänglichkeit und möglicher Kraftverlust des Ritters spielen in dieser durch und durch männlichen Projektion keine Rolle. Drastik und Konkretion der Vorwürfe gegen die Damen gehen in der Trobador- und Trouvèredichtung insgesamt deutlich über die Tabubrüche des mittelhochdeutschen Hohen Minnesangs hinaus (→ Altokzitanische Dichtung, → Liebeslyrik in Nordfrankreich). Schließlich kann die Minnekonstellation auch genutzt werden, um die Minneklage in eine allgemeine Zeit- und Weltklage sowie Weltabsage zu überführen. Der Sänger tritt bevorzugt in der Altersrolle auf, die Gelegenheit gibt, zurückzublicken. Diese Perspektive hat zu nicht wenigen Fehldeutungen Anlass gegeben, etwa der Sichtweise, hier breche die ‚Realität‘ in die Künstlichkeit der Minnewelt ein, sie hat 25 Vgl. demgegenüber aber zum Beispiel Heinrich von Rugge MF 107,27, wo die etwaige Frage nach dem Altern der vrowen als ungevuoge (I, V. 7) abgewiesen wird. 26 Vgl. Wallensköld 1921, 17‒18; RGR II, 56–59, 199–201; Felbeck und Kramer 2008, 320–323.
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auch zu Biographismen aller Art eingeladen, von denen in der heutigen Forschung Abstand genommen wird.27 Vielmehr geht es in diesen Liedern darum, die Spannungen zwischen erotisch-irdischer und religiöser Orientierung des Lebens implizit oder explizit deutlich zu machen und immer wieder neu zu gewichten. Das Ich des Sängers und Liebenden steht in der Entscheidung zwischen der Liebe zur Dame und zur Welt und dem Wissen um die Notwendigkeit, sein Seelenheil zu sichern und sich rechtzeitig vor dem Tod von den Freuden der Welt zu verabschieden (→ Religiöse Semantiken).28 Die Minnedame, die Personifikation der Minne und die Welt gehen hierbei vielfach ineinander über. Im Lied Minne diu hât einen site (L 57,23)29 wird Minne beispielsweise als lächerliche liebestolle uralte Frau und Närrin dargestellt, die sich wie eine Junge aufführt und zu Unrecht ältere Liebhaber wie den Sänger ablehnt. Das zeitlose Abstraktum Minne wird hier pointiert einem Alterungsprozess unterworfen, der sich de facto auf konkrete Personen beziehen müsste. Insofern mischen sich Züge der Minnedame mit der Personifikation der Minne. Der Werber stilisiert sich in seinem Urteil als überlegen, das heißt, er spielt die geistigen Vorzüge seines reiferen Alters aus und gibt zu erkennen, dass er von dieser Minnedame genug hat. In der Folgezeit wird die liebestolle Alte zu einem prominenten Motiv, insbesondere bei Neidhart, sie reiht sich ein in das Spektrum der liebeshungrigen Dörperfiguren, unter denen auch die Rollen von Mutter und Tochter sowie die jungen Männer und Frauen zu nennen sind.30 Walthers Frô Welt, ir sult dem wirte sagen (L 100,24) wird in der Forschung zumeist als eindeutige, religiös motivierte Weltabsage eines alternden Sängers verstanden, die in den größeren Kontext der mittelalterlichen Contemptus-mundi-Literatur gehört,31 dennoch weist die Weltabsage eine deutliche Nähe zum Minnelied auf.32 Frô Welt wird als Geliebte, aber auch als liebende Mutter dargestellt, an deren Brust der männliche Sprecher als Kind der Welt im Laufe seines Lebens zu viel gesogen haben will (III, V. 1). Das Ich möchte ihr nun offensichtlich gegen Ende seines Lebens entsagen: ich wil ze herberge varn (IV, V. 10).33 Ob der Sprecher diesen Entschluss realisiert, nachdem er die Vergänglichkeit und Hässlichkeit der Welt erkannt hat, bleibt am Ende des Liedes jedoch offen. In Walthers sogenanntem Alterston Ir reiniu wîp, ir werden man (L 66,21), den man in der älteren Forschung in biographischer Perspektive fälschlich als Vermächtnis des alten Sängers Walther an das Publikum verstanden hatte, blickt der Sänger in der Rolle
27 Vgl. besonders die Auseinandersetzung damit bei von Bloh 2002, 117–144. 28 Vgl. Mohr 1971, 329–356; Cormeau 1985, 147–165; Blank 1988, 23–33; Mertens 1989, 197–215; von Bloh 2002, 117–144; Mertens 2006, 409–430; Goller 2008, 157–173; Pfeiffer 2008, 473–494. 29 Vgl. besonders Linden 2009, 148–152; Loleit 2010, 123–140. 30 Linden 2009, 137–164. 31 Vgl. in neuerer Zeit besonders Schumacher 2000, 169–188; Paddock 2008, 175–189; Kern 2009, 115–122. 32 Vgl. Wehrli 1989, 105–113, prägnant 110; Kartschoke 2001, 147–166. 33 Vgl. Kellner 2014, 201–208, mit weiterer Literatur.
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des alten Mannes auf gut vierzig Jahre Dienst an der Gesellschaft durch seinen Sang zurück.34 Der Sänger nimmt sich nun von höfischer Freude und höfischem Frauendienst aus (I), stilisiert sich als alter Mann, der am Stabe geht (II), und rechnet mit der Welt und vor allem der weltlichen Liebe ab (III–V). Obgleich er die Vergänglichkeit der Welt sowie die Zeitlichkeit und Verfallenheit der Dame erkannt hat, scheint er doch nicht ganz von dem schœnen bilde (V, V. 1, bilde, V. 9) loszukommen. Die teleologische Ausrichtung auf das Jenseits wird also möglicherweise auch hier von der Vorstellung der Endlosigkeit der Minnebindung überlagert (vgl. dazu auch weitere Minne- und Weltabsagen bei Walther, z. B. L 116,33; L 41,13; → Oswald von Wolkenstein OSW 1 oder Hugo von Montfort HOF 29). Immer wieder scheinen Minne- und Weltabsagelieder von diesen gegenläufigen Zeitsemantiken geprägt zu sein.
4 Fazit Insgesamt zeigt sich, dass die im Hohen und späten Sang dominierende Vorstellung von der Dauer und Kontinuität des Minnedienstes, die sogar als ‚Ewigkeit‘ der Liebe über den Tod hinaus inszeniert werden kann, in den Liedern auf verschiedene Weise dynamisiert wird. Durch die Darstellung der vielfachen Umschläge von Dysphorie und Euphorie betonen die Sänger das zyklische Auf und Ab ihrer Stimmungen und Affekte. Dies gilt auch für den Rückgriff auf die Topik der Jahreszeiten und die zyklische Wiederkehr von Tag und Nacht. Narrativisierungen, Erinnerungen und Rückblicke sowie Hoffnungen und Wünsche verbinden die verschiedenen Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und durchbrechen die präsentische Sprechweise der Kanzonen immer wieder. Die rückblickende Rede der Tagelieder mit der hier häufig anzutreffenden Erzählerfigur bringt ohnehin eine andere Zeitlichkeit ins Spiel. Minneabsagen und Drohungen der Dienstaufkündigung konterkarieren die Leitidee der Kontinuität des Dienstes. Dynamisierungen ergeben sich aber auch, indem die Lebenszeiten von Sänger und Dame ins Spiel kommen und Prozesse ihres Alterns sowie ihrer Hinfälligkeit und Kreatürlichkeit zum Thema gemacht werden. Gerade die Zeitsemantiken der Welt- und Minneabschiedslieder legen offen, wie tief die Sänger als Liebende auch im Angesicht von Vergänglichkeit und Tod noch in die Welt verstrickt sind. Die Welt- und Minneabsagen erscheinen daher oft nicht eindeutig oder wirken mitunter halbherzig vor der Folie der Kontinuität des Welt- und Minnedienstes.
34 Vgl. zum Alterston besonders Cormeau, 1985, 152–155; Wachinger 1989, 110–113; Müller 2001, 151–176; von Bloh 2002, 137–139; Mertens 2006, 418–428; Brunner 2008, 113–125; Kern 2009, 105– 115, 125–132; Kellner 2013, 51–67.
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Zeit
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Literarhistorische Perspektiven
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Geschichte(n) des Minnesangs 1 Handschriften, Namensvergabe, Urkunden oder: das Fehlen von Fakten Die (spät)mittelalterlichen Handschriften bewahren gut 6.000 Strophen der Gattung ‚Minnesang‘ (→ Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge). Den Großteil dieser Strophen verknüpfen sie zu mehrstrophigen Liedern.1 Außerdem ordnen wichtige Handschriften wie die Große und die Kleine Heidelberger, die Stuttgarter oder die Würzburger Liederhandschrift die Texte Autoren zu, deren Namen sie nennen. Alle zusammen enthalten sie die Namen von etwa 120 Minnesängern. Liedeinheiten und Autorenœuvres sind die einzigen Kriterien, nach denen die Überlieferung den von ihr bewahrten Strophenbestand gliedert. Die Forschung hat sich mit diesen Vorgaben nicht begnügt, sondern hat verschiedene Versuche unternommen, die erhaltenen Minnelieder neu zu sortieren, um das Textmaterial so besser handhaben und verstehen zu können. Bevor die bislang unterbreiteten Vorschläge, den Minnesang zu gliedern, problematisiert und mögliche Alternativen diskutiert werden, gilt es sich klarzumachen, auf welcher Basis sie alle aufruhen. Zu nennen sind hier an erster Stelle die Eigenheiten der Überlieferung. Diese bietet sicher kein komplettes Bild des Minnesangs, sondern eines, das lückenhaft und verzerrt ist,2 weil den Redaktoren bestimmte Texte leichter zugänglich waren als andere,3 weil sie aus dem verfügbaren Material auswählten – etwa in Anlehnung an einen Kanon –4 und weil Handschriften im Laufe der Zeit verloren gingen.5 Zudem
1 Der Leich hat eine eigene Geschichte und wird im Folgenden nicht berücksichtigt. 2 Der Versuch von Walter 1933, die Überlieferungsverluste abzuschätzen, zeigt einerseits, dass deren Annahme nicht unbegründet ist, andererseits, dass es nahezu unmöglich ist, von ihnen ein genaueres Bild zu gewinnen, da man sich hierzu im Grunde nur auf Aussagen stützen kann, die aus literarischen Texten stammen. 3 Etwa die derjenigen Sänger, die in ihrer zeitlichen und räumlichen Nähe tätig waren. Auch perso nale Verbindungen zu anderen Sammlern dürften eine wichtige Rolle dafür gespielt haben, welche Vorlagen beschafft werden konnten. 4 Dafür spricht, dass auch die Handschriften, die aus einem gemeinsamen Überlieferungsfundus schöpfen, ein erkennbar eigenes Profil aufweisen, etwa hinsichtlich der aufgenommenen Autoren und berücksichtigten Genres. Vgl. hierzu Holznagel 1995, 91–102, 128–134, 170–199. Auch Tervooren 2000b, 163–164, geht davon aus, dass die Sammler der großen Handschriften das Typeninventar des Minnesangs auf das Lied der Hohen Minne hin verengt haben, und führt als Indiz hierfür das Walther- Fragment Ux-Uxx an. 5 Zur Abschätzung dieser Verluste Eis 1956: Von 150 Handschriften hat sich nur eine erhalten; allerdings gibt es nur wenige ganz verlorene mittelhochdeutsche Dichtungen. Das sind allerdings allgehttps://doi.org/10.1515/9783110351859-025
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setzt die Minnesangüberlieferung auf breiter Basis erst Ende des dreizehnten Jahrhunderts ein und reicht bis in die zweite Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts.6 Damit ist sie gegenüber der Entstehung der Lieder in den meisten Fällen nachträglich. Entsprechend stammen die Manuskripte nicht von den Autoren selbst, sondern verdanken sich Redaktoren beziehungsweise Schreibern, und es ist unklar, in welchem Ausmaß und auf welche Art diese in die Gestalt der Texte eingegriffen haben.7 Während wichtige Handschriften nach dem Autorprinzip aufgebaut sind, bewahren andere, meist später entstandene die Texte anonym.8 Auch wo Autoren genannt werden, sind die Angaben nicht immer eindeutig, etwa weil die Handschriften ein und dasselbe Lied verschiedenen Autoren zuschreiben. Überhaupt ist es nie sicher, ob ihre Zuschreibungen richtig sind. Des Weiteren führen die Namen der Handschriften nicht alle zu historisch be legten Personen.9 Dies gilt zuerst einmal für die Berufs- beziehungsweise Künstlernamen wie Kanzler, Schulmeister von Esslingen oder Wilder Alexander. Aber auch viele Eigennamen wie Niune, Reinmar oder Rubin sind jenseits des Minnesangs nicht nachzuweisen – ein Schicksal, das besonders häufig nicht-adlige Autoren trifft. Mitunter sind auch der Status und die Herkunft der Namen unklar. Ob her Friederich der knecht (C, Bl. 316v) ein vom Sänger genutztes Pseudonym, ein von einem Redaktor aus den Liedern abgeleiteter ‚Künstlername‘ oder doch der Name einer historischen Person ist, ist unsicher.10 In keinem Fall führt er auf eine Person zurück, über die man aus anderen Quellen etwas weiß. Auch bei den Sängern aus dem Adel ist die Verbindung mit historischen Gestalten oft schwierig. Teils lassen sich die entsprechenden Geschlechter gar nicht nachweisen (von Munegiur), teils sind die Herkunftsnamen uneindeutig, weil sie mehrfach verwendet worden sind (von Aue, von Gutenburg, von Horheim, von Mezze), teils werden die Namen vom Vater auf den Sohn vererbt, sodass unklar ist, welcher Heinrich von Breslau, Reinmar von Brennenberg oder Wenzel von Böhmen denn nun der gesuchte Sänger ist. Denkbar ist auch, dass Dienstleute sich nach ihren Herren benannt haben oder dass Liederbücher nach Sammlern oder Besitzern genannt worden sind.
meine Aussagen, die nicht auf die Lyrik zugeschnitten sind, die wegen der Kürze der Texte anfälliger für Verluste sein dürfte als längere erzählende Texte. 6 Hierzu und zum Folgenden Holznagel 1995; zusammenfassend Holznagel 2006, 358–362; außerdem Kuhn 1980; genauer zur Streuüberlieferung des dreizehnten Jahrhunderts Kössinger 2013. 7 Indizien für solche Eingriffe der Redaktoren sind parallel überlieferte Lieder mit unterschiedlicher Strophenform (Worstbrock 1998) sowie Ordnungsprinzipien der Sammlungen wie das der concatenatio (Kuhn 1980, 95–96). 8 Zusammenfassend zur Autorproblematik in der Minnesangüberlieferung Kropik 2011 und Tervooren 2000a. 9 Zum Folgenden Kuhn 1980, 84; Meves 2005; Schweikle 1989, 101–113. Einen ersten Eindruck von den Identifizierungs- und Datierungsproblemen vermittelt die Tabelle zu den Autoren des dreizehnten Jahrhunderts bei Hübner 2008, 18–21. 10 Hierzu in LDM Braun, Kommentar zu: Friedrich der Knecht.
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Selbst wenn die Zuordnung mit größerer Sicherheit gelingt, ist nicht gesagt, dass sich die Lebensspanne des Sängers auch nur einigermaßen genau eingrenzen lässt. Geburtsdaten sind sehr selten bezeugt, Sterbedaten häufiger, und die Urkundenbelege, die den Großteil der historischen Zeugnisse ausmachen, können überaus lückenhaft sein.11 Wenn ein Adliger selbst eine Urkunde ausstellt, sagt das nur etwas über seinen Besitz und seine Haltung zu einer kirchlichen Institution aus; wenn er – und das betrifft die Mehrzahl der Dokumente – unter den Zeugen einer Urkunde aufgeführt ist, belegt das lediglich, dass er deren Aussteller verbunden war. Selbst die historiographischen Quellen, in die fast nur die hochadligen Sänger Eingang gefunden haben, enthalten keine Hinweise auf deren sängerische, sondern nur solche auf ihre adligen Aktivitäten wie das Führen von Kriegen. Das hat zur Folge, dass man auch dann, wenn die Lebenszeit eines Sängers feststeht, im Grunde nicht mehr über seine Schaffenszeit sagen kann, als dass diese wohl ins Erwachsenenalter gefallen sein wird. Je länger dieses gedauert hat, desto unsicherer wird die Datierung, zumal viele Œuvres ja nur aus einer oder zwei Handvoll Liedern bestehen, die man sich in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne entstanden denken kann. Genauso wenig wissen wir darüber, wo und vor wem ein Sänger gesungen hat, welche Kollegen er selbst gehört hat, mit welchen er über seine Kunst gesprochen hat und vieles andere mehr.12 All die Daten, auf die sich die Neuphilologie stützt, wenn sie Autoren zu Gruppen zusammenstellt – Dokumente über persönliche Begegnungen und fortgesetzten Austausch, Programmschriften, gemeinsam genutzte Publikationsorgane –,13 fehlen für die Minnesänger. Über die literarischen Kontakte und Kenntnisse Franz Kafkas weiß man ungleich mehr als über die aller Minnesänger zusammen. Streng genommen gibt es keinen einzigen Beleg für eine Begegnung von Minnesängern.14 Über Treffen – etwa auf Hoffesten – lassen sich allenfalls Vermutungen anstellen.15 Die Rezeption eines konkreten Minnelieds kann man nur dann nachweisen, wenn auf dieses direkt angespielt wird, was aber nur selten der Fall ist.16 Meist beschränkt sich die Intertextualität des Minnesangs auf Systemreferenzen, sodass auch sie nur vergleichsweise wenige konkrete Anhaltspunkte für einen Austausch unter den Autoren liefert. Die Kenntnis von Kollegen bezeugen immerhin deren (sehr seltene) Nennungen sowie die Totenklagen → Walthers von der Vogelweide (auf → Reinmar), Ulrichs von Singenberg (auf Walther) und → Frauenlobs (auf → Konrad
11 Vgl. dazu die Materialsammlung bei Meves 2005. 12 Kuhn 1980, 84, 87. 13 Auf diesen Quellentypen beruht beispielsweise die gruppensoziologische Untersuchung des George-Kreises von Kolk 1998. 14 Keines der von Meves 2005, 879–908, abgedruckten Dokumente bezeugt zwei Minnesänger. 15 Skeptisch hinsichtlich der Rolle, die der Minnesang im Rahmen der Feste spielte, Willaert 1999. 16 Mit der nötigen Vorsicht für den prominentesten Fall, nämlich die Reinmar-Zitate bei Walther, Bauschke-Hartung 1999.
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von Würzburg).17 Auch einer regionalen Einordnung der Sänger über Dialektspuren wird man heute skeptischer gegenüberstehen als die ältere Forschung, die der Reimgrammatik vorbehaltlos vertraut hat, während man heute deren Grenzen genauer sieht und die Verzerrung durch die Überlieferung stärker bedenkt. Auf der Ebene der Semantik finden sich in den Minneliedern nur in Ausnahmefällen (→ Hadlaub, → Neidhart, Tannhäuser) Spuren, die eine zeitliche oder räumliche Einordnung ihrer Verfasser möglich machen. Etwas besser sieht es bei den Autoren aus, die wie Walther von der Vogelweide auch Sangsprüche gedichtet haben, weil diese welt- und damit informationshaltiger sind und so auch eher biographisch auswertbare Informationen enthalten.
2 Editionen, Literaturgeschichten, Einführungen oder: die Vorgaben der Forschung Entscheidend geprägt worden ist das Bild des Minnesangs durch die Editionen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts (→ Edition und Editionsgeschichte). Zu diesem tragen konzeptuelle wie kontingente Faktoren bei, und sein Gesamt bietet – gerade aus der Distanz betrachtet – einen einigermaßen merkwürdigen Anblick. Hatte sich Friedrich Heinrich von der Hagen noch an die Handschriften gehalten und also in den ersten beiden Bänden seiner ‚Minnesinger‘ (1838) die Abfolge der Autoren aus der Großen Heidelberger Liederhandschrift übernommen – erst innerhalb der Korpora sortierte er nach Gattungen neu und ergänzte den Textbestand aus anderen Quellen –, erlegte Karl Lachmann in seinen Editionen dem überlieferten Material eine eigene Ordnung auf. Dabei traf er zwei Entscheidungen, deren Bedeutung für die Wahrnehmung des Minnesangs kaum zu überschätzen ist: Er ordnete die Sänger in ‚Minnesangs Frühling‘ historisch, und er edierte Walther von der Vogelweide separat. ‚Minnesangs Frühling‘ erzählt allein durch die Abfolge der Werkkomplexe eine Geschichte des Minnesangs, die von anonymen Anfängen über die ersten Autoren mit den Langzeilen- und Stollenstrophen hin zu → Heinrich von Morungen, Reinmar und → Hartmann von Aue führt.18 Implizit sind hier raumzeitliche Gruppierungen wie der frühe donauländische und der ihm folgende rheinische Minnesang genauso enthalten wie die Vorstellung einer gerichteten Entwicklung der Gattung, die von einem volksliedhaften Beginn hin zu den Klassikern verläuft. Dabei täuscht die Durchnummerierung eine Genauigkeit des Wissens um die Werkchronologie vor, die an keiner Stelle von den Fakten gedeckt ist. Die organologische Metapher des Titels ‚Minnesangs 17 Die Totenklagen in Sangspruchstrophen, die katalogartig mehrere Autoren auflisten, sind gesammelt und interpretiert bei Burkard 2012; in Bezug auf den Minnesang ausgewertet werden sie von Schiewer 2002. 18 Zum Folgenden Klein 2017, 167–173.
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Frühling‘19 wiederholt dieses teleologische und ästhetisch wertende Denken auf einer übergeordneten Ebene, indem sie den Inhalt des Bandes einer ‚Anfangs-‘ und ‚Blütezeit‘ zuweist. Die Vorstellung einer Nachklassik, die einen ästhetischen Niedergang bedeutet, ist hierin bereits angelegt. Umgesetzt ist sie insofern, als sich ‚Minnesangs Frühling‘ auf das zwölfte Jahrhundert beschränkt. Letztlich sind alle diese Effekte das Ergebnis des Entschlusses, rekonstruierend hinter die Handschriften zurückzugehen. Die Abtrennung Walthers mag praktischen Erfordernissen geschuldet sein – der schiere Umfang seines Werks hätte eine Unwucht in eine Gesamtedition gebracht und vielleicht auch die Dimensionen eines gut benutzbaren Buches gesprengt; außerdem mag sie sachlich darin begründet sein, dass Walthers Werk zu einem erheblichen Teil Sangsprüche enthält und sich dadurch von den reinen Minnesang-Korpora unterscheidet. Dennoch führt sie dazu, dass Walther aus der Geschichte der Gattung heraustritt und als deren Gipfel- wie Wendepunkt erscheint. Die Editionen Lachmanns sind in zweierlei Hinsicht Kinder ihrer Zeit. Sie zeigen den Siegeszug des historischen Denkens und die Selbstverständlichkeit ästhetischen Wertens. Durch ihren Erfolg – ‚Minnesangs Frühling‘ hat bislang 38 Auflagen erreicht, die Walther-Ausgabe 15 – und ihre Geltung geben sie allerdings dem Minnesang bis heute ihr Gepräge. Ein neues Ordnungsprinzip führte Karl Bartsch in die Minnesangeditorik ein, als er 1886 die ‚Schweizer Minnesänger‘ herausgab: das nationale. In der Auswahl der Autoren suchte Bartsch diesem konsequent zu entsprechen – weshalb er Rudolf von Fenis aufnahm, obgleich dieser bereits in ‚Minnesangs Frühling‘ enthalten war –, doch scheint er von ihm nicht voll überzeugt gewesen zu sein: Wenn die Schweizer Minnesänger eine besondere und charakteristische Gruppe innerhalb der Lyrik bildeten, würde eine Gesammtdarstellung dieser Gruppe am Platze gewesen sein. So aber war es passender, jeden Dichter für sich zu behandeln […]. 20
Dass das Kriterium der nationalen Zugehörigkeit der Sammlung eher äußerlich bleibt, zeigt zum einen deren interner Aufbau nach der mutmaßlichen Chronologie der Autoren. Zum anderen wertet Bartsch in seiner ‚Einleitung‘ die bei ihm versammelten Sänger ästhetisch ab: „keiner von hervorragendster Bedeutung, keiner, der einen Höhepunkt in der Entwickelung des Minnegesangs bezeichnete, keiner, der eine eigenthümliche Richtung zuerst eingeschlagen“21. Obwohl der Editor offensichtlich selbst daran zweifelte, dass das von ihm gewählte nationale Auswahlprinzip dem Gegenstand gemäß ist – die Schweiz ist für das dreizehnte Jahrhundert ein anachronistisches Konzept, und sie deckt sich nicht mit den historisch relevanten Regionen –, sind die Schweizer Minnesänger durch seine Edition doch bis heute eine eigene
19 Obwohl dieser romantisch klingt, ist er in Anlehnung an die barocke Gedichtsammlung Andreas Tschernings gebildet, vgl. MF2, 9 (mit Anm. 5). 20 Bartsch 1886b, VII. 21 Bartsch 1886a, IX.
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Gruppe geblieben. Umgekehrt hat ihre Ausgliederung den Rest der Gattung unter der Hand einer ‚deutschen‘ Literatur zugeschlagen, die, da sie die Österreicher miteinschließt, eine ‚großdeutsche‘ ist. Mögen hinter Lachmanns Entscheidung für eine Separierung Walthers oder hinter Bartschs für einen Schweizer Minnesang auch schon praktische Erwägungen gestanden haben, so wird die Pragmatik doch erst von Carl von Kraus zum Programm erhoben. Denn seine ‚Deutschen Liederdichter des 13. Jahrhunderts‘ enthalten, anders als es der Titel nahelegt, nicht die gesamte Lyrik des dreizehnten Jahrhunderts, sondern nur diejenige, die bis 1952 noch nicht „in guten Ausgaben“22 vorlag. Also fehlen „die in Minnesangs Frühling und in den Schweizer Minnesängern vereinigten Dichtungen, ferner Walther von der Vogelweide, Neidhart, Ulrich von Singenberg, der Truchsess zu St. Gallen, der Marner, der Tannhäuser und Konrad von Würzburg“23. Dass das Kriterium für die Aufnahme nur noch ‚unediert‘ lautet und dass dahinter auch eine Kritik des Vorgehens der älteren Ausgaben steht, belegen der Übergang zum alphabetischen Aufbau und dessen Begründung: Die Anordnung der Dichter […] ist ein schwieriges Problem: sie läßt sich weder nach zeitlichen oder räumlichen Gesichtspunkten noch nach Stilen und Vorstellungswelten folgerichtig durchführen […]; dazu reicht unsere Kenntnis ihrer Herkunft und ihres Lebens vielfach nicht aus, auch kreuzen sich in ihrer Kunst die Einflüsse in zu verschiedenartiger Mannigfaltigkeit.24
Kraus verweist hier darauf, dass die zeitlichen und räumlichen Kriterien, an denen sich Lachmann und Bartsch ausgerichtet haben, für den Minnesang ungeeignet seien, weil sie nicht hinreichend durch Daten gestützt werden könnten. Außerdem bezweifelt er, dass sich geeignete Grundsätze aus den Texten selbst gewinnen ließen. Die Problematik seines eigenen arbeitsökonomisch begründeten Prinzips, nur das Nicht-Edierte zu edieren, liegt darin, dass dieses die Autoren, die er nicht aufgenommen hat, isoliert hat. Kriterien zur Gliederung des Minnesangs hat nicht nur die Editorik entwickelt, sondern auch seine literaturwissenschaftliche Erforschung. Um diese zu erfassen, sollen stellvertretend drei Literaturgeschichten und drei Einführungsdarstellungen ausgewertet werden. Sie sind unterschiedlich aktuell, was aber kaum ins Gewicht fällt, da sich einerseits viele der fraglichen Ordnungsraster als überaus langlebig erweisen und da andererseits hervortritt, wo sich die Historiographie des Minnesangs verändert hat. Anders als die Editionen, die nur Vorhandenes berücksichtigen können, setzen zwei der drei Literaturgeschichten bei verlorenen mündlichen Traditionen ein. Als Hinweise auf Volksliedhaftes verstehen Helmut de Boor und Max Wehrli die geistliche Kritik an den winileod der Laien, die Existenz verwandter Dichtungen in 22 Von Kraus 1978, IX. 23 Von Kraus 1978, IX. 24 Von Kraus 1978, X.
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anderen Literaturen sowie die Reflexe in der lateinischen und der mittelhochdeutschen Lyrik.25 Allerdings bestreitet de Boor, dass von diesen alten Liebesliedern ein Weg zum Minnesang hinführe, und hält einen Schluss vom Minnesang auf seine Vorstufen, von denen dieser wiederum hergeleitet werde, für zirkulär.26 Die Einteilung der überlieferten Werke folgt zunächst einem recht einheitlichen Schema, wonach der frühe donauländische Minnesang um 1170 durch den romanisch beeinflussten rheinischen Minnesang abgelöst werde, was eine Veränderung charakteristischer inhaltlicher und formaler Merkmale bedeute.27 Letzterer werde von einem Dichterkreis am Stauferhof getragen, zu dem Kaiser Heinrich, Friedrich von Hausen, Ulrich von Gutenburg, Bernger von Horheim und Bligger von Steinach gehört hätten. De Boor hierarchisiert diese Sänger so: „Wir stellen mit F r i e d r i c h v o n H a u s e n nicht nur den Ältesten, sondern auch den Bedeutendsten dieses Kreises in den Mittelpunkt; wir dürfen von einer Schule Hausens reden.“28 Für die Zeit danach gehen die Verfasser der Literaturgeschichten unterschiedliche Wege, was für größere Schwierigkeit spricht, das Textmaterial zu strukturieren. Für de Boor bedeutet das Jahr 1190 einen scharfen Schnitt, einen Generationenwechsel hin zu den Vollendern des Minnesangs – Albrecht von Johannsdorf, Hartmann von Aue, Heinrich von Morungen, Reinmar von Hagenau und Walther von der Vogelweide –, wobei Letzterer auch „schon Überwinder“29 sei. Die Leistung der hochhöfischen Lyriker bestehe in der „Lösung aus der engen Gebundenheit an das provenzalische Vorbild“30, ihre Neuerungen lägen sowohl auf dem Gebiet der Form als auch auf dem des Inhalts. Der Übergang zur späthöfischen Lyrik lasse sich nicht genau datieren. Ihren Vertretern blieben nach Morungen, Reinmar und Walther nicht mehr viele Möglichkeiten: „Der Hohe Minnesang ist im Werk der drei Großen nicht nur klassisch durchgestaltet, sondern in seinen Möglichkeiten auch schon wesentlich erschöpft.“31 Damit hätten deren Nachfolger nur zwei Optionen: Epigonentum und Neueinsatz. Für die Epigonen stehe Ulrich von Singenberg, aber auch der spätstaufische Dichterkreis, aus dem de Boor allerdings eine „spätstaufische Hofkunst“32 macht, weil die entsprechenden Sänger zwar von ihren Lebensdaten her keine gleichzeitige Gruppe bildeten, ihre manieristische Liedkunst aber ohne den Stauferhof als Bezugspunkt nicht zu denken sei. Den Neueinsatz unternähmen Neidhart und der Tannhäuser. Auch Wehrli setzt eine Klassik an, zu der er allerdings bereits den Stauferkreis zählt, der im Norden durch → Heinrich von Veldeke und im Süden durch Rudolf von
25 De Boor 1991, 225–227; Wehrli 1984, 328–331, 340–348. 26 De Boor 1991, 205, 211. 27 De Boor 1991, 224–251; Bumke 1993, 83–87, 95, 105–112; Wehrli 1984, 335–340, 348–360. 28 De Boor 1991, 241. 29 De Boor 1991, 252; zum Folgenden 252–356. 30 De Boor 1991, 254. 31 De Boor 1991, 314. 32 De Boor 1991, 328.
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Fenis flankiert werde. Zu ihr gehören auch Hartmann von Aue, Albrecht von Johannsdorf und Reinmar, die er in einem Kapitel behandelt, sowie Heinrich von Morungen und Wolfram von Eschenbach, die ein weiteres erhalten.33 Danach widmet sich Wehrli Walther von der Vogelweide, dem er ein eigenes, sehr viel umfangreicheres Kapitel zugesteht und der für ihn „die Vollendung hochmittelalterlicher Lyrik in der Volkssprache [bringt], eine Vollendung freilich, die zugleich eine Überwindung und Weitung bedeutet und so, vor allem im Spätwerk, auch den Herbst des Minnesangs einleitet“34. Für das Ende der Klassik respektive den Beginn der Nachklassik im Minnesang steht für ihn dann aber vor allem Neidhart, dessen Dörperlieder er als „Parodie auf die höfische Minne“ und „Einbruch ins genormte Vokabular des Minnesangs“ versteht.35 Die auf Neidhart folgenden Minnesänger lassen sich nach Wehrli kaum in regionale oder stilistische Gruppen einteilen. Immerhin nennt er die „spätstaufischen Dichter“ → Burkhard von Hohenfels, → Gottfried von Neifen und Ulrich von Winterstetten, die zwar „kein[en] geschlossene[n] ‚Kreis‘“ bildeten, wohl aber „lokal und stilistisch zusammengesehen“ werden könnten und die eine „‚Wende‘“ in der Gattungsgeschichte bedeuten würden,36 → Ulrich von Liechtenstein mit seinem autobiographischen ‚Frauendienst‘, die Schweizer Minnesänger, die das klassische Erbe „gesellig-liebhabermäßig[…]“37 weiterführen würden, sowie Konrad von Würzburg, der die Aussage zugunsten des Klangs und Rhythmus entleere. Verglichen mit seinen beiden Vorgängern hält sich Joachim Bumke mit historiographischen Kategorien auffällig zurück. Er vermeidet das Konzept einer Klassik, bewertet die Zeit um 1200 aber als „Blütezeit der höfischen Literatur“38. Innerhalb dieser reiht er die Autoren – er greift Friedrich von Hausen, Heinrich von Rugge, Albrecht von Johannsdorf, Reinmar und Walther von der Vogelweide heraus – chronologisch.39 Für das sich anschließende dreizehnte Jahrhundert macht er zwei Traditionslinien aus, von denen sich die erste von Reinmar und Walther herleite, die zweite von Neidhart. Mit einer Mischung aus sozialen und ästhetischen Kriterien unterscheidet Bumke außerdem zwei Typen von Autoren: die traditionellen und anspruchslosen Autoren, bei denen es sich meist um adlige Gelegenheitsdichter handle, und die Könner, die den Minnesang entweder formal und rhetorisch oder inhaltlich zu erneuern versuchen würden. Auf die Überlieferung führt er es zurück, dass Sänger aus der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts und aus dem deutschen Südwesten überrepräsentiert seien. Außerdem setzt Bumke für das dreizehnte Jahrhundert mehrere Dichterkreise an – einen schwäbischen, einen steiermärkischen, einen Basler und einen Züricher –, die untereinander in engem Austausch gestanden hätten. 33 Hierzu und zum Folgenden Wehrli 1984, 360–391, 420–439. 34 Wehrli 1984, 375. 35 Wehrli 1984, 422–423. 36 Wehrli 1984, 425–426. 37 Wehrli 1984, 434. 38 Bumke 1993, 95. 39 Hierzu und zum Folgenden Bumke 1993, 105–133, 297–314.
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Von den Einführungsdarstellungen unternimmt es die Günther Schweikles, den Minnesang möglichst genau einzuteilen, und zwar in Phasen. Diese beruhen bei ihm auf einer zeitlichen Abfolge, in die Raumkoordinaten, Dichtergruppen, Textmerkmale und Geschmacksurteile integriert werden. So lautet eine Überschrift bei Schweikle etwa: „Z w e i t e P h a s e (erste Hochphase) ca. 1170–1190/1200 sog. r h e i n i s c h e r M i n n e s a n g “.40 Der erläuternde Text erwähnt die „Hausen-Schule“41 und zählt diejenigen Autoren auf, die dieser angeblich zuzuordnen sind. In deren „weiteren Umkreis“ würden Heinrich von Veldeke und Rudolf von Fenis und „aus stilgeschichtlichen Gründen“ auch noch Albrecht von Johannsdorf gehören.42 Anschließend nennt Schweikle „Kennzeichen des rheinischen Minnesangs“, vor allem solche des Formbaus, aber auch die „Hohe[]-Minne-Thematik“,43 und er erwähnt am Ende die Bedeutung des französischen Einflusses. Nach diesem Schema beschreibt Schweikle insgesamt sechs Phasen, wobei er ein zeitliches Verlaufsschema mit einem ästhetischwertenden verbindet, wenn er von Früh-, Hoch- und Spätphase spricht. Die Jahreszahlen sollen wohl nur ein ungefähres Zeitgerüst liefern, suggerieren durch ihre Exaktheit aber auch ein Wissen, das es so nicht gibt, und die Logik der räumlichen Zuordnung wird gestört, wenn diese, wie im vorgestellten Beispiel, von stilistischen Kriterien überlagert wird. Explizit mit einem historiographischen Konzept setzt sich Gert Hübner auseinander, wenn er Hugo Kuhns Modell einer ‚Wende‘ des Minnesangs im dreizehnten Jahrhundert kritisiert.44 Hübner bestreitet, dass sich der Minnesang verändert habe und dass sich diese Veränderung auf die Begriffe ‚Objektivierung‘ und ‚Formalismus‘ bringen lasse. Objektivierung meint, dass die Inhalte des Minnesangs geistig bewältigt und damit – und das bezeichnet Kuhn als Formalismus – als Material für semantische Variation, rhetorische Ausschmückung oder formale Virtuosität verfügbar sind. Deshalb erscheint es Hübner fraglich, dass es in der Geschichte der Gattung Zäsuren gebe: Zweifelhaft an Kuhns Konstruktion ist darum vor allem die Grenzziehung selbst, die er unverändert aus der alten Unterscheidung zwischen ‚Klassikern‘ und ‚Epigonen‘ übernahm. Diese bis heute angesetzte Scheidelinie hatte ihr eher verborgenes Fundament in der früh aufgekommenen germanistischen Legende vom großen Walther von der Vogelweide, der das Liebeskonzept des Minnesangs zugleich vollendet und überwunden haben soll. Denn für jeden, der daran glaubte, k o n n t e es nach Walther keine produktive Arbeit an der Konzeption von Minne und Minnesang mehr geben: Der den Liederdichtern des 13. Jahrhunderts implizit unterstellte Makel bestand darin, dass sie Walthers angebliche Vollendungs- und Überwindungsleistung offenbar nicht bemerkten.45 40 Schweikle 1989, 83. 41 Schweikle 1989, 83. 42 Schweikle 1989, 83–84. 43 Schweikle 1989, 84. 44 Hierzu und zum Folgenden Hübner 2008, 7–10. 45 Hübner 2008, 9–10.
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Hübner nimmt sich hier zwei Konstrukte der älteren Forschung vor, nämlich die Abqualifizierung der Minnesänger des dreizehnten Jahrhunderts als epigonal und die Überhöhung Walthers zum Überwinder des Modells der Hohen Minne. Seine Kritik an Kuhn führt letztlich auf die Vorstellung einer geschichtslosen Gattung hin, da Hübner dem früheren Minnesang die Arbeit an der Form und dem späteren die an der Semantik zuspricht. Stärker in vorgezeichneten Gleisen bewegt sich die aktuelle Einführung von Thomas Bein.46 Bein verwirft die Vorstellung eines donauländischen Minnesangs und spricht stattdessen von einem frühen Sang, den er an Beispielen beschreibt. Auf ihn sei der Sang der Hohen Minne gefolgt, dem Bein Lieder Friedrichs von Hausen und Kaiser Heinrichs sowie des ‚Klassikers‘ Reinmar zuordnet. Walther von der Vogelweide hingegen eröffnet das Kapitel „Gegenkonzepte um und nach 1200“47, in dem dann auch Neidhart, Heinrich von Morungen, Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach behandelt werden. Bein betont also eher die Vielfalt innerhalb der ‚Klassik‘, als deren Einheit herauszuarbeiten. Was die Folgezeit angeht, stellt er vor allem auf den Mechanismus der Variationen ab, der der „‚ewige[n] Wiederkehr des Gleichen‘“48 zugrunde liege. Der Überblick über die Einteilungsraster, welche die Editionen, die Literaturgeschichten und die Einführungen dem Minnesang vorgeben und vorschlagen, hält zahlreiche Einsichten bereit. Eine erste besteht darin, dass vieles, gerade im Bereich der Editionen, geschichtlich geworden und nicht gründlich geplant ist; eine zweite, dass die berechtigte Skepsis hinsichtlich der vorhandenen Daten zu selten in die eigenen historiographischen Konzepte überführt wird.49 Beide zusammengenommen rufen dazu auf, die überkommenen Ordnungskriterien daraufhin zu befragen, ob sie sich noch halten lassen, und sich ihrer, wo immer man dies verneint, konsequent zu entledigen. Das gilt besonders – dritte Einsicht – für ein Erbstück aus dem neunzehnten Jahrhundert, den Nationalismus. Das Konstrukt eines Schweizer Minnesangs ist zu verabschieden, weil es weder den politischen noch den sprachgeschichtlichen Gegebenheiten der Zeit entspricht und auch keinen Erkenntnisgewinn für die Autoren und Lieder selbst ermöglicht. Regionale Einteilungen trifft zwar kein derartiger prinzipieller Vorbehalt, für den Minnesang sind aber auch sie nur von begrenzter Aussagekraft. Für die wirkmächtigste von ihnen, den ‚donauländischen‘ Minnesang, fehlt es schlicht an Fakten, weshalb sie aufzugeben ist.50 Für die Zeit danach könnte man zwar versuchen, Raumkoordinaten auf eine Zeitachse zu legen – etwa indem man die entsprechenden Daten der Urkundenbelege in Programme zur Darstellung von Geodaten 46 Hierzu und zum Folgenden Bein 2017, 101–199. 47 Bein 2017, 138. 48 Bein 2017, 179. 49 Besonders deutlich ist das bei Schweikle 1989, 78–100, der seinen problembewussten Ausführungen zur fehlenden Datengrundlage ein detailliertes Phasenmodell folgen lässt. 50 Dazu auch Benz 2015.
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überträgt – und so genauer zu beschreiben, wie sich der Minnesang im deutschen Sprachraum ausgebreitet hat, wo wann seine Zentren waren usw., hätte dabei aber ständig mit einem Mangel an Informationen zu kämpfen. Ähnlich kritisch sollte man – vierte Einsicht – mit dem Verfahren sein, literarhistorische Erscheinungen und Entwicklungen ästhetisch zu bewerten. Mit diesem Plädoyer soll der Minnesangforschung nicht jedes begründete ästhetische Werturteil ausgetrieben werden.51 Es geht vielmehr um den Verzicht darauf, entsprechende Etiketten ganzen Richtungen aufzukleben, ohne die Urteilskriterien klar zu benennen. Folglich sind organologische Metaphern wie ‚Blütezeit‘, ‚Frühling‘ oder ‚Herbst‘ genauso zu vermeiden wie die Begriffe der (Nach-)Klassik oder des Epigonalen. Letzterer ist einer Kunstform, die einer Ästhetik der imitatio, nicht einer der Originalität verpflichtet ist, ohnehin unangemessen. Und auch wenn es gute Gründe dafür gibt, das Œuvre Walthers von der Vogelweide unter ästhetischen Gesichtspunkten hochzuschätzen und ihm einen wichtigen Platz in der Geschichte der Gattung zuzugestehen, sollte man Walther weder als ‚Vollender‘ noch als ‚Überwinder‘ der Hohen Minne beurteilen. Denn das erste Urteil ist schwer zu validieren, das zweite schlicht falsch. Die fünfte Einsicht ist, dass man auf die Bildung von Gruppen wird verzichten müssen. In den untersuchten Arbeiten sind verschiedene dieser Konstrukte wegen ihrer fehlenden Faktenbasis kritisiert worden. Es lohnt sich aber, hier grundsätzlicher zu werden. Denn die Minnesangforschung hat den Begriff der Gruppe für sich genauso wenig geklärt wie den der Dichterschule und den des Dichterkreises, sondern verwendet sie vortheoretisch und synonym. Sieht man sich die Explikationsversuche an, die etwa Rainer Kolk unternommen hat,52 merkt man rasch, wie problematisch die genannten Begriffe für die Minnesänger sind. Für die Soziologie markiert die Gruppe eine Ebene zwischen einem einfachen Sozialsystem (Familie, Freundschaft) und einer festen Organisation (Partei, Unternehmen, Verein). Sie beruht auf persönlichen Beziehungen, die in Gestalt von face-to-face-Situationen gelebt werden, die in gewisser Weise diffus bleiben und die dennoch auf Dauer angelegt sind. Außerdem grenzt sich eine Gruppe nach außen hin ab. Bei einer Schule handelt es sich um eine wissenschaftliche Gemeinschaft, die sich um eine zentrale charismatische Figur schart, einer Proklamation folgt, eine institutionelle Anbindung bietet und ein eigenes Publikationsorgan besitzt. Auch der weichere Schulbegriff der Kunstgeschichte, der auf die Übernahme von Stilmerkmalen und eine handwerksmäßige Kunstproduktion abhebt, lässt sich kaum auf die Literatur übertragen. Und ‚Kreis‘ ist laut Kolk in der Soziologie kein Terminus, weshalb er vor einer Verwendung durch die Literaturwissenschaft erst einmal definiert werden müsste.
51 Dessen Notwendigkeit und Berechtigung auch für die historischen Gegenstände der Mediävistik vertritt Müller 2013. 52 Hierzu und zum Folgenden Kolk 1998, 108–115.
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Der Schul- und der Kreisbegriff scheiden also für die Minnesangforschung von vornherein aus, und daher sollte man genauso wenig von einer ‚Hausen-Schule‘53 sprechen wie von einem ‚spätstaufischen Dichterkreis‘. Aber auch der Begriff der Gruppe ist kaum auf die Dichter des Minnesangs anzuwenden, weil wir über deren Kontakte und Kommunikationen viel zu wenig wissen.54 Zwar lassen sich einige adlige Sänger des zwölften Jahrhunderts mit dem Stauferhof in Verbindung bringen. Ob sie sich aber in ihrer Kunst wechselseitig beeinflusst haben und wer diesen Einfluss ausgeübt hat – darüber schweigen die Quellen. Eine ‚spätstaufische Dichtergruppe‘ machen schon die biographischen Daten unwahrscheinlich,55 und die Autoren, die ihr zugeordnet werden – Burkhard von Hohenfels, Gottfried von Neifen und Ulrich von Winterstetten –, verbindet auch stilistisch nichts, wie der Minnesang überhaupt eher Autoren- als Gruppenstile ausprägt. Auch die Ansicht, es habe sich bei den in Hadlaubs Lied Ich diene ir sît daz wir beidiu wâren kint (SMS 2 / C 8–20) genannten Schweizer Adligen um eine Gruppe aus Sängern und Gönnern gehandelt,56 lässt sich nicht halten.57 Die sechste Einsicht ist eine positive. Sie lautet, dass eine Beschäftigung mit dem Minnesang von dessen Geschichte nicht mehr wird absehen können. Trotz aller Schwierigkeiten, die sich aus dem Fehlen biographischer und sonstiger literaturgeschichtlicher Daten ergeben, ist die heutige Minnesangforschung insofern eine Erbin des Historismus, als sie nie vergessen kann, dass sich ihr Gegenstand über mehrere Generationen hin entfaltet und sich dabei auch verändert hat. Es mag intellektuell reizvoll sein, sich dem Minnesang einmal aus der Perspektive zu nähern, die etwa die Große Heidelberger Liederhandschrift vorgibt, und die Erkenntnismöglichkeiten auszuloten, die ein Nebeneinander der Sänger statt des gewohnten Nacheinanders bereithält.58 Eine solche überlieferungszentrierte Perspektive wird die historische nur ergänzen, nicht aber ersetzen können. Wie sich das Wissen um die Geschichtlichkeit des Minnesangs historiographisch umsetzen lässt, darüber hat die Mediävistik – siebte Einsicht – allerdings noch zu wenig nachgedacht. Das elaborierte Phasenmodell Schweikles suggeriert eine Genauigkeit der Datierung, die so nicht gegeben ist, sowie ein striktes Nacheinander, wo es doch Gleichzeitigkeiten und Überlappungen gibt. Entsprechend zwingen manche der Phasen Lieder zusammen, die kaum etwas verbindet, während sie andere 53 Deren Annahme auch sachlich unhaltbar ist, wie Touber 2005 zeigt. 54 Nicht umsonst greift die Netzwerkanalyse, die in der (Früh-)Moderneforschung die Untersuchung von Gruppen weitgehend ersetzt hat, vor allem auf Briefe zurück; vgl. den Forschungsbericht von Fischer und Thomalla 2016. 55 Hübner 2008, 22. 56 Diese Sicht vor allem bei Renk 1974. 57 Schiendorfer 1993. 58 Dieses Nebeneinander wiederholt sich auf der Ebene der Sammlungen, die unter Namen wie Gedrut oder Niune überliefert sind und die Lieder aus unterschiedlichen Phasen des Minnesangs enthalten; vgl. hierzu Schiewer 2002, 272–273.
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trennen, die typologisch unmittelbar zusammengehören. Selbst das weiter verbreitete basale Modell, das einen ‚frühen‘, einen ‚hohen‘ und einen ‚späten‘ Minnesang unterscheidet, ist nicht frei von Problemen. Wenn man die Rede vom ‚Hohen Minnesang‘ von der Wendung hohiu minne herleitet, verfügt man zwar über einen Begriff, der sich den Liedern selbst verdankt, aber wenn man ihn so fasst, eignet er sich nicht dazu, den ‚hohen‘ vom ‚frühen‘ wie vom ‚späten‘ Minnesang zu trennen, da es sich bei der Hohen Minne um ein Phänomen langer Dauer handelt. Und wenn Schweikle von einer ‚Hochphase‘ spricht, legt das außerdem offen, dass das Wort ‚hoch‘ eben nicht neutral ist, sondern leicht im Sinne einer ästhetischen Wertung verstanden wird. Dann sind im ‚Hohen Minnesang‘ letztlich Kategorien wie die der Klassik oder Metaphern wie die der Blütezeit aufgehoben. Das wiederum macht darauf aufmerksam, dass der Wechsel vom Qualitätsadjektiv ‚hoch‘ zu den Zeitadjektiven ‚früh‘ und ‚spät‘ den mit diesen bezeichneten Minnesang auf das Zentrum zuordnet und selbst über die Texte nicht mehr zu sagen weiß, als dass diese vorausgehen oder nachfolgen. An Kuhns Konzept der Wende schließlich stört seine Absolutheit: Weder gab es in der Geschichte des Minnesangs nur eine einzige Wende, noch war diese durchgreifend. Der Sachverhalt, dass es nämlich im dreizehnten Jahrhundert zu verschiedenen Veränderungen des Minnesangs kam, ist davon unberührt – das gegen Hübners Radikalkritik – und auch in ein neues Modell hineinzunehmen.59 Ein neues Modell der Gattungsgeschichte sollte – achte Einsicht – weniger von den Autoren und mehr von den Texten her aufgebaut werden. Zwar ist der Autor die zentrale Kategorie der Überlieferung, und er allein ermöglicht die Datierung von Werkkomplexen. Doch wenn man die Unsicherheit vieler dieser Daten in Rechnung stellt und auch darauf verzichtet, Sänger zu Gruppen zusammenzufassen, mindert das die Bedeutung der Kategorie genauso wie die Einsicht, dass zentrale Œuvres nicht einer einzigen Tendenz der Gattung zugeschlagen werden können, sondern mehrere verkörpern und also verschiedene Traditionslinien durch Autorsammlungen hindurchlaufen können. Umgekehrt ermöglicht es die Betrachtung der Sprechhaltung, der Semantik, des Formbaus und des Stils, Lieder nach nachvollziehbaren Kriterien zu sortieren. Wenn man die Auskünfte, die die Texte selbst erteilen, mit einer relativen Chronologie unterlegt, lässt sich die Evolution60 der Gattung Minnesang zumindest in Umrissen rekonstruieren.
59 Erste Indizien für Veränderungen des Minnesangs im dreizehnten Jahrhundert gewinnt Viehhauser 2017 mittels statistischer Analysen. Seine quantitativen Befunde sind geeignet, die Ergebnisse herkömmlicher hermeneutischer Verfahren zu bestätigen. 60 Zum Konzept der literarischen Evolution Jakobson 1993. Die Geschichte des Minnesangs scheint mir ein Musterbeispiel für eine immanente literarische Evolution zu liefern.
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3 Komponenten, Konfigurationen, Cluster, Dominanten oder: ein historiographisches Konzept Als Begriffe, die diese Rekonstruktion tragen sollen, werden hier der Begriff der Komponente, der der Konfiguration, der des Clusters und der der Dominante vorgeschlagen. Nach diesem Vorschlag besteht ein Minnelied aus den vier Komponenten Sprechhaltung, Semantik, Form und Stil. Eine Konfiguration ist die Anordnung dieser Komponenten, und zwar in deren jeweiliger Ausprägung. Die Konfigurationen überschneiden sich folglich mit den Genres des Minnesangs, die die Forschung üblicherweise ansetzt, decken sich aber nicht mit ihnen. Denn wenn man von den Komponenten ausgeht, führt das dazu, dass ein Genre wie das → Frauenlied, das durch seine Sprechhaltung bestimmt ist, mehrere Konfigurationen ausbildet, da die Lieder, die ihm zuzurechnen sind, semantisch, formal und stilistisch unterschiedlich ausgestaltet sind. Die Rede vom Cluster meint, dass Lieder desselben Typs zu einer bestimmten Zeit gehäuft auftreten. Und mit einer Dominante ist diejenige Konfiguration aufgerufen, die in einem bestimmten Zeitraum die Liedproduktion dominiert. Alle vier Kategorien tragen in sich die Spannung zwischen Individuum und Typus aus. So sind die Komponenten unendlich variabel, und jede in einem Lied vorkommende Konfiguration ist eine besondere. Dennoch lassen sich etwa Form- oder Liedtypen ausmachen, wenn man auf Ähnlichkeiten abstellt. Die folgende Beschreibung der Komponenten und Konfigurationen ist darauf angelegt, das Allgemeine zu erfassen, und entsprechend muss sie vieles vereinfachen; für eine differenziertere Darstellung kann auf die entsprechenden Artikel des Handbuchs verwiesen werden. Die Bildung von Clustern wiederum stellt insofern auf das Typische ab, als sie nach jenen Konfigurationen sucht, die gehäuft auftreten, und die Dominante erklärt gar eine einzige Konfiguration zur bestimmenden – immer im Wissen darum, dass es zahlreiche weitere Liedtypen gibt. Die folgenden Ausführungen sollen die abstrakte Rede von Komponenten und Konfigurationen konkretisieren. Sie sind nach systematischen und quantitativen Kriterien aufgebaut, um zu verhindern, dass sofort die bekannten Narrative – ‚von der Langzeilen- zur Stollenstrophe‘ oder ‚Überwindung der Hohen Minne‘ – auf das Material gelegt werden und dieses in ein zu enges Raster zwingen. Unter den Komponenten besitzt die Sprechhaltung die größte ordnende Kraft. Sie gliedert die Lieder in solche in der ersten und solche in der dritten Person. Die Mehrzahl der Minnelieder verwendet die erste Person. Typischerweise ist diese auf der Textoberfläche in dem Personalpronomen ich zu fassen, das lediglich durch sein männliches Geschlecht näher bestimmt ist, weshalb es im Vortrag unmittelbar auf den Sänger bezogen werden kann.61 Es 61 Das gilt zumindest dann, wenn man nicht mit Obermaier 2000, 45–46, oder Philipowski 2011, 193–194, annimmt, dass die Form, der Inhalt oder der Vortrag selbst schon das redende Ich immer zur Rolle machen. Zum Zusammenfall von Lied-Ich, Sänger und Autor in der Vortragssituation etwa Müller 2001a, 109–118.
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spricht im Präsens von Gedanken und Gefühlen, die einer geliebten Frau gelten. Von jeder dieser Bestimmungen kann jedoch abgewichen werden.62 Erstens kann das Ich auf der Textoberfläche fehlen, wodurch die Rede als eine allgemeine erscheint.63 Zweitens kann das Lied die Unterscheidung des liedinternen vom liedexternen Sprecher erzwingen.64 Drittens muss das Ich nicht immer ein männliches sein. Auch Frauenrede aber macht die Lieder, in denen sie vorkommt, zu Rollendichtung.65 Viertens kann das Ich als autodiegetischer Erzähler fungieren. Fünftens kann statt von einer personalen Liebesbindung auch ganz allgemein von der Minne die Rede sein.66 Diese fünf Variationen der Ich-Sprechhaltung ergeben, allein oder in Kombination, eigene Liedtypen. Die Lieder in der dritten Person sind sämtlich narrativ; sie unterscheiden sich durch die jeweils erzählten Situationen und Figuren. Die Semantik des Minnesangs wird bestimmt vom Konzept der Hohen Minne (→ Minnekonzepte und semantische Felder). Dieses kann auf verschiedene Weise weiterentwickelt werden: durch Entproblematisierung, durch Parodie und durch Wertekonkurrenz. Außerdem verwenden Teile des Minnesangs eine Liebessemantik, die durch Übereinstimmung der Liebenden, sinnliche Erfüllung, unverhohlene Artikulation des Begehrens und Normwidrigkeit der Liebe gekennzeichnet ist.67 Das Forminventar des Minnesangs ist beschränkt.68 Die mit Abstand wichtigste Strophenform ist die Stollenstrophe, mit weitem Abstand folgen die Langzeilen-, die Reien-, die Perioden-, die durchgereimte sowie die Reimpaarstrophe. Für den Versbau – Auftakt, Takt, Kadenz, Reim – gelten unterschiedliche Regelsysteme, freiere und strengere 62 Diese Aussage ist struktural und nicht genetisch-historisch gemeint, das heißt, dass nicht die Sänger vom Grundtypus ausgegangen sind und diesen dann variiert haben, sondern dass das Ansetzen eines Typus und die Erfassung von Abweichungen dazu dienen, von heute aus die Vielfalt der Konfigurationen möglichst übersichtlich zu ordnen. 63 Damit nähert sich die Sprechhaltung der des Sangspruchs an, in dem das Ich sehr viel seltener vorkommt als im Minnesang; vgl. dazu die Zahlen bei Braun 2017, 186, und Schnell 2013, 297. Zu Liedern, die auf das Personalpronomen ich verzichten und sich so der Redehaltung des Sangspruchs annähern, Schnell 2013, 297–307, 326–339. 64 Etwa dadurch, dass das Ich in einer Dörperwelt agiert. Vgl. hierzu Müller 2001b, 190–197. 65 Zur Bewusstmachung der Situationsspaltung im Frauenlied vgl. Hausmann 2011, 160, 170; Obermaier 2000, 46–47; Schnell 2001, 118–120; Schweikle 1989, 127; in Liedern, die weibliche und männliche Rede verbinden, vgl. Bennewitz 1991, 24; Hausmann 1999, 95–96; Kasten 1990, 16; Münkler 2011b, 79; Obermaier 2000, 43. Den Gattungsbegriff ‚Frauenlied‘ und seine Probleme diskutiert Kasten 2000, 6–10, den des Dialoglieds entfalten Boll 2011, 59–60, und Münkler 2011a, 12–14, und den des Wechsels Köhler 1997 und Scholz 1989. 66 Schnell 2013, 326–332. 67 Grimminger 1969, 59–66. 68 Alle Aussagen zur Metrik stehen unter dem Vorbehalt des Vorläufigen, da die meisten Melodien verloren sind und wir nicht wissen, in welchem Umfang die Redaktoren und Schreiber in die metrische Gestalt der Texte eingegriffen haben. Auch lassen die Handschriften einen gewissen Deutungsspielraum, zum Beispiel beim Ansetzen von Binnenreimen. Da diese Fragen hier nicht fallweise diskutiert werden können, werden Strophen so beschrieben, wie die gängigen Ausgaben (LDM, KLD, MF, SMS) sie auffassen.
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(→ Metrik und Formanalyse). Der Stil der Lieder wird vor allem von der Lexik, der Topik, der Syntax und der Rhetorik bestimmt.69 Das Lexikon des Minnesangs ist beschränkt und wird von Abstrakta dominiert. Wird es mit Konkreta angereichert, bedeutet das einen Wechsel des Stilregisters. Das Wortmaterial wird zudem oft in vorgeprägter Weise arrangiert, nämlich in Gestalt von Topoi wie dem → Natureingang.70 Nach ihrer Syntax gliedern sich die Minnelieder in zwei Gruppen: Die erste bevorzugt die Hypotaxe, mit der sie komplexe Reflexionen formuliert, die zweite die Parataxe, mit der sie entweder einen einzigen Stimmungswert – Freude oder Trauer – vermittelt oder mit vielen Leerstellen etwas erzählt. Hinsichtlich der rhetorischen Gestaltung fallen übergreifende Aussagen schwer. Nicht alle Konfigurationen, die diese Komponenten ermöglichen, haben die Sänger tatsächlich realisiert. Im Folgenden sollen die wichtigsten von ihnen vorgestellt werden; es wird also von vornherein auf den Anspruch verzichtet, sie so detailliert auszuarbeiten, dass ihnen jedes überlieferte Lied zugeordnet werden kann.71 Wohl aber soll die Geschichte der Liedtypen miterfasst werden, weshalb diese in geeigneter Weise spezifiziert werden. Außerdem wird eine strengere Systematik angestrebt, als sie die Forschung zu den Genres des Minnesangs erreicht hat,72 weshalb die folgende Übersicht über die Konfigurationen konsequent von der Sprechhaltung her aufgebaut ist.73 Unter den Liedtypen mit präsentischer männlicher Ich-Rede ist das ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘ der häufigste. Es verwendet die Semantik der Hohen Minne, die Stollenstrophe, das strenge Regelsystem des Versbaus, das reduzierte Standardlexikon sowie die Hypotaxe (→ Kanzone).74 Das ‚Lied der Hohen Minne / Formfreiheit‘ kann hingegen nicht nur in Stollen-, sondern auch in Langzeilenstrophen 69 Die Kategorie ‚Stil‘ wird derzeit wieder intensiv diskutiert, vgl. Andersen u. a. 2015. Für den Minnesang machen Eikelmann 2015, 62–63, und Gerok-Reiter 2015, 99, 104, 116, geltend, dass dessen Stil nur in der Interdependenz verschiedener Analyseebenen zu erfassen sei. 70 Zum Natureingang insgesamt Eder 2016; ein Kriterienkatalog zur Beschreibung von Natureingängen bei Köbele 2003, 56–57; zum Natureingang vor Neidhart Lieb 2000 und Lieb 2001. 71 Das ist offenbar das Ziel der Gattungssystematik von Schweikle 1989, 114–153, die entsprechend hypertroph gerät. Dagegen bleiben absolute Einzelfälle wie Dietmars von Aist Wechsel und Tagelied in Reimpaarstrophen oder Heinrichs von Morungen Tageliedwechsel im Folgenden unberücksichtigt. 72 Hier kann erneut beispielhaft auf Schweikle 1989, 114–153, verwiesen werden, der jeden irgendwann in der Geschichte der Minnesangforschung vorgeschlagenen Begriff berücksichtigt, ohne diesen Vorschlägen eine eigene Systematik aufzuerlegen. 73 Wenn man das nicht tut, kommt man zu einem Katalog, der fundamental unterschiedliche Typen (Hohes Minnelied, Frauenlied, Tagelied) neben solche stellt, die sich nur durch vergleichsweise unwichtige motivische Details auszeichnen (Traumlied, Fernelied, Tanzlied). Ein solches Nebeneinander findet sich etwa bei Weber 1995, 7–67. 74 Bei der Beschreibung der weiteren Konfigurationen werden immer nur die Komponenten erwähnt, die vom ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘ abweichen. Das dient aber nur der Lesbarkeit und bedeutet auf keinen Fall, dass dieses das Grundmodell wäre, das die anderen Liedtypen variiert haben, was literaturgeschichtlich schlicht falsch wäre.
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gehalten sein, es nimmt sich beim Bau der Verse Freiheiten, und es kennt neben der Hypotaxe auch die Parataxe. Das ‚Lied der Hohen Minne / Kritische Reflexion‘ zeichnet sich dadurch aus, dass es die Semantik der Hohen Minne auf ihre Tragfähigkeit hin befragt.75 Das ‚Lied der Hohen Minne / Formkunst‘ wiederum entleert diese und betont dafür die formale und die rhetorische Gestaltung (→ Form- und Klangkunst). Das ‚Minnekreuzlied‘ setzt die Semantik der Hohen Minne einer Konkurrenz durch die Werte der christlichen Religion aus (→ Kreuzlied); beim Versbau kann sowohl das freie als auch das strenge Regelsystem zur Anwendung kommen, sein Wortschatz wird durch das Kreuzzugsvokabular bereichert. Das ‚Lied der erfüllten Liebe / Langzeilenstrophe‘ spricht von erfüllter Liebe, verwendet die Langzeilenstrophe, gestattet sich Freiheiten im Versbau und ist stilistisch durch Konkreta, Zeilenstil, Symbole und Gnomik gekennzeichnet. Dagegen gießt das ‚Lied der erfüllten Liebe / Stollenstrophe‘ die Semantik der erfüllten Liebe ins Formgerüst der Stollenstrophe, wobei dem Versbau verschiedene Regelsysteme zugrunde liegen können. Andere Konfigurationen tilgen das Ich ganz oder weitgehend von der Textoberfläche und ersetzen es durch ein unpersönliches man, wodurch sich ihre Sprechhaltung der des Sangspruchs annähert.76 Das ‚Minnedidaktische Lied‘ kann sowohl die Hohe Minne als auch die erfüllte Liebe zum Thema haben. Es behandelt die Liebe mit einem didaktischen Gestus und/oder bindet sie an ethische Werte (→ Minnesang – Sangspruch). Beide Untertypen können sowohl in Langzeilen- als auch in Stollenstrophen stehen und entsprechend unterschiedliche Regelsysteme für den Versbau anwenden. Was den Stil angeht, bedienen sie sich gerne gnomischer Elemente. Das ‚Allgemeine Minnelied‘ geht von der Semantik der Hohen Minne aus, entproblematisiert sie aber und tendiert zur Betonung der Form, zum Natureingang und zum ‚geblümten Stil‘. Ein weiterer Liedtyp, nämlich ‚Neidharts Winterlied‘ macht klar, dass das textinterne männliche Sprecher-Ich vom textexternen Sänger zu unterscheiden ist (→ Sommer- und Winterlieder). Des Weiteren parodiert es die Hohe Minne, sein Lexikon ist heterogen (unter Einschluss zahlreicher Konkreta), und es beginnt stets mit einem winterlichen Natureingang. Bei den folgenden Liedtypen ist das Sprecher-Ich nicht oder nicht mehr nur männlich, wodurch es auch bei ihnen zur Situationsspaltung kommt. Im ‚Frauenlied / Hohe Minne‘ folgt das weibliche Ich den Prämissen der Hohen Minne, während es im ‚Frauenlied / Erfüllte Liebe‘ die Bereitschaft zur Hingabe an den Mann bekundet (→ Frauenlieder). Letzteres kann in Langzeilen- wie in Reimpaarstrophen gehalten sein, es kann sich große Freiheiten im Versbau nehmen und Konkreta, den Zeilenstil, Symbole und Gnomik verwenden. Im ‚Dialoglied‘ sprechen Mann und Frau miteinander, im ‚Wechsel‘ nebeneinander (→ Dialoglied – Wechsel – Botenlied). Letzterer kann 75 Zu Liedern, die konkurrierende Semantiken einspielen und so Reflexivität erzeugen, Huber 2012, 380–384. 76 Hierzu Hausmann 2004, 28–29 (vor allem zur Sprechhaltung); Huber 2012, 373–377 (vor allem zur Semantik).
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auf unterschiedliche Semantiken sowie Form- und Stilinventare zugreifen, weshalb man mindestens einen ‚Wechsel / Erfüllte Liebe‘ und einen ‚Wechsel / Hohe Minne‘ anzusetzen hat. Da das erzählende Ich immer vom erzählten Ich getrennt ist, kommt es bei den Ich-Erzählliedern unabhängig vom Geschlecht zur Situationsspaltung. Das ‚IchErzähllied / Hohe Minne‘ kennzeichnet neben dem autodiegetischen Erzähler die Neigung zu Konkreta, und das ‚Ich-Erzähllied / Erfüllte Liebe‘ ist in Langzeilenstrophen gehalten, räumt den Versen Lizenzen ein und bevorzugt den Zeilenstil, Symbole und Gnomisches. Die Lieder in der dritten Person verwenden alle einen heterodiegetischen Erzähler, auch wenn dessen Anteil am Text gegenüber dem der Figurenrede fallweise sehr klein sein kann (→ Narrative Interferenzen im Minnesang). Sie treten zu den folgenden Typen zusammen: dem → ‚Tagelied‘, das von Sexualität spricht und sich dazu gerne Konkreta und Tropen bedient; ‚Neidharts Sommerlied‘, das die Hohe Minne parodiert und Reienstrophen, Konkreta und Tropen verwendet (→ Sommer- und Winterlieder); das → ‚Erzähllied‘, das unterschiedliche Liebeskonzepte kennt, oftmals aber in schwankhafter Weise von erfüllter Liebe handelt, das neben der Stollen- auch die Langzeilen- und die Reimpaarstrophe gebraucht und das ebenfalls Konkreta aufweist; das ‚Redelied‘, das einen Monolog, und das ‚Gesprächslied‘, das einen Dialog erzählerisch rahmt.77 Die genannten Konfigurationen sind unterschiedlich weit verbreitet, und sie treten zu unterschiedlichen Zeiten auf. Erst wenn man nach ihrem gehäuften Vorkommen fragt und so Cluster auszumachen sucht, bringt das die Dimension der Zeit und damit die Geschichte in die Rekonstruktionsarbeit ein. Letztere lässt sich nur in dem Bewusstsein schreiben, dass die Datierungen über die Autoren mit vielen Unsicherheiten behaftet sind. Außerdem hat jede Konfiguration zunächst einmal ihre eigene Geschichte, und diese lässt sich nicht immer mit der anderer Konfigurationen synchronisieren. Des Weiteren lösen die Konfigurationen einander nur in den wenigsten Fällen ab, häufiger treten sie neben bereits vorhandene. Weil es von vornherein auf eine Mehrzahl von Geschichten angelegt ist, eignet sich das Konzept des Clusters also gleichermaßen dazu, Neuerungen in der Geschichte des Minnesangs zu erfassen wie Kontinuitäten herauszuarbeiten, und es kommt auch damit zurecht, dass die Œuvres vieler Minnesänger mehrere Konfigurationen enthalten. Wenn man die Geschichten der Konfigurationen radikal reduziert und nach der Dominante fragt, kommt ein zentrales Problem der konventionellen reduktionistischen Gattungsgeschichte sofort in den Blick: Dieses suggeriert steten Wandel, wo doch in Wirklichkeit immer dieselbe Konfiguration die häufigste bleibt und damit das Bild der Gattung bestimmt.
77 Wenn die Erzählerrede auf eine Inquitformel schrumpft, können sich die Gesprächs- den Dialogliedern annähern, von denen sie systematisch aber strikt getrennt bleiben. Vgl. hierzu Möckel 2011; Münkler 2011b, 80.
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4 Geschichte(n) des Minnesangs Das zwölfte Jahrhundert oder: die Vielstimmigkeit des Minnesangs Am schwierigsten ist die Clusterbildung dort, wo man traditionell die Anfänge des Minnesangs annimmt. Das hat mehrere Gründe: Zunächst einmal kennen wir nur wenige Lieder aus dieser Zeit, die sich zudem auf viele verschiedene Konfigurationen verteilen;78 beides macht häufigkeitsbasierte Aussagen nahezu unmöglich. Des Weiteren steht zu vermuten, dass die Redaktoren der Handschriften in die Gestalt dieser Texte eingegriffen haben, um diese den ästhetischen Vorstellungen ihrer Zeit anzunähern,79 sodass man schwer sagen kann, was an den überlieferten Texten alt, was neu ist. Schließlich weiß man über die fraglichen Autoren mit Ausnahme Kaiser Heinrichs (geb. 1165; gest. 1197) kaum etwas, was ihre historische Einordnung extrem erschwert.80 So kann der Autor mit dem Namen → ‚Der von Kürenberg‘ genauso wenig historisch identifiziert werden wie Meinloh von Sevelingen. Bei den Burggrafen von Regensburg und Riedenburg ist bis heute strittig, ob sie ein und dieselbe Person sind, da das Geschlecht der Riedenburger das Burggrafenamt in Regensburg innehatte, und um welchen Vertreter des Geschlechts es sich (jeweils) handelt.81 Ein Dietmar von Aist lässt sich zwar historisch greifen – urkundlich belegt ist dieser zwischen 1135/36 und 1161, gestorben vor 1171 –, doch ist fraglich, ob es sich bei ihm um den Sänger handelt. Außerdem muss offenbleiben, ob die Dietmar zugeschriebenen Lieder wirklich alle vom selben Verfasser stammen.82 Trotzdem gibt es ein Argument dafür, die Lieder der genannten Autoren in die zweite Hälfte des zwölften Jahrhunderts zu datieren. Ihre Korpora enthalten nämlich Lieder, die sich in vielerlei Hinsicht vom ‚Lied der Hohen Minne‘ unterscheiden, das aus der Romania nach Deutschland übernommen wird und auch hier rasch zum beherrschenden Liedtyp aufsteigt (→ Altokzitanische Liebeslyrik, → Liebeslyrik in
78 Grimminger 1969, 88, spricht von „unverhältnismäßig viele[n] Rollen der Minne“. 79 Dazu Worstbrock 1998, 120–124, 129–130. 80 Wenn nicht anders angegeben, stützen sich die Aussagen zu den Autorbiographien im Folgenden auf Meves 2005 und, wenn Sänger dort nicht vorkommen, auf 2VL. Datierungsversuche, die sich auf Angaben in den Werken stützen, die sich auf historische Ereignisse beziehen lassen, sind berücksichtigt, nicht aber solche, die sich lediglich auf stilgeschichtliche Argumente berufen. Auf wie ungesichertem Boden sich Letztere bewegen, zeigen die konträren Einschätzungen, zu denen die Forschung auf diesem Weg gekommen ist. 81 Worstbrock 1998, 131. Dagegen hält Benz 2014, 588–590, das Korpus des Burggrafen von Regensburg für ein ursprünglich anonymes, das erst die Große Heidelberger Liederhandschrift mit dem entsprechenden Autornamen versehen habe. 82 Vgl. die Übersicht über die entsprechenden Überlegungen der älteren Forschung bei Rathke 1932, 23–28.
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Nordfrankreich).83 Diesen anderen Minnesang wird man sich vor oder allenfalls noch neben dem Aufkommen der romanisch beeinflussten Konfigurationen denken, angesichts der vielfachen Überschneidungen zwischen beiden Formationen aber jedenfalls in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu diesen. Die Autoren, für die das ‚Lied der Hohen Minne‘ zentral ist, sind historisch auf breiter Basis in den 1170er Jahren belegt, weshalb man jenen anderen Minnesang, soweit er in der Überlieferung greifbar ist, kaum vor 1150/60 ansetzen wird. Am deutlichsten tritt die Differenz zu den romanischen Mustern beim Kürenberger hervor, weshalb dieser gerne als der erste Minnesänger gehandelt wird, obgleich es für diese Einschätzung keine sonstigen Anhaltspunkte gibt.84 Die Stimme, die sich in den Liedern des Kürenbergers artikuliert, ist oft eine weibliche. Folgt man dem Vorschlag Michael Schillings und stellt sämtliche Kürenberger-Strophen zu Wechseln zusammen, ist der ‚Wechsel / Erfüllte Liebe‘ der zentrale Liedtyp des Korpus.85 Wenn man das nicht tut, stehen die Frauen- gleichberechtigt neben den Männerstrophen.86 Neben dem ‚Wechsel / Erfüllte Liebe‘ (MF 7,1 / BuC 1 und MF 7,10 / BuC 2; MF 8,1 / BuC 4 und MF 9,29 / C 12)87 kommen noch die Konfigurationen ‚Lied der erfüllten Liebe / Langzeilenstrophe‘ (MF 9,21 / C 11; MF 10,1 / C 13; MF 10,9 / C 14; MF 10,17 / C 15), ‚Frauenlied / Erfüllte Liebe‘ (MF 8,17 / BuC 6; MF 8,25 / BuC 7; MF 9,13 / C 10), ‚IchErzähllied / Erfüllte Liebe‘ (MF 7,19 / BuC 3; MF 8,33 / BuC 8 und MF 9,5 / BuC 9) sowie ‚Gesprächslied‘ (MF 8,9 / BuC 5) vor. Was eine solche Zusammenstellung der Semantik der erfüllten Liebe zuordnet, erscheint aus der Nähe betrachtet überaus vielgestaltig.88 Zudem enthalten selbst die Lieder des Kürenbergers einzelne Wendungen, die das Modell der Hohen Minne anklingen lassen.89 Sämtliche seiner Strophen sind aber noch in Langzeilen abgefasst und folgen dem Tonprinzip, das heißt, mehrere Strophen beziehungsweise Lieder verwenden dieselbe metrisch-musikalische Bauform.90 Bei der Gestaltung des Auftakts, dem Bau der Verse und der Behandlung des Reims nehmen sie sich viele Freiheiten, während sie die Kadenz strikt regeln. Stilistisch prägt
83 Genauer zur Begründung dafür, dass man heuristisch bei der Differenz zum romanisch beeinflussten Minnesang ansetzt, Benz 2014, 575–578. 84 Auf den Nachweis von Forschungsliteratur zu einzelnen Sängern oder Liedern wird im Folgenden verzichtet, weil das Ziel einer repräsentativen Auswahl unmöglich erreicht werden könnte. Zudem kann auf die Autorenartikel des Handbuchs verwiesen werden. 85 Schilling 2004. 86 Diese Aussage folgt der traditionellen Einschätzung, da hier nicht für jede Strophe diskutiert werden kann, welches Geschlecht ihr Sprecher hat. Die entscheidenden Problemfälle nennt Bennewitz 1991, 27. 87 Zur Diskussion um den Strophenzusammenhang und das Ansetzen von Wechseln vgl. Benz 2014, 582–585. 88 Hierzu Benz 2014, 591–594. 89 Gerok-Reiter 2017, 34–36. 90 Differenzierter zum Verhältnis von Strophe und Lied im Minnesang des zwölften Jahrhunderts Ipsen 1933.
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die Lieder des Kürenbergers das Zusammenspiel zwischen der syntaktischen Füllung des Strophengerüsts einerseits und einer eigentümlichen Bildlichkeit andererseits.91 Weitere Lieder, die denen des Kürenbergers nahestehen, finden sich in den Korpora Dietmars von Aist, Kaiser Heinrichs, Meinlohs von Sevelingen und der Burggrafen von Regensburg und Riedenburg.92 Auch sie geben der Frau eine Stimme, vertreten ein Liebeskonzept, das auf Erfüllung setzt, und sind in Langzeilen abgefasst. Die genannten Korpora enthalten freilich alle auch Lieder, die andere Konfigurationen aufmachen.93 So enthält das Dietmar-Korpus der Großen Heidelberger Liederhandschrift folgende neue Konfigurationen: ‚Minnedidaktisches Lied / Erfüllte Liebe‘ (LDM C Dietm 9 u. a. / MF 33,31; sowie LDM C Dietm 21 u. a. / KLD Namenlos h 34), ‚Redelied‘ (LDM C Dietm 12 / MF 37,4), ‚Wechsel / Hohe Minne‘ (LDM C Dietm 29–31 / MF 38,32) – dieser kann auch in Langzeilen abgefasst sein und eine Botenstrophe enthalten (LDM C Dietm 25–28 / MF 37,30) –, ‚Tagelied‘ (LDM C Dietm 32–34 / MF 39,18) sowie ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘ (LDM C Dietm 41–42 u. a. / MF XVI). Die Zuordnung der Dietmar-Lieder zu Konfigurationen fällt einem aus mehreren Gründen schwer. Einige Lieder bestehen aus Strophen mit unterschiedlicher Sprechhaltung, bei anderen wiederum bleibt es undeutlich, ob ihre Semantik die der erfüllten oder der hohen Liebe ist – darunter auch solche, die die Stollenstrophe verwenden. Und neben der Langzeilen- und der Stollenstrophe findet sich bei Dietmar auch die Reimpaarstrophe, die möglicherweise einen älteren Formtypus bewahrt. Allen seinen Liedern gemeinsam sind nur die Freiheiten im Formbau (Hebungsprall, Assonanzen). Kaiser Heinrich kennt bereits den Liedtyp ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘ (MF 5,16 / BC 1–4). In Meinlohs erstem Ton kommen zwei weitere Konfigurationen hinzu, nämlich ‚Lied der Hohen Minne / Formfreiheit‘ (MF 11,14 / BC 3; MF 13,1 / BC 9) und ‚Minnedidaktisches Lied / Hohe Minne‘ (MF 12,1 / BC 4). Obwohl Meinlohs Lieder sämtlich in Langzeilenstrophen abgefasst sind, haben einige von ihnen also bereits an der Semantik der Hohen Minne teil. Der ‚Wechsel / Erfüllte Liebe‘ (MF 18,1 / BC 1–2) des Burggrafen von Riedenburg ist vor allem formgeschichtlich interessant.94 Denn während sein Bau im Budapester Fragment (Bu 1–2) noch der Langzeilenstrophe nahesteht, überliefern die Stuttgarter und die Große Heidelberger Liederhandschrift Stollenstrophen. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die handschriftliche Tradition in die Form eingegriffen und diese modernisiert hat. Allerdings ist auch nicht auszuschließen, dass der Riedenburger selbst den Text verändert hat, denn seine übrigen Lieder sind alle stollig gebaut. Neben die Korpora, die Langzeilen- und Stollenstrophen mischen, treten noch im zwölften Jahrhundert jene, die nur noch stollig gebaute Lieder enthalten. Es sind die 91 Gerok-Reiter 2015, 107–112; Grimminger 1969, 36–59, 110–118. 92 Vgl. die Zusammenstellung bei Benz 2014, 578–580, der freilich nur den Burggrafen von Regensburg und Dietmar von Aist berücksichtigt. 93 Hierzu und zum Folgenden Benz 2014, 596–660. 94 Worstbrock 1998, 119–122.
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Berngers von Horheim (Urkundenbelege 1196), Friedrichs von Hausen (Urkundenbelege 1171–1180, gest. 1190), Hartwigs von Raute (keine historischen Belege), Heinrichs von Rugge (Urkundenbeleg 1175/78),95 Heinrichs von Veldeke (keine historischen Belege), Ulrichs von Gutenburg (Urkundenbelege 1172–1196/1202) und Rudolfs von Fenis (Urkundenbelege 1158–1192, gest. 1192/96). Die beherrschenden Konfigurationen sind bei ihnen ‚Lied der Hohen Minne / Formfreiheit‘ sowie ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘. Es finden sich aber auch zahlreiche weitere Konfigurationen: ‚Minnekreuzlied‘ (Friedrich von Hausen), ‚Minnedidaktisches Lied‘ (Heinrich von Veldeke), ‚Frauenlied / Hohe Minne‘ (Friedrich von Hausen, Heinrich von Veldeke), ‚Frauenlied / Erfüllte Liebe‘ (Friedrich von Hausen), ‚Wechsel / Hohe Minne‘ (Heinrich von Rugge, Heinrich von Veldeke), ‚Wechsel / Erfüllte Liebe‘ (Friedrich von Hausen, Heinrich von Veldeke), ‚Redelied‘ (Heinrich von Veldeke). Es fällt auf, dass ein Teil der Autoren – Hausen, Rugge, Veldeke – Konfigurationen jenseits des ‚Lieds der Hohen Minne‘ erprobt, während der andere – Bernger von Horheim, Hartwig von Raute, Ulrich von Gutenburg, Rudolf von Fenis – sich auf dieses beschränkt. Aber auch in den Korpora der experimentierfreudigen Sänger stellen die ‚Lieder der Hohen Minne‘ die Mehrheit, was bis ans Ende der Gattung so bleiben wird. Dass das Liebeskonzept der Hohen Minne neu ist, merkt man den Liedern immer wieder an, so wenn die Sprecher sich sichtlich bemüht zeigen, es besonders klar zu formulieren, wenn sie seine Neu- oder gar seine Verrücktheit akzentuieren oder wenn sie es sich explizit verbieten, sich weiterhin so zu verhalten, wie sie es als adlige Männer gewohnt sind. Die entsprechenden Formulierungen finden sich bei Friedrich von Hausen und seinen Zeitgenossen noch sehr viel öfter als bei späteren Minnesängern. Was die Form anbelangt, wird die Stollenstrophe öfter noch mit Lizenzen gebraucht, die den Auftakt, das Metrum und den Reim betreffen. Einige der Strophen lassen sich als Kontrafakturen romanischer Vorbilder nachweisen. Auch kommen Sonderformen wie Perioden-, Reimpaar- sowie durchgereimte Strophen vergleichsweise häufig vor, besonders oft in den einstrophigen Liedern Heinrichs von Veldeke. Die Mehrzahl der Strophen ist um die zehn Verse lang, für den Versbau spielt der Dreitakter eine vergleichsweise große Rolle. Die Lieder bevorzugen jetzt längere hypotaktische Sätze und insbesondere Konditionalgefüge.96 Diese passen sich in der Regel in das Gerüst ein, das Vers und Strophe vorgeben. Der Wortschatz besteht vor allem aus dem abstrakten Lexikon der Hohen Minne, Konkreta finden sich nur bei Heinrich von Veldeke häufiger. Sehr vereinzelt verwenden die Lieder den Natureingang oder gehen ins Gnomische. Rhetorisch sind 95 Der Urkundenbeleg verweist nicht eindeutig auf Heinrich von Rugge, vgl. Bumke 1976, 61, 112–113, Anm. 349–350, sowie Rudolph 2018, 2–3. Außerdem ist das Korpus massiv von Zuschreibungsfragen betroffen, weil große Teile auch unter Reinmar überliefert sind. Die entsprechenden Fragen können hier nicht diskutiert werden, weshalb die Zuweisung an den Autor MF folgt. Vgl. zur Problematik Hausmann 1999, 339–342, und Rudolph 2018, 8–22. 96 Dazu Eikelmann 1988.
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sie vielfältig, die meisten arbeiten mit Figuren wie mit Tropen, ohne dabei etwa durch besondere Bilder aufzufallen. Zu den Ausnahmen gehören Berngers von Horheim Lügenlied (LDM B Berng 4–7 u. a.), das am Ende jeder Strophe wirkungsvoll das zuvor Gesagte dementiert und damit die Negativität der Hohen Minne herausarbeitet, Heinrichs von Rugge Strophe MF 100,34 / Rug C1 4, die das Wort minne möglichst oft verwendet (bis zu dreimal pro Vers) und also massiv mit der Figura etymologica und dem Polyptoton arbeitet, oder Rudolfs von Fenis Lied Gewan ich ze minnen (MF 80,1 / BC 1–3), das die Merkwürdigkeit der Hohen Minne mit den ausgefallenen Metaphern des Sich-im-Baum-Versteigens und des Der-Spielsucht-Erliegens bringt. Insgesamt stellt sich der Minnesang des zwölften Jahrhunderts so dar: Die Autorsammlungen sind vergleichsweise überschaubar, ihre Verfasser stammen aus dem Adel, auch aus dem hohen und höchsten, sodass das Dichten für sie wohl nur eine Nebenbeschäftigung gewesen sein wird. In ihren Texten zeichnet sich nur ein einziges Cluster ab, nämlich das ‚Lied der Hohen Minne‘, das damit von Beginn der Gattungsgeschichte an die Dominante darstellt.97 Neben das ‚Lied der Hohen Minne‘ tritt eine Fülle anderer Konfigurationen, die aber oft nur eine oder zwei Handvoll Vertreter haben. Einige von ihnen belegen, dass es einen Minnesang diesseits der romanischen Muster gegeben hat. Die räumliche Metapher ‚diesseits‘ ist bewusst gewählt, da offenbleiben muss, ob dieser Minnesang historisch vor oder neben dem romanisch beeinflussten steht, da sich keiner seiner Vertreter auch nur einigermaßen sicher datieren lässt. Hermeneutisch spricht freilich nichts dafür, ihn als Reaktion auf das romanische Modell zu beschreiben.98 In seiner reinsten – nicht: reinen – Gestalt tritt dieser Minnesang beim Kürenberger auf, dessen Lieder sich in der Sprechhaltung, der Semantik, der Form und im Stil in vielerlei Hinsicht vom ‚Lied der Hohen Minne‘ unterscheiden. Andere Korpora (Dietmar von Aist, Kaiser Heinrich, Meinloh von Sevelingen, Burggraf von Riedenburg) bilden eine Übergangszone aus, indem sie etwa die Semantik der Hohen Minne ins Formgerüst der Langzeilenstrophe gießen oder umgekehrt die Semantik der erfüllten Minne in Stollenstrophen kleiden oder indem sie Langzeilen- neben Stollenstrophen stellen. Selbst unterschiedliche Semantiken werden in ein und demselben Lied zusammengefügt.99 Und noch in einigen jener Korpora, in denen das ‚Lied der Hohen Minne‘ vorherrscht, finden sich Anklänge an den Minnesang diesseits der romanischen Muster, etwa der ‚Wechsel / Erfüllte Liebe‘ (Friedrich von Hausen, Heinrich von Veldeke), auch wenn dieser jetzt stollig gebaute Strophen verwendet. Dass er sich noch erhebliche Freiheiten gestattet, wenn er diese baut, ist ein Merkmal, das den Minnesang des zwölften Jahrhunderts als Einheit erscheinen lässt. Die vielfachen Interferenzen machen es, zusammen mit den vielen und großen Wissenslücken, nahezu unmöglich, eine Entwicklungsgeschichte zu konstruieren, 97 Tervooren 2000b, 165. 98 So auch Benz 2014, 577. 99 Dazu die Analysen in Gerok-Reiter 2017.
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die von einem autochthonen deutschen hin zum romanisch beeinflussten Minnesang verläuft.100 Angemessener erscheint es, von einer Vielstimmigkeit des Minnesangs im zwölften Jahrhundert zu sprechen.101 Außerdem wird man sich eingestehen müssen, dass sich von der Rezeption des romanischen Minnesangs kein scharfes, stimmiges Bild gewinnen lässt.102 Denn einerseits scheinen sämtliche Korpora, die einen Minnesang enthalten, der durch Komponenten wie die Frauenrede, die erfüllte Liebe oder die Langzeilenstrophe bestimmt ist, auch schon einzelne Reflexe auf die romanische Liebeslyrik (männliche Ich-Rede, Hohe Minne, Stollenstrophe) aufzuweisen. Es ist freilich auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es sich bei den fraglichen Aussagen nicht um Übernahmen handelt, sondern dass sie aus einem geteilten gesellschaftlich-kulturellen Grund hervorgehen (→ lateinische Liebeslyrik, Rhetorik, adlige Werte). Umgekehrt lässt sich die romanische Lyrik nicht auf die Hohe Minne festlegen – ihr Spektrum an Positionen ist viel breiter –, sodass sich auch Semantiken romanischem Einfluss verdanken können, die von dieser abweichen. Andererseits gibt es Sänger, die sich sehr viel eindeutiger als Adepten des romanischen Minnesangs beschreiben lassen, da sich einige ihrer Lieder unmittelbar auf okzitanische oder altfranzösische Prätexte beziehen, da diese aus mehreren Stollenstrophen bestehen und da sie die Hohe Minne eindeutig und einseitig ins Zentrum rücken und sie zugleich als etwas Neues ausweisen. Dazu kommt, dass sich diese Sänger fast alle in einer Kontaktzone zum romanischen Sprachraum lokalisieren lassen, die vom Niederrhein bis in den Jura reicht, und die Übernahmen bei ihnen damit unmittelbar naheliegend erscheinen.
Die Zeit um 1200 oder: die Professionalisierung des Minnesangs Die Korpora Hartmanns von Aue, Reinmars und Walthers von der Vogelweide übergreifen mit einiger Wahrscheinlichkeit die Wende vom zwölften zum dreizehnten Jahrhundert. Die Datierung beruht allerdings allein auf Hinweisen, die ihre Werke durch Anspielungen auf historische Ereignisse und auf literarische Texte geben.103 Heinrich von Morungen ist zwar urkundlich für die Jahre 1217 und 1218 und damit erst kurz vor seinem wahrscheinlichen Todesdatum belegt; intertextuelle Verweise lassen es aber als wahrscheinlich erscheinen, dass er ein Zeitgenosse Hartmanns, Reinmars und Walthers war. Hartmann, Heinrich, Reinmar und Walther haben derart umfangreiche und anspruchsvolle literarische Werke hinterlassen, dass sie sich dem Abfassen und Aufführen von Minneliedern mit einigem Ernst gewidmet haben müssen. 100 So der Titel der Arbeit von Hensel 1997: ‚Vom frühen Minnesang zur Lyrik der hohen Minne‘. 101 Gerok-Reiter 2017, 40–41. 102 Zu ihr Hübner 2011; Touber 2005; Schnell 2012a; Schnell 2012b; Zotz 2005. 103 Mit der Ausnahme der sogenannten Pelzrocknotiz für Walther von der Vogelweide aus dem Jahr 1203.
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Sie stehen also für eine Professionalisierung104 des Minnesangs, und entsprechend handelt es sich bei ihren Verfassern nicht mehr nur um Adlige, und wenn, dann um niedrige. Zum Dienstadel gehören auch Albrecht von Johannsdorf (Urkundenbelege 1172–1255) und Bligger von Steinach (Urkundenbelege 1142–1228), deren zeitliche Einordnung allerdings schwerfällt, weil sich die historischen Zeugnisse hier auf jeweils drei Generationen beziehen und es unklar ist, welcher Albrecht beziehungsweise Bligger der gesuchte Sänger gewesen ist. Auf zwei Generationen verteilen sich die Belege bei Engelhart von Adelnburg (Urkundenbelege 1180–1230), bei dem es sich um einen Freien handelt. Aus einem Grafengeschlecht stammen Heinrich von Anhalt (geb. 1170; Urkundenbelege 1195–1244; gest. 1244/45 oder 1251/52) und Otto von Botenlauben (Urkundenbelege 1197–1234), womit sie in sozialer Hinsicht aus der Gruppe der um 1200 tätigen Sänger herausfallen; dazu passt es, dass von ihnen nur schmale Œuvres überliefert sind. In den Werken aller dieser Autoren steht die Konfiguration ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘ im Zentrum. Offenbar kann die Semantik der Hohen Minne von den Sängern mittlerweile als bekannt vorausgesetzt werden. Da sie für sie aber verbindlich bleibt, führt das dazu, dass gerade die professionell agierenden Autoren auf verschiedene Weise an ihr weiter- beziehungsweise sich an ihr abarbeiten.105 Wo sich die entsprechenden Tendenzen verdichten, prägt sich die neue Konfiguration ‚Lied der Hohen Minne / Kritische Reflexion‘ aus. Zu den Bewegungen, die auf diesen Liedtyp hinführen, gehört das Bestreben, die Hohe Minne gedanklich ganz zu durchdringen. Paradefälle hierfür sind Reinmar-Lieder wie Wol ime, daz er ie wart geborn (MF 158,1 / A 15–18 u. a.) oder Ein wîser man sol niht ze vil (MF 162,7 / A 19–21 u. a.), aber etwa auch Hartmanns Swes vröide an guoten wîben stât (MF 206,19 / A 4–6 u. a.), Morungens Ez ist site der nahtegal (MF 127,34 / C 24–29) oder Walthers Die verzagten aller guoten dinge (L 63,8 / B 94–97 u. a.). Als ein weiteres Mittel, die Aussagemöglichkeiten der Hohen Minne auszuloten, lassen sich Metaphern verstehen, die Heinrich von Morungen mit besonderer Eindringlichkeit und Virtuosität verwendet und die, wie die der Gewaltsamkeit des Minneverhältnisses oder die des Sonnen- oder Sternenglanzes, dem Entrücktsein der Dame prägnant Ausdruck verleihen. Heinrichs von Morungen Narzisslied (MF 145,1 / Reinmar e 364–367) entfaltet seine Bildlichkeit vor der Folie des antiken Mythos, die
104 ‚Professionalisierung‘ ist ein Gegen- und ein Verlegenheitsbegriff: Mit ihm lassen sich jene Sänger bezeichnen, die sich offensichtlich ernsthafter der Liedproduktion gewidmet haben als die vielen adligen Dilettanten, die den häufigsten Autortyp des Minnesangs darstellen, ohne dass wir aber bei den meisten von ihnen sicher sagen könnten – die Ausnahme stellt Walther von der Vogelweide dar –, dass sie für den Minnesang und vor allem von ihm gelebt haben, weshalb es sich verbietet, sie als Berufsdichter anzusprechen, zumal das auch ihrem Selbstverständnis zuwiderliefe (vgl. Hartmanns Prolog zum ‚Iwein‘). 105 Hausmann 2017 beschreibt die Ansätze als Komplexitätssteigerung. Abgebildet wird die argumentative Komplexität der Lieder etwa in den Interpretationen von Kellner 2018.
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sie mit zusätzlicher Bedeutung auflädt. Auch wenn die einzelnen Bilder und das Lied insgesamt sich jeder Eindeutigkeit zu entziehen scheinen, tritt die Destruktivität der Hohen Minne doch deutlich hervor. Auf der wörtlichen Ebene kritisieren Hartmanns Maniger grüezet mich alsô (MF 216,29 / C 52–54) sowie Walthers Aller werdekeit ein füegerinne (L 46,32 / A 69–70 u. a.), Herzeliebez vrowelîn (L 49,25 / A 121–125 u. a.) und Bin ich dir unmære (L 50,19 / B 85–86 u. a.), dass die Hohe Minne die Dame in eine übermächtige Position versetzt, und halten ihr ein thetisch formuliertes Liebeskonzept entgegen, das die Gleichheit der Partner zur Voraussetzung des gemeinsamen Liebesglücks erklärt. Neue Funken aus der Hohen Minne schlagen auch der Witz oder die Ironie,106 wenn Heinrich von Morungen erklärt, sein Sohn werde ihn an der Dame rächen und ihr dereinst das Herz brechen (MF 124,32, III / C 12), oder Reinmar sagt, er wolle der Dame ein küssen […] versteln (MF 159,1, III, V. 2 / A 9 u. a.), es wegschaffen und verstecken, es aber auf ihre Beschwerde hin bereitwillig zurückerstatten, oder Walther bekennt, er hätte die Dame ungerne darauf aufmerksam gemacht, dass er sie nackt beobachtet habe (L 53,25, V / A 92 u. a.). Des Weiteren machen die um 1200 tätigen Sänger das zentrale Sprechtabu des Minnesangs107 bewusst, indem sie nach neuen Wegen suchen, die es ihnen erlauben, über Sexualität zu sprechen, ohne sich des rüemens schuldig zu machen. Dass sie dafür das Genre wechseln müssen, belegt, dass sie an den Prämissen der Hohen Minne festhalten. Heinrichs von Morungen Lied Owê, sol aber mir iemer mê (MF 143,22 / C 93–96 u. a.) füllt die Konfiguration ‚Wechsel / Erfüllte Liebe‘ mit neuem Gehalt, indem es Mann und Frau in ihren Monologen die Tageliedsituation heraufbeschwören lässt. Reinmar nutzt die narrative Distanz des ‚Redelieds‘, um eine Frau von ihrem sexuellen Verhältnis zum Mann sprechen zu lassen (MF 203,10 / e 360–361). Walthers Lied von der Traumliebe (L 74,20 / A 134–138 u. a.) entspricht der Konfiguration ‚Ich-Erzähllied / Hohe Minne‘, das die Erfüllung der Liebe aber immerhin in Symbol (Kranz), Metapher (Blumenbrechen, Erröten der Frau) und Euphemismus (Verschweigen) andeutet, auch wenn es sie am Ende zum Traum erklärt. Und das Lindenlied (L 39,11 / B 42–45 u. a.) gestaltet die Konfiguration ‚Frauenlied / Erfüllte Liebe‘, indem es die Sprecherin in Andeutungen von einer beglückenden Liebesbegegnung berichten lässt. Indem es fast nur von der Sexualität spricht, legt es offen, dass diese das Zentrum des Minnesangs darstellt, allerdings ein sorgsam verborgenes. Schließlich wird die Hohe Minne auf ihr Verhältnis zur Religion und zur Moral hin befragt. Mit einer religiösen Alternative konfrontieren Albrecht von Johannsdorf, Hartmann von Aue und Reinmar die irdische Liebe in ihren ‚Minnekreuzliedern‘. Hartmann lässt auch sonst anklingen, dass der Frauendienst nicht nur hoffnungs-, sondern auch sinn- und heillos sein könnte (MF 214,12 / C 40–41). Heinrich von Morungen wiederum bereut momenthaft, sich nicht der Sorge um sein Seelenheil,
106 Mit Blick auf Walther Köbele 2009. 107 Zum Sexualtabu des Minnesangs Braun 2015.
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sondern der Minne verschrieben zu haben (MF 127,34, VI / C 29; MF 136,1, III / A 3 u. a.). Hartmann legt einen moralischen Maßstab an sich selbst an, wenn er das Scheitern seiner Werbung auf seine Untreue zurückführt und Besserung gelobt (MF 211,27 / B 23–25 u. a.). Heinrich von Morungen wiederum erklärt den Niedergang des Minnesangs mit dem Fehlen einer diesem gemäßen Grundhaltung der Gesellschaft, nämlich der Freude (MF 143,4, I / C 90). Verwandte Klagen finden sich bei Walther von der Vogelweide (L 42,31 / B 52–55 u. a.), der zudem ernsthaft darüber nachdenkt, ob nicht die ethischen Defizite der Frauen und des Publikums die Minne und den Minnesang ihres Sinns berauben würden (L 48,12 / A 85–88 u. a.; L 90,15 / C 60–64 u. a.; L 112,3 / C 381–382; L 116,33 / C 409–413 u. a.). Eine neue Konfiguration der Zeit um 1200 stellt das ‚Dialoglied‘ dar, wie es Reinmar (MF 195,37 / C 236–241; MF LXVII / e 372–376) und Walther von der Vogelweide (L 70,22 / A 14–17 u. a.; L 85,34 / C 42–46 u. a.) gestalten. Sie erlaubt es, die Diskussion um die Minne anders zu führen, weil sie mit verteilten Rollen arbeiten kann. Die zweite Sprecherposition neben der Frau kann auch mit einem Boten besetzt sein (MF 177,10 / b 70–74 u. a.; L 112,35 / C 386–389). Und indem Hartmann von Aue nach einem Frauen-Boten-Dialog noch den liebenden Sänger zu Wort kommen lässt, macht er den Dialog zum Lied im Lied (MF 214,34 / A 1–3 u. a.). Eine Rekonfiguration erfährt der ‚Wechsel‘ in Reinmars Si koment underwîlent her (MF 151,1 / B 2–5 u. a.) und Ich wirde jaemerlîchen alt (MF 152,15 / B 6–8 u. a.), die die Semantik der erfüllten Liebe (in den Frauenstrophen) unvermittelt auf die der hohen (in den Männerstrophen) stoßen lassen. Das lässt sich als Kommentar der neueren Konfiguration zur älteren lesen und als Beleg dafür nehmen, dass der Minnesang ein gattungsgeschichtliches Bewusstsein auszubilden beginnt.108 Deutlich gestiegen sind um 1200 die Anforderungen an den Formbau. Der Auftakt ist jetzt geregelt, das Metrum – meist ist es eine alternierendes, der Dreitakter verliert an Bedeutung – wird durchgehalten, die Reime sind alle rein. Auch wird die Stollenstrophe mitunter zur Großform ausgebaut – die Strophen von Reinmars Lied Daz beste, daz ie man gesprach (MF 160,6 / A 22–26 u. a.) umfassen sechzehn Verse – oder kunstvoll variiert wie in Walthers Alterston (L 66,21 / A 99–103 u. a.), der mit einer sogenannten gespaltenen Weise arbeitet, bei der die beiden Stollen einen ungleich gebauten dritten Teil umklammern und der Bau der Stollen mit umarmendem Reim dieses Prinzip wiederholt. Bei Walther tauchen außerdem die ersten Lieder auf, die sich der Konfiguration ‚Lied der Hohen Minne / Formkunst‘ zuordnen, indem sie die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Form lenken, nämlich das Vokalspiel (L 75,25 / A 147–151 u. a.), das aus fünf monorimen Strophen mit den Langvokalen â, ê, î, ô, û als Reimen besteht, sowie die Liedstrophe Ich minne, sinne, lange zît (L 47,16 /
108 Indizien dafür, dass sich Minnesänger zu ihren Vorgängern ins Verhältnis setzen, entnimmt Schiewer 2002 den Totenklagen.
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B 71 u. a.), die die Reime derart verdichtet, dass die Dimension des Klangs in den Vordergrund tritt. Stilistisch prägen einige Autoren klar unterscheidbare Profile aus: Während etwa Heinrich von Morungen stark mit Metaphern arbeitet, die zu den Bildfeldern Sinnenund Selbstverlust, Gewalt und Feindschaft sowie Glänzen, Leuchten und Strahlen zusammentreten, arbeitet Reinmar mit einer bildarmen Sprache und setzt auf Stellungsfiguren wie Chiasmus, Antithese und Klimax. Und Walther hat Lieder verfasst, die mit rhetorischen Mustern wie dem des Schönheitspreises (L 53,25 / A 89–93 u. a.) und des Jahreszeitentopos spielen (L 45,37 / A 66–68 u. a.). Zusammen mit einer durchgehaltenen Pose109 (bei Reinmar etwa die desjenigen, der ungeheuer leidet, sein Leid aber vorbildlich erträgt und es in immer neuen Klagen ausdrückt, obwohl das Publikum dieser angeblich überdrüssig ist), mit Selbstzitaten (MF 131,25, II / B 18 u. a.; MF 195,10, III, V. 5 / C 235 u. a.) und mit Zeitdeiktika (dicke, êrst, her, ie, lanc, nie, nu, wîlent) koppelt die stilistische Signatur das textinterne Ich scheinbar an das textexterne des Autors.110 Erweckt wird so der Eindruck einer Art Werkbiographie.111 Dazu passt es, dass dieses Ich jetzt genauso ein singendes wie ein liebendes ist.112 Sein Sang dient der Werbung oder wird durch die Minne ausgelöst, er kann sich aber auch von der Minne abkoppeln und so zum Daseinsgrund der Sängerexistenz werden: wan ich dur sanc bin ze der welte geborn (MF 133,13, I, V. 7 / C 46). Entsprechend kann Walther in die Rolle des umherreisenden (L 56,14 / A 57–61 u. a.), des konkurrierenden (L 64,31 / C 112–116 u. a.) oder des alternden Sängers (L 57,23 / C 203–206 u. a.; L 66,21 / A 99–103 u. a.) schlüpfen, oder er kann der Dame drohen, den Sang einzustellen und so ihre Existenz zu bedrohen, womit er sie „als eine dem Sänger verfügbare Fiktion, als Kunstprodukt“113 entblößt (L 72,31 / A 111–115 u. a.). Auch Walthers Spiel mit der Nennung des eigenen Namens (L 73,23, V / A 120 u. a.; L 118,24, V / C 421 u. a.), das das Prinzip der Allgemeinheit des Minnesangs aufhebt, gehört hierher. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den um 1200 aktiven Sängern wird man Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach ansetzen. Während unter dem Namen Gottfrieds nur ein einziges Minnelied überliefert ist, besteht das lyrische Werk Wolframs aus immerhin neun Liedern. Wolframs Liedœuvre ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil in ihm die Konfiguration → Tagelied ihren Durchbruch erlebt, und zwar einen fulminanten. Denn die fünf Tagelieder Wolframs arbeiten den Liedtyp in verschiedener Weise aus und durch. So gibt es Lieder, die im narrativen Modus
109 Zum Begriff Haferland 2004, bes. 79, 91. 110 Hierzu die biographische Interpretation bei Haferland 2000, 91–125, und ihre Kritik bei Kropik 2009, 256–262. 111 Dieser hat die Forschung – etwa von Kraus 1919 – immer wieder dazu veranlasst, die Lieder zu Zyklen zu ordnen, die die Liebesgeschichte des Sängers abbilden, vgl. hierzu Kropik 2009, 256–263. 112 Hausmann 2004, 32, außerdem die interpretierenden Belegsammlungen bei Bein 1996 und Obermaier 1995. 113 Hausmann 1999, 238.
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(MF 3,1 / G 1–3; MF 5,34 / BC 4–5) gehalten sind, während andere den dramatischen bevorzugen (MF 4,8 / G 4–8; MF 6,10 / BC 6–8; MF 7,41 / A 1–4 u. a.). So lädt die Wiederholung des Liebesaktes in der Abschiedssituation diese und mit ihr die Gattung erotisch auf. So erweitert der Wächter die Dyade des Liebespaars um eine dritte Position und mit ihr die Aussagemöglichkeiten (→ Der Dritte / das Dritte). Und so schlägt eines der Lieder (MF 5,34 / BC 4–5) vor, die illegitime heimliche Liebe durch eine offizielle ehelich zu ersetzen, und unterläuft so die Grundlagen des Genres ‚Tagelied‘. Außerdem ragen Wolframs Tagelieder durch ihre Bildgewalt heraus. Bei Burkhard von Hohenfels (Urkundenbelege 1191–1194, 1216–1242, verteilt auf zwei oder drei Generationen) und Hiltbolt von Schwangau (Urkundenbelege 1142/46– 1183, 1221–1257, verteilt auf zwei Generationen) ist unsicher, ob sie ins zwölfte oder ins dreizehnte Jahrhundert gehören, auch wenn Letzteres wahrscheinlicher sein mag. Das Korpus Burkhards enthält zahlreiche Konfigurationen: ‚Gesprächslied‘ (LDM C Burk 27–31 / KLD 7), in dem sich zwei Freundinnen über die Liebe austauschen; ‚IchErzähllied / Erfüllte Minne‘ (LDM C Burk 45–49 / KLD 11), in dem der männliche Sprecher von einem Tanz berichtet; ‚Wechsel / Hohe Minne‘ (LDM C Burk 54–58 / KLD 13); ‚Dialoglied‘ (LDM C Burk 64–68 / KLD 15), in dem wieder zwei Freundinnen miteinander sprechen. Dazu kommen etliche Texte der Konfiguration ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘. Auch wenn einige Lieder Burkhards eine Semantik aufweisen, die die Hohe Minne erweitert – etwa um den Tanz, der erotische Erfüllung verspricht –, fällt an ihnen vor allem ihre rhetorische Gestaltung auf. Sie setzen zahlreiche Stilmittel wie die rhetorische Frage, die Figura etymologica, den Parallelismus oder die Anapher ein, vor allem aber gewählte beziehungsweise gelehrte Metaphern. Als Bildspender für das Minneverhältnis dienen etwa alle Arten von Tieren – besonders oft die Greifvögel –, die Landschaft und der Garten, die vier Elemente, die Jagd, die Gefangenschaft und die Herrschaft. Das Lied Min herze hat minen sin (LDM C Burk 37–41 / KLD 9) baut die Metaphern zur Allegorie aus. Das Vokabular ist für den Minnesang mitunter unkonventionell, manche Bilder sind schwer zu entschlüsseln. So lässt sich Burkhard, will man dieses Konzept noch gebrauchen, dem ‚geblümten Stil‘ beziehungsweise der obscuritas zurechnen. Die Signifikanz Hiltbolts besteht hingegen in der Insignifikanz seines Werks. Seine Lieder sind kurz und haben in der Mehrzahl nur ein, zwei oder drei Strophen. Sie gehören alle zu der Konfiguration ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘ und erfüllen deren Vorgaben routiniert; entsprechend unauffällig sind sie in semantischer und stilistischer Hinsicht. Der Minnesang um 1200 verdankt sich zu einem erheblichen Teil professionell arbeitenden Autoren, was man ihm anmerkt. Die Prämissen der Hohen Minne werden mit letzter Konsequenz durchdekliniert, was beinhaltet, dass sie mit inneren und äußeren Alternativen konfrontiert werden. Formal sind die Lieder überaus gekonnt, es gibt erste Vorstöße hin zur Formkunst. Auf der Ebene des Stils ergibt sich durch die unterschiedliche rhetorische Einkleidung der Minnesemantik die Möglichkeit, erkennbare Autorprofile auszubilden, etwa durch die intensive Arbeit mit Metaphern (Burkhard von Hohenfels, Heinrich von Morungen) oder mit Figuren (Reinmar). Dazu
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erwecken die Lieder durch verschiedene Verfahren den Eindruck, Produkte eines übergreifenden Dichterlebens zu sein. Was die Konfigurationen angeht, so ist das ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘ die Dominante, und zwar noch deutlicher als im zwölften Jahrhundert. Um sie herum steht eine Vielfalt anderer Liedtypen, sodass sich aufs Ganze gesehen hier kaum weitere Cluster ausmachen lassen; auf der Ebene von Autorenœuvres ist das anders, hier lassen sich durchaus Schwerpunktsetzungen beobachten (bei Johannsdorf auf dem ‚Minnekreuzlied‘, bei Wolfram auf dem ‚Tagelied‘). Neu sind die Konfigurationen ‚Lied der Hohen Minne / Kritische Reflexion‘ und ‚Lied der Hohen Minne / Formkunst‘. Weiterhin bedient werden ‚Minnekreuzlied‘, ‚Lied der erfüllten Liebe / Stollenstrophe‘, ‚Minnedidaktisches Lied / Hohe Minne‘, ‚Frauenlied / Hohe Minne‘, ‚Frauenlied / Erfüllte Minne‘, ‚Dialoglied‘, ‚Wechsel / Hohe Minne‘, ‚Ich-Erzähllied / Erfüllte Liebe‘, ‚Tagelied‘, ‚Redelied‘ sowie ‚Gesprächslied‘. Diese Vielfalt an Liedtypen verdankt sich einerseits der literaturgeschichtlichen Übergangssituation um 1200, indem das reiche Erbe der Gattungsgeschichte angenommen und weiterentwickelt wird, andererseits dem Können und der Kreativität der damals tätigen Sänger. Diese haben ein Gattungssystem ausgebildet, das sich von dem der Romania deutlich unterscheidet, indem es bestimmte Genres nicht übernimmt, andere verändert und ihm eigene hinzufügt.114
Das ‚lange‘ dreizehnte Jahrhundert oder: Neueinsätze und Traditionspflege im Minnesang Von den Autoren, die bereits ganz ins dreizehnte Jahrhundert gehören – Anspielungen in den Liedern führen in die 1220er und 1230er Jahre sowie nach Bayern und Österreich –, ist Neidhart der folgenreichste. Sein Minnesang markiert den Neueinsatz in der Geschichte der Gattung schlechthin, indem er die Spielregeln der Hohen Minne erstmals suspendiert, ja parodiert. Entscheidendes Vehikel hierfür sind die Dörper – Kunstfiguren, die ihren Aggressions- und Sexualtrieb ungezügelt ausleben und damit für die höfische Welt „abstoßend und faszinierend in eins“115 sind. Die Originalität Neidharts zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er zwei neue Konfigurationen geschaffen hat: ‚Sommerlied‘ und ‚Winterlied‘. Das Sommerlied erzählt die Monologe oder Dialoge von Frauen, die vor allem von der Attraktion handeln, die der Sänger Neidhart von Reuental auf sie ausübt. Das Winterlied übernimmt die Sprechhaltung des ‚Lieds der Hohen Minne‘, verändert aber dessen Semantik, indem es das SprecherIch zum Akteur in einer Dörperwelt macht. Formal ist das ‚Sommerlied‘ durch die Reienstrophe gekennzeichnet, während das ‚Winterlied‘ weiterhin die Stollenstrophe verwendet. Die Zuordnung sämtlicher Lieder zu den beiden Typen ‚Sommer-‘ und
114 Zusammenfassend Schnell 2012a, 40–44. 115 Müller 2001c, 78.
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‚Winterlied‘, die untereinander in einer strukturellen Opposition stehen, trägt zu dem Eindruck bei, dass Neidharts Werk einen geschlossenen Kosmos ausbildet. Auch stilistisch besitzen Neidharts Lieder ein markantes eigenes Profil. Sie verwenden durchgängig den Natureingang – das ‚Sommerlied‘ einen sommerlichen, das ‚Winterlied‘ einen winterlichen – und ihr Lexikon enthält eine große Zahl von Konkreta. Auch tragen die Dörper, besonders die der Winterlieder, häufig Namen und zwischen ihnen bestehen verwandtschaftliche und genossenschaftliche Beziehungen. All diese Realitätspartikel zielen freilich nicht auf Mimesis, sondern konstituieren „eine imaginierte Kunstwelt“116, die sich vom Hier und Jetzt der Vortragssituation abhebt. Neidhart war enorm erfolgreich, was sich daran zeigt, dass er nicht nur bis ins sechzehnte Jahrhundert in einer Dichte überliefert wird wie kein anderer Minnesänger außer Walther, sondern auch produktiv rezipiert wird, wobei die Gattungsgrenzen hin zum Schwankdrama und zur Schwankerzählung überschritten werden. Aber auch die Gattung selbst verändert sich durch sein Auftreten tiefgreifend. Unmittelbar augenfällig ist das bei denjenigen Autoren, die sich an ihn anschließen, indem sie dörperliche Figuren auftreten lassen,117 indem sie durchgehend den Natureingang verwenden oder indem sie die Stilhaltung der Konkretisierung118 übernehmen. Aber auch das Festhalten an konventionellen Mustern der Hohen Minne, für das sich die Mehrheit der Sänger entscheidet, ist nach Neidhart die bewusste Wahl eines von mehreren Registern. Anders gesagt: Nach Neidhart ist das ‚Lied der Hohen Minne‘ eine konservative Konfiguration, und es sagt etwas über die Lyrik des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts aus, dass es die Dominante bleibt. Von den Sängern des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, unter deren Namen umfangreichere und/oder besonders profilierte Werkkomplexe überliefert sind, sind vier Adlige, nämlich Ulrich von Singenberg (Urkundenbelege 1219–1228), Ulrich von Liechtenstein (Urkundenbelege 1227–1274; gest. 1275), Gottfried von Neifen (Urkundenbelege 1234–1279) und Ulrich von Winterstetten (Urkundenbelege 1241– 1280), sowie sieben Nicht-Adlige, von denen ein Teil zu den professionellen Autoren zählt, nämlich der Tannhäuser, Konrad von Würzburg (erstes datierbares Werk 1257/58; gest. 1287), der Kanzler, → Steinmar, der Wilde Alexander, Frauenlob (um 1300) sowie Johannes Hadlaub (Urkundenbeleg 1302). Die wichtigsten neuen Cluster in den Korpora der genannten Sänger sind das ‚Lied der Hohen Minne / Formkunst‘ und das ‚Allgemeine Minnelied‘. Das erste verschiebt die Aufmerksamkeit von der Semantik der Hohen Minne – diese ist bekannt und kann in Schlagwörtern abgerufen werden – auf die Rhetorik, die Form und den Klang.119 In dem zweiten adressiert nicht mehr das eine Ich die eine Dame, sondern ein nicht mehr pronominal greifbarer
116 Müller 2001b, 194. 117 Was relativ selten ist, vgl. Weber 1995, 341. 118 Der Begriff nach Glier 1984. 119 Braun 2013.
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Sprecher die Frau an sich, die jetzt reine Freude verursacht.120 Auch das ‚Allgemeine Minnelied‘ partizipiert an der Aufmerksamkeitsverschiebung von den Inhalten hin zu Rhetorik, Form und Klang. Diese lässt sich folgendermaßen beschreiben: Erstens kommt es zu einer ‚Objektivität des Worts‘.121 So werden bestimmte Wendungen, Reimwörter und Motive inflationär gebraucht – im Minnesang des dreizehnten Jahrhunderts ist der Mund der Dame nahezu immer rôt und recht oft reimt das Farbadjektiv auf nôt und tôt –, sie haben jetzt vor allem Signalwert und müssen, soll ihnen trotzdem noch Nachdruck verliehen werden, rhetorisch besonders betont werden, etwa durch Wiederholung, durch ausgefallene Attribute, durch Wortneubildungen und ähnliches. Etwas Vergleichbares passiert mit dem Topos des Natureingangs, der bei vielen Autoren zum Standardelement wird, so bei Gottfried von Neifen, bei dem 46 von 51 Liedern einen Natureingang aufweisen, bei Konrad von Würzburg (19 von 23), bei Steinmar (11 von 14) oder beim Kanzler (alle 11). Entsprechend hoch ist auch hier der Variationsdruck, der etwa dazu führt, dass der Natur‚eingang‘ ins Liedinnere verschoben, dass er über die erste Strophe hinaus erweitert oder dass der Stimmungswert, den er vermittelt, von dem des Sprechers entkoppelt wird. Außerdem montieren manche Lieder Maximen der Hohen Minne zusammen, ohne groß auf deren Vereinbarkeit zu achten. Auch können diese verkehrt oder verneint werden. Am deutlichsten wird das dann, wenn das sexuelle Glück gefeiert und die Minne dadurch entproblematisiert wird. An die Stelle des Leids tritt so die reine Freude.122 Schließlich kann der Argumentationsaufbau mehrerer Texte eines Autors ein und demselben Schema folgen. So enthält das Kanzler-Korpus eine Gruppe dreistrophiger Lieder, bei denen die erste Strophe einen Natureingang bringt, die zweite einen Aufruf zur (Liebes-)Freude und die dritte einen allgemeinen Frauenpreis. Zweitens tritt der rhetorische ornatus stärker in den Vordergrund, und es wird wichtiger, wie etwas gesagt wird als was. Folglich verwenden die Lieder weniger solche rhetorische Mittel, die dem Herausarbeiten von Argumenten dienen, als solche, die bereits für sich genommen einen hohen Aufmerksamkeitswert besitzen. So folgt die Themenentfaltung in Liedern wie Neifens Selig, selig si du̍ wunne (LDM C Neif 54–58 / KLD 13) oder Nu siht man aber die heide val (LDM C Neif 96–101 / KLD 23) dem Prinzip der amplificatio, das von einer Art Leitworttechnik unterstützt und von Wiederholungsfiguren wie der Anapher und dem Parallelismus begleitet wird. Die Leitworttechnik kann wie im Lied Vroͤ it u̍ch, stolzen leigen! (LDM C Kanz 55–57 / KLD 15) des Kanzlers durch die Figura etymologica und das Polyptoton weiter aus120 Im Hohen Sang kommt zwar Freude auch vor, sie ist dabei aber immer – das arbeitet Kellner 2015 heraus – mit dem gegensätzlichen Affekt des Leids verschränkt. Genau diese Verschränkung gibt das ‚Allgemeine Minnelied‘ auf. 121 Kuhn 1967, 73. 122 Zu dieser Tendenz auch das Fazit der übergreifenden Untersuchungen der Lyrik des dreizehnten Jahrhunderts von Weber 1995, 339.
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gestaltet werden. Die Bedeutung der Tropen steht in den hier diskutierten Liedern des dreizehnten Jahrhunderts hinter der der Figuren zurück; selbstverständlich kommen auch sie vor, aber nur vergleichsweise selten prägen sie wie im Kindheitslied des Wilden Alexander (LDM J WAlex 30–36 / KLD 5) oder in den Liedern Frauenlobs die Wahrnehmung ganzer Lieder. Drittens ist auch die Stollenstrophe inzwischen so gut bekannt, dass man auf vielerlei Weise mit ihr spielen kann, wodurch die Form ins Zentrum der Wahrnehmung rückt. Zunächst einmal kann die Formvorgabe der Stollenstrophe – AAB – aufgeweicht werden, indem die Stollen nur noch teilweise übereinstimmen oder sich der Ab- dem Aufgesang annähert. Gespielt wird nun öfter mit der Stollenstrophe als innerhalb ihrer Regeln. Die Vertrautheit mit der Stollenstrophe setzt außerdem ein formkünstlerisches und formexperimentelles Potential frei. Es äußert sich etwa in der Zunahme von Binnenreimen, die dem Formbau weitere Möglichkeiten eröffnen. So arbeiten in Konrads von Würzburg Jarlanc scheiden wil du̍ linde (LDM C KonrW 12–14 / SCHR 6) die Binnenreime die Strukturvorgabe der Endreime nach und unterstreichen sie dadurch, während sie diese in Neifens Ich hoͤ re aber die vogel singen (LDM C Neif 69–73 / KLD 16) durchkreuzen. Ein weiteres Phänomen, das die Formseite der Lieder betont, ist das Prinzip des grammatischen Reims, etwa in Ulrichs von Liechtenstein Wol her alle, helfent singen (LDM C Liecht 274–278 u. a. / KLD 52). Monorime Reime verwenden etwa der Kanzler im Lied Leider winter ungestalt (LDM C Kanz 49–51 / KLD 13) – und das in 20 Verse langen Strophen – sowie Ulrich von Singenberg in seiner Walther-Parodie Sol ich mich rihten nâch dem  (SMS 27 / A 101–105 u. a.). Ulrichs von Liechtenstein Dialoglied Wizzet, frowe wol getan (LDM C Liecht 167–171 u. a. / KLD 33) kombiniert monorime (Männerstrophen) mit scheinbar reimlosen Strophen (Frauenstrophen), die sich aber bei näherem Hinsehen als korngereimt erweisen. Mit identischen – genauer: mit äquivoken – Reimen arbeitet Neifens Lied Ich wolde niht erwinden (LDM C Neif 113–116 / KLD 27). Gleichsam die Summe dieser Reimkünste stellt Konrads von Würzburg Lied Jarlanc vrijet sich du̍ gruͤ ne linde (LDM C KonrW 33–35 / SCHR 13) dar, das nicht nur Binnen- und Endreime aufweist, sondern diese als homonyme sowie als Schüttelreime ausführt. Dass solche Kunststücke die Wahrnehmung auf den Formbau lenken, muss genauso wenig eigens erwähnt werden wie die unmittelbare Folge, dass sich die Semantik solcher Texte dem Interesse am Reim unterzuordnen hat. Viertens gewinnt das Moment des Klangs an Bedeutung. Verstärkt wird die Klangdimension durch die Rhetorisierung der Textoberfläche, denn sowohl Anaphern als auch die Wiederholung von Leitwörtern erzeugen Gleichklänge im Text.123 Des Weiteren ist hier der Strophenbau zu nennen. So reicht allein die Verkürzung der Verse, um die Reimdichte und damit das Klangelement zu erhöhen. So bestehen die Strophen in Ulrichs von Liechtenstein Lied Sumervar (LDM C Liecht 143–147 / KLD 29) mit Ausnahme zweier Vierheber nur noch aus zweihebigen Versen. Denselben Effekt
123 Meyer 1998, 189–190; Stock 2004, 195–196.
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haben bestimmte Weisen der Reimgestaltung (Binnenreime, grammatische oder identische Reime). Den Gipfelpunkt besetzt hier wieder Konrad von Würzburg mit seinem Schlagreimlied (LDM C KonrW 75–76 / SCHR 26), das nur noch aus Reimwörtern besteht und so den Klang geradezu explodieren lässt. Auch das geht auf die Kosten der Semantik. Schließlich wäre hier noch der Refrain zu nennen – besonders prominent vertreten bei Ulrich von Winterstetten –, da sich in der Wiederholung der Akzent von der Semantik auf den Gleichklang hin verschiebt, was noch verstärkt wird, wenn der Refrain selbst intensiv mit Strukturen der Wiederholung arbeitet.124 Neben diesen beiden neuen Konfigurationen gibt es jene Texte, die auf halbem Weg hin zu ihnen stehenbleiben: beispielsweise indem sie eine einzelne Strophe in besonderer Weise rhetorisch aufputzen, nicht aber den Rest des Lieds; indem sie in ein sonst normal gereimtes Lied einige grammatische Reime einbauen; indem sie eine „Atrophie des Ich“125 erkennen, dieses aber nicht völlig verschwinden lassen. Es ist dann eine Definitions- beziehungsweise Interpretationssache, ob man sie als ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘ oder ‚Lied der Hohen Minne / Formkunst‘ beziehungsweise ‚Allgemeines Minnelied‘ auffasst. Darüber hinaus werden im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert einige ältere Liedtypen weitergepflegt. Neben dem ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘, das die unangefochtene Dominante bleibt,126 sind das vor allem das ‚Tagelied‘, das ‚Minnedidaktische Lied / Stollenstrophe‘, das ‚Dialoglied‘, das ‚Ich-Erzähllied‘ und das ‚Erzähllied‘. Besonders die beiden Letztgenannten können ins Obszöne kippen, so im schwankhaften Büttnerlied Gottfrieds von Neifen (LDM C Neif 153–157 / KLD 39). Gegenüber dem zwölften Jahrhundert verengt sich das Spektrum der Liedtypen also deutlich. Dabei kommt es fallweise zu interessanten Neuerungen,127 etwa im Schenkenlied Ulrichs von Winterstetten (LDM C Wint 16–20 / KLD 4), im Herbstlied Steinmars (SMS 1 / C 1–5), im Kindheitslied des Wilden Alexander (LDM J WAlex 30–36 / KLD 5) oder in den Ich-Erzählliedern Hadlaubs (etwa SMS 1 / C 1–7; SMS 2 / C 8–20; SMS 5 / C 230–234). Diese bleiben aber in den jeweiligen Œuvres vereinzelt, und sie werden auch von anderen Autoren nicht mehr aufgegriffen, sodass sie keine neuen Konfigurationen begründen. Manche der eben für das dreizehnte und vierzehnte Jahrhundert herausgearbeiteten Tendenzen finden sich auch bei den adligen Gelegenheitsdichtern der Zeit, wo sie aber schwächer ausgeprägt und stärker isoliert erscheinen. Dasselbe gilt für NeidhartReminiszenzen. Die oft nur kleinen Œuvres enthalten also einen semantisch, formal und stilistisch wenig profilierten ‚Durchschnittsminnesang‘, der es den Sängern erlaubt, auch mit begrenztem Aufwand und begrenztem Talent an einer Kunstform 124 Hausner 1980, 299–301, 330–331, 337–338. 125 Worstbrock 1996, 199; statistisch validiert durch Viehhauser 2017. 126 Weber 1995, 339, ordnet 496 von insgesamt 835 Liedern aus dem dreizehnten Jahrhundert dieser Konfiguration zu, die sie zudem enger fasst als der vorliegende Artikel. 127 Zur geringen Zahl von Innovationen im Minnesang des dreizehnten Jahrhunderts Weber 1995, 342.
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teilzuhaben, die bis ins vierzehnte Jahrhunderte hinein offenbar eine gewisse Faszination ausgeübt und eine gewisse Geltung behauptet hat. Zur Gruppe der ‚unauffälligen‘ Autoren, die sich mit einiger Sicherheit identifizieren und dem Adel zuordnen lassen, zählen 49 Sänger.128 Die meisten von ihnen haben nicht mehr als eine oder zwei Handvoll Lieder hinterlassen, die nahezu ausnahmslos den Konfigurationen ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘ sowie – weit seltener – ‚Tagelied‘ zuzuordnen sind. Die Reduktion des Typenspektrums geht bei den adligen Minores also noch weiter als bei den professioneller agierenden Sängern. Von ähnlichem Zuschnitt, wenn auch mitunter etwas farbiger, sind die Korpora der ‚kleineren Liederdichter‘, die nicht (oder nicht zweifelsfrei) dem Adelsstand angehören. Zu nennen sind hier Christan von Hamle, der Düring, der Dürner, Friedrich der Knecht, Geltar, Gœli, Hawart, Hugo von Mühlendorf, Kol von Niunzen, Niune, Der von Obernburg, Reinmar der Junge, Rubin, Der von Sachsendorf, der Schulmeister von Esslingen, der Taler, Heinrich Teschler, der Tugendhafte Schreiber, Wachsmut von Mühlhausen, Walther von Breisach, Walther von Mezze, Winli und Der von Wissenlo. Einige der genannten Autornamen wie Geltar oder Niune stehen für ein literaturpragmatisch neues Phänomen: die Textsammlung, die ganz oder überwiegend aus Liedern besteht,
128 Marschall Albrecht von Raprechtswil, Bruno von Hornberg (Urkundenbelege 1219, 1234, 1275– 1310, verteilt auf zwei Generationen), Brunwart von Augheim (Urkundenbelege 1272–1303 oder 1272– 1296, zwei Träger des Namens), Der von Buchein, Christan von Luppin (Urkundenbelege 1292–1312), Friedrich von Leiningen (Urkundenbelege 1207–1237; gest. 1237), Der von Gliers (Urkundenbelege 1267–1308), Gösli von Ehenhein (Urkundenbelege 1242–1276), Günther von dem Forste, Hartmann von Starkenberg, Heinrich der Rost (Urkundenbelege 1313–1330; gest. 1330), Heinrich Hetzbold von Weißensee (Urkundenbelege 1319–1339), Herzog Heinrich von Breslau, Heinrich von Frauenberg (Urkundenbelege 1257–1266, 1295–1305, verteilt auf mehrere Generationen), Markgraf Heinrich III. von Meißen (geb. 1218; gest. 1288), Heinrich von der Mure, Heinrich von Sax (Urkundenbelege 1208–1235, 1253–1258, verteilt auf drei Generationen), Heinrich von Stretelingen (Urkundenbelege 1250–1263, 1258–1294, verteilt auf zwei Generationen), Heinrich von Tettingen, Herrand von Wildonie (Urkundenbelege 1248–1278; gest. 1278/82), Hesso von Rinach (Urkundenbelege 1196–1210, 1239–1247, verteilt auf zwei Generationen), Markgraf von Hohenburg (Urkundenbelege 1205–1225, 1230–1254, verteilt auf zwei Generationen), Hugo von Werbenwag (Urkundenbelege 1258–1279), Jakob von Warte (Urkundenbelege 1242–1331, verteilt auf drei Generationen), König Konrad der Jüngere (geb. 1252; gest. 1268), Konrad von Altstetten (Urkundenbeleg 1268), Konrad von Kirchberg (Urkundenbelege 1255–1326, verteilt auf drei Generationen), Konrad von Landeck (Urkundenbelege 1271–1306, 1313–1347, verteilt auf zwei Generationen), Kraft von Toggenburg (Urkundenbelege 1242–1254, 1260, 1299–1339, verteilt auf drei Generationen), Leuthold von Seven (Urkundenbeleg 1208), Burggraf von Lienz (Urkundenbelege 1231–1258/69), Schenk von Limburg (Urkundenbelege 1226–1249, verteilt auf zwei Generationen), Otto IV. von Brandenburg (geb. ca. 1238; gest. 1308), Otto zum Turm, Der Püller (Urkundenbelege 1262–1315), Reinmar von Brennenberg, Rudolf von Rotenburg, Der von Scharfenberg (Urkundenbelege 1252–Ende 1270er Jahre, verteilt auf vier Brüder), Der von Stadegge, Der von Suonegge, Ulrich von Baumburg, Ulrich von Munegiur, Der von Trostberg, Wachsmut von Künzingen, Walther von Klingen (gest. 1284), Wenzel von Böhmen (geb. 1271; gest. 1305), Graf Wernher von Hohenberg (geb. 1238; gest. 1313), Wernher von Teufen und Wilhelm von Heinzenburg (Urkundenbelege 1206–1224, 1232–1253, 1262–1293, verteilt auf mehrere Generationen).
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welche die Handschriften sonst anderen Autoren zuweisen. Deuten lässt es sich auf zweierlei Weise, als Repertoire- oder als Leseheft. Es kann sein, dass es im dreizehnten Jahrhundert Sänger gegeben hat, die ein Repertoire fremder Lieder vorgetragen haben.129 Es ist aber ebenso denkbar, dass Literaturliebhaber sich Lieder für ihre persönlichen Zwecke zusammengestellt haben. Die Namen, die die Handschriften derartigen Korpora beilegen, wären dann die der ehemaligen Sammler – oder schlichte Erfindung.130 Denkt man sich den Minnesang als Teil einer geselligen Kultur des Singens, müssen sich die beiden skizzierten Möglichkeiten nicht einmal ausschließen. Blickt man aus der Vogelschau auf den Minnesang des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, ergibt sich folgendes Bild: Das ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘ behauptet sich bis ans Ende der Gattung unangefochten als Dominante. Es findet sich in fast allen Minnesangkorpora, in vielen ist es die einzige Konfiguration. Besonders die adligen Gelegenheitsdichter halten an ihm fest. Orientiert man sich an der Dominante, ist man berechtigt, vom ‚langen dreizehnten Jahrhundert‘ des Minnesangs zu sprechen. Zugleich bildet das ‚Lied der Hohen Minne / Grundform‘ aber auch die Grundlage für die neuen Liedtypen. Vornehmlich auf der Seite der Semantik setzen ‚Neidharts Sommerlied‘ und ‚Neidharts Winterlied‘ an, indem sie die Minne in eine Dörperwelt verpflanzen; beide bedeuten einen fundamentalen Neueinsatz der Gattungsgeschichte und bilden schon wegen des großen Umfangs des Neidhart’schen Werks eigene Cluster aus. Auf der Seite der Form sind hingegen die Liedtypen ‚Lied der Hohen Minne / Formkunst‘ und ‚Allgemeines Minnelied‘ zu verorten, die Rhetorik, Form und Klang über die Semantik privilegieren. Auch sie verdienen das Etikett eines Neueinsatzes, auch wenn der Übergang zu ihnen ein gradueller ist, und sind jeweils als eigene Cluster anzusprechen, denen große Teile des Minnesangs Gottfrieds von Neifen, des Kanzlers, Konrads von Würzburg und Ulrichs von Liechtenstein, aber auch einzelne Lieder ‚kleinerer Minnesänger‘ zugehören. Ein weiteres Cluster bildet das ‚Tagelied‘, das bei Wolfram von Eschenbach auf breiter Front ans Tageslicht getreten ist und sich in der Folge in zahlreichen Korpora findet. Es ist der einzige andere Liedtypus, dessen sich auch die adligen Gelegenheitsdichter in größerem Umfang annehmen. Das ‚Dialoglied‘ hingegen hat seinen Schwerpunkt bei den professioneller agierenden Autoren wie Ulrich von Singenberg, Ulrich von Liechtenstein oder Ulrich von Winterstetten. Auch es bildet ein eigenes Cluster aus. Die restlichen Konfigurationen kommen zu selten vor, um sie als Cluster ansprechen zu können. Gerade bei den besonders originellen Liedern handelt es sich oft um Einzelgänger. Gegenüber der Zeit um 1200 kommt es also zu einer Reduktion der Liedtypen. An den Rand gedrängt werden etwa die weibliche Stimme und damit die auf ihr aufruhenden Konfigurationen, aber auch jene Liedtypen, die die Semantik der Hohen Minne anders herausfordern als über die dörperliche Alternative.
129 So Schiewer 2002, 272–273. 130 Hierzu Kuhn 1980, 81, 93.
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Ricarda Bauschke
Kanzone
1 Minnekanzone und canso Die Bezeichnung ‚Kanzone‘ aus provenzalisch canso (lateinisch cantio ‚gesungenes Lied‘) hat sich in der Altgermanistik seit den 1930er Jahren als Begriffsname „für die ‚dreiteilige‘ oder ‚stollige‘ Liedform“ durchgesetzt1 und bezieht sich auf deren Strophenkomposition aus zwei metrisch gleichgebauten Stollen, welche den Aufgesang bilden, und einem sich anschließenden Abgesang, der strukturell abweicht, so dass eine komplexe Melodie entsteht (→ Metrik und Formanalyse). Aus dieser engen Verwendung, die sich auf die Musikalität bezieht, hat sich das weitere, auftritts- und inhaltsbezogene Bedeutungsspektrum der ‚Kanzone‘ entwickelt, und zwar als allgemeine Gattungsbezeichnung für Minnelieder, in denen ein männlicher Sprecher monologisch das Konzept der ‚Hohen Minne‘ aktualisiert (→ Minnekonzepte und semantische Felder). Die dichterische Ausformung – und als deren Konsequenz ihre Bezeichnung in der Forschung – folgt dem Vorbild provenzalischer Liebeslyrik, wo Trobadors im Sinne des fin’amors eine ständisch höherstehende Dame im canso umwerben (→ Altokzitanische Lyrik).2 Anzusiedeln ist diese literarische Praxis als artifizielles Spiel in der höfischen Gesellschaft, die mit den Mustern der Gattung vertraut ist und bestimmte Erwartungen an die Ausführung knüpft. Über pseudoreale Einschübe und Codenamen wird zudem eine Relationierungsoption zur zeitgenössischen Realität mit ihren historischen Personen angeboten beziehungsweise eine solche Identifizierbarkeit zumindest suggeriert (s. u.). Am okzitanischen canso orien tieren sich die mittelhochdeutschen Sänger, namentlich vor allem seit Friedrich von Hausen und Rudolf von Fenis,3 und ebenso die nordfranzösischen Trouvères, die in Anlehnung an das provenzalische Vorbild den grand chant courtois entwickeln,4 der dann seinerseits auf die Minnesänger wirkt (→ Liebeslyrik in Nordfrankreich).5 Für den Bezug mittelhochdeutscher Sänger auf die Romania sind mithin zeitgleich stattfindende Rezeptionen, also erster Stufe (direkt aus Südfrankreich) sowie zweiter Stufe (vermittelt über den französischen Norden), anzunehmen. Diese dominant auf eine teleologische Lyrikgeschichte ausgerichtete Wahrnehmung durch die ältere Forschung, welche chronologisch festgelegte Abfolgen und Dependenzverhältnisse 1 Brunner 2000, 231. 2 Vgl. grundlegend Rieger 1983; Zink 2013. 3 Darüber handelt Kasten 1986, hier 202–306. 4 Dragonetti 1960; Wolfzettel 1983, 446–474. 5 Siehe etwa De bone amour et de lëaul amie (RS 1102) des Gace Brulé (vgl. den Text bei Rosenberg und Danon 1985), welches Rudolf von Fenis als Anregung dient für Minne gebiutet mir, daz ich singe (MF 80,25). https://doi.org/10.1515/9783110351859-026
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stark macht,6 sollte ergänzt werden durch die Anerkennung sprachübergreifender Netzwerke, in denen sich die Sänger gegenseitig beeinflussen, und es ist ebenso einzukalkulieren, dass ähnliche Dichtungselemente polygenetisch entstehen können (→ Geschichte[n] des Minnesangs). Die mittelhochdeutschen Liederdichter übernehmen die kunstvolle zweigeteilte Strophenform der romanischen Kanzone. Dies kann in konkreten Kontrafakturen geschehen,7 indem die Melodie, unter Umständen leicht variierend, wiederverwendet wird, um a) inhaltlich Ähnliches zu gestalten,8 b) vorgegebene Motive andersartig zu entfalten9 oder c) diese neu zusammenzusetzen10 oder aber d) einen komplett neuen Ansatz zu formulieren, ohne semantische Rückbindung an das kontrafazierte Lied.11 In den meisten Fällen allerdings komponieren die Minnesänger eigene Melodien nach dem romanisch etablierten kanzonischen Aufbauprinzip, eignen sich also das Formmuster an und entwickeln zum Teil hochkomplexe eigene Typen (→ Melodien zu Minneliedern). Die komplizierte Klangkunst, welche in der romanischen Lyrikpraxis üblich ist, etwa Reimidentität in allen Strophen (coblas unissonans) oder Scharnierbildung durch Aufnahme des letzten Reimes der vorgängigen Strophe im ersten Reimwort der nächsten (coblas capcaudadas) oder andere komplexe Phänomene, lässt sich im Deutschen nur schwer umsetzen, obwohl es durchaus schon früh Versuche gibt, auch solche Formprinzipien nachzuempfinden.12 Dennoch werden klangartistische Entwürfe, wie sie der sogenannte ‚staufische Dichterkreis‘ um → Gottfried von Neifen, aber auch → Konrad von Würzburg oder → Frauenlob probiert (→ Form- und Klangkunst),13 immer wieder als technikaffine, bisweilen sogar inhaltsleere Formproben
6 Zu einer Einteilung des Minnesangs in sich fortentwickelnde ‚Phasen‘ siehe Schweikle 1995, 84–102. 7 Das Material stellt Frank 1952 zusammen. 8 In den Fällen, wo die deutschen Lieder eine den romanischen Prätexten ähnliche Grundstimmung entwerfen, sollte von ‚Re-Semantisierung‘ gesprochen werden, passend etwa für das Verhältnis von Lo jorn qu‘ie. us vi, dompna, primeiramen [An dem Tag, als ich Euch erstmals sah, Herrin] (PC 213,6) des Guilhem de Cabestanh (vgl. den Text bei Långfors 1924) und Walthers von der Vogelweide Wol mich der stunde, daz ich sie erkande (L 110,13). 9 Dies geschieht etwa beim Motiv der Minneversunkenheit, das Heinrich von Morungen in Lange bin ich geweset verdâht (MF 147,17) verwendet und das er vorgefunden haben könnte beim Anonymus von RS 1538 (Je ne suis pas ebahis [Ich bin nicht niedergeschlagen]), Abdruck bei Frank 1952, 18b; Diskussion durch Zotz 2005, 127–136. Plausibel scheint wohl auch die Verbindung zu Peire Vidal PC 364,21 (Estat ai gran sazo [Ich war lange Zeit]; vgl. den Text bei Anglade 1913). 10 Das ist etwa der Fall bei Rudolf von Fenis Gewan ich ze minnen ie guoten wân (MF 80,1), der aus drei Liedern Folquets de Marseille (PC 155,18; PC 155,21; PC 155,22; vgl. die Texte bei Stroński 1910) je ein Motiv entnimmt, um diese für seine Liedaussage zu kombinieren; vgl. dazu Zotz 2005, 184–204. 11 Beispiele bei Frank 1952. 12 Siehe z. B. die capfinadas-Technik in Rudolfs von Fenis Gewan ich ze minnen ie guoten wân (MF 80,25); dazu Zotz 2005, 44. 13 Über die Leitworttechnik bei Neifen, das Schlagreimlied Konrads von Würzburg u. a. im Kontext der lyrischen Form- und Klangkunst des dreizehnten Jahrhunderts handelt Braun 2013. Zu Frauenlob siehe Köbele 2003.
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stigmatisiert und damit wird die kompositorische Seite der Lieder, welche mindestens fünfzig Prozent des ästhetischen Mehrwertes der minnesängerischen Kunst ausmacht, ignoriert.14 In Auftrittstyp und Figurenkonstellation folgen die Minnesänger dem romanischen Vorbild. Für die liebeskonzeptuellen Einschreibungen, welche sich aus den Liedern abstrahieren lassen, setzen sie über das reine Adaptieren hinaus eigene Akzente, die sich in spezifischen Ausformulierungsspielräumen manifestieren (s. u.). Damit ist die mittelhochdeutsche Kanzone ein an den okzitanischen canso angelehnter Liedtyp, dessen Entstehung sich in Kategorien wie ‚Nachahmung‘, ‚Ableitung‘, ‚Parallelentwurf‘, ‚Pendant‘ aber stets nur annäherungsweise beschreiben lässt.15
2 Kommunikationsstruktur und inhaltliche Spielräume In der Minnekanzone, der „Regelform des Minnesangs“16, artikuliert ein männliches Ich monologisch (genre subjectif) seine emotionale Bindung an eine hierarchisch17 über ihm stehende Frau. Die Dame hat ihn affiziert, Ursache sind ihre äußere Schönheit und ihre innere Tugend, die nach dem Kalokagathia-Prinzip als einander entsprechend verstanden werden und als innerer Bezugspunkt für den Minnewerber fungieren, z. B. → Heinrich von Morungen: Als ist mit güete umbevangen diu schône. des man ir jêt, si ist aller wîbe ein krône. (MF 122,1, I, V. 7–9)
Es handelt sich dabei nicht um individuelle Erlebnislyrik eines biographisch fassbaren Subjektes,18 sondern um ein überpersönliches Sprecher-Ich, und auch das evozierte Frauenbild ist ein realitätsfernes Ideal, das gleichwohl innerhalb der Lieder die weibliche Rolle konstituiert und damit eine lyrikinterne ‚reale‘ Eigengesetzlichkeit entfaltet. In einer zu imaginierenden Liebeshandlung blenden die Kanzonen jeweils auf einen momenthaften Ausschnitt, meist den Zustand der noch nicht von Erfolg gekrönten Werbung (siehe Friedrich von Hausen MF 49,13), oft auf die Situation des schon zu lange Wartenden (Bernger von Horheim: Ez ist ein wunder, daz ich niht verzage, | sô lange ich ungetroestet bin; MF 112,1, II, V. 1–2) oder des über den ausbleibenden Erfolg Enttäuschten (Heinrich von Morungen MF 123,10, I), selten auf
14 Zu diesem Phänomen zuletzt Schanze 2020. 15 Bauschke 2013. 16 Brunner 2000, 231. 17 Vgl. Liebertz-Grün 1977 und Peters 2015. 18 Grubmüller 1986; siehe dagegen Haferland 2000.
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die glückliche Lage eines zu weiterem Hoffen Ermunterten (Heinrich von Morungen MF 125,19)19. Diesem Spektrum entsprechend bewegen sich die männliche Gefühlslage und deren Ausgestaltung zwischen den virtuellen Polen von Minneklage einerseits und Frauenpreis andererseits. Liegt der Fokus auf dem Movens zu minnen, also nicht primär auf den eventuell enttäuschenden Resultaten des Dienstes, sondern dem Vorgang des Werbens selbst beziehungsweise dessen positivem Auslöser, oder rückt gar das ersehnte Glück, nämlich die liebende Zuwendung der Dame, in den Bereich des Möglichen, werden Ausdruck von Freude und Zuversicht über das „Formulierungsregister“20 der laudativen Rede gestaltet; der Werbende rühmt die geliebte Frau und ihre Vorzüge bis hin zu hyperbolischer Panegyrik, denn er feiert sie als Ausgangspunkt seiner Wohlstimmung. Fehlen aber die Anzeichen für Hinwendung oder verhält sich die Dame sogar gezielt abweisend, provoziert dies Leid, und das männliche Ich artikuliert seine defizitäre Realitätserfahrung in der Minneklage. Da die Idealität der Dame ‚gesetzt‘ ist, muss er die Gründe für seinen Misserfolg bei der neidischen Gesellschaft, die sich den Liebenden entgegenstellt (nîdære, merkære, huote; in der Romania lauzenjers [Verleumder]), suchen oder aber bei sich selbst, seiner ethischen Defizienz oder dem unzureichenden Dienst durch minderwertige Sangeskunst.21 Auch das führt zu monologischem Reden und dabei immer wieder zu Aufrichtigkeitsbeteuerungen, welche die Echtheit des Gefühls belegen sollen.22 Neben Klagelied und Loblied stellt damit das Reflexionslied einen weiteren Inhaltstyp der Kanzone, wobei Leidausdruck, Frauenpreis und introspektive Selbstschau des Sprechers kaum in Reinform ganze Lieder dominieren, sondern miteinander kombiniert werden und innerhalb einer Liedargumentation ineinander übergehen,23 etwa wenn die gepriesene Schönheit der Dame im Kontrast zu ihrem distanzierten Gebaren steht und das daraus resultierende Leid, das der Liebende beklagt, ihn zum Nachdenken anregt, z. B. der Überlegung, ob sein Lobpreis überhaupt angemessen ist, wenn die Dame sich verweigert.24 Letztlich nicht lösbar (paradoxe amoureux) wird diese Dynamik, weil konstituierendes Element der weiblichen Rolle ihre Unnahbarkeit ist. Damit ist der Werbende stets auf das Stadium des Hoffens oder der Enttäuschung verwiesen, setzt aber, selbst in seiner literarischen Rolle gefangen, die Werbung fort. Eine solche personelle Konstellation impliziert Distanz; sie ist gegeben durch die soziale Differenz, die den Werbenden gesellschaftlich niedriger als die Dame rangierend verortet,
19 Zu diesem Lied Kellner 2015. 20 Begrifflichkeit nach Hübner 1996, 21. 21 Als ein solches Hinterfragen der eigenen Möglichkeiten lässt sich das sogenannte Narzisslied (MF 145,1) Heinrichs von Morungen deuten. 22 Der von Sachsendorf: waz dar umbe bin ich ir unmære, | in der dienste ich gebeine mir brach unde fuoz (KLD 6,3, V. 8–9). 23 Eikelmann 1988. 24 Der umgekehrte Fall liegt vor in Heinrichs von Morungen Solde ich iemer vrowen leit (MF 140,11), wo sich der klagende Gestus zu einem laudativen entwickelt; vgl. dazu Hübner 1996, 153–156.
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und sie wird inszeniert durch topographische Arrangements von Nähe und Ferne, oft mit Hilfe von Kreuzzugsmotivik (→ Kreuzlied), beziehungsweise chronologische Koordinaten von ‚früher – jetzt‘, ‚nicht mehr – noch nicht‘ usw. In der Sprechhaltung schlägt sich das nieder, indem das männliche Ich in den Liedern über die Dame redet, sie aber nicht adressiert.25 Auch wenn den Kanzonen der Impetus eingeschrieben ist, von der Umworbenen gehört zu werden, ist es doch nicht sie, sondern eine liedintern implizierte Öffentlichkeit (Hofgesellschaft, liute, vriunde o. ä.), vor der das Thema ausgebreitet wird. Diese auf die Liedinhalte bezogene Kommunikationsstruktur wird gedoppelt durch die Aufführungssituation. Der monologische Sprecher und liebende Werber ist zugleich der Vortragende, lyrisches Ich und Sänger fallen in der Performanz zusammen. Werbung für die Dame, Liebesdienst an ihr, ist das Singen selbst. Damit ist die Kanzone als höfisches Werbelied gleichzeitig Ausdruck und Vollzug der Dienstminne. In Bezug auf die Dame ergeben sich daraus mehrere Korrelate: a) Die frouwe ist eine konkrete Adlige im historischen Publikum, so meist in der Romania,26 wo die Trobadors mit der tornada (die Trouvères mit dem envoi), an das eigentliche Lied angehängt und metrisch mit der benutzten Strophenform spielend,27 die Angebetete – manchmal auch den Gönner oder einen Dichterkollegen – mit einem senhal ansprechen und der anonymisierende Codename geradezu zur Entschlüsselung einlädt.28 Dieses kommunikative Element überführt die monologische Liedinhärenz (s. o.) offensiv in eine dialogische und performative Dimension. Während allerdings für die Trobadorlyrik der realhistorische Aspekt eine große, da also von den Sängern immer wieder eingespielte Bedeutung besitzt, schneiden die mittelhochdeutschen Minnesänger die faktualen Relationierungsmöglichkeiten gezielt ab, deutlich etwa, wenn → Walther von der Vogelweide mit Hiltegunde das senhal-Prinzip aufruft, aber nur eine literarische Figur nennt, deren Name in der Dichtung zu seinem eigenen passt.29 b) Die frouwe ist Platzhalter für die höfische Gesellschaft als eigentlich vom Sänger umworbener Instanz, weil der Hof ihm die qua Vortrag eingeforderte Aufmerksamkeit schenkt und der Gönner die materielle Existenz sichert.30 c) Die frouwe ist ein gemeinsames Ideal, über das sich Dichter und Publikum in einem ungeschriebenen 25 Anrede-Lieder sind selten, eine Zusammenstellung findet sich bei Schweikle 1995, 124–125. 26 Leube-Fey 1971. 27 ‚Tornada‘ ist ein im Ursprung musikalisches Verfahren, das sich entsprechend metrisch manifestiert, und bezieht sich auf die Wiederkehr nur eines Strophenteils, namentlich des Abgesangs. Grundlegend dazu Chambers 1985, 32–36. Vgl. auch Vallet 2010. 28 Zur senhal-Technik siehe Mölk 1982, 67–68. 29 [D]iu muoz iemer offen stên, sine werde heil von Hiltegunde (L 73,23, V, V. 10). Alle Walther-Zitate nach L/COR. 30 Für die okzitanische Lyrik hat dies zu der – inzwischen überholten – These geführt, dass Ministeriale die Kanzonen als Ausdrucksformen gegenüber ihren Dienstherren nutzen und die unterdrückten Gefühle für die Dame des Hofes literarisch sublimieren; vgl. Köhler 1984. Über das Verhältnis von lyrischer Praxis als Kunst für den Hof und Publikum zuletzt Mohr 2020. Siehe auch Hahn 1992.
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Kontrakt einig sind. Abstraktion und Entindividualisierung machen die Dame zu einer Projektionsfläche für individuelle Assoziationen bei kulturell ähnlichen Erfahrungen. Sie ist damit mehr Konzept als Rolle; darauf zielt etwa → Reinmars Sô wol dir, wîp, wie rein ein nam! | wie sanfte er doch z’erkennen und ze nennen ist! (MF 165,10, III, V. 1–2).31 d) Die frouwe steht – wird ihr letztgenannter Aspekt weitergedacht – für das Singen selbst und ist zugleich Medium und Ausdruck dichterischer Selbstprojektion; ihre Idealität und der ästhetische Anspruch an die eigene Dichtkunst korrespondieren (s. u.). Diesen Sprung in die Metapoesie stellen manche Minnesänger stärker aus als andere (Walther von der Vogelweide: daz dich lützel ieman baz geloben kan; L 69,1, III, V. 7). Auch wenn unerfüllte und einseitige Liebe, trügerische Hoffnung und Enttäuschung in der Minnekanzone aus männlicher Perspektive betrachtet werden, ist das Thema für beide Geschlechter gleichermaßen interessant. Dies liegt nicht allein an der anthropologischen Konstanz eines Sprechbedürfnisses über die Liebe, sondern vor allem daran, dass die Kanzone ein Forum für autoreferentiell-poetische Diskussionen bietet. In ihrer Komplexität und bisweilen Hermetik besitzt sie das Potential, dem gattungskompetenten Rezipienten ein Gefühl elitärer Exklusivität in Hören und Verstehen zu vermitteln. Der Zuhörer wird damit ein Teil des „Spiel[s] der Liebe im Minnesang“32.
Loblied Reine Frauenpreislieder (z. B. Heinrich von Morungen MF 122,1) sind selten, dennoch bildet die zu lobende Idealität der Dame den gedanklichen Ausgangspunkt jeder Kanzone; denn ihre Vorbildlichkeit, äußere Schönheit, innere Tugend liefern die Voraussetzung, dass der Minnesänger sie überhaupt als Ziel seiner Werbung auserwählt. Vor allem Heinrich von Morungen hat das Preisthema als festen Bestandteil des Minnesangs etabliert.33 Obwohl der Frauenpreis damit das Konzept ‚Kanzone‘ konstituiert, ist seine sprachliche Aktualisierung im Einzellied eine nicht zwingend notwendige Option. Die laudatio beziehungsweise Lobwürdigkeit bildet eine elementare Voraussetzung für das minnelyrische Sprechen, muss aber nicht auch dessen Gegenstand sein. Liegt laudative Rede vor, so rekurrieren die Sänger auf ein Reservoir bestimmter lobenswerter Aspekte, die in keiner Poetik festgeschrieben sind; sie lassen sich aus einer übergreifenden Zusammenschau der Lieder abstrahieren: die fröide stiftende Gegenwart der Frau, ihre äußere Schönheit (wunderwol gemachet, rôter
31 Zur frouwe Reinmars vgl. Jackson 1981. 32 So der Titel des Buches von Kellner 2018. 33 Hübner 1996, 195.
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munt),34 bestimmte innere Werte (güete, tugende, êre, zuht),35 auch die Wertschätzung durch andere.36 Typisch ist dabei die topische Verkürzung, die einer individualisierten Wahrnehmung der gepriesenen Dame entgegenwirkt. Damit korrespondiert die Aktualisierung von Registern (Vorbilder aus antiker Dichtung37, Marienlobtradition38), die weniger auf Konkretheit der frouwe als vielmehr auf die Selbstsituierung des Sängers in literarischen oder diskursiven Traditionen zielt. Dadurch werden die Inhaltsebenen der Lieder und die autoreferentielle Thematisierung der ihnen eingeschriebenen Poetik ineinander geblendet. Die zu preisende Idealität der Dame verursacht das männliche Liebesempfinden und gibt dem Sänger erst den Anlass, ihre Vollkommenheit zu rühmen; zugleich ist die textintern entworfene frouwe das dichterische Konstrukt des Minnesängers. Indem beide Dimensionen genuin ineinandergreifen, spiegelt einerseits die ästhetische Qualität des Singens idealiter Schönheit und Tugend der Dame, andererseits jedoch kann sich die dichterische Umsetzung dem Vorbild stets nur annähern und bleibt letztlich defizitär. Auch hieraus kann Leid resultieren und den laudativen Sprechduktus in Klage überführen (s. u.). In jedem Fall entspringt daraus gleichsam selbstmotiviert die Fortsetzung des preisenden Singens, wobei im Modus des permanenten Versuchens ein doppeltes Ziel verfolgt wird: erfolgreich zu werben und die schönste Dame, Signatur des ästhetisch anspruchsvollsten Liedes, zu schaffen. Das Loben kann bei mangelnder Geduld des Liebenden (→ Heinrich von Veldeke: ûf ir trôst ich wîlent sanc, | si hât mich missetroestet, des ist lanc; MF 66,24, V. 7–8) oder als Reaktion auf bestimmtes weibliches Verhalten (Walther von der Vogelweide: Mîn frowe ist ein ungenædic wîp, | daz si an mir alsô harte missetuot; L 52,23, I, V. 1–2) in Schelte, in der Romania mala canso, umschlagen und bis zu Drohungen oder Demontage weiblicher Identität führen (Walther von der Vogelweide: die wîle junget sî niht vil; L 72,31, V, V. 2). Systemisch gedacht39 sind Scheltlieder allerdings nur die Kehrseite des Frauenpreises; der provokante Impetus von Anti-Lob profiliert sich gerade vor dem Lob als konstituierendem Element des Minnesangs.
34 Der schöne weibliche Körper etwa bei Walther von der Vogelweide (L 53,25); der rote Mund z. B. bei Albrecht von Johannsdorf (MF 92,14, V, V. 1), Heinrich von Morungen (MF 137,10, V. 7) u. ö. Vgl. insgesamt Krüger 1993. 35 Vgl. die Liste bei Schweikle 1995, 126. 36 Bei Meinloh von Sevelingen verbunden mit dem Motiv der ‚Fernliebe‘: Dô ich dich loben hôrte, dô het ich dich gerne erkant (MF 11,1, V. 1). 37 Antike Einspielungen gelten als typisch für Heinrich von Morungen (vgl. Irler 2001; Leuchter 2003), kommen aber auch bei anderen Sängern vor, siehe z. B. Friedrich von Hausen: ich mohte heizen Eneâs | und solte aber des wol sicher sîn, | si wurde niemer mîn Tidô (MF 42,1, I, V. 3–5). 38 Mariologische Aktualisierungen stellt Kesting 1965 zusammen, entsprechende farbsymbolische Anklänge etwa bei Heinrich von Morungen: Doch wart ir varwe liljen wîz und rôsen rôt (MF 136,1, I, V. 5). Vgl. im vorliegenden Handbuch auch den Artikel → Religiöse Semantiken. 39 Zu den methodischen Voraussetzungen Hempfer 2014.
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Klagelied Lässt sich der Frauenpreis als konzeptioneller Ankerpunkt der Kanzone verstehen, so ist ihre dominierende Grundhaltung und die Stimmung des kanzonischen Sprechens die Klage. Dies resultiert aus der Diskrepanz von ersehntem Glück, dessen Schlüssel zu sein der Minnesänger sich von der Dame verspricht, und tatsächlicher Ablehnungserfahrung, weil das singende Werben noch nicht, nicht mehr oder niemals zum Erfolg führt (Friedrich von Hausen: Mîner vrowen was ich undertân, | diu âne lôn mînen dienst nan; MF 45,37, IV, V. 1–2; Heinrich von Morungen: ôwê, | mîniu gar verlornen jâr! | diu riuwent mich vür wâr; MF 127,34, III, V. 7–9). Die Ursachen können auf unterschiedlichen Ebenen liegen, in äußerlichen Komponenten wie der minnefeindlichen Gesellschaft,40 den Sängerkonkurrenten (z. B. Reinmar MF 170,1, IV und V), der räumlichen Ferne (→ Kreuzlied), sie können in der inneren Disposition des Sängers begründet sein – in Schüchternheit (Walther von der Vogelweide: sô benimt si mir sô gar die witze; L 115,6, III, V. 3) und in mangelndem Selbstvertrauen (Reinmar MF 160,6) –, in den meisten Fällen aber nehmen sie Ausgang bei der Dame selbst und ihrem Verhalten, das Anlass zur Klage bietet: Gleichgültigkeit (Reinmar: Si ist mir liep, und dunket mich, | wie ich ir volleclîche gar unmaere sî; MF 159,1, IV, V. 1–2), launischer Wankelmut (Friedrich von Hausen: Mich dunket, wie ir wort gelîche gê, | rehte als ez der sumer von triere taete; MF 47,9, IV, V. 5–6), Unnahbarkeit (Heinrich von Morungen: Ich sihe wol, daz mîn vrouwe | mir ist vil gehaz; MF 123,10, V, V. 1–2), Zurückweisung (Reinmar: sît sî mich hazzet, die ich von herzen minne; MF 166,16, II, V. 7); gemeinsamer Fluchtpunkt all dieser Facetten ist die fehlende weibliche genâde (Dietmar von Aist: sin welle genâde enzît begân; MF 37,30, IV, V. 5). Es mag irritieren, wenn Leiderfahrung und Leidformulierung keine explizite Absage an die frouwe hervorrufen und der Liebende weiterhin an Hoffnung, Werbung und eigener Zuwendung, also wânminne, festhält, insbesondere wenn er seine damit unter Beweis gestellte staete als moralisch wertvollen, der eigenen ethischen Vervollkommnung dienenden Verzicht inszeniert.41 Doch zum einen entspricht dies den diskursiven Traditionen, und zum anderen kann die Ästhetisierung des Leides eine spezifische künstlerische Herausforderung sein (Reinmar: Daz nieman sîn leit alsô schône kan getragen; MF 162,7, V, V. 5; wan dez ich leit mit zühten kan getragen; MF 163,23, V, V. 3). Immerhin füllt sich dadurch eine Leerstelle: Wenn die perfekte frouwe und die mit ihr verbundene irdische Glückserwartung durch Unerreichtheit und eingeschriebene Aussichtslosigkeit unvollkommen bleiben
40 Meinloh von Sevelingen: Sô wê den merkaeren! die habent mîn übele gedâht (MF 13,14, V. 1); Bligger von Steinach: Ich getar niht vor den liuten gebâren (MF 118,1, II, V. 1); Heinrich von Morungen: Wê der huote, | die man reinen wîben tuot! (MF 136,25, IV, V. 1–2). 41 Albrecht von Johannsdorf: daz ir dest werder sint unde dâ bî hôchgemuot (MF 93,12, VII, V. 6); Rudolf von Fenis: Dem, der wol bîten kan, | daz er mit zühten mac vertragen | sîn leit und nâch genâden klagen, | der wirt vil lîhte ein saelic man (MF 84,10, III, V. 5–8); Bernger von Horheim: doch vlîze ich mich alle tage, | daz ich ir ein staetez herze trage (MF 112,1, II, V. 6–7).
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und unvollkommen bleiben müssen, weil Hingabe Imperfektion im Kontext des Hohen Sanges bedeutete, verharrt das Ich in seiner Sängerrolle stets im Stadium desjenigen, der den ästhetischen Anspruch an den Minnesang nicht erfüllt hat – und deswegen von der Geliebten unerhört bleibt. Wird nun die perfekte lyrische Aktualisierung des Leides, das aus dem minne-Unglück resultiert, zum Maßstab künstlerischer Fähigkeit, kann eine artefaktbezogene, nämlich auf das Singen selbst zielende Meisterschaft erreicht werden, die den Status der Dame nicht mehr verhandeln muss.
Reflexionslied Die große Kluft zwischen preiswürdiger weiblicher Idealität, an die sich entsprechende Wunschvorstellungen knüpfen, und beklagenswerter Enttäuschung liefert den Rahmen für Reflexionen, in denen der Liebende seine Situation analysiert, die Idealität der abweisenden Dame hinterfragt und in → Imaginationen utopische Szenarien von Liebesvollzug42 oder, als Verknüpfung mit dem Scheltliedtyp, Rachephantasien (Heinrich von Morungen: daz er wunder an ir begê, | alsô daz er mich reche | und ir herze gar zerbreche; MF 124,32, III, V. 6–8) durchspielt. Mit diesen Liedern testen die Minnesänger die Grenzen des Darstellbaren aus, immunisieren sich durch den hypothetischen Charakter der Gegenentwürfe und bestätigen den normierenden Status der leidend-kompensatorischen Grundhaltung, auf welche auch die Abweichungen rekurrieren. Das dynamische Spannungsfeld von Lobpostulat und Klagegestus bildet für die Minnesänger den Ausgangspunkt, die Angemessenheit ihres Sanges zu bedenken, was sich wiederum auf die liedinhärente Konstellation beziehen kann oder metapoetisch auf das Singen selbst gemünzt ist. In diesen Rahmen gehören auch Lieder, die nach dem Wesen der minne fragen und damit ein eigenes Koordinatensystem konstruieren, um das Verhalten von Dame und Werbendem zu bewerten. All diese Ebenen verweben sich besonders im Typ des Reflexionsliedes, etwa wenn Reinmar das Frauenlob für eine klagende (Selbst-)Betrachtung funktionalisiert (MF 190,3),43 Heinrich von Morungen den Eigenanteil am Liebesleid herausstellt (unde mit der nôt, die ich selbe mir geschaffet hân; MF 140,11, III, V. 4) oder Walther eine Minnedefinition versucht (L 69,1). Dies kann unmittelbar die Frage nach der Angemessenheit des Singens provozieren, wobei der Sänger immer wieder auch auf seine eigene mögliche Defizienz zurückgeworfen wird, und zwar sowohl die ethische Eignung des Werbenden als Minnepartner als auch seine künstlerische Kompetenz. Als Gegenpol zu dieser subordinierenden Sichtweise fungieren selbstbewusste Ent42 Friedrich von Hausen: In mînem troume ich sach | ein harte schoene wîp | die naht unz an den tach (MF 48,23, V. 1–3); Heinrich von Morungen: hei wan muoste ich ir alsô gewaltic sîn, | daz si mir mit triuwen waere bî | Ganzer tage drî | unde eteslîche naht! (MF 126,8, II, V. 3–6); Walther von der Vogelweide: dô ich sô wunneclîche | was in troume rîche, | dô taget ez und muose ich wachen (L 74,20, IV, V. 6–8). 43 Vgl. dazu Hübner 1996, 116–123.
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würfe, welche die dichterische Gemachtheit des Minnesangs ausstellen, so dass die Erkenntnis über die rein fiktionale Existenz der frouwe, die nicht mehr als das Produkt des sie erschaffenden Sängers ist, die Diskussion der liedinternen Minnebeziehung letztlich obsolet macht (Walther von der Vogelweide: jôn weiz si niht, swenne ich mîn singen lâze, daz ir lop zergât?; L 72,31, II, V. 6). Im Vergleich zu Frauenpreis und Minneklage, die schon von der Sprechhaltung her auf Rezeption angelegt sind, verstärkt sich im Reflexionslied der monologische Impetus; die Forschung hat dafür den Begriff „Gedankenlyrik“ geprägt.44 Hierin lässt sich wohl auch eine Selektion gegenüber den romanischen Ausdrucksformen erkennen. Neben dem selbstbeschauenden monologischen Sprechen stellt die okzitanische Lyrik mit dem Partimen zusätzlich einen Liedtyp bereit, der sich für die Diskussion von Dilemmata besonders eignet.45 In dem Streitgedicht vertreten zwei Sänger kontroverse Positionen, sie verhandeln einen vorgelegten Minnekasus dialogisch. Der deutsche Minnesang kennt eine solche Verteilung auf unterschiedliche Rollen nicht, den inneren Zwiespalt (Reinmar: Zwei dinc hân ich mir vür geleit, | diu strîtent mit gedanken in dem herzen mîn; MF 165,10, IV, V. 1–2)46 und unlösbar scheinende Konflikte (Friedrich von Hausen: Mîn herze und mîn lîp diu wellent scheiden; MF 47,9, I, V. 1) macht das lyrische Ich introspektiv mit sich selbst aus und lässt das Publikum an seinen Reflexionen teilhaben.
3 Die Kanzone in systemischer Sicht Die Entsagungsminne, wie sie in den Kanzonen elaboriert wird, komplettieren in der mittelhochdeutschen Liebeslyrik Inhaltstypen mit z. T. besonderer Form und/oder Sprecherinszenierung, die von erfüllter Liebe berichten (→ Tagelied).47 Es ist allerdings nicht so, dass die erotische Komponente in den Kanzonen ganz fehlte. Da auch Hoffnung und Enttäuschung ihren gemeinsamen Fluchtpunkt in der physischen Vereinigung besitzen, tritt der Wunsch nach Körperlichkeit als wichtiges Ziel der Werbung immer wieder hervor – je nach Kontext und Dichter mal mehr oder mal weniger offensiv (vgl. etwa Hartwig von Raute: ich stân dicke ze sprunge, als ich welle dar, | sô si mir sô suoze vor gestêt; MF 117,26, V. 5–6). Die Grenze zum Tabubruch bleibt gewahrt, weil die Minnesänger Ausgleichstrategien entwickeln, indem sie erotische Elemente ethisch neutralisieren, christlich transzendieren, mythologisch umcodieren oder im Hypothetischen, Irrealen verorten.48 Sexualität wird alludiert, eingespielt, verworfen,
44 Siehe dazu Schweikle 1995, 218. 45 Grundlegend Neumeister 1969. 46 Dazu Kasten 1980. 47 Neben die Alba, das romanische Pendant zum Tagelied, tritt – besonders stark elaboriert im Norden Frankreichs – noch die Pastourelle; vgl. Rieger 1983, 337–355. 48 Bauschke 2019.
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sie ist als Subtext präsent und dennoch als ausformulierbares Thema der Kanzone dispensiert. Damit markiert die Kanzone ein weit entferntes Ziel, das im Sinne einer Selbstrechtfertigung nur durch kontinuierliches Singen angestrebt werden kann und die fortgesetzte lyrische Produktion rechtfertigt; und sie entfaltet eine dynamische Spannung zwischen Schweigen und Enthüllen, Negieren und Andeuten, dessen impliziertes ‚Vielleicht‘ mit lebensweltlichen Geschlechterkonstellationen korrespondiert.
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Albrecht Hausmann
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1 Allgemeines In der Überlieferung des deutschsprachigen Minnesangs findet sich eine größere Zahl von sogenannten Frauenstrophen, bei denen die Sprecherfigur (d. h. das meist mit dem Pronomen ‚Ich‘ bezeichnete logische Subjekt der Textaussage, nicht aber der tatsächliche Sänger) durchgehend als Frau und die textinterne Stimme als weibliche zu identifizieren sind. Erkennbar ist dies meist dadurch, dass das Ich für das Objekt seiner Liebe männliche Bezeichnungen oder Pronomina verwendet (z. B. Ich bin mit rehter staete einem guoten rîter undertân; Der Burggraf von Regensburg MF 16,1). In anderen Fällen legen minnekonzeptionelle Überlegungen nahe, dass es sich um die Rede einer weiblichen Ich-Sprecherin handeln dürfte. Bildet eine solche Strophe als Einzelstrophe oder zusammen mit weiteren Frauenstrophen eine liedhafte Einheit, spricht man von einem Frauenlied.1 Frauenlieder sind also „Lieder, deren lyrisches Subjekt eine Frau ist“2. Solche Lieder enthalten im Normalfall keine oder nur geringe Anteile, in denen eine von der weiblichen Stimme unterscheidbare Erzählerfigur zu Wort kommt (Inquit-Formeln u. Ä.), und keine Strophen mit männlichem SprecherIch (→ Dialoglied – Wechsel – Botenlied). Auch stärker narrativ geprägte Gesprächslieder zählen in diesem engen Sinn nicht zu den Frauenliedern, und zwar auch dann nicht, wenn in ihnen – wie z. B. in einigen Sommerliedern → Neidharts – nur weibliche Sprecherinnen zu Wort kommen.3 Frauenlieder haben keine typische Form oder Strophenanzahl, sondern entsprechen formal der in der jeweiligen Entwicklungsstufe des Minnesangs auch für Lieder mit männlichem Sprecher-Ich üblichen Gestaltung. Als Gattung definiert sich das Frauenlied deshalb allein inhaltlich. Auch dies macht es gelegentlich schwierig, Frauenlieder als solche zu identifizieren.4 In den gängi1 Zur Bezeichnung ‚Frauenlied‘ und zur Begriffsgeschichte vgl. Kasten 2000, 6–10, sowie ausführlich Nagasawa 2015, 3–11. 2 Kasten 1990, 13. 3 In der Forschung finden sich auch weniger enge Definitionen (z. B. bei Kasten 1990), nach denen verschiedene Liedformen mit überwiegender Frauenrede als „Frauenlieder“ gelten können (z. B. Gesprächslieder, erzählende Lieder mit überwiegender Frauenrede, bestimmte Tagelieder). Die in diesem Beitrag gewählte enge Definition entspricht der Gattungssystematik dieses Handbuchs und zielt insbesondere auf die Spezifik der performativen Realisierung des Frauenliedes. 4 Vgl. zu diesem Problem Cramer 2000, der zeigen kann, dass auch die mittelalterliche Überlieferung bei einigen Strophen zwischen der Auffassung als Frauen- oder als Mannesstrophe schwankte. Die von Cramer gewählte Bezeichnung „androgyne Strophen“ suggeriert allerdings, dass solche Strophen von vornherein so offen angelegt worden sind. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die Uneindeutigkeit erst im Verlauf der schriftlichen Überlieferung durch Verlust des Aufführungskontextes virulent wurde. https://doi.org/10.1515/9783110351859-027
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gen → Editionen werden Frauenlieder dadurch gekennzeichnet, dass ihr Text in einfachen Anführungszeichen steht, was kritisch gesehen werden kann, weil dadurch die männliche Rede (üblicherweise ohne Anführungszeichen) von vornherein privilegiert erscheint. Häufig kann zudem über die zugrundeliegenden Herausgeberentscheidungen diskutiert werden. In den mittelalterlichen Handschriften gibt es keine äußere Kennzeichnung.5
2 Frauenlied und Aufführung Abgesehen von wenigen anonym tradierten Liedern sind alle Frauenlieder unter den Namen männlicher Autoren in den Sammelhandschriften überliefert. Man geht heute davon aus, dass Frauenlieder – ebenso wie alle anderen Lieder des Minnesangs – von männlichen Sängern vorgetragen wurden,6 so dass das Pronomen Ich im Fall der Frauenlieder in der Vortragssituation nicht auf den tatsächlich anwesenden Sänger verweisen konnte, sondern auf eine zu imaginierende Frau – das Pronomen büßt hier also im performativen Akt seine indexikalische Funktion ein.7 Das Frauenlied ist insofern vor allem dadurch gekennzeichnet, dass bei seinem Vortrag die textinterne Stimme (weiblich) und die Stimme des vortragenden Sängers (männlich) klar unterscheidbar sind, d. h., der Sänger trägt erkennbar die (wohl fingierte) Aussage einer anderen Person vor. Das führt in der Konsequenz zu einer Trennung der gesamten durch den Text evozierten Situation (in der ein weibliches Ich spricht) von der Aufführungssituation (in der ein männlicher Sänger den Text beziehungsweise das Lied vorträgt – Situationsspaltung8). Das Frauenlied unterscheidet sich hierin grundsätzlich vom Manneslied des Hohen Minnesangs, in dem ein männliches Ich sowohl als
5 Einen jüngeren Forschungsüberblick zum Frauenlied bietet Nagasawa 2015. Die Forschung ist insgesamt dadurch geprägt, dass sie weniger die Gattung als vielmehr das Phänomen der Frauenrede (d. h. direkte weibliche Rede) insgesamt in den Blick nimmt, die aber auch in anderen Gattungen des Minnesangs häufig und ausgedehnt vorkommt (Wechsel, Gesprächslieder, Tagelieder); insofern thematisieren schon Mergell 1940, aber auch die Beiträge in Cramer u. a. 2000 sowie die Monographie von Boll (2007) ein übergeordnetes inhaltliches Phänomen und weniger die Gattung Frauenlied, sind aber dennoch auch hierfür einschlägig (vgl. auch Kasten 1993, 117). Beispiele für stärker gattungsbezogene Arbeiten sind Hoffmann 1986 und Schnell 1999. 6 Nur noch forschungshistorisch interessant sind die Ansichten von Scherer und Burdach, denen zufolge die Frauenstrophen des Kürenbergers von adligen Damen verfasst und gesungen worden seien – was wiederum Ausweis für eine „ursprüngliche volkstümliche liebespoesie“ gewesen sei (Burdach 1883, 356); vgl. Nagasawa 2015, 11–12. 7 Für dieses Phänomen hat sich auch der aus verschiedenen Gründen zu problematisierende Begriff ‚Rollenlyrik‘ eingebürgert, obwohl weder der soziologische Rollenbegriff noch der des Theaters passend erscheinen. Auf andere Weise reflektiert Obermaier 2000, 47, das Phänomen. 8 Zu den Begriffen Situationsspaltung und -verschmelzung vgl. Warning 1979, 122; Hausmann 2004, 171–179, sowie ergänzend Hausmann 2011, 160–163.
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Liebender als auch als Sänger präsentiert wird (Situationsverschmelzung); es ist in dieser Hinsicht aber vergleichbar mit dem Wechsel und dem (erzählenden) → Tagelied. Aufgrund der Distanz zwischen interner und externer Situation hat schon die ältere Forschung das Frauenlied dem genre objectif9 zugeordnet: Nicht ein liebendes männliches Ich besingt hier seine ‚subjektive‘ Sicht auf das Liebesverhältnis und die Dame, sondern ein Sänger führt eine weibliche Rede vor, die innerhalb des minnesängerischen Systems als ‚objektiv‘ gegeben präsentiert wird. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass in Frauenliedern tatsächliches weibliches Verhalten gleichsam objektiv dargestellt wird. Es ist vielmehr deutlich, dass in Frauenliedern (ebenso wie in Frauenstrophen ganz allgemein) männliche Projektionen über Verhaltensweisen und emotionale Befindlichkeiten von Frauen formuliert werden,10 die zum einen zeitspezifische, in der patriarchalen Adelsgesellschaft geltende Rollenerwartungen an Frauen dokumentieren beziehungsweise an deren Etablierung mitwirken, die aber andererseits auch normüberschreitendes weibliches Verhalten ausphantasieren,11 was für das (männliche) Publikum z. B. in Form der Präsentation weiblicher Sehnsucht, Liebesbereitschaft oder auch Frivolität attraktiv gewesen sein dürfte. Zu Recht sind Frauenlieder deshalb auch in den Fokus einer an Fragen der Gender-Forschung orientierten Literaturwissenschaft geraten, weil sich in ihnen die Etablierung sozialer Geschlechterrollen in einer männlich dominierten Gesellschaft dokumentiert (→ Minnesang in gender- und queertheoretischer Perspektive).12
3 Historische Entwicklung Frauenlieder kommen in den historischen Entwicklungsphasen des Minnesangs signifikant unterschiedlich häufig vor, und auch innerhalb dieser Phasen verwenden einige Autoren Frauenlieder öfter, andere nur sehr vereinzelt oder gar nicht. Schließlich scheinen auch bestimmte Überlieferungsstränge Frauenlieder mehr oder minder bevorzugt zu überliefern. So fehlen beispielsweise im Reinmar-Corpus der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift A alle Frauenlieder und nahezu alle übrigen Frauenstrophen, während sie im entsprechenden Corpus der Weingartner Liederhandschrift B ohne weiteres überliefert werden.13 Das deutet darauf hin, dass mit der Gattung Frauenlied auch inhaltliche Konzepte konnotiert wurden, die zu unterschiedlichen Zeiten als mehr oder minder angemessen, als modern oder veraltet, als zu bestimmten Autoren passend oder eher unpassend angesehen wurden.
9 Vgl. zum Begriff Kasten 1997. 10 Vgl. Hoffmann 1986, 33; Kasten 1987. 11 Vgl. Bennewitz 2000, 84. 12 Vgl. z. B. Bennewitz 1991; Bennewitz 2000; Kasten 2000; Rasmussen 2002. 13 Vgl. Hausmann 1999, 280–301.
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Das Frauenlied im frühen Minnesang Anteilsmäßig am stärksten vertreten ist das Frauenlied im sogenannten frühen oder donauländischen Minnesang, der durch die Präsenz von Frauenliedern und -strophen seine wesentliche Prägung erfährt.14 Bei einigen Autoren des frühen Minnesangs bestehen die überlieferten Corpora zu mehr als der Hälfte aus Frauenstrophen (→ Der von Kürenberg, Burggraf von Regensburg), die immer wieder ganze Frauenlieder bilden, häufig aber auch zu Wechseln gehören. In den Frauenliedern des frühen Minnesangs wird die weibliche Ich-Sprecherin als emotional hochgradig engagierte Liebende präsentiert, die nur zu gerne mit ihrem Geliebten – dem rîter – vereint wäre. Das freilich verhindern die Aufpasser (huote, merkaere), die das offenbar gesellschaftlichen Normen zuwiderlaufende Liebesverhältnis als Instanz sozialer Kontrolle stören; das frühminnesängerische Frauenlied ist deshalb inhaltlich sehr oft weibliche Trennungsklage. Noch häufiger als in den Mannesstrophen werden in Frauenstrophen des frühen Minnesangs Naturbeschreibungen verwendet, um Übereinstimmung oder Kontrast zwischen dem emotionalen Zustand der Sprecherin und der natürlichen Umgebung zu formulieren. In einer etwas anderen Spielart, die vor allem durch die Frauenstrophen und -lieder des Kürenbergers vertreten wird, beklagt die Frau auch das Bedürfnis des Mannes nach Unabhängigkeit, das die Liebesbeziehung ebenfalls stören kann und das Zusammensein verhindert oder beendet. Ein Beispiel dafür ist das Falkenlied des Kürenbergers (MF 8,33), das Wapnewski sicherlich zu Recht als Frauenlied interpretiert hat.15 In derartigen Frauenliedern (und -strophen) wird also nicht nur die weibliche Liebesbereitschaft als attraktives Motiv präsentiert, sondern auch männliche Autonomie als zentrales Element der patriarchal geprägten höfischen Elite thematisiert. Dabei geht es weniger um Kritik an der männlichen Ungebundenheit als vielmehr um deren Affirmation, was wiederum am Falkenlied des Kürenbergers gut zu erkennen ist: Der freie Flug des Falken, der sich dem weiblichen Domestizierungsversuch entzogen hat und hier für den Mann steht, erscheint der Frau als schön. Auch besonders archaisch anmutende Beispiele sind konzeptionell dem frühen Minnesang zuzuordnen und zeigen die enge Affinität zwischen frühminnesängerischer Liebeskonzeption und der Gattung Frauenlied, beispielsweise das einstrophige, in C unter dem Namen Dietmars von Eist überlieferte Lied Sô wol dir, sumerwunne (MF 37,18) oder der zweistrophige Ton des Burggrafen von Regensburg Ich bin mit rehter staete (MF 16,1). Gerade an den frühen Beispielen wird deutlich, dass das Frauenlied nicht als sekundäre Variante des Mannesliedes zu verstehen ist, sondern eine ursprüngliche, vielleicht sogar die älteste greifbare Form erotischer Lieddichtung im deutschsprachigen Bereich darstellt. Dies hat das Frauenlied in den Fokus einer auf die Frage nach
14 Vgl. Haubrichs 1989. 15 Vgl. Wapnewski 1959.
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dem ‚Ursprung‘ des Minnesangs konzentrierten älteren Forschung gerückt, ohne dass dies zu haltbaren Ergebnissen geführt hätte.16 Interessanter erscheint ein Ansatz, der von der performativen Realisierung des frühen Frauenliedes her denkt: Die gegenüber dem Manneslied scheinbar komplexere Konstellation, in der die textinterne Stimme weiblich, der Sänger aber ein Mann ist, war offenbar deshalb unproblematisch, weil im frühen Minnesang die Stimme der oder des Liebenden grundsätzlich (also auch wenn es sich um eine männliche Stimme handelte) nicht von vornherein auf den Sänger zu beziehen war, sondern von diesem nur präsentiert wurde; das deutet darauf hin, dass gar nicht erwartet wurde, dass der Sänger (angeblich oder tatsächlich) von sich selbst und ‚seiner‘ Liebe singt (→ Die performative und mediale Dimension des Minnesangs).
Das Frauenlied im Hohen Minnesang Mit der Rezeption der romanischen Lieddichtung (→ Altokzitanische Lyrik, → Liebeslyrik in Nordfrankreich) und der damit verbundenen Entwicklung des Hohen Minnesangs im deutschsprachigen Bereich werden Frauenlieder signifikant seltener und kommen bei vielen Autoren gar nicht mehr vor. Das mag auch damit zusammenhängen, dass aus der Romania neben der Kanzonenform und der Konzeption der unerfüllten, aber für den Mann gerade deshalb hochgradig nobilitierenden ‚hohen‘ Dienstminne auch die Möglichkeit übernommen wird, das Sprecher-Ich zugleich als Liebenden u n d Singenden zu inszenieren (erstmals greifbar in dem Vers swaz ich singe, daz ist wâr des hier auch ausweislich der Strophenform schon romanisch beeinflussten Burggrafen von Riedenburg; MF 19,17, V. 8). Damit verschmelzen die im Liedtext präsentierte Situation und die Aufführungssituation und werden synchronisiert,17 der Sänger erscheint nun selbst als der Liebende, der im Lied angeblich seiner unerfüllten Sehnsucht nach einer Dame Ausdruck verleiht. Dies verträgt sich logisch kaum mit der im frühen Minnesang noch ohne weiteres gegebenen Möglichkeit, dass der Sänger ebenso häufig auch einer weiblichen Ich-Figur seine Stimme leiht; denn wenn die männliche Ich-Figur als Sänger präsentiert wird, dann wird der Sänger damit auch auf den Wissenshorizont des Mannes eingeschränkt. Das männliche Sprecher-Ich weiß aber im Konzept des Hohen Minnesangs gerade nicht, was in der Frau vorgeht und was sie – an einem anderen Ort – sagt oder gesagt hat. Schließlich würde das frühminnesängerische Frauenlied auch aus inhaltlichen Gründen nicht zum Konzept des Hohen Minnesangs passen, denn für die liebesbereite Frau und eine Liebesbeziehung, die nur aus äußeren Gründen (Aufpasser am Hof u. Ä.) nicht zur Erfüllung kommt, ist hier zunächst – in der ersten Phase des Hohen Minnesangs –
16 Vgl. zusammenfassend Kasten 2000, 3. 17 Vgl. Hausmann 2004, 171–174.
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kein Platz. Übrigens kommen Frauenlieder auch in der provenzalischen Troubadourlyrik, die den hauptsächlichen Bezugspunkt für die deutsche Rezeption bildete, nur vereinzelt vor.18 Es ist deshalb insgesamt nicht überraschend, dass reine Frauenlieder insbesondere im sogenannten ‚Rheinischen Minnesang‘, also der frühen, eher von südwestdeutschen Autoren getragenen Rezeptionsphase der provenzalischen Lyrik, so gut wie keine Rolle spielen.19 Erst nach der Etablierung des Hohen Minnesangs tauchen Frauenlieder bei einigen Autoren der Folgegeneration wieder häufiger auf, und zwar mit besonderer Prägnanz bei solchen, für die ein (zeitweiliger) Aufenthalt an Höfen des bayerisch-österreichischen Raumes wahrscheinlich ist (Albrecht von Johannsdorf, → Reinmar der Alte, → Walther von der Vogelweide). Dies kann als bewusster Rückgriff auf Traditionen des frühen Minnesangs interpretiert werden, die in diesem Gebiet offenbar noch aktivierbar waren oder sogar vom Publikum eingefordert wurden.20 Insbesondere Reinmars Frauenlieder erschienen der germanistischen Forschung von jeher erklärungsbedürftig, weil sie auf den ersten Blick nicht gut zu einem Autor passen, der als Vollender und Höhepunkt des Hohen Minnesangs und des damit verbundenen Frauenpreises beschrieben wurde. Während Schweikle die Darstellung der Frau im Frauenlied noch als „konträr“ zu den Mannesliedern bezeichnete21 und Tervooren die Frauenlieder Reinmars als „Gegenentwurf zum zentralen Minnelied“22
18 Vgl. Mölk 1989 sowie die romanistischen Beiträge in Cramer u. a. 2000 sowie Plummer 1981. 19 Ausnahmen bestätigen hier die Regel: Das in der Handschrift C unter Friedrich von Hausen überlieferte Frauenlied Wol ir, si ist ein saelic wîp (MF 54,1) weist eine besondere Überlieferungskonstellation auf (letztes Lied im Hausen-Corpus der Hs. C, anders als bei den vorausgehenden Liedern keine Parallelüberlieferung in B, in Hs. p zusammen mit Strophen eines Liedes Reinmars des Alten überliefert); in der Formulierung des weiblichen Konflikts zwischen Sehnsucht nach dem Mann und der Sorge um das eigene Ansehen entspricht es dem Gestus der unter dem Namen Reinmars des Alten überlieferten Frauenlieder (anders Obermaier 2000, 36–37, die die Forschungsdiskussion um die Zuschreibung dieses Liedes dokumentiert) und wirkt wie eine sekundäre Anlagerung an das HausenCorpus. Ähnlich ist die Überlieferungssituation des in C unter Heinrich von Veldeke überlieferten Frauenliedes Manigem herzen taet der kalte winter leide (MF XXXVII); auch dieses steht am Ende des Corpus, gefolgt nur noch von einem Lied, das sicherlich Ulrich von Liechtenstein zuzuschreiben ist und in C deutlich nachgetragen wurde. Sowohl formal als auch inhaltlich gehört dieses Lied eindeutig in den Bereich des frühen Minnesangs und bleibt ohne Bezug zum übrigen Werk Heinrichs von Veldeke. Das zweite unter Heinrichs von Veldeke Namen überlieferte Frauenlied Ich bin vrô, sît uns die tage (MF 57,10) weist die auffällige Besonderheit auf, dass in der ersten Strophe der A-Fassung in den Versen 3 und 4 eine Inquit-Passage darüber aufklärt, dass es sich um ein weibliches Sprecher-Ich handelt (sô sprach ein vrowe al sunder clage | vrîlîch und ân al getwanc); der Sänger erscheint hier also als ein Erzähler, der die Rede einer Frau wiedergibt, und die weibliche Rede ist der männlichen damit systematisch untergeordnet. 20 Die stark biographisierenden Folgerungen, die Jackson 1981 für die Reinmarschen Frauenlieder zieht, sind jedoch zu konkret; zur Kritik vgl. Hausmann 1999, 7–8. 21 Vgl. Schweikle 1989, 127. 22 Tervooren 1991, 236.
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sah, hat sich inzwischen ausgehend von Kasten23 die Meinung durchgesetzt, dass die Frauen- und Manneslieder bei Reinmar inhaltlich kompatibel und funktional komplementär sind.24 Besonders deutlich wird dies dort, wo sich der Inhalt von Frauenliedern direkt auf bestimmte Manneslieder beziehen lässt. So erfährt die Frau im sogenannten Botenlied Reinmars Sage, daz ich dirs iemer lône (MF 177,10, das hier trotz der narrativen Anteile systematisch zu den Reinmarschen Frauenliedern gerechnet werden muss) durch einen Boten von dem, was das männliche Ich in dem Manneslied Der lange suozer kumber mîn (MF 166,16) gesagt hat; das Botenlied und das in der Überlieferung meist unmittelbar folgende reine Frauenlied Lieber bote, nu wirp alsô (MF 178,1) führen nun vor, wie die Frau darauf reagiert. Das weibliche Ich befindet sich in den Reinmarschen Frauenliedern in einem unlösbaren Dilemma: Einerseits reagiert die Frau sehr wohl emotional auf die männliche rede und würde die Liebe des Mannes gerne erwidern; das aber verbieten ihr die für sie besonders verbindlichen Normen der Gesellschaft, die nicht zuletzt der Mann in und mit seinem Frauenpreis selbst vertritt. Würde sie dem Mann entgegenkommen, würde sie staete und Ansehen verlieren. Ihr bleibt also nur das Schweigen, das der Mann als Ablehnung, aber auch als Ausweis ihrer wirdekeit interpretieren muss. Reinmars Frauenlieder passen durch die Darstellung des weiblichen Dilemmas, das die Frau paralysiert und zur Reaktionslosigkeit verdammt, exakt zur hochminne sängerischen Konzeption seiner Manneslieder; sie erklären gleichsam ‚objektiv‘, indem sie die Frau selbst zu Wort kommen lassen, warum die Minnebeziehung niemals zur Erfüllung führen kann, der Mann jedoch durch seine herausragenden Tugenden, vor allem aber durch seine rede sehr wohl erfolgreich weibliche Liebesaffekte auslöst. Die affirmative Leistung frühminnesängerischer Frauenlieder wird hier aktualisiert und in den Hohen Minnesang integriert. Reinmars Frauenlieder scheinen damit auf eine Problematik zu reagieren, die mit der Fortentwicklung des Hohen Minnesangs mehr und mehr virulent wurde: Je weiter der Frauenpreis getrieben und je unerreichbarer die Dame damit schon auf einer prinzipiellen Ebene wird (denn eine Frau, die der Mann erreichen könnte, würde das Lob gar nicht mehr verdienen), desto mehr wird die Dame zu einer reinen Projektionsfläche für soziale Normen, die insbesondere das männliche Ich der großen Minnekanzonen selbst vertritt (deutlich z. B. im Narzisslied → Heinrichs von Morungen; MF 145,1). Damit verliert zum einen die Dame jegliche individualisierende Substantialität und wird zum Spiegel männlicher Normanforderungen;25 zum anderen ist ein Konzept, das die Frustration männlicher Minneambitionen systematisch festschreibt, auf Dauer nicht besonders attraktiv. Unter diesem Aspekt verwundert es nicht, dass gerade Reinmar der Alte, der den hochminnesängerischen Frauenpreis auf die Spitze 23 Vgl. Kasten 1987, prägnant 142–143. 24 Vgl. Ashcroft 1996; Obermaier 2000, 34–38; Hausmann 1999, 197–226. Vgl. zu Reinmars Frauenliedern außerdem Kasten 1987; Kasten 1993; Haferland 2006; Brüggen 2008; Hausmann 2011. 25 Vgl. Hausmann 2011, 166–168.
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treibt, wieder Frauenlieder produziert, die der einseitig männlichen Perspektive entgegenwirken (wogegen sie z. B. bei Heinrich von Morungen vollständig fehlen). Allerdings hat die Forschung auch darauf hingewiesen, dass diese für Reinmar spezifische Verwendung von Frauenliedern hinsichtlich ihrer performativen Realisierung durchaus prekär sein kann:26 Denn wenn das Ich in den Mannesliedern Reinmars als liebender Sänger inszeniert wird, der tatsächliche Sänger aber auch Frauenlieder singt, deren Inhalte eben diesem Sänger-Ich der Manneslieder gerade unbekannt sein müssen, dann entsteht hier eine logische Spannung, die man unter Verwendung narratologischer Begriffe als performative Metalepse bezeichnen könnte (Ebenenbruch). Wenn Mannes- und Frauenlieder an einer gemeinsamen Diegese partizipieren, kann der Sänger nicht einerseits im Manneslied Bestandteil der Diegese sein, im Frauenlied dagegen andererseits als deren Hervorbringer auftreten. Bei Walther von der Vogelweide besteht dieses Problem nicht in gleicher Weise, obwohl auch unter seinem Namen Frauenlieder überliefert sind (häufiger allerdings Frauenstrophen, die in Gesprächslieder oder Wechsel eingebunden sind),27 darunter mit dem Lindenlied (L 39,11) auch das heute wohl bekannteste Frauenlied und überhaupt populärste deutschsprachige Minnelied des Mittelalters.28 Walther präsentiert hier allerdings anders als Reinmar eine weibliche Ich-Sprecherin, die in keiner Weise mit dem Hohen Minnesang kompatibel ist, sondern für ein Gegenmodell steht, das deshalb auch nicht konzeptionell integriert werden muss. Das Lied, das die Forschung zu den sogenannten „Mädchenliedern“ gezählt hat, lässt sich durchaus auch als eine für Walther spezifische Reaktion auf den hochminnesängerischen Frauenpreis und den damit verbundenen Verlust einer substantiellen weiblichen Figur lesen. Die erotisch ausgesprochen präsente weibliche Ich-Sprecherin erzählt kaum verhüllt von einem sexuellen Erlebnis mit dem Geliebten, das nachts in freier Natur unter einer Linde stattgefunden hat. Das nur scheinbar ‚einfache‘ vierstrophige Lied spielt mit dem Gegensatz von Intimität und Öffentlichkeit und nutzt dafür eine komplexe Zeitstruktur, deren Ziel die möglichst weitgehende Vergegenwärtigung der von der Frau erinnerten erotischen Situation in der Rezeptionssituation zu sein scheint. Der offenbar kalkulierte Einsatz der Gattung Frauenlied ist in dieser Phase des Minnesangs eine auffallende Besonderheit Reinmars und Walthers und vielleicht Ausdruck eines minnesängerischen Diskurses, dessen Protagonisten die beiden gewesen sein dürften (von der älteren Forschung unzulässig biographisierend als „Fehde“ bezeichnet). Nur unter den Liedern → Hartmanns von Aue finden sich ebenfalls mehrere Frauenlieder, die inhaltlich einen etwas anderen Akzent setzen als die Frauenlieder Reinmars (Ärger über den „falschen“ Freund in MF 212,37; die Frau, die den Rat der Freunde ausschlägt und sich auf den Mann einlassen will, in MF 216,1). 26 Vgl. zum folgenden Gedanken Hausmann 2011, 175, und Hausmann 2017, 32–33. 27 Zu Frauenlied und Frauenstrophen bei Walther vgl. Ashcroft 2000; Mecklenburg 2004; Bleumer 2005; Köbele 2009. 28 Vgl. Hausmann 2017, 35–37, dort Anm. 37 mit weiterführender Literatur zum Lindenlied.
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Bei Hartmann kommt außerdem auch eine besondere Spielart des Frauenliedes vor, die auch bei Reinmar dem Alten vertreten ist: die Totenklage einer Frau, die von der älteren Forschung auch „Witwenklage“ genannt wurde (Hartmann von Aue MF 217,14; Reinmar der Alte MF 167,31)29. In diesen Liedern beklagt eine weibliche IchSprecherin den Tod des geliebten Mannes; im Fall Reinmars wird dieser – äußerst ungewöhnlich für den sonst auf Namen vollständig verzichtenden Reinmar – sogar als aller vröiden hêrre Liutpolt (MF 167,31, I, V. 8) benannt, womit höchstwahrscheinlich Herzog Leopold V. von Österreich gemeint ist, der am 31. Dezember 1194 gestorben ist. Zumindest das (kompliziert überlieferte) Lied Reinmars ist schwerlich der Witwe Leopolds in den Mund gelegt, sondern läuft auf die Verschränkung eines Elements des Minnesangs – die Figur der liebenden Frau – mit einem Element der Realität – Leopolds Tod – hinaus. Im Ergebnis entsteht so unter Nutzung der aus dem Minnesang bekannten weiblichen Perspektive ein Panegyrikus auf den toten Herrscher.30
Narrativierung von Frauenrede im späteren Minnesang Im zeitlichen Umfeld Walthers und Reinmars und auch im späteren dreizehnten Jahrhundert taucht der Typus der liebesbereiten Frau sonst nur äußerst selten in Frauenliedern mit durchgehend weiblicher Ich-Sprecherin auf (etwas häufiger in Wechseln oder Gesprächsliedern mit strophenweisem Sprecherwechsel), wird jedoch in der narrativ geprägten Gattung → Tagelied als Figur prominent. Hier ist die weibliche IchRede Teil einer Erzählung, und der männliche Sänger übernimmt in der Aufführung die Rolle des Erzählers. Offenbar ist es in dieser Phase des Minnesangs nicht mehr wie im frühen Minnesang möglich, dass ein Sänger ohne weitere textuelle Markierung weibliche Rede wiedergibt, diese muss vielmehr durch expliziten Ausweis der Erzählperspektive klar als untergeordnet gekennzeichnet werden. Der Tendenz zur Narrativierung weiblicher Rede folgt grundsätzlich auch ein weiterer Liedtyp, der sich im dreizehnten Jahrhundert verbreitet, nämlich das Sommerlied Neidhartscher Prägung (→ Sommer- und Winterlieder). Vielleicht angeregt durch Walthers Figur des ‚Mädchens‘ (unter anderem im Lindenlied), die dieser als Gegenmodell zur hochstehenden frouwe des Hohen Minnesangs entwickelt hatte, verlegt Neidhart den Ort der Minnehandlung in den außerhöfischen Bereich des Dorfes und präsentiert liebesbereite Frauen, die sich meist ungehemmt nach der erotischen Begegnung mit dem Riuwentaler – einer textinternen Sängerfigur – sehnen. Die Sommerlieder sind meist Gesprächslieder mit oft umfangreichen erzählenden Anteilen; gelegentlich ist das Geschlecht des Ich-Sprechers zunächst nicht markiert beziehungsweise es zeigt sich erst im Verlauf, dass es sich um ein weibliches Ich handeln muss (z. B. SL 21). In einigen Fällen beginnt das Sommerlied monologisch gleichsam als Frauenlied, und 29 Zu beiden Liedern vgl. Hausmann 1999, 257–267. 30 Vgl. Ashcroft 1979; Hausmann 1999, 257–267.
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dieses ‚Frauenlied im Lied‘ kann sich über mehrere Strophen erstrecken (in SL 21 je nach Handschrift über drei oder vier Strophen), bis es schließlich durch Erzählerrede als Frauenrede narrativ eingeordnet wird (in SL 21 durch den Beginn von Strophe 4: Daz gehôrte der mägde muoter tougen). Neidhart greift hier offenbar auf den älteren Typus des frühminnesängerischen Frauenliedes zurück (er tut dies übrigens auch durch den ebenfalls aus dem frühen Minnesang vertrauten → Natureingang und die insgesamt sehr ausgedehnte Naturmetaphorik) und pointiert es durch narrative Einordnung in seine ‚dörflichen‘ Geschichten.
4 Reflexe des Frauenliedes in der Epik Ein bemerkenswerter Reflex der Gattung Frauenlied findet sich im ‚Titurel‘-Fragment Wolframs von Eschenbach:31 Die Strophen 122–124 (oder bis einschließlich 126) bilden einen inhaltlichen Zusammenhang, eine geradezu liedhafte Sehnsuchtsklage der Sigune, die einerseits als Rückgriff auf frühminnesängerische Frauenlieder, andererseits aber als Abendlied (Serenade) auch im Kontrast zur Gattung Tagelied gelesen wurde.32 Tatsächlich klingen in diesem Strophenzusammenhang, der Sigune als sehnsuchtsvolle Liebende bei der abendlichen Ausschau nach ihrem Freund Schionatulander präsentiert, deutlich Motive des Minnesangs an, zumal die Strophenform, aber auch der imaginierte Standort der weiblichen Figur an den Kürenberger und seine Zinnenstrophe Ich stuont mir nehtint spâte (MF 8,1) erinnern konnten. So gelesen stehen die Strophen von Sigunes Lied ebenfalls für die Tendenz zur Narrativierung von Frauenrede, d. h., die weibliche Stimme gehört im ‚Titurel‘ ebenso wie in Tageliedern und den Liedern vom Typus der Neidhartschen Sommerlieder einer Figur, die Teil einer expliziten Erzählung ist – und nicht mehr performativ erzeugte Imagination wie im Frauenlied.
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Tagelied 1 Das Tageliedsujet Das Tagelied entfaltet, ganz überwiegend durch eine Erzählerinstanz vermittelt, eine Situation, in der sich zwei Minnende nach heimlich gemeinsam verbrachter Nacht im Morgengrauen trennen müssen. Als Ort des Geschehens ist meist der Lebensbereich der Dame, besonders die Kemenate als ein Heimlichkeitsraum, vorausgesetzt. Das Tagelied stellt eines der erfolgreichsten Genres des höfischen Sangs dar und hat sich bei einem relativ festen Sujetkern unter zahlreichen Variationsbildungen, parodistischen Distanzierungen und Reflexen in höfischem Roman, Minnerede und Märendichtung bis in die Frühe Neuzeit hinein erhalten.1 Nach Anfängen im späten zwölften Jahrhundert entfaltet es sich vor allem im dreizehnten Jahrhundert, wird aber auch darüber hinaus gepflegt (Mönch von Salzburg, Hugo von Montfort) und gelangt bei → Oswald von Wolkenstein zu einer späten Blüte. Zugleich ist es aus dem höfischen Sang auch in die nicht-höfische Lieddichtung gewandert, wo es noch im sechzehnten Jahrhundert textproduktiv wirkt.2 Die umfangreichste geschlossene Sammlung von (anonymen) Tageliedern mit einem breiten Spektrum an Variantenbildung enthält das Liederbuch der Clara Hätzlerin (1470/71). In einer geistlichen Spielart mit mehreren Unterformen hat das Tagelied besonders im fünfzehnten Jahrhundert Konjunktur und wird noch in der protestantischen Lieddichtung funktionalisiert, um die lutherische Lehre gegenüber der altgläubigen zu profilieren. Das Sujet ist durch eine grundlegende Opposition bestimmt. Den Minnenden sind der Zeitraum der Nacht und die heimliche Minne zugeordnet, der Gesellschaft die → Zeit des Tages und Kategorien wie Sichtbarkeit, Öffentlichkeit und soziale Ordnung. Das Minnepaar befindet sich im ‚Innen‘ eines abgegrenzten Raums, der durch die Vertreter der Gesellschaft nicht eingesehen werden kann. Vorausgesetzt oder in einzelnen Details skizziert ist dieser Innenraum überwiegend, vor allem im höfischen Sang, als Kemenate, der korrespondierende Außenraum als Hof zu denken. Diese dreifache semantische Opposition verweist auf konträre Normvorstellungen, aus denen sich die Handlung entfaltet. Das Paar wird des nahenden Tagesanbruchs gewahr; der Mann muss den Innenbereich der Minnenden verlassen, beide beklagen ihre Situation, versichern sich gegenseitiger Liebe und nehmen Abschied. Kaum einmal wird diese Notwendigkeit begründet; einen eifersüchtigen Ehemann, wie den gilos der Trobadorlyrik
1 Vgl. die immer noch grundlegende Anthologie Hausner 1983. 2 Classen 1999; Hausner 1983, XXIV–XXV. https://doi.org/10.1515/9783110351859-028
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(→ Altokzitanische Lyrik), kennt das Tagelied nicht,3 allenfalls Kontrollinstanzen wie die huote oder die merkaere. Weil im Tagelied auch gegen den normativen Druck der Gesellschaft gerichtete Stimmen zu Wort kommen, wurde es lange als „Kompensation“ zur auf Aporien hin angelegten Minnekanzone verstanden, als „‚Gratifikationsgattung‘“.4 Neuere Ansätze, in ihm eine „ergänzende Abwandlung der Minnediskussion“ zu sehen,5 wären unter Berücksichtigung der Vortragspragmatik noch besser abzustützen. Denn während es naheliegt, das Ich der Minnekanzone auf den körperlich präsenten Sänger zu beziehen, schiebt sich im Tagelied zwischen das Geschehen und den Vortragenden die Erzählerstimme.6 Ihre Einführung aber erlaubt es gerade, eine geheime Überschreitung sozialer Normen zu entfalten, ohne dass diese textintern bekannt wird. Dass so die prinzipiell gleiche Dichotomie von liebe und leit wie in der Minnekanzone im Tagelied von der erotischen Erfüllung her entfaltet wird, kann nicht die Hofgesellschaft des Textes, sondern erst der Rezipient in der Vortragssituation registrieren.7 Im höfischen Sang wird als ein wichtiger Subtypus das Wächterlied ausgeprägt, in dem das überwiegend als adlig ausgewiesene Minnepaar durch einen Wächter gewarnt wird. In ihm ist als Sinnangebot eine Haltung modelliert, die soziale Restriktion durchsetzt, dabei aber Solidarität mit den Minnenden zeigt. Tagewîse meint zunächst seinen morgendlichen Weckruf, der in der Epik der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts bereits etabliert ist und wohl um 1200 einen festen Platz im Tageliedsujet erhält. Ab der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts ist die Verwendung von tagewîs beziehungsweise tageliet als Bezeichnung für ein Liedgenre belegt.8 Ausgehend davon können die beiden Worte in Sangspruchdichtung und Meistergesang besonders in Spätmittelalter und Früher Neuzeit in noch allgemeinerer Verwendung auch eine Tonbezeichnung darstellen.9
3 Erst ein Tagelied der Hätzlerin-Sammlung (HÄTZ I 27), ein Volkslied (84 in der Ausg. Uhland 1844/1845) und ein geistliches (!) Tagelied von Hans Sachs (dazu Hahn 1992) kennen eine Ehebruchs situation. 4 Cormeau 1992, 697. 5 Cormeau 1992, 706 (zit.); Greenfield 2006, 46. 6 Nur ausnahmsweise fungiert eine der Figuren als rückblickender Erzähler (Von Wissenlo KLD 3; Hadlaub SMS 50). 7 Mohr 2019, 197–198, 237–238, 245–246. 8 Vgl. die Belege bei Hausner 1983, XV–XVI mit Anm. Eine Ausgliederung des Tagelieds aus der Minnekanzone durch Gruppenbildung spiegelt dieses Gattungsbewusstsein (vgl. Hausner 1983, XVII– XXI) allerdings erst spät in den Sammelhandschriften. 9 Vgl. Brunner 1975, 146–150.
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2 Voraussetzungen und Entfaltung der Gattung in der Schriftlichkeit um 1200 Das Grundmotiv: die Trennung zweier Liebender nach gemeinsam verbrachter Nacht, ist als Liedsujet in vielen Kulturen weltweit dokumentiert.10 Doch nimmt es in der höfischen Sangverslyrik im mittel- und westeuropäischen Raum eine eigene, charakteristische Prägung an. Als Einflüsse sind christlich grundierte lateinische Hymnen oder die griechisch-lateinische Dichtung, insbesondere Ovids Elegien, erwogen worden,11 für die deutschsprachige Dichtung zusätzlich Einflüsse aus dem Romanischen.12 Gelegentlich ist im mittelhochdeutschen Sang auch das Komplement zur Alba der okzitanischen Trobadorlyrik, die Serena, aufgegriffen worden,13 auch in Kombination mit Tagelied-Motiven (Otto von Botenlauben KLD 9; KLD 14; → Ulrich von Liechtenstein KLD 36). Auf eine vorliterarische Schicht europäischer Volksliedtradition14 deutet die Nähe zur Frauenklage hin, wie sie im donauländischen Sang noch relativ häufig überliefert ist. Doch von einlinigen Abhängigkeitsverhältnissen ist nicht auszugehen, und ebenso verbietet sich eine Rekonstruktion des Genres in linear fortschreitenden Linien. Die Geschichte des Tagelieds zeichnet sich durch einen stabilen Sujetkern und ein breites Variationsspektrum aus; adäquat ist die Textgruppe im Sinne einer Familienähnlichkeit beschrieben.15 Der älteste mittelhochdeutsche Beleg, Dietmars von Aist Slâfest du, vriedel ziere? (MF 39,18), steht der Pastourelle nahe; das im Codex Manesse überlieferte Lied könnte bereits eine überarbeitete und höfisierte Fassung darstellen.16 Um 1200 – eine genauere zeitliche Eingrenzung ist kaum möglich – erscheint das Sujet etabliert und bereits vielfältig variiert. Vor allem in den Liedern Wolframs von Eschenbach und Ottos von Botenlauben erfährt das Thema seine nachhaltige Ausprägung als Wächterlied. Wolframs fünf Tagelieder variieren unter enger wechselseitiger Bezugnahme Kommunikationssituationen (Monologe, in wechselnder Besetzung Dialoge und Kombinationen beider) und entwerfen für die Zweisamkeit und körperliche Nähe der Minnenden suggestive Bilder. Breiten Raum nehmen die von einer Erzählinstanz vermittelten epischen Anteile ein. Gegenüber Dietmars Slâfest du, vriedel ziere?, anderen Tageliedern und auch gegenüber der Minnekanzone konkretisiert Wolfram die Raum- und Zeitsemantik und verleiht im Ansatz auch seinen Figuren schärfere Konturen.17 Insbesondere in den Liedern MF 3,1 und MF 4,8 ist das Geschehen in einen 10 Eine materialreiche Darstellung bietet Hatto 1965. 11 Müller 1971. 12 Vgl. Bartsch 1883, 254–256; Mohr 1971; Wolf 1979. 13 Hadlaub SMS 51; MÄRZ W 4; HOF 8 und in mehreren Liedern des Hätzlerin-Corpus. 14 Vgl. Wolf 1979, 1–10. 15 Dezidiert Hamm 2010; implizit Schnyder 2004. 16 Wolf 1979, 27. 17 Konzise Analysen bei Kühnel 1993; grundlegend ist nach wie vor Wapnewski 1972.
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klar gegliederten Raum gestellt und wird das Herannahen des Tages erzählerisch (MF 3,1) oder rhetorisch (MF 4,8, I) ausgestaltet. Mann und Frau sind Aristokraten, ritter und vrouwe. Ihre heimliche nächtliche Begegnung ist nicht die erste und soll nicht die letzte sein; für ihr Vorgehen hat sich schon eine gewisse Routine eingespielt. Ein Signum von Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit gewinnt die Liedhandlung erst in der unerwarteten (und als unerwartet markierten) Bedeutung, die das urloup nemen (‚Abschied nehmen‘) annimmt: Statt sich zu trennen, finden Frau und Mann noch einmal in einer Liebesvereinigung zueinander (MF 3,1; MF 4,8; MF 6,10; MF 7,41). In diesem für Wolfram spezifischen Motiv wird der Moment der Trennung zu einem Moment größtmöglicher Intensität und Intimität. Die Lieder erhalten kein wirkliches Ende, sondern brechen in dem Moment, in dem die Trennung am dringlichsten wird, ab.18 In ihm ist der Gegensatz zwischen den Kontrollansprüchen einer restriktiven Gesellschaft und dem Minnebegehren des Paars nicht gelöst, sondern auf die Spitze getrieben. Die Anliegen beider Seiten vertritt die von Wolfram eingeführte Wächterfigur, die die normierenden Ansprüche der Gesellschaft durchsetzt, andererseits aber die Minnenden warnt. Die einander widersprechenden Positionen werden überwiegend über Frau und Wächter ausgetragen; die Perspektive auf den Wortstreit ist dabei aber eine männliche. Wolframs Lieder loten die Möglichkeiten der Tageliedthematik aus und stellen sie dort bereits grundsätzlich in Frage, wo der heimlichen Minnebegegnung die legitime und ungetrübtes Glück verheißende Begegnung zwischen Eheleuten entgegengesetzt wird (MF 5,34). Ähnlich variantenreich und eng aufeinander bezogen wie Wolfram gestaltet Otto von Botenlauben seine vier Tagelieder. In wechselnden Kombinationen kommen alle drei konstitutiven Figuren, Dame, Ritter und Wächter, zu Wort und werden miteinander konfiguriert. Mal beklagt sich der Ritter, dass die Frau ihn nicht geweckt habe (KLD 3), dann will er nicht gehen und muss von ihr fortgebeten werden (KLD 13). Zwei Lieder zeigen die Dame (KLD 14) wie den Mann (KLD 9) im vorbereitenden Gespräch mit dem Wächter und verbinden so Serena und Tagelied. Frühe thematische und motivische Experimente an den Rändern des Sujetkerns legen es nahe, dass dessen Kenntnis beim höfischen Publikum um 1200 schon vorausgesetzt werden konnte. → Heinrich von Morungen kombiniert die Tageliedmotivik mit der typischen Kommunikationsstruktur des Wechsels (MF 143,22: ‚Tageliedwechsel‘). In → Reinmars ‚Anti-Tagelied‘ MF 154,32 klagt das Ich, dass es sich leider noch nie im Morgengrauen von einer Frau habe trennen müssen.19 Ein Lied → Walthers von der Vogelweide scheint, möglicherweise in ironischer Brechung, die gattungskonstituierenden Merkmale geradezu überzuerfüllen (L 88,9). Zahlreiche genaue Anklänge zwischen den Tageliedern Wolframs und Ottos, aber auch Morungens, Walthers und des Markgrafen von Hohenburg (KLD 5) machen die Bestimmung einer relativen Chro-
18 Vgl. Mohr 2019, 197–198, 236–237, 244. 19 Zum Typus vgl. Müller 1971.
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nologie unmöglich, zumal grundsätzlich mit gegenseitigen Anregungen und gemeinsamen Einflüssen zu rechnen ist.20
3 Variantenbildungen – die Figur des Wächters Für die spätere Liedproduktion scheint vor allem Wolfram nachhaltig anregend gewesen zu sein. Ein großer Teil der Tagelieder im dreizehnten Jahrhundert kann gelesen werden als Arbeit an jenen Momenten, die in den frühesten Liedern noch unterbestimmt geblieben waren. Vor allem die Wächterfigur wird übernommen, wohl eher wegen der mit ihr verbundenen Variationsmöglichkeiten und ihrer poetologischen Valenz als wegen ‚realistischer‘ Züge der Figur. Denn erstens ist der Warnruf des Wächters häufig als Gesang ausgewiesen und rückt damit in die Nähe des Tagelieds selbst,21 und zweitens ist für den Wächter ein von der Kemenate entfernter Standort vorausgesetzt (oft, aber nicht stets, konkretisiert als zinnen). Die Künstlichkeit einer Kommunikationssituation, in der ein einzelnes Paar lautstark gewarnt wird und sich überdies Dame und Wächter über eine räumliche Distanz hinweg in Diskussionen verstricken können, ist seit den Anfängen der Tageliedforschung wahrgenommen worden.22 Vereinzelte Versuche, das unterbestimmte räumliche Gefüge oder auch die soziale Stellung des Wächters zu klären,23 können als überholt gelten. Allerdings wird keineswegs in jedem Lied deutlich, ob der Wächter eigentlich die Hofgesellschaft wecken oder das Minnepaar warnen soll. Bei → Hadlaub (SMS 14) deutet sich eine Unterscheidung zwischen beiden Funktionen an, die auch schon → Steinmars (SMS 5) Reflexion über die Loyalität eines Wächters voraussetzt. Ergänzt werden kann der Wächter um eine Kammerzofe, die auf sein allgemeines Wecken hin die Liebenden persönlich warnt (Burggraf von Lienz KLD 1; Ulrich von Winterstetten KLD 29; Ulrich von Liechtenstein KLD 40; vgl. auch HÄTZ I 6). In einem Tagelied des Hätzlerin-Corpus muss die Frau erst einen und dann noch einen weiteren Wächter eigens für sich verpflichten (HÄTZ I 11). Die bei Wolfram offengehaltene räumliche Korrelation von Wächter und Minnepaar wird in einigen Liedern konkretisiert, die schildern, wie die Dame vor der geplanten Liebesnacht den Wächter aufsucht, um sich seiner Hilfe zu versichern (Heinrich von Frauenberg SMS 1; Burggraf von Lienz KLD 1; Wenzel von Böhmen KLD 3), oder wie der Wächter von der zinnen herabsteigt, um die Minnenden aus nächster Nähe
20 Wolf 1979, bes. 80–95; Nachweise von Anklängen an das Sujet in weiteren Liedern (vgl. Mohr 1971; Wolf 1979, 51–73) sind nicht belastbar. 21 Vgl. Kiening 2003, 159–161. 22 Bartsch 1883, 256. 23 Vgl. etwa Johnson 1978, 314; Wapnewski 1970.
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zu warnen (Christan von Hamle KLD 6), oder nach der Verpflichtung durch die Dame dorthin geht (Marner WMS 2). Ebenso setzen die Sänger am Verhältnis zwischen Wächter und Minnepaar an, das von triuwe, aber auch von lôn bestimmt ist. Bei Heinrich von Frauenberg (SMS 1) und drastischer noch bei Wenzel von Böhmen (KLD 3) wird ein geldgieriger Wächter von der Dame überredet, mit seinem Warngesang noch zu warten.24 Andererseits sieht sich der Wächter als den Minnenden in triuwe verpflichtet und selbst in Gefahr, fürchtet wie sie um êre oder lîp (Hadlaub SMS 14; SMS 33; SMS 34) und kann gar feige türmen, um seinen Warngesang in sicherer Entfernung anzustimmen (Hadlaub SMS 50). Grundsätzlicher reflektiert Ulrich von Liechtenstein das Tageliedsujet, indem er den Wächter durch eine Kammerzofe ersetzt (KLD 36; KLD 40). Im unikal überlieferten ‚Frauendienst‘, einem autobiographisch angelegten Erzähltext, der die auch im Codex Manesse überlieferten Lieder narrativ einbindet, stellt er eine Begründung voran: Weil Wächter nicht adlig seien, nur ein Aristokrat aber ein Geheimnis für sich zu behalten wisse, sei die von den Sängerautoritäten vielfach variierte Situation unplausibel. Jede vernünftige Dame werde sich bei Heimlichkeiten der Unterstützung einer ebenfalls adligen Zofe versichern. Ulrichs zweite Variantenbildung setzt an der morgendlichen Trennung an. Das Bedrängte der eiligen Trennung und die Warnung vor verspätetem Aufbruch werden zum Anlass, die in der Tradition zwar allgemein vorausgesetzten, jedoch nie konkretisierten Folgen einer Verspätung in burlesker Weise durchzuspielen. Der Liebhaber wird den Tag über in der Kemenate der Frau verborgen und verlässt erst nach einer zweiten Liebesnacht, nunmehr rechtzeitig, den Ort der Heimlichkeit (KLD 40). Steinmar wird an der mangelnden Loyalität des Wächters ansetzen, der seinem eigentlichen Herrn schade, und ihn durch einen zuverlässigen, vertrauten Freund ersetzen (SMS 5). Der Ansatz scheint keine Resonanz gefunden zu haben; erst in einem Lied der Hätzlerin-Sammlung wird ein Loyalitätskonflikt des Wächters wieder zum Thema (HÄTZ I 27).
4 Parodien und Transpositionen, formale Artistik, narrative Dehnung Nachhaltiger wirkte wohl Steinmars zweites Tagelied, in dem erstmals das Sujet in ein bäuerliches Milieu verlegt ist. Knecht und Magd werden von einem Hirten geweckt, der das Vieh auf die Weide hinausführen will. Das Liebespaar erschrickt, doch dann nähert sich der Mann, unter Anklängen an Wolframs Lieder, unvermittelt der Frau, um noch einmal das bettespil (SMS 8,3, V. 5) zu treiben. Das Lied steht, wie weitere
24 In der gleichen Tradition steht noch die Diskussion zwischen Romeo und Juliet über Lerche und Nachtigall (‚Romeo and Juliet‘, dritter Aufzug, fünfte Szene).
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vergleichbare Parodien, im Zeichen ungezwungener Freude. In der Parodie kündigen sich bereits Tendenzen zur Ent-Höfisierung des Tagelieds und eine Annäherung an Motive der Pastourelle an, der das Sujet auch bei Dietmar von Aist nahestand. Ähnlich wie Steinmar versetzen der Mönch von Salzburg (MÄRZ W 3) und → Oswald von Wolkenstein (OSW 48) das Sujet in ein niederes Milieu. Eine höfische Kategorie der êre ist hier irrelevant, und so kann die Wächterfunktion des Warnens mit derjenigen einer Durchsetzung der gesellschaftlichen Ordnung verschmelzen, wie sie im höfischen Tagelied die Gesellschaft innehatte.25 Vollends überflüssig wird die Warnfunktion, wo die Liebenden zugleich Eheleute sind (HOF 37, OSW 121; reflektiert bereits bei Wolfram MF 5,34). Noch weiter getrieben werden parodistische Stoßrichtungen, wenn die Geliebte sich als unansehnlich und voller Ungeziefer erweist (HÄTZ I 37; BEHEIM 345) oder ein einsames (!), von Läusen gequältes Ich den Morgen ersehnt (HÄTZ I 21: Ain tagweis von lewsen). Wo am Tagelied in erster Linie formale meisterschaft demonstriert wird, werden seine thematischen und motivischen Charakteristika konventionell behandelt (→ Konrad von Würzburg SCHR 15; SCHR 30). Der Mönch und Oswald allerdings verbinden motivische Variationskunst und musikalische Artistik. Beide dichten mehrere Tagelieder als Duette, bei denen unterschiedliche Textanteile gleichzeitig gesungen werden; die Lieder des Mönchs gehören zu den ältesten deutschsprachigen Zeugnissen für Polyphonie in weltlicher Lieddichtung. Motivisch wie formal wenig anspruchsvoll sind hingegen die späten Tagelieder der Hätzlerin-Sammlung gearbeitet. In ihnen gehen die epischen Anteile zugunsten von langen Dialogpassagen zurück; dabei zeigen sie allerdings auch die Möglichkeiten zu balladenhafter Ausgestaltung. Im dreizehnten Jahrhundert stellt Günthers von dem Forste ausgreifendes Lied KLD 5 in 23 Strophen zu je zehn Versen, das die Geschichte eines ersten, scheiternden und eines zweiten, gelingenden Treffens erzählt, noch einen Solitär dar. Das Lied wird öfters als umfangreichstes Tagelied bezeichnet, doch noch deutlich länger sind einzelne Lieder des Hätzlerin-Corpus (HÄTZ I 11; HÄTZ I 27) und ein Lied von Hans Folz (MAY 50), die sich in ihrer balladenhaften Dehnung Erzähltexten nähern.
5 Geistliche Spielarten des Tagelieds Ungeklärt ist die generische Beziehung des ‚weltlichen‘ zum geistlichen Tagelied, das nach vereinzelten Anfängen in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts vor allem im fünfzehnten und noch im sechzehnten Jahrhundert floriert und mehrere, nicht strikt voneinander abzugrenzende Subtypen hervorbringt (Wächter- und Wecklied, Tagelied mit Darstellung von Weihnachten oder Ostern, Passionstagelied, maria25 Greenfield 2006, 61.
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nisches Tagelied).26 Gemeinsame Motive sind Weltabsage und der Aufruf zu Buße und Umkehr. Das Wächtersujet wird allegorisiert; Mann und Frau können für den Sünder und Frau Welt oder für Seele und Leib stehen, der Weckruf richtet sich an den Einzelnen oder die im Sündenschlaf befangene Menschheit. Zusätzlich kann ein Ich den Wächter um rasches und nachdrückliches Aufrütteln bitten, weil es sich der Erlösungsbedürftigkeit der Menschen – und seiner selbst – bereits bewusst geworden ist, oder Gebete an Gott oder Maria richten. Je nach Ausdeutung des Sujets können, wie typischerweise im höfischen Wächterlied, drei Instanzen aufgerufen sein, allerdings in kategorial anderer Konfiguration als dort. Wie beim ‚weltlichen‘ Tagelied werden engere und weitere Gattungsexplikationen vorgeschlagen.27 Die älteste Forschung versteht geistliche Tagelieder als Umdichtungen; Kontrafakturen sind aber erst im fünfzehnten Jahrhundert nachzuweisen. In jüngerer Zeit vermutet man eine eigenständige Traditionsbildung, die sich aus christlichen Weck- und Morgenhymnen herausgebildet habe, sich möglicherweise Einflüssen aus der Spruchdichtung verdanke und seit dem dreizehnten Jahrhundert mit dem weltlichen Tagelied konvergiert sei.28 Mit seinen geistlichen Spielarten bewegt sich das Tagelied überwiegend in Traditionen der Lieddichtung,29 vereinzelt finden sich die Motive aber auch in der höfischen Sangverslyrik. Der Typus des Weckrufs in der Sangspruchdichtung lässt gelegentlich spezifischere Tageliedmotivik anklingen (etwa Walther L 21,25; Reinmar von Zweter ROETHE 219). Die Grenze zwischen ‚weltlichem‘ und ‚geistlichem‘ Tagelied umspielen Hugo von Montfort, der die Motivik auch in seine Briefe und Reden einbaut,30 und Oswald von Wolkenstein (OSW 17; OSW 40; geistlich sind OSW 34; OSW 118). Im Kirchenlied wird sich das Motiv des Weckrufs bis ins siebzehnte Jahrhundert halten. In der protestantischen Lieddichtung konnte es als Erweckung aus den Verirrungen des alten Glaubens akzentuiert und Martin Luther als Wächter in Szene gesetzt werden, der vor dem drohenden Weltgericht warnt.31
Literatur Karl Bartsch: Die romanischen und deutschen Tagelieder. In: Gesammelte Vorträge und Aufsätze. Hg. von dems. Freiburg i. Br. u. a. 1883, 250–317. Horst Brunner: Die alten Meister. Studien zu Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. München 1975 (MTU 54).
26 Schnyder 2004. 27 Zusammenfassend Schnyder 2004, 1–16. 28 Ruberg 1997; Schnyder 2004, 631–634. 29 Schnyder 2004, 556–581. 30 Vgl. Mohr 2016. 31 Schnyder 2004, 578–581, und zu Hans Sachs Hahn 1992.
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Albrecht Classen: Das deutsche Tagelied in seinen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Varianten. In: Études Germaniques 54 (1999), 173–196. Christoph Cormeau: Zur Stellung des Tagelieds im Minnesang. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hg. von Johannes Janota u. a. Bd. 2. Tübingen 1992, 695–708. John Greenfield: wahtaere, swîc. Überlegungen zur Figur des Wächters im tageliet. In: Die Burg im Minnesang und als Allegorie im deutschen Mittelalter. Hg. von Ricarda Bauschke. Frankfurt a. M. u. a. 2006 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 10), 41–61. Gerhard Hahn: Es ruft ein wachter faste oder „Verachtet mir die Meister nicht!“. Beobachtungen zum geistlichen Tagelied des Hans Sachs. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hg. von Johannes Janota u. a. Bd. 2. Tübingen 1992, 793–801. Joachim Hamm: Ain tagweis. Überlegungen zu einem prototypentheoretischen Beschreibungsmodell des spätmittelalterlichen Tageliedes. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 247 (2010), 266–283. Arthur T. Hatto: Medieval German. In: Eos. An Enquiry into the Theme of Lovers’ Meetings and Partings at Dawn in Poetry. Hg. von dems. London u. a. 1965, 428–472. Renate Hausner: Owê dô tagte ez. Tagelieder und motivverwandte Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bd. 1. Göppingen 1983 (GAG 204). L. Peter Johnson: Sîne klâwen. An Interpretation. In: Approaches to Wolfram von Eschenbach. Hg. von Dennis H. Green und dems. Frankfurt a. M. u. a. 1978 (Mikrokosmos 5), 295–336. Christian Kiening: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a. M. 2003. Jürgen Kühnel: Das Tagelied. Wolfram von Eschenbach: Sîne klâwen. In: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter. Hg. von Helmut Tervooren. Stuttgart 1993, 144–168. Jan Mohr: Textreihe und Gattungsstrukturen. Zur Tageliedrezeption in Hugos von Montfort cpg 329. In: PBB 138 (2016), 76–106. Jan Mohr: Minne als Sozialmodell. Konstitutionsformen des Höfischen in sang und rede (12.–15. Jahrhundert). Heidelberg 2019 (Studien zur historischen Poetik 27). Wolfgang Mohr: Spiegelungen des Tagelieds. In: Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag. Hg. von Ursula Hennig und Herbert Kolb. München 1971, 287–304. Ulrich Müller: Ovid ‚Amores‘ – alba – tageliet. Typ und Gegentyp des ‚Tageliedes‘ in der Liebesdichtung der Antike und des Mittelalters. In: DVjs 45 (1971), 451–480. Uwe Ruberg: Gattungsgeschichtliche Probleme des ‚geistlichen Tagelieds‘ – Dominanz der Wächterund Weckmotivik bis zu Hans Sachs. In: Traditionen der Lyrik: Festschrift für Hans-Henrik Krummacher. Hg. von Wolfgang Düsing u. a. Tübingen 1997, 15–29. André Schnyder: Das geistliche Tagelied des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit: Textsammlung, Kommentar und Umrisse einer Gattungsgeschichte. Tübingen u. a. 2004 (BiblGerm 45). Ludwig Uhland (Hg.): Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder. Mit Abhandlung und Anmerkungen. 2 Bde. Stuttgart 1844/1845. Peter Wapnewski: Wächterfigur und soziale Problematik in Wolframs Tageliedern. In: Der Berliner Germanistentag 1968. Vorträge und Berichte. Hg. von Karl Heinz Borck und Rudolf Henss. Heidelberg 1970, 77–89. Peter Wapnewski: Die Lyrik Wolframs von Eschenbach. Edition, Kommentar, Interpretation. München 1972. Alois Wolf: Variation und Integration. Beobachtungen zu hochmittelalterlichen Tageliedern. Darmstadt 1979 (Impulse der Forschung 29).
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1 Die gotes vart als Thema und Motiv mittelalterlicher Lyrik Lieder, die auf eine Fahrt im Zeichen des Kreuzes, sei es ein Pilgerzug oder ein Kriegszug gegen die Feinde des Glaubens, Bezug nehmen oder der Erbauung von Kreuzfahrern dienen, haben eine lange Tradition.1 Das erste deutsche Lied dieser Art ist das um 1060 entstandene ‚Ezzolied‘. Weithin bekannt war das „Reise-, Kampf-, Wallfahrts- und Prozessionslied“2 In gotes namen varen wir, das noch ins zwölfte Jahrhundert zurückreicht. Für die mehrstrophigen Lieder in lateinischer und provenzalischer Sprache (→ Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters, → Altokzitanische Lyrik), die zum Kreuzzug gegen die Muslime in Spanien oder im Heiligen Land aufrufen, gab erstmals der Kreuzzug von 1096–1099 den Anstoß. Seitdem riss die literarische Tradition, mit der dichtesten Produktion im Umfeld des dritten und vierten Kreuzzugs, nicht mehr ab. Noch → Oswald von Wolkenstein (ca. 1376–1445) sollte daran anknüpfen (vgl. OSW 19 und 90a/b), ebenso Michel Beheim (RSM 1Beh/328, 1Beh/329), Muskatblut (RSM 1Musk/2/16) und das Lied eines Anonymus im Grauen Ton Regenbogens, überliefert in der Handschrift cgm 351 der Bayerischen Staatsbibliothek München (um 1425; RSM 1Regb/2/43a). Die lateinischen und romanischen Lyriker haben für die Lieder, die sich auf den pragmatischen Kontext des ‚Kreuzzugs‘ beziehen, freilich keinen besonderen Begriff geprägt.3 Auch der bei Reinmar dem Fiedler (um oder vor 1250) überlieferte mittelhochdeutsche Begriff kriuzeliet (KLD 3,1, V. 5) bleibt in gattungspoetologischer Hinsicht weitgehend unspezifisch. Tatsächlich kann er auf alle vier lyrischen Register der mittelhochdeutschen Literatur – religiöses Lied, Spruchsang, Minnesang und Leich – referieren, die mit unterschiedlichen thematischen Akzenten und in verschiedenen Sprechmodi, vom paraliturgischen Preis der Pilgerfahrt und der Erlösung durch das Kreuz über den Kreuzzugsaufruf mit Predigtcharakter bis zur Reflexion eines fundamentalen Normenkonflikts, das lebensweltliche Thema des ‚Kreuzzugs‘ aufgreifen. Auch der Gegenstand beziehungsweise das Kernmotiv solcher Dichtungen, die Fahrt im Zeichen des Kreuzes, kann Verschiedenes meinen. Die mittelalterlichen Begriffe, z. B. lateinisch crux peregrinatio, crux transmarina, crux cismarina; provenzalisch 1 Vgl. den Überblick über die lateinische, romanische und deutsche Kreuzzugslyrik vom elften bis vierzehnten Jahrhundert bei Wentzlaff-Eggebert 1960, 31–59, 151–218, 234–246, 296–315; zum Kreuzlied der Romania vgl. auch Leube 1980, zum lateinischen Kreuzlied Spreckelmeyer 1974 und 1987. 2 Janota 1983, 371. 3 Hölzle 1980, 50. https://doi.org/10.1515/9783110351859-029
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passatge oder pelegrinatge, später auch crozada; mittelhochdeutsch gotes vart, varn über mer, daz kriuze nemen u. ä.,4 sind grundsätzlich weit gefasst; sie bezeichnen jede Wallfahrt ins Heilige Land beziehungsweise jede Heerfahrt zur Verteidigung oder Befreiung von Glaubensgenossen, inklusive der sechs zwischen 1096 und 1291 unternommenen internationalen Großexpeditionen nach Jerusalem und Palästina, der sogenannten Königskreuzzüge. Thematisch vielfältig ist dementsprechend, was man unter dem Oberbegriff ‚Kreuzzugslyrik‘ zusammenfasst. Während die provenzalischen Sirventesen sowie seit den 1180er Jahren auch altfranzösische Kreuzlieder zur Befreiung des Heiligen Landes und anderer von den Muslimen eroberten Länder aufrufen, jene preisen, die mutig kämpfen, und diejenigen schelten, die zögern, für die Sache des Glaubens einzutreten,5 scheint diese Aufgabe in der deutschen Lyrik an Sangspruch, religiöses Lied und Leichdichtung delegiert zu sein. Bereits Friedrich von Hausen († 1190) übt in der Spruchstrophe Si waenent dem tôde entrunnen sîn (MF 53,31) Kritik an jenen, die das Kreuz nahmen, ihr Gelübde aber brechen, aus Angst vor dem Risiko, das eine Fahrt ins Heilige Land in sich barg. Namentlich → Walther von der Vogelweide (ca. 1190–1230) und Bruder Wernher (erste Hälfte dreizehntes Jahrhundert) nutzten die neu eröffneten Spielräume der Gattung für eine politische Instrumentalisierung des Kreuzzugsthemas. Der Aufruf in der Strophe L 12,6 ergreift Partei für den Kaiser mit antipäpstlicher Stoßrichtung in einer politisch brisanten Lage, in der die Fürsten Otto IV. ihre Unterstützung zu verweigern drohen.6 Eine ähnliche politische Funktion hat die Strophe L 10,9, die im Stil der Feindespsalmen an Gottvater und Sohn appelliert, die internen und externen Feinde des Glaubens zu vernichten. Und L 29,15 wirbt bei den Fürsten um Unterstützung der Kreuzzugspläne Friedrichs II. mit dem ironischen Hinweis, dass damit die Chance bestehe, den ungeliebten König dauerhaft loszuwerden.7 Bruder Wernher nutzt das Kreuzzugsmotiv für einen ironischen Herrscherpreis auf den österreichischen Herzog (Leopold VI.; ZCK 74) oder kombiniert es mit einer Schelte knausriger Adliger, die Mittel für ein frommes Unternehmen (oder für Fahrende) zurückhalten (ZCK 73). Konventionell ist hingegen der Kreuzzugsappell Ze troste wart uns allen (ZCK 76), der mit der Erlösungstat Christi und dem Frevel an den heiligen Orten der Christenheit argumentiert.8 Theologisch-heilsgeschichtliche Argumente und solche aus der contemptus-mundi-Tradition hatte bereits Heinrich von Rugge in seinem im Herbst 1190 oder wenig später entstandenen leich von deme heiligen grabe (MF 96,1)
4 Hölzle 1980, 31–40. 5 Vgl. z. B. Marcabrus Lied Pax in nomine Domini! (RGR I: 8) mit seiner auffälligen, den Heidenkampf umschreibenden Metapher von der Reinigung im lavador (‚Waschhaus‘). 6 Bauschke-Hartung und Schweikle 2009, 370. 7 Bauschke-Hartung und Schweikle 2009, 383; weitere einschlägige Spruchstrophen Walthers: L 10,17; L 12,18. 8 Zur Topik der Kreuzzugsprediger s. Wolfram 1886; weitere einschlägige Sangsprüche: ZCK 35 und 43 sowie Sigeher BRT 1.
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eingesetzt, um nachdrücklich zur Teilnahme am Kreuzzug aufzufordern. Aufrufe zum Kreuzzug in Liedform hat vor allem Walther von der Vogelweide gedichtet.9 Die berühmte Elegie L 124,1 und auch das Spruchlied L 13,5, ein lockeres Strophengefüge, das wohl von romanischen Sirventesen angeregt ist,10 verbinden Klage über die Vergänglichkeit beziehungsweise Zeitklage, Zeitkritik und Kreuzzugsappell,11 Themen also, die Walther auch einzeln in Spruchsangstrophen verhandelt. Konventionelle Inhalte, nämlich zirkuläre Argumente aus der Kreuzzugspredigt, präsentiert das Lied Vil süeze wære minne (L 76,22) in einer elaborierten ästhetischen Form. Scheinbar schlicht kommt hingegen das Palästinalied L 14,38 daher, das auf einen expliziten Aufruf verzichtet, vielmehr den christlichen Anspruch auf das Heilige Land aus den Erlösungstaten Christi ableitet; seine suggestive Kraft bezieht das Lied aber primär aus der performativen Strategie: Es simuliert den Moment, in dem das Ich im Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit den Boden Palästinas, der Heimat des Erlösers, betritt. In die von Walther neu belebte Tradition der Pilgerlieder und liedhaften Kreuzzugsappelle12 gehören auch die Lieder Hawarts (zweite Hälfte dreizehntes Jahrhundert) KLD 1 und 2 sowie des Wilden Alexander (um 1250 / drittes Viertel dreizehntes Jahrhundert) KLD 2,5–6. Interessanterweise hat Walther, der bekanntlich häufig mit Diskurs- und Gattungsinterferenzen experimentiert, sich Liedern verschlossen, die das Thema der gotes vart im Kontext eines personalen Liebesdiskurses durchspielen, also die Diskurse Minne und Fahrt im Zeichen des Kreuzes verknüpfen. Dieser Liedtyp tritt in der Romania erstmals bei Marcabru auf. Das Lied A la fontana del vergier (um 1150; RGR I: 9), die Klage eines Mädchens über den Aufbruch des Geliebten zum Kreuzzug, reflektiert den Krieg ganz aus der Sicht der Zurückbleibenden. Sein ideologisches Ziel wird nicht in Frage gestellt, die Teilnahme am Kreuzzug steht außer Diskussion. Sie ist aber Anlass für dauerndes Leid, wobei der Schmerz der Trennung auf den weiblichen Part ausgelagert ist; mit ihm endet auch das Lied. Effekt der Diskursmischung ist nicht nur die Profilierung des Mädchens als treu Liebende, sondern auch die Ambiguisierung des Kreuzzugs. Als noch intrikater erweist sich ein Lied, das Conon de Béthune 1188 wohl auf dem Hoftag Jesu Christi in Mainz vorgetragen hat: Ahi, Amors, com dure departie (RGR II: 11). Thema dieser an Amor, den Gott der weltlichen Liebe, gerichteten Klage ist der Konflikt zwischen der absoluten Bindung an die vollkommene Geliebte und der Verpflichtung zum Kreuzzug. Mit der Aussage, dass das Herz in jedem Fall bei der Geliebten bleibe, nimmt das Ich eine Hierarchisierung der Werte vor, die freilich anschließend mit vielen triftigen Argumenten für die Teilnahme am Kreuzzug, Hinweisen auf himmlische und irdische Gratifikationen u. a. m. zum Gutteil 9 Vgl. dazu den Überblick bei Spechtler 1996; Scholz 1999, 160–169. 10 Ranawake 1996; vgl. auch Ranawake 1999. 11 Zur Elegie differenzierend Kellner 2014, 208–219. 12 Dazu vielleicht noch aufgrund strophenübergreifender Responsionen die Strophen L 78,24, I–IV, die den – nur in Handschrift C überlieferten – Bognerton eröffnen.
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wieder zurückgenommen wird. Ist Conons Lied ein Kreuzlied mit sekundär implementierter Minnethematik oder ein mit Kreuzzugsmotivik erweitertes Liebeslied? Quantitativ überwiegt das Kreuzzugsthema bei weitem. Durch die Verschränkung mit dem Minnethema nimmt es aber ambivalente Valeurs an, mehr noch: Das Herz des Ich-Sprechers bleibt bei der Dame, d. h., der Kreuzzug ist für ihn erklärtermaßen keine Herzensangelegenheit. Die Aussage, dass das Ich auch für die Geliebte und ihre Liebe ins Heilige Land ziehe, ist schließlich der Versuch einer Harmonisierung gegensätzlicher Interessen, die nicht völlig gelingt. Conons Lied steht beispielhaft für das Problem, das auch die mittelhochdeutschen Minnesänger in immer neuen Anläufen umkreisen: das dilemmatische Verhältnis von Minne, also individuellem Glücksanspruch, und religiös-politischem Anliegen. Dieses Verhältnis – dies ist die Leitthese für das folgende Kapitel – wird immer wieder neu verhandelt, perspektiviert und gewichtet, unter den verschiedenen Autoren, aber auch innerhalb eines Œuvres, sogar innerhalb des einzelnen Lieds.13 Noch komplizierter wird es, wenn implizite oder explizite Selbstthematisierung ins Spiel kommt oder Lieder auf pluralen Sinn hin angelegt sind. Große Linien übergreifender Entwicklungen wird man, ähnlich wie beim → Tagelied, angesichts der disparaten Befunde nicht ziehen können. Allenfalls kann man in den Minne-Kreuz-Liedern zunehmend ein anspruchsvolles literarisches Spiel mit den Inhalten, Motiven und Regeln der Gattung erkennen.
2 Polyphone Normbildung: Die gotes vart als Thema der mittelhochdeutschen Liebeslyrik Von Conons Lied angeregt ist wohl eines der ersten deutschen Minne-Kreuz-Lieder, Friedrichs von Hausen Mîn herze und mîn lîp diu wellent scheiden (MF 47,9), das den quälenden Zwiespalt zwischen den sich ausschließenden Werten und Zielen gleichfalls metaphorisch als Trennung von Herz und Leib inszeniert und diese zur Grundlage der gesamten Reflexion macht.14 Das Herz strebt zur Geliebten, was ihm freilich nur nôt und sorge (II, V. 6–7) einträgt, der Leib in den Heidenkampf. Hausen setzt gegenüber Conon neue Akzente, fällt bei ihm doch die Entscheidung, das Kreuz zu nehmen, aus ganz pragmatischen Gründen, als Ablenkung vom notorischen Minneleid, und nicht aus religiöser Überzeugung. Es fehlen in diesem Lied darum auch alle üblichen Kreuzzugsargumente. Das Ovidianische Ablenkungsmanöver, auch das führt das Lied 13 Anders Braun 2005, der aufgrund eines systemtheoretischen Ansatzes die Minne als autonomen Bereich bestimmt; dieser Ansatz trägt aber nicht für das Liedcorpus als Ganzes. Die ältere Forschung akzentuiert den religiösen Aspekt und spricht von einer „religiösen Vertiefung“ (Wentzlaff- Eggebert 1968, 53), d. h. von der Sakralisierung der Frauenliebe. 14 Vgl. zu diesem Lied Klein 2000a, 83–90.
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vor, hat indes nicht verfangen; die staetekeit (‚Treue‘; III, V. 4) des Liebenden steht dem entgegen. Die harsche Absage an die Dame in der Schlussstrophe ist allerdings auch nur scheinbar ein Akt der Befreiung aus leidvoller Liebe; er hebt sich durch seine eigenen Voraussetzungen – es spricht das von seinem Herzen verlassene Ich – ironisch selber auf. Unter dem Strich erweist sich die Minne als beherrschende Macht, der man sich nicht entziehen kann. Eine ähnliche Botschaft vermittelt Hausens Lied Sî darf mich des zîhen niet (MF 45,37), das man wegen des conversio-Motivs und seiner – nur in Handschrift B überlieferten – gradualistischen Lösung, Gott an die erste Stelle vor den Frauen zu setzen, als Kreuzlied verstanden hat. Zu wenig berücksichtigt ist bei dieser Deutung die Gedankenbewegung des Lieds, das die Abwendung von der spröden Geliebten als frustrierte Reaktion und die Hinwendung zu Gott als pragmatische Entscheidung ausgibt, überdies auch nur als eine Option für die Zukunft. In beiden Liedern wird die Liebe zur Frau ironisiert und, in ihren Konsequenzen für den begehrenden Mann, ungeschönt dargestellt. Man kann diesen Befund, wie Braun, als eigenständige Entfaltung des Minnethemas deuten, dem das Kreuzzugsmotiv sekundierend beigesellt wird;15 man kann in einer solchen diskursiven Darstellung aber auch die Relativierung beider Wertinstanzen sehen. Ein drittes Lied Hausens, Mîn herze den gelouben hât (MF 48,3), imaginiert die Situation eines Ichs auf der gotes vart, nachdem es Abschied genommen hat, die Entscheidung zwischen zwei Wertsystemen also zugunsten des religiösen Ziels gefallen ist. Die Gedanken gelten aber der Heimat; sie sind von Unsicherheit und Sorge bestimmt, dass die Damen sich in Abwesenheit der Kreuzfahrer falsch verhalten könnten (II, V. 10). Pointiert gesagt: Die Kreuzfahrt wird als Bedrohung des Minneverhältnisses wahrgenommen. Im schmalen Œuvre Albrechts von Johannsdorf (um 1200)16 nehmen seine Kreuzlieder einen wichtigen Platz ein.17 Die auch in formaler Hinsicht bedeutendsten sind sicherlich die Lieder Ich und ein wîp (MF 87,29), Die hinnen varn (MF 89,21) und Guote liute, holt die gâbe (MF 94,15). Die Minneklage Mîn êrste liebe, der ich ie began (MF 86,1) scheint, der Überlieferung nach zu urteilen, erst nachträglich um eine Kreuzzugsstrophe erweitert worden zu sein, die eine gegenseitige Liebe und eine an der Trennung leidende Frau voraussetzt. Aufgeworfen ist damit die Frage der Kohärenz. Jedenfalls ist das Thema der inneren Distanz, das die Klage entwickelt, auf eine äußere, räumliche Distanz verschoben. Das unikal in Handschrift A überlieferte Lied Mich mac der tôt von ir minnen wol scheiden (MF 87,5) rückt die zum spirituellen Wert verklärte Frauenliebe (vgl. I, V. 5–6) und Notwendigkeit und Werthaftigkeit des religiösen Ziels (III, V. 3–4) in einen engen Zusammenhang; Vereinbarkeit und Gleichrangigkeit der beiden Sinnbereiche werden vor allem durch sprachliche und semantische Responsionen her(aus)gestellt: durch 15 Vgl. Braun 2005. 16 Zur Datierung vgl. ausführlich die Regesten von Meves 2005. 17 Gesamtdarstellungen bei Bergmann 1963 und 1967; Böhmer 1968, 39–52; Fülleborn 1964; Ingenbrand 1966, 75–131.
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die Bitte an Gott um Gnade für beide Liebende (I, V. 8); durch das Motiv der vröide (I, V. 4), das die weltliche Liebe, beziehungsweise der liebe (III, V. 2), die das religiöse Ziel verheißt; durch das das Lied und beide Bereiche umklammernde Todesmotiv (I, V. 1; III, V. 5–8). Die Idee eines harmonischen Ausgleichs wird auch dem Liebenden des Lieds Guote liute, holt die gâbe (MF 94,15)18 in den Mund gelegt: Er fordert die personifizierte Minne auf, ihn für die Zeit des Kreuzzugs freizugeben; andernfalls wolle er die Geliebte im Herzen mit ins Heilige Land nehmen und Gottes Lohn mit ihr teilen (II). Der Kreuzzug ist damit Prüfstein der herzeliebe; behauptet wird die (spirituelle) Untrennbarkeit der Liebenden. Das bestätigt die Frauenstrophe, in der die Trennung indes ganz im Zeichen der Trauer, des Orientierungsverlusts und der Ratlosigkeit, wie Leid und Anforderungen der Gesellschaft in Einklang zu bringen seien, steht. Eine neutrale Stimme (oder der Liebende der Strophe II?) bestätigt diese Haltung als vorbildlich: Wem jemals herzeliebe zuteilwurde, der möge die Gute rühmen, die sich zuhause in Gedanken an sein Leid quält (IV). Während die Sprecher der Strophen II–IV über die Vereinbarkeit der beiden Wertebereiche reflektieren, aber auch das Leid benennen, blendet die Sprechinstanz der ersten Strophe diesen Aspekt vollständig aus und ruft mit Argumenten der zeitgenössischen Kreuzzugspredigt zum Kreuzzug auf. Einen aporetischen Konflikt inszeniert hingegen das Lied Die hinnen varn (MF 89,21), in dem das Ich sich zunächst über zwei lange Strophen hinweg theologischheilsgeschichtliche Argumente für die Notwendigkeit der gotes vart in Erinnerung ruft. Sie sind weniger für Hörer, deren Entscheidung bestätigt wird oder die erst noch zu überzeugen wären, denn zur Selbstüberzeugung gedacht. Denn in der dritten und letzten Strophe gibt sich ein Ich zu erkennen, das sich entscheiden muss, aber nicht entscheiden kann, weil es zwei Wertinstanzen in gleicher Weise verpflichtet ist. Die existentielle Bindung an die Frau, die aus geistlicher Perspektive als kranc (III, V. 2) qualifiziert wird, verhindert die Umsetzung des religiösen Ziels. Der Konflikt zwischen Kreuzzug und Frauenliebe wird so als unlösbares Problem wahrgenommen, die Lösung des Dilemmas an Gott delegiert (III, V. 11).19 Einen nochmals anderen Akzent setzt das in zwei Fassungen überlieferte Lied Ich und ein wîp (MF 87,29). Fassung A reflektiert die Minnebeziehung vor dem Aufbruch zum Kreuzzug, dann nach vollzogenem Abschied: Das Sprecher-Ich beteuert seine Liebe, Treue und Aufrichtigkeit, an der auch die Teilnahme am Kreuzzug nichts ändert, und verbindet dieses emphatische Bekenntnis mit Segenswünschen für die Frau. Nur scheinbar locker fügt sich dazu die dritte Strophe, eine allgemeine Klage über die Unbeständigkeit der Welt, namentlich die Erfahrung des Todes diesseits und jenseits des Meeres, ohne Bezug zum Thema der Gottes- und Frauenliebe. Ich verstehe dieses Lied als einen über drei Strophen inszenierten Prozess der Welt- und Selbst-
18 Zu diesem Lied Ortmann u. a. 1993 und Klein 2007. 19 Vgl. zu diesem Lied Klein 2000a, 77–83.
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erkenntnis. Die melancholische dritte Strophe deutet den Kreuzzug als Erfahrung der Vergänglichkeit, die auch das in den ersten beiden Strophen thematisierte Minneglück in ein melancholisches Licht taucht. Umsemantisiert wird dabei, im Vergleich zum Leich Rugges, das Motiv des contemptus mundi. Fassung BC unterscheidet sich von dieser Version durch die zweite, eine minnedidaktische Strophe, die der Liebe eine ähnlich sündentilgende Wirkung zuspricht, wie sie üblicherweise dem Kreuzzug nachgesagt wurde. Die umgekehrte Richtung schlägt Heinrich von Rugge in Ich was vil ungewon (MF 102,1) ein. Das Ich dieses Lieds verzichtet, nachdem die umworbene Frau von ihrer Seite die Minnebindung aufgehoben hat, Des lîbes20 […] dur got (II, V. 1), in der Absicht zu vergelten, was Gott für uns gelitten hat. Neben Minnefrust und theologisches Argument tritt die Einsicht in die Wertlosigkeit alles Irdischen, was die Frauenliebe einschließt. Nicht auf Minnelohn, sondern auf bezzer lôn (II, V. 9), d. i. der Erwerb des Seelenheils, steht darum der Sinn. Spätere Dichter reihen sich in dieses Spektrum ein: Rubins (erste Hälfte dreizehntes Jahrhundert) Lied Got hât uns aber sîn gemant (KLD 7 A) präsentiert, nachdem es zunächst kollektive Normvorstellungen bezüglich des Kreuzzugs in Erinnerung gerufen hat, ein frustriertes Ich, das nur auf Umwegen dazu kommt, sich für den Lohn der ewigen Seligkeit (3, V. 7–8) zu interessieren: Erst der Hass auf die Menschen, die sich seiner Minneklagen, d. h. seines Leids als Gegenstand der Kunst, erfreuen, setzt den Gedanken an das durch des lîbes arebeit (V. 10) zu erwerbende Seelenheil frei (V. 7: dô dâhte ich). Eine vierte Strophe lässt eine sinnerîche sælec Frau (KLD 7 B,4, V. 1) das Urteil in einem Minnekasus sprechen, dem Fall nämlich, dass eine Frau den Dienst dreier Männer annimmt. Man kann darin eine „verhüllte Warnung“ an die Geliebte sehen, „dem auf die heilige Fahrt Ziehenden die Treue zu wahren“.21 Minne und Kreuzzug sind so gleichermaßen entidealisiert. Im Lied KLD 22 unter Rubins Namen ist der Abschied zum Kreuzzug hingegen Anlass inniger und leidvoller Vergewisserung der Minnebindung, wie auch im Lied Swes muot ze fröiden sî gestalt (KLD) Friedrichs von Leiningen († 1237). Auf einen gemeinsamen Nenner lassen sich all diese Lieder nicht bringen. Das „Nebeneinander des Ungleichartigen“22 hat man namentlich als poetisches Prinzip des Johannsdorfers sehen wollen, doch lässt es sich auch auf die mittelhochdeutschen Kreuzlieder in ihrer Gesamtheit übertragen, die sich in immer neuen Anläufen an einem Problem abarbeiten, für das es keine einfache Lösung gibt. Der offene Schluss des Lieds Die hinnen varn (MF 89,21) ist insofern auch eine poetologische Metapher für die Gattung als solche.
20 Handschrift liebes, erstes e expungiert. 21 Zitate KLD II, 415. 22 Fülleborn 1964, 357.
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3 Interferenzen, Umsemantisierung und Pluralisierung des Sinns Besonders intrikat ist die Relation der miteinander konkurrierenden normativen Entwürfe, wenn die Lieder mit semantischen Interferenzen, Umkodierungen und Sinnkomplexion neue Akzente setzen.23 Ein Musterbeispiel für semantische Interferenz ist Ottos von Botenlauben Wechsel Wære Kristes lôn niht alsô süeze (KLD 12), in dem Liebende den Abschied zum Kreuzzug reflektieren. Wohl ist die weltliche Liebe dem religiösen Ziel, der Minnelohn dem Kristes lôn untergeordnet; die Hierarchisierung wird indes unterlaufen durch die religiöse Metaphorik, d. h. die Umschreibung der weltlichen Liebe als himelrîche (1, V. 4; 2, V. 1), und durch die gängige Vorstellung, auf dem Kreuzzug auch für die Geliebte himmlischen Lohn zu erwerben (1, V. 6–7). Mit einer Umbesetzung des traditionellen Lohnmotivs operiert hingegen Hiltbolt von Schwangau (nach 1221?) im Lied Ez ist ein reht daz ich lâze den muot (KLD 17), der Abschiedsklage eines Mannes, der minne und friunde […] dur got lâzen wil (2, V. 7) und den zurückbleibenden Herren Mîn teil der minne (3, V. 1) anvertraut, sprich: die Geliebte, die sich stets reserviert gezeigt hatte, oder auch seinen Minnesang als künstlerisches Vermächtnis. Als Lohn für den Gottesdienst erhofft sich der Sprecher aber nicht ewiges Heil, sondern derjenigen dienen zu dürfen, „die ihn als Erste in Minnebande schlug“ (4, V. 9); vielleicht ist damit auch der Hof beziehungsweise der Mäzen gemeint. Minnedienst, Kunst und Gottesdienst rücken damit in ein eigentümliches Spannungsverhältnis, sie bedingen einander gegenseitig. → Hartmanns von Aue Lied Dem kriuze zimet wol reiner muot (MF 209,25) liest sich zumindest in Handschrift C wie eine Revue einzelner Stimmen: Auf einen Kreuzzugsaufruf (I‒II) folgen verschiedene Beweggründe für die conversio: die Erfahrung irdischer Unbeständigkeit (III), der Tod des Lehnsherrn (IV), die unverfälschte Freude, die nur der Himmel verheißt (V), der Überdruss des Lebens (VI).24 Kohärenzstiftendes Element in dieser Strophenfolge ist die Neusemantisierung traditioneller Motive des Minnesangs. Sie rücken nun in den Kontext der vanitas mundi: Was sonst die tumpheit (III, V. 3; vgl. auch I, V. 6) des um weltliche Liebe werbenden Mannes, ist jetzt die Torheit dessen, der lange der hacchen (‚Verführerin‘; III, V. 5) nachlief, mithin auf die Liebe zur Welt fixiert war; die sorge (V, V. 1; VI, V. 7), im Minnesang das Minneleid, meint nun allgemein die irdischen Sorgen; an die Stelle der Dame tritt der Dienstherr und an die Stelle des Abschieds von der Dame der endgültige Abschied vom Herrn (IV, V. 1–6); auf diesen wird auch das Motiv des halben Lohns (IV, V. 9–11) bezogen, der traditionell der Geliebten zusteht; der Begriff der vröide, d. i. die weltliche Freude als Ausdruck einer werthaften Daseinserfüllung (V, V. 1), wird zur jenseitigen Freude 23 Vgl. exemplarisch die Analysen von Reichlin 2014 anhand von Strophen Hartmanns und Reinmars. 24 Die letzten beiden Strophen nur in C.
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uminterpretiert; und die Naturtopik des Minnesangs – der Sommer, der das Auge erfreut (V, V. 5) – ist nun auf die ‚Blumen Christi‘, Metaphern für seine Wundmale oder für das Kreuzeszeichen, bezogen. Die intertextuellen Verweise auf das Gattungssystem Minnesang werden also eingesetzt, um die Opposition von Weltleben und religiöser Neuorientierung aufzubauen.25 Sie sind Bestandteil einer rhetorischen Strategie, welche die Entscheidung zur Kreuznahme begründen soll, implizit damit freilich auch Kritik an der Ideologie der Hohen Minne übt. Hingegen lebt Hartmanns zweites Kreuzlied, Ich var mit iuweren hulden (MF 218,5), von der Doppeldeutigkeit des Begriffs minne, die bis zum Schluss erhalten bleibt. Das Ich des Lieds profiliert sich durch die Aufbruchs- beziehungsweise Entlassungsformel als Kreuzfahrer, doch offen bleibt, auf wessen Befehl hin er fährt: minne kann die Liebe zur Frau meinen, die personifizierte Minne oder die Liebe Gottes (subjektiv und objektiv). Deutlich ist nur, dass es eine auf Gegenseitigkeit beruhende Liebe ist, die gegen das traditionelle Konzept der Hohen Minne, der einseitigen und vergeblichen Liebe, in Stellung gebracht wird. Bezieht sich der programmatische Entwurf auf die Frauenliebe, bekommt die Frau eine solche Macht über den Mann zugesprochen, dass sie ihn auf Kreuzzug schicken kann.26 Hartmann setzte dann den Ansatz seiner Spruchstrophe Swelch vrowe sendet ir lieben man (MF 211,20) fort. Bezieht sich die minne, welche die Fahrt befohlen hat, hingegen auf die Gottesliebe, wäre das Lied als Absage an den Frauendienst zu verstehen. Auf jeden Fall ist es auch ein Beitrag, der sich kritisch mit den Konzepten des konventionellen Minnesangs auseinandersetzt. Selbstreferentielle Elemente sind auch → Reinmars Lied Des tages dô ich daz kriuze nam (MF 181,13) eingeschrieben, wenn auch nur im Sinne einer impliziten Selbstthematisierung.27 Das Lied reflektiert die Situation eines Pilgers, der das Kreuz nahm in der Absicht, sich ganz auf sein spirituelles Ziel zu konzentrieren, nun aber eingestehen muss, dass seine Gedanken nicht kontrollierbar sind; er ist nicht mit ganzem Herzen bei der Sache, d. h. dem Gottesdienst. Ursache sind die alten maere (II, V. 6), das vertraute Leben bei den vriunden (III, V. 5), als das Ich vröide pflac (II, V. 7–8); vröide ist ein Leitmotiv des Lieds, an sie richtet sich direkt sogar die letzte Strophe. Gegen alle Vorsätze bleibt das Ich in Gedanken bei seinem Leben zuhause und bestimmt damit seine gegenwärtige Lage, die doch geistliche Freuden eintragen sollte, implizit als freudlos. Polyvalent ist nicht nur der Begriff der vröide, der das Minneglück, aber auch die Kunst des Minnesangs umschreiben kann, mit der das Sänger-Ich der Gesellschaft Freude schenkte, mehrdeutig sind auch die vriunde: Das lässt sich auf die Freunde und Verwandten in der Heimat beziehen, totum pro parte auch auf die Geliebte oder auf das Publikum des Sängers; auffällig ist nur, dass von der vrouwe oder auch nur einem si nirgends explizit die Rede ist. Diese spielerische Ausnutzung der semantischen Polyvalenz, die Überdeterminiertheit des Vokabulars 25 Vgl. dazu Haubrichs 1979 und besonders Ortmann 1996. 26 Zur Diskussion der Saladin-Stelle II, V. 7–8, in diesem Zusammenhang s. Mertens 1978. 27 Zu Reinmars Kreuzliedern Ashcroft 1979 und Jackson 1993.
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ist Spezifikum des Lieds, das damit die nicht aufhebbare Bindung des Kreuzfahrers an ein glückliches Leben zuhause ausstellt. Und doppeldeutig ist auch der Schluss: Nur der, dem es, das Ich, aufrichtig und ungeteilt dient, kann zur vröide zurückführen. Das kann Gott, die Minnedame oder die Kunst des Minnesangs sein. Auch das zweite Kreuzlied Reinmars, Durch daz ich vröide hie bevor ie gerne pflac (MF 180,28), thematisiert den Kreuzzug nur andeutungsweise und primär unter selbstreflexivem Aspekt; an die Stelle der Minne tritt das Singen über die Minne zur vröide des Hofes; erst die letzte Strophe nimmt das konventionelle Minnethema auf. Die Grundstimmung des Lieds ist durchweg melancholisch. Bedrückt ist der Sänger, der Gott zuliebe auf die Ausübung seiner Kunst verzichtet und damit seine eigene Identität in Frage stellt (darüber aber paradoxerweise singt); bedrückt sind diejenigen, die sich eigentlich über die Aussicht, Ruhm und Ehre und die Gnade Gottes zu erringen, freuen sollten, denen indes der avisierte Gewinn eher Pein bereitet; und Anlass zu Tristesse gibt auch die Erfahrung, dass der „Ring einer edlen Frau nicht ohne Mühe zu gewinnen“ sei (III, V. 7–8). Nicht zwischen Gottesdienst und Frauendienst verläuft in diesem Lied die Trennlinie, sondern zwischen Gottesdienst und Dienst an der Gesellschaft, Kreuzzug und Sangeskunst. Der Sänger hat sich entschieden zu schweigen, wenn auch nur halbherzig, und halbherzig ist auch seine Kritik an den Kreuzzugsunwilligen (II, V. 7–8), denen er freilich alle Illusionen nimmt: Wer zuhause bleibe, brauche auch nicht darauf zu hoffen, dass seine Wünsche in Bezug auf die Frauen in Erfüllung gehen (III, V. 6). Das Lied als Ganzes liest sich so auch als kritischer Kommentar zu jenen Liedern, die Frauendienst und/oder Gottesdienst als Erfüllung ritterlicher Existenz feiern. Mit SL 11 Ez grunet wol diu haide (SNE I: R12) zitiert → Neidhart (ca. 1210–1240) verschiedene Gattungsmuster an – den eigenen Typus des Sommerlieds (→ Sommerund Winterlieder), Botenlied (→ Dialoglied – Wechsel – Botenlied), Minneklage (→ Kanzone) und Kreuzlied – und besetzt sie in je spezifischer Weise um. Dabei nimmt er auf der Skala der möglichen Relationen zwischen Minne und Kreuzzug eine Extremposition ein: Sein Sänger-Ich kennt weder eine religiöse Verpflichtung noch die Heilsmöglichkeiten, die sich im Kampf für das Heilige Land bieten. Der Kreuzzug ist ihm ein Ort der Konflikte und des Schreckens, der fundamentalen Heillosigkeit.28 Mit der Steigerung der Schrecken steigert sich aber auch die Sehnsucht des Sängers nach Geborgenheit in der Heimat. Sie gilt der fernen Geliebten und dem ebenso fernen, vertrauten Publikum. Dem Lied ist so ein zweites, poetologisches Thema eingeschrieben: die inneren und äußeren Bedingungen der Sängerexistenz, nämlich Minne als Thema der Lieder und das Publikum, dem diese Lieder vorgetragen werden. Gattungsmischung und multipler Thematik entsprechen die verschiedenen Ich-Rollen – Kreuz-
28 Hier könnten lebensweltliche Erfahrungen aus dem Kreuzzug von Damiette 1217–1221 verarbeitet worden sein. Vgl. zu diesem Lied Klein 2000b.
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fahrer, Liebhaber, Sänger, Gesellschaftskünstler ‒, zwischen denen das Ich permanent changiert. Das einzige mittelhochdeutsche Lied, das die Freude eines Pilger- beziehungsweise Kreuzfahrers über seine bevorstehende glückliche Rückkehr zum Gegenstand hat – thematisch verwandt ist nur noch ein Lied Gaucelm Faidits (um 1200) –, ist Neidharts SL 12 (SNE I: R19). In seiner Freude schickt das Ich Anweisungen und Grüße in die Heimat, namentlich dem liepgenæmen wibe (7, V. 1) zu Landshut. Damit bestätigt sich nochmals aus anderer Perspektive die „Absage an die Idee des Kreuzzugs“29, die für SL 11 konstitutiv ist. Ganz mit der Überblendung verschiedener Sinnebenen spielt schließlich der Tannhäuser (um 1250) in seinem sogenannten Pilger- und Kreuzlied (WACH 5).30 Das Lied kombiniert Kreuzzugsmotivik mit der Klage über die Existenznot des Fahrenden, also Sangspruchthematik, und Allegorischem, insofern es die Pilgerschaft ins Heilige Land beziehungsweise die Fahrt übers Meer als Chiffre für das Leben überhaupt nimmt. Dabei oszilliert es zwischen literaler und allegorisch-geistlicher Bedeutungsebene, ohne auf die eine oder andere fixiert zu sein – ein eigenwilliger Schlusspunkt unter einer langen Tradition, welche die thematische Ambiguität der Gattung Kreuzlied auslotet.
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29 Beyschlag 1975, 594. 30 Vgl. dazu Mohr 1983.
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Marina Münkler
Dialoglied – Wechsel – Botenlied 1 Dialogische Rede im Minnesang Zieht man die Gesamtheit dialogisch strukturierter Lieder in der Tradition des Minnesangs in Betracht, so zeigt sich, dass sie keine Ausnahmen darstellen, sondern einen erheblichen Anteil an der Überlieferung bilden. Der Terminus Dialoglied ist in der Forschung zum Minnesang zwar gebräuchlich, er wird aber nicht für alle Lieder mit mindestens zwei Stimmen verwendet, sondern häufig nur für einen bestimmten Typus, in dem ein Gespräch zwischen einem liebenden Sänger und der von ihm verehrten oder begehrten Dame stattfindet.1 Teilweise werden für diese Konstellation aber auch andere Termini verwendet, wie etwa Minnegespräch,2 was zwar eine präzisere Beschreibung darstellt, andererseits aber zu stark vereindeutigt, weil damit nahegelegt wird, dass es sich um ein einvernehmliches Gespräch handele, was keineswegs häufig der Fall ist. Problematischer noch ist der Terminus Werbegespräch, der nur eine Seite des Dialogs erfasst, nämlich die des minnenden Sängers, während die Reaktion der Dame damit terminologisch ausgeblendet wird.3 Zwar könnte das Handlungsmuster des Werbens, das neben Preisen und Klagen eines der drei rhetorischen Grundmuster der Minnekanzone bildet, einen spezifischen Dialogmodus bilden, weil es am ehesten dialogisch angelegt zu sein scheint, aber gerade dieses Handlungsmuster wird durch den Dialog auch am entschiedensten problematisiert: Wer in der Kanzone wirbt und damit eine seine Wünsche erfüllende Antwort erheischt, erhält im Dialoglied häufig eine unerwünschte Antwort in der Form einer Zurückweisung. Dialoglieder inszenieren also häufig einen kommunikativen Misserfolg. Das könnte nahelegen zu vermuten, dass in einer typisierten Betrachtung das Dialoglied jene Lücke zwischen dem Werbelied und dem Klagelied füllt, die in den Klageliedern vorausgesetzt wird: die Zurückweisung durch die Dame. Über die beschriebene Ausprägung hinaus zeichnen sich dialogische Lieder durch eine erhebliche Variationsvielfalt hinsichtlich der dialogischen Konstruktionen und der zugrundeliegenden Situationen aus. Ein Teil der dialogischen Lieder wird nach ihren Gesprächskonstellationen bezeichnet, wie etwa das Botenlied, das Gespielinnen- oder Mutter-Tochter-Gespräch, ein Teil nach den zugrundeliegenden Situationen, wie das → Tagelied oder die Pastourelle.4 Für andere Liedtypen mit einer 1 Vgl. etwa Hübner 2011. 2 So etwa bei Kästner 1999. 3 Von Werbegesprächen spricht etwa Ranawake 1994 und 2003. 4 Gelegentlich werden Lieder mit Frauenrollen auch ganz grundsätzlich als → Frauenlieder bezeichnet, was aber kaum als taugliche Differenzierung betrachtet werden kann. Zur Problematisierung dieser Terminologie vgl. Boll 2007. https://doi.org/10.1515/9783110351859-030
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dialogischen Konstellation, wie etwa das Gespräch zwischen dem Sänger und einer abstrakten Figur wie Frau Minne oder Frau Welt, gibt es keine übergreifende Bezeichnung, teilweise werden sie unter den der okzitanischen Tradition entnommenen Begriffen wie tenson oder joc partit rubriziert, deren Verwendung aber alles andere als einheitlich ist.5 Dass recht unterschiedliche Liedtypen unter der Bezeichnung Dialoglied subsumiert werden, verweist auf ein prinzipielles Problem der Gattungsdefinition. Einerseits wird der Terminus ‚Dialoglied‘ als Gattungsbegriff für Minnelieder verwendet, die ein Gespräch zwischen dem Minnenden und einer Dame inszenieren, andererseits wird die Bezeichnung ‚dialogisches Lied‘ (oder eben auch Dialoglied) auf Lieder mit mehr als einer Stimme angewendet. Dialogisch ist prinzipiell auch der Wechsel, der zwar keine unmittelbare Kommunikation im Sinne einer Face-to-face-Kommunikation vorführt, der aber im Hinblick auf die wechselseitige Wahrnehmung von Ritter und Dame im Liebesspiel dialogisch gedacht werden muss. Aufgrund der intertextuellen Beziehung zwischen den verschiedenen Subgattungen ergibt sich zwischen den Liedern überdies Dialogizität im Bachtin’schen Sinne.6 Das wird besonders deutlich in den Fällen, in denen unterschiedliche Subtypen des Dialogs miteinander kombiniert werden, wie etwa in → Heinrichs von Morungen sogenanntem Tageliedwechsel Owê, sol aber mir iemer mê (MF 143,22) oder in Dietmars von Aist Botenliedwechsel Seneder vriundinne bote (MF 32,13 / LDM B Dietm 4–6).7 Die Überlieferung selbst kennt keinen Begriff für das Dialoglied. In der erst um 1460 entstandenen Berliner Neidhart-Handschrift c wird für zwei seiner Dialoglieder8 die Bezeichnung Wechsel verwendet. Diese Bezeichnung entspricht nicht der in der Forschung gebräuchlichen Verwendung des Terminus Wechsel, aber sie ist ein zu vereinzeltes Beispiel, um sagen zu können, Dialoglieder seien ganz allgemein als Wechselrede begriffen worden. Die Illustrationen zur textuellen Überlieferung des Minnesangs (Große Heidelberger und Weingartner Liederhandschrift; → Autorbilder) belegen jedenfalls, dass die dialogische Situation des Gesprächs zwischen einem Minnesänger und [s]einer frouwe in der schriftlichen Überlieferung eine wichtige Rolle spielt. Von den 138 Miniaturen der Großen Heidelberger Liederhandschrift C zeigen 37 den Sänger in einer dialogischen Situation mit einer Dame. In einigen Fällen stellt das Sängerporträt diesen im intensiven Zwiegespräch (bspw. Alram von Gresten C, Bl. 311r) oder auch in zärtlicher und inniger Umarmung mit seiner Minnedame (bspw. Konrad von
5 Als Gespräch mit einem Dritten kann auch die Adressierung eines Wächters beziehungsweise das Gespräch mit ihm im Tagelied gelten. 6 Zum Konzept der Dialogizität bei Bachtin vgl. als knappe Einführung Lehmann 1997, 356–357. 7 Zu Heinrichs von Morungen Tageliedwechsel vgl. Kellner 2018, 339–343, sowie Braun 2011, 26–30. 8 23 und 30, vgl. die Texte in der Ausg. Bennewitz-Behr und Müller 1981.
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Altstetten C, Bl. 249v) dar.9 Neben dem Porträt des Sängers als Autor von Liedern wird damit der Aspekt der konversationellen oder intimen Kommunikation zwischen den Geschlechtern in den Vordergrund gerückt.
2 Dialogtypen Der Standardtypus dessen, was als Dialoglied bezeichnet wird, nämlich der Minnedialog, ermöglicht durchaus unterschiedliche Dialogtypen. Als die wichtigsten sind hier zu nennen: Aushandlungsgespräch, Lehrgespräch und Streitgespräch. Das Lehrgespräch und das Streitgespräch entsprechen Gesprächsmodellen der klassischen Rhetorik. Beide haben im Mittelalter, sowohl in der lateinischen als auch in der volkssprachlichen Literatur, eine lange Tradition.10 Mischungen dieser unterschiedlichen Dialogtypen sind aber durchaus häufig und steigern die Variationsfähigkeit des Minnedialogs. Als beispielhaft für die Mischung aus Aushandlungsgespräch und Lehrgespräch kann → Walthers von der Vogelweide Dialoglied Ich hoere iu so vil tugende jehen (L 43,9) gelten, in dem der Minnende die Dame wegen ihrer allgemein gepriesenen Tugend bittet, ihn die mâze zu lehren.11 Spielerisch weist die Dame zunächst diesen Anspruch zurück; dann aber kommt es zu einem wechselseitigen Austausch von Ansprüchen an eine Minnebeziehung (staete und zuht auf Seiten der Dame, Lobpreis und triuwe auf Seiten des Mannes), die schließlich in Metaphern münden, aus denen nicht mehr klar zu entnehmen ist, ob Einverständnis zwischen dem Minnenden und der Dame herrscht oder ob sie ihn letztlich doch zurückweist. Eine ähnliche Mischung von Lehrgespräch und Aushandlungsdialog, der aber mit einer deutlichen Abfuhr endet, findet sich in → Ulrichs von Liechtenstein Lied Froͮ we schoͤ ne, froͮ we reine (LDM C Liecht 148–154), in dem die Dame den Sänger zunächst fragt, was Minne sei (Herre, sagt mir, waz ist minne?; 2, V. 1), dann aber eine gänzlich andere Position vertritt als er und darauf pocht, dass Minne nicht wol unde we, wie der Sänger betont (3, V. 6), sondern selde bringe (4). Sie erscheint 9 URL: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848 (10.3.2019). Siehe auch die Miniaturen zu Gottfried von Neifen (Bl. 32v), dem Kürenberger (Bl. 63r), Wernher von Teufen (Bl. 69r), Heinrich von Morungen (Bl. 76v), Burkhard von Hohenfels (Bl. 110r), Bernger von Horheim (Bl. 178r), Albrecht von Johannsdorf (Bl. 179v). Die in den Autorenporträts gezeigten Kommunikationssituationen beschränken sich keineswegs auf Situationen des Zwiegesprächs oder der innigen Umarmung. Das Liebesbekenntnis (vgl. die Miniatur zu Engelhart von Adelnburg, Bl. 181v) findet ebenso bildlichen Ausdruck wie der gemeinsame Tanz (Herr Heinrich von Stretlingen, Bl. 70v). Für eine ikonographische Einordnung der Bildmotive des Codex Manesse vgl. Siebert-Hotz 1964; Frühmorgen-Voss 1985; Stolz 2005. 10 Zu Gattungen und Geschichte des Dialogs vgl. Hess-Lüttich 1997; zur Tradition des lateinischen Dialogs und insbesondere des Lehrgesprächs im Mittelalter vgl. Cardelle de Hartmann 2007, 4–5 sowie 270–271. Zum Streitgespräch vgl. Cardelle de Hartmann 2007, 6–7, sowie Kiening 2003. 11 Siehe zu diesem Lied ausführlich Münkler 2011, 84–89, sowie Mertens 2011, der das Lied als Mischung aus Lehre, Werbung und Spiel begreift. Vgl. auch Kellner 2018, 479–485.
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damit keineswegs als so unbedarft, wie sie sich am Anfang gibt, und lässt sich denn auch nicht auf die Vereinigungsrhetorik des Sängers und den Wechsel auf das vertrauliche Du (wis du min, so bin ich din!; 7, V. 5) ein, sondern beendet das Gespräch mit dem Minnenden mit der spöttischen Bemerkung herre, des mag niht gesin | sit ir u̍wer, ich bin min! (V. 6–7).12 Zwischen Aushandlungs- und Streitgespräch angesiedelt ist Albrechts von Johannsdorf Ich vant si âne huote (MF 93,12), in dem die Dame zunächst aggressiv auf die Verletzung der Distanzregeln durch den Minnesänger reagiert und seine Klagen und Lohnforderungen strikt zurückweist, diesem dann aber doch einen – freilich sublimierten – lôn verspricht, nämlich hohen muot. Die Wendung erscheint im Minnedialog des Johannsdorfers allerdings eher als ironische Volte denn als ernstgemeintes Lohnversprechen: Während er auf die Erfüllung seines Begehrens hofft, verspricht sie ihm sittliche Erhöhung. Am deutlichsten einem Streitgespräch ähnelt Ulrichs von Winterstetten Es ist niht lang, daz ich mit einer minneklichen frowen (LDM C Wint 47–51), in dem die Dame den Minnesänger nicht nur schroff zurückweist, sondern auch seinen Sang verspottet und ihm überdies Unredlichkeit vorwirft.13 Der Streit bleibt freilich einseitig; die Dame ist aggressiv und spöttisch, während der Sänger stets in der Rolle eines aufrichtig Werbenden verbleibt – allerdings mit stereotypen Floskeln, die an seiner Aufrichtigkeit durchaus Zweifel erwecken. Deutlicher als in anderen Liedern fallen hier die beiden Perspektiven innerhalb des Liedes auseinander: Während der Sänger von stetem Dienst spricht, diskreditiert die Dame seinen Sang als Täuschungsversuch. Durch die narrative Einleitung verfügt der Sänger jedoch über eine von der Dame innerhalb des Dialogs nicht erreichbare Ebene, die es ihm ermöglicht, den Dialog in anderer Weise einzuordnen, nämlich als hu̍bscher klaffe vil (1, V. 2) und damit als harmloses Geplänkel, in dem die Dame wie der Sänger nur eine Rolle spielen, was ihre scharf abweisenden Äußerungen zum Bestandteil eines amüsanten Spiels macht. Spezifizierende Merkmale dieser verschiedenen Typen von Minnedialogen sind der Gesprächsgegenstand Liebe und die Kennzeichnung der Gesprächspartner als Beteiligte im Liebesspiel. Daneben gibt es aber auch Dialoglieder, die ein Gespräch mit einer allegorischen Figur inszenieren. Beispielhaft ist dafür etwa Ulrichs von Liechtenstein Wie chanstu, Minne, mit sorgen die sinne (LDM L Liecht 44–49). Die allegorische Figur der Frau Minne tritt hier einerseits als Belehrende, andererseits aber auch als Spötterin auf, die den Minnesänger dafür tadelt, dass er die Regeln des Spiels nicht versteht.14
12 Vgl. zu diesem Lied Eming 2011, 198–200. 13 Vgl. Münkler 2011, 98–104; für eine linguistische Analyse des Liedes vgl. Hundsnurscher 2007; siehe auch Ranawake 2003. 14 Zu Ulrichs Lied und weiteren Dialogen mit allegorischen Gestalten im Minnesang vgl. Sablotny 2011 (zu Ulrich besonders 167–177).
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Auch hinsichtlich der Ordnung des Dialogs können sich dialogische Lieder durchaus unterscheiden: Am häufigsten ist der strophische Dialog, in dem sich die Gesprächspartner regelmäßig abwechseln, es finden sich jedoch auch stichomythische Dialoge, wie Albrechts von Johannsdorf Ich vant sie âne huote (MF 93,12), in denen die Alteration nicht strophen-, sondern versweise organisiert ist.15 In stichomythischen Dialogen wirken die Beteiligten emotional stärker involviert als in strophischen Dialogen, weil durch den schnellen Sprecherwechsel der Eindruck entsteht, dass sie einander ins Wort fallen. Verschiedentlich finden sich auch asymmetrische Dialoge, in denen einem der Beteiligten ein sehr viel geringerer Anteil, teilweise sogar – in solchen Fällen zumeist der Dame – nur eine Strophe zukommt.16 Völlig andere Dialoge ergeben sich, wenn der Sänger nicht als unmittelbar Beteiligter, sondern als Beobachter zweiter Ordnung erscheint, wie das etwa verschiedentlich in → Neidharts Sommerliedern der Fall ist (→ Sommer- und Winterlieder), unter denen sich zahlreiche Gespielinnen- oder Mutter-Tochter-Dialoge finden. 17 Die Dialoge werden bei Neidhart häufig nicht unmittelbar repräsentiert, sondern als vom Sänger belauschte wiedergegeben.18 Solche ‚beobachteten‘ Dialoge ermöglichen scheinbar ungezügelte Repräsentationen des Begehrens; sie verwandeln den Sänger wie sein Publikum in Voyeure, die sich im Amüsement über die Zügellosigkeit der dörper zugleich davon distanzieren können. Auch hier bildet Minne das zentrale Thema, aber mit dem Eintritt in die bäuerliche Welt, die Neidharts Lieder kennzeichnet, wird das Schema des Begehrens verkehrt: Es sind die Dorfmädchen und -frauen, die in Neidharts Sommerliedern den Ritter von Riuwenthal begehren und in den sogenannten Gespielinnen-Gesprächen (z. B. SL 14, SL 25) oder Mutter-Tochter-Gesprächen (z. B. SL 18) dieses Begehren offen äußern.19 Während die Dorfmädchen häufig miteinander konkurrieren, werden sie von ihren Müttern ermahnt, sich nicht leichtsinnig mit dem Ritter einzulassen, was bis hin zur körperlichen Züchtigung durch die Mutter reichen kann (vgl. SL 7, SL 8, SL 16, SL 21). Allerdings kann auch die Tochter gegenüber der Mutter als Ermahnende auftreten (SL 1 und SL 17), was die komische Verkehrung der Situation verdoppelt.
3 Die okzitanisch-französische Tradition In der Tradition der okzitanischen Trobador- beziehungsweise der französischen Trouvèrelyrik (→ Altokzitanische Lyrik, → Liebeslyrik in Nordfrankreich), in der dia-
15 Zu Stichomythien in der höfischen Epik und in Dialogliedern vgl. Becker 2011. 16 Grundsätzlich zu strukturellen Asymmetrien in Dialogen vgl. Fritz 1994 17 Vgl. Bennewitz 1994; Millet 2000. 18 Zum Motiv des Belauschens vgl. Joldersma 1984. 19 Vgl. Müller 1986 und Müller 2001.
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logische Lieder insgesamt relativ häufig vorkommen, finden sich vier Typen von Dialogliedern: die Tenzone, das Partimen (jeus partit), die Pastourelle und die Alba.20 Bei Tenzone und Partimen handelt es sich um Streitgespräche, die sowohl reale als auch fiktive Teilnehmer und Teilnehmerinnen haben können. In Tenzonen werden häufig Streitgespräche zwischen zwei Trobadors um die Voraussetzungen, Geltungsansprüche und Möglichkeitsbedingungen höfischer Liebe und höfischen Sangs ausgetragen. Es finden sich aber auch Lieder, in denen ein Gespräch zwischen einem Liebenden und der von ihm verehrten oder bedrängten Dame inszeniert wird, die zumeist mit einer freundlichen oder auch groben Abfuhr des Begehrenden endet.21 Letztere Lieder könnten das Vorbild für die deutschsprachigen Dialoglieder zwischen Sänger und höfischer Dame bei Albrecht von Johannsdorf und Ulrich von Winterstetten gebildet haben. In der Tenzone können aber auch zwei Instanzen des Liebesdiskurses wie Schönheit und Liebe einen Rangstreit austragen. Solche Rangstreitigkeiten finden sich im deutschsprachigen Minnesang nur selten; ein Beispiel dafür ist aber etwa Reinmars von Brennenberg Lied Du̍ Liebe zuͦ der Schonen sprach (LDM C Brenn 20–22). Im Partimen (auch joc partit oder jeu parti – geteiltes Spiel) wird dagegen – in der metrischen Form der Kanzone – ein Dialog zwischen zwei alternativen Imperativen des Liebesdiskurses ausgetragen. In der Regel konfrontiert ein Trobador einen anderen mit zwei sich ausschließenden Alternativen und stellt diesen vor die Wahl, für eine der beiden einzutreten, während er selbst dann die andere vertritt. Das kann, wie etwa im Partimen zwischen Gui d’Uisel und seinem Cousin Elias, die Gegenüberstellung von Liebe und Ehe sein.22 Das jeu parti hat häufig einen offenen Ausgang, d. h., es wird nicht entschieden, welche Position überzeugender ist. Sebastian Neumeister hat dies mit dem Ideal des höfischen Ausgleichs begründet.23 In der mittelhochdeutschen Tradition wird die Wendung geteiltez spil gelegentlich verwendet (→ Hartmann von Aue MF 216,1, II; → Reinmar MF 165,10, IV), dennoch wird man kaum von einem zentralen Einfluss des Partimen auf den Minnesang ausgehen können.24 Die Pastourelle, die insbesondere in der französischen, aber auch der okzitanischen Tradition sehr häufig ist, inszeniert die Begegnung zwischen einem standeshöheren Mann, zumeist einem Ritter, gelegentlich aber auch einem Kleriker oder einem Bürger, und einer standesniederen Frau beziehungsweise einem Mädchen. Sie beginnt nach einem → Natureingang in der Regel mit der Werbung des Mannes und der Abweisung durch die Frau oder das Mädchen und endet häufig in einer Vergewal-
20 Vgl. Neumeister 2017. 21 Vgl. RGR I, 21. Dazu ausführlich Neumeister 2017, 134–137. Siehe allgemein zur Tenzone auch Köhler 1979. 22 Vgl. Neumeister 2017, 137–140. 23 Neumeister 1969, 155. 24 Vgl. Kasten 1980.
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tigung.25 Konstitutiv für die Pastourelle sind die Naturdarstellung, die den Raum der Begegnung als nicht-höfischen Ort markiert, der Standesunterschied, der Werbedialog und die mehr oder weniger metaphorisch verbrämte Vergewaltigungsszene, die überdies häufig durch die nachträgliche Zustimmung oder die vorgebliche Unersättlichkeit der weiblichen Figur, nachdem ihr Wille einmal gebrochen ist, camoufliert wird.26 Im hochhöfischen Minnesang hat die Pastourelle nur geringen Niederschlag gefunden.27 Freilich finden sich Motive der Pastourelle wie die Begegnung in der freien Natur, aber auch der Standesunterschied und die Möglichkeit des gewaltsamen sexuellen Vollzugs im Minnesang durchaus.28 In der Forschung ist umstritten, ob einzelne Lieder des hochhöfischen Sangs, wie etwa Walthers Nemet, frowe, disen kranz (L 74,20), in der Tradition der Pastourelle gelesen werden können. In der Regel wird ein solcher Rekurs aber zurückgewiesen, weil die konstitutive Standesdifferenz fehle und überdies die Situation von Tanz und Traum nicht mit der Pastourelle vereinbar sei.29 Im späten Minnesang, insbesondere bei → Gottfried von Neifen, → Steinmar und → Oswald von Wolkenstein, finden sich dann vermehrt Pastourellen, in denen die Standesdifferenz als Lizenz für die mehr oder weniger verbrämte Vergewaltigung der Bäuerin oder Hirtin markiert wird. In den Dialogen vermischen sich, wie Sabine Helmkamp gezeigt hat, Motive der Pastourelle und das komisch-grobe Register des Schwanks.30
4 Der Wechsel: abwechselnd gesprochene Monologe, dialogische Grundsituation Anders als das Dialoglied inszeniert der Wechsel keine unmittelbare Face-to-faceKommunikation zwischen zwei Personen, sondern die strophisch organisierte abwechselnde monologische Rede zweier Personen, die zumeist als voneinander getrennte Liebende erscheinen.31 Wie nahe Wechsel und Dialoglied einander sind, ist in der Forschung umstritten. Jens Köhler etwa hat den Wechsel in erster Linie durch seine Monologizität charakterisiert: „Ein Wechsel ist ein kohärenter lyrischer Text, 25 Vgl. Mattern 2016. 26 Vgl. Helmkamp 1999, 110. Dort auch (109–110) die ausführliche Forschungsdiskussion um die Frage, ob es sich bei dem sexuellen Kontakt zwischen dem Ritter und der Frau / dem Mädchen um eine Vergewaltigung handelt. Vgl. dazu auch Gravdal 1985. 27 Diese Position vertritt etwa Hübner 2008, 25–26; ähnlich auch Warning 1997 und Kasten 1996, 32. Zumal im nachklassischen Minnesang finden sich aber durchaus Pastourellen. Vgl. Herweg 2013. 28 Vgl. Mattern 2016; Brinkmann 1985. 29 Vgl. die Darstellung der Diskussion bei Helmkamp 1999, 109–112. Siehe auch Warning 1997. 30 Vgl. Helmkamp 1999; Ranawake 2003; Mattern 2016, 291. 31 Vgl. dazu die Überlegungen bei Schnell 1999, 129, mit Einbezug früherer Forschungspositionen.
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dessen strukturelle Merkmale die strophische Aufteilung von Männer- und Frauenrollen (Perspektivierung) und das monologische Verhältnis der ihnen zugeordneten Äußerungen (Monologizität) sind. Seine Funktion ist die unmittelbare, geschlechtsspezifisch differenzierte Gegenüberstellung von Gefühlen und/oder Auffassungen der jeweiligen Rollensprecher.“32 Dagegen hat Manfred Eikelmann betont, dass der Wechsel ähnlich wie das Dialoglied die „poetische Elementarform des Dialogischen“ repräsentiere, das sich durch „das literarisch konstruierte Zusammenspiel unterschiedlicher Rede- und Sinnpositionen, die in Parallelführung und Gegenüberstellung szenisch gestalteter Sprecherrollen Ausdruck erhalten“, auszeichne.33 Innertextuell hat der Wechsel nach Köhler 1997 häufig eine konfirmative Funktion in Bezug auf die emotionale Bindung zwischen den Minnenden, indem in beiden Rollen die Sehnsucht nach dem/der abwesenden Anderen und der Gleichklang ihrer Gefühle füreinander inszeniert werden (vgl. etwa Walther Mich hât ein wunneklîcher wân; L 71,35). Durch die zumeist übereinstimmende Einstellung der Sprecher werden die monologisch gesprochenen Teile in einen dialogischen Bezug zueinander gesetzt, der verschiedentlich auf der formalen Ebene durch Wort- und Reimresponsionen oder einen gemeinsame Refrain (wie etwa der Refrain sô hôh ôwî! in Dietmars von Aist Wechsel Nu ist ez an ein ende komen; MF 38,32 / LDM C Dietm 29–31) gespiegelt wird.34 Teilweise setzen die späteren Teile der Wechselrede auch die Kenntnis der früheren voraus. Zu unterscheiden sind von daher zwei Typen des Wechsels: der statische Typ (isolierte Monologe) und der dynamische Typ (der spätere Monolog reagiert auf den früheren).35 In Wechseln finden sich aber auch direkte Anreden in der zweiten Person, die freilich nicht unbedingt ein Indiz für die Anwesenheit des Partners sind, sondern an ihn oder sie als nur vorgestellt anwesend gerichtet sein können. Die Grenzen sind hier, wie etwa in Walthers Genâde, frowe, alsô bescheidenlîche (L 70,22) nicht immer eindeutig auszumachen.36 Neben der konfirmativen Dimension kann der Wechsel aber auch eine konfliktive Dimension aufweisen, wie etwa im berühmten dynamischen Wechsel Ich stuont mir nehtint spâte (MF 8,1) des → Kürenbergers, in dem der als rîter ausgewiesene Sprecher in der zweiten Strophe auf das in der ersten Strophe geäußerte Begehren der macht32 Köhler 1997, 61–62. 33 Eikelmann 1999, 87. Die Spannung zwischen Monolog und Dialog im Wechsel hat auch bereits Grimminger 1969 hervorgehoben. 34 Vgl. Eikelmann 1999. Siehe daneben auch Schnell 1999, 129, sowie Grimminger 1969, 11–14. 35 Vgl. Grimminger 1969, 12–13; Schnell 1999, 129. 36 Im Gegensatz zu Köhler 1997, der die direkte Anrede in der zweiten Person als Merkmal des Dialogliedes auffasst, haben Scholz 1989 und Grimminger 1969 die Auffassung vertreten, solche Anreden könnten als Teil eines inneren Monologs auch im Wechsel auftreten, und von daher auch solche Lieder als Wechsel rubriziert. Schnell 1999 hat daraus gefolgert, dass man mit Übergängen zwischen Wechsel und Dialoglied rechnen müsse. Für Beispiele siehe Kerth 2007, 147–148.
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vollen und machtbewussten Frau ablehnend reagiert und einen Boten beauftragt, ihm Pferd und Gewand zu bringen, damit er das Land verlassen könne (MF 9,29).37 Freilich findet sich alternativ zu dieser Zurückweisung in der Überlieferung auch die Möglichkeit der schamhaften Zurückhaltung des rîters, als er am Bett der frouwe steht, die in der Handschrift C in einer Dialogstrophe geäußert wird, auf welche die Dame mit der Äußerung jô enwas ich niht ein eber wilde empört reagiert (MF 8,9, V. 4).38 Konfliktiv erscheint auch der dynamische Wechsel Dietmars von Aist, Wart âne wandel ie kein wîp (MF 40,19 / LDM C Dietm 38–40), in dem der Mann damit droht, die intime Beziehung, die er mit der besungenen Dame zu haben behauptet, öffentlich zu machen, was die Dame, der nur die dritte und letzte Strophe zukommt, vehement bestreitet.
5 Das Botenlied Das Botenlied integriert einen vermittelnden Dritten in eine vorausgesetzte oder inszenierte Kommunikation zwischen zwei Personen, die als einseitig oder wechselseitig Liebende inszeniert sein können (→ Der Dritte / das Dritte). Mit der Einführung eines vermittelnden Dritten verdeutlicht das Botenlied, dass die Kommunikation zwischen den Minnenden erschwerten Bedingungen unterliegt, weil die Anwesenheit in einem gemeinsamen Raum nicht gegeben und eine Kommunikationssituation nicht einfach herzustellen ist. Dabei kann der Bote als Angesprochener erscheinen, dem eine Botschaft aufgetragen wird, der aber selbst stumm bleibt (z. B. Reinmar MF 178,1) und dessen Anwesenheit aus den Ansprachen gefolgert werden muss.39 Er kann auch als Angesprochener erscheinen, der auf die Ansprache reagiert, wie etwa in Reinmars Sage, daz ich dirs iemer lône (MF 177,10), und als Sprechender, der alleine auftritt und über die von ihm zu überbringende Botschaft spricht, sowie als Sprechender, der im Auftrag eines Ritters oder auch einer Dame, zu der/dem Begehrten kommt und ihr/ihm die Werbung und die Forderungen vorträgt. Zu diesem Typus von Botenreden gehören etwa zwei Strophen Meinlohs von Sevelingen (MF 11,14 und MF 14,1), die sich im Auftrag eines Ritters unmittelbar an die umworbene Frau wenden.40 Auf die Botenrede erfolgt in diesen Liedern keine unmittelbare Antwort, aber diese ist durchaus möglich. Das Botenlied kann zum Dialoglied werden, wenn der Bote eine Botschaft überbringt, auf 37 Im Hinblick auf die Überlieferungslage ist dieser Wechsel ausgesprochen problematisch, denn die beiden Strophen werden weder in der Großen Heidelberger Liederhandschrift noch im Budapester Fragment unmittelbar hintereinandergestellt. Vielmehr fehlt die Männerstrophe im Budapester Fragment ganz und in der Handschrift C folgt auf die Frauenstrophe die o. g. Dialogstrophe. Vgl. Kerth 2007, 147. 38 Vgl. Kössinger 2017, 101–109. 39 Zu Reinmars Botenlied vgl. Kössinger 2017, 110–115; Spechtler 2006, 233–236. 40 Vgl. Egidi 2011, 109–110.
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die die Frau (oder auch der Mann) unmittelbar antwortet. Die Antwort der Dame kann sowohl positiv im Sinne einer Bestätigung (die aber auch mit Reserviertheit verknüpft sein kann; vgl. Hartmann/Walther MF 214,34) als auch negativ im Sinne einer Zurückweisung (vgl. Walther L 112,35) erfolgen. Auftraggeber für den Boten können sowohl der Ritter als auch die Dame sein und dabei innerhalb des Liedes auch im Wechsel zum Boten sprechen. Der Wechsel zwischen Frau und Mann ist eine relativ häufige Form des Botengesprächs, wobei auch hier wieder zwei Varianten möglich sind: die Wechselrede von Frau und Mann ohne oder mit Bezug auf das zuvor vom anderen Sprecher Geäußerte. Das Botenlied hat insofern eine besondere Beziehung zum Wechsel und eine dialogische Grundstruktur, weil sie die Rede zwischen einem Auftraggeber und einem Boten entweder inszeniert oder zumindest voraussetzt. Ähnlich wie das → Tagelied ermöglicht das Botenlied besondere Codierungen von Intimität, weil es mit der Differenz von öffentlich Sagbarem und im intimen Gespräch mit einem Dritten Gesagten spielen kann.41
6 Performanz und Performativität des Dialogliedes Unabhängig von der jeweils inszenierten Konstellation oder der evozierten Situation des Gesprächs erzeugt der Dialog im Lied mehrere Stimmen, deren Performanz im Sang nicht eindeutig geklärt ist. Dass in der Konstellation Dame und minnender Sänger eine höfische Dame den zweiten Part gesungen hat, gilt als unwahrscheinlich; vielmehr wird in der Regel davon ausgegangen, dass der Sänger beide Rollen übernommen hat.42 Übernimmt der Sänger die Frauenstimme, untergräbt dies die in der Minnekanzone nahegelegte Übereinstimmung von Singendem und Minnendem, wodurch sich der Vortrag des Sängers einer theatralen Aufführung annähert. Durch die Übernahme zweier Rollen wird die Rollenidentität zumindest ambiguisiert. Insofern könnte es sich für Dialoglieder anbieten, von der Aufführung von Liedern und nicht von deren Vortrag zu sprechen. Eine solche Aufführung legt einen anderen Fiktionalitätskontrakt nahe, als dies in der Minnekanzone der Fall ist.43
41 Zum Botenlied und der Figur des Dritten vgl. Egidi 2011; zur Intimität im Tagelied vgl. Möckel 2011. 42 Für die in der Forschung in der Regel als selbstverständlich vorausgesetzte Annahme, der Sänger habe beide Stimmen gesungen, die der Dame möglicherweise im Falsett, gibt es freilich keinen Beleg. Umgekehrt gibt es aber auch keinen Beleg dafür, dass die zweite Stimme (regelmäßig oder okkasionell) von einer Dame gesungen worden sei. Ich halte beide Varianten für denkmöglich – mit jeweils erheblichen Auswirkungen auf den Fiktionalitätspakt. 43 Zur Fiktionalitätsdiskussion vgl. Müller 2004; Reuvekamp-Felber 2001. Das Beispiel von Liedern mit Frauenstrophen (Botenlieder, Wechsel, Dialoglieder) ist wiederholt angeführt worden, um anhand der eindeutigen Übernahme von Rollen durch den Sänger die Fiktionalität des Minnesangs zu belegen. Vgl. Hahn 1992.
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Die Annahme, Minnesang sei Rollenlyrik, scheint für die Gattung des Dialogliedes deshalb in besonderem Maße zu gelten. Schon der Vortrag eines Liedes mit dialogischer Struktur macht durch das Singen mit zwei verschiedenen Stimmen evident, dass es sich nur um die Übernahme von Rollen handeln kann, von denen mindestens eine, nämlich die der Frau, vom Sänger nur gespielt beziehungsweise spielerisch übernommen werden kann. Das gilt jedenfalls dann, wenn man davon ausgeht, dass beim Vortrag eines Dialogliedes der Sänger die Stimmen beider Dialogpartner singt. Es gilt erst recht, wenn dem Sänger die Konstruktion beider Rollen unterstellt wird, wenn also das Publikum davon ausgeht, dass nicht nur der Sänger und die Dame, sondern auch der Sänger und der im Lied auftretende Minnende nicht identisch sind.44 Hier wäre dann definitiv ein Fiktionalitätspakt zu unterstellen. In der Literaturtheorie gilt der Dialog in Anlehnung an Platon und Aristoteles als die mimetischste und damit fiktionalste aller Gattungen.45 Rainer Warning hat den Theaterdialog generell als „Paradigma für die Sinnkonstitution fiktionaler Rede“ bezeichnet.46 Zwar kann man zweifellos ein dialogisches Lied nicht mit einem Theaterdialog gleichsetzen, aber im gesungenen Vortrag, durch Rhythmus, Metrum, Melodie einerseits, topische Begriffe und Wendungen andererseits, erscheint ein Fiktionalitätskontrakt nicht minder wahrscheinlich, weil die Kunst des Dichtens und des Vortragens eben jenes Poetische zur Anschauung bringt, das den gesungenen Dialog von der unmittelbaren Rede distanziert.47 Eine narrative Einleitung, die in Dialogliedern häufiger vorkommt, hat allerdings den Effekt, dass der Dialog auch als ein erinnerter Dialog fingiert werden kann, womit dann kein eindeutiger Fiktionalitätsmarker mehr vorhanden ist.
7 Minne im Aushandlungsprozess Wo es nicht um Gefühl, sondern um Wiederholung oder die Beherrschung einer Kunstform geht, kann die Wahrhaftigkeitsvoraussetzung der Liebeskommunikation suspendiert werden. Aber genau diese Wahrhaftigkeitsvoraussetzung bildet bei den Minnedialogen den Kern des Gesprächs oder des Disputs. Dialoglieder thematisieren die Grenzen der Minne und des Sangs sowohl unter dem Aspekt der Verhaltensnormen als auch unter dem Aspekt der Wahrhaftigkeit von Minne als Gefühl. Die Thematisierung dieser Wahrhaftigkeitsvoraussetzung hängt entscheidend vom medialen Status des Minnesangs ab: Der Vortrag im Kreis der höfischen Gesellschaft macht es 44 Zur Frage der möglichen Differenzierung zwischen Singendem und Minnendem und der Signale dafür in der Minnekanzone vgl. Strohschneider 1996. 45 Vgl. Häsner 2004, bes. 18–19. 46 Warning 1983, 192. Warning hat das Muster des Theaterdialogs auch auf den Minnesang übertragen, vgl. Warning 1979. 47 Vgl. Braun 2011.
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überhaupt erst möglich, dass der Minnesang die Frage nach der Wahrhaftigkeit der Liebe thematisieren kann, denn erst durch die Pose des Sängers als Minnendem im Liedvortrag wirft er das Problem der Wahrhaftigkeit des Sangs und der Minne auf. Dialoglieder lassen sich insofern auch als Diskurs über die Wahrheitsfähigkeit einer Kunstform und die Wahrhaftigkeit der Rolle des Sängers als Minnendem lesen. Mit der Dialogizität erfüllen die Lieder die Funktion, Minne als Kommunikationsmedium zu installieren, das zwischen den Geschlechtern reflexiv wird. Die Gattung Dialoglied wäre dann eine Metainstitution des Liebesdiskurses, in dem sowohl die Frage nach der Wahrhaftigkeit von Minne im Sang als höfischer Unterhaltungskunst als auch der Verhaltensnormen zwischen den Geschlechtern ausgehandelt werden (→ Minnesang in gender- und queertheoretischer Perspektive). Betrachtet man Dialoglieder unter dem Aspekt des Aushandelns einer Minnebeziehung mit dem Sänger als werbendem Partner und der Dame als abweisender Figur, so erscheinen sie einem topischen Arsenal verpflichtet, in dem der Sänger seinen Liebesschmerz, seine Aufrichtigkeit, aber auch sein Begehren formuliert, während die Dame ihn zurückweist. Das Dialoglied würde dann in Szene setzen, was die Minnekanzone voraussetzt: Dass das Begehren des Mannes nicht zum Ziel kommen kann, wohl aber sein Dienst mit der Zuneigung der Dame und höfischem Ansehen belohnt werden kann. Da in der Tradition des Sangs seit dem hochhöfischen Sang der Sänger die Rolle des Minnenden überwiegend für sich reklamiert hat, ist es nicht verwunderlich, dass für die Dame in erster Linie die Rolle der Verkörperung des Sozialsystems übrigbleibt. Sie verkörpert die gesellschaftlich definierten Systemgrenzen für die Umsetzung des Kommunikationsmediums Minne in Handlung.
Literatur Anja Becker: Lyrische und epische Stichomythien: Eilhart von Oberg – Heinrich von Veldeke – Albrecht von Johansdorf. In: Aspekte einer Sprache der Liebe. Formen des Dialogischen im Minnesang. Hg. von Marina Münkler. Bern u. a. 2011 (Publikationen zur ZfG 21), 253–271. Ingrid Bennewitz: „Wie ihre Mütter“? Zur männlichen Inszenierung des weiblichen Streitgesprächs in Neidharts Sommerliedern. In: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Rolf Bräuer zum 60. Geburtstag. Hg. von Angela Bader u. a. Stuttgart 1994 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 300), 178–193. Ingrid Bennewitz-Behr, unter Mitwirkung von Ulrich Müller (Hg.): Die Berliner NeidhartHandschrift c (mgf 779). Transkription der Texte und Melodien. Göppingen 1981 (GAG 356, Neidhart-Materialien 1). Katharina Boll: Alsô redete ein vrowe schoene. Untersuchungen zu Konstitution und Funktion der Frauenrede im Minnesang des 12. Jahrhunderts. Würzburg 2007 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 31). Manuel Braun: Die Künstlichkeit des dialogischen Liedes. In: Aspekte einer Sprache der Liebe. Formen des Dialogischen im Minnesang. Hg. von Marina Münkler. Bern u. a. 2011 (Publikationen zur ZfG 21), 19–34.
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Dialoglied – Wechsel – Botenlied
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Marina Münkler
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Julia Zimmermann
Tanzlied
1 Gattungsbegriff Begriffe wie tanzliet, tanzwîse, tanz, reien u. a.1 sind bereits im Mittelhochdeutschen überliefert, zahlreich sind im Minnesang zudem Hinweise auf die Verwendung von Tanzliedern, auf Tanzbräuche, Tanzformen oder Tanzformationen. Gleichwohl sind die zeitgenössischen Bezeichnungen ebenso wie die in der mediävistischen Lyrikforschung etablierten Begriffe ‚Tanzlied‘ oder ‚Tanzleich‘ semantisch uneindeutig.2 Auch wenn das tanzliet etwa für Reinmar den Fiedler neben dem tageliet, klageliet, kriuzliet, schimpfliet u. a. zum Repertoire des kunstfertigen Sängers gehört, wie er in einer Scheltstrophe auf seinen Dichterkollegen Leuthold von Seven (KLD 3,1, V. 4–5) verkündet, bleibt der semantische Bezug des mittelhochdeutschen Begriffes alles andere als klar: Ist ein tanzliet ein Lied, das zum Tanzen gesungen wird, oder handelt es vom Tanzen?3 Für Ersteres sprechen paratextuelle Zuschreibungen wie etwa die in der Neidhart-Handschrift c (Berlin, Staatsbibliothek, mgf 779) überlieferte Überschrift Ein ray (Bl. 153r, 169r u. ö.) zu einigen Liedern → Neidharts. Diese legen die Zusammengehörigkeit von Tanz und Lyrik nahe, freilich bleibt auch hier unklar, ob der Begriff eine spezifische Lied- beziehungsweise Strophenform (Reien) oder tatsächlich ein Lied zum Tanzen bezeichnet. Einigen Bemerkungen im ‚Frauendienst‘→ Ulrichs von Liechtenstein lässt sich dagegen entnehmen, dass Minnelieder nicht nur gesungen und gelesen, sondern durchaus getanzt werden konnten.4 In den Eingangsversen des 46. Liedes Ulrichs heißt es: Disiu liet diu heizzent vrowentanz (FD 46, V. 1), und anschlie1 Harding 1973 dokumentiert in ihrer Studie zum Gebrauch und zur Bedeutung mittelhochdeutscher Tanztermini im Zeitraum 1150–1450 allein 224 Begriffe, die zur Bezeichnung von Tanzaktionen dienen. Eine Vielzahl dieser Tanztermini – z. B. do sold ich gesungen haben den reien (175); do er sanc den niuwen hoppaldei (115); also lerte er si den gimpelgempel (108) – dürfte auch zur Bezeichnung von Tanzliedern gedient haben. 2 Hierzu bereits Müller 2001, 350–351; Klein u. a. 2012, VII; Wyss 2012, 2; Zimmermann 2012, 69–72. Als ältestes deutsches Tanzlied gilt der Literaturwissenschaft gemeinhin das nur in lateinischer Übersetzung überlieferte ‚Tanzlied von Kölbigk‘, das nicht nur im Blick auf seine Interpretation, sondern auch auf seine Zuordnung zu einer Subgattung ‚Tanzlied‘ problematisch ist. Die überlieferten Verse sind in eine Warnlegende eingebunden; Überlegungen zu ihrem möglichen Aufführungsmodus sind bislang weitgehend spekulativ geblieben. Zum Problem der Gattungszuordnung bereits Schwab 1992, 104–117; zur Warnlegende und dem Forschungsstand zum Thema ausführlich Rohmann 2013, 363–493. 3 Zum Problem der doppelten Begriffsbedeutung (Tanzlied als Lied zum Tanzen, Tanzlied als poetische Evokation des Tanzes) vgl. u. a. Wyss 2012, 1–2. 4 Hierzu und zum Folgenden bereits Zimmermann 2012, 69–71. https://doi.org/10.1515/9783110351859-031
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ßend wird ein Hinweis auf den Modus der Ausführung geboten: vro (V. 2) solle man es singen und fröhlich – blideclichen (V. 6) – solle man es tanzen. Von den insgesamt 58 Liedern, die im ‚Frauendienst‘ überliefert sind und die von der Forschung dem konventionellen Minnesang zugerechnet werden, sind allein 26 Lieder durch Überschriften als tanzwîsen ausgewiesen, eines wird als reye angekündigt.5 Keines dieser Lieder thematisiert inhaltlich das Tanzen, nur wenige werden im anschließenden Erzähltext als zum Tanzen geeignet exponiert: si sint für war ze tanzen guot (FD 1395, V. 7) oder ze tanzen waren si vil guot (FD 1772, V. 5).6 Ulrichs Ausführungen lassen aber weder Erkenntnisse über das Tanzen als rituelle oder pararituelle Form von Gesellschaftshandeln im Rahmen sozialer Interaktion zu, noch sind Rückschlüsse auf das Tanzlied als Medium musikalisch-poetischer Kommunikation möglich, denn an den als tanzwîsen ausgewiesenen Liedern Ulrichs ist lediglich ihre konsequente Bauform in Kanzonenstrophen auffällig. Der formale Bau der Kanzone lässt indes keine differenzierte Aussage zu Funktion und pragmatischer Vollzugsform eines Liedes zu.7 Während die Musikwissenschaft als Kriterium zur Bestimmung des mittelalterlichen Tanzliedes ein spezifisches rhythmisch-metrisches Profil und den Refrain annimmt, dabei aber oft im Zirkelschlussverfahren mit den Befunden zu deutlich jüngeren Quellen Rückschlüsse auf die ältere, gemeinhin nicht rhythmisch oder metrisch eindeutig lesbare Überlieferung zieht,8 meint die romanistische Literaturwissenschaft das Tanzlied durch eine charakteristische (und entsprechend benannte) Strophenform etwa in der Ballada, Dansa,9 Estampie, dem Virelais oder dem Rondeau zu erkennen.10 Als Indizien für die formale Bestimmung des Tanzliedes gelten in der älteren Literaturwissenschaft neben dem Refrain11 überdies Kurzverse, Daktylen, Reihenbildung sowie Motiv- oder Tonwiederholung, ein „kräftiger Rhythmus“12, kaum ausgeprägte Melismen, Sprecherwechsel, Dur-Melodik oder spezifische Wortsignale
5 Zur tanzwîse bei Ulrich von Liechtenstein siehe Schmid 2012. 6 Siehe auch Kellner 2018, 19–20. 7 Hierzu bemerkt bereits Bumke 1997, 757, in seiner Studie zur Höfischen Kultur treffend: „Wenn diese Lieder Tanzlieder waren, dann fehlt jedes formale Kennzeichen, um Tanzlyrik und Vortragslyrik zu unterscheiden, anders als in Frankreich, wo die Tanzlieder eigene Bauformen besaßen. Die Frage, seit wann Lieder in Kanzonenform für den Tanz bestimmt waren, ist kaum zu beantworten. Daß etwa schon Morungens oder Reinmars Lieder getanzt worden sind, scheint fast undenkbar, weil ihr ernster Ton nicht zu einem Tanzvergnügen passen will. Ob solche Argumente aber überhaupt die Sache treffen, steht dahin.“ Hierzu auch Wyss 2012, 5–6. 8 Dieses Problem diskutiert insbesondere mit kritischem Blick auf die Überlegungen von Jammers 1973 und Mullally 1986 der Beitrag von Huck 2012. 9 Zur dansa und ballada und ihrer gattungspoetischen Zuordnung zu den Tanzliedern siehe Hübner 2012, 116–119. 10 Vgl. Klein u. a. 2012, VIII. 11 Dazu kritisch im Blick auf das französische Lied Klaper 2012. 12 Müller 2001, 351.
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(Tanzschreie).13 Weil die (hoch-)mittelalterliche Lyrik aber weitgehend ohne Melodien beziehungsweise ohne konkret rhythmisch interpretierbare musikalische Notation überliefert ist (→ Melodien zu Minneliedern), hinterfragt die jüngere Literatur- und Musikwissenschaft die Operationalisierbarkeit der genannten Kriterien angesichts der Unmöglichkeit, „aus der formalen Struktur eines Liedes seine Funktion bzw. Vortragsform“ zu erkennen.14 Die Frage nach der Tanzbarkeit von Minnesang trifft folglich mitten hinein in eine der Schwierigkeiten, die sich bei der Betrachtung der mittelhochdeutschen Lieddichtung zeigen: Durch zeitgenössische Apostrophierungen von Liedgut etwa als tanzwîse, tanzliet u. ä. wird zwar ein Zusammenhang zwischen poetischer Kommunikation und Gesellschaftsritual hergestellt,15 aufgrund mangelnder formaler Zuordnungsmerkmale ist aber jede Festlegung auf einen bestimmten Modus performativer Umsetzung von Lyrik als Vortrags-, Lese- oder eben Tanzlyrik methodisch weitgehend unzulässig. Dies gilt auch für literaturwissenschaftliche Zuschreibungen, die noch immer bevorzugt solche Lieder der musikalisch bestimmten Gattung ‚Tanzlied‘ zurechnen, in denen das Tanzen lediglich erwähnt wird,16 oder die etwa bestimmte Leichs vor allem nach ihren Inhaltstypen als sogenannte ‚Tanzleichs‘ in eine gemeinsame Tradition einordnen.17 Solchermaßen ist der Gattungsbegriff aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nicht im Rahmen bestimmter „institutionalisierte[r] Diskurstypen von mehr oder weniger hoher historischer Konstanz“18, sondern in erster Linie auf Grundlage thematischer oder motivischer Rekurrenzen gefasst. Auch wenn Tanzlieder weder an ihrer poetischen noch an ihrer musikalischen Faktur als solche erkennbar sind, ist davon auszugehen, dass die mittelhochdeutsche Lyrik Lieder umfasst, die formal zum Tanzen im gemeinschaftlichen Vollzug geeignet gewesen sein dürften, ebenso wie es auch solche Lieder gibt, die sich durch performative Elemente selbst als Tanzlieder inszenieren oder in denen das Tanzen motivisch oder thematisch begegnet. Selbstverständlich ist aber Letzteres nicht Bedingung für 13 Hierzu Müller 2001, 351. Ähnliche Merkmale des Tanzliedes führt auch Brunner 2008, 270–271, an. 14 Klein u. a. 2012, VIII; so bereits Müller 2001, 351, und Wyss 2012, 1–6. 15 Diesen Zusammenhang fokussieren die Studien von Strohschneider 1999, insb. 202–203, und Zimmermann 2012, 70–71. 16 Entsprechend knapp sind auch die Angaben zum ‚Tanzlied‘ bei Schweikle 1995, 148, der drei Kriterien aufführt, nach denen Tanzlieder ausgewiesen sind: erstens durch Überschriften wie etwa in Ulrichs ‚Frauendienst‘, zweitens durch die Eingangszeile eines Liedes im oben angeführten Sinn, sowie drittens durch Tanzaufforderungen in den Liedern selbst. 17 Zum sogenannten ‚Tanzleich‘ bemerkt wiederum Bumke 1993, 299: „Daß die Leichs tatsächlich getanzt wurden, stellt allerdings an die Vorstellungskraft noch größere Ansprüche als das getanzte Minnelied.“ Eine kritische Auseinandersetzung mit dem sogenannten ‚Tanzleich‘ bietet Paule 1994, 234–254. Nach Sayce 1982, 379, hat das Tanzmotiv im Leich allein in der deutschen Lieddichtung seinen Ort. Hierzu auch Kreibich 2000, 27 und 112, die das Tanzmotiv als eines der „fakultativ[en]“ (112) inhaltlichen Versatzstücke des deutschen Minneleichs betrachtet. 18 Warning 1992, 710.
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das andere, ist die Thematisierung von Tanz innerhalb eines Liedes nicht gleichzeitig ein Beleg für seinen pragmatischen Vollzug.19
2 Lieder zum Tanzen? Performative Evokationen von Tanzliedern Neben paratextuellen Zuschreibungen oder gattungspoetologisch vagen Angaben zur Tanzbarkeit von Minnesang (wie bei → Ulrich von Liechtenstein) existiert eine Vielzahl von Liedern, die sich durch performative Elemente selbst als Tanzlieder inszenieren. Wenn etwa → Walther von der Vogelweide im Ersten Philippston aufruft: wol ûf, swer tanzen welle nâch der gîgen! (L 19,29, V. 9), wenn Neidharts Riuwentaler seiner Geliebten zuruft: nu wol ûf, trûtel Adelheit, dû sprinc, als ich dir sage! (SL 16,3, V. 6) oder wenn → Gottfried von Neifen auffordert: wol ûf, ir hübschen leien! wir suln die fröide heien, vil frœlîch tanzen reien (KLD 14,1, V. 12–14),
dann sind hier toposhaft Versatzstücke eingebracht, die Tanz als Ausdruck gemeinschaftlich erlebter Freude inszenieren, ohne dabei einen konkreten Bezug zum Gesang herzustellen.20 Gleiches gilt für die ebenfalls versatzstückhaften Tanzaufforderungen nach dem wir-süln-tanzen-Prinzip.21 Gert Hübner hat auf Grundlage fundierter
19 So auch Strohschneider 1999, 203, Anm. 18: „Das indes wäre methodisch so unzulässig wie der Umkehrschluß, wo Tanz nicht im Text thematisiert werde, scheide er auch als pragmatische Modalität aus. Er scheitert schon an den Textbefunden […].“ 20 Zum wol-ûf-Tanzaufruf vgl. Burkhard von Hohenfels KLD 1,1, V. 2; Der Kanzler KLD 13,1, V. 13–14; Konrad von Kilchberg KLD 5,2, V. 1; Der von Stamheim KLD 1,1, V. 1–2; Tannhäuser SIEB 3, V. 106; SIEB 5, V. 100; Oswald von Wolkenstein OSW 53,1, V. 9: wol auff zu dem tanz!; vgl. auch OSW 75,1, V. 1–8. 21 Vgl. u. a. Walther von der Vogelweide L 51,13, II, V. 2–4: wir suln sîn gemeit, | tanzen, lachen unde singen | âne dörperheit; Ulrich von Liechtenstein KLD 7,2, V. 1: Wir suln tanzen singen lachen; Neidhart SL 5,1, V. 4–6: hebt iuch dar, | stolziu kint, | reien, dâ die bloumen sint!; SL 14,1, V. 6–7: ir mägde, ir sult iuch zweien, | gein dirre liehten sumerzît in hôhem muote reien; SL 22,1*, V. 5–6: wir suln alle springen, | sîn gemeit; SL 25,1a, V. 1: Froelîch sulen wir nu alle reien; WL 1,2, V. 1: Tanzet, lachet, weset vrô!; Carmina Burana CB 137,3, V. 1: Springer wir den reyen nu, vrowe min; CB 140,6, V. 5–6: tanzen, reien, springen wir | mit froͤ de vnd oͮ ch mit schalle!; Ulrich von Winterstetten KLD Leich 4, V. 173: Springent frœlich an den tanz!; Gottfried von Neifen KLD 13,1, V. 8: tanzen springen suln die jungen widerstrît; KLD 14,1, V. 12–14 (s. o.); Konrad von Kilchberg KLD 5,2, V. 13: dâ bî suln wir tanzen unde reien; Konrad von Landeck SMS 3,1, V. 3: wir sun frœlîch reien, singen; SMS 12,2, V. 5–6: Wir son tanzen, wir son springen, | wir son frœlîch reigen, wir son singen; Rudolf von Rotenburg KLD 16,2, V. 3: für die sorge suln wir tanzen unde singen; Oswald von Wolkenstein OSW 47,1, V. 1–3: Fröleichen so well wir | schir singen, springen hoh, | uns zwaien, schon raien.
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Liedanalysen überzeugend dargelegt, dass eine Topik des Singens zum Tanz durch → Neidhart etabliert wurde: Um seinem höfischen Publikum den satirischen Kontrast zur dörper-Welt vorzuführen, lässt er die Figur des Riuwentalers im Lied zum Tanz singen, auffordern oder am Tanz teilnehmen. Was genau dabei aber zum Tanz gesungen wird, bleibt offen. Über die Tanzaufforderungen hinaus zeigen die verschiedenen Lieder keine zum Tanz gesungenen Lieder und keinen Tanzliedgebrauch auf.22 Vielmehr ist der Tanzaufruf im Minnesang nach Neidhart konventionelles Element (meist des → Natureingangs) und liedinterner Indikator kollektiver Hochgestimmtheit. Auch mit der Ankündigung, dass ein tanz beendet sei, legen einige Sänger performativ den Zusammenhang von Tanz und Liedvortrag nahe, so etwa der Tannhäuser: Dem tanze suln wir urlop geben | wan er schiere ein ende hat (SIEB 2, V. 97–98), oder Heinrich von Sax: Dis tanzes ist niht mêre, | den ich von mîner frowen hân gesungen (SMS 1,25, V. 1–2).23 In der Überlieferung bilden diese Ankündigungen entsprechend den Abschluss eines Liedes, wodurch tanz und Tanzlied tatsächlich in eins zu fallen scheinen. Der Tannhäuser und Ulrich von Winterstetten nutzen noch einen weiteren Kunstgriff zur Beendigung ihrer sogenannten ‚Tanzleichs‘: Dem scheinbar spontanen, durch einen heia-hei-Schrei24 begleiteten Ausruf, dass eine Saite der Fiedel gerissen beziehungsweise der Bogen gebrochen sei, folgt der improvisiert anmutende Abbruch des Liedes.25 Das Bild der gerissenen Saite, das bereits in antiker Zeit als Sinnbild der Disharmonie dient,26 überträgt Ulrich von Winterstetten zudem auf das Bild des zerrissenen Herzens des Sängers als Ausdruck seines Leids.27 Im Bild der gerissenen Saite 22 Hierzu ausführlich Hübner 2012, 119–122. 23 Vgl. u. a. Tannhäuser SIEB 4, V. 135: hie nimt der tanz ein ende; Ulrich von Winterstetten KLD Leich 4, V. 187–190: Ich wil hœren, es ist zît: | ich hân der liute nît, | Wan des reigen ist ze vil; | des ich erwinden wil; Konrad von Altstetten SMS 3,3, V. 11: des wünschent dem, der den reigen sang!; Konrad von Würzburg SCHR 2, V. 135–138: disen tanz hât iu gesungen | Cuonze dâ von Wirzeburc: | wünschent daz von sîner zungen | niemer rîm gefliege lurc! 24 Was es mit dem heia-hei-Schrei auf sich hat, erläutert ein Neidhart-Lied in Handschrift c: Der Ruf sei Sitte bei allen Tanzteilnehmern eines Reien und dient offenkundig als Ausdruck eines überschwänglichen Lebensgefühls: Dennoch habens einen sitt: | wer dem raien volget mit, | der muß schreien „haia hai vnd hai!“ (SNE II: c 122, VI, V. 1–3). Strohschneider 1999, 225, bemerkt dagegen, der Ruf sei semantisch so leer, dass nicht klar wäre, ob mit ihm die Klage des Minnesängers oder der Jubel einer Tanzschar zum Ausdruck gebracht werde. 25 Tannhäuser SIEB 3, V. 126–129: Daz ist enzwei. | heia nu hei! | Des videlaeres seite | der ist enzwei; SIEB 4, V. 133–144: Heia, sumerwunne, | swer uns din erbunne! | hie nimt der tanz ein ende. | […] | Nu singe ich aber hei! | heia, nu hei! | Nu ist dem videlaere | sin videlboge enzwei!; SIEB 5, V. 121–128: Nu ist dem videlaere sin seite zerbrochen; | daz selbe geschiht im alle die wochen. | Heia, Tanhusaere, | la dir niht wesen swaere! | Swa man su singe, | froeliche springe, | Heia nu hei! | (heia nu hei!); Ulrich von Winterstetten KLD Leich 4, V. 191–194: Ir sint müede, dunket mich: | ez ist ungemenlich. | Schrîent alle ‚heiâ hei‘! | nu ist der seite enzwei. Hierzu auch Hübner 2008, 111–115; Zu den Schlusszeilen des dritten und vierten Leichs des Tannhäuser und dem lateinischen Conductus ‚Syon egredere‘ siehe Bertau 1964, 127–128. 26 Zum Symbol der gerissenen Saite als Sinnbild der Disharmonie siehe Hammerstein 1994, 15. 27 Ulrich von Winterstetten KLD Leich 2, V. 107–108: heia nu hei! | geschiht ez niht, sost gar ein wiht mîn fröide und muoz mîn herze enzwei; Leich 3, V. 125–126: Mîn herze von smerze wil mit dem seiten rehte
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auf die Spitze getrieben wird hier also der Kontrast zwischen dem durch Frauendienst verursachten Leid des Sängers und seiner freudestiftenden Verpflichtung gegenüber dem Publikum, die im kollektiven Tanz evoziert wird. Die semantische Korrelation zwischen Freude und Leid kommt freilich nur in der inszenierten Performanz des abrupten Tanzabschlusses zur Geltung, mit dem zugleich das Ende poetischer Kommunikation verkündet ist.28 Neben Liedern mit Tanzaufforderungen oder Verkündigungen des Tanzendes finden sich im Minnesang schließlich auch solche, in denen ein Sänger sich oder andere präsentisch als Tanzliedvortragende(r) oder gar als Vortänzer inszeniert; im Singen über das Singen (→ Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs) zum Tanz wird also die Sprechsituation als präsente Tanzsituation evoziert: Ich singe iu wol ze tanze (Tannhäuser SIEB 11, V. 5), oder: vrô singent aber die vogele, lobent den meien: | sam tuo wir den reien! (Neidhart SL 26,1, V. 7–8).29 Auch in diesem Kontext konnte Hübner aufzeigen, dass mit der Topik des Gesangs zum Tanz vor allem Semantiken der Neidhart-Tradition fortgeführt und aktualisiert werden. Neidharts Konfrontation und semantische Verschränkung von höfischer Liebe und (tanzender) Dörper-Welt findet in der Folgezeit ihre Weiterentwicklung u. a. im spielerischen Umgang mit unterschiedlichen Gattungstraditionen, wenn etwa innerhalb eines Liedes eine minnesangspezifische Brüchigkeit exponiert wird, indem hohes und niederes Register, altes und neues Konzept von Sang nebeneinandergestellt sind.30 Der Tanzmotivik kommt dabei vor allem eine poetologische Funktion zu. Weiterentwicklungen von Neidharts Topik des Gesangs zum Tanz sind darüber hinaus auch in der Performanz eines semantischen Gefüges erkennbar, „das die Tanzfreude zur Maskierung des Liebesleids macht“31 oder das deutliche Transformations- und Koordinationsprobleme durch mangelnde szenische Kohärenzen in der Evokation einer enzwei; | Des wüefet und rüefet ez lûte ‚heiâ hei!‘; Leich 5, V. 84–86: und schrîe ‚heiâ hei!‘ | mîn sendez herze muoz enzwei | und lebe in leidem wâne. 28 Vgl. Hübner 2012, 128–129, und Strohschneider 1999, 225. 29 Vgl. u. a. Carmina Burana CB 178, 6, V. 7: des tanzes ich beginnen sol, wil ez iv niht versmahen!; Ulrich von Winterstetten KLD Leich 4, V. 165–166: Ich gedinge, der ich singe, | daz si lerne doch vil gerne disen tanz; KLD Leich 3, V. 97–98: Nu singen, nu singen; dannoch harte erspringen | Den reien, den reien, pfaffen unde leien; Konrad von Kilchberg KLD 5,1, V. 14–17: ir geilent iuch jungen, | die bluomen sint entsprungen, | ir singent den reien | und wesent frœlich frô des liehten meien (Refrain). 30 Zur Verschränkung verschiedener Register des Minnesangs am prominenten Beispiel des sogenannten Tanzliedes Hiltbolts von Schwangau (KLD 10,1) siehe Zimmermann 2018, 430–436. Zum Tannhäuser (insb. Leich 3) entsprechend Hübner 2008, 111–115. 31 Hübner 2012, 129. Besonders deutlich zur Geltung kommt dieser Topos des getanzten vröideZwangs trotz Minneleids etwa bei Dem von Sachsendorf KLD 7,4: Wer sol tanzen, wer sol singen, | wer sol durch die schônen frouwen sîn gemeit? | wer sol sich ze fröiden twingen, | wer sol durch si lîden nôt und arebeit? | des wil ich gar ân angest sîn, | ob sî den dienest mîn erkande, | mir wurde gelônet von der lieben frouwen mîn; oder bei Heinrich von Sax SMS 1,20, V. 5–8: Ich wil ouch mit in tanzen unde springen mê, | swie mir in herzen niemer liep davon beschê. | ich wil ouch ûzzen frô gebâren zaller zît | und innan tûzzen, dâ mîn herze in sêre lît.
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Tanzliedsituation beziehungsweise in abrupten Rollenwechseln von leidendem Minnesänger und Freude schaffendem „Tanzmeister“32 verursacht. Damit werden die Unwahrscheinlichkeit der evozierten Tanzszenarien und zugleich auch die Künstlichkeit und Kunstfertigkeit der inszenierten Performanz klar ausgestellt: „Die Topik des Gesangs des Minnesängers zum Tanz ist eine Erfindung Neidharts und wird in der gesamten Gattungsgeschichte in Performanzszenarien entfaltet, deren Plausibilität sich dem funktionalen Bezug auf die Sinnangebote der Gattung und nicht einer wahrscheinlichen Ähnlichkeit mit höfischen Praktiken verdankt.“33
3 Tanzen im Lied – Diskursivierungen Als poetisches Requisit hat das Tanzmotiv in der mittelhochdeutschen Lyrik seinen festen Ort; es bedient alle Register (Minnesang, Sangspruch, Leich, religiöse Lyrik) und wird in unterschiedlichen Sprechmodi und -situationen sowie mit variierenden thematischen Akzenten eingebracht.34 Wie in der epischen Dichtung35 wird dem Tanz auch in der mittelhochdeutschen Lieddichtung eine gesellschaftsstiftende und kommunikative Funktion zugesprochen. Das Motiv gemeinsamen Tanzens dient in erster Linie als Ausweis gesellschaftlicher vröide beziehungsweise des hôhen muots. Diese Form kollektiver Freude beim Tanz kann im Minnesang semantisch sowohl mit dem Gefühlswert des leidenden Minnesängers als auch mit seiner vröide-schaffenden Verpflichtung verschränkt sein. Anders als in der Epik sind Bezugnahmen auf den Tanz in den frühen Phasen des mittelhochdeutschen Minnesangs vor Neidhart ausgenommen rar. Abgesehen von der kurzen Warnung Jâ schadet ez guoten liuten, wære ich tôt, die nâch vröiden ringen und die gerne tanzen unde singen (L 114,23, II, V. 5–7),
in der das Ende des Sängers und seines Sangs in logischer Konsequenz mit der Unmöglichkeit der Tanzfreude gleichgesetzt ist, dient das Tanzmotiv bei Walther von
32 Hierzu am Beispiel des sogenannten ‚Tanzleichs‘ Heinrichs von Sax (SMS 1) Strohschneider 1999, 210–216, Zitat 211. 33 Hübner 2012, 135. 34 Allein mit der wissenschaftlichen Betrachtung von in Liedern genannten Tanzorten, Tanzsitten oder gar Tanzformationen, von thematischen oder reimbedingten Rekurrenzen, von Motivverkopplungen oder von kontinuierlich wiederkehrenden Sprachformeln ließe sich eine umfangreiche Anthologie füllen. Eine eingehende Untersuchung hierzu steht noch aus. 35 Zum Motiv des Tanzes in der mittelhochdeutschen Erzähldichtung siehe Harding 1973 und Zimmermann 2007, insb. 155–162.
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der Vogelweide vor allem als Indikator gesellschaftlich-höfischer Freude.36 Ein frühes Beispiel für die thematische Verkopplung von Tanzfreude und vröide-Kompetenz des Minnesängers findet sich in → Reinmars Ich hân hundert tûsent herze erlôst (MF 184,31), wenn hier in radikaler Zuspitzung des Selbstbezugs37 das tanzen neben vier weiteren Ingredienzen (minneclîchiu wort, besten willen, singen, wunneclîcher trôst) als nachgerade zwangsläufig in eine freudige Stimmung versetzendes Heilmittel empfohlen wird (V, V. 5–7).38 In → Heinrichs von Morungen Kanzone Ich hôrte ûf der heide (MF 139,19) ruft sich der Sänger dagegen das Bild seiner auf der Heide singenden und tanzenden Minnedame in Erinnerung, deren Anblick sein leit in Freude verkehrt habe.39 Diese Bildlichkeit wird auch in der Folgezeit des Minnesangs immer wieder aufgegriffen und variiert: Durch die Wahrnehmung beziehungsweise Anwesenheit der Dame beim Tanz oder gar durch die gemeinsame Teilnahme am Tanz kann der Minnesänger nicht nur an der kollektiven Hochgestimmtheit partizipieren, auch sein Minneleid kann sich in Freude wandeln.40 Wie in Walthers Nemet, frowe, disen kranz (L 74,20) kann diese vröide als individuelles Liebesglück imaginiert werden. Das Tanzen als öffentliches Ereignis ist dabei Medium der Annäherung, es ist gleichsam der Hoffnung auf Liebesglück erweckende Ausgangspunkt der Begegnung im Wahrnehmungsfeld einer Tanzgesellschaft. Durch die im Motiv des Tanzes implizierte Hoffnung auf Liebeserfüllung erhält das Tanzen (neben seiner Funktion als genereller Ausdruck von vröide und hôhem muot) auf diese Weise eine sinnlich-erotische Komponente, die als Evokation über die geschilderte öffentliche Tanzszene hinausreicht. Es sind insbesondere die Lieder Neidharts und der Neidhart-Tradition, in denen dieses sinnlich-erotische Moment häufig deutlich unverhüllt oder in komischer Brechung in Szene gesetzt ist.41 Die poetische Verbindung von Tanz, Kranz und Blumenbrechen, die bereits in Walthers Nemet, frowe, disen kranz (L 74,20) programmatisch zur Tanzaufforderung 36 Walther von der Vogelweide L 102,29, II, V. 5–6: Der ist frô, swenne er ze tanze gât, | swes herze ûf êre stât; L 51,13, II, V. 1–4: Uns wil schiere wol gelingen: | wir suln sîn gemeit, | tanzen, lachen unde singen | âne dörperheit; vgl. L 124,1, II, V. 5. 37 Vgl. dazu KLEIN, 147–148. 38 Als Dichtung über Dichtkunst ist Reinmars ‚Heilmethode‘ aber vor allem eine poetologische Anleitung zur Abfassung von Minnesang; hierzu Zimmermann 2012, 73–75. 39 Ausführlich hierzu Zimmermann 2012, 75–89. 40 Vgl. etwa Heinrich von Morungen MF 139,19, I, V. 5–7: Nâch der mîn gedánc sêre ranc unde swanc, | die vant ich ze tanze, dâ si sanc. | âne leide ich dô spranc; Neidhart SL 5,3, V. 2–6: dar inne sach ich reien, | mîn liep in der linden schat. | manic blat | ir dâ wac | für den sunnenheizen tac; Tannhäuser SIEB 7, V. 29–33: Diu mir an dem herzen lit, | die sach ich so schone | an einem tanze, da si gie | wol mit eren bi den schoenen frouwen. | Ich wart fro der selben zit; Hiltbolt von Schwangau KLD 10,1: Ich wil aber der lieben singen, | der ich ie mit triuwen sanc, | ûf genâde und ûf gedingen, | daz mîn trûren werde kranc. | bî der ich alsô schône | an eime tanze gie, | ir zæme wol diu krône: | sô schœne wîp wart nie; Gottfried von Neifen KLD 14,1, V. 13–16: wir suln die fröide heien, | vil frœlîch tanzen reien. | ahî, solt ich mich zweien | mit ir diu mir mac wenden sende nôt. 41 Siehe u. a. Neidhart SL 5,1–3; Tannhäuser SIEB 11; Der von Sachsendorf KLD 6,1; Johannes Hadlaub SMS 53,9. Zur Unwahrscheinlichkeit dieser Szenarien siehe Hübner 2008, 114.
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ausgestaltet ist und die die Vorstellung von Frühlingsfreude, Tanz in freier Natur und Liebe evoziert, findet noch in der sogenannten ‚nachklassischen‘ Zeit ihren Widerhall. Das bluomen brechen zur Anfertigung eines Kranzes als Tanzschmuck bleibt dabei eine traditionell doppelsinnige Variante des deflorare-Motivs,42 ebenso wie allgemein die toposhafte Verbindung von tanz und kranz eines der häufig verwendeten Reimpaare in den sogenannten ‚Tanzliedern‘ zur Verfügung stellt.43 Umfangreichen Eingang in den Minnesang des dreizehnten Jahrhunderts findet das Tanzmotiv und mit ihm auch eine ausgefeilte Tanzterminologie mit dem Schaffen Neidharts, der die meisten thematischen, formalen und sprachlichen Innovationen in die höfische Minnelyrik einbringt und damit bis weit ins Spätmittelalter traditionsbildend ist.44 Charakteristisch für die Funktionalisierung des Tanzmotivs bei Neidhart ist zum einen – in den Sommerliedern (→ Sommer- und Winterlieder) – das Konzept der Verführung: Verschiedene, der Dörper-Welt zuzählende Figuren argumentieren über das Für und Wider des Tanzens mit dem Verführer, dem allseits begehrten Riuwentaler.45 Dieses Konzept der Verführung und des Begehrens wird durch das Thema der Mai-46 beziehungsweise Sommerfreude und die Inszenierung der Sängerfigur als
42 Neidhart SL 17,1, V. 5–10: mägede, sô man reie, | sô sît gemant | alle, | daz wir diu rôsenkrenzel | gebrechen, | soz tou dar an gevalle!; SL 17,7, V. 8–9: si bôt im bî dem tanze | ein krenzel; Tannhäuser SIEB 3, V. 5–8: Von den bluomen wolgetan | […] | der brach ich zeinem kranze. | den truoc ich mit tschoie zuo den frouwen an dem tanze; Steinmar SMS 7,2, V. 5–8: Dâ si bluomen zeinem kranze | brichet, den si zuo dem tanze | tragen wil: | dâ gekôse ich mit ir vil; Heinrich von Sax SMS 1,13, V. 4: da suln wir reien den meien, klêbluomen lesen. 43 Vgl. u. a. Walther von der Vogelweide L 74,20, IVa/V, V. 5–8; Neidhart WL 36,4, V. 1–2; Tannhäuser SIEB 2, V. 73–76; SIEB 5, V. 76–77 und V. 108–109; SIEB 11, V. 5–6; Der Wilde Alexander KLD 5,2, V. 5–6; Der Kanzler KLD 11,1, V. 11–13; Namenlos KLD a 46, V. 46–48; Der von Scharfenberg KLD 1,2, V. 3–5; Der von Stamheim KLD 1,11, V. 3–6; Ulrich von Winterstetten KLD Leich 4, V. 165–168; Oswald von Wolkenstein OSW 53,1, V. 9–10. 44 Vgl. Schweikle 1995, 91. Charakteristisch für Neidharts Tanzbezeichnungen ist eine Fülle von Neologismen und hapax legomena. Eine kurze Auseinandersetzung mit der für Neidharts Liedlyrik zentralen Tanzthematik bietet zuerst Paule 1994, 251–253; zu Neidharts Tanzterminologie siehe Harding 1968. 45 Dialoglieder: Ein Dörper-Mädchen begehrt den Tanz und den Liebesakt mit dem Riuwentaler, ihre Mutter warnt vor den Folgen (z. B. in SL 2, 6, 7, 8, 15, 16, 18, 21, 23 u. ö.); im Rollentausch will ein altiu mit dem Riuwentaler tanzen und wird entsprechend von ihrer Tochter gewarnt (z. B. in SL 1, 8); im Gespielinnengespräch (SL 10, 14, 20, 26). 46 Zahlreicher noch als der kranz-tanz-Reim ist in den Sommerliedern Neidharts und in der NeidhartTradition die Reimverbindung von meie und reie: Neidhart SL 5,3; 6,1; 14,1; 17,1; 19,3; 24,3; 25,1a; 26,1; Carmina Burana CB 137,3; Burkhard von Hohenfels KLD 7,1; Gottfried von Neifen KLD 14,1 und KLD 46,2; Der Kanzler KLD 9,2; Konrad von Kilchberg KLD 5,1 (Refrain); Der von Stamhein KLD 1,2; Ulrich von Winterstetten KLD Leich 4, V. 185 und KLD 14,2; Tannhäuser SIEB 3,4; SIEB 4,23; SIEB 14,2; Konrad von Landeck SMS 2,1; SMS 18,1; Konrad von Altstetten SMS 2,1; Heinrich von Sax SMS 1,13, V. 4; Meister Sigeher HMS II: 3,2; Oswald von Wolkenstein OSW 38,1; 47,1; 100,1 u. a.
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Regisseur einer Tanzszene gerahmt; topisch genannte Tanzorte sind dabei die Linde,47 heide und anger. Die Winterlieder Neidharts verweisen im satirischen Kontrast zur höfischen Welt indes auf das Konzept der beim Tanz eskalierenden Gewalt. Die unbeherrschten und prahlerischen Dörper-Burschen buhlen um die Mädchen, wobei nicht nur untereinander, sondern auch gegenüber den Frauen Gewalt ausgeübt wird (wenn etwa wiederholt vom gewaltsamen Spiegelraub die Rede ist)48. Die von den Burschen getragenen Tanzaccessoires wie etwa Schwerter und Sturmhauben signalisieren von vornherein Gewalt- und Kampfbereitschaft beim Tanz;49 Tanzort der Wintertänze ist die Stube.50 In einigen Liedern werden zudem verschiedene Angaben zu möglichen Tanzaccessoires, Tanzformationen oder Tanzsitten gemacht, die freilich dem modernen Interpreten aufgrund ihrer Poetizität und der offenkundigen Simulation unwahrscheinlicher Tanzszenarios allenfalls vage Rückschlüsse auf mögliche Tanzpraktiken gestatten.51 Es ist hingegen zu vermuten, dass allein die Betrachtung der Tanzmotivik beim Tannhäuser, bei Ulrich von Winterstetten, → Burkhard von Hohenfels oder Gottfried von Neifen etwas zu erkennen gibt, was über die bloße Zuordnung zur NeidhartDiktion hinaus als spezifisches „Autorsignum“ bestimmbar wäre – dies gilt es allerdings noch genauer nachzuweisen.52
4 Fazit Im Minnesang sind performative Evokationen des Tanzes – sei es in der poetisch inszenierten Tanzaufforderung, in der Beendigung des Liedes als Beendigung des Tanzes oder in der Präsentation eines Ich als Tanzlied-Singender – ausgenommen vielfältig. Nachgerade explosionsartig Eingang in den Minnesang des dreizehnten Jahrhunderts finden Diskursivierungen von Tanz mit dem Schaffen Neidharts, der als einer der wohl originellsten Sänger seiner Zeit motivische, formale und (tanz-) terminologische Innovationen in den höfischen Minnesang einfließen lässt. Tanzen ist eines der wichtigsten Motive in Neidharts Liedcorpus – wie kaum ein anderer
47 Neidhart SL 5,3; 17,4; 14,2; 23,5a; WL 8,1; Tannhäuser SIEB 1, V. 97; SIEB 4, V. 103 und 131; Gottfried von Neifen KLD 50,1, V. 5–6; Der Kanzler KLD 6,9; Heinrich von Sax SMS 1,13, V. 3–4; Goeli SMS 2,1, V. 11 u. a. 48 Neidhart WL 14,2; 15,2; 18,3; 26,5; 30,8; 31,7; 34,5 u. a. 49 Schwert beim Tanz: Neidhart WL 4,5; 11,5–7b; 13,5; 32,7a; 34,4d; Konrad von Würzburg SCHR 2, V. 35–38; Goeli SMS 1,2–6; SMS 2,3–4; SMS 3,2. Sturmhaube: Neidhart WL 11,4; Goeli SMS 1,3. 50 Neidhart WL 4,2–3; 12,4; 14,1a; 18,2; Burkhard von Hohenfels KLD 1,1; KLD 11,2; Ulrich von Winterstetten KLD Leich 3,5, V. 101–102. 51 Aufführungsspuren von Tanz in Schrift und Bild sucht die Studie von Shields 2012. 52 Für die Leichs des Tannhäuser vermutet dies bereits Paule 1994, 142–143, Zitat 142. Der Artikel von Stock zu → Burkhard von Hohenfels und Gottfried von Neifen legt diese Vermutung ebenfalls nahe, ohne dies freilich systematisch im Blick auf die Tanzmotivik anzuvisieren.
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Dichter bietet er ein überaus facettenreiches Bild davon. Auch wenn die durch Neidhart geprägte Topik von Verführung, von teils derber Erotik oder von eskalierender Gewalt beim Tanz ebenso wie die schon bei Reinmar, Walther von der Vogelweide oder Heinrich von Morungen aufscheinende semantische Verkopplung von Minneleid und Tanzfreude noch den späten Minnesang prägen, machen diese Diskursivierungen von Tanz im Lied dennoch keine klaren Praktiken des Gesangs zum Tanz oder gar eine eindeutig zu bestimmende Subgattung ‚Tanzlied‘ erkennbar. Aus diesem Grund ist der Gattungsbegriff ‚Tanzlied‘ durchaus problematisch, da er sich auf thematische und motivische Rekurrenzen bezieht und nicht auf eine gesellschaftliche Vollzugsform oder gar einen eigenen Liedtypus. Von der poetischen Simulation des Tanzes im Lied führt mithin kein Weg zurück zum Tanzlied.53
Literatur Karl Bertau: Sangverslyrik. Über Gestalt und Geschichtlichkeit mittelhochdeutscher Lyrik am Beispiel des Leichs. Göttingen 1964 (Palaestra 240). Horst Brunner: Hinweis auf das Runkelsteiner Tanzlied. In: Ders.: Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Berlin 2008 (PhStQ 210), 264–271. Joachim Bumke: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München 21993 (Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter 2). Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 81997. Reinhold Hammerstein: Von gerissenen Saiten und singenden Zikaden. Studien zur Emblematik der Musik. Tübingen u. a. 1994. Ann Harding: Neidhart’s Dance Vocabulary, and the Problems of a Critical Text. In: Probleme mittelalterlicher Überlieferung und Textkritik. Oxforder Colloquium 1966. Hg. von Peter F. Ganz und Werner Schröder. Berlin 1968, 145–161. Ann Harding: An Investigation into the Use and Meaning of Medieval German Dancing Terms. Göppingen 1973 (GAG 93). Oliver Huck: „Tanzmusik“ im Mittelalter. In: Das mittelalterliche Tanzlied (1100–1300). Lieder zum Tanz – Tanz im Lied. Hg. von Dorothea Klein, zusammen mit Brigitte Burrichter und Andreas Haug. Würzburg 2012 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 37), 11–29. Gert Hübner: Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung. Tübingen 2008 (Narr-Studienbücher). Gert Hübner: Gesang zum Tanz im Minnesang. In: Das mittelalterliche Tanzlied (1100–1300). Lieder zum Tanz – Tanz im Lied. Hg. von Dorothea Klein, zusammen mit Brigitte Burrichter und Andreas Haug. Würzburg 2012 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 37), 111–136. Ewald Jammers: Studien zur Tanzmusik des Mittelalters. In: Archiv für Musikwissenschaft 30 (1973), 81–95. Beate Kellner: Spiel der Liebe im Minnesang. Paderborn 2018. Michael Klaper: Zwischen Tanzlied und ‚grand chant‘: Überlegungen zum Refrainprinzip im französischen Lied um 1300. In: Das mittelalterliche Tanzlied (1100–1300). Lieder zum Tanz – Tanz im Lied. Hg. von Dorothea Klein, zusammen mit Brigitte Burrichter und Andreas Haug. Würzburg 2012 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 37), 31–49.
53 Vgl. Wyss 2012, 6.
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Anna Kathrin Bleuler
Sommer- und Winterlieder ‚Sommer‘- und ‚Winterlied‘ sind keine mittelalterlichen Gattungsbegriffe, sondern im neunzehnten Jahrhundert eingeführte Bezeichnungen für die beiden Liedtypen, aus denen sich das Œuvre des späthöfischen Minnesängers → Neidhart (erste Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts) zusammensetzt. Gelegentlich werden die Bezeichnungen auch für Lieder verwendet, die unter anderen Autornamen überliefert und in Neidharts ‚Stil‘ verfasst sind, indem sie den → Natureingang mit der für Neidhart kennzeichnenden dörper-Thematik verbinden. Auch wenn keine mittelalterlichen Gattungsbezeichnungen für Neidharts Œuvre vorliegen,1 liefert die Anordnung der Lieder in den Handschriften doch einen Hinweis darauf, dass diese bereits damals als Typen gewertet wurden. Denn in den meisten mittelalterlichen Neidhart-Sammlungen sind die Lieder zumindest der Tendenz nach nach ihren sommerlichen und winterlichen Natureingängen geordnet (u. a. in Handschrift R, Ende des dreizehnten Jahrhunderts, Niederösterreich).2 Handschrift c (entstanden zwischen 1461 und 1466, vermutlich in Nürnberg) weist dieses Anordnungsprinzip sogar durchgängig und nahezu ohne Abweichung auf.3 Dieser Unterscheidung folgend führte von Liliencron (1848) die Bezeichnung ‚Sommer‘- und ‚Winterlieder‘ für Neidharts Œuvre ein.4 Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Neidharts Sommer- und Winterlieder in der Tradition des zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts im deutschen Sprachraum etablierten Minnesangs stehen. Die Neuerung indes besteht weniger darin, dass eine neue Auffassung von höfischer Liebe entwickelt würde, als vielmehr in der Thematisierung der im Minnesang zu der Zeit etablierten Leitbegriffe, Handlungsmuster, Rollenkonstellationen und Interaktionsformen aus einer Gegenposition: Das Minnegeschehen wird ins ländlich-bäuerliche Milieu der dörper (neuhochdeutsch: ‚Dorfbewohner‘, mittelhochdeutsches Lehnwort aus dem Flämischen) verlagert und von hier aus neu konturiert und zur Disposition gestellt. Ein Großteil der Sommer- und Winterlieder weist wiederkehrende Grundsituationen, Handlungsmuster und Figuren auf; oftmals sind die Lieder mittels Querverweisen miteinander verknüpft. Im Zentrum der Winterlieder steht zumeist das männliche Ich, ein Sänger, der in einigen Liedern als ‚Ritter von Riuwental‘, in anderen (vor allem aus der Gegenperspektive der dörper) als ‚Neidhart‘ bezeichnet wird. Dieser liedinterne, fiktive Sänger wirbt mit seinem Gesang und seiner höfischen Verhaltenskompetenz um die dörper1 Abgesehen von der Bezeichnung ein Neithart, die sich in der Überlieferung des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts für Lieder mit Neidhart-spezifischen Themen eingebürgert hat. 2 Vgl. Bennewitz-Behr 1987, 44; Bleuler 2008, 37. 3 Vgl. Becker 1978, 96. 4 Vgl. von Liliencron 1848, 79. https://doi.org/10.1515/9783110351859-032
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Mädchen und gerät so in Konkurrenz und Feindschaft zu den dörpern, was oftmals in Gewalt ausartet. Die Feindschaft zwischen dem Ritter und den dörpern kann – dies ist vor allem für die späte Überlieferung zu verzeichnen – schwankhaft-burleske Züge annehmen. Die Sommerlieder schildern das Geschehen aus weiblicher Perspektive, wobei der hohe Gesprächsanteil von Frauen neu für die mittelhochdeutsche Lyrik ist. Es sprechen Mütter, Töchter und Freundinnen untereinander; die Grundsituation ist stets dieselbe: Ein Mädchen will zum Tanz unter der Linde, um von dort aus mit dem Vorsänger der Veranstaltung, dem Ritter von Riuwental, aus der Dorfgemeinschaft auszubrechen. Mutter beziehungsweise Freundinnen versuchen, das Mädchen davon abzuhalten (in manchen Liedern findet ein Rollentausch zwischen Mutter und Tochter statt); es kommt zum Streit, der handgreiflich enden kann. Daneben sind unter Neidharts Namen Lieder mit winterlichem oder sommerlichem Natureingang überliefert, die die Dörperthematik nicht beziehungsweise nur ansatzweise enthalten. Hierzu gehören Lieder, die Kritik an politischen und gesellschaftlichen Zuständen üben; ferner solche, die Reflexionen des lyrischen Ich über das Singen und die Bedingungen für dessen Erfolg enthalten, sowie solche, die ‚klassische‘ minnesängerische Elemente affirmativ integrieren. Seit von Liliencron sind in der Forschung mehrere Versuche unternommen worden, die Einteilung in Sommer- und Winterlieder zu differenzieren und zu spezifizieren. Hierzu gehören die Typologien von Ortmann, Ragotzky, Rischer (1976), Ruh (1986), Schweikle (1990) und von mir selbst (Bleuler 2008). Gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass sie von der Unterscheidung zwischen Sommer- und Winterliedern ausgehen und bei der Typisierung des Materials induktiv verfahren, indem sie versuchen, konstituierende Merkmale der Lieder zu bestimmen und in Korrelation miteinander zu bringen. Ortmanns, Ragotzkys, Rischers (1976) sowie Ruhs (1986) Typologien gelten heute als veraltet, vor allem deshalb, weil sie Neidharts Lieder ausschließlich vor der Folie des ‚klassischen‘ Minnesangs interpretieren.5 Diese Vorgehensweise hat zum einen zur Folge, dass die Lieder der Vergleichsgröße ‚klassischer Minnesang‘ in unzulässiger Vereinfachung auf ein Schema reduziert werden, und zum anderen, dass in Bezug auf Neidharts Œuvre zwar die ‚gegensängerischen‘ Elemente profiliert werden, andere Aspekte jedoch unberücksichtigt bleiben. Dieses Analysedefizit betrifft insbesondere die Sommerlieder, für die bereits im neunzehnten Jahrhundert festgestellt wurde,6 dass ein Großteil davon neben den minnesängerischen Merkmalen auch solche Merkmale aufweist, die sie sowohl von den Winterliedern als auch von den Liedern des Hohen Minnesangs abheben. Solche Aspekte, die für die poetische Konzeption der Sommerlieder konstitutiv sind (siehe dazu unten), fallen in besagten Typologien gänzlich durch das am Hohen Sang orientierte Raster.7 5 Vgl. Bockmann 2001, 134; Bleuler 2008, 2. 6 Vgl. von Liliencron 1848. 7 Vgl. Bleuler 2008, 2.
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Prägend für die Neidhart-Forschung der letzten Jahrzehnte war die von Schweik le (1990) auf der Basis der ATB-Ausgabe vorgenommene Typisierung der Lieder Neidharts. Diese erfolgt nicht so unmittelbar auf den Hohen Minnesang bezogen, wie es bei seinen Vorgängern der Fall ist, sondern es werden sowohl für die Sommer- als auch für die Winterlieder jeweils spezifische Merkmale herausgearbeitet. Hinzu kommt, dass die klassische Einteilung in diese beiden Typen bei Schweikle um zwei Kategorien erweitert ist: die „Sondergattungen“ und die „besonderen Strophentypen“.8 Hier vereint Schweikle Lieder und Strophen, die seiner Ansicht nach von den Sommerund Winterliedern grundsätzlich abweichende Elemente aufweisen, wie die Kreuzzugs- und Reiselieder (u. a. SL 11, SL 12 – SNE I: R 12, R 19; WL 37 – SNE I: C 192–194), die Schwanklieder (u. a. SNE II: c 17), das Herbstlied (Neidharts Fraß beziehungsweise Neidharts Gefräß; SNE II: s 15), die Bittstrophen (u. a. WL 23,12 – SNE I: c 123,12/d 3,12; WL 35,7 – SNE I: C 10/c 93,14), die Bilanzstrophen (WL 28,6 – SNE I: c 88,5; SNE II: c 90,12) sowie die Trutzstrophen (u. a. SNE II: c 39,15; WL 6,5a – SNE I: R 42,6). Die Strukturierung des restlichen Liedguts erfolgt auf der Basis folgender Kriterien: 1. formale Kriterien: Lieder aus Reien-, Stollen- und Periodenstrophen; 2. strukturale Kriterien: Monologe (lyrische [Gefühls-]Aussprachen), Dialoge, Szenenlieder (weitgehend statische Darstellungen), Erzähl- oder Berichtslieder (genre objectif); 3. kennzeichnende Personen: Frauen-(Mutter-Tochter- und Gespielinnen-)Lieder, Sängerlieder und dörper-Lieder (darunter die Engelmâr- oder Friderûn-Lieder); 4. Intentionen: in der Minnesangtradition stehende Preis- und Klagelieder sowie komische, parodistische und satirische Lieder; 5. Grundstimmungen: Lieder, in denen Sommerfreude und Lebensbejahung oder aber Resignation, Pessimismus und ‚Weltmüdigkeit‘ thematisiert sind.9 Für die Sommerlieder definiert Schweikle das strukturale Kriterium der Gesprächssituation als dominant-kennzeichnendes Element und gelangt so zu einer Einteilung des Liedguts in ‚Dialog‘- und ‚Monologlieder‘. Eine Binnendifferenzierung der → Dialoglieder erfolgt auf der Basis der Sprecheridentität (Mutter/Tochter/Gespielin/Sänger) und der Monologlieder auf der der Kategorien ‚Intention‘ und ‚Grundstimmung‘.10 Auf diese Weise gelangt Schweikle zu folgender Einteilung der Sommerlieder: 1. Dialoglieder 1.1 Mutter-Tochter-Gesprächslieder (u. a. SL 2 – SNE I: C 222–226, SL 6 – SNE I: C 260a–265, SL 7 – SNE I: C 266–271, SL 15 – SNE I: R 22, SL 16 – SNE I: R 23, SL 18 – SNE I: R 56, SL 19 – SNE I: R 25, SL 23 – SNE I: R 53, SNE II: c 36, 38, 58, 66) 1.2 Gespielinnen-Gesprächslieder (u. a. SL 10 – SNE I: R 11, SL 14 – SNE I: R 15, SL 20 – SNE I: R 48, SL 24 – SNE I: R 57, SL 25 – SNE I: R 58, SL 26 – SNE I: R 54, SNE II: c 48, 61) 1.3 Sänger-Mädchen-Dialoge (u. a. SNE II: c 7)
8 Schweikle 1990, 87–97. 9 Vgl. Schweikle 1990, 69. 10 Schweikle 1990, 72–80.
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2. Monologlieder 2.1 Sommerpreislieder (u. a. SL 3 – SNE I: C 237–239, SL 4 – SNE I: C 245–248, SL 5 – SNE I: C 258–260, SL 13 – SNE I: R 49/R14, SNE II: c 15) 2.2 Pastourellenartige Lieder (u. a. SNE II: c 7, 73) 2.3 Minnelieder (u. a. SL 30 – SNE I: R 37) 2.4 Zeit- und Weltklagen (u. a. SL 27 – SNE I: R 8, SL 28 – SNE I: R 10, SL 29 – SNE I: R 55) 2.5 Dörperliche Sommerlieder (u. a. SL 22 – SNE I: R 52).
Bei den Winterliedern sind es wie bei den sommerlichen Monologliedern die ‚Intention‘ und die ‚Grundstimmung‘, die als dominante Kriterien für die Typisierung fungieren. Dabei gelangt Schweikle zu einer Einteilung in zwei Gruppen – in eine mit Liedern, in denen die dörper-Thematik im Vordergrund steht, und in eine mit solchen, in denen das Thema der Klage (Zeitklage, Weltklage, Minneklage) dominiert und die dörper-Thematik eine untergeordnete Bedeutung hat beziehungsweise gar nicht vorkommt. Für die winterlichen dörper-Lieder nimmt Schweikle eine weitere Unterteilung vor, indem er zwischen Liedern unterscheidet, in denen der Sänger in das ‚dörperTreiben‘ integriert ist (u. a. als Sänger, als Tanzaufrufer, als Liebender), und solchen, in denen er davon ausgeschlossen ist beziehungsweise in denen die dörper versuchen, ihn zu verdrängen. Aus dieser zweiten Gruppe sondert er wiederum die Lieder aus, die vom ‚Spiegelraub‘ an Friderûn handeln, indem sie diesen beklagen, erinnern oder ihn als Anlass für die dörper-Schelte nehmen. Hier eine Übersicht: 1. dörper-Lieder 1.1 dörper-konforme Lieder (u. a. WL 1–10 – SNE I: R 35, 36, 27, 33, 34, 42, 30, 31, R 17/R 43, R 16) 1.2 dörper-kontroverse Lieder (u. a. WL 11 – SNE I: R 28, WL 12 – SNE I: R 45, WL 13 – SNE I: R 3, WL 15 – SNE I: C 240–244, WL 16 – SNE I: R 26, WL 18 – SNE I: R 29, WL 19 – SNE I: R 39, WL 20 – SNE I: R 47, WL 22 – SNE I: R 5) 1.3 Die Friderûn-Lieder (u. a. WL 14 – SNE I: R 7, WL 22 – SNE I: R 5, WL 23 – SNE I: R 24, WL 28 – SNE I: R 13, WL 34 – SNE I: R 40) 2. Sogenannte Werltsüeze-Lieder (Alterslieder) (u. a. WL 28 – SNE I: R 13, WL 30 – SNE I: R 20, WL 34 – SNE I: R 40, SNE II: c 13, 45).
Insgesamt will Schweikle seine Liedtypologie nicht als ein starres System verstanden wissen, sondern er macht auf den durch die lebendige Rezeption bedingten ephemeren Charakter von Neidharts Gattungen aufmerksam. Ein Kennzeichen dieses prozesshaften Grundzugs von Neidharts Lyrik ist – so Schweikle – das (textgeschichtlich betrachtet) zunehmende Vorkommen von Realitätsdetails wie Personen- und Ortsnamen, die zur poetischen Ausgestaltung der dörper-Welt beitragen. Auch Schweikles Typologie wurde in jüngerer Zeit grundlegend kritisiert.11 Hauptsächlicher Kritikpunkt ist die ATB-zentrierte Perspektive auf Neidharts Œuvre, die z. B. dazu führt, dass die Schwanklieder, die zwar in der ATB-Ausgabe fehlen, aber 11 Vgl. Bleuler 2008.
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auf die gesamte Überlieferung hin gesehen einen nicht unbeträchtlichen Teil von Neidharts Werk ausmachen, zu den ‚Sondergattungen‘ gezählt werden. Allein schon unter quantitativem Gesichtspunkt erscheint diese Zuordnung als nicht gerechtfertigt. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft generell die Zuordnung mancher Lieder und Liedgruppen zur Kategorie der ‚Sondergattungen‘. Der Nachteil davon ist, dass dadurch Texte wie die Kreuzzugslieder vom Rest der Sommer- und Winterlieder isoliert werden, was zur Folge hat, dass konstitutive Bezüge zu Neidharts Sommer- und Winterliedern in Schweikles Beschreibung unberücksichtigt bleiben.12 Eine Typologie der Lieder Neidharts, welche die genannten Kritikpunkte berücksichtigt, muss in mehrfacher Hinsicht neu ansetzen. In meiner Dissertation ‚Überlieferungskritik und Poetologie‘ (Bleuler 2008) habe ich einen solchen Versuch für die Sommerlieder der Handschrift R unternommen. Ich komme dabei zu einer grundsätzlich anderen Einteilung als Schweikle. Die Prämissen meines Vorgehens sind folgende: Ausgegangen wird von der zuletzt von Worstbrock (2001) vertretenen These, wonach die Sommer- und Winterlieder zwei verschiedenartige ‚Prätexte‘13 reflektieren: die Winterlieder das leit-zentrierte Minnekonzept des Hohen Sangs und die Sommerlieder die vreude-fixierte Konzeption einer unbezeugten, neben dem Hohen Minnesang wirksamen volkssprachlichen Lieddichtung, von der Überreste in den deutschen Begleitstrophen der Carmina Burana zu finden sind.14 Für die Sommerlieder lässt sich im Abgleich mit den ‚deutschen‘ Carmina Burana ein einfaches poetologisches Muster definieren, das beiden Dichtungstypen zugrunde liegt und sich in der Verbindung folgender Merkmale manifestiert: Konstruktionsprinzip der Sommerlieder (Liedtypus I): Liedaufbau
1. Thema
2. Thema
3. Thema
Strophenform
Reienstrophe
Themen
Naturdarstellung
Freude-/Tanz-Appell (Adressaten: junge Leute)
nur bei Neidhart:15 Mädchenrede (Tanzwunsch/Klage)
Tempus
Sommer: Präsens Winter: Präteritum
Präsens
Präteritum
12 Vgl. Bleuler 2008, 23. 13 Vgl. Worstbrock 2001, 87–88. 14 Vgl. Worstbrock 2001, 89. 15 Der dritte Themenabschnitt, die für Neidharts Sommerlieder typischen Frauendialoge, begegnet weder in den ‚deutschen‘ Carmina Burana noch sonst irgendwo in der mittelalterlichen Lyrik vor Neidharts Zeit. Dieser Abschnitt dürfte zu Neidharts kreativer Eigenleistung gehören (vgl. Bleuler 2008, 26).
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Die Grundform besteht aus Liedern, die den Typus der Reienstrophe aufweisen und thematisch aus den drei strukturell unterschiedlichen Liedteilen ‚Naturdarstellung‘, ‚Freude-/Tanz-Appell‘ und ‚Tanzwunsch/Klage des Mädchens‘ bestehen. Für das erste Thema, die ‚Naturdarstellung‘, ist kennzeichnend, dass die Beschreibung der sommerlichen Natur im Präsens erfolgt und die Zeitform des Präteritums in Verbindung mit dem Kontrastbild des Winters als der vergangenen Jahreszeit steht; ferner ist kennzeichnend, dass die Sprecheridentität nicht markiert ist. Das zweite Thema, der ‚Freude-/Tanz-Appell‘, zeichnet sich dadurch aus, dass sich ein wiederum unbestimmter Sprecher beziehungsweise eine unbestimmte Sprecherin in präsentischer Rede an ein Kollektiv junger Leute richtet und dieses zu Freude und Tanz auffordert. Das appellative Moment kann sich dabei auf eine implizite Andeutung beschränken (SL 10 – SNE I: R 11, SL 20 – SNE I: R 48, SL 21 – SNE I: R 51). Das dritte Thema, ‚Tanzwunsch/Klage des Mädchens‘, geht sodann mit einem Wechsel in die Berichtsperspektive einher, die einen Tempuswechsel ins Präteritum sowie eine Spezifizierung der Sprecheridentität mit sich bringt. Der Argumentationsgang entwickelt sich in diesem Liedteil aus der Rede eines Mädchens, unabhängig davon, ob diese als Monolog (SL 13 – SNE I: R 49/R 14, SL 24 – SNE I: R 57), als Gespielinnen- (SL 10 – SNE I: R 11, SL 20 – SNE I: R 48) oder als Mutter-Tochter-Dialog (SL 16 – SNE I: R 23, SL 19 – SNE I: R 25, SL 21 – SNE I: R 51, SL 23 – SNE I: R 53) gestaltet ist. Das Anliegen des Mädchens kann dabei entweder als Wunsch, am Tanzvergnügen teilzunehmen (SL 10 – SNE I: R 11, SL 16 – SNE I: R 23, SL 19 – SNE I: R 25, SL 20 – SNE I: R 48, SL 21 – SNE I: R 51, SL 23 – SNE I: R 53, SL 24 – SNE I: R 57), oder als Klage über das herrschende Tanz- und Freudeverbot geäußert werden (SL 13 – SNE I: R 49/R 14). Weitere Prämissen meiner Typologisierung der Sommerlieder sind: Die Typisierung des Textbestands erfolgt nicht wie bei Schweikle auf der Beschreibungsebene der Gesprächssituation (Monolog/Dialog; Sprecheridentität), sondern auf der Basis der das dreiteilige Konstruktionsprinzip kennzeichnenden Merkmale: Strophenform, Themenaufbau, Tempusstruktur. Textgrundlage ist nicht die ATB-Ausgabe, sondern die handschriftliche Überlieferung der Lieder in der Handschrift R, wobei alle Lieder mit sommerlichem Natureingang einbezogen werden, auch die aus Schweikles Typologie ausgeschlossenen → Kreuzlieder, Zeit- und Weltklagen. In den Blick genommen wird zudem die Textgeschichte der Sommerlieder der Handschrift R. Ziel ist es hierbei, den in der Forschung vielfach besprochenen prozesshaften Charakter mittelalterlicher Gattungen in Bezug auf die Sommerlieder Neidharts herauszuarbeiten. Für die Sommerlieder der Handschrift R gelange ich auf diese Weise zu folgender Einteilung: 1. Liedtypus I: Dreiteiliges Konstruktionsprinzip 1.1 Grundform (SL 10 – SNE I: R 11, SL 13 – SNE I: R 49/R 14, SL 16 – SNE I: R 23, SL 19 – SNE I: R 25, SL 20 – SNE I: R 48, SL 21 – SNE I: R 51, SL 23 – SNE I: R 53, SL 24 – SNE I: R 57) 1.2 Variationsformen 1.2.1 Reduktionsformen (SL 13 – SNE I: R 49/R 14, SL 18 – SNE I: R 56, SL 25 – SNE I: R 58) 1.2.2 Expansion des dritten Liedteils (SL 17 – SNE I: R 50)
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1.2.3 Abweichung der Strophenform (SL 14 – SNE I: R 15 und SL 26 – SNE I: R 54) 1.2.4 Thematische Abweichung des dritten Liedteils und Variation des Tempusgebrauchs (SL 22 – SNE I: R 52 und SL 12 – SNE I: R 19) 1.2.5 Thematische Abweichung und Vertauschung der Liedteile (SL 15 – SNE I: R 22) 1.2.6 Thematische Abweichung des dritten Liedteils und Expansion der Themenstruktur (SL 27 – SNE I: R 8)
Zum Liedtypus I werden 18 der insgesamt 23 in R überlieferten Sommerlieder gezählt. Bei diesen 18 Liedern wird unterschieden zwischen der oben beschriebenen Grundform und verschiedenen Variationsformen. Hierbei handelt es sich um Texte, die zwar grundsätzlich mit dem dreiteiligen Konstruktionsprinzip des Liedtypus I übereinstimmen, jedoch einzelne von der Grundform abweichende Merkmale aufweisen. Solche Abweichungen können sein: erstens das Fehlen eines Liedteils (Reduktionsformen), zweitens die thematische Expansion eines Liedteils (SL 17 – SNE I: R 50: auf das Thema ‚Tanzwunsch des Mädchens‘ folgt das Thema ‚Tanzwunsch der Mutter‘), drittens die Verwendung einer abweichenden Strophenform (SL 14 – SNE I: R 15 und SL 26 – SNE I: R 54: stolliger Strophenbau, der mit einer Verdichtung thematischmotivischer Merkmale des Hohen Minnesangs einhergeht) und viertens die thematische Abweichung eines der Liedteile (z. B. SL 22 – SNE I: R 52, dritter Liedteil: Bericht über eine Tanzveranstaltung; SL 12 – SNE I: R 19, dritter Liedteil: Kommunikation mit einem imaginären Boten). Die thematische Abweichung eines Liedteils kann zudem mit einer Variation des Tempusgebrauchs (SL 22 – SNE I: R 52 und SL 12 – SNE I: R 19), einer Vertauschung der Liedteile (SL 15 – SNE I: R 22) oder mit einer Expansion der Themenstruktur korrelieren (SL 27 – SNE I: R 8). Neben dem Liedtypus I gibt es in Handschrift R eine kleine, in sich heterogene Gruppe von fünf Sommerliedern, deren poetologische Konzeption sich nicht über das Merkmal der Variation fassen lässt, da diese Lieder auf anderen Lyrikkonzepten basieren und lediglich vereinzelte Merkmale des Liedtypus I aufweisen.16 16 Auf den für die Typologie maßgeblichen Beschreibungsebenen von Themenaufbau, Tempusstruktur und Strophenform lassen sich diese fünf Lieder ihrerseits in zwei Gruppen einteilen, die als Liedtypen II und III bezeichnet werden. Mit dieser Bezeichnung wird nicht der Anspruch auf eine umfassende Typenbeschreibung erhoben (hierfür ist die Textbasis zu schmal); vielmehr soll damit einerseits die grundsätzliche Andersartigkeit dieser Lieder sichtbar gemacht werden. Andererseits soll durch die Beschreibung dieser Lieder in Relation zum Liedtypus I die Möglichkeit geschaffen werden, ihre Position im Bezugsfeld von Neidharts Sommerliedern der Handschrift R zu bestimmen. Zum Liedtypus II werden SL 11 (SNE I: R 12), SL 29 (SNE I: R 55) und SL 9 (SNE I: R 9) gezählt. Diese Lieder zeichnen sich gegenüber den Liedern des Typus I durch eine kontinuierliche Entfaltung des Gedankengangs aus, bei dem ein Thema jeweils direkt an das vorausgehende anschließt und die Strophen durch grammatische Verknüpfungen eng zusammengehalten werden. Ein Tempuswechsel innerhalb des Liedes findet nicht statt; die Rede ist durchgehend im Präsens als zum Sprechzeitpunkt andauernd gestaltet. Die vom Liedtypus I abweichende Themenstruktur ist formal mit einer abweichenden Strophenform, nämlich der Periodenstrophe, verbunden. Die Verwendung dieses Strophentypus verweist auf die frühhöfische Minnelyrik als konzeptionellen Bezugspunkt, denn sie
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Betrachtet man die Liedtypen der Handschrift R aus textgeschichtlicher Perspektive,17 zeigt sich, dass der Überlieferungsprozess tendenziell mit einem Komplexitätsverlust der Lieder des Typus I einhergeht.18 So werden Strukturbrüche, die in den R-Liedern durch die Konfrontation von Merkmalen unterschiedlicher Liedgattungen erzeugt werden, im Überlieferungsprozess oftmals nivelliert, wodurch z. B. die Voraussetzung für das unerwartete Umschlagen von höfischer in gegenhöfische Rede wegfällt, das in R als Stilmittel zur Schöpfung von Pointen dient. Zum Komplexitätsverlust des Liedtypus I in den jüngeren Überlieferungszeugen trägt ferner bei, dass dort deiktische Sprachgesten (wie loset, hoeret, nv nemt des war), die der Rede Mehrfachgerichtetheit und Ambiguität einschreiben, zumeist getilgt sind. Die komplexe Verweisstruktur zwischen interner Figurenrede und externer Kommunikationssituation (Sänger/Publikum) weicht dort oftmals einer textimmanent organisierten Referenzialisierung der Rede. Nicht zuletzt ist festzustellen, dass die jüngeren Handschriften (insbesondere des fünfzehnten Jahrhunderts) eine Angleichung der poetologischen Konzeption des Sommer- und Winterlied-Genres zu erkennen geben. Diese ist auf eine inhaltlich einseitige Ausbreitung der (Winterlied-)Thematik der dörper-Feindschaft zurückzuführen, welche die Textgestalt beider Genres erfasst hat. So handelt es sich bei den zwei einzigen Sommerliedern der Handschrift R, die im Überlieferungsprozess großräumige Expansionen erfahren haben (R-c-Versionen von SL 22 – SNE I: R 52 und SL 27 – SNE I: R 8), gerade um jene, die Anknüpfungsmöglichkeiten für die Ausformulierung des Konflikts zwischen dem höfischen Ritter/Sänger und den rüpelhaften dorff gepawern bieten. Die gattungspoetologische Untersuchung müsste in mehrfacher Hinsicht ergänzt werden: Einerseits müsste man die nicht in Handschrift R enthaltenen Sommerlieder einbeziehen. Zur Typisierung dieses Textbestands würden sich die Beschreibungskategorien des dreiteiligen Konstruktionsprinzips (Strophenform, Themenaufbau, Tempusstruktur) ebenfalls anbieten, denn die Durchsicht des Materials zeigt, dass dieses auch einem Großteil der Sommerlieder der anderen Handschriften zugrunde liegt. Andererseits müsste eine Typologie der Winterlieder Neidharts vorgenommen werden, die die Kritik, die an den bisherigen Typologien geübt wurde, berücksichtigt. begegnet in erster Linie bei Minnesängern der Frühphase beziehungsweise der ersten Hochphase (z. B. bei Friedrich von Hausen, Heinrich von Veldeke oder Rudolf von Fenis). Zum Liedtypus III werden SL 28 (SNE I: R 10) und SL 30 (SNE I: R 37) gezählt, in denen sich dagegen Merkmale des Hohen Minnesangs verdichten. Die Themenstruktur dieser beiden Texte zeichnet sich dadurch aus, dass die Liedaussagen kontrastiv-parallel zur einleitend angekündigten Sommerfreude gesetzt sind. Ganz in hochminnesängerischem Stil kommt dem Jahreszeitentopos hier eine symbolische Funktion zu, indem die Freudlosigkeit des erfolglosen Minnedieners vor der Kontrastfolie des ankommenden Sommers und der damit in eins gesetzten Freude der Gesellschaft konturiert wird. Die abweichende Themenstruktur ist formal mit der für den Hohen Sang typischen Stollenstrophe verbunden. 17 Vgl. Bleuler 2008, 250–306. 18 Vgl. Bleuler 2008, 324–326.
Sommer- und Winterlieder
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Eine solche könnte bei Worstbrocks Überlegungen zur Gattungspoetologie (Worstbrock 2001) ansetzen, aber auch ältere, von typologischem Interesse angeleitete Arbeiten zu den Winterliedern (Titzmann 1971, Müller 1986) einbeziehen. Und schließlich wären auch die Lieder, die unter anderen Autornamen überliefert und in Neidharts ‚Stil‘ verfasst sind, zu berücksichtigen (u. a. die → Burkhards von Hohenfels, Goelis, Geltars, → Johannes Hadlaubs, Konrads von Kirchberg, → Steinmars und des Talers).
Literatur Hans Becker: Die Neidharte. Studien zur Überlieferung, Binnentypisierung und Geschichte der Neidharte der Berliner Handschrift germ. fol. 779(c). Göppingen 1978 (GAG 255). Ingrid Bennewitz-Behr: Original und Rezeption. Funktions- und überlieferungsgeschichtliche Studien zur Neidhart-Sammlung R. Göppingen 1987 (GAG 437). Anna Kathrin Bleuler: Überlieferungskritik und Poetologie. Strukturierung und Beurteilung der Sommerlieder Neidharts auf der Basis des poetologischen Musters. Tübingen 2008 (MTU 136). Jörn Bockmann: Translatio Neidhardi. Untersuchungen zur Konstitution der Figurenidentität in der Neidhart-Tradition. Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos 61). Rochus von Liliencron: Über Neidharts höfische Dorfpoesie. In: ZfdA 6 (1848), 69–117. Jan-Dirk Müller: Strukturen gegenhöfischer Welt: Höfisches und nicht-höfisches Sprechen bei Neidhart. In: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983). Hg. von Gert Kaiser und dems. Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), 409–453. Christa Ortmann, Hedda Ragotzky und Christelrose Rischer: Literarisches Handeln als Medium kultureller Selbstdeutung am Beispiel von Neidharts Liedern. In: IASL 1 (1976), 1–29. Kurt Ruh: Neidharts Lieder. Eine Beschreibung des Typus. In: Neidhart. Hg. von Horst Brunner. Darmstadt 1986 (WdF 556), 251–273. Günther Schweikle: Neidhart. Stuttgart 1990 (SM 253). Michael Titzmann: Die Umstrukturierung des Minnesang-Sprachsystems zum ‚offenen‘ System bei Neidhart. In: DVjs 45 (1971), 481–514. Franz Josef Worstbrock: Der Überlieferungsrang der Budapester Minnesang-Fragmente. Zur Historizität mittelalterlicher Textvarianz. In: Wolfram-Studien 15 (1998), 114–142. Franz Josef Worstbrock: Verdeckte Schichten und Typen im deutschen Minnesang um 1210–1230. In: Fragen der Liedinterpretation. Hg. von Hedda Ragotzky, Gisela Vollmann-Profe und Gerhard Wolf. Stuttgart 2001, 75–90.
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Erzähllied 1 Das Erzähllied als Subgattung der mittel hochdeutschen Liebeslyrik? – eine Problemskizze Als Erzähllieder lassen sich im weitesten Sinne Lieder und Liedtypen der mittelhochdeutschen Liebeslyrik bezeichnen, die „das Minnegeschehen in einen mehr oder weniger ausgeführten epischen, narrativen Zusammenhang, einen zeitlichen Ablauf [stellen]“1. Der Begriff des Erzähllieds begegnet in der Minnesangforschung demgemäß vor allem im Zusammenhang mit jenen Liedformen, die dem sogenannten genre objectif zugerechnet werden:2 So wurden neben → Tagelied und Pastourelle auch die ‚Rollenlyrik‘ des → Kürenberger, die Situationslieder → Neidharts sowie eine bestimmte Liedgruppe im Œuvre → Johannes Hadlaubs unter den Oberbegriff des ‚erzählenden Lieds‘ gestellt.3 Als Gattungsbezeichnung stricto sensu hat sich der Terminus des Erzähllieds dabei jedoch allein für den Liedtypus bei Hadlaub etabliert, wohingegen er in Bezug auf die anderen Liedtypen eher sporadische Verwendung findet und in allgemeinerer Weise auf deren (oftmals ganz unterschiedlich geartete) narrative Verfasstheit verweist.4 In solchen Fällen wird der Begriff also weniger in engerem gattungstypologischen Sinne gebraucht, sondern er indiziert vielmehr ein grundsätzliches, gattungsübergreifendes Phänomen der mittelhochdeutschen Liebeslyrik, in der narrative Elemente in ganz unterschiedlicher Form und Intensität begegnen (→ Narrative Interferenzen im Minnesang). Mit dem Begriff des Erzähllieds müssen folglich nicht notwendig gattungsterminologische Implikationen verbunden sein: So lässt sich Albrechts von Johannsdorf Ich vant si âne huote (MF 93,12) aufgrund des narrativen Liedanfangs als „Erzähllied“5 bezeichnen, ohne dass damit die
1 Schweikle 1995, 151. 2 Der ursprünglich aus der romanistischen Forschung stammende Begriff des genre objectif diente vor allem der älteren Forschung dazu, narrative Liedtypen, „in denen aus der ‚objektiven‘ Perspektive eines Beobachters, eines Erzählers oder eines Mitakteurs über ein äußeres Geschehen berichtet wird“, von jenen Gattungen abzugrenzen, in denen ein ‚subjektives‘ Ich „über innere Vorgänge reflektiert“ (Kasten 1997, 705). Im Minnesang werden vor allem Tagelied, Pastourelle und bestimmte Formen des → Frauenlieds dem genre objectif zugerechnet. Zwar wird die Entgegensetzung von genre objectif und subjectif heutzutage überwiegend kritisch gesehen (vgl. dazu Kasten 1997, 705–706), gleichwohl findet die Terminologie in der Minnesangforschung noch immer Verwendung. 3 Vgl. Mertens 1988, 49. 4 Vgl. für die Verwendung des Begriffs vor allem in der Neidhart-Forschung exemplarisch Janssen 1980, 169. Auch Reinmars Went ir hœren? (MF LXIV) oder Gottfrieds von Neifen Ez fuor ein büttenære (KLD 39) werden regelmäßig als Erzähllieder bezeichnet (vgl. etwa Klein 2010, 544 und 547). 5 Bleumer 2011, 336. https://doi.org/10.1515/9783110351859-033
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Gattungszugehörigkeit zum → Dialoglied infrage gestellt wäre. In diesem umfassenderen Sinne kann der Begriff des Erzähllieds auch für so unterschiedliche Lieder wie → Heinrichs von Morungen Ich hôrte ûf der heide (MF 139,19), das in Form von „szenischen Stimmungsbildern“6 von unterschiedlichen Aufeinandertreffen des SängerIch mit einer Dame berichtet, und → Gottfrieds von Neifen erotisches Lied Ez fuor ein büttenære (KLD 39) Verwendung finden.7 Zumal in jüngerer Zeit wurde überdies detailliert aufgezeigt, dass nicht nur die sogenannten genres objectifs, sondern auch die ‚subjektiven‘ Gattungen (etwa die Minnekanzone) über erzählende Elemente verfügen, die von kurzen Inquit-Formeln über „Geschehensfragmente[]“8 bis hin zu längeren erzählten Passagen reichen können.9 So finden sich narrative Komponenten etwa in Liedern Friedrichs von Hausen (MF 42,1), → Heinrichs von Veldeke (MF 56,1) oder Heinrichs von Morungen (MF 130,9; MF 145,1).10 Im dreizehnten Jahrhundert sodann können sich erzählende Passagen in Minnekanzonen gar über mehrere Strophen erstrecken, so etwa als imaginiertes Geschehen bei → Ulrich von Liechtenstein (KLD 57,2–4).11 Die Klassifikation eines Lieds als Erzähllied hängt damit stets auch von den jeweiligen zugrunde liegenden definitorischen Prämissen ab: Je nachdem, welche quantitativen beziehungsweise qualitativen Kriterien angesetzt werden, kann der Begriff des Erzähllieds prinzipiell auch für Lieder Gebrauch finden, die nicht traditionell dem sogenannten genre objectif zugerechnet werden. Angesichts der ganz unterschiedlichen Lieder und Liedtypen mit mehr oder minder ausgeprägten narrativen Elementen lässt sich das Erzähllied historisch wie systematisch kaum als Subgattung des Minnesangs mit einem (zumindest relativ) klar zu bestimmenden Textkorpus begreifen. Umfassendere gattungstypologische Entwürfe zum Erzähllied stellen in der Minnesangforschung daher die Ausnahme dar.12 Die folgenden Ausführungen werden sich aus diesem Grund auf jene Lieder im Œuvre Johannes Hadlaubs konzentrieren, die traditionell im engeren gattungstypologischen Sinne als Erzähllieder bezeichnet werden.
6 Kasten 2005, 790. 7 Vgl. zur Klassifizierung des Morungen-Lieds als Erzähllied etwa Hoffmann 2012, 72; vgl. zur Einordnung des Lieds Gottfrieds von Neifen als „[e]rotische[m] Erzähllied“ Klein 2010, 547. 8 Bleumer und Emmelius 2011, 8. 9 Vgl. dazu vor allem Eikelmann 1996; Bleumer 2010; Bleumer und Emmelius 2011; Bleumer 2013. 10 Vgl. für narrative Elemente in der Minnekanzone die ausführliche Auflistung von Belegstellen bei Eikelmann 1996, 30–31. 11 Vgl. dazu Eikelmann 1996, 29. 12 Vgl. für einen solchen Versuch in Ansätzen Schweikle 1995, 151.
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2 Das Erzähllied im Œuvre Johannes Hadlaubs Das in der Manessischen Liederhandschrift (C) überlieferte Liedkorpus des Zürcher Minnesängers Johannes Hadlaub enthält neben einer Vielzahl von traditionellen Liedgattungen auch einen „neuen Typus szenisch eingekleideter Lyrik“13, für den sich schon früh der Begriff des Erzähllieds eingebürgert hat.14 Das Spezifikum der Hadlaub’schen Erzähllieder besteht darin, dass sich in ihnen konventionelle Formen der Minneklage und des Frauenpreises mit Passagen verknüpft finden, in denen das Sänger-Ich retrospektiv von Erlebnissen und Begegnungen mit der geliebten Dame in unterschiedlichen Situationen berichtet. So wird das Lied Ach, mir was lange nâch ir sô wê gesîn (LEP 1 / SMS 1)15, das am Anfang des Hadlaub-Korpus in C steht, zunächst mit einer für die Minnekanzone typischen Reflexion auf das schon lange andauernde Minneleid des Ich eröffnet.16 Sodann aber erinnert sich das Sänger-Ich an ein Zusammentreffen, bei dem es, verkleidet im Gewand eines Pilgers, seiner Dame im Anschluss an die Frühmesse mithilfe eines Angelhakens unbemerkt einen Liebesbrief zusteckte. Da das Ich im Ungewissen darüber geblieben ist, ob seine Nachricht überhaupt gelesen wurde, hebt es im Anschluss an den erzählenden Teil zu einer mit Reflexionen auf die unerfüllte Liebe und imaginativen Vergegenwärtigungen der Dame durchsetzten Minneklage an. Eine solche besondere „lyrisch-narrative Korrelation“17 geben auf je spezifische Weise auch die anderen Lieder Hadlaubs zu erkennen, die zur engeren Gruppe der Erzähllieder gerechnet werden:18 Das Sänger-Ich berichtet in ihnen von Begegnungen mit der geliebten Dame im Kreise der Zürcher Oberschicht (LEP 2 / SMS 2)19 oder bei einem Spaziergang vor der Stadt (LEP 54 / SMS 6); es erzählt vom Misslingen eines 13 Vgl. Mertens 1988, 62. 14 Der Begriff des ‚Erzähllieds‘ findet sich bereits bei Weydt 1933, 32, dann bei Schweikle 1981, 381, und Peters 1971, 206, die vom ‚erzählenden Lied‘ spricht. Vgl. die Kritik am Begriff des ‚Erzähllieds‘ bei Fischer 1996, 118. Als alternativer Terminus begegnet daneben auch der Begriff der ‚Romanze‘, der von Renk 1974, 160, eingeführt wurde. Kritik am Begriff der ‚Romanze‘ bei Hoffmann 2012, 70, Anm. 5. Obgleich etwa noch Mertens 1998b beide Begriffe synonym verwendet, hat sich in der neueren Forschung der Begriff des ‚Erzähllieds‘ durchgesetzt. 15 Im Folgenden wird sowohl die Zählung der Edition Leppins als auch jene der Ausgabe der ‚Schweizer Minnesänger‘ (SMS) angegeben. Leppins Edition besitzt den Vorteil, dass dort die Reihenfolge in C beibehalten ist, Bartsch hingegen hatte in SMS aufgrund formaler wie inhaltlicher Gesichtspunkte Umstellungen vorgenommen, an denen auch Schiendorfer in seiner Neubearbeitung festhielt. 16 Vgl. zu diesem Lied u. a. Schiendorfer 1993a; Reichlin 2012, 355–359; Bleumer 2013, 195–198. 17 Bleumer 2013, 195. 18 Neben dem Eingangsgedicht des Hadlaub-Korpus sind dies LEP 2 (SMS 2), LEP 5 (SMS 4), LEP 53 (SMS 5) sowie LEP 54 (SMS 6). Über die Klassifizierung dieser Lieder als Erzähllieder herrscht in der Forschung Konsens. Vgl. dazu Peters 1971, 206; Renk 1974, 160; Schweikle 1981, 380; Mertens 1998b, 200, Anm. 2; Leppin 1995, 20, Anm. 37. 19 Vgl. zu diesem Lied Schiendorfer 1993b; Müller 1996, 69–74; Oswald 2005, 33–37; Reichlin 2012, 361–369.
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sehnlich erhofften Zusammentreffens (LEP 53 / SMS 5)20 oder ruft eine Szene in Erinnerung, in der es die geliebte Dame beim Liebkosen eines Kindes beobachtet (LEP 5 / SMS 4)21. Da die Annäherungsversuche letztlich stets erfolglos bleiben, wechseln die Retrospektiven des Sänger-Ich unweigerlich mit traditionellen Klage- und Preisstrophen. Dabei handelt es sich indes nicht um ein strenges Nacheinander von narrativen und reflexiven Passagen, zu beobachten sind vielmehr „vielfältige[] Übergänge zwischen erinnertem Ereignis, erinnerter Projektionen und aktueller Liebesreflexion und Imagination“22. Diese besondere Konfiguration von narrativen und reflexiven Komponenten ist als „gattungsgeschichtliche Innovation“23 zu betrachten, die nicht zuletzt die Vertrautheit des Dichters mit der lyrischen Tradition bezeugt: Hadlaub, der aufgrund der Nähe zum Entstehungsumfeld der Manessischen Liederhandschrift die Vielfalt der Überlieferung wie kein Zweiter vor ihm überblicken konnte,24 baute die in der Minnekanzone schon immer vorhandenen narrativen Elemente auf charakteristische Weise aus und schuf so einen hybriden Liedtyp sui generis.25 Dass man diese engere Gruppe von Liedern als eigenständige Subgattung innerhalb des HadlaubKorpus betrachten darf, wird im Übrigen auch durch die Tatsache gestützt, dass (mit Ausnahme von LEP 1 / SMS 1) alle genannten Lieder einen identischen Strophenbau aufweisen.26 Allerdings wurden über diese Liedgruppe hinaus auch andere Lieder Hadlaubs dem Typus des Erzähllieds zugeordnet.27 Die teils beträchtlichen Divergenzen in der Korpusbildung spiegeln damit letztlich in nuce die grundsätzlichen methodischen Problemstellungen wider, die im Hinblick auf die Klassifizierung von Liedern der mittelhochdeutschen Liebeslyrik als Erzähllieder begegnen. Im Unterschied zu anderen narrativen Liedtypen wie etwa dem Tagelied berichtet im Hadlaub’schen Erzähllied keine externe, neutrale Beobachterinstanz vom Geschehen, stattdessen tritt das Sänger-Ich in seinen narrativen Rückblenden selbst als Akteur in Erscheinung.28 Die erzählten Begebenheiten wirken auf diese Weise 20 Vgl. zu diesem Lied Thumser 2012. 21 Vgl. zu diesem Lied Hoffmann 2012; Reichlin 2012, 360–361. 22 Reichlin 2012, 359. 23 Hübner 2008, 169. 24 Vgl. Schiendorfer 1993a, 258, der annimmt, „daß Hadlaub in engstem Kontakt mit der Handschriftenredaktion gestanden haben muß, ja daß er vielleicht in der einen oder anderen Form selber aktiv am Unternehmen mitbeteiligt war“. 25 Vgl. dazu Hübner 2008, 173, der die Erzähllieder Hadlaubs als „narrative[] Minnekanzonen“ begreift. 26 Vgl. dazu Leppin 1995, 20. 27 So schlägt Mertens 1998b, 200, Anm. 2, auch LEP 3 (SMS 8) dem Erzähllied zu. Leppin 1995, 20, Anm. 37, hingegen benennt über den Kern der Gruppe hinaus auch LEP 11 (SMS 13) und (mit Einschränkungen) LEP 3 (SMS 8). Die größte Zahl findet sich bei Renk 1974, 160, die über den Kernbestand hinaus auch LEP 3 (SMS 8), LEP 9 (SMS 11), LEP 10 (SMS 12), LEP 11 (SMS 13) sowie LEP 14 (SMS 16) zu den Erzählliedern rechnet. 28 Vgl. dazu Schiendorfer 1993a, 262, der vom „Phänomen der Konkretisierung“ spricht: In Hadlaubs Erzählliedern sei „nicht von einem werden ritter und seiner schoenen frouwe die Rede, nicht von
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wie autobiographische Szenen, die sich aus der Perspektive des Rezipienten auf die Person des Dichters beziehen lassen. Demgemäß wurden die Retrospektiven in Hadlaubs Erzählliedern in der älteren Forschung häufig als authentische Einblicke in das Leben des Dichters begriffen.29 In jüngerer Zeit werden dagegen die inszenatorischen Momente hervorgehoben. So handele es sich bei den erzählten Szenen um fingierte „idealtypische Situationen, die so viel Realität einbeziehen, daß sie als ‚real‘ nachvollziehbar“ seien.30 Dabei konnte anhand einer Vielzahl an Referenzen auf die literarische Tradition die starke poetische Stilisierung der Inszenierung nachgewiesen werden.31 Herausgestellt wurde vor allem die Nähe zu Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘, dessen Faktur in den Hadlaub’schen Erzählliedern freilich eine entscheidende Modifizierung erfährt: Denn im Unterschied zu Ulrichs ‚Frauendienst‘, in dem die Gedichte in einen ‚autobiographischen‘ Rahmen eingebettet sind, werden in den Erzählliedern Hadlaubs die (pseudo)biographischen Elemente in die Lieder selbst integriert. Auf diese Weise nehmen sich die narrativen Passagen in den Hadlaub’schen Erzählliedern wie „Entstehungsgeschichte[n]“32 zu den anschließenden Minneklagen aus. Die Erzähllieder Hadlaubs wurden vor dem Hintergrund veränderter medialer Bedingungen ‚um 1300‘ als Ausdruck des „Übergang[s] von der Aufführungs- zur Buchlyrik“33 betrachtet. In Reaktion auf den „Faszinations- und Authentizitätsverlust der Liebeslyrik durch das Verschwinden des Sängers“34 komme den (pseudo)biographischen Episoden eine Re-Authentifizierungsfunktion zu.35 In diesem Zusammenhang scheint auch die Positionierung der Erzähllieder innerhalb des Hadlaub-Œuvres in C bedeutsam: Möchte man die Lieder LEP 53 (SMS 5) und LEP 54 (SMS 6) nicht als Nachträge begreifen wie die Herausgeber von SMS, sondern als planvollen Abschluss des Œuvres, stiften jeweils zwei Erzähllieder am Anfang und am Ende des Hadlaub-
abstrakten, modellhaften Idealfiguren also, sondern das Sänger-Ich berichtet aus seiner ureigenen Perspektive von seiner ureigenen affaire amoureuse“. 29 Bartsch 1964 [1886], CLXXXV; Weydt 1933, 24–26; Lang 1959, 23–24. Schon Johann Jakob Bodmer hatte die Erzähllieder Hadlaubs als biographische Quellen genutzt. So weiß er über das Leben Hadlaubs zu berichten: „Aus einem bürgerlichen Geschlechte zu Zürich. Er liebte eine vornehme Fräulein. Dieser entdeckte er seine verliebten Empfindungen zuerst durch ein Billet, welches er ihr im Pilgrimkleide in der Kirche heimlich auf den Rock heftete“ (zit. nach Schiendorfer 1993a, 256). 30 Mertens 1998a, 339. 31 Vgl. vor allem den reichen Kommentar in der Edition Leppins, der eine Fülle an literarischen Referenzen detailliert aufführt. Vgl. zudem auch Mertens 1998a, 339, der von einem Verfahren der „Kombination und Weiterentwicklung vorgegebener literarischer Motive“ spricht. 32 Schiendorfer 1986, 216. 33 Mertens 1998b, 204. 34 Mertens 1998b, 203. 35 Vgl. Mertens 1998b, 203: „Die Aufführungssituation, die den Liebesdiskurs öffentlich legitimierte, war vermutlich schon gar nicht mehr üblich, so wurde ein Anlaß fingiert, der eine biographische Authentizität behauptete und in das Lied selbst episiert eingebracht wurde.“
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Korpus einen „Authentizitäts-Rahmen“36, der – geht man vom Rezeptionsmodus der Lektüre aus – nicht nur für die Erzähllieder, sondern für alle Minnelieder Hadlaubs Geltung beanspruchen kann. Vor dem Hintergrund, dass eine Beteiligung Hadlaubs an der Entstehung und Konzeption der Manessischen Liederhandschrift im Allgemeinen sowie an der Präsentation des eigenen Liedkorpus im Besonderen naheliegt, ließe sich die spezifische Anordnung der Erzähllieder demzufolge als absichtsvolle Tat des Dichters begreifen, sein gesamtes Œuvre in einen (pseudo)biographischen Kontext zu stellen. Das Hadlaub’sche Erzähllied nimmt aufgrund seines Hybridcharakters einen eigenen Platz innerhalb des Gattungsspektrums der mittelhochdeutschen Liebeslyrik ein. Es unterscheidet sich durch die spezifische Verknüpfung von erzählenden und reflexiven Passagen nicht nur signifikant von den traditionellen Formen des genre objectif, sondern auch von narrativen Liedtypen späterer Zeit: So eignet den autobiographischen Liedern37 → Oswalds von Wolkenstein zwar ebenfalls die Tendenz zur Biographisierung, den für die Erzähllieder Hadlaubs konstitutiven Bezug zur Minnekanzone weisen sie jedoch nicht auf. Versuche, das Hadlaub’sche Erzähllied in einen größeren gattungsgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen und gar etwa als „Vorstufe zu Ballade oder Romanze“38 zu begreifen, sind daher aus literarhistorischer wie systematischer Perspektive mit Skepsis zu betrachten. Letztlich steht der Hadlaub’sche Liedtypus innerhalb der Minnesang-Tradition in keinem Gattungskontinuum, das es gerechtfertigt erscheinen ließe, das Erzähllied über Hadlaub hinaus als distinkte Subgattung der mittelhochdeutschen Liebeslyrik zu profilieren.
Literatur Karl Bartsch: Einleitung. In: BSM, IX–CCXX. [1964 {1886}] Hartmut Bleumer: Das Echo des Bildes. Narration und poetische Emergenz bei Heinrich von Morungen. In: ZfdPh 129 (2010), 321–345. Hartmut Bleumer: Die Zeit Ulrichs von Liechtenstein. Oder: Die Entdeckung der Realität aus dem Geist der Lyrik. In: Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von dems. und Caroline Emmelius. Berlin u. a. 2011 (TMP 16), 327–355. Hartmut Bleumer: Minnesang als Lyrik? Desiderate der Unmittelbarkeit bei Heinrich von Morungen, Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadlaub. In: Wolfram-Studien 21 (2013), 165–201. Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen. Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik. In: Lyrische
36 Mertens 1998a, 340. 37 Vgl. zur gattungstypologischen Bezeichnung dieser Lieder Oswalds als Erzähllieder Wachinger 1989, 163–165. 38 Schweikle 1995, 151.
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Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von dens. Berlin u. a. 2011 (TMP 16), 1–39. Manfred Eikelmann: wie sprach sie dô? war umbe redte ich dô niht mê? Zu Form und Sinngehalt narrativer Elemente in der Minnekanzone. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hg. von Michael Schilling und Peter Strohschneider. Heidelberg 1996 (GRM-Beiheft 13), 19–42. Ursel Fischer: Meister Johans Hadloub. Autorbild und Werkkonzeption der Manessischen Liederhandschrift. Stuttgart 1996. Werner Hoffmann: Tradition und Neuerung. Zur Lyrik Johannes Hadlaubs am Beispiel seines Liedes Ach, ich sach si triuten wol ein kindelîn (SMS, Lied 4). In: Mediaevistik 25 (2012), 69–83. Gert Hübner: Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung. Tübingen 2008 (Narr-Studienbücher). Hildegard Janssen: Das sogenannte „Genre objectif“. Zum Problem mittelalterlicher literarischer Gattungen dargestellt an den Sommerliedern Neidharts. Göppingen 1980 (GAG 281). Ingrid Kasten: Genre objectif. In: RLW 1 (1997), 705–706. Ingrid Kasten: Kommentar. In: KAS, 551–1071. [1995] Dorothea Klein: Kommentar zu den einzelnen Liedern. In: KLEIN, 324–553. [2010] Hedwig Lang: Johannes Hadlaub. Berlin 1959 (PhStQ 5). Rena Leppin: Einleitung. In: LEP, 7–28. [1995] Volker Mertens: Erzählerische Kleinstformen. Die genres objectifs im deutschen Minnesang: „Fragmente eines Diskurses über die Liebe“. In: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Hg. von Klaus Grubmüller, L. Peter Johnson und Hans-Hugo Steinhoff. Paderborn u. a. 1988 (Schriften der Universität-Gesamthochschule-Paderborn; Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft 10), 49–65. Volker Mertens: ‚Biographisierung‘ in der spätmittelalterlichen Lyrik. Dante – Hadloub – Oswald von Wolkenstein. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris. 16.–18.3.1995. Hg. von Ingrid Kasten, Werner Paravicini und René Pérennec. Sigmaringen 1998 (Francia-Beiheft 43), 331–344. [1998a] Volker Mertens: Liebesdichtung und Dichterliebe. Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadloub. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hg. von Elizabeth Andersen u. a. Tübingen 1998, 200–210. [1998b] Jan-Dirk Müller: Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstendenzen im späteren Minnesang. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hg. von Michael Schilling und Peter Strohschneider. Heidelberg 1996 (GRM-Beiheft 13), 43–76. Marion Oswald: wan sang hat bovn vnd wiurzen da. Zur Inszenierung von Sangtradition und Gönnerrolle, zu Geltungsansprüchen und Legitimationsstrategien in Johannes Hadloubs Liedern. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hg. von Beate Kellner, Peter Strohschneider und Franziska Wenzel. Berlin 2005 (PhStQ 190), 29–42. Ursula Peters: Frauendienst. Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein und zum Wirklichkeitsgehalt der Minnedichtung. Göppingen 1971 (GAG 46). Susanne Reichlin: Flüchtigkeit und Dauer von Liebesgaben in Hadlaubs Ich diene ir sît daz wir beidiu wâren kint (SSM 2). In: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Margreth Egidi u. a. Berlin 2012 (PhStQ 240), 347–370. Herta-Elisabeth Renk: Der Manessekreis, seine Dichter und die Manessische Handschrift. Stuttgart u. a. 1974 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 33). Max Schiendorfer: Anhang. In: Johannes Hadlaub: Die Gedichte des Zürcher Minnesängers. Hg. von dems. Zürich u. a. 1986, 164–235.
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Max Schiendorfer: Inszenierter Minnesang. Johannes Hadlaub: Ach, mir was lange. In: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter. Hg. von Helmut Tervooren. Stuttgart 1993 (RUB 8864), 251–267. [1993a] Max Schiendorfer: Ein regionalpolitisches Zeugnis bei Johannes Hadlaub (SMS 2). Überlegungen zur historischen Realität des sogenannten „Manessekreises“. In: ZfdPh 112 (1993), 37–65. [1993b] Günther Schweikle: Hadlaub, Johannes. In: 2VL 3 (1981), 379–383. Günther Schweikle: Minnesang. 2., korr. Aufl. Stuttgart u. a. 1995 (SM 244). Antje Thumser: Johannes Hadloub, Hartmann von Aue und die Dame in der Kammer – Das Lied Der vil edle Reginsberger was vor ir als literarisches Rätsel. In: Mertens lesen. Exemplarische Lektüren für Volker Mertens zum 75. Geburtstag. Hg. von Monika Costard, Jacob Klingner und Carmen Stange. Göttingen 2012, 179–198. Burghart Wachinger: Oswald von Wolkenstein. In: 2VL 7 (1989), 134–169. Günther Weydt: Johannes Hadlaub. In: GRM 21 (1933), 14–32.
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Sangspruch – Minnesang Von zentraler Bedeutung für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Minnesang ist auch die Reflexion des Nahverhältnisses zur Sangspruchdichtung. Als zweite große ‚lyrische‘ Gattung der mittelhochdeutschen Literatur ist sie dem Minnesang in manchen Autor-Œuvres, in den Handschriften, vielleicht auch im Vortrag lange unmittelbar benachbart. Wie Minnesang ist Sangspruchdichtung strophische Dichtung, und wie dieser wurde sie wohl gesanglich vorgetragen. Sie umfasst religiöse und politische Themen, Weisheitslehre, Minnethematik und Frauenpreis, Fürstenpreis, Polemik und Bitte um Lohn; ihre Autoren waren in der Regel (auf Literaturmäzene angewiesene) Berufsdichter. Es gibt, wie auch sonst meistens in vormoderner Literatur, keine mittelalterlichen Gattungsbezeichnungen, wohl aber ein differenzierendes Gattungsbewusstsein. Potentiell distinktive Merkmale im Verhältnis zum Minnesang ergeben sich aus folgenden Kriterien: (a) Texteinheit: relative Selbstständigkeit der Spruchstrophe gegenüber dem Strophenverbund im Minnesang; (b) Text-Ton-Verhältnis: Offenheit der Spruch-Töne gegenüber dem Verhältnis ‚ein Text / ein Ton‘ im Minnesang; (c) Themenrepertoire: thematische Vielfalt gegenüber der Konzentration auf die Liebesthematik; (d) Sprechhaltung, Rederegister und Sängerrolle: generalisierende Rede und Rollenvielfalt gegenüber der Rede des involvierten Ich und den Rollen des Liebenden und Sängers; (e) ‚Autor‘ und Vortrag: differente Autorstilisierungen, Autortypen und Situationstypen mit den jeweiligen sozialen Implikationen; (f) gattungsspezifische Aspekte von Literarizität und Poetologie.
1 Gattungsdifferenz und Gattungsinterferenzen: historische und systematische Aspekte Der prozessuale Charakter literarischer Gattungen kann an der Sangspruchdichtung exemplarisch beobachtet werden.1 Die Geschichte der Gattung lässt sich im Anschluss an Kurt Ruh, der diese Perspektive programmatisch einführte, unter dem Aspekt ihres dynamischen Verhältnisses zum Minnesang beschreiben;2 die Kriterien und Verlaufshypothesen Ruhs sind dabei im Einzelnen noch zu überprüfen und zu differenzieren, wobei insbesondere auch die handschriftliche Überlieferung miteinzubeziehen ist.3 Wie literarische Gattungen grundsätzlich ist auch der Sangspruch als „Produkt einer geschichtlichen Aus- und Eingliederung“ aufzufassen, deren 1 Egidi 2002; Brem 2003. 2 Ruh 1968 zur Entwicklung beider Gattungen bis Walther. 3 Eine kritische Diskussion zu Ruh bei Brem 2003. https://doi.org/10.1515/9783110351859-034
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‚Motor‘ der Minnesang ist;4 beide Gattungen profilieren sich in Relation zur beziehungsweise vor dem Hintergrund der jeweils anderen. Das bedeutet, dass hier ein Feld von Gattungsinterferenzen paradigmatisch beobachtbar ist, für das die Referenz des Einzeltextes auf eine doppelte Gattungserwartung nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall ist. In der Frühphase (im zwölften Jahrhundert: → Kürenberger und Umfeld; Spervogel) ist nach Ruh nur das Themenrepertoire gattungsdistinktiv (Lebensweisheit, religiöse Lehre und Fürstenpreis versus Liebesthematik), nicht die formalen Kriterien; Einstrophigkeit beziehungsweise relative Selbstständigkeit der Einzelstrophe seien weitgehend noch für beide Gattungen konstitutiv. Erst mit der Rezeption der romanischen Lyrik grenzen Tönevielfalt, Strophenbindung (‚Liedeinheit‘) und stollige Form das Minnelied tendenziell vom Sangspruch (Spervogel) mit Einstrophigkeit, Eintonigkeit und unstolligem Strophenbau ab. → Walther von der Vogelweide übernimmt dann das Prinzip der Vieltonigkeit, die Kanzonenstrophe und die formale Perfektion des Strophenbaus auch in seiner Spruchdichtung. Selbst bei der Bildung größerer Einheiten in Walthers Spruchtönen bleiben jedoch die relative Selbstständigkeit der Einzelstrophe und die Offenheit des Tons potentiell distinktive Gattungsmerkmale, und zwar zumindest noch bis → Frauenlob.5 Grundsätzlich ist dabei im Sinne textueller Unfestigkeit aber auch die Offenheit von Lied-Tönen mitzubedenken; ferner sollte die Unterschiedlichkeit von Einheitskonzepten sowie das potentiell zirkuläre Argumentieren mit ihnen reflektiert werden.6 In der Zeit nach Walther werden (außer bei Reinmar von Zweter) Tönevielfalt und Töne-Erfinden als besondere Kunstleistung geradezu zum Kennzeichen von ‚Spruchmeisterschaft‘.7 Erst im vierzehnten Jahrhundert beginnt auch die Mehrstrophigkeit zum Usus zu werden (z. B. bei → Heinrich von Mügeln); selbst dann bleibt die Offenheit der Spruchtöne bestehen. Auch andere Differenzierungsmerkmale8 – wie etwa Sprechhaltung, Rederegister, Sängerrollen,9 Vortragssituation und kommunikative Funktion10 – erweisen sich im
4 Ruh 1968, 315. Anders Tomasek 2013. 5 Schanze 1983/1984. 6 Ferner zur unterschiedlichen Tonlänge und Reimdichte nach Walther: Rettelbach 2007. 7 Kornrumpf und Wachinger 1979. 8 Wenzel 2015 sieht das zentrale Spezifikum der Sangspruchdichtung in einer forcierten Selbstbezüglichkeit und ‚anschaulichen‘ Reflexion von Erfahrungswissen. – Wachinger 2009 befasst sich zwar nicht mit Gattungsinterferenzen, operiert jedoch (für die Erklärung der Serienbildung von Sprüchen) mit einem sonst in diesem Kontext diskutierten Kriterium, das potentiell problematisch ist, zumindest gründlicher methodischer Reflexion bedarf: Kohärenz. 9 Ortmann 1989; Kellner 1998; Lauer 2008, die Sängerrollen in der Spruchdichtung auf die sich hier konstituierende ‚ästhetische Identität‘ hin befragt; Hausmann 2004 zu Sängerrollen im Spannungsfeld zwischen beiden Gattungen. 10 Bleumer 2005, 88–91, zu Situationstypen und Sängerrollen samt kommunikativ-axiologischen Implikationen; Rzepka 2011 zu Kommunikationssituationen und Performativität; Lauer 2010 zu Performativität und Räumlichkeit.
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Verlauf der Gattungsgeschichte als variabel. Wie außer im frühen Minnesang11 und bei Walther12 im späthöfischen Minnesang das generalisierende Sprechen über die Liebe begegnet13 (insbesondere, aber nicht nur bei → Konrad von Würzburg), nehmen umgekehrt spätere Spruchdichter Liebesthematik und Frauenpreis in das thematische Repertoire der Gattung auf (am ausgeprägtesten Reinmar von Zweter und Frauenlob).14 Die im Sprechen auf ein Allgemeines hin zur Verfügung stehenden Sängerrollen des Belehrenden und Tadelnden, des fahrenden, um Lohn bittenden Sängers oder auch die Autoritätsrolle des Wissenden und Urteilenden, mit der als Erfahrungswissen Ausgegebenes bestätigt wie umgedeutet werden kann,15 grenzen vor allem die hochmittelalterliche Spruchdichtung vom Minnesang ab, werden später jedoch (etwa bei Reinmar von Zweter und Reinmar von Brennenberg) durch Sangspruchstrophen mit minnesängerischer Ich-Rolle ergänzt beziehungsweise mit Minnethematik verknüpft. Gerade die im dreizehnten Jahrhundert zunehmende Experimentierfreude mit der Gattungsdifferenz,16 das spielerische Überschreiten der Grenze zwischen Minnesang und Sangspruch, bei dem mit dem Fortfall bestimmter Differenzmerkmale andere deren Funktion einnehmen, verweist auf ein ausgeprägtes Gattungsbewusstsein als seine Voraussetzung und lässt, da nicht stets dieselben, sondern wechselnde Kriterien betroffen sind, vielleicht eine zunehmende Verfügbarkeit von Gattungsmerkmalen für dieses Spiel vermuten. Grundsätzlich ist die Variabilität des Status von Merkmalen als distinktiv oder nicht-distinktiv im systemischen Zusammenhang festzuhalten, und zwar sowohl in historischer Perspektive als auch im konkreten Experiment des Einzeltextes, des Autor-Œuvres und der handschriftlichen Überlieferung. Weitere zentrale Dimensionen der Gattungsgeschichte und potentielle Differenzmerkmale gegenüber dem Minnesang sind ästhetischer und poetologischer Art. Die Sangspruchdichtung entfaltet eigene poetologische Konzepte17 sowie poetische Verfahrensweisen,18 mit denen sie wiederum ihre besonderen kommunikativen Dimensionen und Funktionen zu reflektieren vermag.19 Prägend für die Geschichte der Gattung ist die Entstehung eines spezifischen (und von Konzepten des Minnesangs abweichenden) Literaturbewusstseins bei Spruchdichtern des dreizehnten Jahrhun-
11 Zur Verschränkung der Gattungen in der Frühzeit bezüglich Rederegister und Sängerrollen Huber 2006. 12 Hahn 1990; Ortmann 1989; Ranawake 1982; Ranawake 1989. 13 Vgl. zu Liedern, die Minnesangtopoi zudem mit Heische und kerge-Schelte verknüpfen: Haustein 2007. 14 Egidi 2002. 15 Grubmüller 1979. Vgl. auch noch die Selbstinszenierung späterer Autoren wie Heinrich von Mügeln, Stackmann 1958. 16 Etwa bei Reinmar von Zweter, Reinmar von Brennenberg, Konrad von Würzburg, dem Kanzler (s. Haustein 2007 und 2015). 17 Wachinger 1973; Huber 1993; Wenzel 2012; vgl. Huber 1977 zur Sprachreflexion. 18 Egidi 2002; Lauer 2008. 19 Strohschneider 2002.
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derts: Es umfasst Selbstverständnis wie Kunstauffassung und basiert, wie insbesondere die um literarische Geltung kreisende Spruchmeisterpolemik zeigt, auf ‚KunstMeisterschaft‘ als neuem Leitbild,20 das die Dimensionen der Beherrschung der ars, Gelehrtheit und moralischen Urteilskompetenz miteinander verbindet und hieraus wie aus Analogien zu klerikaler Rede Geltungs- und Autoritätspotenziale schöpft.21 Auch in Tendenzen zu reichem sprachlichem Schmuck und artifiziellem, verrätseltem Stil kann sich das Konzept der Kunst-Meisterschaft zum Ausdruck bringen (etwa beim Wilden Alexander und bei Frauenlob),22 das einhergeht mit Formen spruchmeisterlicher Kunstreflexion.23 Die wichtigsten Handschriften des vierzehnten Jahrhunderts mit Sangspruchüberlieferung sind die Große Heidelberger (C), die Jenaer (J) und die Würzburger Liederhandschrift (E) – außer in J immer in Überlieferungsgemeinschaft mit Minnesang. Im fünfzehnten Jahrhundert folgen u. a. die Haager (s) und die Weimarer Liederhandschrift (F). Vor allem die spätere, überwiegend getrennte Überlieferung von Minnesang und Spruchdichtung spricht für ein unterscheidendes Gattungsbewusstsein.24 Zur Geschichte der Gattung gehört schließlich ihr Weiterleben im Spätmittelalter,25 insofern alter Strophenbestand in Meisterliederhandschriften (vor allem in der Kolmarer Liederhandschrift k) zu Baren zusammengestellt, weitertradiert,26 oft durch neue Strophen ergänzt und zum Teil in produktiver Rezeption verändert wird.27 Ferner wurden in Tönen kanonisierter Spruchmeister (vor allem Regenbogens und Frauenlobs) zahlreiche anonym überlieferte Meisterlieder verfasst. Die Tatsache, dass ein und derselbe Text in der handschriftlichen Überlieferung unterschiedlichen Gattungen zugeordnet werden konnte, erweist einmal mehr den Zuschreibungscharakter von Gattungen;28 dies berührt auch das nicht seltene Phänomen der Parallelüberlieferung einzelner Minneliedstrophen in Florilegien.29 Ein differenzierendes Gattungsbewusstsein ist die Voraussetzung dafür, dass ein und derselbe Text mit unterschiedlichen Zuweisungen rezipiert werden kann, die durch differierende kontextuelle Determinierungen entstehen, etwa einmal als (‚Sangspruch‘-)Einzelstrophe in tondifferenter Umgebung, ein andermal im Liedverbund.30
20 Wachinger 1973. 21 Bulang 2005 zu Boppe; Grubmüller 2009; Kellner 2009; Wenzel 2012 zu Frauenlob; Quast 2014 zu Walther. 22 Stackmann 1972. 23 Huber 1993. 24 Brunner 1975. 25 Brunner 1975. 26 Baldzuhn 2002. 27 Stackmann 1998. 28 Vgl. auch Müller 1995 zu Strophen Walthers in der Überlieferung; ferner Lieb 2000 zur Relation von Minnesang- und Sangspruchstrophen bei Heinrich von Veldeke als Kippfigur. 29 Holznagel 1995; Henkel 2001; Müller 2012. 30 Egidi 2006 (zu Konrad von Würzburg).
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2 Forschung: Zur Diskussion um die Abgrenzbarkeit und zur Polarisierung der Gattungen Die kritische Beleuchtung der älteren Forschungsdiskussion um die Abgrenzbarkeit beider Gattungen gibt über diese Frage hinaus auch Aufschluss über die jeweils gültigen literaturwissenschaftlichen und literarhistorischen Vorannahmen. Simrocks eher en passant getroffene Unterscheidung zwischen ‚Lied‘ und ‚Spruch‘ beruht auf formalen und inhaltlichen Differenzkriterien beider Gattungen.31 Kritik äußerte erstmals Hermann Schneider,32 der den Begriff ‚Sangspruch‘ einführte. Seine Argumentation ist insofern interessant, als sie einerseits gegen eine strenge Grenzziehung zwischen Lied und Sangspruch einen Einwand bringt, der in der Folgezeit topisch wird: dass sowohl formale als auch inhaltliche Kriterien nicht durchgehend gültig seien. Andererseits aber ebnet er die Gattungsdifferenz nicht völlig ein und konstatiert Entwicklungen für sie. Das erste Argument wurde, oftmals wiederholt und zugespitzt, zum Ausgangspunkt späterer Beiträge, während die historische Perspektive zunächst weniger rezipiert wurde. Eine breitere Diskussion wurde mit Friedrich Maurers These ausgelöst,33 der am Beispiel Walthers von der Vogelweide die Verknüpfung von Spruchstrophen eines Tons zu ‚Liedern‘ postulierte und hieraus eine Gattungsnorm ableitete. Wie zum Teil auch sonst in der Diskussion bleibt bei dieser nicht haltbaren These das Kriterium der (Text-)Einheit unklar. An Maurer schloss sich, differenzierter argumentierend, Hugo Moser an; in seiner Problematisierung der Unterscheidung zwischen Minnesang und Sangspruch verwirft er jedes potentielle Differenzmerkmal mit dem Nachweis von Gegenbeispielen.34 Zusammengefasst und unter eingehender Berücksichtigung der Überlieferung kommentiert wurde die vor allem an den Kriterien der Text-Ton-Relation und der Texteinheit geführte Diskussion von Helmut Tervooren.35 Generell verweist die zum Teil immer noch verbreitete Rede vom ‚Verschwimmen‘, ‚Verwischen‘ oder ‚Aufweichen‘ von Gattungsgrenzen auf ein an sich verständliches Unbehagen an substantialistischen Definitionen, verdeutlicht aber zugleich, dass die Negation der Gattungsdifferenz sich ungesagt ausschließlich gegen ein (längst obsoletes) normatives Gattungskonzept richtet, das damit ex negativo wieder bestätigt wird. Gerade die dynamische Minnesang-Sangspruch-Relation zeigt hingegen, dass Gattungsgrenzen sich verschieben, dass auch der systematische Status von Merkmalen (differenzkonstitutiv oder nicht) und ihre Relationierung (Hierarchie
31 Simrock 1833, 175. 32 Schneider 1972 [1928/29] (primär zur Abgrenzung zwischen Sangspruch und paargereimter Kurzdichtung). 33 Maurer 1961; Maurer 1964. 34 Moser 1956; Moser 1961. Müller 1979 schlägt statt der Unterscheidung Minnesang/Sangspruch ein allerdings nur deskriptives Klassifikationsmodell für mittelhochdeutsche ‚Lyrik‘ vor. 35 Tervooren 1967; vgl. Tervooren 1995.
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und Gewichtung) wandelbar sind.36 Dass der historisierende Ansatz Kurt Ruhs (s. o.) im Einzelnen kritisch zu hinterfragen ist (etwa die Kategorie der ‚liedhaften Einheit‘37), relativiert seine generelle Relevanz nicht. In jüngerer Zeit wird tendenziell von einer (dynamischen) Gattungsdifferenz ausgegangen; nur unter dieser Voraussetzung konnten Gattungsinterferenzen untersucht werden.38 Von einer historisierenden Gattungsdifferenzierung deutlich zu unterscheiden ist eine kategoriale Polarisierung der Gattungen. Polarisiert wurden Minnesang und Sangspruch in der Forschung (meistens implizit und zum Teil zeitgleich mit der These der Nichtunterscheidbarkeit) zumal unter den Kategorien von Literarizität und Referentialität; etwa mit der Gegenüberstellung von ‚Dichtung‘ und ‚Didaxe‘, ‚Poetizität‘ und ‚Pragmatik‘, Selbstreferentialität und ungebrochener Realitätsreferenz.39 Zunächst blieb lange Zeit die Einordnung der Sangspruchdichtung als ‚Didaxe‘ unhinterfragt. Die mittlerweile nicht mehr unübliche Betonung der Literarizität auch der Sangspruchdichtung führt jedoch häufig nicht zu einer vollständigen Überwindung dieser Polarisierung. Während die dialektische Verschränkung von Ästhetik und Pragmatik der aktuellen Minnesang-Forschung als selbstverständlich gilt, wird diese Dialektik mit Bezug auf die Sangspruchdichtung zum Teil aufgelöst: In autorzentrierter Perspektive werden etwa Autoren wie Frauenlob unter dem Aspekt der Ästhetisierung aus dem Didaxe-Verdikt ausgenommen, woraus mit Blick auf die gesamte Gattung eine Aufspaltung in ‚Pragmatik‘ und rein ornative Kunst resultiert.40 Auch solche asymmetrischen Wahrnehmungen zeigen, dass es nicht weiterführend ist, mit einer kategorialen, implizit normativen Differenz zwischen beiden Gattungen hinsichtlich solcher basalen Kriterien zu operieren.
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36 Egidi 2002; zu Gattungsinterferenzen insbesondere Brem 2003. 37 Brem 2003; vgl. auch Bein 1993. 38 Siehe Brem 2003 u. a. 39 Z. B. Obermaier 1995. 40 Hübner 1996.
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Sangspruch – Minnesang
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Caroline Emmelius
Narrative Interferenzen im Minnesang 1 Minnesang als diskursive Gattung? Minnesang ist vor allem eine diskursive Gattung: In den Werbungskanzonen des Hohen Sangs tritt der Sänger als Sprecher auf, der argumentiert, verhandelt, reflektiert, beschreibt, klagt. Sein Sprechtempus ist das Präsens. In der älteren Forschung wurde diese Art von Lyrik genre subjectif genannt, im Unterschied zu den narrativen Formen des genre objectif, in denen der Sprecher zum Erzähler wird (→ Tagelied, → Erzähllied).1 Tritt der Sänger als Erzähler auf, impliziert dies zugleich eine zeitliche Distanz zum berichteten Geschehen, so z. B. in Albrechts von Johannsdorf Ich vant si âne huote (MF 93,12): Hier artikuliert sich eine autodiegetische Sprechinstanz, die von einem in der Vergangenheit liegenden Zusammentreffen mit der Dame berichtet. Das erzählte Geschehen besteht dann allerdings ausschließlich in der Wiedergabe eines Dialogs mit der Dame, über den der Erzähler in die Logik des Sangs als Minnedienst eingewiesen wird (→ Dialoglied – Wechsel – Botenlied). Spricht der Sänger hingegen, wie in der klassischen Werbungskanzone, im Prä sens über eine aktuelle Situation, dann ist eine solche narrative Distanz zum Geschehen nicht vorauszusetzen: Der Sänger formuliert dann in den einzelnen Strophen erst gedankliche Schritte, über die sich eine Haltung, Meinung oder Position zu der gegebenen Situation finden lässt. Man kann einwenden, dass die Einteilung von Minneliedern nach diskursiven oder narrativen Sprechhaltungen, nach genres subjectifs und genres objectifs, zu schematisch ist. Denn auch in Liedern mit einer diskursiven Sprechinstanz kann es punktuell zu narrativen Interferenzen, also zu Einbrüchen des Narrativen in den lyrischen Diskurs kommen.2 Die folgenden Abschnitte stellen zwei Varianten solcher narrativer 1 Genre subjectif bezeichnet lyrische Formen, in denen sich ein ‚subjektives‘ Ich artikuliert, genre objectif bezeichnet lyrische Formen mit einem ‚objektiven‘ Erzähler. Die Begrifflichkeit stammt aus der älteren romanistischen Forschung zur Troubadourlyrik, man verwendet sie heute wegen der problematischen Gegenüberstellung von subjektiver und objektiver Sprechhaltung nicht mehr (→ Erzähllied) und bevorzugt eine neutrale literaturwissenschaftliche, z. B. von der Narratologie für Erzählinstanzen entwickelte Terminologie, vgl. u. a. Schönert 1999. 2 Das ist in der Forschung immer wieder gesehen worden: Einen Vorschlag zur Systematisierung von narrativen Elementen im Sang bietet Eikelmann 1996; Mertens 2005, 34–38, hat für Morungen Narration als ein poetisches Verfahren des Sangs beschrieben, das mit der Reflexion bei Reinmar und der Diskussion bei Walther kontrastiere; in den letzten Jahren hat vor allem Bleumer auf die Korrelation von lyrischen und narrativen Qualitäten in Sang und Roman hingewiesen. Er vertritt die These, dass lyrische und narrative Qualitäten gegenläufige Zeitkonzepte implizieren, die in literarischen Texten interferieren, vgl. Bleumer 2008, 2010a und 2010b sowie Bleumer und Emmelius 2011; zum Begriff des Lyrischen Bleumer 2013. https://doi.org/10.1515/9783110351859-035
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Interferenzen vor: Retrospektiven (2) und intertextuelle Bezugnahmen auf narrative Texte (3).
2 Retrospektiven In vielen Liedern wird der Sprecher punktuell und vorübergehend zum Erzähler, und zwar wenn er im Kontext einer übergeordneten Argumentation von einem zurückliegenden Geschehen berichtet. Solche Retrospektiven nehmen häufig eine zurückliegende Begegnung zwischen Ich und Dame und insbesondere die kommunikative Interaktion zwischen beiden in den Blick.3 Dass der Sänger im Angesicht der Dame nicht zu sprechen vermag oder dass ihm nicht das Richtige einfällt, ist so ein narratives Versatzstück,4 das etwa Friedrich von Hausen nutzt (MF 48,32, I, V. 1–5). Das Schweigen des Sängers vor der Dame ist hier durch äußere Gründe, nämlich die übrigen Anwesenden (diet), bedingt. Bei → Reinmar hingegen hat das Schweigen des Sängers innere Gründe: In MF 153,14 schweigt der Sänger bei den wiederholten Begegnungen mit der Dame, weil er sich gar nicht erst Freude von ihr erhofft (II, V. 7–8). An die Stelle des erinnerten Schweigens vor der Dame kann auch die falsche oder unangemessene Rede des Sängers treten: In einer Kanzone → Heinrichs von Veldeke verflucht der Sänger das übel wort, das er sich vor der Dame nicht habe versagen können, nämlich die Bitte, sie umarmen zu dürfen (MF 56,1, IV, V. 1–6). Körperliches Begehren im Angesicht der Dame äußert auch der Sänger in → Heinrichs von Morungen Si hât mich verwunt (MF 141,37, bes. I, V. 7–10); der Sänger in → Hartmanns von Aue Maniger grüezet mich alsô (MF 216,29) gesteht der Dame seine Liebe in der erinnerten Situation ganz explizit (III, V. 1–4). Diesen erinnerten Szenen ist gemein, dass ihnen für die gegenwärtige Situation, in der der Sänger sein Liebesverhältnis zur Dame reflektiert, ein im narratologischen Sinne ereignishafter Charakter zukommt.5 Die zurückliegende Begegnung mit der Dame und die Unmöglichkeit, Forschheit oder Unangemessenheit der kommunikativen Interaktion haben in der Perspektive des Sängers die Beziehung zur Dame qualitativ verändert: erschwert oder verschlechtert in den meisten Fällen; seltener glücklich verbessert.6 Die Situation, aus der heraus der Sänger spricht, ist maßgeblich von diesem (konflikthaften) Ereignis geprägt, auch wenn dessen Konsequenzen für das Hier und Jetzt noch nicht voll begriffen sind, sondern erst in der Reflexion hermeneutisch bearbeitet werden. 3 Vgl. hierfür und für das Folgende Eikelmann 1996 mit einer grundlegenden Bestandsaufnahme von ‚narrativen Elementen‘ in der Minnekanzone und Vorschlägen zur Systematisierung. 4 Hierzu auch Eikelmann 1996, 34–38. 5 Zum Ereignisbegriff vgl. Hühn 2013; in der Sache analoge Befunde, jedoch ohne narratologische Begrifflichkeit, bei Eikelmann 1996, 23, 28, 31, 34–38. 6 Vgl. hierzu die Übersicht bei Eikelmann 1996, 30–31.
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Retrospektiven führen ein Moment der Verzeitlichung in den präsentischen lyrischen Diskurs ein. Für die Sängerfigur haben solche Rückblenden vielfach einen autonarrativen Effekt: Sie versehen die Sprechinstanz mit narrativen Fragmenten, die sich in der Perspektive des Rezipienten zu einer (autobiographischen) Geschichte zusammenzusetzen scheinen. In der älteren Forschung sind solche autonarrativen Fragmente zu hartnäckig langlebigen Sängerbiographien montiert worden, was die rhetorische Wirkmacht von narrativen Rückblenden in Minneliedern belegt (→ Zeit, → Walther von der Vogelweide, → Reinmar).7
3 Intertextuelle Bezugnahmen auf narrative Texte Eine besonders auffällige narrative Interferenz stellen intertextuelle Bezugnahmen auf narrative Texte dar. Im Minnesang erfolgen sie vor allem über das Zitat von Figurennamen aus Erzählungen der klassischen Antike, der Bibel, aber auch aus dem zeitgenössischen höfischen Roman.8 In der Forschung hat man diese Zitierpraxis als Exempelgebrauch bezeichnet: Der Name gilt dann als Chiffre für ein spezifisches Verhalten, eine Eigenschaft, eine Tugend oder ein Laster.9 ‚Salomo‘ steht in der geistlichen und didaktischen Literatur für Weisheit, in der Minneliteratur bezeichnet er hingegen einen Minnetoren, dessen Weisheit sich unter dem Einfluss der unberechenbaren Kraft der Minne in Torheit verkehrt.10 So wird der Name in einer Strophe Heinrichs von Veldeke eingeführt und als Vergleichsfolie für das Sprecher-Ich genutzt (MF 66,16, V. 1–7).11 Ein solches exemplarisches Namenszitat ist gleichsam die Schrumpfform einer narrativen Interferenz,
7 Vgl. hierzu auch Bleumer 2005 und 2012. 8 Vgl. die tabellarischen Auswertungen zu den Eigennamen in ‚Minnesangs Frühling‘ und den ‚Schweizer Minnesängern‘ in der ausführlichen Studie zum Namengebrauch in der spätmittelalterlichen Lyrik von Wittstruck 1987, 241–243; 245–246 zu Personennamen aus narrativen Kontexten; ferner die Übersicht bei Sayce 2000, 13–19, zu Personennamen in Minnesang und Leich; zu den Möglichkeiten der intertextuellen Bezugnahme durch zitierte Personennamen in Minnesang und Spruchdichtung vgl. Reuvekamp-Felber 2011; zum semantischen Potential von Eigennamen in narrativen Texten Reich 2011. 9 Vgl. Sayce 2000, die ihre Beobachtungen zum Eigennamenzitat im Minnesang als „exemplary comparisons“ subsumiert; aber auch z. B. Schweikle 1995, 207, sowie Kern 1998, 21–27, der exemplarische Vergleiche als einen Teilbereich mittelalterlicher Anspielungsrezeption beschreibt. 10 Sayce 2000, 3. Narrative Grundlage für diese beiden Wertungen sind die biblischen Berichte zu Salomo: 1 Kön 1–11 und 2 Chr 1–9; kritisch zur Polygamie Salomos und zu dem seinen Frauen geschuldeten Götzendienst bes. 1 Kön 11. Die Vorstellung, dass die Liebe den Weisen zum Narren mache, ist ein Motiv der Weltliteratur (Aarne-Thompson-Index 1501), vgl. Brednich 1977. Im Deutschen ist es außer in der Spruchdichtung vor allem in der Märendichtung, z. B. in der Erzählung von ‚Aristoteles und Phyllis‘, formuliert; vgl. Maurer 1953. 11 Vgl. ähnlich Reinmar von Zweter (ROETHE 103,6).
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kann der Eigenname hier doch nur deshalb zur Chiffre für eine exemplarische Eigenschaft werden, weil in ihm die narrativ verbürgte Geschichte der Figur entsprechend kondensiert und durch wiederholten Gebrauch konventionalisiert und auf den Begriff gebracht worden ist.12 Schon die beiden nach Gattungskontext differierenden Verwendungsweisen des Namens Salomo zeigen jedoch an, dass die im Namen chiffrierte Geschichte der Figur unterschiedliche Valenzen haben kann: Die Figur kann – je nach Perspektive – mehrere Geschichten haben, die wiederum unterschiedliche Semantiken generieren.13 Komplementär zur exemplarischen Namenverwendung ist also auch damit zu rechnen, dass Eigennamen aus narrativen Kontexten als Inserat in einem lyrischen Text eine Fülle von „Assoziationskomplexen“ auslösen.14 Wie einsinnig oder vieldeutig ein zitierter Eigenname im Liedtext erscheint, ist nicht zuletzt auch abhängig von der Frage, auf welche Weise er zitiert wird: ob als Identifikationsangebot oder als Kontrastfolie für im Lied artikulierte Eigenschaften und Positionen oder aber im Kontext einer komplexeren Argumentation.15
Aeneas und Dido: Narrative Interferenz als Interpretationsaufgabe An Friedrichs von Hausen Lied Ich muoz von schulden sîn unvrô (MF 42,1) lässt sich ersehen, welche Möglichkeiten narrative Interferenzen im Lied jenseits eines rein exemplarischen Namengebrauchs haben. Der Sprecher eröffnet das Lied in den beiden überlieferten Fassungen16 damit, dass er sich an einen Wortwechsel mit der Dame erinnert, in dem sie klarstellt, dass, auch wenn er sich einbilde, ihr Aeneas zu sein, sie doch niemals seine Dido werde (I, V. 1–5). Die beiden Eigennamen Enêas und Tidô referieren auf den ‚Eneasroman‘.17 Die Namen gehören hier – anders als oben in der Strophe Veldekes – nicht der Rede des Sängers an, sondern sie sind Teil des referierten Sprechakts der Dame.18 Die Dame wie12 Grundsätzlich hierzu von Moos 1996. 13 Vgl. die zweipolige Verwendung des Namens Salomo in der Spruchdichtung; oder unten zur selektiven Anspielung auf Iwein bei Frauenlob. 14 So Reuvekamp-Felber 2011, 249. Der Beitrag systematisiert diese Assoziationskomplexe für Spruchdichtung und Minnesang nach den Funktionen, die sie im jeweils zitierenden (Phäno-)Text übernehmen: 1) Korrespondenz und Partizipation, 2) Kontrastierung und 3) Travestie der im Namenszitat eingespielten Bedeutungen. 15 Vgl. Reuvekamp-Felber 2011. 16 Das Lied ist mit fünf Strophen in Handschrift B (I–III, V, VI) und vier Strophen in Handschrift C (I–IV) überliefert. Ich beziehe mich hier nur auf die gemeinsam überlieferten ersten drei Strophen. Zur Forschungsgeschichte des Liedes Kern 1998, 222–226; vgl. auch Eikelmann 1996, 21–23. 17 Für Veldekes ‚Eneasroman‘ als Referenztext plädieren Ashcroft 1999, bes. 61–73; Kern 1998, 225–226; Kern 2003a. 18 Zu den komplexen zeitlichen Stufungen des Liedes ausführlich Emmelius 2011, 228–235; Eikelmann 1996, 21–24.
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derum nutzt die Namen der antiken Erzählung, um ein Liebesmodell anzudeuten, das sie als Muster für eine Beziehung zwischen sich selbst und dem Sänger brüsk abweist. Enêas und Tidô stehen hier also nicht für isolierbare exemplarische Eigenschaften, vielmehr sind sie Chiffren für ein voraussetzungsreiches Beziehungsmodell, dessen Implikationen sowohl vom adressierten Sprecher-Ich als auch von den Rezipienten des Liedes aus der vorgängigen Erzählung zu importieren sind. Welche Aspekte der Handlung zwischen den beiden literarischen Figuren von der Dame angesprochen sind – die intensive erotische Bindung, dass Aeneas Dido verlässt, Dido schließlich aus enttäuschter Liebe den Freitod sucht, oder aber alles zugleich –, ist zunächst einmal offen.19 Das Lied Friedrichs von Hausen setzt den narrativen Entwurf der Beziehung zwischen Dido und Aeneas in seiner semantischen Vielschichtigkeit nicht zufällig an den Ausgangspunkt der lyrischen Sprechsituation. Der Sänger macht damit nicht nur den reflexiven Erkenntnisfortschritt des Sprecher-Ich in den Folgestrophen nachvollziehbar, sondern zugleich als subjektive Deutung dieser narrativen Interferenz kenntlich.
‚Tristan‘-Anspielungen als Auseinandersetzungen mit dem Minnetrank Die Interpretationsleistung der textinternen und -externen Rezipienten wird in besonderem Maße herausgefordert, wenn der Name nicht – wie biblische oder antike Namen – einem literarischen Gedächtnis entnommen ist, über das bereits eine hohe Vorverständigung existiert, sondern zeitgenössischen Erzählungen, zu denen es kontroverse Einschätzungen gibt. So dürfte es kein Zufall sein, dass gerade der ‚Tristan‘- Roman mit seinem problematischen Liebeskonzept gleich mehrfach zum Bezugspunkt von Minneliedern wird:20 In einem Minnelied Berngers von Horheim (MF 112,1) behauptet das SprecherIch, es liebe seine Dame mehr als Tristan Isolde. Hierfür habe es aber keinen (Minne-) Trank zu sich nehmen müssen, vielmehr seien für die herzeclîche[] minne (I, V. 3) zu seiner Dame allein seine Augen verantwortlich:
19 Zum Spektrum der Deutungen der beiden antiken Figuren in der mittelalterlichen Literatur Kern 2003a; Kern 2003b; zu den Deutungsmöglichkeiten der Aeneas-Anspielung in Friedrichs von Hausen Lied ausführlich Ashcroft 1999; Eikelmann 1996, 22, Anm. 11; Kern 1998, 222–224. 20 Ausführlich zum Folgenden Mertens 1993. Zu weiteren Anspielungen auf den höfischen Roman über die Figurennamen Gawan, Parzival und Gachmuret sowie Flore und Blanscheflor vgl. den Überblick bei Sayce 2000, 13–19. Eigennamen aus der Heldendichtung finden sich im mittelhochdeutschen Minnesang nicht. Eine Ausnahme kennt lediglich die Spruchdichtung: In einem Spruch Boppes findet die Figur des Horant aus dem Brautwerbungsepos Kudrun Erwähnung, bezeichnenderweise als (Minne-)Sänger, dessen süeze[r] dôn der Sprechinstanz unerreichtes Vorbild ist (Alex 1998, 64 [I.18, V. 5]).
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Nu enbeiz ich doch des trankes nie, dâ von Tristan in kumber kan. noch herzeclîcher minne ich sie danne er Ysalden, daz ist mîn wân. daz habent diu ougen mîn getân. (KAS 70,1, V. 1–5 / MF 112,1, I)
Das Sprecher-Ich nutzt das berühmte Liebespaar, um die Liebe zur eigenen Dame davon abzusetzen und hyperbolisch zu steigern. Zugleich distanziert es sich von der Art und Weise, wie die Liebe zwischen Tristan und Isolde zustande kommt, und setzt ihr einen ganz konventionellen Topos zur Liebesentstehung entgegen.21 Noch deutlichere Kritik an der Trankliebe der Tristanerzählungen als Zwangliebe übt Heinrich von Veldeke in seiner Tristanstrophe: Tristan muose sunder sînen danc staete sîn der küniginne, wan in der poysûn dar zuo twanc mêre dan diu kraft der minne. (KAS 35,1, V. 1–4 / MF 58,35, I)
Die Bindung an Isolde wird hier allein als äußerlicher Effekt des poysûn (Gift, Zaubertrank) gewertet, nicht als Wirkung einer natürlich entstandenen, freiwilligen Liebe. Eine solche unfreiwillige Liebe wiederum lehnt der Sprecher explizit ab, um (wie Bernger) seine Liebe zur Dame über die Tristanliebe zu stellen: des sol mir diu guote danc wizzen, daz ich solken tranc nie genam und ich si doch minne baz danne er, und mac daz sîn. (V. 5–8)
Das berühmte Liebespaar ist in den beiden Liedern nicht nur Maßstab für die Intensität der eigenen Liebe, sondern liefert mit dem Skandalon des Minnetranks das Modell einer auf magischen Hilfsmitteln beruhenden Liebe, das zugunsten einer Liebe, die auf natürlichen Wegen entsteht und vor allem freiwillig geschenkt wird, abgewiesen wird. Das intertextuelle Verhältnis zwischen Lyrik und Roman verkompliziert sich allerdings, wenn man zu bestimmen sucht, auf welche der mittelalterlichen Fassungen des Tristan-Romans sich Bernger von Horheim und Heinrich von Veldeke beziehen. Beide Sänger zitieren nicht eine bestimmte Romanfassung, sondern wiederum, fast wörtlich, die vierte Strophe einer Kanzone des altfranzösischen Dichters Chrétiens de Troyes.22 Die im Namen ‚Tristan‘ chiffrierte intertextuelle Referenz wäre insofern
21 Zu den Augen als Einfallstor der Liebe Schnell 1985, 241–274; zu Berngers Lied Mertens 1993, 45–49. 22 Zai 1974, 75–80, hier 78 (Str. 4, V. 28–31); zu Chrétiens Lied vor dem Hintergrund der altprovenzalischen Lyrik Mertens 1993, 38–45.
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nur eine narrative Interferenz zweiter Ordnung. Zur Zeit Berngers von Horheim und Heinrichs von Veldeke kann sie noch nicht auf den ‚Tristan‘-Roman Gottfrieds (um 1210) verweisen, sondern vielmehr auf Fassungen des zwölften Jahrhunderts: den altfranzösischen Roman von ‚Tristan et Iseut‘ des Béroul oder den mittelhochdeutschen Eilhart’schen ‚Tristrant‘. In beiden Texten ist der Minnetrank zentraler Auslöser der Liebe zwischen Tristan und Isolde und determiniert zugleich deren zeitliche Begrenzung.23 Es sind sehr deutlich diese Entwürfe einer Zwangliebe, gegen die die Lyriker argumentieren.24 Wenn in der Großen Heidelberger Liederhandschrift Anfang des vierzehnten Jahrhunderts jedoch die Namensform Tristan in Veldekes Strophe Verwendung findet, dann könnte hiermit auch der Gottfried’sche Roman aufgerufen sein. Damit würde sich auch die Bedeutung der Abwehr des Tranks bei Veldeke verändern: Die Frage der Liebesentstehung zwischen Tristan und Isolde würde neu problematisiert und die „radikale Symbolisierung“ des Tranks bei Gottfried zurückgewiesen.25 Entscheidend ist: Als intertextuelle Phänomene stiften narrative Interferenzen keine stabilen, unveränderlichen semantischen Relationen, sondern haben, wie die tendenziell offenen Textreihen, die sich durch sie ergeben, einen dynamischen Charakter.
Iwein und Lunete: Narrative Polyvalenzen und die Fehler der Liedüberlieferung Die Anspielung auf Hartmanns ‚Iwein‘ in einer Minneklage → Frauenlobs liefert ein Beispiel dafür, dass die prinzipielle Mehrdeutigkeit der narrativen Interferenz schon die Ebenen der Textüberlieferung und -herstellung betreffen kann. In der kritischen Edition von Stackmann und Bertau lautet die Strophe so: Minne, wiltu solchen jamer uf mich erben mine zit? Diner lüste selden amer Mir da kleine stiure git. Nie dem herren Iwein wirs kein maget tete, wan die schöne vrou Lunete half: des leben da trost an hete. (GA XIV,9)
Dem Leiden des Sprecher-Ich an der Minne steht das positive Beispiel von Iwein und Lunete gegenüber: „Nie ist Iwein Schlimmeres von einer maget widerfahren als mir,
23 Vgl. Reuvekamp-Felber 2011, 255–256. 24 Einführend zu den Funktionen des Minnetranks in den mittelalterlichen Tristan-Erzählungen Huber 2001, 73–85. 25 Vgl. für diese These Reuvekamp-Felber 2011, 256–257.
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aber ihm hat doch Lunete beigestanden, das bot ihm trost – anders als mir, der ich keine Lunete habe.“26 Der Trost, den Iwein von Lunete erfahren hat, würde hier ihre Hilfe auf der Burg Ascalons meinen, als sie Iwein zunächst versteckt und ihn später mit ihrer Herrin Laudine in Kontakt bringt. Da die Handschriften für die letzten beiden Verse dieser Strophe divergierende Wortlaute überliefern, die keinen sprachlich kohärenten Satz ergeben,27 ist die Lesart der Göttinger Ausgabe das Werk der Herausgeber.28 Dass die Strophe auch einen alternativen Sinn transportieren kann, wenn man die schwierige Überlieferung syntaktisch in anderer Weise auflöst, lässt sich an der älteren Ausgabe von Nagel zeigen: Nie dem hern Iweine wirs kein maget tet, wan die schoene vrou Lunet half, daz lebende er trôst enhet.29
Diese Verse ließen sich auch so auffassen, dass die Figur des Iwein nicht Kontrastfolie für das leidende Sprecher-Ich30 ist, sondern Vergleichsmaßstab: Das Leiden des Ich ist so groß wie das Iweins, das ihm Lunete zufügte. Der Bezugspunkt im Roman wäre damit ein ganz anderer: Er würde auf jenen Moment in der Handlung anspielen, als Lunete Iwein im Auftrag Laudines öffentlich vor dem Artushof wegen seiner Pflichtversäumnis anklagt und sein ritterliches Ansehen damit ruiniert. Der Tiefpunkt der höfischen Existenz der narrativen Figur wäre der Maßstab, den das Ich für sein Leiden an der Liebe aufruft. Die beiden Herausgeberlesarten implizieren zwar unterschiedliche Verfahren des Vergleichs – Korrespondenz im einen, Kontrast im andern Fall31 –, ergeben aber beide auf ihre Weise für die Strophe Sinn. Sie machen allerdings darauf aufmerksam, welchen semantischen Spielraum eine narrative Interferenz haben kann: In den Figurennamen Iwein und Lunete ist eben nicht von vornherein festgelegt, welche Aspekte ihrer gemeinsamen Geschichte im manifesten lyrischen Text aktualisiert werden
26 Kommentar zu XIV,9, V. 5–7 (GA, Bd. 2, 1027); die Herausgeber beziehen sich hier offenbar besonders auf die bereits bei Bartsch 1910, 310, vorgeschlagene Interpretation. 27 Vgl. Apparat zu XIV,9, V. 7 (GA, Bd. 2, 1026–1027): Handschrift F: hilff das leben der trost an het; Handschrift m: halp dat leben der trost en het. 28 Vgl. Kommentar zu XIV,9, V. 5–7 (GA, Bd. 2, 1027): „Die Herstellung dieser Fassung verlangt […] einige Eingriffe in den überlieferten Wortlaut […].“ Weitere Beispiele für Textherstellungsversuche vgl. den Kommentar zu XIV,9 (GA, Bd. 2, 1027). 29 Nagel 1951, 6. Nagels Versübersetzung bleibt semantisch bei Bartsch, indem er die maget mit Laudine identifiziert und Lunete als Iweins Retterin versteht. Alternativ ließen sich auch die V. 5–6 als ein Hauptsatz und V. 7 als ein zweiter auffassen, dem dann allerdings das Subjekt (‚sie‘) fehlte. In diesem Fall wäre zu übersetzen: ‚Keine junge Dame behandelte Iwein schlechter als Lunete; sie trug dazu bei, dass er lebendig keinen Trost mehr hatte‘. 30 Diese Lesart betont auch Köbele 2003, 63. 31 Zu den verschiedenen Optionen des intertextuellen Bezugs Reuvekamp-Felber 2011.
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sollen. Das wiederum mag ein Grund für den offenbar defekten Zustand der Überlieferung sein: Vielleicht war schon den Schreibern der Liederhandschriften unklar, wie der Bezug des Ich auf die Beziehung von Iwein und Lunete gemeint war. Die Polyvalenz der narrativen Interferenz würde hier bereits in der handschriftlichen Rezeption sichtbar.
Narrative Interferenz als klangliche Emergenz: Das sogenannte Narzisslied Das Heinrich von Morungen zugeschriebene Lied Mir ist geschehen als einem kindelîne (MF 145,1)32 bietet schließlich den Fall einer narrativen Interferenz, die nicht explizit über das Zitat von Eigennamen formuliert ist und gerade deshalb besonders komplex erscheint. Das Lied referiert in Form eines Vergleichs gleich zweimal auf ein namenloses kint: In der ersten Strophe vergleicht sich das Sprecher-Ich mit einem kindelîne, das sein Abbild in einem Spiegel sieht, danach greift und den Spiegel zerstört (KAS 123,1, V. 1–4 / MF 145,1, I); in der dritten Strophe vergleicht es sich mit einem Kind, daz wîsheit unversunnen sînen schaten ersach in einem brunnen und den minnen muos unz an sînen tôt (V. 6–8).
Insbesondere der zweite Vergleich ist als explizite Bezugnahme auf den Narzissmythos aufgefasst worden, was dem Lied seinen neuzeitlichen Namen eingetragen hat.33 Der Vergleich in der ersten Strophe dürfte hingegen allenfalls Zeugnis für eine mittelbare Rezeption des Mythos sein, die diesen bereits produktiv adaptiert und verändert hat. 34 Als Narziss-Mythologem lässt sich dieser Vergleich vor allem aus der Perspektive der dritten Strophe verstehen.35 Auf welche konkreten Textvorlagen sich die Anspielungen jeweils beziehen, ist dabei, wie im Falle der Tristan-Referenzen, offen: Die ‚Metamorphosen‘ Ovids sind im Mittelalter bekannt, neben lateinischen existieren altfranzösische und auch eine mittelhochdeutsche Übersetzung. Der Verweis auf den Narzissmythos könnte sich
32 In Handschrift E ist das Lied mit drei Strophen unter dem Namen Reinmars überliefert, Handschrift C kennt unter Morungens Namen nur die erste Strophe. Eine kritische Revision der Zuschreibung des gesamten Liedes an Morungen bei Klein 2015. 33 Zur Rezeption des Narzissmythos bei Morungen vgl. u. a. Huber 1985; Kern 1998, 45–73; Müller 2010; Bleumer 2010a; Feichtenschlager 2015; zur dritten Strophe Kern 2015. 34 Vgl. Huber 1985; zu den semantischen Implikationen von mittelhochdeutsch kint Schmid 2015; zum Spiegel- als Vanitasmotiv Müller 2010. 35 Für Handschrift C, die nur die erste Strophe überliefert, wäre also zu diskutieren, ob hier überhaupt eine narrative Interferenz vorliegt.
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aber auch lyrischen Prätexten, besonders der Trouvèrelyrik (→ Liebeslyrik in Nordfrankreich), verdanken.36 Für eine solche über die Liebeslyrik vermittelte Rezeption des Mythos sprechen vor allem die semantischen Umbesetzungen des Mythologems im Lied, die insgesamt für die mittelalterliche Narziss-Rezeption kennzeichnend sind.37 Die Transformation der selbstbezüglichen Liebeskonstellation des antiken Mythos in die auf Entsagung angelegte Dienstminne des Hohen Sangs38 bringt in Morungens Lied eine Reihe von Anspielungen auf Zerstörung (I, V. 4), Verletzung (II, V. 7) und Tod (III, V. 8) mit sich, die zwar lose mit dem Tod des mythischen Narziss in Verbindung gebracht werden können, zugleich aber auch die produktive Eigendynamik dieses lyrischen Entwurfs verdeutlichen.39 Die Narrativität des Narzissliedes verdankt sich jedoch nicht allein den Anspielungen auf den Narzissmythos. Narrativität wird in diesem Lied auch durch den eigentümlich unentschiedenen Redemodus der Sprechinstanz erzeugt, die sowohl das konstatierend-reflektierende Präsens als auch das Präteritum als erzählendes Tempus nutzt. Die beiden Vergleiche mit dem kindelîn beziehungsweise kint stehen dabei in der ersten und dritten Strophe im Präteritum und verstärken damit den Eindruck einer referierten Erzählung. Sie rahmen die erzählte Traumvision der zweiten Strophe, die wiederum in der präsentischen Klage der vierten Strophe ein Gegenstück besitzt. Der Wechsel der Zeitformen bildet auf diese Weise ein Strukturmuster aus, das in der komplexen Argumentation des Liedes eine gewisse Orientierung bietet.40 Die spezifische Zeitlichkeit des Narzissliedes kann dabei noch einmal zum Mythos zurückführen: Bleumer versteht die niuwe[] klage, die der Sänger in der dritten Strophe anhebt (III, V. 3) und in der vierten Strophe fortsetzt, als zeitliche Aufhebung und generische Überschreitung der „Mikro-Narration[en]“ der ersten drei Strophen: Erst in der klage kann es zu einem sinnlich ästhetischen Kontakt mit der Dame kommen, die in den ‚Erzählungen‘ von ihr als schœnez bilde (I, V. 2) immer auf Distanz bleiben muss.41 Eine solche Korrelation von (erzähltem) Bild und (gesungener) Klage hätte wiederum im Mythos vom schönen Jüngling Narziss und der ihn liebenden Nymphe Echo einen markanten Prätext: Liest man den Narzissmythos mit Kiening als Geschichte einer „Medienerkenntnis“, in der die Medialität von Bild und
36 Vgl. Huber 1985. Zu der Frage, ob die von Bartsch 1858 publizierte altprovenzalische Kanzone, die bis heute allerdings nicht auffindbar ist, eine Vorlage für das Narzisslied abgegeben haben könnte, vgl. das Resümee zur Forschungsgeschichte bei Seidl 2015. 37 Vgl. grundlegend Vinge 1967; Huber 1985; Kern 2003c; zur Spiegelmotivik Schmid 1985; zur Vergänglichkeitspoetik des Liedes Kern 2009, 242–247. 38 Vgl. Huber 1985, 592. 39 Kellner 1997, 56–65. 40 Zur fragmentierten Narrativität des Narzissliedes Mertens 2005, 45–47; Huber 2015, 117–119; zu den Strukturanalogien zwischen erster und dritter, sowie zweiter und vierter Strophe Kern 2015. 41 Bleumer 2010a, 335 und 337.
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Klang und die Verfahren ihrer poetischen Hervorbringung reflektiert werden,42 wäre Morungens Narzisslied entsprechend als ein lyrisches Narrativ zwischen Bild und Klang zu beschreiben.43
4 Fazit und Ausblick: Lyrisch-narrative Interferenzen zwischen Minnesang und Roman Während Verzeitlichungen des lyrischen Diskurses durch Retrospektiven und Autonarrativierungen (→ Zeit) zu den viel genutzten, zentralen Aussagemöglichkeiten des Minnesangs gehören, sind intertextuelle Verweise ein weniger häufiges Phänomen. Gerade für die Zeit des Hohen oder klassischen Sangs sind Bezugnahmen auf die zweite große Gattung der mittelhochdeutschen Literatur, den höfischen Roman, tendenziell eine Ausnahme. Im dreizehnten Jahrhundert finden sich Eigennamenzitate insgesamt häufiger, neben der liedhaften Lyrik auch im Leich und in der Spruchdichtung.44 Das bedeutet jedoch nicht, dass der Minnesang und die narrativen Gattungen interesselos nebeneinander stünden (→ Epiker, die Lyrik schreiben): Hinweisen lässt sich zum einen auf Motive, die, wie der Topos des locus amoenus, lyrische Liebessemantiken in narrative Handlungen einspielen und zur Sujetbildung beitragen.45 Von wechselseitiger Kenntnisnahme und Auseinandersetzung zeugen zum anderen Erzählungen, in denen Liebesmodelle des Minnesangs regelrecht narrativiert zu sein scheinen, wie im ‚Mauritius von Craûn‘46, im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Liechtenstein47 oder im ‚Herzmaere‘ Konrads von Würzburg.48 Im höfischen Roman treten Liebesmodelle, wie sie der Sang entwirft, in Kontrast zu Minnebeziehungen, die in genealogisch produktive und damit herrschaftsstabilisierende Ehen münden.49 Eine alternative Wertung der Paarliebe im Kontrast zu einer auf Herrschaftssicherung angelegten Ehe verhandelt Gottfrieds ‚Tristan‘-Roman, wenn er die Beziehung zwischen Tristan und Isolde gerade in ihren radikal selbstbezüglichen, nicht gesellschaftlichen Aspekten ästhetisiert und sakralisiert. Dass er
42 Kiening 2009, 82. 43 Bleumer und Emmelius 2011; Bleumer 2010a. 44 Vgl. für Spruchdichtung und späten Minnesang Wittstruck 1987; Sayce 2000, 13–19, für den klassischen Minnesang und den Minneleich. 45 Vgl. Schulz 2011. 46 Vgl. Fritsch-Rössler 1991; Ortmann 1986; Klein 1998; Philipowski 2009; Dimpel 2014. 47 Vgl. Bleumer 2010b; Braun 2010. 48 Vgl. Kiening 2007. 49 Vgl. die Joie de la court-Episode in Hartmanns ‚Erec‘ oder die Sigune-Episoden im ‚Parzival‘; zum ‚Titurel‘ als lyrisches Narrativ Bleumer 2011.
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für diesen mit den Konzeptionen der Eheminne brechenden Entwurf von Minne insbesondere lyrische Motive und Ausdrucksformen verwendet, zeigt einmal mehr die wechselseitige Bezüglichkeit narrativer und lyrischer Gattungen.50
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50 Vgl. Wyss 2002; Bleumer 2008.
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Autorbilder und Autorprofile
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Autorbilder 1 Autorschaft und Autorbild im Minnesang Das Verständnis von Autorschaft im Minnesang ist mehrschichtig.1 Dies liegt an der Sprechinstanz des Ich, das die meisten Minnelieder bestimmt und dessen Deutung zwischen einer auktorialen Sprechhaltung, einem liedimmanenten Liebenden und der möglicherweise hinzuzudenkenden Instanz eines Vermittlers (Sängers, Vortragenden) changiert.2 Durch einen einflussreichen Aufsatz von Hugo Kuhn3, der freilich nur ein Lied in dieser Hinsicht interpretierte, galt der Forschung lange als gesetzt, dass Minnesang wesentlich vor dem Hintergrund seiner Performanz zu verstehen sei (→ Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs). Auch wenn diese Interpretation der Sprechinstanz sicherlich nicht verallgemeinert werden kann,4 so bleibt eine dieser Lyrik inhärente Unschärfe, wie fiktional beziehungsweise wie real die Aussagen des Ich zu verstehen sind.5 Der vorliegende Beitrag versucht, in dieser Unklarheit eine gewisse Sicherheit zu finden, indem er das Autorverständnis in den Blick nimmt, wie es sich in der Überlieferung von Minnesang manifestiert.6 Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Autoren eine zentrale Rolle bei der Anlage und Konzeption der Handschriften spielten, Verfasserschaft war in den Augen der Sammler also für das Verständnis der Lieder wesentlich. Minnelieder werden in den handschriftlichen Sammlungen in der Regel einem Dichter zugeschrieben (→ Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge). Das ist für die mittelalterliche Kultur bemerkenswert, denn in der Überlieferung anderer Gattungen7 ist häufig kein Autorname angegeben. Demgegen1 Grundlegende Arbeiten zum Thema versammelt der Band ‚Autor und Autorschaft im Mittelalter‘ (Haubrichs 1998; Lienert 1998; Wenzel 1998). Wenzel etwa fächert die Vielfalt der Aspekte von Autorschaft auf. 2 Zur Verzahnung dieser Rollen s. Lienert 1998. 3 Kuhn 1969. 4 Vgl. zuletzt Kellner 2018, 25–28. 5 Eine Deutung von Minnesang als Rollenlyrik, die das Spielerische und Unverbindliche der Aussagen in den Vordergrund rückte, war lange Konsens in der Forschung, ist aber in ihrer Einseitigkeit nicht haltbar. So bezieht etwa Müller (2001, 109–110) den „gemeinsame[n] Situationshorizont“ von Publikum und Vortragendem mit ein, der zur Folge habe, „daß beim Liedvortrag der fiktionale Charakter der Rede leicht übersehen werden kann“. 6 Diesen Ansatz hat zuerst Wachinger (1991) verfolgt und eine Typologie von Autorschaft anhand mittelhochdeutscher Handschriften erstellt. 7 Dies gilt für etliche epische Werke, so ist die Autorschaft Gottfrieds von Straßburg beispielsweise in keiner ‚Tristan‘-Handschrift bezeugt (vgl. Wachinger 1991, 2), aber auch für Kleinepik, deren Autoren nur in Ausnahmefällen (etwa bei Werken des Strickers) in den Handschriften genannt sind. https://doi.org/10.1515/9783110351859-036
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über gibt es beim Minnesang anonyme Lieder nur in der Frühzeit8 und vereinzelt ab dem vierzehnten Jahrhundert, aber sie sind deutlich die Ausnahme. Tatsächlich scheint Minnesang wesentlich im Wissen um seine Autoren rezipiert worden zu sein. Die Dichtersammlungen nennen jeden Verfasser prominent zu Beginn seines Œuvres und machen seinen Stand deutlich; die Œuvres ihrerseits sind hierarchisch nach der angenommenen gesellschaftlichen Stellung des Dichters geordnet.9 Wurden die Handschriften zusätzlich mit Bildern versehen, schlägt sich die Bedeutung, die der Verfasserschaft beigemessen wurde, auch im Illustrationsprinzip nieder, indem in Ergänzung zu Namen und Stand ein Bild des Autors an den Anfang seines Œuvres gesetzt wurde. Nicht alle Handschriften weisen zwar solche Autorbilder auf (vgl. die bilderlose sogenannte Kleine Heidelberger Liederhandschrift, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 357, Sigle A, ca. 1270–1280), sie wurden aber gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts stilprägend für Liedersammlungen. Dies wird deutlich durch den Vergleich von vier Überlieferungszeugen, die um 1300 entstanden sind.10 Der bekannteste unter ihnen ist die Große Heidelberger Liederhandschrift, auch Codex Manesse genannt (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 848, Sigle C, um 1300). Kurz danach entstand die Weingartner Liederhandschrift (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. HB XIII 1, Sigle B, erstes Viertel vierzehntes Jahrhundert), die mit dem Codex Manesse in Text- und Bildbestand sehr eng verwandt ist, ohne dass eine Handschrift von der anderen abhängig wäre, sodass auf eine gemeinsame Vorlage rückgeschlossen werden kann (*BC); die Idee für das Beigeben von Autorbildern muss mithin noch im dreizehnten Jahrhundert entstanden sein. Ebenfalls in diese Tradition gehören zwei Fragmente, nämlich zum einen das ebenfalls mit *BC verwandte Nagler’sche Fragment (Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Ms. Berol. germ. oct. 125, Sigle Cb, um 1300, Miniatur erst um 132011). Der andere Fall sind die erst in den 1980er Jahren gefundenen Budapester Fragmente (Budapest, Széchényi-Nationalbibliothek, Cod. germ. 92, Sigle Bu, um 1300), die
8 Die Handschrift clm 4660 der Bayerischen Staatsbibliothek in München (um 1230) überliefert die sogenannten Carmina Burana (→ Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters), anonyme lateinische und deutsche Strophen, in thematischen Blöcken; dieser Anordnung folgt auch das Illustrationsprinzip dieser Handschrift, das sich nicht auf die Dichter der Lieder bezieht, sondern auf das jeweils vorherrschende Thema der Liedblöcke, also beispielsweise Natur, höfisches Spiel oder die Macht des Schicksals. – Zur anonymen Liedüberlieferung der Frühzeit und ab dem vierzehnten Jahrhundert vgl. → Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge, Abschnitte 3 und 7. 9 Zu Ordnungskriterien in Minnesang-Handschriften vgl. → Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge, Abschnitt 4. 10 Digitalisate aller vier Handschriften sind online verfügbar: Codex Manesse: http://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/cpg848; Weingartner Liederhandschrift: http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/ bsz319421317; Nagler’sches Fragment: http://jbc.bj.uj.edu.pl/dlibra/doccontent?id=175877; Buda pester Fragmente: https://web.archive.org/web/20070205062849/http://www.uni-graz.at/ub/ ausstellungen/1999/budapest/budapest.html (14. April 2020). 11 Vgl. Roland 2001, 212.
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sich von den anderen drei Textzeugen durch ihre Lokalisierung unterscheiden: Sie stammen aus dem bayerisch-österreichischen Raum und hängen nicht unmittelbar mit den mit *BC verwandten Textzeugen zusammen, die sich alle in den südwestdeutschen Raum lokalisieren lassen. Diese vier Textzeugen sind charakterisiert durch ihre Autorbilder. Das Autorbild des europäischen Mittelalters12 ist geprägt von den Darstellungen der Evangelisten als Verfasser am Schreibpult, deren heiliger Auftrag und göttliche Eingebung durch das jeweils beigegebene Symbol ausgedrückt wurden.13 An dieser Ikonographie orientierten sich viele Autorbilder auch in weltlichen Handschriften.14 Aussage des Bildes ist die Rolle des Autors als Schreibender, seine Eingebung und Schöpfung. Eine ganz andere Form von Autorbild hat sich für den Minnesang herausgebildet. Interessanterweise wird gerade der Aspekt von Autorschaft in diesen Bildern kaum thematisiert.15
2 Typen von Autorbildern Bei den deutschen16 Liederhandschriften lassen sich vier Grundtypen von Darstellungen unterscheiden:17 a) der sitzende Dichter, b) der Dichter zu Pferd, c) der Dichter im Gespräch mit der Dame und d) der Dichter im Gespräch mit einem Boten. Diese Grundtypen lassen sich aus den zwei Handschriften (B, C) und den zwei Fragmenten (Bu, Cb) um 1300 ableiten.18 Daneben gibt es in B vereinzelte komplexere Darstellungen, die nicht unter die Grundtypen fallen. Vor allem C weitete das Repertoire möglicher Autordarstellungen dann beträchtlich aus (dazu s. u.).
12 Grundlegende Arbeiten zu Autorbildern im Mittelalter stammen von Peters (2001; 2003; 2008) und (zu denen in lateinischen Handschriften) von Meier (2000; 2004). Vgl. ferner Holznagel 1995, 66–88; Hausmann 2000; Schnell 2001. 13 Vgl. Bloch 1968. 14 Unter den zahlreichen Beispielen sei hier auf die früheste bekannte Darstellung eines Autors zu einem deutschsprachigen weltlichen Text verwiesen. Es handelt sich um das Bild des Rudolf von Ems zum ‚Willehalm von Orlens‘, das zeigt, wie der Autor einem Schreiber diktiert (München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 63, viertes Viertel dreizehntes Jahrhundert, 1r). 15 Vgl. Peters 2001, 395. 16 Zu den romanischen Lyriksammlungen vgl. Anglade 1924; Peters 2001 und 2008, 23–37. Im Vergleich mit den deutschen Liedersammlungen fällt auf, dass in ihnen Autorbilder nicht ganzseitig, sondern in Initialen dargeboten werden; ikonographisch haben sie einen Schwerpunkt auf den Typen Dichter mit Spruchband und Ritter zu Pferd. Die in der deutschen Tradition wichtige Interaktion mit der Dame ist in der Romania selten dargestellt. 17 Vgl. zu den Grundtypen und ihren Abwandlungen Zotz 2019, 376–377. 18 Mit großer Sicherheit waren sie daher auch in *BC schon vorhanden.
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Der Typus des alleine sitzenden Dichters (a), der eine oder beide Hände im Sprechgestus erhoben hat, geht ikonographisch auf mittelalterliche Herrscherdarstellungen zurück, wie sie nicht zuletzt auch dem Typ Christus als Weltenrichter zugrunde liegen. Wie Vetter zeigen konnte, stellt das Kopialbuch von St. Florian (1276 bis vierzehntes Jahrhundert) eine Vorlage für die illustrierten Liedersammlungen dar.19 Die dort zusammengestellten Herrscherbilder entsprechen dem gleichen ikonographischen Typus und sind darüber hinaus ebenfalls nach dem Stand angeordnet. Die deutlichste Entsprechung dieses Typs in den Liederhandschriften ist die Darstellung von Kaiser Heinrich zu Beginn der Sammlung (B und C), der frontal dem Betrachter zugewandt thront, in der rechten ein Zepter, in der linken ein Schriftband (zu den Schriftbändern s. u. Abschnitt 4). 20 Allerdings lösten sich die Maler im Folgenden von dieser Ikonographie: Die drei in C im Anschluss an den Kaiser dargestellten Könige folgen jeweils einem anderen Bildtypus (Gespräch, Jagd, Thronender umgeben von Hofstaat). Der Umkehrschluss gilt für die Liedersammlungen mithin nicht: Ein Herrscher kann, muss aber nicht allein und in thronender Pose dargestellt sein. Präsenter als der Herrschertypus im engeren Sinne ist in den Handschriften der allein sitzende Dichter (neunmal in B, viermal in C), der auf einer einfachen Bank oder einer Wiese sitzend und im Dreiviertelprofil gezeigt wird. Auch ein weiterer früher Typus (b) stellt den Dichter alleine dar: Er orientiert sich an Reitersiegeln.21 Der auf dem schreitenden oder springenden Pferd sitzende Autor wird in der Regel in Seitenansicht gezeigt. Dieser Typus begegnet bereits in Bu und kommt mehrfach in B und C vor (viermal in B, sechsmal in C, Abb. 1). Der dritte Grundtyp (c) zeigt den Dichter mit der Dame. Mann und Frau stehen zusammen und reden miteinander. Ikonographisch liegen hier Liebesbegegnungen zugrunde, angefangen bei Adam und Eva. In dieser Tradition stehen zwei der drei in Bu erhaltenen Bilder.22 In B begegnet der Typus siebenmal, in C zehnmal (wobei seltene Fälle sitzender Interaktion hier dazugezählt werden). Auch das einzige in Cb erhaltene Bild zeigt ein solches Gespräch. Ebenfalls zu den Grundtypen zählt schließlich das Gespräch zwischen dem Dichter und einem Boten (d) (B zweimal, C achtmal). Der Bote ist gemäß seinem geringeren Stand kleiner dargestellt als der Autor und empfängt (oder bringt) eine Bot-
19 Vgl. Vetter 1978 und 1981. 20 Viele der Miniaturen zeigen Dichter mit Schriftrollen: In B kann man sie mit Curschmann (1992, 222) als „absolut dominierende[s] ikonographische[s] Leitmotiv“ bezeichnen, aber auch in C bleiben sie präsent. Vgl. auch Holznagel 1995, 71–73, mit weiterer Literatur, sowie Wenzel 2006 und zuletzt Bleuler 2018, 60–62. – Uneinigkeit herrscht in der Forschung darüber, ob die Rollen (nur) als Schriftträger (so Curschmann 1992 und zuletzt Kellner 2018, 25, mit weiterer Literatur) oder (auch) als Spruchbänder gedeutet werden können (Argumente bei Zotz 2019, 381–382 und 390). 21 Vgl. Peters 2008, 37, Anm. 83. 22 In Bu sind die Darstellungen enger an das Vorbild von Adam und Eva angelehnt: Hier befindet sich sogar ein Baum zwischen Mann und Frau.
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schaft, meist in Form einer Schriftrolle (einmal ist auch eine Züchtigung dargestellt, Hartwig von Raute, in B und C). Mit diesen vier Typen ist ein Großteil der in B, Bu und Cb überlieferten Bilder erfasst. Und auch wenn die 137 Bilder in C eine große Bandbreite an Darstellungen aufweisen und offenbar auf Variation angelegt waren, so kann dennoch auch von den Schwerpunkten, die diese Handschrift setzt, auf die beschriebenen Grundtypen rückgeschlossen werden. Der Grund für die Bedeutung gerade dieser Bildthemen ist darin zu sehen, dass sie die Sprechsituationen des Minnesangs ins Bild fassen: die Ich-Rede (dargestellt im nachdenkenden, stehenden, sitzenden oder reitenden Autor), die Rede zur und manchmal mit der Dame (dargestellt in einer Diskussion, die mehr oder weniger Züge einer Liebesbegegnung trägt, wie auch die Lieder selbst die Gegenseitigkeit der Liebe zwar wünschen, aber selten ausführen) und die Rede zum Boten (dargestellt als die Übergabe einer Botschaft, die ebenso gut intradiegetisch wie als das Minnelied selbst gelesen werden kann). In C nun wurden die vier genannten Typen erweitert: e) andere Gesprächssituation (14-mal), f) andere Beschäftigung mit der Dame (33-mal), g) Turnier oder Kampf (18-mal), h) andere Beschäftigung (42-mal). Der Fokus bleibt auf demselben Personal (Dichter im Mittelpunkt, entweder mit der Dame oder mit der Gesellschaft, in freundlicher oder feindlicher Gesinnung). Dies kann in den unterschiedlichsten Ausprägungen vorkommen. Eine andere Gesprächssituation (e) ist etwa gegeben bei König Tyro (8r: als Herrscher mit seinem Sohn, Abb. 2), Heinrich von der Mure (75v: als Dominikaner-Novize mit seinem Abt) oder dem Schulmeister von Esslingen (292v: als Lehrer). Wie die andere Beschäftigung mit der Dame (f) aus dem alten Bildtypus abgeleitet wird, lässt sich etwa am Autorbild zu Rudolf von Rotenburg zeigen (54r): Die Dame reicht dem Dichter einen Kranz, wobei der Typus Gespräch mit der Dame (c) als Bildthema erkennbar bleibt (das Kranz-Überreichen gab es auch früher, etwa in Bu), gleichwohl aber abgewandelt wird, indem der Sänger neben seinem Pferd gezeigt wird und vor einer angedeuteten Burg, von deren Zinne sich die Dame zu ihm herunterbeugt. Ein ähnliches Bildthema liegt bei Leuthold von Seven vor (164v, Abb. 3), dem die Dame aus einem Turm einen Brief überreicht; hier ist zudem der Reitersiegel-Typus (b) in die Darstellung eingegangen (vgl. das Autorbild zu Leuthold in B, Abb. 1). Die Bildthemen des Typs (f) können von hier in unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt werden. Berühmt sind die Liebesumarmungen (Albrecht von Johannsdorf, 179v; Konrad von Altstetten, 249v), aber die Tätigkeiten mit der Dame können auch im gemeinsamen Angeln bei Pfeffel (302r), einem Ausritt bei Wernher von Teufen (69r), einem Waldspaziergang bei Rubin von Rüdeger / Rubin und Rüdeger (395r) oder im Schachspiel bei Markgraf Otto von Brandenburg (13r) bestehen. Beim Picknick im Grünen (Günther von dem Forste, 314v, Abb. 4) deuten die verliebten Pferde und die zusammenwachsenden Ranken an, was auf das gemeinsame Trinken folgen wird. Die Kampfszenen (g) können geordnete Kämpfe, etwa anlässlich eines Turniers bei Walther von Klingen oder Kampfgetümmel bei Albrecht von Haigerloch, ebenso darstellen wie die Belagerung einer Burg beim Düring.
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Zahlreich sind daneben andere Beschäftigungen (h),23 die unter anderem Jagd (mehrfach), Spiel, Krankheit, Bad oder das Gebet umfassen können. Auch Musik kommt zur Darstellung, wobei bemerkenswert ist, dass das Zeugnis der Bilderhandschriften gerade Aufführungssituationen kaum Bedeutung beimisst.24 Viel diskutiert worden sind jene Bilder, die Anspielungen auf historische Ereignisse sind oder zu sein scheinen, etwa der Viehraub bei Ulrich von Baumburg oder der Mord an Reinmar von Brennenberg.25 Hierher zu stellen ist wohl auch die Darstellung → Ulrichs von Liechtenstein als Venusritter, eine Rolle, die nicht aus seinen Liedern abzuleiten, sondern durch seinen Roman ‚Frauendienst‘ bekannt war.26 Diese Verweise auf spezifische (pseudo-)biographische27 Informationen bleiben freilich die Ausnahme. Wichtiger ist, dass die Autorbilder in C den in den früheren Handschriften etablierten Typus ‚Autor als Sprechender‘ ausweiten zu ‚Autor als höfische Person‘, was gerade durch die Vielzahl an höfischen Tätigkeiten gelingt.28 Davon, dass dieses in den Handschriften um C herausgebildete Schema von Autorbildern stilprägend war, zeugt ein spätes Fragment (Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Ms. Berol. germ. quart. 519, Sigle Ca, um 1440, sogenanntes Troß’sches Fragment, Digitalisat nicht online zugänglich), das aus einer Handschrift stammt, die nachweislich mit C verwandt ist.29 Eine Deckfarbenminiatur ist erhalten, nämlich der Schenk von Limburg, der erkennbar von C beeinflusst ist (Autorbild vor Œuvre, Bildthema: Dichter erhält etwas von der Dame), auch wenn die Ausführung30 stark abgewandelt und das Format gesprengt wurde. Neben diesem späten Reflex der Manesse-Tradition sind aus dem fünfzehnten Jahrhundert zwei abweichende Fälle von Autordarstellung
23 Zu diesen werden auch Beschäftigungen mit Damen gezählt, aber nur, wenn mehrere Frauen – also nicht die eine Geliebte – abgebildet sind (z. B. Otto zum Turm, 194r: Wappnung des Ritters durch zwei Frauen, Abb. 5). 24 Musikalische Darbietungen gibt es nur in C und dort nur dreimal (zum Wartburgkrieg: Sängerwettstreit; zu Frauenlob: Fiedler mit anderen Musikern; zum Kanzler: ein Fiedler und ein Flötist). 25 Vgl. Rüther 2007. 26 Als Anspielung auf (vermeintlich) historische Fakten ist wohl auch zu verstehen, dass etliche der Bildthemen aus den Namen oder Funktionen der genannten Dichter abgeleitet sind. Spervogel hält einen Speer mit Vögeln in der Hand, der Schulmeister von Esslingen ist als Lehrer und Rudolf der Schreiber ist in einer Schreibstube dargestellt. 27 Vgl. Haubrichs’ Erläuterungen zu seinem Begriff der ‚Biographiefragmente‘, an den ich hier anschließen möchte: „Elemente […], die entweder ‚wahr‘ sind oder doch von einem über Urteilskriterien der Wahrscheinlichkeit und sinnliche oder gemeinschaftsorientierte, also subjektive oder intersubjektive Kontrollinstanzen verfügenden Publikum für wahr gehalten werden mußten“ (Haubrichs 1998, 131–132). 28 Vgl. Zotz 2019, 377. – Es ist übrigens bemerkenswert, dass das Prinzip Vielfalt nicht nur für die Bildthemen, sondern auch für die Gestaltung der Bilder gilt (vgl. Vetter 1981, 70–71; Saurma-Jeltsch 1988), weshalb man die Variation in jeder Hinsicht als Stilmerkmal des Bildprogramms dieser Handschrift festhalten kann. 29 Vgl. zuletzt Dingeldein 2012, 331. 30 Mode und Figurendarstellung wurden dem Zeitgeschmack angepasst.
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überliefert. Es handelt sich um Dichter, die Sorge für Umfang und Form der Sammlung ihrer Lieder trugen und ihre Autorschaft in der Handschrift abbilden ließen,31 dabei aber unterschiedliche Wege beschritten. Hugo von Montfort († 1423) ließ 1414/15 eine Sammlung seiner Lieder, Briefe und Reden „für den repräsentativen Hausgebrauch“32 anlegen (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 329).33 Die Texte sind mit historisierten Initialen geschmückt, die Figuren aus den Liedern zeigen, darunter eine Dichterkrönung über zwei Initialen hinweg: Die Initiale auf 16rb zeigt eine junge Frau, in der Hand einen Kranz; in der Initiale auf 20rb ist ein bekränzter Mann dargestellt, der zwei Enden eines (leeren) Schriftbands hält, das ihn als Dichter kennzeichnet (Abb. 6). Der Anfang der Sammlung, der in der alten Tradition den Autorbildern vorbehalten war, ist hier durch das Wappen Hugos von Montfort mit Turnierhelm gekennzeichnet, das ganzseitig am Ende der Handschrift (54r) wiederholt wird. Am Ende der vorhergehenden Spalte (53vb) steht in goldener Auszeichnungsschrift Hugos Name sowie sein Motto. Der Dichter selbst ist nicht abgebildet, aber Name, Motto und Wappen stellen den Bezug zur historischen Person des Autors her. Bei → Oswald von Wolkenstein (1376–1445) stehen demgegenüber wiederum Autordarstellungen zu Beginn der beiden Sammlungen, die er von seinen Liedern anfertigen ließ.34 Die frühere (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2777, 1425, Sigle A) enthält ein Porträt des stehenden Dichters, der in der Hand ein Liedblatt hält, auf dem ebenjenes Lied in Text und Noten abgebildet ist, mit dem auf der gegenüberliegenden Seite die Liedersammlung beginnt (Ain anefangk, OSW 1), zugleich ein Hinweis auf die Performanz der Lieder und eine selbstbezügliche Verzahnung von Text und Bild. Die selbstbewusste Haltung, die in diesem Porträt nicht nur durch die Beischrift des Namens und die hinzugesetzten Wappen, sondern auch durch die Kette des aragonesischen Kannenordens und die pelzverbrämte Kleidung zum Ausdruck kommt, wird in dem Porträt der zweiten Handschrift noch ausgeprägter. Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, o. Sign. (1432, Sigle B), enthält ein Brustbild (Abb. 7), auch hier bezeugen die Kannenorden-Kette und der Pelzbesatz der Kleidung den Stand und die Bedeutung des Dargestellten, gleichzeitig fehlen aber jegliche Beigaben, die auf die Person des Dichters (Beischrift mit dem Namen, Wappen) oder auf seine Autorschaft (Liedblatt) verweisen würden.
31 Vgl. Robertshaw 1998. 32 Wachinger 1983, 247; vgl. auch Meyer 1995. 33 Digitalisat unter http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg329 (14. April 2020). 34 Digitalisate unter http://data.onb.ac.at/rec/AC13961721 und http://manuscripta.at/diglit/ AT4000-sn/0001 (14. April 2020).
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3 Funktionen von Autorbildern Entgegen der Annahme eines Großteils der Forschung, dass die Bilder in B und C und den verwandten Handschriften die Texte des jeweiligen Autors illustrieren sollten,35 lassen sich bei genauerem Hinsehen nur sehr wenige belastbare Text-Bild-Beziehungen feststellen. So ist etwa nicht zwingend, dass die Dame auf der Morungen-Miniatur (76v) den Dichter (→ Heinrich von Morungen) deswegen nicht ansieht, weil er sechs Seiten weiter den Wunsch äußert: sihe mich ein lúzel an (79v).36 Auch dass Konrads von Altstetten Wunsch nach einem vmbevanc (250r) der Grund war, dass der Maler der Miniatur auf 249v den Autor in einer Liebesumarmung zeigt, ist bei der Topik dieses Wunsches nicht nachweisbar. Einer Überprüfung der zusammengetragenen Text-BildBeziehungen halten unter den 137 Autorbildern in C nur knapp zehn Fälle stand.37 Darunter sind etwa der ikonographisch ungewöhnliche Beinbruch des von Sachsendorf (Miniatur auf 158r), der berichtet, er habe sich im Dienst für die Dame den Fuß gebrochen (159r), oder die spezifischen Bildthemen bei den beiden Zürcher Dichtern Eberhard von Sax und → Johannes Hadlaub.38 Plausibel ist auch ein Text-Bild-Bezug beim Autorbild Wachsmuts von Mühlhausen (183v): Dass die Dame mit einem Pfeil auf ihn zielt, ist auffällig parallel zu der nur eine Seite weiter überlieferten Textstelle: dú liehten ovgen din · eine strale hant geschossen · in das herze min (184r). Diese Fälle bleiben aber die Ausnahme. Die Autorbilder leiten schließlich keine Einzellieder, sondern stets ganze Œuvres ein, auf die sie bezogen sein wollen. Auch die Beobachtungen, dass sich Bildtypen wiederholen39 oder dass derselbe Bildtyp in B und C unterschiedlichen Dichtern zugewiesen wird,40 machen deutlich, dass Bezüge auf Einzelstellen nicht das wesentliche Interesse der Maler waren.41 35 So von Oechelhäuser 1895, 90–343; Siebert-Hotz 1964; Frühmorgen-Voss 1975; Koschorreck 1981; Walther 1988. 36 So Walther 1988, 69. 37 Zusammenstellung bei Zotz 2019, 379–381. 38 Zu Letzterem vgl. auch → Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge, Abschnitt 5. 39 Vgl. etwa in C die untereinander sehr ähnlichen Bildformulare ‚Gespräch mit der Dame‘ auf 32v, 63r, 70v, 120v und 178r. 40 Morungen in B, S. 80, gleicht auffällig dem von Gliers in C, 66v. 41 Der wohl berühmteste Fall eines Bezugs auf eine Einzelstelle ist → Walther von der Vogelweide. Seine Miniatur ist stets auf den Beginn des Reichstons bezogen worden (L 8,4, in der Schreibung von C: Ich sas vf eime steine · do dahte ich bein mit beine · dar vf saste ich min ellenbogen · ich hete in mine hant gesmogen · das kinne vnd ein min wange, 125r). Die Haltung der Figur scheint tatsächlich der im Text geschilderten Position nachempfunden. Allerdings irritieren ein paar Beobachtungen: Walther sitzt nicht auf einem Stein, sondern auf einem blumenbewachsenen grünen Hügel. Und sollte diese Miniatur eindeutig aus der genannten Textstelle abgeleitet sein, wie ist dann zu erklären, dass in B ebenso wie in C exakt dieses Bildformular anderswo wiederholt wird, nämlich bei → Heinrich von Veldeke? Dort ist die Miniatur stets auf den Anfang seines Œuvres bezogen worden: Es sint guetiu niuwe mere · daz die vogel offenbere · singent da man die bluomen siet (30v). Beides kann kaum gleich-
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Wichtiger als die Illustrierung von Liedinhalten sind andere Funktionen der Autorbilder: Zunächst einmal unterstreichen sie die Gliederung der Handschriften und dienen somit als Orientierung. Im Codex Manesse ist auf den Blättern 4v–5v ein Inhaltsverzeichnis eingetragen, das die enthaltenen Dichter auflistet und durchnummeriert. Diese Nummern finden sich wieder über den Dichterbildern. Bei der Suche nach einem bestimmten Dichter helfen also nicht wie bei einem modernen Inhaltsverzeichnis Seitenzahlen, sondern die Bilder und die ihnen beigegebenen Nummern. In der Weingartner Liederhandschrift fehlt ein solches Register, hier fungieren die Bilder allein als Findehilfe. Neben dieser formalen kommt den Bildern auch eine wesentliche inhaltliche Funktion zu. Die Gesamtheit der Miniaturen, auf denen die Dichter bei einer Vielzahl höfischer Aktivitäten gezeigt werden, bietet einen Einblick in das höfische Leben und die Kunst am Hof (wie man sie sich um 1300 vorstellte), durch den die Lieder besser eingeordnet und verstanden werden sollten. Man wollte eine Vorstellung der vergangenen Zeit geben, was gerade durch die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Themen erreicht werden sollte. Damit ergänzen die Bilder, was die Sammlung der Texte erreichen sollte: Die Motivation für Rüdiger Manesse und sein Umfeld, eine solche Fülle an teilweise über hundert Jahre alten Liedern zusammenzutragen, lag darin, die alte Zeit in der Literatur lebendig zu halten. Der Zürcher Dichter Hadlaub reflektiert den Anlass für die Sammlung folgendermaßen: sang da man die frowen wolgetan · wol mite kan · ir lob gemeren · den wolten si nit lan zergan (C 372r). Die Motivation der Sammler war es, die Kunst vor dem Vergessen zu bewahren. Dabei wird ein Bewusstsein für die historische Differenz der eigenen Zeit zu jener der Minnesänger deutlich. Noch wichtiger als das Festhalten der vergangenen Welt im Bild war den Sammlern, die Personen der Autoren bildlich vor Augen zu stellen. Die regelmäßige Angabe des Namens und des Standes der Dichter ist die Basis, die durch das Autorbild und die fast immer42 beigegebenen Wappen erweitert wird. Diese Details sind nicht im modernen Sinne als biographisch zu verstehen: Sie geben keine Auskunft darüber, wie der Dichter aussah oder was ihn ausmachte. Physiognomien und Mode sind am Geschmack um 1300 orientiert, weshalb die Bilder nicht als Porträts verstanden werden können. Selbst die Wappen, im Mittelalter Ausweise von Familie und Identität, sind in diesen Handschriften kein verlässlicher Verweis auf die historischen zeitig richtig sein. Die Interpretation der Walther-Miniatur stellt sich also komplexer dar, als bisher angenommen. Hier sei eine alternative Erklärung für die Handhaltung beider Dichter zumindest angedeutet: Wie Keazor (2001) in anderem Zusammenhang zeigen konnte, ist die Hand an der Wange als chironomische Geste eines Sängers seit der Spätantike und bis ins späte Mittelalter hinein gängig; bezogen auf die Miniaturen Walthers und Veldekes in B und C sollte die Geste also möglicherweise den Sänger kennzeichnen (eine Hand an der Wange haben in C auch Gottfried von Neifen und Heinrich von Morungen). In jedem Fall ist die Deutung der Walther-Miniatur einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Dies betrifft auch die herkömmliche Deutung von Walthers Position als Melancholie und damit Schaffenskraft ausdrückender Haltung (stellvertretend sei Wenzel 1989 genannt). 42 Nur in 18 Fällen fehlen Helm und Wappen, vgl. Zotz 2019, 374.
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Personen (nur etwa ein Drittel von ihnen ist anderweitig nachweisbar, ein Großteil wurde – als sogenannte redende Wappen – aus dem Namen oder der Funktion des Dargestellten abgeleitet)43. Name, Wappen und Autorbild stellen einen Autor vor, der – aus zeitgenössischer, nicht aber moderner Perspektive historisch belegt – für seine Lieder einsteht.
4 Bedeutung der Bilder für das Autorkonzept Die Untersuchung der Überlieferung lässt einige Rückschlüsse auf die Autorkonzepte der Zeitgenossen zu. Offensichtlich schien es den Sammlern wesentlich für das Verständnis der Lieder, die Namen der Dichter zu kennen. Namen verwiesen auf Personen, und noch deutlicher taten dies bildliche Darstellungen, denen verschiedene biographische Informationen beigegeben wurden, um den Verweis auf die historische persona des Autors zu untermauern.44 Die Form der Sammlung – die Anordnung der Texte nach Verfassern – gab einen biographischen Zugriff vor, und so orientieren sich auch die Bilder an der (vermeintlichen) Biographie des Dichters. Der Grund für den Unterschied zwischen Autorbildern im Minnesang und anderswo ist möglicherweise in der Rezeptionsform dieser Gattung zu suchen. Die wohl stärker als die Epik an die Aufführung rückgebundene Liedform hatte zur Folge, dass in der Person des Sängers ein Garant der Liedaussage bei der Rezeption präsent sein konnte. In dem Moment, wo die Lyrik aufgeschrieben und die Aufführungssituation endgültig durch eine Lesesituation ersetzt wurde, fehlte der Vortragende, der zuvor – in Abwesenheit des Autors45 – die Wahrheit der Liedaussage verbürgte. Genau an diese Stelle des fehlenden Körpers, der das Lied präsentierte, traten die Autorbilder der Minnesang-Handschriften um 1300,46 indem sie dieser Lyrik, die das Ich so stark in den Vordergrund stellt, jeweils ein (pseudo-) biographisches Gesicht gaben.47
43 Vgl. Drös 1988. 44 Dass diese Beigaben die „soziale und personale Identifizierbarkeit“ des Dichters garantieren sollten, beobachtet auch Peters (2008, 32). 45 „Die Vortragssituation sieht nicht den Autor, sondern den Vortragenden auf der ‚Sender‘-Seite der Kommunikationssituation vor“ (Lienert 1998, 127). 46 Dies im Unterschied zu den Epen-Handschriften, deren Autorbilder als Reflexe einer schriftlichen Produktions- und Rezeptionsweise gedeutet werden können (vgl. Peters 2007). 47 „Die komplexe Interpretation, die aus dem Aufschreibprozeß und dem Gleiten der Texte von Aufführung zu Aufführung, von einer Textfassung zur nächsten resultiert, verlangt die Bezugnahme auf den Autor, aber auch seine Relativierung“ (Wenzel 1998, 12). Auch Kapfhammer u. a. (2007, 11) beobachten, dass eine Handschrift, die Textsammlungen mit Autorbildern kombiniert, „zum entscheidenden Ort […] der Herausbildung von Autorœuvres [wird], die auf einer spezifischen, eher neuzeitlich orientierten persönlich-biographischen Autor-auctoritas basieren“. Das Beispiel der Minne
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Bei Hugo von Montfort und Oswald von Wolkenstein geschah die Präsentation des Autors aus einer selbstbewussten Haltung heraus; erst hier wissen wir sicher, dass die Autordarstellungen auch im Sinne der Verfasser waren. Hugo verknüpft das Spiel mit der biographischen Lesart seiner Texte – er bindet ein Ich/Autor-Bild in eine der historisierten Initialen ein, zwischen anderen Figuren seiner Lieder – mit dem Verweis auf seine Autorschaft für die ganze Handschrift: Unzweifelhaft ist die Bedeutung, die die Sammlung der Texte für ihn hat. Sie ist es, die mit klaren biographischen Insignien versehen wird – wenn auch nicht mit einem Autorbild. Ein solches verwendet Oswald in seinen beiden Sammlungen: In der ersten (1425) steht das Dichterporträt als Garant für die ganze Sammlung und ist insofern C ähnlich, aber doch wieder nicht. Oswald selbst bestimmte die Darstellung seiner Person und krönte sie mit der selbstreflexiven Beigabe des Liedblatts als Autorinsignie.48 Die zweite Sammlung (1432) verzichtet auf biographische Beigaben: Dieses Porträt zeigt den Autor in einer realistischen Weise, die es deutlich von früheren, mittelalterlichen Autorbildern abhebt. Indem der Dichter mit hängenden Mundwinkeln, geschlossenem (da fehlendem) Auge und Bartstoppeln dargestellt ist, wird seine Person sehr wohl eindeutig erkennbar.49 Dieses Autorbild zeigt den Menschen Oswald von Wolkenstein, dessen Autorschaft selbstverständlich und bekannt war, weshalb sie nicht herausgestrichen werden musste.
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sang-Handschriften um 1300 zeigt allerdings, dass diese Autor-auctoritas im Bild nicht erst in der Neuzeit zur Anwendung kam. 48 Das Blatt ist eine eindeutige Referenz auf Autorschaft und unterscheidet sich damit deutlich von den in ihrer Funktionalität unscharfen Schriftrollen, vgl. oben Anm. 20. 49 „Wunsch zur Selbstdarstellung“ (Roland 2007, 273).
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Hella Frühmorgen-Voss: Bildtypen in der Manessischen Liederhandschrift. In: Dies.: Text und Illustration im Mittelalter. Aufsätze zu den Wechselbeziehungen zwischen Literatur und bildender Kunst. Hg. und eingeleitet von Norbert H. Ott. München 1975 (MTU 50), 57–88. Wolfgang Haubrichs: Die Epiphanie der Person. Zum Spiel mit Biographiefragmenten in mittelhochdeutscher Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hg. von Elizabeth Andersen u. a. Tübingen 1998, 129–147. Albrecht Hausmann: Autor und Text in der Weingartner Liederhandschrift (B). Zu Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation von Überlieferungsvarianz. In: Text und Autor. Beiträge aus dem Venedig-Symposion 1998 des Graduiertenkollegs „Textkritik“ (München). Hg. von Christiane Henkes und Harald Saller, mit Thomas Richter. Tübingen 2000 (editio-Beiheft 15), 33–52. Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen u. a. 1995 (BiblGerm 32). Gerald Kapfhammer, Wolf-Dietrich Löhr und Barbara Nitsche: Einleitung. In: Autorbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von dens., unter Mitarbeit von Stephanie Altrock und Susanne Mädger. Münster 2007 (Tholos 2), 9–24. Henry Keazor: „Manu et voce“. Ikonographische Notizen zum Frankfurter Paradiesgärtlein. In: Opere e giorni. Studi su mille anni d’arte europea dedicati a Max Seidel. Hg. von Klaus Bergdolt und Giorgio Bonsanti. Venedig 2001, 231–240. Beate Kellner: Spiel der Liebe im Minnesang. Paderborn 2018. Walter Koschorreck: Die Bildmotive. In: Codex Manesse. Die große Heidelberger Liederhandschrift. Kommentar zum Faksimile des Codex Palatinus Germanicus 848 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Hg. von dems. und Wilfried Werner. Kassel 1981, 101–127. Hugo Kuhn: Minnesang als Aufführungsform. In: Ders.: Kleine Schriften. Bd. 2: Text und Theorie. Stuttgart 1969, 182–190. Elisabeth Lienert: Hœrâ Walther, wie ez mir stât. Autorschaft und Sängerrolle im Minnesang bis Neidhart. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hg. von Elizabeth Andersen u. a. Tübingen 1998, 114–128. Christel Meier: Ecce auctor. Beiträge zur Ikonographie literarischer Urheberschaft im Mittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien 34 (2000), 338–392. Christel Meier: Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Hg. von Peter von Moos. Köln u. a. 2004 (Norm und Struktur 23), 207–266. Anke Sophie Meyer: Hugo von Montfort. Autorenrolle und Repräsentationstätigkeit. Göppingen 1995 (GAG 610). Jan-Dirk Müller: Ir sult sprechen willekomen. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge volkssprachlicher Lyrik. In: Ders.: Minnesang und Literaturtheorie. Hg. von Ute von Bloh und Armin Schulz, gemeinsam mit Manuel Braun u. a. Tübingen 2001, 107–128. Adolf von Oechelhäuser: Die Miniaturen der Universitätsbibliothek zu Heidelberg. Bd. 2. Heidelberg 1895. Ursula Peters: Ordnungsfunktion – Textillustration – Autorkonstruktion. Zu den Bildern der romanischen und deutschen Liederhandschriften. In: ZfdA 130 (2001), 392–430. Ursula Peters: Digitus argumentalis. Autorbilder als Signatur von Lehr-auctoritas in der mittelalterlichen Liedüberlieferung. In: Manus loquens. Medium der Geste – Geste der Medien. Hg. von Matthias Bickenbach, Annina Klappert und Hedwig Pompe. Köln 2003 (Mediologie 7), 31−65. Ursula Peters: Werkauftrag und Buchübergabe. Textentstehungsgeschichten in Autorbildern volkssprachiger Handschriften des 12. bis 15. Jahrhunderts. In: Autorbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Gerald Kapfhammer, Wolf-Dietrich Löhr und Barbara Nitsche, unter Mitarbeit von Stephanie Altrock und Susanne Mädger. Münster 2007 (Tholos 2), 25–62.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. HB XIII 1, S. 128: Leuthold von Seven. Abb. 2: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 848, Bl. 8r: König Tyro. Abb. 3: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 848, Bl. 164v: Leuthold von Seven. Abb. 4: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 848, Bl. 314v: Günther von dem Forste. Abb. 5: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 848, Bl. 194r: Otto zum Turm. Abb. 6: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 329, Bl. 20rb: Initiale mit gekröntem Dichter. Abb. 7: Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, o. Sign., Bl. Iv: Oswald von Wolkenstein, Foto: Watzek.
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Der von Kürenberg Unter dem Namen Der von Kürenberg (C) beziehungsweise Der herre von Chvrenberch (Bu) sind zwei einander sehr ähnliche Töne überliefert (im ersten Ton ist gegenüber dem zweiten – vier paargereimten Langzeilen, die jeweils eine Binnenzäsur aufweisen – „eine reimlose Kurzzeile eingeschoben“1); während in C insgesamt 15 Strophen verzeichnet sind, handelt es sich in Bu um 9 Strophen, die zwar in derselben Reihenfolge wie in C angeordnet sind, zum Teil aber bedeutungstragende Varianten aufweisen.2 Auf den Dichterbildern ist in beiden Fällen mindestens eine Handmühle (in C sind es zwei: auf dem Wappenschild und der Helmzier) dargestellt; der Sänger interagiert jeweils mit einer Dame: In C ist es eine gekrönte Fürstin, in Bu – wo der Dichter auch einen Kranz in der Hand hält – wird es sich wohl um eine hochadlige Dame handeln; jedenfalls weist sie der Griff an die Manteltassel ikonographisch als solche aus.3 Bezugnahmen auf Inhalte des Liedcorpus sind kaum auszumachen.4 Angesichts formaler (Langzeilenstrophen, inkonsequente Metrik, unreine Reime) und inhaltlicher Kriterien (diesseits von Frauendienst und ‚hoher Minne‘, erfüllte Liebe, teilweise selbstbewusste, gar prahlerische Mannesrede, inquit-Formeln, Unsicherheit, was die Geschlechtszuordnung betrifft) wird das Kürenberger-Corpus früh datiert, meist aufgrund relativer Chronologien in die 50er-Jahre des zwölften Jahrhunderts: ‚Der Kürenberger‘ gilt entsprechend als ‚erster deutscher Minnesänger‘.5 Maßgeblich durch die Entsprechung von zweitem Kürenberger-Ton und Nibelungenstrophe wurde zudem eine Entstehung der Strophen im Donauraum angenommen, ja ein darüber hinausgehender, gattungsgeschichtlich distinkter Zusammenhang behauptet, dem auch die Kürenberger-Strophen zuzuordnen sind (‚früher donauländischer Minnesang‘6). Immer wieder wurde erwogen, dass der Verfasser des Kürenberger-Corpus, etwa durch Kulturkontakt zu Beginn des zweiten Kreuzzugs 1147, Kenntnis der Trobadorlyrik gehabt habe7 und sich davon z. B. im Zinnenwechsel (MF 8,1; MF 9,29; s. u. zu dieser Zusammenfügung) abgrenze; dies erscheint grundsätzlich möglich, einen schlagenden Beweis für die Annahme gibt es allerdings nicht.8
1 Brunner 2005, 196; die metrischen Schemata dort. 2 Vgl. Kern 2001. 3 Vgl. Volk 2001, 228–230. 4 Man hat in der Miniatur von C „die im Wechsel (um 1150) angelegte Situation des Übereinandersprechens“ (Kössinger 2017, 105) erkannt. 5 Vgl. Ehrismann 1927, 343–350, für eine gattungsgeschichtliche Einordnung. 6 Vgl. de Boor 1953, 238. 7 Vgl. Wechssler 1902; Panzer 1939; Krohn 1983; Kasten 1986, 212–218. 8 Vgl. den Überblick über die Forschung zum romanischen Einfluss bei Schnell 2012, zum ‚Kürenberger‘: 56–61. https://doi.org/10.1515/9783110351859-037
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Eine Identifikation des Dichters mit einer historisch nachweisbaren Person ist nicht gelungen. Schon seit der ersten Ausgabe von ‚Des Minnesangs Frühling‘ wird erwogen, dass der Name aus MF 8,1, V. 3 extrapoliert sein könnte.9 Eine Frau spricht darin davon, dass sie in Kürenberges wîse einen Ritter al ûz der menigîn (MF 8,1, V. 3) sehr schön singen hörte. Worstbrock konnte nicht zuletzt mit Blick auf die Variante in Bu (in chvrenbergere wise; MF 8,1, V. 3 [Bu]) zeigen, dass es sich in C um einen Ortsnamen (‚in der Melodie von Kürenberg‘) und in Bu um „eine für die Mitte des 12. Jahrhunderts usuelle und richtige Form der Familiennamenbildung“10 handelt (‚in der Melodie der Kürenberger‘); worum es jedenfalls nicht geht, ist die Zuordnung der Melodie zu einem Individuum, wie etwa die einflussreiche Übersetzung Margherita Kuhns, freilich nicht ohne Gründe, suggeriert („in der Weise des Kürenbergers“11). Vor dem Hintergrund des strikt angewandten Corpus- und Verfasserprinzips der Sammelhandschriften (→ Handschriften, Handschriftentypen und Sammlungszusammenhänge) erscheint die Annahme einer nachträglichen Gewinnung des Verfassernamens zumindest plausibel; Sicherheit lässt sich auch in dieser Frage allerdings nicht erreichen. Was die Aussage der Strophen betrifft, liegt Disparität vor; dies macht es so schwierig, das Autorcorpus (wenn es denn eines ist12) inhaltlich zu profilieren, ohne es anachronistisch13 von den Konventionen der ‚hohen Minne‘ her zu begreifen (im Sinne eines ‚noch [nicht]‘ oder sogar eines Widerspruchs).14 Die herausgehobene Position der Strophen MF 8,33 und MF 9,5, die man als Falkenlied bezeichnet,15 hat den Blick auf das Kürenberger-Corpus zudem verzerrt; auch wenn viele Details (etwa die Fragen, wer in welcher Strophe spricht und v. a. was der Falke ‚bedeutet‘16) nicht geklärt sind, erscheinen sie üblicherweise als Ausdruck eines sehnsuchtsvollen weiblichen Begehrens, dem der zwar ‚domestizierte‘, aber doch auf seinem Freiheitsdrang beharrende Mann gegenübersteht. Die kulturell ebenfalls sinnvolle Identifikation des Falken mit einer Frau17 muss dabei abgewiesen werden (in der sogenannte Prahlstrophe MF 10,17 erscheint eindeutig die Frau als Pendant zum vederspil). Blickt man auf das gesamte Corpus, so zeigt sich, dass man gerade angesichts der geringen Strophenzahl von keinen Tendenzen einer einheitlichen oder zumin9 MF/LH, 229. 10 Worstbrock 2004 [1998], 79. 11 KAS, 47. 12 Mehrere Verfasser wurden immer wieder angenommen, vgl. Scherer 1874; Burdach 1883; Ohlenroth 1974; Benz 2014 (‚kollektiv ausgeübte Kunstpraxis‘). 13 So schon Ittenbach 1939. 14 Es liegen markante Differenzen zu den Geschlechterstereotypen des ‚Hohen Sangs‘ vor, vgl. Boll 2007, 171–173, gegen etwa Agler-Beck 1978, 96. 15 Vgl. z. B. Wallner 1896 u. 1908; Kuntze 1911; Wesle 1932; Hatto 1959; McDonald 1978; Dörrich und Friedrich 2003. 16 Vgl. Nordmeyer 1943 mit älterer Literatur. 17 Vgl. zum Wechsel als Hochzeitslied Jansen 1970a, 590–594; Jansen 1970b, 114–116; dazu Eis 1971.
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dest charakteristischen Gestaltung der Mannes- oder Frauenrede sprechen kann.18 Auch inhaltliche Verallgemeinerungen – etwa die oft beschriebene ‚Emotionalität‘ im Kürenberger-Corpus, für das die „irrationale, nicht eingrenzbare Dimension der Liebe“19 zentral sei – gelten nicht durchgehend. Mann und Frau können einander lieben, das Begehren kann aber auch einseitig sein. Der Mann (in MF 8,1 als Sänger ausgewiesen) wird zwar durchweg als ritter (MF 7,19, V. 2; MF 8,1, V. 2; MF 8,17, V. 2; MF 10,17, V. 3) bezeichnet und durch die Adjektive hübsch (‚hofgemäß gesittet‘, MF 7,19, V. 2), edel (MF 8,17, V. 2) und schoen (MF 10,17, V. 3) attribuiert, bei der Frau wechseln allerdings Standes- (vrouwe; MF 8,9, V. 2; MF 9,29, V. 2; MF 10,1, V. 2; MF 10,17, V. 3) und Geschlechtszuschreibung (wîp; MF 8,9, V. 4; MF 9,21, V. 1; MF 10,9, V. 4; MF 10,17, V. 1), auch wird auf ihren Familienstand als unverheiratet (magedîn; MF 8,1, V. 4 [aber nur in Bu! (sprach [d]az magedin), in C heißt es hingegen: alder ich geniete mich sîn]; 10,9, V. 1) hingewiesen. In ihrer Interaktion erscheinen die beiden als vriunt (MF 7,1, V. 1 und 2) und gesellen (MF 9,13, V. 2). Ihre Beziehung muss, da sie gesellschaftlich nicht sanktioniert ist, heimlich sein (MF 10,1). Als Widersacher werden merker (MF 7,19, V. 3) und lügenaere (MF 9,13, V. 3) genannt. Dem steht der bote (genannt in MF 10,9, V. 2; angesprochen in MF 7,1, V. 4–5) gegenüber, der auf der Seite der Liebenden ist. In einer Strophe wird ein ungenannter Knappe angesprochen (MF 9,29). Die Bindung der beiden Liebenden wird nicht nur von außen bedroht, sondern kann auch vom Mann beendet werden (MF 7,1, V. 4–5 – ob mutwillig oder durch Veranlassung von außen, bleibt hier offen)20; ebenfalls möglich ist, dass sich die Frau einem boesen (MF 9,21, V. 4) zuwendet. Das Verhältnis von Mann und Frau kann auch spielerisch dargestellt werden: So hat man die einzige Dialogstrophe des Kürenberger-Corpus MF 8,9 als parodistisch gegenüber dem Zinnenwechsel bezeichnet, jedenfalls ist neben der Dialogform ungewöhnlich, dass die Frau auf das Bekenntnis des Mannes, er habe sie nicht wecken wollen, sagt: jô enwas ich niht ein eber wilde (MF 8,9, V. 4). Mit Blick auf die sogenannte Prahlstrophe MF 10,17 hat man darauf hingewiesen, dass es jedem Adligen klar war, dass Falken nicht leicht zu zähmen sind, die Aussage: Wîp unde vederspil diu werdent lîhte zam also ironisch gemeint sein müsse.21 Auffällig ist der Einsatz konkret-anschaulicher Elemente,22 um über ikonisch verdichtete Szenen oder durch Vergleiche ein bestimmtes Gefühl (Sehnsucht, Zuneigung usf.) auszudrücken: So steht die Frau an einer zinne (MF 8,1, V. 1) oder in ihrem hemede (MF 8,17, V. 1); sie vergleicht ihr Erröten mit dem einer rôse (MF 8,17, V. 3); zur Beschreibung der Interaktion mit dem Partner wird auf die feudaladlige Kunst der Falkenbeize
18 Vgl. dagegen (mit einer petitio principii) Chinca 1999. 19 Hensel 1997, 40. 20 Vgl. Boll 2007, 158–159. 21 Vgl. Heinen 1981, 355, mit älterer Literatur; Mertens 1988, 51. 22 Vgl. Grimminger 1969, 41–45, der vom ‚Symbol‘ spricht.
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zurückgegriffen.23 Der Gebrauch des Vergleichs kann auch der Camouflage dienen und zugleich Intensität ausdrücken, etwa wenn das Objekt des Begehrens dezidiert nicht als golt noch silber, sondern als Mensch (den liuten gelîch; MF 8,25, V. 4) bezeichnet wird. Fragen nach der politischen Funktion24 und der Stellung der Strophen im soziohistorischen Gefüge25 werden nicht mehr gestellt. Die Einzelstrophen ergeben zumeist für sich Sinn und erscheinen als abgeschlossene Einheiten; feste Zusammenfügungen zu einem liedhaften Zusammenhang lassen sich gleichwohl beobachten, besonders markant im sogenannten Falkenlied, da der Beginn der Strophe MF 9,5 (Sît sach ich den valken) eine vorangehende Strophe fordert. Inhaltliche Entsprechungen und formale Responsionen26 legen nahe, dass gewisse Einzelstrophen enger zusammenstehen als andere – so etwa die Verbindung der Strophen MF 8,1 und MF 9,29 zum Zinnenwechsel, obwohl sie auch in C nicht aufeinander folgen.27 Die → Varianz, die Bu an der auch in C auffälligen Stelle MF 8,1, V. 4 (s. o.) zeigt, mahnt zu Vorsicht bei der Zusammenfügung der beiden Strophen. Generell sollte man bei der Rekonstruktion von Bezügen vorsichtig sein;28 Bezugnahmen von Einzelstrophen scheinen vor diesem Hintergrund möglich, aber keineswegs fixiert gewesen zu sein.
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23 Vgl. Wapnewski 1959; Bartel 2015. 24 Vgl. Jansen 1969 und 1978. 25 Vgl. Mertens 1986. 26 Vgl. Schmid 1980. 27 Vgl. Ehlert 1981; Kerth 2007; Kössinger 2017, 101–109. 28 Vgl. die weitgehende These im Hinblick auf Mannes- und Frauenstrophen sowie die Logik der Verschriftung bei Schilling 2004.
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Der von Kürenberg
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Florian Kragl
Epiker, die Lyrik dichten: Heinrich von Veldeke und Hartmann von Aue 1 Epiker und/oder Lyriker Epiker, die Lyrik dichten, sind dem (deutschen) Mittelalter durchaus nicht fremd. Von Wolfram von Eschenbach haben sich sieben wenige, aber poetisch höchst bemerkenswerte Lieder erhalten, Gottfried von Straßburg werden in der Überlieferung ein Minnelied und zwei Spruchsänge – beide rätselhaft schlicht – zugeschrieben, im dreizehnten Jahrhundert tritt → Konrad von Würzburg als Epiker und Lyriker hervor, auch Chrétien de Troyes war beides zugleich. Trotz dieser Schnittmengen ist auffällig, dass eine einigermaßen ausgewogene poetische Betätigung in beiden Großbereichen, wie wir sie aus späteren Phasen der Literaturgeschichte kennen, im deutschen Mittelalter selten ist. Nicht nur die Germanistik der vergangenen beiden Jahrhunderte tendiert sehr intensiv zu einer Grobsortierung in Epiker und Lyriker; auch die zeitgenössische Perspektive scheint bald diesem Ordnungsraster verpflichtet gewesen zu sein. Dies gilt auch für Heinrich von Veldeke und Hartmann von Aue. Anders als bei Wolfram und Gottfried aber ist die Tatsache, dass man sie überwiegend als Epiker betrachtet, durchaus nicht selbstverständlich. Von beiden haben sich umfangreiche und anspruchsvolle lyrische Œuvres erhalten; eine enge Verbindung zwischen lyrischem und epischem Schaffen scheint also, wenn man Heinrich und Hartmann als die ‚Erfinder‘ des deutschen höfischen Romans ansieht, nicht die Ausnahme, sondern die Regel zu sein. Zur Besonderheit wird sie erst, wenn man die Kopräsenz der beiden Großgenres aus der späteren Geschichte des höfischen Romans ansieht. Die Vertreter dieser generischen Reihe sind es denn auch, die zuerst das Bild von den Epikern Heinrich und Hartmann entworfen haben.1 Gottfried von Straßburg, Heinrich von dem Türlin und Rudolf von Ems sprechen über sie in ihren Literaturexkursen, und beide werden darin überwiegend bis ausschließlich als Epiker gewürdigt. Das schließt den Bogen beispielsweise zur jüngsten ‚Einführung in das Werk Hartmanns von Aue‘, in dem die Lyrik noch nicht einmal ein eigenes Großkapitel bekommt und auf weniger als zehn (von insgesamt 131 darstellenden) Seiten abgehandelt wird.2 Umgekehrt verraten die Miniaturen der Handschriften B und C, die bei beiden Dichtern voneinander abhängen, wenig über deren epische Betätigung. her heinrich 1 Die Äußerungen der Zeitgenossen zu Heinrich sammelt Touber 2010a, 378‒379, und 2010b, 362‒363; zu Hartmann vgl. Cormeau und Störmer 2007, 23–25. 2 Wolf 2007, 123–131. https://doi.org/10.1515/9783110351859-038
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von Veldig (C, Bl. 30r; in B: maister hainrich uon veldeg, S. 57) wird zweimal in einer gleichsam typischen lyrischen Pose dargestellt: auf grüner Wiese (in B: unter einer Linde) sitzend, bekränzt, von Vögeln umringt, die linke Wange in die linke Hand gelegt, mit der rechten auf ein Spruchband zeigend (in B: dieses haltend). her hartman von Owe (C, Bl. 184v; in B: her hartman von owe, S. 33) erscheint zweimal als gepanzerter, lanzenführender Reiter (in C: mit Banner); das kann, muss aber nicht eine Allusion auf seine ‚Ritterromane‘ darstellen. Diese frühe und verblüffend hartnäckige literarhistorische Verzerrung3 mag zum Teil darauf beruhen, dass Heinrich und Hartmann im Bereich der Epik Exzeptionelles geleistet haben, während sie im Bereich der Lyrik ‚nur‘ zwei unter vielen Vertretern des Minnesangs sind. Daneben wird auch die mediale Differenz der beiden Großgenres der höfischen Literatur – Minnesang und höfischer Roman – dazu beigetragen haben, dass eine Zusammenschau schon früh misslingen musste. Die höfische Epik ist, zumindest produktionsästhetisch, ein genuin schriftliches Projekt, während die höfische Lyrik bekanntlich erst spät ‚kodifiziert‘ wird, und dies zu einem literarhistorischen Zeitpunkt (um 1300), der den Niedergang des höfischen Romans im ‚historischen‘ Erzählen erlebt. Dazu tritt, wohl schon zu Lebzeiten von Heinrich und Hartmann, eine latente sozialhistorische Differenz, die den höfischen Roman als Gönnerliteratur gegen jene Minnelyrik stellt, die als (wertfrei gesprochen) dilettantische Kunstübung auch vom ‒ nicht nur niederen ‒ Adel praktiziert werden konnte. Heinrich und Hartmann dürften dem niedrigsten Adel angehört haben, Heinrich als Teil eines gut bezeugten Rittergeschlechts, Ministerialen der Grafen von Loon, Hartmann sagt im ‚Armen Heinrich‘ von sich selbst: Ein rîter […] der was Hartman genant, | dienstman was er ze Ouwe (V. 1‒5), Heinrich von dem Türlin lokalisiert ihn in der ‚Krone‘ (V. 2353) im ‚Schwabenland‘, was auch zur Reimgrammatik Hartmanns passt. Dass sie, als ‚abhängige‘ Dichter, auch Minnesang üben, ist, von dem wenig jüngeren → Walther von der Vogelweide oder den romanischen (vor allem den nordfranzösischen) Parallelen her besehen, ganz und gar konventionell. Dass aber der französisch geprägte Minnesang häufig von hochrangigeren Vertretern des Adels in den deutschsprachigen Raum getragen wird, macht sie doch wieder zu Sonderlingen, und auch dies mag einen Teil der Rechnung dafür tragen, dass es zu einer partiellen Separierung der Lyriker Heinrich und Hartmann von den personenidentischen Epikern kam. Der vorliegende Beitrag ist dem Versuch verpflichtet, diese beiden getrennten Heinrich- und Hartmann-Bilder ein Stück weit zusammenzurücken; insofern er Teil eines Handbuchs zum Minnesang ist, gilt die analytische Aufmerksamkeit ganz dem lyrischen Schaffen.
3 Vgl. zu Hartmann Salmon 1971.
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2 Heinrich von Veldeke Unter Heinrich von Veldeke4 sind in A 17, in B 48, in C 61 Strophen erhalten. BC gehen, abgesehen von den zusätzlichen Strophen am Korpusende von C, überwiegend streng parallel; A steht deutlich weiter abseits (Lied- und Strophenbestand, Reihenfolge, Lesarten). Auch sprachlich geht A durch häufige nicht-mittelh o c h deutsche Einsprengsel eigene Wege, während B zwar viele (im Mittelhochdeutschen) unreine Reime bewahrt, die Lieder aber gleichsam mechanisch ‚normalisiert‘. C wiederum geht, wie üblich, am weitesten in der formalen Glättung, vor allem in der ‚Besserung‘ des Reimbestands. Im Übrigen ist die → Varianz zwischen den drei Korpora überschaubar. Fälle wie Ich bin vrô (MF 57,10), wo eine A- gegen eine BC-Fassung steht, sind auch deshalb selten, weil die A-Überlieferung sehr schmal ist. Die Zuschreibungsvarianz ist gering. Der überwiegende Teil der Strophen ist ausschließlich unter Heinrich überliefert, und von diesen Strophen hat die auf Athetesen bedachte ältere Forschung Heinrich nur wenige aberkennen wollen (MF XXXV, XXXVII). Parallelüberlieferung unter anderem Namen gibt es zu MF XXXVI (Heinrich von Veldeke C1, Kunz von Rosenheim C2, Hugo von Mühldorf A), MF 33,15 und MF 35,16 (Dietmar von Aist BC, Heinrich von Veldeke A; in MF unter Dietmar) und → Ulrich von Liechtenstein KLD 12 (Ulrich von Liechtenstein LC1, Heinrich von Veldeke C2, Niune A). Während Wan sol den vrowen dienen (MF XXXV) inhaltlich und formal im Heinrich-Korpus konventionell erscheint, sticht Manigem herzen taet der kalte winter leide (MF XXXVII) als besonders frivol-erotisches → Frauenlied mit auffällig kurzen Strophen in auffällig langen Zeilen hervor. Der winter waere mir ein zît (MF 35,16) fügt sich formal und thematisch (latente Ironisierung Hoher Minne) ins Korpus ein, während die unter Heinrich überlieferten Strophen des Liedes Ahî, nu kumt uns diu zît (MF 33,15) formal (Langzeilen) und thematisch abstehen. Mit Wol mich der sinne die mir ie gerieten die lêre (Ulrich von Liechtenstein KLD 12) vergleichen sich die beiden Tristan-Allusionen in anderen Liedern Heinrichs und sein Freude-Prinzip, ohne dass man es einen ‚typischen Veldeke‘ nennen würde. Wie seine epischen Werke ist auch Heinrichs Lyrik geprägt von niederfränkischen/ maasländischen Elementen (→ Niederländische Lyrik). Ob die Lieder ursprünglich in altlimburgischer Sprache komponiert und dann ins Mittelhochdeutsche ‚übersetzt‘ worden, ob sie in einer Mischsprache – gedacht für verschiedene Publikumskreise – entstanden sind oder ob Heinrich sie mittelhochdeutsch gedichtet, aber mit einem entsprechenden Kolorit versehen hat, ist nicht zu entscheiden.5 Der Versuch von Theodor Frings und Gabriele Schieb, die Lieder in ein ‚rekonstruiertes‘ Altlimburgisch zurückzusetzen,6 stößt seit einigen Jahrzehnten überwiegend auf Skepsis, weil
4 Überblicksdarstellungen: Wolff und Schröder 1981, 902–904; Müller 2012b; Willaert 2012, 311–316. 5 Zuletzt zur Frage Tervooren 1997; Willaert 1999a und 1999b. 6 Frings und Schieb 1947; so noch synoptisch in MF.
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er auf kühnen sprachhistorischen Verallgemeinerungen punktueller dialektaler Auffälligkeiten der Lieder beruht.7 Sowohl formal als auch inhaltlich-thematisch vermittelt das Œuvre ein kompaktes und markantes Bild. Formal stechen ins Auge: eine Vorliebe für wenige, oft nur zwei oder drei Reimklänge pro Strophe; für vierhebige Verse; fast durchgehend eigentümliche, oft achtzeilige Mischformen aus Reihen- und Kanzonenstrophe, die fast immer in zwei in etwa gleich lange Teile zerfallen, ohne dass man immer von Stollenstrophen sprechen könnte8 – Beeinflussung durch Sequenz- (MF 58,11) oder conductus-Formen (MF 63,20; MF 64,10) ist zum Teil nicht auszuschließen;9 eine starke Tendenz zu einstrophigen Liedern (23 von 37 Liedern in MF; daneben meist Kompositionen aus zwei, selten aus drei Strophen); meistenteils regelmäßige Alternation (dagegen das freidaktylische Lied MF 62,25). ‚Eindeutige‘ Kontrafakturen zu (romanischen) Vorbildern gibt es nicht.10 Mitunter sind die Liedzusammenhänge tongleicher Strophen prekär (MF 58,35; bes. die ‚Nachtragsstrophen‘ in MF 60,13; MF 60,29); in einem Fall wird der Liedzusammenhang über eine Art Kornreim formal gesichert (MF 59,23). Ältere Spekulationen über ‚Liederkränze‘ oder eine ‚Liedbiographie‘ gelten heute als obsolet. Allerdings hängen manche (tonungleiche) Lieder, die in den Korpora unmittelbar aufeinander folgen, eng zusammen: Ich bin vrô (MF 57,10) könnte (in BC) als FrauenliedReplik auf Ez sint guotiu niuwe maere (MF 56,1) reagieren, Got sende ir ze muote (MF 63,20) möchte Geleitstrophe zu In den aberellen (MF 62,25) sein, Ir stüende baz, daz sî mich trôste (MF 66,32) lässt sich als Konsequenz zu Schoeniu wort mit süezeme sange (MF 66,24) begreifen. In ähnlicher Weise treten die längeren einstrophigen Korpusabschnitte als gnomische, mitunter geradezu sangspruchartige11 Reihen hervor (z. B. BC 15‒20; → Sangspruch – Minnesang). Der formalen Lockerheit entspricht eine gewisse Nonchalance gegenüber argumentativen Zusammenhängen. Heinrich reiht gerne Bilder (sehr häufig → Natureingänge, die sich mitunter zu ‚Naturliedern‘ auswachsen) und Behauptungen aneinander, lässt sich aber selten auf komplexe logische Strukturen ein. Prinzip der meisten Lieder ist blîde (‚Freude‘; meist in Komposition: blîdeschaft), die nur am Rande ethisch reguliert wird (durch êre). Das Konzept der Hohen Minne ist zwar als Begriff präsent (Al ze hôhe ‹…› minne; MF 56,1, III, V. 1), wird aber von einer latenten Skepsis begleitet, so wie unbedingter Dienst stets nur in ironischer Brechung begegnet; ob dies den Schluss auf ein Publikum von „Connaisseurs“ zulässt, ist nicht sicher, gilt
7 Tervooren 1971. 8 Vgl. Kanzonen wie ababcdc (MF 60,13) gegen aabaabbab (MF 56,1) oder ababbaba (MF 57,10). 9 Touber 1971. 10 Unsichere Vorschläge bei Aarburg 1972, 413–416, vgl. MF2, 81–83: MF 57,10; MF 61,33; MF 65,28; MF 67,9; zum Verhältnis zur Romania allgemein: Schnell 2012, 135–138; zu den Strophenformen: Touber 2010a; zur Stabat-mater-Tradition: Touber 1971. 11 Lieb 2000.
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aber der jüngeren Forschung als wahrscheinlich.12 Ein heiterer, oft pointierter (MF 56,1 mit MF 57,10), mitunter schelmischer (MF 58,11) Grundton durchzieht fast alle Lieder.13 Er regiert auch die typischen Motivbereiche des Minnesangs: Sommer geht parallel mit Freude (z. B. in MF 65,28 und MF 66,1), aber auch der Winter verheißt chiastisch Freude (MF 64,26). Störenfriede der Minne wie Neider oder die huote sind keine ernsthafte Bedrohung (bes. MF 60,29), der Schaden liegt bei den Widersachern (MF 65,21); energischer Dienst bringt Lohngewissheit (MF 67,33), auch Fernliebe ist offensiv glücklich (MF 64,17); wo das Singen überhaupt reflektiert wird, ist es ein Freude-Singen (MF 60,13; MF 61,33; MF 62,25; MF 66,24; MF 67,25). Die ‚gnomischen‘ Einzelstrophen bestärken diese Tendenz, wenn man von einigen laudationes temporis acti absieht (MF 61,1; MF 61,18; MF 61,25; MF 65,13). Dass ein solcher Minnesang offen ist für eine nur schwach metaphorisch oder metonymisch kaschierte Zurschaustellung von Erotik oder Sexualität, nimmt nicht wunder (so in MF 63,28; MF XXXVII), ebenso wenig, dass die Pointenhaftigkeit hin und wieder Witzstrukturen ausbildet: Man seit al vür wâr (MF 62,11) besingt die Vorzüge älterer Liebhaber (implizites Wortspiel wîs: weise/grauhaarig); Gerner het ich mit ir gemeine (MF 64,10) zeigt das singende Ich, das lieber mit ihr gemeinsam reich als ohne sie arm wäre, wobei offensichtlich ein klassischer Überbietungstopos, der Liebe gegen Reichtum stellt, persifliert wird. Den Bedrohungen der Liebesfreude sehen die singenden Ichs mit ironischer Gelassenheit entgegen (z. B. in MF 62,25). Motivgeschichtlich auffällig, wenn auch nicht sonderlich charakteristisch sind zwei intertextuelle Anspielungen auf den Liebestrank des Tristanstoffes (MF 57,10; MF 58,35; → Narrative Interferenzen im Minnesang) sowie eine Allusion auf Salomons Weisheit (MF 66,16). Die Nennung von Rhone und Sawe (MF 56,1, II, V. 2) überrascht bei Heinrich von Veldeke nicht.
3 Hartmann von Aue Unter Hartmann von Aue14 führen A 10, B 28 und C 60 Strophen – insgesamt 18 Lieder –, wobei in etwa die erste Hälfte des C-Korpus weitgehend denselben Strophenbestand wie B aufweist. Charakteristisch für Hartmann ist, dass nicht nur A eigene Wege geht, sondern dass auch die Varianz zwischen B und C erheblich ist, vor allem in puncto Strophenbestand und -reihenfolge der Lieder. Überschneidungen mit anderen Autorenkorpora sind selten: Dir hât enboten, vrowe guot (MF 214,34) ist außer in AC auch (mit erheblicher Strophenvarianz) in E und (mit einer Einzelstrophe) in s
12 Früh De Paepe 1971; Bastert 1994, bes. 333; Tervooren 1997; Willaert 1999a und 1999b. 13 Willaert 2012, 316. 14 Gesamt- und Überblicksdarstellungen: Blattmann 1968; Cormeau 1981; Cormeau und Störmer 2007, 80–98; von Reusner 1984; Hasty 2005; Wolf 2007, 123–131; Müller 2012a.
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unter Walther erhalten;15 Wê, war umbe trûren wir (MF XVIII), das BC unter Hartmann führen, bietet E unter → Reinmar, m unter Walther, wiederum mit erheblicher struktureller Varianz, auch hier sind die Zuschreibungen strittig.16 Sprachlich bieten Hartmanns Lieder gleichsam ‚klassische‘ mittelhochdeutsche Dichtersprache. Die ältere Forschung hat sich bisweilen darauf kapriziert, reimtechnische Besonderheiten aufzuspüren, die in den Epen Hartmanns keine Entsprechung haben, um so auf ‚Unechtes‘ zu schließen. Die spärlichen Funde17 belegen freilich, dass im besten Fall von graduellen Differenzen gesprochen werden kann, die das Ausmaß von reimgrammatikalischer Differenz etwa zwischen ‚Erec‘ und ‚Iwein‘ nicht übersteigen. Hartmanns Form ist die Kanzonenstrophe. Der Aufgesang ist nur einmal dreizeilig (abcabc, MF 206,19), sonst vierzeilig abab, einmal aabb (MF 216,29). Die Abgesänge sind vielgestaltig, nur einmal (MF 205,1) wird dabei Reimmaterial aus dem Aufgesang aufgegriffen. Es dominieren vierhebige Verse mit regelmäßiger Alternation (freidaktylisch aber MF 215,14). Die Lieder sind überwiegend dreistrophig (acht Lieder), nur einmal einstrophig (MF 211,20); zwei-, vier-, fünf- und sechsstrophige Liedkompositionen sind selten, wobei die längeren Lieder fast immer in Strophenbestand und Strophenreihenfolge unsicher sind: Diese Töne sind mitunter über die Korpora ‚verstreut‘, die Strophen sind (bei Mehrfachüberlieferung) variantenreich umgestellt, hin und wieder (in C) an späterer Korpusposition nachgetragen (MF 205,1; MF 206,19; MF 207,11; MF 209,25). Besonders prekär ist der Zusammenhalt des Liedes Dir hât enboten, vrowe guot (MF 214,34), dessen letzte, nur in E und s unter Walther erhaltene Strophe Swer giht, daz minne sünde sî (V) inhaltslogisch kaum zu den übrigen Strophen passt. Nur in einem Fall konnte die Forschung eine Kontrafaktur wahrscheinlich machen (MF 215,14),18 die Bezüge zur Romania sind rar.19 Die meisten Lieder Hartmanns fallen in jenen konzeptionellen Raum, den die Forschung traditionell Hohe Minne nennt. Die Gedanken drehen sich um Unerbittlichkeit des Dienstes (stæte), Liebe und Leid, Hoffnung und Vergeblichkeit, Frauenlob und Erkenntnis der eigenen Inferiorität des singenden Ichs, das Dilemma eines glücklosen Gesangs, die Ausblendung der erotischen oder sexuellen Dimension; Neider oder Störenfriede nennt Hartmann nicht, die huote kommt nur einmal als überwundenes Hindernis zur Sprache (MF 215,14, III, V. 4; s. u.). Vereinzelt wird das Singen als Teil des Dienstes bedacht (z. B. MF 206,19, III), übergreifendes Thema ist die stæte (bes. MF 211,27; MF 212,13; MF 214,34), zweimal formuliert Hartmann den Gedanken, dass, wer nie Liebe gewann, glücklich bleibt (MF 214,12; MF 217,14, III).
15 Dazu Henkel 1998. 16 Allgemein Kühnel 1989. 17 Siehe MF2, 114. 18 Vgl. Aarburg 1972, 418. 19 Dazu Sayce 1988.
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Kaum einmal scheint es Ziel der – in ihrer Bildlichkeit – charakteristisch anämischen Lieder zu sein, aus diesem thematischen Grundrauschen einen präzisen Argumentationsgang zu filtern. Die Häufung von Strophenvarianz mag daher rühren, zumal die Unterschiede in Strophenreihung und Strophenbestand nur nuancierend wirken (extrem MF 207,11).20 Dass es unter dieser Voraussetzung unmöglich gelingen kann, die Lieder in eine ‚sinnvolle‘ chronologische Reihe zu bringen, versteht sich. Gegen Ende des C-Korpus steht ein Block aus drei Liedern, in denen das Konzept Hohe Minne – das die Lieder zuvor allenfalls punktuell ironisieren21 – lenisiert wird (C 45–54): Das Lied Ich muoz von rehte den tac iemer minnen (MF 215,14) erzählt von einem erfolglosen und einem weiteren, erfreulichen Treffen (III, V. 3–4: […] vil saelige stunde, | daz ich si vant mir ze heile âne huote). Das → Frauenlied Swes vröide hin ze den bluomen stât (MF 216,1) reflektiert das ‚Freunden‘ in den Mund gelegte Paradoxon: Si jehent, welle ich minne pflegen, | sô müeze ich mich ir bewegen (II, V. 5–6); am Ende steht ein klares Bekenntnis zum dienstleistenden Mann (IV, V. 5–7). In Maniger grüezet mich alsô (MF 216,29), dem Unmutslied mit der berühmten Apostrophe Hartmann, gên wir schouwen | ritterlîche vrouwen (I, V. 3–4), will der Genannte von den vrouwen nichts wissen und zieht ihnen arme wîbe vor (II, V. 4). Schon vor dieser Liedfolge kritisiert Wê, war umbe trûren wir (MF XVIII) die Halbherzigkeit des Lohnversprechens. Neben dem genannten gibt es zwei weitere Frauenlieder. Im Lied Ob man mit lügen die sêle nert (MF 212,37)22 spricht ein enttäuschtes weibliches Ich über Männer (Sänger? – II, V. 7–8) als Lügner und Verführer. Diz waeren wunneclîche tage (MF 217,14) hat den Verlust des Mannes zum Gegenstand, mutmaßlich eine Witwenklage, kaum aber die Klage über die Absenz eines Kreuzfahrers. Auf diesen Gedanken wurde die Forschung von den → Kreuzliedern Hartmanns getrieben.23 Dem kriuze zimet wol reiner muot (MF 209,25) besingt das Kreuzethos, der Kreuzzug wird als Dienst im Namen und für das Seelenheil des verstorbenen Herrn dargestellt. Das in BC direkt anschließende Swelch vrowe sendet ir lieben man (MF 211,20) bedenkt die zugehörige Perspektive der Frauen (Keuschheit) und lässt sich wie ein nachträglicher Kommentar lesen. Ich var mit iuweren hulden (MF 218,5) spielt mit der Ambivalenz von (Gottes- vs. Sänger-) minne und bezieht klar Position für erstere.24 Ein Spektakel der biographistischen Hartmann-Forschung waren seine Zeilen: nu seht, wie sî mich ûz mîner zungen ziuhet über mer. und lebte mîn her Salatîn und al sîn her dien braehten mich von Vranken niemer einen vuoz. (II, V. 6–8)
20 Dazu Klare 1999. 21 Ehlert 2000. 22 Dazu Ehlert 1995. 23 Zu diesen: Haubrichs 1978; Mertens 1978; Nellmann 1987; Ortmann 1996; Kraft 2005. 24 Dazu Kuhn 1968; Urbanek 1992.
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Der Vagheit der Passage war nur über kühne Konjekturen biographisches ‚Wissen‘ abzugewinnen. In dieser Hinsicht ähnlich unergiebig ist die Notiz des Liedes Dem kriuze zimet wol reiner muot (MF 209,25) zum Dienst für den toten Herrn (IV). Gleichwohl sind sie, neben der zitierten Apostrophe eines Hartmann, die einzigen Konkreta in Hartmanns lyrischem Œuvre.
4 Epiker-Lyriker Sowohl Heinrich von Veldeke als auch Hartmann von Aue warten mit einem formal und thematisch erstaunlich kompakten lyrischen Œuvre auf. Die vergleichsweise scharf abgegrenzte Überlieferung spiegelt diesen Befund. Dass es sich tatsächlich um Lieder der über ihr episches Schaffen greifbaren Dichter handelt, belegt der sprachliche Befund. Naive Bezüge zwischen Epik und Lyrik gibt es bei beiden nicht,25 auch keine evidenten Verbindungen zwischen den von Heinrich und Hartmann besungenen Minneentwürfen und den Liebesverbindungen und Liebesreflexionen in ihren epischen Dichtungen. Noch nicht einmal eine Verrechnung von Hartmanns Minnelyrik mit seiner ‚Klage‘ ginge leicht von der Hand. Allenfalls ist in Hartmanns Lyrik ein gewisser narrativer Einschlag festzustellen.26 Verblüffend hingegen ist, wie exakt sich die vermeintlichen literarhistorischen Positionen im epischen und lyrischen Bereich entsprechen. Heinrich von Veldeke scheint mit seinen gleichsam einfachen Formen und einem breiten Spektrum an thematischen Schwerpunkten auch im lyrischen Bereich eine frühe, eigenständige Variante des Minnesangs zu repräsentieren;27 dass auch hier seine vermittelnde Stellung zwischen Romania und Germania wesentlich ist, zeigt neben der Verankerung im romanischen (und lateinischen: Vagantenlyrik) Gattungsgefüge28 die Übernahme zahlreicher Motive (→ Altokzitanische Lyrik, → Die Liebeslyrik in Nordfrankfreich, → Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters).29 Vielleicht demonstriert auch die Tatsache, dass sichere Kontrafakturen nicht greifbar sind, dass Heinrich im Einzugsbereich des Trouvère-Gesangs ‚lebt‘ und dichtet, nicht aber diesen transferiert.30 Hartmanns Lyrik ist im Vergleich dazu ‚klassisch‘ und ähnelt – trotz einer gewissen Simplizität der Sprachartistik, der Argumentations- und der Bildlogik – den Liedern
25 Wenige Funde zu Hartmann bei Seiffert 1968. 26 Haustein 2011. 27 Bastert 1994. 28 Bastert 1994. 29 Vgl. Touber 2010b und 2011. 30 Vgl. Schnell 2012, 135.
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→ Heinrichs von Morungen oder Reinmars. Sein Minnesang ist in seiner formalen und thematischen Monotonie bereits ‚typisch deutsch‘. Verblüffend ist dieser Befund nur einer mehrfach gegen unilineare literarhistorische Modelle geläuterten Forschung. Die ältere Literaturgeschichtsschreibung des Faches hätte sich hier bestätigt gesehen, insofern Heinrich und Hartmann als Epiker und Lyriker einen sehr ähnlichen literarhistorischen Ort – in den organischen Bildern Gottfrieds und Rudolfs: erstes Pfropfreis, erste Blüte – besetzen. Die Besonderheit der Epiker-Lyriker Heinrich und Hartmann liegt darin, dass sich diese Beobachtung bei ihnen sowohl aufgrund der relativen Chronologie ihrer epischen Werke als auch aufgrund der einleitend benannten zeitgenössischen Aussagen auf ein gewisses historisches Fundament stützen kann. Inwieweit diese privilegierte Sonderstellung dabei helfen könnte, das Phasenmodell des Minnesangs kritisch, aber nicht rein dekonstruierend neu zu denken, steht dahin.
Literatur Ursula Aarburg: Melodien zum frühen deutschen Minnesang. Eine kritische Bestandsaufnahme. Mit einem Nachtrag. In: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung. Hg. von Hans Fromm. Bd. 1. Darmstadt 51972 (WdF 15), 378–421. Bernd Bastert: Möglichkeiten der Minnelyrik. Das Beispiel Heinrich von Veldeke. In: ZfdPh 113 (1994), 321–344. Ekkehard Blattmann: Die Lieder Hartmanns von Aue. Berlin 1968 (PhStQ 44). Helmut Brackert: Kristes bluomen. Zu Hartmanns Kreuzlied 209,25. In: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erot. Dichtung in Deutschland. Hg. von Rüdiger Krohn, unter Mitwirkung von dems. u. a. München 1983, 11–23. Christoph Cormeau: Hartmann von Aue. In: 2VL 3 (1981), 500–520. Christoph Cormeau und Wilhelm Störmer: Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung. 3., aktualisierte Auflage mit bibliographischen Ergänzungen von Thomas Bein. München 2007. Trude Ehlert: MF 212,37 ‚Ob man mit lügen die sêle nert‘ – wirklich ein Frauenlied Hartmanns von Aue? In: „Dâ hoeret ouch geloube zuo“. Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festcolloquium für Günther Schweikle anlässlich seines 65. Geburtstages. Hg. von Rüdiger Krohn in Zusammenarbeit mit Wulf-Otto Dreessen. Stuttgart u. a. 1995, 37–50. Trude Ehlert: Zur Poetik von texte und contre-texte im Minnesang Hartmanns von Aue. In: Vom Mittelalter zur Neuzeit. Festschrift für Horst Brunner. Hg. von Dorothea Klein, zusammen mit Elisabeth Lienert und Johannes Rettelbach. Wiesbaden 2000, 95–107. Theodor Frings und Gabriele Schieb: Heinrich von Veldeke. Die Lieder. In: PBB 69 (1947), 1–284. Will Hasty: Hartmann von Aue as Lyricist. In: A Companion to the Works of Hartmann von Aue. Hg. von Francis G. Gentry. Rochester, NY u. a. 2005 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), 21–41. Wolfgang Haubrichs: reiner muot und kiusche site. Argumentationsmuster und situative Differenzen in der staufischen Kreuzzugslyrik zwischen 1188/89 und 1227/28. In: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst. Ergebnis der Karlsruher Staufertagung 1977. Hg. von Rüdiger Krohn, Bernd Thum und Peter Wapnewski. Stuttgart 1978 (Karlsruher kulturwissenschaftliche Arbeiten 1), 295–324.
Epiker, die Lyrik dichten: Heinrich von Veldeke und Hartmann von Aue
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Florian Kragl
In: Heinric van Veldeken. Symposion Gent, 23–24 oktober 1970. Hg. von Gilbert A. R. de Smet. Antwerpen u. a. 1971, 44–69. Helmut Tervooren: wan si suochen birn uf den buochen. Zur Lyrik Heinrichs von Veldeke und zu seiner Stellung im deutschen Minnesang. In: Queeste. Zeitschrift für die Literatur des Mittelalters in den Niederlanden 4 (1997), 1–15. Anton Touber: Veldekes Stabat Mater. In: Heinric van Veldeken. Symposion Gent, 23–24 oktober 1970. Hg. von Gilbert A. R. de Smet. Antwerpen u. a. 1971, 70–76. Anton Touber: Die Strophenformen der Lyrik Heinrichs von Veldeke und Frankreich. In: PBB 132 (2010), 378–384. [2010a] Anton Touber: La lyrique de Heinrich von Veldeke: relais entre la lyrique occitane/française et la lyrique allemande au Moyen Age. In: GRM 60 (2010), 361–370. [2010b] Anton Touber: Heinrich von Veldekes Natureingang, Motivik und Frankreich. In: ABäG 68 (2011), 87–96. Ferdinand Urbanek: Code- und Redestruktur in Hartmanns Lied ‚Ich var mit iuwern hulden‘ (MF Nr. XVII). In: ZfdPh 111 (1992), 24–50. Frank Willaert: Heinrich von Veldeke und der frühe Minnesang. In: Mittelalterliche Lyrik: Probleme der Poetik. Hg. von Thomas Cramer und Ingrid Kasten. Berlin 1999 (PhStQ 154), 33–56. [1999a] Frank Willaert: Zwischen dem Rotten und der Sowe? Einige Thesen zur Stellung Veldekes im frühen Minnesang. In: Sprache und Literatur des Mittelalters in den Nideren Landen. Gedenkschrift Hartmut Beckers. Hg. von Volker Honemann u. a. Köln u. a. 1999, 309–323. [1999b] Frank Willaert: Niederländische Lyrik. In: GLMF 3: Lyrische Werke. Hg. von Volker Mertens und Anton Touber. Berlin u. a. 2012, 307–346. Jürgen Wolf: Einführung in das Werk Hartmanns von Aue. Darmstadt 2007 (Einführungen Germanistik). Ludwig Wolff und Werner Schröder: Heinrich von Veldeke. In: 2VL 3 (1981), Sp. 899–918.
Beate Kellner
Heinrich von Morungen 1 Name, Herkunft und Zeugnisse Heinrich von Morungen, dessen Lieder der Hohen Minne um 1200 zu datieren sind, hat wahrscheinlich in Ostmitteldeutschland gewirkt. Vermutlich handelt es sich um den in Urkunden des Markgrafen Dietrich von Meißen 1217 und 1218 bezeugten Hendricus von Morungen, der wohl von der Burg Morungen bei Sangershausen in Thüringen stammte und seine von Dietrich erworbenen Besitzungen dem Thomaskloster in Leipzig vermachte. Die Wappen, die sich in der Weingartner und Heidelberger Liederhandschrift auf dem Autorporträt Morungens finden, weisen auf ein thüringisches Ministerialengeschlecht.1 Quellen des sechzehnten Jahrhunderts, die von einer Reise des Heinricus de Morgener oder de Morungen nach Indien (nach heutigem Verständnis Persien) ins Land der Thomaschristen berichten und 1222 als Todesjahr überliefern, haben keinen Zeugniswert für das Leben des mittelalterlichen Sängers. Dies gilt auch für die Ballade vom edlen Moringer, die ebenfalls von einer Indienreise des Sängers weiß. Sie ist 1459 zum ersten Mal greifbar, geht aber auf ältere Überlieferungen zurück. Das Autorbild in C (Cod. Pal. germ. 848, Bl. 76v)2 zeigt den Sänger auf einem Lager, wohl gebettet auf Polstern, Kissen und Decken, in der linken Hand hält er einen der für die Handschrift typischen leeren Bildstreifen, der sich im Raum des Bildes bis zu einer Dame erstreckt. Sänger und Dame sind einander zwar durch den Bildstreifen zugeordnet, doch die Dame, die ein Hündchen im Arm hält, wendet sich sinnfällig vom Sänger ab, was ihre Haltung in der Liebe zum Ausdruck bringen soll. Die Szene zeigt den Sänger wahrscheinlich als Minnekranken und dürfte aus Liedpassagen Morungens heraus entwickelt worden sein (vgl. etwa MF 137,10, I, V. 1–2, V. 5–7).
2 Überlieferung Insgesamt sind 115 Strophen in 35 Tönen überliefert. Die Heidelberger Liederhandschrift C bietet 104 Strophen (davon 43 Strophen auch in Ca, dem von C abhängigen sogenannten Troßschen Fragment), die Weingartner Liederhandschrift B 28 Strophen (davon drei unter dem Namen Dietmars von Aist), die Kleine Heidelberger Liederhandschrift A 29 Strophen, drei davon, nämlich 27–29 A, sind in C unter Ulrich von Singenberg bezeugt. In der Würzburger Liederhandschrift E finden sich unter → Walther von
1 Vgl. Tervooren 2010, 804–806; Händl 2009, 195. 2 Walther 1988, 68–69. https://doi.org/10.1515/9783110351859-039
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der Vogelweide beziehungsweise → Reinmar dem Alten acht Strophen in zwei Tönen, von denen zwei Strophen (und damit beide Töne) in C unter Morungen bezeugt sind. Die Handschrift p (Bern, Burgerbibliothek, Cod. 260) überliefert vier Strophen Morungens. Die Münchener Handschrift der Carmina Burana M (clm 4660) weist auf Bl. 61r eine anonyme neumierte Strophe auf, die 87 C entspricht.3 Das Kremsmünsterer Fragment umfasst drei Strophen des Liedes Sîn hiez mir nie widersagen (MF 130,9), darunter eine gegenüber C bislang unbekannte Plusstrophe.4 Die älteren Versuche einer Zyklenbildung oder chronologischen Anordnung der Lieder sind aus heutiger Sicht als verfehlter Ausdruck biographischer Konkretion abzulehnen.5 MF folgt weitgehend der Anordnung von C.
3 Heinrich von Morungen – Ein Sänger, der seiner Zeit voraus war? Neben Reinmar dem Alten und Walther von der Vogelweide gilt Heinrich von Morungen heute als der berühmteste Vertreter des deutschen Minnesangs. Die Lieder der beiden Erstgenannten sind allerdings wesentlich breiter überliefert als diejenigen Morungens, und zudem preist Gottfried von Straßburg im sogenannten Literaturexkurs seines ‚Tristan‘-Romans nur Reinmar und Walther als prototypische Vertreter des Minnesangs (V. 4776–4813), während Morungen nicht einmal erwähnt wird. Dies führte in der Forschung zu der Ansicht, Morungen habe sich unter den Zeitgenossen keiner allzu großen Beliebtheit erfreut. Dazu passt, dass er erst Ende des dreizehnten Jahrhunderts im ‚Renner‘ Hugos von Trimberg (V. 1184) sowie im ‚Seifried Helbling‘ (V. 760) erwähnt wird, worauf nur noch vereinzelte Erinnerungen an den Sänger im ‚Losbuch‘ Konrad Bollstatters (cgm 312, fünfzehntes Jahrhundert, Bl. 142v) und in der ‚Zimmerischen Chronik‘ im sechzehnten Jahrhundert folgen. Die Diskrepanz zwischen diesem Befund, der allerdings zum Teil auch auf Zufälle der Überlieferung zurückgeführt werden kann, und der heutigen Wertschätzung Morungens in der Forschung erklärte man, indem man den Sänger zum unverstandenen Dichter stilisierte, dessen Genie und feinfühliger Sensualismus den Zeitgenossen einige Jahrhunderte voraus gewesen seien.6 Man untermauerte diese ahistorischen Vorstellungen von der vermeintlichen Modernität Morungens insbesondere mit dem auf die Unbedingtheit des Singens zielenden Vers wan ich dur sanc bin ze der welte geborn (MF 133,13, I, V. 7),7
3 Vgl. Tervooren 2010, 804–806; Händl 2009, 195. 4 Vgl. Edwards 1986, 206–211. 5 Vgl. zusammenfassend Tervooren 2010, 807. 6 Richtungsweisend waren besonders Tervooren 1975, 193–212; Kasten 1986, 319–329, 333. 7 Vgl. etwa Rodewald 1966, 288.
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dem man auf der Ebene der Minnewerbung den Vers wan ich wart dur sî und durch anders niht geborn (MF 134,14, II, V. 6) beiordnen kann. Doch diese Aussagen dürfen nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind in den Kontext der Hohen Minne und des paradoxe amoureux einzuordnen.8 Auch die vielfachen intertextuellen Bezüge zu anderen Minnesängern zeigen, dass Morungen keineswegs ein Solitär unter den Sängern war. Besonders auffällig ist die Nähe zu Walther, sie zeigt sich exemplarisch in Walthers Lied Ich bin nû sô rehte vrô (L 118,24), in dem dieser geradezu in der Maske Morungens spricht (vgl. aber auch z. B. L 54,37, IV; L 72,31).9 Doch nachweisbar sind auch Verbindungen zu Reinmar, greifbar z. B. in den Motiven vom Kussraub (MF 159,1, III nach bC) und vom ôsterlîchen tac (MF 170,1, III nach bC, V. 5). Darüber hinaus wurden mehrere mögliche intertextuelle Verbindungen zu späteren Sängern gesehen.10
4 Antikenrezeption und Rezeption der Trobadordichtung Die Übernahme von antiken Motiven ist ein Kennzeichen des Morungen-Œuvres. Sie zeigt sich in den Transformationen des Narzissmythos (MF 145,1, I und III; → Narrative Interferenzen im Minnesang), in der Idealisierung der Dame als ein Vênus hêre (MF 138,17, III, V. 1), im Topos vom Schwanengesang (MF 138,17, V), dem verdeckten Hinweis auf Helena (MF 136,25, V, V. 1) und der imaginierten Inschrift (MF 124,32, III) auf dem künftigen Grab des Sängers. Erwogen wurden auch Anspielungen auf die Fabel von Prokne und Philomela (MF 127,34) und die Nymphe Echo (MF 127,12), was jedoch als unsicher erscheint. Ob Morungen direkt auf Ovid zurückgegriffen hat oder eine mittelbare Kenntnis der zitierten Mythen und antiken Motive hatte, bleibt ebenfalls ungewiss. In der Forschung hat man dem Sänger zudem „eine besondere Vertrautheit mit der romanischen Lyrik“ zugeschrieben und ging von einer starken Beeinflussung seiner Lieder durch die Trobadorlyrik aus (→ Altokzitanische Lyrik, → Liebeslyrik in Nordfrankreich).11 Dennoch muss man inzwischen zugeben, dass es sehr schwierig ist, konkrete Abhängigkeiten nachzuweisen und romanische Strophenschemata als
8 Vgl. die Auseinandersetzung mit der älteren Forschung bei Irler 2001, 11–23. 9 Vgl. dazu Kellner 2015, 175–181. 10 So gegebenenfalls zu Ulrich von Liechtenstein, z. B. KLD 37,3, V. 4–5; Hiltbolt von Schwangau KLD 10,3 und KLD 11; Rubin KLD 18,3, V. 8; Kristan von Luppin KLD 1,3; KLD 3,2, V. 3; Christan von Hamle KLD 3 und Heinrich Hetzbolt von Weißensee KLD 3,3, V. 4, sowie Konrad von Altstetten SMS 1,2. Vgl. zusammenfassend und mit weiteren Verweisen Tervooren 2010, 812–813. 11 Kasten 1995, 747. Vgl. die Hinweise auf Motivparallelen mit der Trobadorlyrik Kasten 1995, 748– 810.
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Vorlagen auszumachen. Inhaltlich zeigt sich allerdings eine Reihe von Parallelen mit dem romanischen Sang, wie zum Beispiel beim Motiv der Rache durch den Sohn an der alternden Dame (MF 124,32, III), bei der Drohung mit Aufkündigung des Dienstes und Minneabsage (MF 141,37, II) sowie auch bei der Vorstellung, dass untreue Männer mehr Erfolg in der Liebe haben (MF 127,34, V), Themen, die unter anderem auch von Reinmar und Walther mehrfach aufgegriffen wurden. Dies gilt auch für das Motiv, dass dem Liebenden nach langem Leiden eine positive Botschaft durch die Dame zugegangen sei (MF 147,17). Ob hier ein anonymes Trouvèrelied zugrunde liegt12 oder etwa eine Strophe Peire Vidals,13 wird sich nicht mit letzter Sicherheit klären lassen. Ein methodischer Ausweg ist es, eher von intertextuellen Zusammenhängen zu sprechen, statt Abhängigkeiten und konkrete Einflüsse geltend machen zu wollen. Motivparallelen zwischen Liedern Morungens und der romanischen Lyrik wurden u. a. mit Bernart de Ventadorn (hier zum Beispiel zum Narzisslied Morungens, MF 145,1),14 Raimbaut de Vaqueiras, Raimon de Miraval, Chrétien de Troyes, Guilhems de Cabestanh, Peirols und Peire Vidal festgestellt.15
5 Formmerkmale und Gattungen Die allermeisten Lieder Morungens stellen Kanzonen dar, in denen aus der Perspektive des männlichen Liebenden und Sängers von seiner Liebe zu einer idealisierten Dame gesprochen wird. Der Sänger erhofft sich einerseits die Erfüllung seiner Liebe, weiß aber andererseits, dass er sich diese nicht wünschen darf, denn würde die Dame auf sein Werben eingehen, wäre sie nicht die Schönste und Beste im Sinne des summum bonum, als das er sie besingt (paradoxe amoureux; → Minnekonzepte und semantische Felder). Unmittelbare Anreden der Dame sind selten, zumeist wird – wie im Hohen und späten Sang üblich – über die Dame gesprochen, worin bereits ein Element der Distanzierung gegenüber einem direkten Werbelied zu sehen ist. 16 Der Bau der Kanzonen variiert von einfachen Formen (z. B. MF 125,19; MF 130,31; MF 131,25; MF 136,25) bis hin zu kunstvollen Strophenschemata (z. B. MF 123,10; MF 133,13; MF 136,1; MF 141,15; MF 145,1). Neben alternierenden Metren begegnet in kunstvoller Kombination das Versmaß des Daktylus, das zu einem besonderen Charakteristikum von Morungens Stil wird und wiederum auf den romanischen Bereich verweist (vgl. 12 Vgl. dazu Zotz 2005, 127–136. 13 Darauf hat Schnell 2012, 170, aufmerksam gemacht. 14 Das angeblich dem Narzisslied Morungens zugrundeliegende, 1848 von Karl Bartsch edierte, anonyme Lied Aissi m’ave cum al enfan petit kann durchaus eine Fälschung der Forschung sein. Vgl. zu dieser Diskussion Hölzle 1974; Sayce 1999, 172–194; Zotz 2005, 223–238; Schnell 2012, 168–170. 15 Vgl. Tervooren 2010, 808; Schnell 2012, 165–171. 16 Zum Bezug auf die ‚anderen‘, die höfische Gesellschaft, das Publikum vgl. etwa Hirschberg 1992, 108–132.
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MF 129,14; MF 133,13; MF 135,9; MF 140,32; MF 141,15; MF 141,37). Besonders hervorzuheben ist auch Morungens Reimkunst. Was man häufig erst als Merkmal des späten Sangs ansetzt, nämlich das Spiel mit Reimen und Klängen, begegnet bereits bei ihm (→ Form- und Klangkunst). So finden sich erweiterte Reime, Doppelreime, Binnenund Innenreime und nicht selten werden Strophen durchgereimt (z. B. in MF 133,13; MF 134,6; MF 134,14; MF 136,1; MF 137,27; MF 139,19; MF 145,1). Über Reime werden ebenso wie über den gelegentlich verwendeten Refrain (vgl. MF 143,22) sinnstiftende paradigmatische Verbindungen innerhalb der Strophen und strophenübergreifende Bezüge hergestellt.17 Neben dem Männerlied in Form der Kanzone begegnen zwei Wechsel (MF 130,31; MF 142,19) und ein Tageliedwechsel (MF 143,22), in dem Morungen die Gattungen → Tagelied und Wechsel (→ Dialoglied – Wechsel – Botenlied) auf innovative Weise engführt. Die Erfüllung der Liebe bei Nacht wird im Tageliedwechsel nicht dargestellt, sondern nur in der Erinnerung der Liebenden vergegenwärtigt. Die gattungsgeschichtliche Einordnung des Liedes Ich hôrte ûf der heide (MF 139,19) ist schwierig. Möglicherweise werden in den drei angedeuteten Szenen, der Begegnung der Liebenden beim Tanz auf der heide (I), an einem nicht näher bezeichneten Ort außerhalb der Sphäre der höfischen Aufpasser (II) und an der Zinne, Motive der Pastourelle angedeutet, jedoch transformiert. Nur im Lied Uns ist zergangen (MF 140,32) wird mit einem → Natureingang und der damit verbundenen Topik gespielt.
6 Sehen, Schauen Die Thematik des Sehens (→ Visualität) ist im Liedcorpus Morungens so prominent und auch unter poetologischen Aspekten so maßgeblich, dass man im Blick auf sein Œuvre geradezu von einer ‚Poetik des schouwens‘ gesprochen hat.18 In einer Reihe von Liedern begründet der Sänger seine Liebe zur Dame aus dem Blickkontakt. In diesem Sinne heißt es etwa im Lied Ich wil immer singen (MF 146,11): Ich hân hochgemüete. vrouwe, dîne güete, sît ich die alrêrst sach, sô weste ich wol, waz ich sprach. (IV, V. 5–8; vgl. MF 145,1, I, V. 6–8)
Die Vorstellung von der Entstehung der Liebe aus dem Sehen kann bis zu einem Entzünden und Verzaubern des Liebenden gesteigert werden (MF 126,8, I, V. 1–2; III, 17 Vgl. zu den Formmerkmalen bei Morungen besonders Fortmann 1966. 18 Vgl. Kasten 1986, 319; vgl. zum Schauen bei Morungen auch besonders Scheer 1990, 73–78, 97–98, 100–102, 106–112, 117–118, 141–142, 147–151, 158–162 und passim; Kellner 1997, 33–66; Leuchter 2003; Huber 2009, 83–104; Töpfer 2013, 53–79.
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V. 1–2). Dementsprechend wird die Wirkung der Blicke als ambivalent bewertet, einerseits scheint das Ich durch den Anblick der Dame Glück, Freude und Wonne zu er fahren: Si ist des liehten meien schîn und mîn ôsterlîcher tac. swenne ich sî an sihe, sô lachet ir daz herze mîn. (MF 140,11, I, 5–7)
Doch andererseits bedeutet die Wonne der Augen für das Herz des Sängers Leid, Krankheit und Tod: daz was der ougen wunne und des herzen tôt (MF 136,1, I, V. 8; vgl. MF 137,10, I, V. 5–7; MF 141,15, I, V. 4–6). Zum Dritten schließlich hofft das Ich auf die Blicke der Dame, die es in seinem Leid trösten könnten (MF 137,10, V. 1–2), oder erinnert sich an frühere tröstende Blicke der Dame zurück (MF 134,14, II, V. 3–4). Mitunter stellt der Sänger die Dame den Blicken des textintern angesprochenen Publikums vor Augen: seht, daz muoz si sîn (MF 123,10, I, V. 7). Im Lied Uns ist zergangen (MF 140,32) erschafft er sie wie ein Magier, zeigt sie preisend den Blicken der anderen und fordert diese auf, die Schönheit der Dame ebenfalls zu betrachten, zu bewundern und zu beurteilen: Seht an ir ougen und merkent ir kinne, | seht an ir kele wîz und prüevent ir munt (II, V. 1–2). Da die Dame der Darstellung des Sängers nach alle bezaubert und zu ihren Gefangenen macht, die sie sehen (MF 130,9, I, V. 8–10; vgl. MF 129,14, II), versucht das Minner-Ich eifersüchtig über ihre Blicke zu wachen und damit potentielle andere Werber abzuwehren (MF 131,25, II). Poetologisch von besonderem Interesse ist, dass es neben der Vorstellung des Sehens mit den ‚äußeren Augen‘ bei Morungen auch ein Sehen mit den ‚inneren Augen‘ gibt (→ Imagination). Zugrunde liegt die Differenzierung in oculi exteriores und oculi interiores.19 Das Sehen mit den ‚inneren Augen‘ ermöglicht es dem Sänger, die Nähe zur Dame trotz äußerer Distanz zu erfahren (vgl. z. B. MF 124,32).20 Auf der Basis der Vorstellung vom Wohnen der Dame im Herzen des Liebenden21 entfaltet der Sänger etwa im Lied West ich, ob ez verswîget möhte sîn (MF 127,1) die Vorstellung, das Publikum könne die Dame in seinem Inneren sehen, wenn jemand ihm sein Herz entzweibräche (I, V. 1–4). Im Lied Mir ist geschehen als einem kindelîne (MF 145,1, in C einstrophig im Morungencorpus, in E vierstrophig unter dem Namen Reinmars überliefert)22 werden Dame und Sänger im Rekurs auf den Narzissmythos über das Schauen des Ich in Spiegel und Quelle verbunden (I und III). Die zweite Strophe lässt den Sänger die ihm von der Minne zugeführte Dame zudem im Traum sehen und sich schauend an ihr ergötzen. Insgesamt ist im Blick auf die vielschichtige Thematik des
19 Vgl. die Belege bei Schleusener-Eichholz 1985, 953–1075. 20 Vgl. u. a. Scheer 1990, 107–109; Fisher 1996, 60–65; Irler 2001, 92–94; Kellner, 2018, 206–239. 21 Grundlegend dazu von Ertzdorff 1965, 6–46; Ohly 1983, 128–155. 22 Vgl. jetzt die Beiträge in Kern u. a. 2015; Kellner 2018, 224–239, jeweils mit Dokumentation der vorgängigen Forschungsliteratur.
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Sehens und Schauens bei Morungen zu erwägen, ob und inwieweit sie auch vor dem Hintergrund mittelalterlicher Sehtheorien als epistemischem Kontext zu perspektivieren ist.23
7 Lichtmetaphorik und kosmische Metaphern Mit dem Akzent auf dem Sehen und Schauen und allgemeiner der sinnlichen Wahrnehmung24 im Morungencorpus hängt die häufige Verwendung von Lichtmetaphern und kosmischen Metaphern zusammen. So wird nicht nur der Glanz, der von der Person der Dame ausgeht, mit dem Leuchten der Sonne am hellen Morgen verglichen, Si liuhtet sam der sunne tuot | gegen dem liehten morgen (MF 129,14, I, V. 7–8), sondern auch von ihrer ethischen Vortrefflichkeit wird gesagt, [i]r tugent reine ist der sunnen gelîch (MF 122,1, IV, V. 1), und schließlich heißt es sogar, die Dame würde die Sonne an Glanz übertreffen: Ich bedarf vil wol, daz ich genâde vinde, | wan ich hab ein wîp ob der sunnen mir erkorn (MF 134,14, II, V. 1–2). Ihre Person kann metaphorisch sowohl mit dem Morgenstern (III, V. 1) als auch mit der Sonne (III, V. 2) identifiziert werden. Wenn der Sänger Liebesfreude erfährt oder sich auch nur an vergangene Freude zurückerinnert, kann er sich in die höchsten Höhen emporgehoben fühlen (MF 125,19) und kundtun, ihm sei gewesen, als hätte sein Herz neben der Sonne gestanden (MF 143,4, II, V. 1–2; vgl. auch MF 138,17, IV, V. 5–8). Die Mondmetapher wird bemüht, wenn der Sänger verkündet, der Glanz der Dame, die mit Güte umstrahlt sei, würde wie der helle Vollmond weit über das Land leuchten (MF 122,1, I; vgl. auch MF 136,1, I, V. 6–7). Auch der Sänger selbst kann mit dem Mond verglichen werden, der sein Licht von der Sonne empfängt (MF 124,32, I, V. 4–9).25 In der skizzierten Erhöhung der Dame und der Liebe des Paares in kosmischer Hyperbolik hat die Forschung immer wieder eine Nähe zur geistlichen Lyrik, und insbesondere der Mariendichtung, gesehen.26 So erinnert etwa die Vorstellung von der Dame, die von Licht umstrahlt ist, in Morungens Preislied Si ist ze allen êren (MF 122,1)27 nicht nur an eine irdische Königin, sondern möglicherweise auch an das apokalyptische Weib, mulier amicta sole (Apk 12,1), das immer wieder typologisch auf Maria bezogen worden ist. Die assoziative Nähe zwischen der Dame und dem Mond, die das Lied mit seinen Vergleichsstrukturen evoziert, ohne sie logisch exakt zu 23 Dazu Kellner 1997. 24 Eine wichtige Rolle spielt auch das Hören (vgl. z. B. MF 124,32, I, V. 1; MF 133,13, III, V. 4). 25 Weitere Beispiele sind bei Leuchter 2003, 126–165, zusammenfassend dargestellt. Ausgehend von der Lichtmetaphorik widmet sich Kirchhoff 2015, 83–97, der Motivik des Schattens und der Wolken. 26 Vgl. Kesting 1965, 89–113. 27 Vgl. zu diesem Lied etwa Kasten 1986, 331–332; Hübner 1996, 181–196, 456–461; Fisher 1996, 40– 49; Irler 2001, 263–269; Groos 2002, 175–191; Leuchter 2003, 72–78; Huber 2009, 83–104; Kellner 2018, 77–82.
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bestimmen, kann sich zudem an Bilder des Mondes für Maria anlehnen, wie sie zum Beispiel in der Hohelied-Exegese häufiger begegnen.28 Gerade in der Spannung zwischen Konkretion über die descriptio der Schönheit und Abstraktion im Preis auf die ethischen Vorzüge der Dame zeigt das Lied, wie subtil sich die Sprache der Liebe, die sich im höfischen Sang des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts ausdifferenziert, an religiöses Sprechen anschließen kann.29 Im Lied In sô hôher swebender wunne (MF 125,19) sind die Anklänge an hymnisches Sprechen kaum zu überhören (insbesondere in Strophe IV). In den rhetorisch und klanglich besonders eindrucksvollen Strophen dieses Liedes verbinden sich weltliches und geistliches Sprechen über die Liebe in einer Weise, die es nicht erlaubt, die Ebenen und Bereiche zu hierarchisieren (→ Religiöse Semantiken).30
8 Machtfülle der Dame, Gewalt, Rache und Liebeskrieg Es ist charakteristisch für das Autorprofil Morungens, dass der vom Sänger geliebten Dame ganz besondere Machtfülle zugesprochen wird. Dies zeigt sich im Changieren ihrer Darstellung zwischen den Polen der Apotheose als ein Vênus hêre (MF 138,17, III, V. 1) und der Dämonisierung als gefährliche, Männer betörende Elbe (MF 126,8). Die antike Metaphorik vom Liebeskrieg aufgreifend ist vielfach von der Gewalt die Rede, die von der vrouwe ausgeht. Im Lied Sîn hiez mir nie widersagen (MF 130,9) wird sie dementsprechend als rouberîn dargestellt, die alle Länder verheeren will (I, V. 6), dem Sänger schadet, sooft sie kann, und ihn bekämpft, ohne ihm auch nur ordnungsgemäß Fehde anzusagen (widersagen, V. 1). Der Liebende stilisiert sich als ihr Gefangener (V. 9), ir dienstman (II, V. 1) und ihr Leibeigener (II, V. 2), den sie nicht nur in tiefen Kummer, sondern auch in Krankheit gestürzt und schwer verwundet habe. In anderen Liedern geht die Verletzung des Sängers durch die Dame bis zur Besinnungslosigkeit und zur tödlichen Verwundung (Jâ hât si mich verwunt | sêre in den tôt. ich verliuse die sinne; MF 140,32, II, V. 5–6; vgl. MF 141,37, V. 1–3). Insgesamt werden Feindseligkeit und Hass der Dame immer wieder als Reaktionen auf die Werbung des Sängers, sein Singen und sein mögliches Verlangen nach zu viel Nähe dargestellt (vgl. z. B. MF 141,37). Dass Sänger und Dame in einer Art Hassliebe verbunden sein können, kommt besonders auch im Oxymoron der Metapher von der Geliebten als Vil süeziu senftiu toeterinne (MF 147,4) zum Ausdruck. In diesem einstrophigen Lied hofft der Sänger ganz offensichtlich nicht mehr auf Erhörung im Diesseits, gibt seiner Dame aber auch 28 Vgl. die Belege bei Kesting 1965, 93–95. 29 Zum Problemkreis vgl. Strohschneider 2009. 30 Vgl. Eikelmann 2015, 61–76.
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zu verstehen, dass sie keine Chance hat, sich seiner durch den Akt seiner Tötung zu entledigen, denn seine Seele möchte ihrer Seele im Jenseits in der Schau weiterhin dienen. Die Rache des Sängers liegt hier also in der Vorstellung von der Transzendierung der Liebe über den körperlichen Tod hinaus. Häufig begegnet der Sänger der Übermacht der Dame mit Strategien der Selbstermächtigung und Rachephantasien. So bekundet er im Lied Het ich tugende niht sô vil (MF 124,32, III) die Absicht, seinem Sohn als Herzensbrecher die Rache an der dann alternden Dame zu überlassen. Im Elbenlied fordert der Liebende die Dame auf, sich an ihm zu rächen und ihre Feindschaft ihm gegenüber auszuleben (MF 126,8, I). Wenn dies, wie er sagt, für ihn eine Wonne bedeute, in der er vergehen müsse und wolle (I, V. 8), dann zeigen sich hier die paradoxen Umschlagspunkte zwischen Leid und Freude, sowie Gewalthandeln und Genuss der Rache. Je nach Handschrift entfaltet die zweite Strophe dieses Liedes die Vorstellung, der Sänger könnte sich seinerseits an der Dame rächen und die Oberhand über sie bekommen (A) oder aber sich nur allzu gern in ihre Minnegefangenschaft begeben (C). Im Lied Ich wil ein reise (MF 145,33) zieht das singende Ich mit Aplomb gegen die Dame in den Krieg und bittet das Publikum um Unterstützung (MF 145,33, I). Im Verlauf der drei Strophen wird der prahlerische Ritter jedoch immer kleinlauter, will schließlich, wie es in direkter Anrede der Dame heißt, nur noch ein wênic wider (III, V. 2) sie sprechen und bittet um ihr wohlwollendes Entgegenkommen und ihren Trost. Das Lied zeigt, wie die fulminante Inszenierung der Rache des Sängers nach und nach dem Liebeswerben und der Bitte weicht. Insgesamt bieten die Lieder Morungens zahlreiche Darstellungen der Macht, Strategien der Gewalt und Phantasien der Rache. Das Ich des Liebenden und Sängers inszeniert sich dabei zwischen Erniedrigung und Erhöhung. In der Selbstermächtigung gegenüber der Dame kann man auch ein implizites Bekenntnis zu poetischem Vermögen und Unabhängigkeit sehen.31
9 Selbstreflexion, Singen und Schweigen Formen dichterischer Selbstreflexion und Thematisierungen des Singens, Sprechens, Verstummens und Schweigens sind konstitutiv für Morungens Sang.32 Bereits das erste Lied der Sammlungen in C und B Si ist ze allen êren (MF 122,1) macht im exorbitanten Frauenpreis auf die literarische ‚Gemachtheit‘ der Dame durch den Sänger aufmerksam. Auf derselben Linie liegt es, dass Morungen in den komplexen Transformationen des Narzissmythos im Lied Mir ist geschehen als einem kindelîne (MF
31 Vgl. zum Komplex von Macht, Gewalt, Rache und Liebeskrieg im Œuvre Morungens Kellner 1997 und Kellner 2018, 206–239, mit breiter Dokumentation der Forschung. 32 Vgl. etwa Hirschberg 1992; Pfeiffer 1999; Bleumer 2013, 175–183; Huber 2014, 29–35; Fockele 2015.
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145,1, I und III) offenlegt, dass hinter der Liebe zur Dame die Selbstliebe verborgen ist. Im Rekurs auf die Metaphorik der Selbstbespiegelung in Spiegel und Quelle wird deutlich, dass sich die Reflexion auf die Dame als Selbstreflexion erweist. Darin könnte man wiederum einen Hinweis auf die literarische Setzung der Dame33 und die Fiktionalität des Sangs sehen. Leitlîche blicke (MF 133,13) weist nicht nur ein Lied im Lied (III und IV) auf, sondern zeigt mit dem inszenierten Vorwurf des Publikums, der Sang des Sängers sei offensichtlich nicht authentischer Ausdruck seiner Gefühle, dass ein eher spielerisches Verständnis der Liedkunst möglich war (MF 133,13, II).34 Im Venuslied imaginiert der Sänger mit Hilfe der Topik vom Schwanengesang seinen Tod und antizipiert seinen dichterischen Ruhm (MF 138,17, V). In der Schlussstrophe deutet er in der Figur der revocatio und dem Gedanken der Erlösung durch Gott zwar einen möglichen Rückzug von seiner Ausrichtung auf die erotische Liebe an,35 doch das Lied mündet schließlich wieder in ein Bekenntnis zum Singen von der Minne (V, V. 5–8).36 Eine Reihe von Liedern zeigt die Spannungen zwischen der Ablehnung des Sangs durch die Dame und ihrer Verweigerung von Kommunikation sowie der Diskrepanz zwischen der Unfähigkeit des Sängers vor der Dame zu sprechen und seinem gleichzeitigen Singen. So beklagt er im Lied Mîn liebeste und ouch mîn êrste (MF 123,10), dass der Dame sein sprechen und singen Schmerz bereite (I nach A), weshalb sie ihm den Sang verboten und ihn zum Schweigen verpflichtet habe (II nach A). Wenn der Sänger, wie nach der im Lied Wê, wie lange sol ich ringen (MF 135,9) angedeuteten Szene, vor der lachenden Dame steht, erweist er sich als so benommen von ihrer Schönheit, dass er kein Wort herausbringt, sondern im Schweigen verharrt (II und III), weshalb ihm nur die Geste des Fußfalls vor der Geliebten bleibt. Hier und an anderen Stellen ergibt sich der performative Widerspruch, dass der Sänger wortreich von seinem Verstummen und seiner gänzlichen Unfähigkeit zur Rede singt. Die Dame wird dabei immer wieder in beharrlich ablehnendem Schweigen gezeigt. Im Lied West ich, ob ez verswîget möhte sîn (MF 127,1) wird ihre Neigung zur Kommunikation sogar noch als geringer eingestuft als die des Echos, das immerhin den Schall zurückwerfe, wenn man in den Wald hineinrufe (II), oder die eines Sittichs oder Stars, Vögel, die wenigstens in der Lage seien, zu lernen, das Wort minnen auszusprechen (III). In der Strophe Vrowe, mîne swaere sich (MF 137,17) versucht der Sänger, die ewig ‚Nein‘ sagende Dame zu einem ‚ Ja‘ zu drängen. Kann er sie tatsächlich spre-
33 Vgl. MF 140,32, wo der Sänger in Strophe III als nach Gott zweiter Schöpfer der Dame durch seinen Sang erscheint. 34 Vgl. Strohschneider 1996, 26–29; Huber 2014, 25. 35 Wê, waz rede ich? jâ ist mîn geloube boese | und ist wider got. | wan bite ich in des, daz er mich hinnen loese? | ez was ê mîn spot (MF 138,17, V, V. 1–4). 36 Vgl. dazu auch Ez ist site der nahtegal (MF 127,34, VI). Obgleich der Sänger bekundet, er hätte bei Gott Gnade und Erhörung gefunden, hätte er sich mit der gleichen Intensität um sein Seelenheil statt um die Dame bemüht, hält er an seiner diesseitigen Liebe, dem Frauenpreis und damit dem Singen von der Minne fest.
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chen hören, wie in Mich wundert harte (MF 141,15) erwähnt, löst dies in ihm sowohl Verwirrung als auch Wohlgefühl aus (II, V. 7–11), was im Lied In sô hôher swebender wunne (MF 125,19) bis zum höchsten Jubel gesteigert wird. In Ist ir liep mîn leit (MF 132,27) beschreibt der Sänger, dass sich die Dame über seinen Schmerz, sein Unglück und seine Klage hinwegsetzt. Deshalb wünscht er sich, ihr so nahe sein zu können wie das kleine Vögelchen, das ihr lieb sei. Für den Fall, dass dies gegeben wäre, stellt er in Aussicht, als ihr Singvogel noch die Nachtigall in seinem Sang zu übertreffen (II nach A). Im sogenannten Nachtigallenlied (MF 127,34), das die Paradoxie zwischen der Ablehnung des Klagegesangs und der Fortsetzung des Singens besonders vielschichtig zum Ausdruck bringt, stellt sich der Sänger metaphorisch gerade nicht zur Nachtigall, sondern zur Schwalbe, weil ihr Gesang weder in Freude noch im Leid verstumme.37 Dementsprechend will er immer weiter singen und stimmt eine Art Lied im Lied an (I, V. 5). Er gedenkt, dieses auch dann fortzusetzen, wenn er für sein Singen nur Kritik vom Publikum einstecken muss (II), keinen Erfolg in der Liebe damit hat (III–V) und sogar weiß, dass er bei Gott eher erhört würde als bei der Dame (VI).
10 Fazit Morungens durch Antikenrezeption und Nähe zur romanischen Lyrik gekennzeichnetes Œuvre ist schmal, aber in sich vielfältig. Ein Schwerpunkt liegt auf den verschiedenen Formen sinnlicher Wahrnehmung, insbesondere auf dem Sehen und Schauen, was häufig auch poetologische Bedeutung annimmt. Der geliebten Dame wird in den Liedern nicht nur eine überaus machtvolle Position zugeschrieben, sondern sie wird auch als feindselig, gewalttätig und sogar als Räuberin und Mörderin bezeichnet. Dem stehen Strategien der Selbstermächtigung und Phantasien der Rache und Gewalt auf der Seite des Sängers gegenüber. Ausgehend von diesen Liebeskonstellationen münden die Lieder an vielen Stellen in dichterische Selbstreflexion. Wiederholt kreisen sie um das Dilemma zwischen dem Verstummen des Sängers auf der einen Seite und dem inneren Zwang zum Weitersingen auf der anderen Seite, was in den Liedern nicht selten als performativer Selbstwiderspruch ausgetragen wird.
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37 Vgl. Obermaier 1995, 57–63; Irler 2001, 208–213; Kragl 2011; Huber 2014, 29–35.
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Reinmar (der Alte) 1 Daten zur Person Reinmar ist einer der wichtigsten Vertreter des klassischen Minnesangs; bereits zu Lebzeiten war er hochgeschätzt, wie die Nachrufe Gottfrieds von Straßburg (TR, V. 4776–4790) und → Walthers von der Vogelweide (L 82,24; L 83,1) und indirekt auch die reiche Überlieferung bezeugen.1 Stand und Herkunft wie auch die Umstände seines literarischen Schaffens bleiben freilich so gut wie ganz im Ungewissen; urkundlich ist Reinmar nicht belegt. Der Titel her beziehungsweise herre, den ihm die Handschriften B, C und E beilegen, besagt wenig; das Wappen auf dem Autorenbild in B und C – schwarze und gelbe beziehungsweise blaue und goldene Streifen im Wechsel, überdeckt von einem roten Pfahl – lässt sich nicht zuordnen. Wahrscheinlich war Reinmar, was auch der Umfang des unter seinem Namen überlieferten Œuvres nahelegt, ein nichtadliger Berufsdichter. Das Attribut ‚der Alte‘, das Handschrift C ihm zuspricht, dient wohl der Unterscheidung von jüngeren Lyrikern des gleichen Namens (Reinmar von Zweter, Reinmar der Fiedler, Reinmar von Brennenberg, Reinmar der Junge), sagt also etwas über die Stellung Reinmars in der Gattungsgeschichte aus, nichts über ein hohes Lebensalter. Gottfried beklagt in seinem wohl um 1210 entstandenen Literaturexkurs den Tod der leitevrouwe „Anführerin“ aller Nachtigallen – gemeint sind die Minnesänger –, nämlich des von Hagenouwe (TR, V. 4777–4778). In der Forschung ist es opinio communis, diese Ortsangabe auf Reinmar zu beziehen; ob er aus Hagenau stammt oder sich dort nur einen Namen gemacht hat, muss offenbleiben. Auch lässt sich nicht erweisen, ob die berühmte Kaiserpfalz im Elsass (nördlich von Straßburg) gemeint ist oder ein anderer Ort gleichen Namens; die Lokalisierung Gottfrieds nach Straßburg, vor allem aber die sogenannte ‚Reinmar-Rugge-Vermischung‘, der Umstand also, dass die Handschriften eine Reihe von Liedern entweder Reinmar oder dem im deutschen Südwesten beheimateten Heinrich von Rugge zuschreiben, spricht indes für die erste Option. Auch die sporadische Adaptation romanischer Liedformen und -typen weist in diese Richtung. Festzuhalten ist, dass der Autorname Reinmar von Hagenau, wie ihn die ältere Philologie aus den verschiedenen Daten kombinierte, historisch nirgends belegt ist. Wenn wir annehmen dürfen, dass Reinmar wie Walther von der Vogelweide zu den fahrenden Berufssängern gehörte, verliert ohnehin jeder Lokalisierungsversuch an Bedeutung. Dies gilt auch für Reinmars sogenannte Witwenklage (MF 167,31), die in Fassung bC den Tod eines hêrren Liutpolt beklagt. Sollte damit Herzog Leopold V. von 1 Einführend zu Autor und Werk: Schweikle 1989; Kornrumpf 2010; Hausmann 2012 (mit reichen Literaturangaben). https://doi.org/10.1515/9783110351859-040
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Österreich gemeint sein, der am Silvestertag des Jahres 1194 starb, hätte Reinmar sich zumindest für gewisse Zeit am Babenberger Hof zu Wien aufgehalten. Wenn man diese historische Konkretion akzeptiert,2 so verbieten sich doch alle weiteren Schlussfolgerungen für die Biographie Reinmars (und Walthers), wie sie die ältere Forschung gezogen hatte: Eine Festanstellung Reinmars als Hofdichter der Babenberger lässt sich aus der Namensnennung in der Totenklage nicht ableiten.3 Nimmt man als entscheidenden Anhaltspunkt für Reinmars Tod Gottfrieds Nachruf im ‚Tristan‘, dürfte Reinmar irgendwann zwischen 1200 und 1210 gestorben sein; hingegen setzt Mertens die Entstehung von Walthers Nachruf-Strophen (L 82,24; L 83,1) und Reinmars Tod bereits in die Zeit um 1200.4 Walther beklagt in seinen beiden (einen liedhaften Zusammenhang bildenden) Spruchstrophen, welch große Kunst mit Reinmars Tod verlorengegangen ist; mit Zitaten aus Reinmars Liedern erweist er dem Verstorbenen freilich nicht nur seine Reverenz, sondern stellt auch seine eigene Kunst und den Anspruch auf Reinmars Erbfolge aus.5 Ähnlich akzentuiert der Marner seine Erinnerung an die verstorbenen Meister, zu denen er auch Reinmar rechnet (WMS 6,17): Sie ist ihm Anlass zur Rechtfertigung und Reflexion der eigenen Kunst. Die Klage Reinmars von Brennenberg (?) über verstorbene Minnesänger (KLD 4,13) stellt indes deren künstlerische Leistung und den Schmerz über ihren Verlust heraus, wobei Reinmar neben Ulrich von Singenberg die größte Würdigung zuteilwird.
2 Überlieferung Reinmar-Lieder sind in allen großen Sammelhandschriften enthalten:6 Die Kleine Heidelberger Liederhandschrift A überliefert auf Bl. 1r–4v 70 Strophen (zwei weitere im anonymen Anhang a), die Weingartner Liederhandschrift B 115 Strophen (davon die Mehrzahl in dem auf das Morungen-Corpus folgenden, anonymen Reinmar-Teil b, S. 86–103), die Große Heidelberger Liederhandschrift C auf Bl. 98v–108v gar 262 Strophen und die Würzburger Liederhandschrift E auf Bl. 181r–191v noch 164 Strophen (davor sind vermutlich sieben Blätter mit Walther- und Reinmar-Liedern verlorengegangen). Ferner tradieren die Fragmente von vier Liederhandschriften aus dem bairischen beziehungsweise mitteldeutsch-niederdeutschen Sprachraum (Bu, Gx; U, m) Reinmar-Strophen. Einige wenige Strophen Reinmars sind zudem – meist namenlos – als Streuüberlieferung in den Handschriften i, M, n, p, r, s und x enthalten.7 Eine Reihe von Liedern steht in den Handschriften A, B und C sowie in den Möserschen Bruchstü2 Dagegen argumentiert Kellner 2018, 318. 3 Schweikle 2002a, 16–19. 4 Mertens 2001, 112, 125. 5 Vgl. Mertens 2001. 6 Vgl. den Überblick zur Überlieferung bei Schweikle 1989, 1180–1182. 7 Vgl. zu den Handschriften Schweikle 1989, 1180–1182.
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cken m und im Budapester Fragment Bu auch unter anderem Namen; besonders auffällig ist die Doppelzuschreibung von insgesamt 28 Strophen an Reinmar beziehungsweise Heinrich von Rugge.8 Ob es sich hierbei um mechanische Verwechslung beim Verschriftungsprozess oder um Reflexe einer Vortragspraxis handelt, in der Liedgut auch von zeitgenössischen und jüngeren Kollegen vorgetragen wurde, bedarf in jedem Fall einer eigenen Diskussion.9 Viele Lieder Reinmars sind mehrfach überliefert. Gemeinsam sind den Handschriften A, B (b), C und E die Töne I, III–VI, VIII–XV (in der Zählung von MF) und Rugge XI,10 ein Liedkorpus, das im Wesentlichen inhaltlich und formal anspruchsvolle Minneklagen umfasst. Nicht in A, wohl aber in den Handschriften B (b), C und E (hier vermutlich wegen Blattverlust nur zum Teil) sind zudem die Töne XVI–XXVIII überliefert:11 Lieder, die mit → Wechsel und → Frauenlied verstärkt an die Tradition des frühen Minnesangs anknüpfen, wie dies ja auch dem Sammlungskonzept der (erschlossenen) Vorlage *BC generell entspricht. Eine dritte Liedgruppe umfasst die Töne XXX–XXXVII,12 die in C überliefert und zum größeren Teil ohne Parallelüberlieferung geblieben sind. Eröffnet wird die aparte Reihe mit den beiden → Kreuzliedern Reinmars, beschlossen mit einem Frauenlied. Die Minneklagen XXXVIII–XLI sowie Rugge VII13 hingegen dürfte nach Ausweis der Überlieferung in A und C bereits deren gemeinsame Vorlage *AC enthalten haben. Einige wenige Töne teilen sich die Handschriften C und E. Zahlreiche weitere Töne, darunter vier Lieder mit dilemmatischer Frauenrede, sind unikal nur in Handschrift C bezeugt beziehungsweise in dem von Lachmann in seiner Erstausgabe von ‚Minnesangs Frühling‘ (1857) als unecht eingestuften Schlussteil von E (Sigle e), der gleichfalls aparte, sich nicht ohne weiteres dem hochminnesängerischen Schema fügende Lieder enthält. Alles zusammengenommen umfasst die Corpus-Überlieferung 340 Strophen in 86 Tönen.14 Die ältere Philologie hat – gegen methodische Bedenken, die schon Hermann Paul erhoben hatte15 – aus der Überlieferungshäufigkeit ein Kriterium für die Echtheit der Lieder gewonnen. Besonders rigoros war Carl von Kraus, der noch in der letzten von ihm besorgten, der 35. Auflage von ‚Minnesangs Frühling‘ (MF/K) mehr als die Hälfte der unter Reinmars Namen überlieferten Lieder als ‚unecht‘ einstufte 8 Vgl. die Übersicht über solche Zuschreibungskonkurrenzen bei Hausmann 1999, 346–353, und Rudolph 2018, 272–274. 9 Diese Probleme sind erstmals breit bei Schweikle 1965 diskutiert; knapp zusammenfassend Schweikle 2002a, 54–57. Einen kritischen Forschungsüberblick mit einigen neuen Überlegungen zu den Überlieferungsbefunden bietet Rudolph 2018, 8–22. Was Reinmar und was Rugge gehört, wird sich freilich nicht befriedigend klären lassen. 10 Bei Hausmann 1999 ist dies die Überlieferungsreihe x1. 11 Bei Hausmann 1999 entspricht dies der Überlieferungsreihe x2. 12 Reihe y1 bei Hausmann 1999. 13 Bei Hausmann 1999 als Reihe y2 bezeichnet. 14 Kornrumpf 2010, 534. 15 Paul 1876, 495.
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(nicht zuletzt auch deshalb, weil er in den ‚echten‘ Liedern einen geschlossenen Zyklus sehen wollte).16 Ein Umdenken leiteten die Arbeiten von Schweikle 1965 und Tervooren 2000 [1986] sowie 1991, mit Einschränkungen auch die von Maurer 1966, sowie Mosers und Tervoorens – die radikale Athetesenpraxis des Vorgängers verabschiedende – Neuauflage von ‚Minnesangs Frühling‘ von 1977 ein (MF); eine intensive texttheoretische Diskussion zur Überlieferung mittelalterlicher Texte kam seit den 1990er Jahren flankierend hinzu. Seither schenkt man den historischen Textzeugen und ihren Zuschreibungen weitaus mehr Vertrauen, die heterogenen handschriftlichen Befunde versteht man nunmehr als Rezeptionszeugnisse, d. h. als Manifestationen je spezifischer historischer Autorbilder. Tatsächlich lassen die großen Liederhandschriften spezifische Sammlungsinteressen erkennen:17 Handschrift A konzentriert sich auf Reinmar-Lieder mit einer explizit hochminnesängerischen Thematik, während Handschrift B das klassische Minnelied um Komponenten aus dem frühen Minnesang ergänzt. Hingegen dominiert bei den Schreibern respektive Redaktoren des Codex Manesse das Prinzip der Vollständigkeit im Ton- und Strophenbestand.18 Handschrift E wiederum enthält die großen Minneklagen, aber auch Unica aus der mitteldeutschen Sammlungstradition, die den südwestdeutschen Handschriften unbekannt geblieben sind.19 Ein unmittelbares Resultat des philologischen Paradigmenwechsels war Schweikles Edition der Lieder Reinmars nach der Weingartner Liederhandschrift (REI), die eine „authentisch mittelalterliche Auswahl“ bietet (→ Edition und Editionsgeschichte).20 Häufig geht die Mehrfachüberlieferung bei Reinmar mit Divergenzen in Strophenbestand und Strophenfolge einher (vgl. etwa die Töne V, VII, X, XII, XIII oder XV). Ob solche Doppel- und Mehrfachfassungen im Verschriftlichungsprozess durch produktive oder versehentliche Änderungen von Schreibern und Redaktoren generiert wurden, wie die ältere Forschung annahm, oder durch die zeitgenössische oder spätere Aufführungspraxis, ob sie auf den Autor oder einen anderen zurückgehen, lässt sich – im Unterschied zu vielen Varianten der Mikroebene – kaum je einmal entscheiden. Autortext und überlieferter Text sind keine Größen, die mittels philologischer Methoden exakt zu separieren wären.21
3 Die Minneklagen Am besten bezeugt – und damit auch, folgt man Hausmann 1999, den programmatischen Kern von Reinmars Liedschaffen darstellend – sind die großen Minneklagen, 16 Vgl. von Kraus 1919. 17 Zu den Tendenzen der Vorstufen vgl. Hausmann 1999, 279–324. 18 Vgl. Holznagel 1995, 181–184. 19 Kornrumpf 1972, 16–17; Tervooren 1991, 247. 20 Schweikle 2002a, 7. 21 Zur Frage der Autorschaft vgl. etwa Tervooren 1995 sowie Hausmann 1999.
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die dem Konzept der ‚Hohen Minne‘ (→ Minnekonzepte und semantische Felder) verpflichtet sind. Sie stellen Sehnsucht und Liebesleid, also die Einseitigkeit des Begehrens, ob scheinbar oder nicht, immer wieder neu aus und suchen nach Strategien, mit Frustration und Leid umzugehen, ohne an der Grundsituation etwas ändern zu wollen oder zu können. Dabei entwickelt Reinmar ein ganz eigenes Profil, mit dem er sich von den anderen großen Lyrikern der Zeit abhebt. Während → Heinrich von Morungen die Liebeserfahrung spiritualisiert, das Begehren als ein meditatives Sich-Versenken in den Anblick der überirdisch schönen Geliebten fasst, Walther von der Vogelweide wiederum offensiv Gegenseitigkeit in der Minne einfordert, seine Lieder im Übrigen aber vom Bezug auf die lebensweltliche Praxis des Fahrenden her organisiert, geht Reinmar den Weg in die Innerlichkeit: Das Ich seiner Lieder betreibt eine ausgedehnte Introspektion seiner Seelennot, lotet in zahlreichen Varianten gedanklich aus, was es heißt, zu lieben und zu begehren. Das Ergebnis ist eine radikale Subjektzentrierung, wie sie kein anderer mittelalterlicher Lyriker vor und nach ihm erreicht hat. Wie andere bekennt sich auch der Liebende von Reinmars Minneklagen zu den Innennormen der höfischen Liebe, beteuert immer wieder von neuem die Exklusivität seiner emotionalen Bindung an die Frau, seine Beständigkeit, Beharrlichkeit, Treue und Aufrichtigkeit, bekundet Rücksicht auf den Willen der Frau und schließlich auch die Bereitschaft, um der Liebe zu der Einen willen Frustration und Leid zu ertragen. Es sind solche inneren Gründe, welche den Liebenden hindern, sich aus der leidvollen Situation zu lösen. Wie bei Morungen (vgl. MF 134,14, II, V. 6) bejaht er darum die Vergeblichkeit seines Dienstes und die leidvolle Liebe zu der einen Frau als eine schicksalhafte Lebensbestimmung; für sie, die Geliebte, allein ist er geboren (MF 159,1, II, V. 7–9; MF 171,32, V, V. 4–6). Ganz emphatisch bekräftigt das Lied Wol ime, daz er ie wart geborn (MF 158,1) die existentielle Abhängigkeit des Ichs von jener Instanz, die sein ganzes Leben bestimmt. Von ihr hängt nicht nur die Lebensfreude, sondern das ganze Leben, die physische und soziale Existenz des Ichs, ab: Stürbe sie, dann bedeutete das auch den eigenen Tod (III, V. 8: stirbet sî, sô bin ich tôt). Die Annahme dieser Situation ist der Preis für die ethische Qualität der Liebe – und überdies eine raffinierte Strategie, letztlich doch genâde zu erlangen. Reinmar geht indes noch einen Schritt weiter: Das Ich seiner Klagen nimmt sein Schicksal, an dem scheinbar nichts zu ändern ist, mit Indolenz und Gleichgültigkeit an (z. B. MF 158,1, I, V. 10: daz ist unwendic. nû sî alsô!). Noch öfter aber deklariert es seine leidvolle Abhängigkeit als selbstverschuldet oder gar als freien Entschluss. Das wird in zahlreichen Varianten entfaltet. So räsoniert der Ich-Sprecher im Lied Sô ez iender nâhet deme tage (MF 154,32) darüber, dass er sich das – von der Minne ungleich verteilte – Leid mehr zu Herzen genommen habe, „als er es von Rechts wegen hätte tun sollen“ (III, V. 1–4), was aber heißt: Er schreibt sich die Verantwortung für das Herzeleid selbst zu. In Wie ist ime ze muote (MF 153,14) benennt er als Ursache für Leid und Klage das Verstummen vor der Geliebten (II), in Sô vil sô ich gesanc nieman (MF 156,27) hingegen ein Zuviel der Klage (II, V. 6–7), weshalb das Ich, gleichsam als Gegenstrategie, auf die Idee verfällt, sich die Dame durch Schweigen und demütig-
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ergebenes Verneigen gnädig zu stimmen (V. 10). Ein andermal wird der Grund des Leids im denkenden Subjekt gesucht; nicht die Dame, sondern die Minnereflexion, die Gedanken sind Ursache seines Leids. Reinmarspezifisch ist allerdings auch das Gegenrezept: den Schmerz, den die Reflexion verursacht, zu ignorieren und so zu tun, als ob man es nicht verstehe – Daz mir von gedanken ist alse unmâzen wê, | des überhoere ich vil und tuon, als ich des niht verstê (MF 162,7, VI, V. 5–6). Im Lied Niemen seneder suoche (MF 170,36) behauptet das Ich, es sei töricht, das große Leid zu beklagen und der Geliebten die Schuld daran zu geben, könne sie doch nichts dafür, wenn das Ich sie gegen ihren Willen in seinem Herzen trage. Damit sagt es nichts anderes, als dass es seine freie Entscheidung sei, in Qualen zu leben (V, V. 3–4: sît ich si âne ir danc in mînem herzen trage, | waz mac si des, wil ich unsanfte [„im Schmerz“] leben?). Ähnlich erklärt das Ich in MF 158,1: Ich wil von ir niht ledic sîn, | die wîle ich iemer gernden muot zer werlte hân (III, V. 1–2), und: ân ir gebot sô wil ich niemer werden vrî (IV, V. 4).22 Mit der Betonung des Willens wird das Leid verinnerlicht, es hat keinen anderen Grund mehr als das Subjekt selbst. Pathos wandelt sich damit in Ethos. Herausgestellt wird mit solchen Überlegungen aber auch das narzisstische Element der Liebe. Die Geliebte, die dem Sprecher lieb ist, auch wenn es ihm scheint, als ob er ihr gleichgültig oder unsympathisch sei (MF 159,1, IV, V. 1–2), die ihn – scheinbar oder nicht – für unwert erachtet und zornig reagiert (MF 166,16, III, V. 1–3), die ihm mit Gleichgültigkeit beziehungsweise Misstrauen begegnet (MF 154,32, III, V. 8–9, und IV, V. 6–7): All dies kann weiter die Selbstbezüglichkeit des Liebenden, seinen Solipsismus, sein Verliebtsein in den eigenen Liebesschmerz sicherstellen, ihm erlauben, in seiner Einsamkeit zu verharren – und weiterhin Minneklagen zu dichten. Wiederholt erkundet das Ich der Reinmar-Lieder aber auch die Möglichkeit der Glückserfahrung unter den Konditionen der Hohen Minne oder besser gesagt: Es erkundet Möglichkeiten, sich vom Liebesglück nicht abhängig zu machen und Autonomie und Souveränität wiederzugewinnen. In Wie ist ime ze muote (MF 153,14) verordnet sich der Sprecher eine positive Lebenseinstellung und ein positives Lebensgefühl, was aber die Erfahrung von Trauer und Leid voraussetzt.23 Remedium gegen das Liebesleid ist ihm die Flucht in die Illusion, die → Imagination einer eigenen, besseren Welt: Wenn er jemals hochgestimmt gewesen sei, dann auch heute; er halte sein Leben für gut, auch wenn es das objektiv nicht sei (IV, V. 3–4: mîn leben dunket mich sô guot; | und ist ez niht, sô waen ich es doch). Damit demonstriert er nicht nur eine hermetische Ich-Perspektive, sondern zugleich Selbstbescheidung und Genügsamkeit. Im Lied Der lange suoze kumber mîn (MF 166,16) nimmt die Selbstbescheidung freilich komische Züge an, wenn das Ich behauptet, es wolle sich damit begnügen, ihre güete, „Vollkommenheit“, und ihre gebærde, „Benehmen, Wesen“, – das meint dem Kontext nach ihren Zorn ihm gegenüber oder ihr freundliches Verhalten gegen
22 Vgl. auch MF 159,1, II, V. 7–9 23 Vgl. dazu die nach Fassungen differenzierende Analyse bei Hausmann 1999, 165–175.
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die anderen – zu lieben, wenn es ansonsten nichts bei der Geliebten erreichen könne (III). Und zu jenen Strategien, sich selber täuschen zu wollen, um Frustration und Liebesleid zu ertragen, wird man wohl auch jenes Argument zählen dürfen, das man bislang immer als Beleg für das klassische paradoxe amoureux verstanden hat: das Argument nämlich, die Dame wäre ihm nie so lieb, wenn er zum Ziel gekommen wäre (I). Im Lied Ein wîser man sol niht ze vil (MF 162,7) gestattet sich das Ich allerdings, verärgert darüber, dass seine triuwe vielleicht vergeblich sein soll, underwîlen, „ab und zu“, einen kleinen zorn (III, V. 9), erlaubt sich also in Maßen, gegen das chronische Liebesleid aufzubegehren.24 Wie dies geschieht, kann man etwa an der Strophe davor studieren, wo das Ich sich zu der hyperbolischen Bemerkung hinreißen lässt, es wolle sie (die Geliebte?, seine stæte?) bis zu seinem Tod nicht mehr preisen. Ein weiteres probates Mittel der Leidbewältigung sind Spott und Komik und die Bemächtigung der Frau in der Phantasie. Eine Wendung ins Komische nimmt der Topos von der langwährenden Treue des Liebenden, wenn aus dem fiktiven Publikum die – für die Dame impertinente – Frage kommt, wie alt sie denn sei, da ihr Werber schon so lange in Treue ausharre (MF 166,16, V). In der letzten Strophe (in Fassung C) desselben Lieds unternimmt das Ich ein komisches Gedankenexperiment: Es überlegt, nachdem alle verbalen Bemühungen bislang erfolglos waren, die widerspenstige Geliebte durch eine Probenacht zu überzeugen. Finde die erotische Praxis Gefallen, so wolle man sie beibehalten. Es ist dies eine Pointe, die mit der → Imagination von Erotik und Sexualität nicht nur einen Ausweg aus einer als leidvoll erfahrenen Minnesituation weist, sondern auch die „Verfügbarkeit der Frau im frivolen Witz“ denkt:25 Gleichsam in Gedanken, in der Phantasie des Mannes, wird das Konzept der Hohen Minne mit seiner Inversion der Geschlechterrollen untergraben und die Frau dem Mann wieder unterworfen.26 Ein vergleichbares Gedankenspiel unternimmt die berühmte Kussraubstrophe in Ich wirbe umbe allez, daz ein man (MF 159,1) mit ihrer Offerte, bei Missbilligung das Raubgut zurückzubringen (II);27 die Strophe ist umso intrikater, als die Depotenzierung der Dame auf inhaltlicher Ebene im Widerspruch steht zur Restauration ihrer Vollkommenheit auf sprachlicher Ebene (steln und tragen hin wider).28 Autonomie lässt sich schließlich auch durch die Transformation des Minneleids in Kunst gewinnen. Den Anspruch, Meister in der „kunstvollen Gestaltung“, in der Ästhetisierung des Minneleids zu sein, erhebt das Ich in Strophe MF 162,7, V.29 Voraussetzung
24 Zu den verschiedenen Fassungen dieses „Unmutslieds“ vgl. Hübner 2004. 25 Hausmann 1999, 183. 26 So schon Behr 1993, 353. 27 Beide Motive sind romanisches Importgut, vgl. etwa Bauschke 2012, 191–192. 28 Zu den beiden zuletzt genannten Liedern vgl. Hausmann 1999, 177–185. 29 Diese Strophe ist nur in Handschrift C und E überliefert, in C ist sie zudem einem anderen Lied, nämlich MF 165,10, zugeordnet. Bei Kasten 1986, 310–319, aber auch anderen, avanciert diese Strophe zur Programmstrophe für Reinmars Poetik und dessen Liebeskonzept. Vgl. zu dieser Strophe zuletzt Kellner 2018, 414–415.
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für die schöne Kunst, die dem Ich gesellschaftliches Ansehen und vröide eintragen soll, ist freilich das Annehmen des Minneleids. Das aber heißt: Es geht in Reinmars Klagen nicht mehr allein um die Erfüllung der Liebe, sondern um die Kunst in der Form der Klage.
4 Rezeption älterer Liedtypen Die Subjektzentriertheit von Reinmars Minneklagen hat radikale Folgen: Die Geliebte als Objekt des Begehrens büßt erheblich an Präsenz ein, sie ist nachrangig wie die Situation der Werbung, ist nur noch Anlass für die Innenreflexion. Diesem Substanzverlust der Frau arbeiten, im Rückgriff auf die ältere Liedtradition, Lieder und Strophen entgegen, in denen die Frau eine eigene Stimme erhält (→ Frauenlieder; → Dialoglied – Wechsel – Botenlied).30 Spezifikum Reinmars sind die vier dilemmatischen Frauenmonologe, die jeweils eine Ich-Sprecherin im Konflikt zwischen Liebe und êre, zwischen erotisch-sexuellem Verlangen und der Notwendigkeit, auf ihr Ansehen zu achten, darstellen.31 Damit wird aus der Innenperspektive das Bild der gleichgültigen oder abweisenden Geliebten widerlegt, das die Minneklagen in einseitig-subjektiver Sicht vermitteln. Der Konflikt der Frau wird mit wechselnden Positionen und unterschiedlichen Lösungen durchgespielt. In Ungenâde und swaz ie danne sorge was (MF 186,19) zeigt sich die Frau im Leid befangen, aber nicht willens, auf die Werbung einzugehen. Auch im Dialog mit einem Boten (MF 177,10) reflektiert sie eine ausweglose Lage, genauer: ihre Verführbarkeit durch die Liedkunst des vil lieben Mannes, die sie ihm aber nicht verbieten kann, ohne seine Identität als Sänger in Frage zu stellen und der höfischen Gesellschaft die Freude zu rauben; schließlich fasst sie den Entschluss, nicht zu lieben (V, V. 3: ich enwil niht minnen), was indes keine Lösung darstellt. Zwischen Botenanrede und Soliloquium changiert der Monolog Lieber bote, nu wirp alsô (MF 178,1), der in seinen beiden Fassungen unterschiedliche Akzente setzt. In Fassung *bC gesteht die Sprecherin ihre Zuneigung ein, macht die Weitergabe dieses Geständnisses indes von bestimmten Bedingungen abhängig, die jeweils darauf angelegt sind, die Affekte – der Sprecherin und des geliebten Mannes – zu kontrollieren. Auch Fassung *Em führt den inneren Konflikt der Frau in wechselnden Positionen vor. Anders als in Fassung *bC besteht die Lösung des Konflikts aber nicht in der Integration von vröide und êre, vielmehr im wiederholten und schließlich endgültigen Widerruf der Botschaft,
30 Vgl. die Zusammenstellung und Analysen bei Jackson 1981; eine zusammenfassende Würdigung zuletzt bei Kellner 2018, 132–167. 31 Vgl. dazu Kasten 1987; Ashcroft 1996.
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das heißt in einer radikalen „Selbstzensur“.32 Der Monolog Dêst ein nôt (MF 192,25) schließlich präsentiert eine Frau, die dem Mann widerstehen will, dies aber nicht kann und offensichtlich auch schon nicht konnte, die sich als Opfer des Mannes und seiner verführerischen Kunst stilisiert und deshalb vormals eine Verpflichtung eingegangen ist, nicht wissend, welches Leid damit verbunden ist (IV). Ob mit dem Begriff swære der innere Konflikt zwischen êre und Begehren gemeint ist, vielleicht aber auch die konkreten Folgen einer Hingabe, bleibt offen. In der Schlussstrophe kapituliert die Sprecherin vor der Liebe als schicksalhafter Macht und rechtfertigt diese Kapitulation mit der Vollkommenheit des Mannes. Während die dilemmatischen Frauenmonologe die innere Zerrissenheit der Frau ausstellen, ist das Lied Âne swaere (MF 199,25) in Rollenprofil und Minnekonzept den Werbeliedern und Minneklagen des klassischen Minnesangs angenähert. Reflektiert werden die Trennung vom Geliebten und die Möglichkeiten einer Liebe auf Gegenseitigkeit aus der Sicht der Frau. Die Sprecherin bekennt Sehnsucht und Trennungsschmerz, unbedingte – auch Liebesbereitschaft einschließende – Ergebenheit, Treue zum Geliebten und existentielle Abhängigkeit von ihm. Zugleich macht diese vrouwe deutlich, dass Gegenseitigkeit nicht nur in der gelebten Erotik besteht, sondern auch in der Verständigung auf gemeinsame Leitwerte, auf êre, güete, staete, vröide, mehr noch: Sie unterstreicht, dass erfüllte Erotik dieses Fundament geradezu voraussetzt. Andere Lieder schließen nicht nur im Typus, sondern auch konzeptionell an die Tradition des ältesten Minnesangs an und sprengen damit die Grenzen des hochminnesängerischen Genres. Das Lied Er hât ze lange mich gemiten (MF 198,4), durch Sprecherrollen und Sprechsituation als Wechsel ausgewiesen, hat die Sehnsucht nach dem Geliebten, der Quell der Freude ist, beziehungsweise die Erinnerung an die glückhafte Begegnung mit der Geliebten und die Aussicht auf neue Freude und Lohn zum Thema. Erotisches Interesse und die Absicht, die Erwartungen des Mannes zu erfüllen, aber auch dessen Selbstbezogenheit und Unabhängigkeit bekräftigen die beiden Frauenstrophen des Wechsels Si koment underwîlent her (MF 151,1), die Männerstrophen artikulieren die Zuversicht, dass beharrlicher und treuer Dienst belohnt werde. Der Wechsel Ich wirde jaemerlîchen alt (MF 152,15) kontrastiert hingegen den erwartungsfrohen Optimismus des Mannes mit den Verlustängsten der Frau. Die Ich-Sprecherin des Frauenlieds Zuo niuwen vröuden (MF 203,10) spricht in überströmendem Jubel von ihrem Glück, von einem Ritter geliebt zu werden, und von der Wonne sinnlich-erotischer Begegnung. Und auch das Dialoglied War kan iuwer schoener lîp? (MF 195,37) profiliert das weibliche Sprecher-Ich der Strophen II bis VI als liebende, erotisch interessierte Frau, die in schmerzlicher Ungeduld auf die Rückkehr des Geliebten wartet. Die letzte Strophe lässt indes erkennen, dass es sich hierbei um eine Illusion handelt. Der Fokus des Lieds ist auf die Inszenierung einer vergeblichen Hoffnung gerichtet;
32 Brüggen 2008, 237. Zu Thema, Sprechsituation und gattungsgeschichtlichem Kontext des Lieds, allerdings ohne Berücksichtigung seiner verschiedenen Fassungen, vgl. auch Kasten 1993.
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dass die Geliebte sich Illusionen hingibt, ist freilich nur für ihre vriunde beziehungsweise die Hörer und Leser durchschaubar. Gemeinsam ist all diesen Liedern, dass, wie in den Minneklagen auch, der Wille der Frau über Glück und Unglück entscheidet, sie in dieser Hinsicht also dem melancholischen Genre mit seiner spezifischen Thematik und Stillage durchaus gleichgestellt sind.
5 Variationskunst Reinmars Markenzeichen sind freilich nicht nur die subtil reflektierenden Minneklagen und das Frauenlied in seinen verschiedenen Spielarten; es ist vielmehr der reflektierte Umgang mit der Tradition als solcher,33 der ein breites Spektrum von Formen und Liedtypen hervorgebracht hat, unverblümt Erotisches, Schwankhaftes und Burleskes eingeschlossen. Vieles davon ist unikal überliefert, was indes nichts über die literarhistorische Relevanz dieser Lieder, nur etwas über ihre überlieferungsgeschichtliche Relevanz besagt. Möglicherweise hat gerade diese Gattungsvielfalt Gottfried von Straßburg veranlasst, Reinmar und Walther in seinem Literaturexkurs gleichzustellen. Neben den großen, die Befindlichkeit des Ichs sezierenden Minneklagen findet sich eine Anzahl von Minneliedern, die im Wesentlichen traditionelle Motive verarbeiten, aber nicht ohne mit einer Pointe aufzuwarten. So gelangt das Lied Als ich mich versinnen kan (MF 172,23) von einer generalisierenden Beobachtung – nie geht es so, wie erhofft – zur resignierten Einsicht in die Vergeblichkeit des eigenen Dienstes und der Willkür des Glücks – staete hilft, wo sie will –, um diese lakonisch-kritische Sicht schließlich doch zurückzunehmen. Treuer Dienst und die Klage über die abweisende Haltung der Geliebten sind die zentralen Themen des Lieds Ich spriche iemer, swenne ich mac und ouch getar (MF 173,6), das den Minnelohn in emphatischer Zuspitzung als Garanten für das Seelenheil deutet: tuot si [die Geliebte] mir ze lange wê, | sô gedinge ich ûf die sêle niemermê (V, V. 6–7). Und das Ich in der Minneklage Ich hân varender vröiden vil (MF 174,3) wiederum sinniert über die Vergeblichkeit der Werbung und des Gesangs, um schließlich Ablehnung und Leid als das ihm Zugeteilte zu akzeptieren. Das zweistrophige Lied Vrowe, tuo, des ich dich bite (MF 190,27) gehört, wie auch das beschwingte Lied Aller saelde ein saelic wîp (MF 176,5), zu den wenigen Ausnahmen im Œuvre Reinmars, in denen das Ich seine Bitte um Trost und Erhörung direkt an die Geliebte richtet. Zu Reinmars Variationskunst innerhalb der Minneklagen wird man auch das Einkreuzen anderer Gattungsmuster rechnen dürfen. Ein ausgesprochen poetologisches Vexierspiel mit Minneklage und Frauenpreis treibt Reinmar im Lied Niemer seneder 33 Behr 1993, 357.
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suoche (MF 170,36): Als Sänger, der in der Gesellschaft frohe Miene macht, kann das liedinterne Ich nicht klagen, auch weil es von Frauen nur Gutes spricht. Über diese Reflexion inszeniert es dann aber doch eine Klage. Und eine Minneklage ist auch das „Anti-Tagelied“34 Sô ez iener nâhet deme tage (MF 154,32), das in der dreistrophigen Fassung *BC die scheinbar aussichtslose Konstellation der Hohen Minne im kontrastiven Bezug auf die für das → Tagelied typische Minnesituation ins Wort bringt. Die traditionelle Situation der vergeblichen Werbung wird bestimmt durch die Absenz beziehungsweise die Umsemantisierung der tageliedtypischen Motive Tagesanbruch, Vogelgesang und Abschied. Am romanischen Streitgedicht orientiert ist hingegen die Strophe Zwei dinc hân ich mir vür geleit (MF 165,10, IV), in welcher der Sprecher sich einen Kasus vorlegt; sie folgt einem Partimen des Trobadors Folquet de Marseille,35 allerdings ohne dessen spielerische Implikationen zu übernehmen. Und gar keine Seltenheit sind Strophen, die das Thema von liebe und leit in sangspruchspezifischlehrhafter Sprechweise behandeln (→ Sangspruch – Minnesang), zu einer Zeit- und Weltklage anheben oder die individuelle Situation des Sprecher-Ichs auf eine allgemein-menschliche Grunderfahrung hin transparent machen. Beispiele für solche Gattungsinterferenzen sind die Strophen MF 162,7, I36 und IV; MF 172,23, I und II; MF 182,34, VI sowie MF 191,7, III.37 Eine raffinierte Spielart solcher Interferenz stellt das Lied Wol im, der nu vert verdarp (MF 198,28) dar, das zumindest in den ersten drei Strophen zwischen spruchsängerischer und minnesängerischer Lesart oszilliert. Ob Reinmar auch einzelne Spruchstrophen gedichtet hat, hängt davon ab, wie man sich bei der unikal in C unter seinem Namen überlieferten Strophe Blate und krône (MF LXIII) – einer mit Adynata operierenden Zeitklage – in der Frage der Authentizität entscheidet.38 Bei den Frauenliedern wäre als Variante noch die sogenannte Witwenklage Si jehent, der sumer der sî hie (MF 167,31) in zwei Fassungen zu nennen, für deren Sprecherin die Erinnerung an eine glückliche, erfüllte Liebe ganz im Zeichen der Erfahrung von Trauer, Leid und Tod steht. Korrigiert wird damit, wie in den anderen Frauenliedern auch, das Bild der spröden, abweisenden Minnedame. Indem das Minneglück aber als endgültig verloren gedacht wird, hält das Lied am Leidkonzept des Hohen Minnesangs fest. Die andere Seite auf der Skala der Affekte erkundet das Preis- und Freudelied Hôh alsam diu sunne stêt daz herze mîn (MF 182,14). Dessen vrouwe erfüllt, was andere Sänger scheinbar vergeblich von ihrer Dame erhoffen: Sie macht froh, hochgemut und glücklich und liest dem Mann alle Wünsche von den Augen ab, seitdem 34 Schweikle 2002b, 320. 35 Kasten 1980. 36 Bei dieser Strophe handelt es sich im Übrigen um die Adaptation einer Strophe des Trobadors Gace Brulé, vgl. Zotz 2005, 140–146; Bauschke 2012, 195–197. 37 Vgl. dazu die ausführlichen Analysen bei Brem 2003, 184–218 und 283–291; ferner Huber 2014. 38 Dazu Tervooren 1991, 95–101.
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sie ihn in Gnaden aufnahm. Dass hier tatsächlich das Gegenprogramm zum dominierenden Genre der Minneklagen formuliert wird, zeigt auch eine formalästhetische Besonderheit im Liedschaffen Reinmars an: die unstollige Form. Ob die Freude, von der im Lied die Rede ist, allein durch die Imaginationskraft des Ichs ausgelöst wird (→ Imagination),39 sei dahingestellt. Mit Sicherheit trifft dies aber für die Minnevision Ich waene, mir liebe geschehen wil (MF 156,10) zu, deren Sprecher-Ich angesichts der bevorstehenden Rückkehr in die Heimat unbeschwerte Vorfreude artikuliert. Um die Seligkeit des erwarteten Minneglücks zu beschreiben, greift das Ich zu einem ausgefallenen Vergleich: Es empfindet wie der hoch aufsteigende Falke und der in scheinbarer Schwerelosigkeit kreisende Adler (bevor sie sich auf das Jagdwild stürzen). Eigenwillig wie der Vergleich ist auch die Form des Lieds, eine paargereimte Einzelstrophe. Das in zwei Fassungen überlieferte Lied Ich sach vil wunneclîchen stân (MF 183,33) knüpft mit seinem frühlingshaften → Natureingang, dem Jubel über das zuteilgewordene Liebesglück und der Souveränität, mit der sich der Ich-Sprecher in seinem Glück über alle Anfechtungen von Seiten der Gesellschaft hinwegsetzt, wohl an die ältere deutsche Liedtradition an; nicht im Inhalt, wohl aber in Metrum und Reimschema stimmt es, von einer kleinen Abweichung abgesehen, mit einem Lied Wilhelms IX. von Aquitanien überein.40 Mit Wol mich lieber maere (MF 203,24) adaptiert Reinmar hingegen vielleicht den – aus der Tradition der lateinischen erotischen Vagantendichtung bekannten (→ Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters) – Typus des Freudenlieds mit seinen Konstituenten Natureingang, Aufbruch zu Freude und konfliktlosem Liebesglück, der in der Überlieferung des deutschen Minnesangs weitgehend unterdrückt worden ist.41 Der Ich-Sprecher freut sich über die Nachricht vom Ende des Winters und kann sein Verlangen nach Liebe kaum verbergen; seine Sorge um die junge Geliebte drückt sich im Wunsch aus, Gott möge verhüten, dass sie schmerzlich falle, wenn sie wie ein Kind mit dem Ball spielt. An das Freuderegister knüpft schließlich auch das Lied Ich was vrô (MF 168,30) an, das die Melancholie als produktive Kraft des Minnesangs (vgl. etwa MF 162,7, V) dementiert und vielmehr die Freude zum Wert schlechthin erklärt: Ich was vrô und bin daz unz an mînen tôt (I, V. 1). Diese Disposition zum hôhen muot unterbindet denn auch jedes dauerhafte trûren (V. 6). Damit wird nicht nur das Minneleid des Sängers als vorübergehender heilbarer Schaden denunziert,42 sondern auch die Kunst als Remedium gegen das Liebesleid. Gesungen wird, was das Publikum begehrt: Sô singe ich zwâre durch mich selben niht, | wan durch der liute vrâge (II, V. 1–2). Die radikale Gegenposition nimmt das Lied Ich hân hundert tûsent herze erlôst (MF 184,31) ein. Ihm kommt auch insofern eine Sonderstellung zu, als es sich gänzlich vom fiktiven Minnekontext löst und nur noch auf die lebensweltliche Ebene des 39 So Kellner 2015. 40 Bauschke 2012, 187–188. 41 Vgl. Worstbrock 2004 [2001]. 42 Behr 1993, 355.
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Sängers und Künstlers referiert. Das Ich inszeniert sich in der Rolle des Kunstkritikers wie in der Rolle des alternden Dichters, der ein kunstverständiges Publikum sucht, die Werbetrommel in eigener Sache rührt und über die Kunstproduktion und ihre Bedingungen, aber auch über die rezeptionsästhetische Leistung des Minnesangs nachdenkt. Dabei formuliert das minnesängerische Ich, das Motiv der Minne als Ärztin ins Poetologische verschiebend, einen ungeheuren Anspruch, den Anspruch nämlich, dass nicht die Liebe, sondern das Singen von der Liebe die Liebesnot lindert. Damit wird die Kunst des Minnesangs aufs höchste nobilitiert. Zu diesem Lied lassen sich die beiden → Kreuzlieder Durch daz ich vröide hie bevor ie gerne pflac (MF 180,28) und Des tages dô ich daz kriuze nam (MF 181,13) stellen, insofern diese ebenfalls auf einen lebensweltlichen Kontext referieren. Reinmar setzt auch hier eigene Akzente: Nicht Abschiedsklagen inszeniert er, vielmehr die gedrückte Stimmung des Sängers und der Gesellschaft vor dem Aufbruch beziehungsweise die unkonzentrierten Gedanken eines Ichs nach dem Aufbruch.43 Einem ganz anderen Register gehört das → Erzähllied Went ir hoeren (MF LXIV / KLEIN 82) an, das mit seiner Figurenkonstellation alter Mann / junge Ehefrau, dem Prügelmotiv und dem burlesk-komischen Ton an die Tradition der altfranzösischen chansons de mal mariée anknüpft.44 Ähnliches gilt für den Wechsel Herre, wer hât sie begozzen (MF LXVII), der mit Entbehrungsklage und Frauenpreis einsetzt, im Folgenden aber die Konventionen der Hohen Minne durch die Figurenmodellierung – aggressiver Werber, erotisch aktive und aggressive Frau – und durch eine derb-sinnliche Begriffs- und Bildsprache unterläuft; inszeniert wird ein burlesker Geschlechterkampf.45 Dem Inhalt korrespondiert die experimentelle Form mit einem einzelnen Achtheber als Stollen. Cramer hat das Lied als eine scharf überzeichnende Parodie auf Walthers Preislied Si wunderwol gemachet wîp (L 53,25) und dessen Minnekonzeption gelesen.46 Vielleicht darf man es aber auch als einen ironischen Selbstkommentar Reinmars auf seine eigenen Lieder der Hohen Minne deuten. Intratextuelle Marker wären der Kuss (II, vgl. MF 159,1), die Osterwoche (III, vgl. MF 170,1) und das wüeten des Werbers (III und IV, vgl. MF 162,7).
6 Formen der Selbstthematisierung Das letztgenannte Beispiel ist auch in anderer Hinsicht für Reinmars Minnesang si gnifikant. Wie die anderen Berufsdichter der Zeit um 1200 hat Reinmar in erheblichem Maße die Kunst des Singens und des Minnesangs selbst zum Thema des Singens
43 Vgl. dazu Ashcroft 1979; Jackson 1993. 44 Vgl. dazu Tervooren 2000 [1986]. 45 Vgl. zu diesem Lied auch Krohn 1989. 46 Vgl. Cramer 2001.
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gemacht (→ Thematisiertes Singen) und das Singen und die Position des Sängers in der Gesellschaft thematisiert, hat aber auch Bezüge auf andere Lieder – eigene wie fremde – hergestellt und damit an einer regen literarischen Kommunikation teilgenommen – nicht zuletzt, um sich in der Konkurrenzsituation zu behaupten beziehungsweise zu profilieren. Die älteste Form der Selbstthematisierung, schon von den donauländischen Dichtern praktiziert, begegnet in der Verkoppelung von Singen und Liebe. Auch Reinmar kennt sie, setzt dabei freilich oft eigene Akzente.47 So singt das Ich seiner Lieder nicht nur zu Ehren dessen, was ihm lieb und teuer ist (MF 150,10, II, V. 1–3) oder ausschließlich auf Befehl der glückverheißenden Frau (MF 163,23, VI, V. 8–9), selbst wenn ihm seine rede nichts Gutes einträgt. Auch an anderer Stelle – in der ersten Strophe von MF 156,27 (Fassung A) – klagt es in der Doppelrolle von Werbendem und Sänger, so viel wie kein anderer ohne Aussicht auf Liebe und Erhörung gesungen zu haben. Der Zweifel am Erfolg hat den Sänger nun in seiner Kunst verstummen lassen, was ihn freilich geradewegs in einen „performativen Selbstwiderspruch“ führt,48 reflektiert er doch weiterhin singend über seine Misere (→ Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs). Das Festhalten am Gestus der Klage impliziert, wie etwa auch in MF 154,32, ein Festhalten am Liedtyp der Klage; die triuwe, mit der das Ich in seinem Minneleid verharrt, erweist sich unter diesem Aspekt auch als eine poetologische Kategorie, nämlich als triuwe zum eigenen Liedschaffen und zum Konzept der Hohen Minne. Die zweite Strophe von MF 158,1 (Fassung A und *BC) enthält einen poetologischen Kommentar zum eigenen Gesang: Das Ich verteidigt sich hier gegen jene, die seiner anhaltenden Klage mit Unverständnis begegnen. Gegen Spott und Kritik führt es die Authentizität seiner Rede und der darin zum Ausdruck gebrachten Erfahrung ins Feld: Nur der könne von Freude sprechen, dem sie auch widerfahre.49 In Ich wil allez gâhen (MF 170,1) verbindet sich die Klage über die bislang vergebliche Werbung mit einer (bei Reinmar seltenen) Klage über die Konkurrenz (IV). Auch wenn diese nichts zu sagen habe, verhindere sie doch, dass das Ich der Dame seine Wünsche vortragen kann. Diese Aussage lässt sich auch poetologisch lesen: als kritische Auseinandersetzung mit der Sangeskunst der anderen, die nicht sprechen können, ihr künstlerisches Metier also nicht beherrschen. Andernorts spricht Reinmar weniger dezent vom Rang seiner Dichtung. In der ersten Strophe von MF 159,1 sagt er mit dem Lobpreis seiner vrouwe allen anderen – Damen wie Lobrednern – Matt an und macht damit den Vorrang seiner Kunst vor der Konkurrenz geltend.50 Auch im Lied Ich gehabe mich wol (MF 175,1) betont er selbstbewusst das eigene Können, wenn er beklagt, so viel Kunst an die Geliebte verschwen47 Vgl. dazu Obermaier 1995, 64–89. 48 Vgl. Müller 2001 [1999]. 49 Eine Verteidigung der Authentizität des Gefühls und damit auch, selbstreferentiell, der Minneklage findet sich z. B. auch in MF 165,10, V oder in MF 175,1, II. 50 Kasten 1995, 833.
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det zu haben: waz ich guoter rede hân verlorn! | jâ, die besten, die ie man gesprach (IV, V. 3–4).51 Und wenn sein Sänger-Ich darüber spekuliert, nach seinem Tod die zu Lebzeiten ausbleibende Anerkennung zu erfahren (V, V. 6–7), stilisiert es sich als verkanntes Genie. Der enge Zusammenhang von Werben und Singen wird auch aus der Sicht der Frau reflektiert. Im Lied Lieber bote, nu wirp alsô (MF 178,1) bittet die Frau in ihrer Bedrängnis, der Mann, dem sie ja von Herzen zugetan sei, möge die rede unterlassen, dier jungest sprach zuo mir (IV, V. 4, ähnlich auch II, V. 4), und Gleiches verlangt sie im Lied Sage, daz ich dirs iemer lône (MF 177,10, hier II, V. 2) – ob mit rede jeweils die Forderung nach Erhörung oder das werbende Singen allgemein gemeint ist, bleibt offen. Auf dieses Verbot nimmt jedenfalls die Minneklage Daz beste, daz ie man gesprach (MF 160,6) inhaltlich Bezug,52 wenn das Ich eingesteht, mit einer rede nicht nur Aufmerksamkeit und Interesse der Frau geweckt (II, V. 1–3), sondern es sich durch ein allzu offenherziges Geständnis mit ihr verdorben zu haben (III, V. 5–12) und nun mit dem Wunsch, sie mit rede ganz zu verschonen, konfrontiert zu sein (III, V. 14–15; ähnlich auch MF 156,27, II, V. 6–10). Diesen Wunsch scheint das Ich der Klage auch erfüllt zu haben, wenn man seiner (freilich wieder im performativen Selbstwiderspruch mündenden) Erklärung von MF 163,23, VI, V. 8–9, Glauben schenken darf: si saelic wîp enspreche: ‚sinc!‘, | niemer mê gesinge ich liet. Im Frauenlied Ungenâde und swaz ie danne sorge was (MF 186,19) neigt die Sprecherin dazu, das Singverbot wieder zurückzunehmen, zumindest zeigt sie Reue, dem Mann die rede untersagt zu haben. Und der letzte der dilemmatischen Frauenmonologe (MF 192,25) präsentiert eine Sprecherin, die sich der schönen rede des liebenden und begehrenden Mannes entziehen will, dies aber nicht kann. Das Entscheidende aber ist: Die Frauenrede führt, einmal mehr, einmal weniger, die Faszinationskraft des Minnesangs vor Augen; sie behauptet seine Macht und qualifiziert die Rede des Sängers als schöne, wenn auch erfolglose Kunst. Damit avanciert sie aber zum „Medium des dichterischen Selbstlobs“53. Auch wenn in diesen Textbeispielen die Rollen von Liebendem und Sänger ineins fallen, so rückt doch immer stärker die Rolle des Künstlers in den Vordergrund, „ohne daß die enge Verbindung zur Rolle des Werbenden aufgegeben würde“54. In zwei Liedern wird diese Verbindung indes ganz aufgehoben: in MF 184,31, in dem das Ich nur noch sich als Minnesänger und die heilende Kraft seiner Kunst preist (s. o.), und in MF 168,30, in dem der Sänger sich zum Frohsinn bekennt und erklärt, ganz auf die Wünsche des Publikums eingehen zu wollen (s. o.). Damit aber wird der fiktive Status der Sangeskunst behauptet und der Minnesang als Kunstprodukt deklariert, nicht
51 Eine ähnlich hohe Einschätzung der eigenen Kunst findet sich auch in MF 160,6, I, und in MF 163,23, I, V. 1–2. 52 Zu den formalen Bezügen zwischen dieser Klage und MF 178,1 vgl. von Kraus 1919, 43. 53 Kasten 1995, 882. 54 Obermaier 1995, 73.
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anders als in der dreistrophigen Fassung des Lieds Langez swîgen hêt ich mir gedâht (L 72,31 / KLEIN 68a), die Handschrift b als Reinmar-Lied bewahrt hat. Und noch einmal anders gelagert sind all jene Lieder, die sich – wie etwa die Minne klagen MF 156,27, MF 158,1, MF 169,9 und MF 172,23 oder das Kreuzlied MF 181,13 – durch einen notorisch hohen Abstraktionsgrad auszeichnen. Diese Lieder halten die vrouwe nicht einmal mehr als Begriff präsent, operieren vielmehr durchgängig mit semantisch unterspezifischen Formulierungen wie ein liep oder si und lassen damit offen, von wem überhaupt gesprochen wird. Man hat neuerdings vorgeschlagen, diese Lieder als eine „Dichtung mit doppeltem Boden“55 zu lesen, in der verschiedene Sinnebenen übereinandergeblendet sind.56 Die leidenschaftliche Ergebenheitserklärung stirbet sî, sô bin ich tôt (MF 158,1, III, V. 8) z. B. ließe sich demnach nicht nur als Ausdruck der extremen Abhängigkeit des Ichs von seiner Dame verstehen, sondern auch als Beispiel für implizite Selbstthematisierung: als Ergebenheitsadresse eines Berufsdichters, der auf die werlte, nämlich das höfische Publikum, existentiell angewiesen ist, und/oder als Bekenntnis zur Kunst des Minnesangs, die für den Minnesänger Lebensgrundlage schlechthin ist. Zu den expliziten Formen der Selbstthematisierung sind hingegen alle kommentierenden und parodistischen Bezüge auf eigene oder anderer Sänger Lieder zu zählen. Sie gehören teils in den Umkreis der sogenannten ‚Reinmar-Walther-Fehde‘57, zeigen jedenfalls ein dichtes Geflecht literarischer Beziehungen an, das noch nicht vollständig erkundet ist. Als Parodie auf Walthers Lindenlied L 39,11 hat Mertens MF 199,25 gedeutet,58 und eine Parodie – gleichfalls auf Walther L 39,11 – hat Ashcroft auch für MF 203,24 erwogen.59 Eine Antwort Reinmars auf Walthers Parodie Ein man verbiutet ein spil âne phliht (L 111,22), vielleicht auch auf dessen Preislied L 56,14 ist das Lied Herzeclîcher vröide wart mir nie sô nôt (MF 196,35), mit dem er sich heftig gegen den Vorwurf der unmâze wehrt, den er sich mit seinem hyperbolischen Frauenpreis MF 159,1 eingehandelt hatte.
7 Formaspekte Reinmars Œuvre zeichnet sich durch einen großen Tönereichtum aus. Vielfach variierte Strophenform ist, wie immer im klassischen Minnesang, die Kanzone (→ Metrik 55 Mohr 1967, 9. 56 Vgl. Klein 2020. 57 Zur Kritik an den Prämissen dieses Forschungsparadigmas und zur Neubewertung der literarischen Polemik zwischen Walther und Reinmar vgl. Schweikle 1986; Schweikle 2002a, 20–22; Tervooren 1989; Scholz 1999, 129–142, sowie den Artikel zu → Walther von der Vogelweide im vorliegenden Handbuch. 58 Vgl. Mertens 1983. 59 Vgl. Ashcroft 1982.
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und Formanalyse). Abweichungen von dieser Form – Reimpaarstrophen bei MF 156,10 und MF 182,14, Periodenstrophe bei MF 180,28 – signalisieren stets auch konzeptionelle Abweichungen. Insgesamt lassen sich elf Grundmuster unterscheiden (zwei mehr als in der Minnelyrik Walthers; die folgenden Zahlen wiederum bezogen auf die Ausgabe MF): (1) sechszeilige Strophen mit zweizeiligen Stollen und zweizeiligem Abgesang (neunmal), (2) siebenzeilige Strophen mit zweizeiligen Stollen und dreizeiligem Abgesang (22-mal), (3) achtzeilige Strophen mit zweizeiligen Stollen und vierzeiligem Abgesang (zehnmal), (4) achtzeilige Strophen mit dreizeiligen Stollen und zweizeiligem Abgesang (einmal), (5) neunzeilige Strophen mit zweizeiligen Stollen und fünfzeiligem Abgesang (zehnmal), (6) neunzeilige Strophen mit dreizeiligen Stollen und dreizeiligem Abgesang (einmal), (7) zehnzeilige Strophen mit zweizeiligen Stollen und sechszeiligem Abgesang (viermal), (8) zehnzeilige Strophen mit dreizeiligen Stollen und vierzeiligem Abgesang (einmal), (9) elfzeilige Strophen mit dreizeiligen Stollen und fünfzeiligem Abgesang (zweimal), (10) 13-zeilige Strophen mit vierzeiligen Stollen und fünfzeiligem Abgesang (einmal), (11) 16-zeilige Strophen mit dreizeiligen Stollen und zehnzeiligem Abgesang (einmal). Die Stollen sind also in der Regel zweizeilig (Reimfolge ab, ab), nämlich in 54 Liedern; selten umfassen sie drei Zeilen (mit der Reimfolge abc, abc, einmal auch aab, ccb; z. B. MF 160,6; MF 186,19; MF 199,25) oder vier (MF 187,31), und nur einmal sind sie ungegliedert (MF LXVII). Hochvariant ist hingegen aufs Ganze gesehen die Reimanordnung beim Abgesang: Die einfachsten Formen stellen Reimpaar cc, Dreireim ccc und Waisenterzine cxc dar, öfter auch in Kombination; den Abgesang bilden dann zwei Reimpaare ccdd (diese gelegentlich auch um eine Zeile c verlängert) oder ein Reimpaar cc plus eine (Waisen-) Terzine ddd beziehungsweise dxd. Komplexere Varianten ergeben vier durch Kreuzreim oder umarmenden Reim gebundene Zeilen (cdcd beziehungsweise cddc), vor allem, wenn diesen noch ein Reimpaar vorausgeht (ccdede), oder auch zwei Reimpaare plus zwei Terzinen (ccddefegfg). Zusätzliche Variationsmöglichkeiten bietet der Versbau: Die Verse in Reinmars Liedern sind fast immer von ungleicher Länge; die Zahl der Takte und Hebungen bewegt sich meist zwischen vier und sechs, gelegentlich kommen kürzere Verse mit zwei oder drei Hebungen und längere mit sieben oder acht hinzu. Isometrische Strophen oder Strophenteile sind selten. Auffällig ist allerdings das Übergewicht der männlichen Kadenz. Für eine Reihe von Liedern hat man formalästhetische Anleihen bei der Trobadorund Trouvèrelyrik festgestellt (→ Altokzitanische Lyrik, → Liebeslyrik in Nordfrankreich); sie sind insgesamt von größerer Bedeutung als die inhaltlichen Bezüge.60 Für Lied MF 183,33 ist die Kontrafaktur eines Lieds Wilhelms IX. von Aquitanien gesichert, und MF 194,18 ist nicht nur formal, sondern auch inhaltlich eng verwandt mit Lied PC 167,37 des Trobadors Gaucelm Faidit.61 Vor allem hat sich Reinmar aber von der 60 Zu den formalen Bezügen, Motiventlehnungen und Systemreferenzen vgl. den Überblick bei Bauschke 2012, 185–199. 61 Zu der in MF 162,7 adaptierten Strophe des Trobadors Gace Brulé vgl. Anm. 36.
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romanischen Reimtechnik inspirieren lassen; Indizien dafür sind die Anreimung in den Liedern MF 154,32 und MF 191,7, die Durchreimung in den Liedern MF 193,22, MF 195,3, MF LXV und MF LXVII, der strophenübergreifende Kornreim in MF 154,32, die Mittelreime in MF 160,6 sowie die Binnenreime und grammatischen Reime in MF 198,4. Dieses Lied übernimmt überdies die (Binnen-)Reimwörter der letzten zwei Zeilen in den Aufgesang der nächsten Strophe, folgt also dem Prinzip der coblas capcaudadas; Lied MF LXVI gehorcht hingegen dem Prinzip der coblas unissonans, d. h., die zweite Strophe nimmt die Reime der ersten Strophe wieder auf. Sieht man von den beiden neumierten Strophen MF 177,10, I und MF 203,10, I in der Handschrift der Carmina Burana ab, ist für keines der Lieder Reinmars eine Melodie erhalten (→ Melodien zu Minneliedern); ihre Artifizialität lässt sich nur noch über die hochgradige Formvarianz, über Stilfiguren und Reimkunst fassen (→ Form- und Klangkunst), ansonsten ist Reinmars Liedkunst, wie die aller Minnesänger, verstummt.
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Walther von der Vogelweide Allgemeines Walther von der Vogelweide gilt als bedeutendster Lyriker des deutschen Hochmittelalters. Diese Einschätzung gründet auf Besonderheiten, die jede für sich einzeln und dann gerade in der Summe Walther von seinen Zeitgenossen abheben: 1. Für Walther existieren vergleichsweise viele faktische und pseudofaktische Daten und Informationen, um mutmaßliche Lebensstationen des historischen Dichters zu rekonstruieren. 2. In seinem Minnesang schöpft er die Möglichkeiten der Gattung voll aus und tendiert zur Grenzüberschreitung. Da er zahlreiche Spielarten ausprobiert, zeigt sein Œuvre eine außerordentliche Breite. Zudem wird er für spätere Generationen und deren Konventionsbrüche wegweisend. 3. Walther kombiniert offensiv und vielfältig die zeitgenössisch zur Verfügung stehenden lyrischen Sprechweisen. Er ist der erste und über einen langen Zeitraum einzige Minnesänger, der auch Sangspruchdichtung verfasst, wobei er es war, der die Gnomik für das politische Thema überhaupt geöffnet hat. In seinem Minnesang können diese beiden sich eigentlich ausschließenden Dichtungsarten in sinnstiftender Verknüpfung gemeinsam aktualisiert werden (→ Sangspruch – Minnesang). Mit vergleichbarer Souveränität tritt Walther in intertextuellen und interdiskursiven Austausch mit anderen deutschsprachigen Lyrikern (u. a. → Reinmar, → Heinrich von Morungen, → Neidhart), mit okzitanischen Trobadors und französischen Trouvères (insbesondere mit dem Provenzalen Peire Vidal; → Altokzitanische Lyrik, → Liebeslyrik in Nordfrankreich) und mit bestimmten Paradigmen der lateinischen Vagantenlyrik (→ Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters). Diese produktionsseitige Tendenz zu kommunikativer Interferenz findet ihr Pendant in rollenhaften Selbstinszenierungen und metalyrischen Entwürfen, die auf eine Interaktion mit den antizipierten Rezipienten zielen. Walthers Metaphern- und Anspielungsreichtum speist sich aus gelehrter Bildung und neben umfassender Kenntnis der Lyrik auch aus der Erzähldichtung seiner Zeit (→ Narrative Interferenzen im Minnesang). Der kreative Umgang mit den Referenzsystemen verleiht seinen Aktualisierungen ein spezifisches Gepräge. 4. Virtuos beherrscht Walther das rhetorische Rüstzeug und ist auch als Komponist für die Melodien der Minnelieder und Spruchtöne ein Formkünstler (→ Melodien zu Minneliedern, → Form- und Klangkunst). 5. Die breite und schon früh tendenziös vereinnahmende Rezeption von Dichter und Werk beginnt bereits bei den Handschriftenherstellern, sie erreicht einen Höhepunkt im biographisierenden Interesse der Romantik, spiegelt sich dann in den vielfältigen Ausgaben seiner Lyrik, und sie kennt auch Auswüchse wie die Inanspruchnahme Walthers als nationalistische Projektionsfläche.
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1 Lebensspuren Selbstaussagen Walthers und die Kommentierung datierbarer historischer Ereignisse und politischer Konstellationen in der Sangspruchdichtung ermöglichen, anders als bei reinen Minnesängern, biographische Spekulationen. Dabei hat das Sporadische der Informationen Mythenbildungen um Walthers mutmaßlichen Stand und Lebensweg befördert.1 Anstelle eines festen Gerüstes lassen sich eher einzelne Schlaglichter auf die Dichterperson werfen. Österreich und der Babenberger Hof in Wien sind ein fester Bezugspunkt, wohin Walther seine Anfangsjahre verortet: ze Œsterrîch lernde ich singen unde sagen (L 32,7, V. 8),2 er später aber ebenso Ablehnung erfährt: daz dritte hât sich mîn erwert unrehte manigen tac: | daz ist der wunneklîche hof ze Wiene (L 84,1, V. 9–10).3 Dies wird oft in Verbindung gebracht mit einem Nachruf auf Herzog Friedrich I.: Dô Friderich ûz Œsterrîch alsô gewarp (L 19,29, V. 1), dessen Tod im Jahre 1198 Walther, rhetorischen Gepflogenheiten des Nekrologs entsprechend, als großen persönlichen Verlust beschreibt: dô fuort er mînen krenechen trit in die erde (V. 3).4 Eine Notiz in den Reiserechnungen Wolfgers von Erla, Bischof von Passau und später Patriarch von Aquileja, belegt eine am 12. November 1203 an den Sänger (cantor) Walther geleistete finanzielle Zuwendung in Zeiselmauer an der Donau, also nahe bei Wien.5 Österreich scheint damit auch unter Herzog Leopold VI. für Walther relevant zu bleiben. Zahlreiche intertextuelle Bezüge, die zwischen den liebeslyrischen Œuvres Walthers und Reinmars des Alten bestehen (vgl. Abschnitt 3), sind in der älteren Forschung als Ausdruck einer literarischen und persönlichen ‚Fehde‘ gedeutet worden.6 Walther habe den Sängerstreit in Wien verloren und, zu einem unsteten Wanderleben als Gnomiker gezwungen, unter dieser Exilierung gelitten;7 erst Kaiser Friedrich II. habe durch ein sicheres Auskommen Walthers Situation geheilt: Ich hân mîn lêhen (L 28,31, V. 1).8 Neuere Positionen sehen für Walther jedoch keinen von außen provozierten biographischen Bruch, sondern nehmen für sein Schaffen eine Gleichzeitigkeit von Minnesang und Spruchdichtung an, zum Teil sogar mit Wechselwirkungen untereinander.9 Die Tätigkeit für ganz unterschiedliche Gönner, Fürsten und Kleinadlige, Parteigänger der Staufer und der Welfen, geistliche Mäzene sowie die Nähe zu literarischen Zentren der Zeit – neben Wien prominent auch der Hof Landgrafs Hermann von Thüringen – zeigen Walther vielmehr als vielseitig interessierten Lyriker, der sich 1 Siehe dazu Hahn 1989a, 21–29. 2 Alle Walther-Zitate und -Versangaben nach L/COR. 3 Über Walther und Wien handelt Schweikle 1989. 4 Hoffmann 1996 bewertet die literarische Tradition, die Walther hier aktualisiert, stärker als den vermeintlich biographischen Kern der Aussage. 5 Dazu umfassend Heger 1970. 6 Überblick bei Bauschke 1999, 25–42. 7 Diese Sichtweise stilisiert Walther romantisierend zum ‚verkannten Genie‘. 8 Über das vermeintliche ‚Lehen‘ Brunner u. a. 2009, hier 20. 9 Hahn 1986.
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weder mit einem einzigen Ort noch mit einer immer gleichen Dichtungsweise zufriedengegeben hat. Entsprechend dominiert zwar für die rund 80 unter seinem Namen überlieferten Lieder der Minnediskurs, doch es finden sich auch Weltenklage, Altersmotivik und religiöse Themen (→ Religiöse Semantiken). Als vermutlich mittelloser Sohn eines kleinen Adligen10 hat Walther wohl, wie sein Kenntnisstand erahnen lässt, ein gewisses Maß an lateinischer Ausbildung genossen11 und in seiner mutmaßlichen Lebenszeit von ca. 1170 bis ca. 1230 als fahrender Sänger das Deutsche Reich bis an seine Grenzen und darüber hinaus kennengelernt: Ich hân gemerket von der Seine unz an die Muore, | von dem Pfâde unz an die Trabe erkenne ich ir aller fuore (L 31,13, V. 1–2) beziehungsweise: Von der Elbe unz an den Rîn | her wider unz an der Unger lant (L 56,14, IV, V. 1–2). Dass ihm eine künstlerische Vorrangstellung gegenüber anderen Minnesängern als leitefrouwe (TR, V. 4778) zukomme, propagiert bereits um 1210 der Tristandichter Gottfried von Straßburg in seinem sogenannten ‚Literaturexkurs‘ (ir meisterinne kan ez wol, | diu von der Vogelweide; V. 4798–4799). Von 1350 datiert ein Beleg, der Walthers Grab in Würzburg verortet.12
2 Eigenarten von Walthers Minnesang Für Walthers Liebeslyrik ist Vielseitigkeit Programm. In einigen Liedern ruft er die traditionelle Hohe-Minne-Situation auf und verwendet klassische Motive, Rollen und Gedanken, etwa den Werber, der in Anwesenheit der Dame zaghaft verstummt (L 115,6), oder die spannungsvolle Dynamik von Freude und Leid, wobei der Kummer unter den Vorzeichen der Liebe ein angenehmes Gefühl produzieren kann (L 109,1). Für die Hauptzahl der Lieder gilt jedoch, dass Walther die Rolle der frouwe nach unterschiedlichen Richtungen hin jeweils neu verhandelt und in der Konsequenz die gesamte Minnekonstellation anders ausrichtet: An der unerreichbaren Herrin kritisiert er Distanziertheit und ungerechte Behandlung des loyalen Sängers (L 52,23), und er droht der abweisenden Dame mit Vergeltung und Prügelstrafe, anstatt konventionell duldsam an der Entsagungsminne festzuhalten (L 72,31). Mit dieser Neu definition relativiert er konstituierende Bedingungen des Hohen Sangs. Dass auch der entbehrungsreichsten Werbesituation der Wunsch nach Eroberung und physischer Nähe innewohnt, haben bereits Walthers ältere Zeitgenossen gestaltet (etwa Heinrich von Morungen: daz si mir mit triuwen waere bî | Ganzer tage drî | unde eteslîche naht!; MF 126,8, II, V. 4–6). Das versteckte, nur alludierend oder assoziativ imaginierend angesprochene Ziel der Minnewerbung, die körperliche Vereinigung, formuliert Walther allerdings offensiver. Auch er balanciert erotische Anspielungen durch ein 10 Diskussion bei Scholz 2005, 10–11. 11 Worstbrock 1989; Pachurka 2020. 12 Bein 1997, 29–31.
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breites Spektrum an Verhüllungs- und Neutralisierungsstrategien aus; aber das Verfahren, Unsagbares doch auszusprechen und nur vordergründig zu kaschieren, wird als solches transparent. Wenn Walther in Si wunder wol gemachet wîp (L 53,25) den unbedeckten weiblichen Körper vor dem inneren Auge des Publikums entstehen lässt, kann er mit dem Assoziationsangebot, die aus dem Bad steigende Dame wahlweise als Venus, Diana oder Batseba zu deuten,13 die Nackte zwar mit antik-christlichen Bildungszitaten bekleiden, den bereits erfolgten voyeuristischen Blick aber nicht mehr ungeschehen machen: sô wæne ich mê beschowet hân. | […] dô ich si nacket sach (L 53,25, V, V. 4 und V. 6). Noch weiter geht Walther in Liedern, wo er an die ständisch nicht fixierten Frauenrollen des wîp oder der maget Wunschphantasien erotischer Erfüllung knüpft, welche er wie in Nement, frowe, disen cranz (L 74,20) aus dem überwiegend abstrakt bleibenden oder höfisch gefärbten Ambiente, das für den Hohen Sang typisch ist, in eine naturhafte Szenerie verlagert.14 In diesen natürlichen Raum fügt sich das Blumenbrechen als Metapher für den Sexualakt harmonisch ein (wîzer unde rôter bluomen weiz ich vil, | […] dâ suln wir si brechen beide; L 74,20, II, V. 4 und V. 8), und auch die Pointe, die erzählte Begebenheit rückwirkend als Traum auszuweisen (dô taget ez und muose ich wachen; L 74,20, IV, V. 8), kann den stets ersehnten und hier endlich erfolgten Übergriff, der metapoetisch zugleich ein Griff über die Diskurskonventionen hinweg ist, nur oberflächlich heilen. Von einer anderen Seite her reizt Walther die Möglichkeiten des Minnesangs aus, indem er seine Dame als souverän-verantwortungsbewusste Herrin inszeniert, die den ihr entgegengebrachten Dienst angemessen entlohnen wird. Die in Die verzagten aller guoten dinge (L 63,8) gezeigte Werbungssituation korrespondiert mit dem oft im Hohen Sang beschriebenen Ausschnitt einer Minnekonstellation, sie aktualisiert sich bei Walther jedoch unter dem andersartigen Vorzeichen, dass die Bitte um Erhörung mit Aussicht auf Erfolg geschieht (sô sî vriundinne unde vrowe mîn; IV, V. 6). Auch in Klageliedern (z. B. L 54,37) steht darum nicht die abweisende Dame im Vordergrund; es ist die personifizierte Minne, die sich den Vorwurf der Ungleichbehandlung gefallen lassen muss und zu ausgewogener Affizierung und Lastenverteilung aufgefordert wird (dû twingest hie, nû twinge och dâ; IV, V. 3). Die unterschiedlichen Konstellationen, die Walther teils in Überreizung vorentwickelter Aussageoptionen entfaltet, teils neuartig grenzüberschreitend vorschlägt, eignen sich aufgrund ihrer Andersartigkeit und ihres innovativen Potentials, um mit minnedidaktischen Fragen verknüpft zu werden. Walther macht von dieser Möglichkeit umfänglich Gebrauch. Er diskutiert ganz grundsätzlich, dass eine Leid erzeugende Liebe nicht minne heißen darf (L 69,1),15 er versucht einen alternativen Weg über die
13 Sayce 1982 und Mertens 1995 favorisieren jeweils unterschiedliche Optionen der Identifikation. 14 Siehe die neun Modellanalysen in dem Band von Keller und Miklautsch 2008. 15 Vgl. dazu Steinmetz 2003.
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Kategorie der herzeliebe aufzuzeigen (L 49,25),16 und er fordert die Verknüpfung von ethischer Auszeichnung und Minnewürdigkeit ein, Werbung und Zuwendung sollen in einem Gleichgewicht stehen (L 92,9). Es zeigt sich dabei ein grundsätzliches Phänomen: Motive und Gedanken, welche die vorgängige Minnesangtradition bereits kennt, etwa die Gegenseitigkeit der Zuneigung (Albrecht von Johannsdorf: Swâ zwei herzeliep gevriundent sich, | und ir beider minne ein triuwe wirt; MF 91,22, II, V. 1–2), formuliert Walther thesenhaft-prägnant als neues Postulat: teilent sie gelîche, sô ist diu minne dâ (L 69,1, II, V. 4). Er bleibt damit im Rahmen der Diskurstradition, gibt ihr aber dennoch eine akzentuierte Richtung. Die ältere Forschung hat aus dem variationsreichen und sogar widersprüchlichen Umgang mit dem Minnesangrepertoire eine innere Entwicklung von Walthers Minnesang abzuleiten versucht, die eine chronologische Korrespondenz in der mutmaßlichen Biographie besessen haben soll:17 zuerst eine Lern- und Anfangsphase konventioneller Hoher Minne, dann der Gegenentwurf einer ‚niederen‘ Minne mit der irreführend ‚Mädchenlieder‘ genannten Gruppe,18 die ‚ebene‘ Minne als programmatische Gleichberechtigung, schließlich die reife Synthese als Entwurf einer ‚neuen hohen Minne‘.19 Dieses biopoetisch spekulative Verfahren, das auf eine normierende Kategorisierung innerhalb des Liedcorpus zielt und dafür gruppenintern zwanghaft homogenisierend argumentieren muss sowie gruppenextern dogmatisch abgrenzt, ist nicht sachadäquat; denn die verschiedenen Möglichkeiten, das Liebesthema zu verhandeln, vermischen sich in einzelnen Liedern und wirken damit klaren Gruppenbildungen und vor allem deren zeitlichen Festsetzungen entgegen. In allen Fällen, also auch den komplementären Anti-Liedern mit zugewandter Dame oder mit der für Sinnenfreuden offenen Frau, bleibt die Hohe Minne der innere Bezugspunkt, an dessen Setzung sich die mal mehr, mal weniger zustimmenden, mal stark abweichenden Aktualisierungen Walthers abarbeiten.20 Der Sänger erweist sich damit als kreativer Neuschöpfer unterschiedlicher Konstellationen, mit denen das eine Thema stets neu perspektiviert wird. Nur in der Referenz auf einen konzeptionell identischen Kern allen Minnesingens können sich Walthers Akzentuierungen als spezifische Entwürfe oder gar partielle Destruktionen profilieren. Die Heterogenität von Walthers Minnesang und seine Experimentierbereitschaft schlagen sich auch strukturell nieder. Dies zeigt sich zum einen in der Vielfalt der aktualisierten Auftrittstypen: Klage- beziehungsweise Werbungsmonolog (L 13,33; → Kanzone), → Frauenlied (L 113,31), Dialog/Gespräch (L 85,34), Wechsel (L 71,35), Botenlied (L 112,35; → Dialoglied – Wechsel – Botenlied), wenngleich der didaktisie16 Über dieses Lied, mit Forschungsdiskussion und weiterführenden Angaben, Kuhn 1979 sowie Hahn 2001. 17 Hahn 1989a, 30–90. 18 Dagegen argumentiert schon früh Heinzle 1997. 19 So die Position von Mohr 1954. 20 Dies hat jüngst Müller 2020 nochmal hervorgehoben.
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rende Männermonolog quantitativ überwiegt (vgl. z. B. L 48,12, in der Forschung etabliert mit anderer Strophenfolge als Zwô fuoge hân ich doch, L 47,36). Zum anderen gestaltet Walther bekannte Inhaltstypen variantenreich um. So kombiniert er übliche Sprechakte wie Preis, Klage oder Werbung, überführt sie in ethisch-moralische Diskussionen, verstärkt kommunikationsdidaktische Aspekte und rückt immer wieder einen autoreferentiellen Impetus in den Vordergrund (vgl. Abschnitt 3). Auf diese Weise probiert er auch ganz neue Aussagetypen aus, etwa die lebensbilanzierende Abrechnung mit der personifizierten Welt, die er wie eine in ihrer Untreue erkannte Minnedame verlässt und dies mit ihr in einem Dialoglied verhandelt (L 100,24),21 oder die Anspielung auf die Pastourellensituation22 im berühmten Under der linden (L 39,11), wo die Frau nicht, wie in der Romania üblich, mit ihrem Verführer hadert, sondern beglückt von der einvernehmlichen Liebesbegegnung berichtet.23
3 Literarische Kommunikation und Selbstinszenierung Für jegliche Art von Dichtung gilt, dass sie in konstruktiver Auseinandersetzung mit der Tradition und mit den zeitgenössischen Kollegen entsteht. Dies trifft auch auf Walthers Minnesang zu, der in dieser Hinsicht dennoch einige Besonderheiten zeigt. Symptomatisch ist, dass Walther zahlreiche Referenzsysteme ganz unterschiedlicher Provenienz aktualisiert und dies immer wieder thematisch macht, um die von ihm außerordentlich prägnant formulierte Ich-Rolle in den Vordergrund zu rücken24 und anhand einer evozierten Interaktion mit dem Publikum auch das dynamische Verhältnis von Sänger und Hof anzusprechen.25 Dieses Phänomen greift in erster Linie für die Interferenzen von Minnesang und Spruchdichtung (→ Sangspruch – Minnesang).26 Das formal als Kanzone inszenierte Ir sult sprechen willekomen (L 56,14) spielt mit Walthers Doppelkompetenz, gestaltet gnomische Motive wie einen allgemeinen Herrenund Frauenpreis im Gewand des Minneliedes, führt exemplarisch das breite Spektrum von Walthers Kunstfertigkeit vor und entpuppt sich in der Pointe (lange müeze ich leben dar inne!; V, V. 8) als Werbetext in eigener Sache, mit dem um Anstellung gebeten wird.27 In Die zwîvelære sprechent, ez sî allez tôt (L 58,21) verknüpft Walther
21 Über dieses Lied handelt umfassend Schumacher 2000. 22 Dazu Sievert 1993. 23 Den konstruktiven Umgang mit dem romanischen Referenzsystem bespricht Bauschke 2012, 210. 24 Die offensive Inszenierung des Sänger-Ich behandeln Hahn 1989b und Knape 1989. 25 Über den Gesellschaftsbezug zuletzt Mohr 2020. 26 Siehe dazu Müller 1994 und Hausmann 2004. 27 Vgl. Bauschke 1999, 134–167.
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Frauenschelte und Gesellschaftskritik;28 die Souveränität, über die Minnedame zu urteilen und ihr Verhalten an höfischen Tugenden zu messen, rekrutiert er aus der Spruchdichterrolle. Den generalisierenden Tenor von Die mir in dem winter vröide hânt benomen (L 73,23) fängt Walther nur scheinbar durch einen literarischen Witz auf, indem er vorgibt, das Identifizierungstabu der Dame zu brechen. Die genannte Hiltegunde (V, V. 10) entpuppt sich jedoch als Spiel mit dem eigenen Namen, denn es handelt sich um die in der Heldenepik dem Waltharius zugeordnete Frau.29 Diese Tendenz, Publikumserwartungen zu brechen und das Dichten selbst thematisch zu machen, manifestiert sich besonders stark im sogenannten Sumerlaten-Lied (L 72,31), wo Walther die Abhängigkeit der Dame vom Sänger als dem Künstler, der das Medium ihrer Existenz erst erschafft, offenlegt. Wenn die Gemachtheit des Minnesangs Thema des Liedes wird, verweist dies unmittelbar auf seinen Produzenten.30 Auf unterschiedlichen Ebenen kommuniziert Walther mit anderen Sängern. Die vermeintlich biographische Konkurrenz sowie die poetologische Auseinandersetzung über das rechte Dichten, welche in der älteren Forschung die Grundlage bilden, um einen Sängerstreit zwischen Walther und Reinmar zu behaupten,31 können durch den Textbefund nicht bewiesen werden.32 Wohl aber lassen sich konkrete intertextuelle Bezüge erkennen, vor allem in Walthers Schachlied-Parodie (L 111,22), für die er die Melodie einer Reinmar-Kanzone benutzt (MF 159,1), um dieses und ein anderes Lied (MF 170,1) zu kritisieren und dem Verlachen preiszugeben.33 Er problematisiert den von Reinmar gestalteten Kussraub,34 ein in der Romania gängiges Motiv,35 und wirft Reinmar hyperbolisches Frauenlob vor (Schachmatt anderer Damen, Vergleich der Herrin mit der Auferstehungsfreude). Die Vorstellung, Walther habe von da an seinen gesamten Minnesang als Absage an Reinmars Kunst angelegt,36 fußt auf spekulativen Vorwegannahmen mit dem Ziel, die Einzelbeobachtungen zu Walther in einen scheinbaren Sinnzusammenhang zu stellen.37 Allerdings erweist sich Walther auch in Bezug auf andere Kollegen als streitbarer Akteur. Das Lied Ich bin nû sô rehte vrô (L 118,24) ist als Parodie Heinrichs von Morungen gedeutet worden.38 Walther imitiert die habituelle Rolle des Kollegen, baut sogar einen für Morungen als typisch geltenden Antikebezug
28 Diesen Aspekt von Walthers Œuvre untersucht Nolte 2005. 29 Über diesen rhetorischen Einfall Haubrichs 1998, 143. 30 Eine entsprechende Deutung von L 72,31 findet sich bei Bauschke-Hartung 2010. 31 Die These geht auf von Kraus 1919 zurück. 32 Erste und grundlegende Kritik durch Schweikle 1986. 33 Bauschke 1999, 59–76. 34 Zu dem Motiv bei Reinmar siehe Kellner 2018, 239–252. 35 Die Zusammenstellung von Touber 2005, 515–516, kann zeigen, dass die ältere Forschung fehlgeht, wenn sie das Motiv als außergewöhnlich einstuft. In der Lyrik etwa des Peire Vidal spielt das Motiv eine wichtige Rolle. 36 So die Behauptung von Birkhan 1971. 37 Diese Tendenz der älteren Forschung beschreibt bereits Ranawake 1982. 38 Ashcroft 1975.
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ein (si ist schœner unde baz gelobt denne Helêne und Dijâne; IV, V. 6) und zerstört die Fiktion durch den Auftritt einer neuen Rolle, die wiederum mit der Ich-Inszenierung Walthers spielt (Hœrâ Walther, wie ez mir stât | mîn trûtgeselle von der Vogelweide; V, V. 1–2).39 Mit Owê, hovelîchez singen (L 64,31) wendet Walther sich gegen den im dörflichen Milieu angesiedelten Minnesang Neidharts (Ich enwil niht werben zuo der mül; III, V. 5) und warnt – obwohl selbst ein Grenzgänger und Pionier ungewöhnlicher Variationen – vor der Gefahr, mit neuen Wegen überkommene Dichtungsweisen ganz abzuschneiden (daz diu nahtegal dâ von verzaget; IV, V. 7).40 Der kommunikative Impetus beschränkt sich nicht auf die deutschsprachige Lyrik. Walther hat sich an Darstellungstypen der lateinischen Vagantenlyrik orientiert (→ Die Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters) und interaktiv wohl auch eine gegenseitige produktive Beeinflussung befördert. Die überlieferungstechnische Vernetzung von Muget ir schouwen, waz dem meien (L 51,13) mit den Carmina Burana legt gerade für die naturhaften Lieder mit erotisierendem Tenor eine deutsch-lateinische Wechselbeziehung nahe, an der Walther maßgeblichen Anteil hatte.41 Auch mit der französischen und besonders der okzitanischen Lyrik ist Walther vernetzt (→ Altokzitanische Lyrik, → Liebeslyrik in Nordfrankreich). Sein zweistrophig überliefertes Lied Wol mich der stunde, daz ich sie erkande (L 110,13) ist eine Kontrafaktur von Guilhem de Cabestanh (Lo jorn qu’ie.us vi, dompna, primeiramen [An dem Tag, als ich Euch erstmals sah, Herrin], PC 213,6), für die er sich auch semantisch von der provenzalischen Vorlage leiten lässt.42 Im Preislied L 56,14 (siehe oben) widerlegt er polemische Scheltreden gegen die Deutschen,43 die der Trobador Peire Vidal artikuliert hat,44 und er benutzt für die geographische Grenzziehung eine Flüsseformel,45 deren Strukturprinzip er ebenfalls bei Peire Vidal vorgebildet findet.46 In Si wunder wol gemachet wîp (L 53,25, vgl. Abschnitt 2) zeigt sich, wie diese Referenzsysteme kontaminieren können. Für das im Minnesang unübliche Lob des ganzen weiblichen Körpers sowie die strukturierte Reihenfolge der descriptio-Elemente greift Walther auf Beschreibungsmuster der Vagantenlyrik zurück;47 das Farbspiel von Rot und Weiß (sô reine
39 Dazu Mertens 1995, 83–85. 40 Über Walther und Neidhart handelt Kokott 1989. 41 Eder 2020. 42 Eine solche Einschätzung entwickelt insbesondere Zotz 2005, 65–76, mit Hinweis auf Übereinstimmungen in Verszahl und Reimschema sowie die auffällige Verwendung des daktylischen Rhythmus. Brunner u. a. 2009, hier 65, urteilen dagegen eher vorsichtig und schreiben Walther keine Kontrafakturen zu. 43 Dies erkennt zuerst Nickel 1907. 44 Ben viu a gran dolor [Derjenige lebt in großem Schmerz], PC 364,13, 2. Tornada; Bon’ aventura don Dieus als Pisans [Gott möge den Pisanern gewogen sein], PC 364,14, Str. 2. Vgl. die Texte bei Anglade 1913 (Peire Vidal) und Långfors 1924 (Guilhem de Cabestanh). 45 Über deren weiteren Kontext handelt zuletzt Abel 2020. 46 Ab l’alen tir vas me l’aire [Mit meinem Atem ziehe ich die Luft ein] PC 364,1, Str. 2. 47 Hübner 1996, 232–237, sowie Bauschke-Hartung und Schweikle 2011, 596–600.
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rôt, sô reine wîz, | hie rœseloht, dort lilienvar; L 53,25, III, V. 3–4), den göttlichen Fleiß im Schöpfungsakt (Got hât ir wengel hôhen vlîz, | er streich sô tiure varwe dar; III, V. 1–2) und den ‚treffenden‘ Blick, der den Sehenden amorgleich abschießt (si sach mîn niht, dô sî mich schôz; | daz stichet noch, als ez dô stach; V, V. 7–8), entnimmt Walther dem Canzo-Sirventes von Peire Vidal, das auch die Deutschenschelte formuliert (PC 364,13, Str. 6). Die Erforschung weiterer Interferenzen steht noch aus. Intertextualität, Interdiskursivität und selbstbewusste Ich-Inszenierungen wirken zusammen und erstrecken sich sprachübergreifend auf ein größeres System lyrischen Sprechens, das über den Minnesang weit hinausgeht. Walther treibt sein vernetzendes Dichtungsverfahren stärker und offensiver voran als andere, und er nutzt es immer wieder auch, um auf die Rolle des Sängers in der Gesellschaft aufmerksam zu machen.
4 Formkunst Der Strophenbau von Walthers Minnesang, einziger Reflex der Melodien, die nicht überliefert sind (→ Melodien zu Minneliedern),48 fügt sich ein in die Tradition, welche die deutschsprachige Lyrik ab ca. 1180 bestimmt; auch Walther orientiert sich an der aus der Romania entlehnten dreiteiligen Kanzonenform (→ Metrik und Formanalyse). Die gleichgebauten, den Aufgesang bildenden Stollen bestehen bei ihm meist aus zwei (L 50,19), manchmal aus drei Versen (L 45,37), die verschiedenartig konstruierten Abgesänge zeigen ein Spektrum vom zweiversigen Minimaltyp (L 118,24) bis hin zu komplexen Achtzeilern (L 66,21).49 Die meist alternierenden Verse – daktylischer Rhythmus ist selten (so etwa in der Kontrafaktur L 110,13)50 – zeigen großen Variationsspielraum in Hebungszahlen und Kadenzgestaltung (vom Dreiheber bis zum Sechsheber allein in L 93,19), so dass die Fülle der möglichen Kombinationen, die Walther ausreizt, auch in seiner Formkunst zu einer bemerkenswerten Vielfalt führt. Ästhetische Klangspiele wie in Ich minne, sinne, lange zît (L 47,16)51 oder das partiell wieder grenzüberschreitend in die Spruchdichtung weisende Diu welt was gelf, rôt unde blâ (L 75,25), mit dem Walther reimtechnisch die romanischen coblas unissonans nachahmt, korrespondieren in ihrer Virtuosität mit der semantischen Komplexität von Walthers Minnesang (→ Form- und Klangkunst).
48 Ausnahmen bilden die Töne L 53,25 (Handschrift N) und L 51,29 (CB), zu denen linienlose Neumen tradiert sind; vgl. dazu Brunner u. a. 2009, 63. 49 Vgl. die Überschau in Brunner u. a. 2009, 50–56. 50 Vgl. Abschnitt 3, beziehungsweise Anm. 42. 51 Darüber handelt ausführlich Schanze 2020.
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5 Überlieferung und Rezeption Unter den Vertretern des Hohen Sangs ist Walther derjenige mit dem größten überlieferten Corpus; auch das spricht für sein Renommee. Seine Liebeslyrik ist in den drei wichtigen alemannischen Lyriksammlungen ABC tradiert und in der Weingartner und der Großen Heidelberger Liederhandschrift mit den prominenten Miniaturen des selben ikonographischen Typs ins Bild gesetzt, nämlich Walthers Selbstinszenierung im sogenannten Reichston (Ich saz ûf einem steine; L 8,4). Das Würzburger Hausbuch des Michael de Leone (vor 1355) bietet eine frühe tendenziöse Autorsammlung, die sich auf den Minnesang Walthers und – in dessen Fahrwasser – auf Reinmar zugeschriebene Liebeslyrik konzentriert, zusammengestellt offenbar als Ausdruck lokalpatriotischen Gedenkhandelns.52 Insgesamt überliefern rund 30 Handschriften vom dreizehnten bis ans Ende des fünfzehnten Jahrhunderts Liedstrophen Walthers, wobei die Streuüberlieferung bis in Epenhandschriften hineinreicht.53 Dies mag ein Reflex der schon früh einsetzenden Walther-Rezeption durch seine Kollegen, jüngeren Zeitgenossen und Dichter späterer Generationen sein. Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach und Thomasin von Zerklære beziehen sich auf Walther, er wird in mehreren Dichterkatalogen (Hugo von Trimberg, Ulrich von Singenberg u. a.) gerühmt, und er avanciert im ‚Wartburgkrieg‘ selbst zu einer literarischen Figur. Einzelne seiner Lieder werden durch → Ulrich von Liechtenstein (Ir sult sprechen willekomen; L 56,14) beziehungsweise in der Möringer-Ballade (Lange swîgen des hât ich gedâht; L 72,31) verarbeitet; für den wîp-frouwe-Streit um den Lyriker Frauenlob gilt Walthers Minnesang als Ausgangspunkt.54 Die bis in die Neuzeit ungebrochene Walther-Rezeption gewinnt Aufschwung in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts durch die Walther-Monographie Ludwig Uhlands von 1822 sowie die erste auf Vollständigkeit zielende wissenschaftliche Einzelausgabe seiner Lyrik durch Karl Lachmann aus dem Jahr 1827 (L), auf die auch die heute maßgeblichen Editionen von Christoph Cormeau (L/COR) und Thomas Bein (L/BEIN) zurückgehen (→ Edition und Editionsgeschichte). Die propagandistischen Parteinahmen in den Sangsprüchen, die Walther auf Geheiß seiner Gönner formuliert, haben eine nationalistische Vereinnahmung Walthers befördert, die im Falle des Preisliedes Ir sult sprechen willekomen (L 56,14) auch auf den Minnesang ausgreift: Hoffmann von Fallersleben benutzt den im Kontext einer Eigenwerbung formulierten Lobsang Walthers auf seine Landsleute (vgl. Abschnitt 3.) als Vorlage für das im helgoländischen Exil gedichtete ‚Lied der Deutschen‘, welches dann 1922 zur offiziellen Hymne des Deutschen Reiches wird.55 52 Zum Hausbuch Keyser 1966. 53 Siehe dazu Brunner u. a. 2009, 27–37. Werden die Belege für die Möringer-Ballade einbezogen, sind es einschließlich der Drucke bis zum Beginn des siebzehnten Jahrhunderts sogar 40 Zeugen. 54 Vgl. die Zusammenstellung dieser und weiterer Zeugnisse der Primärrezeption durch Hahn in 2VL 10 (1998), 692–693. 55 Siehe dazu Brunner u. a. 2009, 236–240.
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Die anhaltende Bekanntheit von Walthers Lyrik über Jahrhunderte hinweg und das Bestreben, dem Dichter eine Sonderstellung, in welcher er seine Zeitgenossen überrage, zuzuschreiben, bedingen einander. Erst in der jüngsten Forschung wird die tendenziöse Perspektive auf Walther und die ihm zugestandene monolithische Position als Rezeptionsphänomen entlarvt, während sein Minnesang wieder stärker auf die Dynamik von Traditionsgebundenheit und Variationsverfahren hin befragt und damit in vorgängigen und zeitgenössischen Dichtungspraktiken verankert wird.56 Walthers Minnesang bleibt in mancherlei Hinsicht dennoch eine Ausnahmeerscheinung, und gleichwohl lassen sich seine Eigenarten nur durch die hermeneutische Rückbindung an vorgängige und zeitgenössische Muster philologisch belastbar profilieren.
Literatur Stefan Abel: Spielarten des ‚begnadeten‘ Sehens in einigen altokzitanischen Liedern (Guilhem de Cabestanh, Jaufre Rudel, Peirol d’Alvernha) und in den Kontrafakturen und Paralleldichtungen Walthers von der Vogelweide. In: Wolfram-Studien 26 (2020), 373–428. Joseph Anglade (Hg.): Les poésies de Peire Vidal. Paris 1913 (Les Classiques français du Moyen Âge 11). Jeffrey Ashcroft: Min trutgeselle von der Vogelweide. Parodie und Maskenspiel bei Walther. In: Euphorion 69 (1975), 197–218. Ricarda Bauschke: Die ‚Reinmar-Lieder‘ Walthers von der Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstinszenierung. Heidelberg 1999 (GRM-Beiheft 15). Ricarda Bauschke-Hartung: Minnesang zwischen Gesellschaftskunst und Selbstreflexion im Alter(n)sdiskurs ‒ Walthers von der Vogelweide „Sumerlaten“-Lied. In: Jahrbuch der HeinrichHeine-Universität (2008/2009). Düsseldorf 2010, 333–344. Ricarda Bauschke-Hartung und Günther Schweikle: Kommentar. In: L/SCHW, Bd. 2, 535–828. [2011] Ricarda Bauschke: Minnesang III. Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide. In: GLMF 3: Lyrische Werke. Hg. von Volker Mertens und Anton Touber. Berlin u. a. 2012, 183–230. Ricarda Bauschke: Perspektiven der Walther-Forschung. Eine Einleitung. In: Wolfram-Studien 26 (2020), 9–26. Thomas Bein: Walther von der Vogelweide. Stuttgart 1997 (RUB 17601). Helmut Birkhan: Reinmar, Walther und die Minne. Zur ersten Dichterfehde am Wiener Hof. In: PBB 93 (1971), 168–212. Horst Brunner u. a. (Hg.): Walther von der Vogelweide. Epoche – Werk – Wirkung. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage. München 2009. Daniel Eder: Walther aus lateinischer Perspektive? Die Carmina Burana-Strophen 151a, 169a und 211a als Knotenpunkte intertextueller Konnektivität. In: Wolfram-Studien 26 (2020), 299–333. Gerhard Hahn: Walther von der Vogelweide oder Ein Spruchdichter macht Minnesang. In: Romantik und Moderne. Neue Beiträge aus Forschung und Lehre. Festschrift für Helmut Motekat. Hg. von Erich Huber-Thoma und Ghemela Adler. Frankfurt a. M. u. a. 1986, 197–212.
56 Bauschke 2020 und Kellner 2020.
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Gerhard Hahn: Walther von der Vogelweide. Eine Einführung. 2., durchgesehene Auflage. München u. a. 1989 (Artemis-Einführungen 22). [1989a] Gerhard Hahn: Zu den ich-Aussagen in Walthers Minnesang. In: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck. Hg. von Jan-Dirk Müller und Franz Josef Worstbrock. Stuttgart 1989, 95–104. [1989b] Gerhard Hahn: und hâst genuoc. Noch einmal zu Herzeliebez vrowelîn (L 49,25). In: Walther lesen. Interpretationen und Überlegungen zu Walther von der Vogelweide. Festschrift für Ursula Schulze zum 65. Geburtstag. Hg. von Volker Mertens und Ulrich Müller. Göppingen 2001 (GAG 692), 83–92. Wolfgang Haubrichs: Die Epiphanie der Person. Zum Spiel mit Biographiefragmenten in mittelhochdeutscher Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hg. von Elizabeth Andersen u. a. Tübingen 1998, 129–147. Albrecht Hausmann: Wer spricht? Strategien der Sprecherkonstituierung im Spannungsfeld zwischen Sangspruchdichtung und Minnesang. In: Sangspruchtradition. Aufführung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder. Hg. von Margreth Egidi, Volker Mertens und Nine Miedema. Frankfurt a. M. 2004 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 5), 25–43. Hedwig Heger: Das Lebenszeugnis Walthers von der Vogelweide. Die Reiserechnungen des Passauer Bischofs Wolfger von Erla. Wien 1970. Joachim Heinzle: Mädchendämmerung. Zu Walther 39,11 und 74,20. In: Verstehen durch Vernunft. Festschrift für Werner Hoffmann. Hg. von Burkhardt Krause. Wien 1997 (PhilGerm 19), 145–158. Werner Hoffmann: Walthers Weggang aus Wien und der Beginn seiner politischen Lyrik. In: Expedition nach der Wahrheit. Poems, Essays, and Papers in Honour of Theo Stemmler. Festschrift zum 60. Geburtstag von Theo Stemmler. Hg. von Stefan Horlacher und Marion Islinger. Heidelberg 1996 (Anglistische Forschungen 243), 93–108. Gert Hübner: Frauenpreis. Studien zur Funktion der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone. 2 Bde. Baden-Baden 1996 (Saecula spiritalia 34/35). Johannes Keller und Lydia Miklautsch (Hg.): Walther von der Vogelweide und die Literaturtheorie. Neun Modellanalysen von „Nemt, frouwe, disen kranz“. Stuttgart 2008 (RUB 17673). Beate Kellner: Spiel der Liebe im Minnesang. Paderborn 2018. Beate Kellner: Alte und neue Walther-Bilder. Die Macht der Imagination und die Spielregeln der Hohen Minne. In: Wolfram-Studien 26 (2020), 149–175. Peter Keyser: Michael de Leone (†1355) und seine literarische Sammlung. Würzburg 1966 (Gesellschaft für fränkische Geschichte, Reihe 9: Darstellungen aus der fränkischen Geschichte 21). Joachim Knape: Rolle und lyrisches Ich bei Walther. In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Hg. von Hans-Dieter Mück. Stuttgart 1989 (Kulturwissenschaftliche Bibliothek 1), 171–190. Hartmut Kokott: Walther und Neidhart. Zum Problem literarischer Interaktion mittelhochdeutscher Dichter. Eine Skizze. In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Hg. von Hans-Dieter Mück. Stuttgart 1989 (Kulturwissenschaftliche Bibliothek 1), 107–119. Carl von Kraus: Die Lieder Reimars des Alten. Bd. 1: Die einzelnen Lieder. Bd. 2: Die Reihenfolge der Lieder. Bd. 3: Reimar und Walther. München 1919 (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-philologische und historische Klasse 30/4, 6, 7). Hugo Kuhn: Herzeliebez vrowelîn (Walther 49,25). In: Medium Aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Festschrift für Kurt Ruh zum 65. Geburtstag. Hg. von Dietrich Huschenbett u. a. Tübingen 1979, 199–213. Arthur Långfors (Hg.): Les chanson de Guilhem de Cabestanh. Paris 1924 (Les Classiques français du Moyen Âge 42).
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Ricarda Bauschke
Volker Mertens: Der Hof, die Liebe, die Dame und ihr Sänger. Überlegungen zur Thematik und Pragmatik des Minnesangs am Beispiel von Liedern Walthers von der Vogelweide. In: Walther von der Vogelweide. Actes du Colloque du Centre d’Etudes Médiévales de l’Université de Picardie Jules Verne, 15 et 16 Janvier 1995. Hg. von Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok. Greifswald 1995 (WODAN 52, Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 39), 75–93. Jan Mohr: Guoten tac, bœs unde guot. Gesellschaftskritische Akzente in Walthers Liedlyrik und der Ort ihrer Geltung. In: Wolfram-Studien 26 (2020), 205–228. Wolfgang Mohr: Minnesang als Gesellschaftskunst. In: Deutschunterricht 6 (1954), 83–107. Jan-Dirk Müller: Ir sult sprechen willekomen. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge volkssprachlicher Lyrik. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 19 (1994), 1–21. Jan-Dirk Müller: Dichterbilder. Walther von der Vogelweide in der deutschen Literatur. In: WolframStudien 26 (2020), 127–148. Wilhelm Nickel: Sirventes und Spruchdichtung. Berlin 1907 (Palaestra 63). Theodor Nolte: Die Dame und die Damen, der Minnesänger und der Sangspruchdichter. Zu Walther von der Vogelweide C 34/L. 58,21 ff. In: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Hg. von Helmut Birkhan, unter Mitwirkung von Ann Cotten. Wien 2005 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 721), 383–401. Daniel Pachurka: Walther und der lateinische Dichter Heinrich von Avranches: Eine Konstellation in der politischen Lyrik um 1213/15. In: Wolfram-Studien 26 (2020), 335–353. Silvia Ranawake: Gab es eine Reinmar-Fehde? Zu der These von Walthers Wendung gegen die Konventionen der hohen Minne. In: OGS 13 (1982), 7–35. Olive Sayce: ‚Si wunderwol gemachet wîp (L. 53,25 ff.)‘: A Variation on the Theme of Ideal Beauty. In: OGS 13 (1982), 104–114. Christoph Schanze: Klangform und ‚Sinn‘. Formalistische Tendenzen bei Walther und Reinmar. In: Wolfram-Studien 26 (2020), 257–280. Manfred Günter Scholz: Walther von der Vogelweide. 2., korrigierte und bibliographisch ergänzte Auflage. Stuttgart u. a. 2005 (SM 316). Meinolf Schumacher: Die Welt im Dialog mit dem ‚alternden Sänger‘? Walthers Absagelied ‚Frô Welt, ir sult dem wirte sagen‘ (L. 100,24). In: WW 50 (2000), 169–188. Günther Schweikle: Die Fehde zwischen Walther von der Vogelweide und Reinmar dem Alten. Ein Beispiel germanistischer Legendenbildung. In: ZfdA 115 (1986), 235–253. Günther Schweikle: Walther und Wien. Überlegungen zur Biographie. In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Hg. von Hans-Dieter Mück. Stuttgart 1989 (Kulturwissenschaftliche Bibliothek 1), 75–87. Heike Sievert: Das ‚Mädchenlied‘. Walther von der Vogelweide: Under der linden. In: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter. Hg. von Helmut Tervooren. Stuttgart 1993 (RUB 8864), 129–143. Ralf-Henning Steinmetz: Gegenseitigkeit als Argument in Walthers Minnesang. In: ZfdA 132 (2003), 425–442. Anton Touber: Walther von der Vogelweide und Italien. In: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am WaltherSymposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Hg. von Helmut Birkhan, unter Mitwirkung von Ann Cotten. Wien 2005 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 721), 507–529. Ludwig Uhland: Walther von der Vogelweide, ein altdeutscher Dichter. Stuttgart u. a. 1822.
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Franz Josef Worstbrock: Politische Sangsprüche Walthers im Umfeld lateinischer Dichtung seiner Zeit. In: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck. Hg. von Jan-Dirk Müller und Franz Josef Worstbrock. Stuttgart 1989, 61–80. Nicola Zotz: Intégration courtoise. Zur Rezeption okzitanischer und französischer Lyrik im klassischen deutschen Minnesang. Heidelberg 2005 (GRM-Beiheft 19).
Anna Kathrin Bleuler
Neidhart
Die Frage, wer der mittelalterliche Autor Neidhart war, ist eine einfache Frage, die – wie es so oft der Fall ist bei einfachen Fragen – alles andere als einfach zu beantworten ist. Sie ist unmittelbar mit der Frage nach seinem Werk verbunden, denn alles, was man über Neidhart weiß beziehungsweise zu wissen glaubt, geht aus seinen Liedern hervor (sowie aus Erwähnungen bei anderen Autoren). Sie führt ins Zentrum textphilologischer Grundsatzdebatten, die seit Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der mittelhochdeutschen Literatur im neunzehnten Jahrhundert geführt werden und in deren Zuge so mancher Zugang erprobt wurde: von der Übertragung des neuzeitlichen Autor-Werk-Begriffs auf die mittelalterlichen Artefakte über verschiedene Umdefinitionen der Kategorie des Autors (produktionsästhetischer vs. rezeptionstheoretischer Autorbegriff) bis hin zum Plädoyer für eine Verabschiedung des Autorbegriffs fürs Mittelalter.1 Manche Versuche, diese Fragen zu beantworten, haben Neidhart und seinem Werk wohl mehr geschadet als genutzt. Zu nennen ist hier die Arbeit des LachmannSchülers Moriz Haupt (1808–1874), der in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine kritische Neidhart-Ausgabe erstellte, die das originale Œuvre des Dichters bieten sollte.2 Haupt ist problematischerweise von einem letztgültigen, festgefügten Autortext ausgegangen, der im Laufe der Überlieferung einem Prozess des Zerfalls ausgeliefert war, die Möglichkeit von Fassungsvarianten – wie sie für Lieder, die aus einer mündlichen Vortragspraxis hervorgehen, anzunehmen ist – zog er hingegen nicht in Betracht. Methodisch ist er seinem Lehrer dabei nicht gefolgt. Denn anders, als es die textkritische Methode Lachmanns vorsieht, versuchte er die Texte nicht durch den kritischen Vergleich verschiedener Handschriften zu rekonstruieren, sondern legte seiner Ausgabe nur einen Überlieferungszeugen zugrunde, nämlich die älteste erhaltene Neidhart-Sammlung der Riedegger Handschrift R (Ende des dreizehnten Jahrhunderts, Niederösterreich). Das Verfahren nach einem „weichen Leithandschriftenprinzip“3 resultierte aus seiner kritischen Prüfung des Liedguts, wonach alles, „was in R nicht steht […] keine äussere gewähr der echtheit“ hat.4 Dass die Kategorie des Autors dabei zur Projektionsfläche seines eigenen ästhetischen und moralischen Anspruchs an die Dichtung wurde, zeigt sich u. a. daran, dass ihn sein Glaube an die Echtheit der R-Texte nicht davon abhielt, auch Lieder und Strophen aus 1 Stellvertretend für die umfangreiche Forschungsliteratur zu diesem Thema sei Schnells Beitrag (1998) genannt. 2 In Haupts Worten: „Mir lag zunächst daran die echte gestalt der neidhartischen lieder nach kräften herzustellen“ (Haupt 1986 [1858], V). 3 Fischer und Sappler 1999, XVIII–XXIV, hier XX (bezogen auf die eigene Ausgabe). 4 Haupt 1986 [1858], IX. https://doi.org/10.1515/9783110351859-042
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R als ‚unecht‘ auszuscheiden und andere in R fehlende Texte zum ‚echten‘ Bestand hinzuzufügen.5 Auf diese Weise sind von den ca. 150 unter Neidharts Namen überlieferten Liedern lediglich 66 (29 Sommer-, 37 Winterlieder) in Haupts 1858 erschienener Ausgabe enthalten. Trotz kritischer Stimmen, die die textphilologische Arbeit Haupts von Beginn an begleitet haben,6 ist die Geschichte der Neidhart-Forschung bis ins einundzwanzigste Jahrhundert im Wesentlichen die Wirkungsgeschichte dieser ‚bereinigten‘ kritischen Ausgabe geblieben.7 Sie hat das Neidhart-Bild mehrerer Generationen maßgeblich geprägt. Der Grund dafür, dass sich mittelhochdeutsche Autoren so schwer fassen lassen, besteht darin, dass sich ‚Autor‘ und ‚Werk‘ im Laufe der Zeit durch die schriftliche (und womöglich auch mündliche) Weitergabe der Texte voneinander entkoppelt haben. Anstelle festgefügter, autorisierter Œuvres stehen oftmals komplexe und weitverzweigte Überlieferungen, die sowohl auf der Ebene des Einzeltextes als auch auf Werkebene inkongruent sind und die einen direkten Zugriff auf die historischen Autoren und ihre Werke verwehren. Von diesem Problem ist Neidhart in besonders gravierender Weise betroffen, denn die Überlieferung der ihm zugeschriebenen Lieder unterscheidet sich von der sonstigen Minnesang-Überlieferung zum einen darin, dass sie außergewöhnlich viele Handschriften aus einem außergewöhnlich langen Zeitraum umfasst, und zum anderen darin, dass diese Handschriften außergewöhnlich stark voneinander abweichende Textbestände aufweisen. Alles in allem stehen in 25 Handschriften und drei Drucken vom dreizehnten bis sechzehnten Jahrhundert etwa 1500 Strophen. Die Neidhart-Überlieferung liegt damit noch vor der → Walther-Überlieferung und ist die am besten dokumentierte Lyrik des Mittelalters.8 Ein Beispiel für die Diskrepanz des Textbestands stellt die Neidhart-Sammlung des Codex Manesse 5 Vgl. NL 1, 153. Haupt hat seine Kriterien zur Klassifizierung des Liedguts nicht näher ausgeführt. „Die Gründe für den Ausschluß eines beträchtlichen Teiles der unter Neidharts Namen bezeugten Lieder erscheinen oft als recht widersprüchliche ad-hoc-Erklärungen, in denen auf angeblich nicht zu ‚Neidharts art‘ gehörende formale, stilistische und v. a. thematische Züge verwiesen wird […]“ (Schweikle 1990, 33). 6 Das Für und Wider der Echtheits- und Unechtheitsdeklarationen dokumentiert Wiessner in seinem Wörterbuch und Kommentar zu Neidharts Liedern (vgl. Wiessner 1954a sowie Wiessner 1954b). 7 Vgl. Simon 1968, 35, sowie Schweikle 1990, 37. Ihr nachhaltiger Einfluss ist zu weiten Teilen auf Wiessner zurückzuführen, der auf Haupt aufbauend das editorische Konstrukt ‚Neidhart‘ durch konjekturalkritische Eingriffe zusätzlich verfeinerte. In der 1955 erschienenen editio minor schied Wiessner weitere Strophen und Lieder als unecht aus. Dieser Fehlansatz ist in der Fortführung der Wiessner’schen Ausgabe durch Hanns Fischer und Paul Sappler nicht grundsätzlich korrigiert worden. Die derzeit aktuelle, fünfte Auflage der ‚Lieder Neidharts‘ bemüht sich zwar um größere Überlieferungsnähe (Fischer und Sappler 1999, XVIII–XXIV), indem sie einen knappen Lesartenapparat einführt und die von Haupt als unecht ausgesonderten Zusatzstrophen der echten Lieder und die angeblich unechten R-Lieder in den Textbestand aufnimmt; die Wahl eines kleineren Schriftgrads brandmarkt dieses ‚zusätzliche‘ Liedgut jedoch weiterhin mit dem Stigma der Unechtheit. 8 Eine Übersicht über die Neidhart-Überlieferung bietet Schweikle 1990, 1–20.
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(Anfang des vierzehnten Jahrhunderts, Zürich) dar, die heute (nach Blattverlusten, die auf das siebzehnte Jahrhundert zurückgehen) 41 Lieder enthält (16 Sommer-, 14 Winterlieder; elf Lieder ohne → Natureingang).9 Diese drittgrößte erhaltene Sammlung von Neidharts Liedern10 weist keine Entsprechungen mit den etwa zeitgleich zu datierenden Sammlungen der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift A (Ende des dreizehnten Jahrhunderts, Elsass) sowie der Weingartner/Stuttgarter Liederhandschrift B (um 1300, evtl. Konstanz) auf, was darauf schließen lässt, dass die C-Lieder in den gemeinsamen Vorstufen der Handschriften A, B und C nicht vertreten waren, sondern auf Quellen zurückgehen müssen, die unabhängig von der *AC- und *BCTradition im Umlauf waren.11 Die C-Texte weichen sowohl in gattungspoetologischer Hinsicht als auch hinsichtlich der darin enthaltenen Selbstaussagen des Dichter-/ Sängers von denen der Handschriften A und B ab, wodurch ein davon abweichendes Neidhart-Bild evoziert wird.12 Zur Überlieferungsproblematik kommt erschwerend hinzu, dass Neidhart, dessen Name womöglich lediglich ein Künstlername ist (Nithart – neuhochdeutsch: ‚der Feindselige‘), genauso wie die meisten anderen mittelhochdeutschen Autoren historisch nicht bezeugt ist. Alle Informationen zu ihm stammen aus innerliterarischen Zeugnissen (Erwähnungen bei anderen Dichtern beziehungsweise in der unter seinem Namen überlieferten Dichtung), die keine (im heutigen Sinn) zuverlässigen Quellen darstellen, da in ihnen eine klare Trennung zwischen biografischer Aussage und poetischer Selbstdarstellung nicht möglich ist.13 Wie unsicher das ‚Terrain‘ ist, auf dem solche Informationen gründen, zeigt etwa der langjährige Forschungsstreit über die Frage nach der Datierung von Neidharts → Kreuzliedern sowie über die damit einhergehende Frage, ob Neidhart an einem Kreuzzug teilgenommen hat oder nicht (und wenn ja, an welchem).14 Diese Forschungskontroverse endete in den 1980er Jahren mit der Feststellung Ulrich Müllers, dass die beiden Kreuzlieder SL 11 (SNE I: R 12) und SL 12 (SNE I: R 19) als ‚Heimat‘ des Sprechers unterschiedliche Orte nennen 15,
9 Vgl. Bleuler 2008, 277–281. 10 Überboten wird sie lediglich durch die Riedsche/Berliner Handschrift c (zweite Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, vermutlich Nürnberg) sowie die Riedegger/Berliner Handschrift R (Ende des dreizehnten Jahrhunderts, Niederösterreich). 11 Vgl. Holznagel 1995, 346. 12 Anders etwa als die Neidhart-Lieder in den Handschriften A und B zeigen etliche der in C überlieferten Lieder eine vom hohen Minnesang abweichende Strophenform (die sogenannte Reienstrophe). Mit diesem Merkmal entfernt sich die Neidhart-Sammlung in C formal vom Aussagesystem des hohen Minnesangs. Passend dazu enthält sie eine Gruppe von (für den hohen Minnesang nur vereinzelt belegten) Refrainliedern (C 20–22; 23–25; 206–209; 210–212), die (bis auf C 23–25) ausschließlich in C tradiert sind. Zur Charakteristik der Sommerlieder der Handschrift C vgl. Warning 2007 sowie Bleuler 2008. 13 Vgl. Schweikle 1990, 57. 14 Vgl. zusammenfassend Schweikle 1990, 60. 15 Vgl. SL 11,10, V. 7 [SNE I: R 12,N(9), V. 7]: Österreich; SL 12,7, V. 3 [SNE I: R 19,7, V. 3]: Landshut.
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was – wenn man die Sprecherrollen der Lieder mit Neidhart identifiziert – bedeutet, dass diese auf zwei unterschiedlichen Kreuzzügen entstanden sein müssen.16 Da offenbar niemand an eine Teilnahme Neidharts an gleich zwei Kreuzzügen glauben mag (in Frage kommen der Kreuzzug 1217–1221 nach Damiette in Ägypten und der einzige Zug Kaiser Friedrichs II. ins Heilige Land 1228–1229), ist diese Diskussion seither verstummt.17 Die Frage nach dem historischen Autor Neidhart ist also mit zwei theoretischmethodisch bislang ungelösten Fragen verbunden: erstens der nach der Definition seines Werks und zweitens der nach der Unterscheidung zwischen biografischer Selbstaussage und poetischer Selbststilisierung. Der reduzierte (auf Haupts Ausgabe zurückgehende) Textbestand der ATB-Ausgabe (LN) evoziert ein Bild des Autors Neidhart, das, wenn man den Gesamtbestand der unter seinem Namen überlieferten Lieder – wie ihn die Salzburger Neidhart-Ausgabe (SNE) präsentiert – einbezieht, weitgehend dekonstruiert wird. Dieser Unsicherheitsfaktoren eingedenk bleibt wenig übrig, was man über den historischen Autor aussagen kann. Es sind vor allem frühe zeitgeschichtliche Bezüge in den Liedern, frühe Erwähnungen bei anderen Dichtern sowie Dialektmerkmale, die einige Anhaltspunkte geben.18 Aus ihnen lässt sich schließen, dass Neidhart spätestens im Verlauf des zweiten Jahrzehnts des dreizehnten Jahrhunderts einem breiteren Publikum bekannt und im bayerisch-österreichischen Raum mindestens bis in die 1230er Jahre als Sänger aktiv gewesen sein muss. Des Weiteren legen sie nahe, dass er aus Bayern (womöglich aus Landshut) stammte und im Laufe seines Lebens nach Österreich umsiedelte,19 wobei dieser um 1230 angenommene Wechsel – dies legen die mannigfachen Erwähnungen im Œuvre nahe – einen tiefgreifenden Wandel in seinem Leben darstellte (u. a. WL 24 [SNE I: R 2/c 80]). Als neuer Wohnort wird medelicke genannt (WL 24,9, V. 5 [SNE I: R 2,N3/c 80,14/s 38,10, V. 5]: Medelich R; Madlich c, Medling s; gemeint ist wahrscheinlich Mödling bei
16 Vgl. Müller 1983, 98–99. 17 Auszunehmen ist hier Bleck, der sich in seiner 1998 erschienenen Monografie ‚Neidharts Kreuzzugs-, Bitt- und politische Lieder als Grundlage für seine Biographie‘ mit erstaunlicher Unbefangenheit über die genannten Vorbehalte hinwegsetzt. Mit welcher Hartnäckigkeit sich die Annahme von Neidharts Beteiligung an einem Kreuzzug dagegen im außeruniversitären Bildungsdiskurs hält, zeigt zum Beispiel ein 2002 erschienener Ungarn-Reiseführer, in welchem es im historischen Überblick heißt: „1217–1218: András (Andreas) II. bricht zum Kreuzzug auf. In seiner Begleitung befinden sich die Minnesänger Neidhart von Reuenthal und Tannhäuser“ (vgl. Der Grüne Reiseführer 2002, 40). Diese Aussage, die jeder Grundlage entbehrt, geht auf eine Überlegung Hermann Schmolkes aus dem Jahr 1875 zurück (zu Schmolkes Hypothese vgl. Böhmer 1968, 56). 18 Vgl. z. B. die Erwähnung Neidharts im zwischen 1210 und 1220 entstandenen Roman ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach (312,12); zu den zeithistorischen Bezügen in den Liedern vgl. Schweikle 1990, 60–61. 19 Vgl. u. a. die Erwähnung Bayerns: WL 37,4 (SNE I: c 54,5), Landshuts: SL 12,7 (SNE I: R 19,7/c 28,6), Österreichs beziehungsweise des Wiener Hofs: SL 11 (SNE I: R12); explizite Erwähnung der Umsiedlung: u. a. WL 24,8 (SNE I: c 80,13).
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Wien), als neuer Gönner Friedrich II. der Streitbare von Österreich (1211–1246).20 Der in den Liedern vielfach betrauerte Wechsel von Bayern nach Österreich wird – hier oszillieren die Texte – wahlweise mit dem Verlust der Gunst des Herrn, des Herzogs Ludwig I. von Bayern (1173–1231), begründet (WL 24,8 [SNE I: c 80,13]) oder damit, dass in Bayern die Steuern zu hoch seien (WL 23,12 [SNE I: c 123,12/d 3,12]), und einmal sogar damit, dass Neidharts Haus in Bayern angezündet worden sei (WL 11,7 [SNE I: R 28,7/d 12,6]). Die Lieder enthalten eine Fülle an Selbstaussagen des lyrischen Ich, die – wie gesagt – weniger als biografische Aussagen des Autors Neidhart zu begreifen sind denn als Bestandteil eines poetischen Spiels mit der Autor-Imago.21 Diese Aussagen produzieren Vorstellungen von Autor und Autorschaft, die sich beim Lesen oder Hören der Lieder auf den Autornamen beziehungsweise in der mündlichen Vortragssituation auf den real anwesenden Dichter-/Sänger (Neidhart) übertragen können. Der Eindruck, dass der Autor spricht, entsteht insbesondere dann, wenn das Sänger-Ich aus dem dörper-Geschehen (→ Sommer- und Winterlieder) heraustritt und ad spectatores von persönlichen und politisch-zeitgeschichtlichen Angelegenheiten spricht.22 Ferner entsteht er, wenn das Sänger-Ich von anderen Figuren als ‚Neidhart‘ angesprochen wird, wie es hauptsächlich in den sogenannten Trutzstrophen vorkommt.23 Wie wirkmächtig dieses inszenierte Autorprofil Neidharts im Mittelalter war, zeigt sich an der Neidhart-Überlieferung des fünfzehnten Jahrhunderts, in der eine zunehmende Identifizierung des Autornamens Neidhart mit der in den Texten entworfenen Gestalt des in der Hofferne agierenden Sängers und dörper-Feinds zu verzeichnen ist. Die Wirkmächtigkeit des inszenierten Autorprofils zeigt sich des Weiteren an der Forschungsgeschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Die bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gängige Bezeichnung Neidharts als ‚Neidhart von Reuental‘ beruht auf der Gleichsetzung des realen Autors mit dem in den Liedern entworfenen Sänger-Ich, das wahlweise als ‚Ritter von Riuwental‘ und – wie gesagt – als ‚Neidhart‘ bezeichnet wird. Dafür, dass der reale Autor ohne den Namenszusatz von Riuwental firmierte, sprechen indes die zahlreichen zeitgenössischen literarischen Erwähnungen des Dichters sowie die Corpus-Überschriften in den Handschriften, die
20 Vgl. WL 23,12 (SNE I: c 123,12/d 3,12), WL 35,7 (SNE I: C 10/c 93,14). 21 Es ist natürlich denkbar, dass die realen Lebensumstände Neidharts in seine Dichtung eingegangen sind; das lässt sich heute aber nicht mehr nachvollziehen. 22 Persönliche Aussagen finden sich z. B. in SL 22,6 (SNE I: R 52,6); politisch-zeitgeschichtliche Aussagen in WL 37 (SNE I: C 192–194) oder in SNE II: c 35,2 und 4; in den Bereich der Selbstaussagen gehören ferner die sogenannten Bittstrophen, in denen das Sänger-Ich um materiellen Lohn fleht (vgl. u. a. WL 35,7 [SNE I: C 10/c 93,14]), sowie die sogenannten Bilanzstrophen, in denen er Angaben zum Umfang seines lyrischen Werks macht (vgl. WL 28,6 [SNE I: c 88,5] sowie WL 30,9c [SNE I: c 90,12]). 23 Vgl. z. B. WL 6,5a (SNE I: R 42,6).
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ihn allesamt als (Her) Nithart titulieren.24 Über die genaue Herkunft und den Stand Neidharts ist somit bis heute nichts Sicheres bekannt. Das Bild, das von diesem (fiktiven) Sänger entworfen wird, ist vielgestaltig und ambivalent. Seine Lieder singt er nicht am Hof für die Adligen, sondern begibt sich damit ins hofferne Milieu der dörper.25 Mit seinem Gesang und seiner höfischen Verhaltenskompetenz – das ist das dominierende Thema der Winterlieder – wirbt er einerseits um die dörper-Mädchen und gerät so in Konkurrenz und Feindschaft zu den dörpern, was oftmals in Gewalt ausartet. Andererseits dienen seine Lieder – genau, wie es am Hof der Fall ist – als Vortragskunst, die der dörperlichen Gesellschaft Freude bereiten soll. Der Sänger verkörpert dabei alles andere als das Ideal eines höfischen Ritters: In etlichen Texten wird er als verarmter Adliger dargestellt, dessen Grundbesitz den sprechenden Namen Riuwental (neuhochdeutsch: ‚ Jammertal‘) trägt.26 Er hat Kinder zu versorgen (WL 23,12 [SNE I: c 123,12/d 3,12]); zu Hause wartet eine Ehefrau (WL 37,2 [SNE I: C 193/c 54,2]). Sein Verhalten ist ambivalent: Einerseits versucht er, die höfischen Normen zwanghaft und entgegen der Rivalität der dörper aufrechtzuerhalten, andererseits verletzt er sie selbst. Unter dem Deckmantel höfischer Minnewerbung werden sexuelle Ambitionen sichtbar; es wird als höfische Liebe ausgegeben, was doch bloße Verführung ist (u. a. WL 6,4 [SNE I: R 42,4]). Ergebnis ist ein höchst labiles Sänger-Ich, das mit den dörper-Figuren zu verschmelzen droht.27 In den Sommerliedern ist die aus dem Minnesang bekannte Minnerelation vordergründig verkehrt: Die Frau hat den Sänger zum Minneziel erkoren, sie übernimmt die Rolle der Begehrenden, verkündet den Sommer, fordert auf zu Freude und Tanz und drängt den männlichen Gegenpart damit in die passive Rolle, die im hohen Minnesang die Dame innehat (u. a. SL 18 [SNE I: R 56], SL 19 [SNE I: R 25]). Die Emanzipation der Frau ist allerdings nur eine scheinbare: Dies gilt aus produktionsästhetischer Sicht – denn was hier vorliegt, ist keine Frauenrede, sondern eine von einem männlichen Autor erschaffene weibliche Stimme – ebenso wie im Hinblick auf das in den Liedern entworfene fiktive Geschehen selbst. Denn dem weiblichen Begehren geht der – materielle – Dienst des vermeintlich höfischen Ritters von Riuwental voraus (u. a. SL 18,3 [SNE I: R 56,3]): Jener ist es, der das Geschehen steuert, indem er die Mädchen mit teuren, symbolträchtigen Geschenken (u. a. Schuhe, Rosenkranz: SL 18,3, V. 2–5 [SNE 24 Vgl. u. a. die lyrischen Totenklagen auf Neidhart beim Marner, um 1260 (Schweikle 1970, Nr. 12), bei den mitteldeutschen Spruchdichtern Rubin/Robyn, Ende des dreizehnten Jahrhunderts (Schweikle 1970, Nr. 6), sowie bei Hermann Damen, 1280/1300 (Schweikle 1970, Nr. 14); vgl. ferner die Corpus-Überschriften in A: Nithart, C: Her Nithart, R: hie hebt sich an hern neitharts weis, c (auf dem Vorderdeckel): des Neitharts rayen. 25 Neidharts dörper-Welt weist zwar Elemente der historischen bäuerlichen Alltagswelt auf, jedoch sind die dörper nicht mit dem realen Bauernstand gleichzusetzen. Es handelt sich um von Neidhart geschaffene Kunstfiguren, die einen überständischen Verhaltenstypus repräsentieren, der die höfischen Idealbilder konterkariert (vgl. Schweikle 1994). 26 Vgl. u. a. SL 22,6 (SNE I: R 52,6), WL 3,7 (SNE I: R 27,6). 27 Vgl. Müller 1986, 421.
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I: R 56,3, V. 2–5]) ködert, wobei seinen Verführungskünsten nicht nur eine, sondern offenbar alle erliegen (u. a. SL 18,2 [SNE I: R 56,2]). Die Stimme der Frau fungiert als Sprachrohr für die Glorifizierung des (vermeintlich) höfischen Ritters und Sängers – durch ihren Mund erscheint dieser in einem glanzvollen Licht –, während sie sich mit ihrer (für die Rezipienten unverkennbar fehlgeleiteten) Verehrung einer zweifelhaften Gestalt letztlich selbst degradiert. Stellt man sich die Lieder mündlich vom Autor vorgetragen vor, erkennt man, dass sie stets dann eine zusätzliche Bedeutungsdimension annehmen, wenn der von den Mädchen angehimmelte Ritter/Sänger als ‚Neidhart‘ benannt ist. Dann nämlich fällt ihr zweifelhaftes Lob – im Sinne eines ironischen Selbstverweises – auf den real anwesenden Sänger Neidhart selbst zurück. Der Kunstgriff in Neidharts Liedern – das gilt insbesondere für die frühere Überlieferung des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts – besteht darin, dass Hof und gegenhöfische Welt keine entgegengesetzten Bereiche darstellen, sondern dialektisch aufeinander bezogen sind: Beides ist in beidem enthalten, was den Unterhaltungswert der Lieder steigert.28 In der späteren Überlieferung wird das komplexe Aussagesystem jedoch zunehmend auf den einfachen Gegensatz von Ritter versus Bauer reduziert.29 Das Ich der Lieder trägt nun mehrheitlich den Namen ‚Neidhart‘ und erscheint als schalkhafter, höfisch-ritterlicher Bauernfeind.30 Die Transformation Neidharts vom Liedermacher zum Schwankhelden lässt sich an Handschrift f (zweite Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, Bayern oder Österreich)31 illustrieren, die über die Textorganisation und Anordnungsprinzipien anderer Neidhart-Sammlungen hinausgehend den Versuch eines aus Liedern erarbeiteten Schwankromans bietet.32 Die 19 Lieder dieser Sammlung (13 Sommer-, zwei Winterlieder, vier Lieder ohne Natureingang, allesamt ohne Melodien) enthalten Überschriften, in denen der Name Neidhart jeweils mit einer Inhaltsangabe versehen ist (z. B. Neithart wie er von dem tancze floche; f 7), wodurch er – anders, als es etwa in den Handschriften A, R, C und c der Fall ist – nicht den 28 Das Publikum kann über die dörper lachen, die sich höfisch benehmen wollen, es aber nicht können; es kann über den Ritter von Rüwental lachen, der sich in der hoffernen Welt vom unhöfischen Gebaren der dörper affizieren lässt; es kann über die Dorfbewohnerinnen lachen, die sich einbilden, von einem Adligen verehrt zu werden, in Wahrheit aber auf einen sich präpotent gebarenden Krautjunker hereinfallen. Es kann schließlich über den Sänger Neidhart lachen, der in der mündlichen Vortragssituation momentweise (über die Namenskoinzidenz) höchstselbst als die im Lied entworfene Sängergestalt von zweifelhaftem Ruhm erscheint. 29 Vgl. Bleuler 2008. 30 In den Handschriften des fünfzehnten Jahrhunderts verselbständigt sich der Name Neidhart noch in anderer Hinsicht, indem er als eine Art Gattungsbezeichnung für Lieder, die Neidharts dörperThematik behandeln, fungieren kann (vgl. Handschrift d: ain ander nithart, aber ein nithart; Handschrift w: Ein Nythart, Handschrift f: Nythardus [Liedüberschrift für den Krechsenschwank]). 31 Zur Handschriftenbeschreibung vgl. Boueke 1967, 32–37. Eine Transkription der f-Schwanklieder liegt in Marelli 1999, 50–201 vor. In der SNE wird der Textbestand von f (mit wenigen Ausnahmen) lediglich im Variantenapparat vermerkt. Im Folgenden wird nach SNE zitiert. 32 Vgl. Becker 1978, 93.
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historischen Liederdichter bezeichnet, sondern die literarische Figur Neidhart. Zwar ist die Vorstellung von einem Liedermacher und Unterhaltungskünstler Neidhart in vielen Texten noch lebendig. Greifbar wird sie etwa in der Schilderung von Neidharts Hofkarriere (f 18), die die Stunden vor der Aufführung in die fiktionsimmanente Situation des Liedes hineinnimmt: Berichtet wird von der fürstlichen Bewirtung, die dem Künstler Neidhart durch die herczogin (f 18,2, V. 1) höchstpersönlich zuteilwird. Nach Beendigung des Mahls beobachtet Neidhart durch das Fenster, wie sein Publikum (es waren ritter vnd auch knecht; 4, V. 5) in Scharen eintrifft. Er wird herzlich empfangen und von allen Seiten darum gebeten, hubsche[] obentewre (5, V. 8) zum Besten zu geben, worauf er mit dem Veilchenschwank (f 18,6–12) anhebt. Diese Vorstellung des Künstlers Neidhart geht im Ensemble der Lieder jedoch vollständig auf in der Figur des ränkeschmiedenden Bauernfeinds, der seine poetischen Fähigkeiten zum Schaden seiner Widersacher einsetzt. Die Texte (größtenteils Herzogs- und Bauernschwänke)33 sind mit Geschick inhaltlich verknüpft und dramaturgisch so angeordnet34, dass sie einen Spannungsbogen aufbauen, der in der Darstellung einer gigantischen Schlacht zwischen den oden tumen pawern (f 19,4, V. 1) resultiert, welche Neidhart – im Heuschober versteckt – durch einen Spalt in der Wand beobachtet. In die Schwankliedreihe eingeordnet ist eine Gruppe von vier Frauengesprächsliedern mit sommerlichem Natureingang (f 13–16). Diese Lieder ergeben zusammen einen Abschnitt zu Neidharts Liebesleben.35 Die im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert zu beobachtende Umwandlung Neidharts zum Bauernfeind und Schwankhelden findet Niederschlag im Schwankbuch ‚Neidhart Fuchs‘ (erschienen zwischen 1491 und 1566 in drei süddeutschen Druckausgaben mit Holzschnitten).36 Dieses enthält eine in Gedichten verfasste Lebensgeschichte, die sich an den Protagonisten aus Neidharts Liedern anlehnt. Das Schwankbuch nennt diesen ‚Neidhart Fuchs‘ und macht ihn zum Rat Herzog Ottos des Fröhlichen von Österreich (1301–1339) sowie zum Kollegen der offenbar ebenfalls zum Hofe Ottos gehörenden Schalksfigur Pfarrer von Kahlenberg. Es ist denkbar, dass es in der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts an der Residenz der österreichischen Herzöge Friedrich des Schönen (1289–1330) und v. a. Otto des Fröhlichen einen Neidhart-Nachfolger gegeben hat, der in die Rolle des Liederdichters Neidhart schlüpfte und womöglich zu den Verfassern und Verbreitern der Neidhart-
33 Vgl. f 1: Bremsenschwank; f 2: Hosenschwank; f 3: Fassschwank; f 4: Bilderschwank; f 5: Schwank von Neidharts tauber Frau; f 6: Kreuzlied kombiniert mit Mutter-Tochter-Dialog; f 7: Bers Beistand; f 8: Jägerschwank; f 9: Krechsenschwank; f 10: Salbenschwank; f 17: Mönchsschwank; f 18: Veilchenschwank II. 34 Zur Anordnung und inhaltlichen Verknüpfung der Lieder vgl. Becker 1978, 75–93. 35 Vgl. Becker 1978, 86. Diese Lieder sind insofern in den Kontext eingebunden, als sie dem dörperFeind Neidhart explizit in den Mund gelegt sind (z. B. Neythart von einer muter und irrer tochtere, f 15). 36 Zu den Drucken vgl. Schweikle 1990, 18–19.
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Lieder gehörte.37 „Dieser Vorgang ist erstmals faßbar in einer Handschrift der Österreichischen Nationalbibliothek (Ms. 1,23, früher Nr. 164) aus dem vierzehnten Jahrhundert: Zur Datierung eines Lucianus-Glossars ist im ‚explicit‘ angegeben: scriptum anno a translacione Neithardi in eccl. S Stephani Wienne primo.“38 Die Forschung ist sich einig darin, dass sich die Notiz auf eine Beisetzung bezieht, die im vierzehnten Jahrhundert stattgefunden hat und deren Grabmal, das sich an der Südwest-Ecke des Wiener Stephansdomes befindet, bis heute erhalten ist. Dieser mit dem Grabmal in Verbindung gebrachte Neidhart wird im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert in etlichen lateinischen und deutschen Quellen erwähnt,39 wobei ein Epitaphium von 1479 erstmals den für diese spätmittelalterliche Sagengestalt kennzeichnenden Beinamen ‚Fuchs‘ überliefert.40 Mitte des sechzehnten Jahrhunderts erscheint als weitere Namensform ‚Otto Fuchs‘ sowie schließlich im siebzehnten Jahrhundert – in Analogie zum bekannten Tierepos – der Name ‚Reinhard Fuchs‘.41 Zu den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bearbeitungen des NeidhartStoffs gehören des Weiteren Wandmalereien sowie die Neidhartspiele, deren gemeinsames Handlungsmotiv das Zusammentreffen der höfischen und der als lächerlich dargestellten bäuerlichen Welt mit gewalttätigen Schlägereien zwischen Rittern und Bauern als Höhepunkten ist.42 Die Autor-Imago Neidharts – das Bild des Minnedichters und -sängers – ist hier kaum noch existent, der Bauernfeind Neidhart hat den Liederdichter Neidhart überlebt.43
Literatur Hans Becker: Die Neidharte. Studien zur Überlieferung, Binnentypisierung und Geschichte der Neidharte der Berliner Handschrift germ. fol. 779 (c). Göppingen 1978 (GAG 255). Reinhard Bleck: Neidharts Kreuzzugs-, Bitt- und politische Lieder als Grundlage für seine Biographie. Göppingen 1998 (GAG 661). Anna Kathrin Bleuler: Überlieferungskritik und Poetologie. Strukturierung und Beurteilung der Sommerliedüberlieferung Neidharts auf der Basis des poetologischen Musters. Tübingen 2008 (MTU 136). Jörn Bockmann: Translatio Neidhardi. Untersuchungen zur Konstitution der Figurenidentität in der Neidhart-Tradition. Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos 61).
37 Vgl. die Studie von Bockmann 2001. 38 Schweikle 1990, 64–65. 39 Vgl. die Belege bei Wiessner 1958, 32–34. 40 Vgl. Schweikle 1990, 65. 41 Vgl. die Belege bei Schweikle 1990, 65–66. 42 Zu den bildkünstlerischen Nachwirkungen vgl. Schweikle 1990, 140–141; zu den Spielen vgl. Grafetstätter 2013. 43 Der Beitrag ist während eines Forschungsaufenthalts am Wissenschaftskolleg zu Berlin (2017/18) entstanden.
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Maria Böhmer: Untersuchungen zur mittelhochdeutschen Kreuzzugslyrik. Rom 1968 (Studi di filologia tedesca 1). Dietrich Boueke: Materialien zur Neidhart-Überlieferung. München 1967 (MTU 16). Hanns Fischer und Paul Sappler: Einleitung. In: LN, IX–XLII. [1999] Andrea Grafetstätter: Ludus compleatur. Theatralisierungsstrategien epischer Stoffe im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Spiel. Wiesbaden 2013 (Imagines medii aevi 33). Der Grüne Reiseführer. Budapest und Ungarn. Mit Hotels und Restaurants. Michelin. Karlsruhe 2002. Moriz Haupt: Vorrede [zuerst 1858]. In: NL 1, V–XI. [1986] Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen u. a. 1995 (BiblGerm 32). Paolo Marelli: Gli „Schwanklieder“ nella tradizione neidhartiana. Trascrizione dai manoscritti f/c/ pr, traduzione, commento. Con edizione critica del „Bremenschwank“. Göppingen 1999 (GAG 658). Jan-Dirk Müller: Strukturen gegenhöfischer Welt. Höfisches und nichthöfisches Sprechen bei Neidhart. In: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1200. Bielefelder Kolloquium 1983. Hg. von Gert Kaiser und dems. Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), 409–451. Ulrich Müller: Die Kreuzfahrten der Neidharte: Neue Überlegungen zur Textüberlieferung und Textexegese. In: Neidhart von Reuental. Aspekte einer Neubewertung. Hg. von Helmut Birkhan. Wien 1983 (PhilGerm 5), 92–128. Rüdiger Schnell: ‚Autor‘ und ‚Werk‘ im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven. In: Wolfram-Studien 15 (1998), 12–73. Günther Schweikle (Hg.): Dichter über Dichter in mittelhochdeutscher Literatur. Tübingen 1970 (Deutsche Texte 12). Günther Schweikle: Dörper oder Bauer. Zum lyrischen Personal im Werk Neidharts. In: Ders.: Minnesang in neuer Sicht. Stuttgart u. a. 1994, 417–439. Günther Schweikle: Neidhart. Stuttgart 1990 (SM 253). Eckehard Simon: Neidhart von Reuental. Geschichte der Forschung und Bibliographie. Den Haag u. a. 1968 (Harvard Germanic Studies 4). Jessika Warning: Neidharts Sommerlieder. Überlieferungsvarianz und Autoridentität. Tübingen 2007 (MTU 132). Edmund Wiessner: Vollständiges Wörterbuch zu Neidharts Liedern. Leipzig 1954. [1954a] Edmund Wiessner: Kommentar zu Neidharts Liedern. Leipzig 1954. [1954b] Edmund Wiessner: Neidharts Grabdenkmal am Wiener St. Stephansdome. In: Wiener Geschichtsblätter 13 (1958), 30–38.
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Burkhard von Hohenfels und Gottfried von Neifen 1 Burkhard von Hohenfels Überlieferung, Herkunft und Zeugnisse Die Heidelberger Liederhandschrift C überliefert unter dem Namen Burkhards von Hohenfels 81 Strophen in 18 Liedern. Das Wappenbild, welches das Korpus einleitet, weist auf die in der Nähe des Bodensees belegte Familie von Hohenfels hin.1 Sehr wahrscheinlich gehörte der Minnesänger ihr an. Die Quellenlage zur Identität Burkhards von Hohenfels ist nicht eindeutig.2 Urkundlich fassbar sind zwischen 1191 und 1292 wahrscheinlich drei Personen dieses Namens, von denen sowohl ein zwischen 1216 und 1228 (oder vielleicht sogar, je nach Beurteilung der Quellen, bis 1235 oder 1242) belegter Ministeriale als auch ein 1249 bis 1292 bezeugter Konstanzer Domherr als Autor erwogen wurden.3 Falls es sich bei dem Dichter um den bis 1228 (beziehungsweise 1235/42) belegten Burkhard handelt, dann ist er einmal mit Kaiser Friedrich II. und mehrmals im Umkreis König Heinrichs (VII.) als Zeuge nachweisbar.4 Er taucht mindestens zweimal zusammen mit dem Vater und dem Bruder Gottfrieds von Neifen in Quellen auf und dürfte daher wahrscheinlich auch mit diesem und anderen Minnesängern bekannt gewesen sein. Je nach Beurteilung und Datierung eines Fragments einer Proskriptionsliste kann erwogen werden, ob Burkhard wie die Familie Gottfrieds von Neifen den Aufstand Heinrichs (VII.) gegen Kaiser Friedrich II. unterstützte.5 Es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass der Minnesänger mit einem gleichnamigen Konstanzer Domherrn (belegt 1249 bis 1292) identisch ist und die Lieder somit später datiert werden sollten. Es ist unklar, ob dieser ein jüngerer Verwandter des Ministerialen ist. Der intellektualistische und allegorische Gestus einiger Lieder mag geistliche Bildung, zumindest aber die Nähe zu geistlichen Diskurs- und Argumentationsmustern nahelegen.6 Auch urkundet dieser Domherr einmal mit Rüdiger II. Manesse und dessen Sohn Johannes,7 die mit der Sammlung der Liederhandschrift C in Verbindung gebracht werden, in der die Lieder Burkhards unikal 1 Vgl. Bumke 1976, 39; Meyer 2007, 160–161. 2 Vgl. Meves 2005, 227–242, und Meyer 2007, 127–193. 3 Vgl. Meyer 2007, 128, 145–147, 159, 165–193. 4 Vgl. Meves 2005, 227–242. 5 Vgl. Meyer 2007, 147–153, mit weiterer Literatur. 6 So vorsichtig erwogen bei Hübner 2008, 62. 7 Vgl. Meyer 2007, 159 und 178–179. https://doi.org/10.1515/9783110351859-043
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überliefert sind. Zwingend sind diese Indizien nicht, und die Forschung neigt weiter zu einer Identifikation des Minnesängers mit dem älteren Ministerialen.8 Das Bild, welches das Burkhard-Korpus in der Liederhandschrift C einleitet, zeigt einen adlig gekleideten Mann, der einer Frau ein Schriftstück reicht. Obwohl es aufgrund seiner generischen Qualität kaum belastbar ist, kann man zumindest konstatieren, dass kein Geistlicher abgebildet ist. Trotz der belegten Nähe des älteren Burkhards zum Stauferkönig Heinrich (VII.) lässt sich die Vorstellung, dass der Stauferhof der primäre Ort der Produktion und Rezeption von Burkhards Minnesang gewesen sei, nicht beweisen, ja nicht einmal wahrscheinlich machen. Ebensowenig ist die Vorstellung eines ‚spätstaufischen Dichterkreises‘ oder einer ‚schwäbischen Dichterschule‘, deren Mitglied Burkhard gewesen sei, verifizierbar.9 Auch der Versuch der älteren Forschung, diesen vermeintlichen ‚Kreis‘ mit einer stilgeschichtlichen ‚Wende‘10 im Minnesang zu verbinden – einer Wende zu einem gegenüber dem ‚Hohen‘ Minnesang formal-objektiveren Stil –, ist kaum haltbar. Burkhards Lieder stehen thematisch und stilistisch dem reflektierenden Minnesang etwa → Heinrichs von Morungen oder → Reinmars näher als der formal-experimentierenden Lyrik Gottfrieds von Neifen (s. u.). So lässt sich das Burkhard-Korpus weder für eine ‚nachklassische Wende‘ noch für eine vermeintliche schwäbische Gruppenbildung vereinnahmen.
Liedtypen, Formmerkmale und zentrale Themen Dehnen die urkundlichen Belege den Zeitraum, in dem Träger dieses Namens als potenzielle Autoren greifbar werden, über ein ganzes Jahrhundert hinweg, so gilt dies auch für Stil und Inhalt der Lyrik Burkhards. Einerseits schließt sich der größere Teil seiner Lieder mit ihrem bildreichen Aufgreifen gängiger Minnesangthemen und -motive deutlich an den introspektiven Minnesang etwa Reinmars oder Heinrichs von Morungen an.11 Andererseits weisen viele der Lieder Metaphern und Bildfelder auf, die auch in den späteren deutschen Minneallegorien des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts vorkommen (wie die Bildfelder des Gartenbaus, der Jagd oder der 8 Vgl. Wachinger 2006, 694; Meyer 2007, 170–171; Hübner 2008, 62. 9 Die Forschung erwog lange die Vorstellung einer solchen ‚Schule‘ oder eines ‚Dichterkreises‘, die man am Hof der deutschen Stauferkönige Heinrich (VII.) und Konrad IV. verorten wollte und deren wichtigste Mitglieder neben Burkhard die ebenfalls in Schwaben beheimateten Minnesänger Gottfried von Neifen (s. u.) und Ulrich von Winterstetten gewesen seien. Diese Vorstellung muss wohl als Forschungsfiktion bezeichnet werden. Es kann weder belegt werden, dass diese drei Sänger ihre Lieder am Stauferhof vortrugen, noch lässt sich die Existenz eines solchen Kreises überhaupt beweisen. Kritisch zu dieser These und ihrer Forschungsgeschichte Meves 2005, 231–232; Meyer 2007, 127–193 und 391–401; Hübner 2008, 22 und 62–64. 10 Vgl. Kuhn 1967. 11 Vgl. Hübner 2000, 301–310.
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Belagerung). Eine ‚Wende‘ des Minnesangs12 kann man mit den Liedern sicher nicht ansetzen, wenn man sich überhaupt auf solch teleologische Entwicklungsmodelle einlassen will. Glaubt man an eine frühere Datierung der Lieder, dann können ihre metaphorisch-allegorischen Techniken sicher als zukunftsweisend und die Bezüge zu neidhartischen Mustern (→ Neidhart) als sehr zeitaktuell angesehen werden. Plädiert man für eine Datierung ins spätere dreizehnte Jahrhundert, dann ließe sich der Zug zum Allegorischen eher einer für diese Zeit typischen lyrischen Tendenz zuordnen. Allegorie und allegorische Denkformen treten jedenfalls in vielen Liedern Burkhards auf. Sie zeigen sich etwa in assoziativ-allusiven Bildfeldern, also der Verknüpfung bestimmter Themenfelder (z. B. der inneren Gedanken und Gefühle) mit bestimmten Metaphoriken (etwa der Falkenjagd). Bei aller Vielgestaltigkeit der Lieder entsteht der Eindruck einer gewissen Korpuskohärenz, der sich durch die Persistenz gewisser Bildfelder und insgesamt durch die auffällige Bildsprache und metaphorische Techniken ergibt. Mit einer Ausnahme (LDM C Burk 50–53) besteht Burkhards Werk aus drei- oder fünfstrophigen Liedern.13 Strukturell stechen einige Lieder durch formal komplexe und außergewöhnliche Abgesänge heraus (LDM C Burk 6–10; 14–16; 17–21; 34–36). Auch wenn sich zumindest für eines der → Tanzlieder (LDM C Burk 1–5) ein auffällig daktylischer Rhythmus erschließen lässt, liegen die Emphase und poetische Qualität von Burkhards Liedern in ihrem Bildreichtum und nicht primär in der Sprachklangartistik. Dies setzt Burkhards Lieder deutlich von denen Gottfrieds von Neifen ab. Formal und inhaltlich lassen sich Minnekanzonen im traditionellen Themenspektrum des Minnesangs von Tanz- und Gesprächsliedern unterscheiden. Die Tanz- (LDM C Burk 1–5; 45–49) und Gespielinnengesprächslieder (LDM C Burk 27–31; 64–68) zeigen eine deutliche Nähe zu Neidharts Liedern und gehören vielleicht – sofern die Identifikation mit dem Ministerialen Burkhard von Hohenfels, also dem älteren Träger des Namens, richtig ist – zu den frühesten erhaltenen Beispielen einer Rezeption von neidhartischen Mustern.14 Sie könnten aber auch auf andere, kaum schriftlich belegte Traditionen einer volkssprachlichen Tanz- und Freudelyrik zurückgehen, wie sie teilweise auch in den Carmina Burana greifbar werden.15 Dominierende Themen dieser Gruppe von Liedern im Burkhard-Korpus sind Freude und Freiheit. Sie finden sich im kollektiven Tanz- und Festgeschehen und in männlichem Liebesbegehren (LDM C Burk 45–49) artikuliert, spielen aber auch in den Frauengesprächsliedern eine Rolle. Hier wird etwa der Dialog zweier junger Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten über eine arrangierte Ehe vorgeführt: Die Frauen diskutieren Möglichkeiten einer Befreiung aus deren Zwang (LDM C Burk 64–68). In einem anderen Lied imaginieren ein adliges und nicht-adliges Mädchen 12 Vgl. Kuhn 1967. 13 Zitiert wird nach Markus Stock (Hg.): Burkhard von Hohenfels, in: LDM. 14 Vgl. Hübner 2008, 64. 15 Vgl. Worstbrock 2001.
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ein gemeinsames freies Leben, das durch Schnitterinnenarbeit (diese sicherlich mit erotischen Konnotationen) möglich sein und das adlige Mädchen vor der Disziplinierung und Sozialkontrolle durch eine ältere Verwandte bewahren soll (LDM C Burk 27–31). Gestaltet werden hier weibliche Freundschaftsentwürfe, deren intersektionale Wirksamkeit im vertraulichen Gespräch sich in Wunschprojektionen eines von Freude und Entscheidungsfreiheit geprägten Lebens äußert.16 In beiden Fällen ist allerdings ein männlicher Minnesänger impliziert, der sich zum Zeugen ‚geheimer‘ weiblicher Wünsche macht.17 Die Lieder mögen daher sowohl das (utopische) Potenzial weiblicher Freiheitssehnsucht als auch den männlichen Wunsch nach erhöhter sexueller Verfügbarkeit ‚freier‘ junger Frauen thematisieren. Denkbar bleiben beide Deutungslinien. Ein weiteres Gesprächslied (LDM C Burk 54–58) präsentiert die Stimmen einer ratsuchenden Frau und eines ‚wissenden‘ Mannes in einem minneethischen und gendernormativen Dialog. In den Tanzliedern finden sich ausgeprägte rhythmische Formen (LDM C Burk 1–5), die vielleicht sprachlich-klanglich ein Tanzgeschehen simulieren könnten,18 und eine besondere Intensität bildhafter Sprache (LDM C Burk 45–49). Das Thema frühlingshafter Liebes- und Tanzfreude ist konventionell, aber die Lieder sind in ihrer sprachlichen Ausgestaltung einzigartig. So steht in LDM C Burk 45–49 der → Natureingang nicht einfach in Konvergenz zur Freude der Akteure. Vielmehr wird in ausladender Allegorie die kreationsmythische und gleichzeitig erotische Zeugung von Freude beschworen. Die mit Sonnenhitze (oder Gewitterblitzen) gemischte Luft schwängert im intimen Aneinanderschmiegen den durch das Wasser des Regens erfrischten Leib der Erde, die so mit Freude befruchtet wird: Dô der luft mit sunnen viure wart getempert unde gemischet, dar gap wazzer sîne stiure, dâ wart erde ir lîp erfrischet. dur ein tougenlîchez smiegen wart si vröuden frühte swanger. (1, V. 1–5)
Solche Bildlichkeit mag auf gelehrt-lateinische Muster zurückgreifen,19 passt aber im Kontext des Gesamtkorpus auch zu den bildreichen Allegorien innerer Minne-Prozesse,20 die besonders in den Minnekanzonen zum Tragen kommen. In der Tat ist diese Artifizialität ein Markenzeichen der Lieder Burkhards. Ihn deswegen im Ver-
16 Vgl. Cramer 1983, 50–51; Händl 1987, 238–243; Fritsch-Staar 1993 und 1995, 166–171; Janota 2002, 16–17. 17 Vgl. Joldersma 1984, 208–210. 18 Vgl. Hübner 2012, 124–125. 19 Vgl. Goheen 1984, 59–62; Wachinger 2006, 692, mit weiterer Literatur. 20 Vgl. Scheuer 2014, 158–160.
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gleich mit seinen Vorgängern als ‚formalistisch‘ einzustufen,21 wird seiner Lyrik aber nicht gerecht. In den Minnekanzonen, die den Hauptteil des Korpus ausmachen, herrschen Frauenpreis (in LDM C Burk 34–36 fast ausschließlich klagloser Frauenpreis22) und Thematiken von Leid und Liebessehnsucht vor, wie sie für den ‚Hohen‘ Minnesang und seine Konstellationen typisch sind: Das Subjekt des Minneaffekts kommuniziert die Sondererfahrung des Verliebtseins an eine abwesende und vielleicht auch abweisende Dame. In diesen Kanzonen wird die Liebe des männlichen Subjekts nicht erwidert. Beieinandersein mit der besungenen Dame wird nur in der Phantasie des Sänger-Ichs imaginiert (z. B. LDM C Burk 73, wo der Sänger am Feuer ihrer Gedanken rasten will). Burkhard findet eine innovative Sprache, um solche „Reziprozitätsphantasie[n]“23 und Wünsche einer gedanklichen Liebesgegenseitigkeit auszudrücken. Das einzige ausdrücklich minnedidaktische Lied des Korpus (LDM C Burk 59–63) bezieht diese Gegenseitigkeit auf beide Geschlechter und entfaltet sie in einer Art Minneanleitung für junge vrouwen und man. Auch hier spielt die gedankliche Attraktion eine entscheidende Rolle: In LDM C Burk 61 etwa kann sich das wehselgedenken (‚wechselseitiges Aneinanderdenken‘, wohl ein Neologismus) der Liebenden aneinanderschmiegen. Die eigentliche Innovationsleistung der Lieder liegt in der Bildsprache und den lose und allusiv ausgeformten allegorischen Bildfeldern. Die metaphorische Qualität der Lieder zeigt sich nicht nur in der Menge von geistreichen Bildern, die gelegentlich proto-concettistische Züge annehmen, sondern auch in der literarischen Technik ihrer poetischen Anwendung: Als typische Techniken lassen sich die effektvolle Oszillation zwischen eigentlicher und uneigentlicher Redeweise (z. B. LDM C Burk 69–73 oder 74–78), der Umschlag von Vergleich in Metapher (z. B. LDM C Burk 50–53 oder 79–81) sowie zahlreiche Beispiele einer strophenübergreifenden Persistenz von Bildfeldern in wörtlicher, thematischer, alludierender oder transformierender Wiederaufnahme nennen.
Allegorien des Inneren Wenngleich manche von Burkhards Liedern auch sprachklanglich und formal avanciert sind (so etwa LDM C Burk 1–5 oder 59–63) oder in extremer Abbreviatur die minnesängerische Sprache zu neuer Prägnanz führen (LDM C Burk 79–81), liegt die eigentliche Bedeutung seiner Minnelyrik darin, dass sie innere Gefühls- und Kognitionsprozesse metaphernreich anschaulich macht. Besonders signifikant ist die Arbeit der Minnekanzonen an einer Semiotisierung des Inneren und an lyrisch-bildgebenden Verfahren für psychologische Vorgänge im minnebetroffenen Subjekt. Die 21 Vgl. Kuhn 1967. 22 Vgl. Hübner 2000, 308–310. 23 Egidi 2020, 392.
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Metaphorik dient nicht nur der Intensivierung des literarischen Ausdrucks, sondern auch der Sichtbarmachung nicht wahrnehmbarer Vorgänge innerhalb der (männlichen) Vorstellungs- und Gefühlswelt über sinnliche Analoga aus einer im weiteren Sinne adlig geprägten und stilisierten Lebenswelt.24 Dementsprechend werden psychologische Vorgänge in Allegorien, Bildern und Vergleichen veranschaulicht, die zwar zum größeren Teil für die mittelalterliche Liebessprache konventionell, deren strophenübergreifende Persistenzen und Entfaltung allegorischer Szenarien aber außergewöhnlich sind. Diese Intensität bildhafter Sprache ist in den Minnekanzonen an ein offensichtliches Interesse an kognitiven Vorgängen gekoppelt, die besonders in Bildern der Jagd und in Tiervergleichen anschaulich gemacht werden. Solche Bilder und Vergleiche können, wie im „Minne-Bestiarius“25 (LDM C Burk 6–10), eher statisch-allegorisch angelegt sein;26 psychologische Vorgänge werden aber auch in mehreren Liedern in relativ kohärent durchgeführten allegorischen Szenerien entfaltet. Burkhard scheint dabei im weiteren Sinne von triadischen kognitiven Modellen beeinflusst worden zu sein; die Darstellung innerer minnepsychologischer Prozesse in einigen seiner Lieder erinnert an Schematiken der inneren Sinne, wie sie im dreizehnten Jahrhundert üblich sind.27 Innere psychische Instanzen werden in einer Reihe von Liedern getrennt (sin, muot, gedanc), was vielleicht aristotelische Vorstellungen, sicherlich aber zeitgenössische Modelle kognitiver Vorgänge voraussetzt. Das herze kann so den sin zusammen mit dem muot und den Gedanken (als Jagdhunden) aussenden, Wild (die Liebe der Dame) zu jagen (LDM C Burk 37–41): Mîn herze hât mînen sin wilt ze jagen ûz gesant. der vert nâch mit mînem muote, vil gedanke vert vor in. (1, V. 1–4)
Oder das Subjekt des Minneaffekts sendet seine Gedanken wie abgerichtete Falken zur Jagd aus, aber diese geraten in die Gefangenschaft der Dame und kehren nicht zum Ich als Falkner zurück (LDM C Burk 50–53). Solche Trennung der Ich-Instanzen ist nicht neu im Minnesang, wird aber bei Burkhard häufiger und auffällig kreativ in metaphorischer oder allegorischer Spekulation durchgespielt.28 Die Bildsprache der Minnekanzonen baut auch andere Bildfelder aus: Neben der Jagd und Falknerei sind dies etwa Natur und Gartenbau sowie belehnungsrituelle
24 Vgl. Hübner 2008, 64–65. 25 Kuhn 1967, 34. 26 Vgl. Gerhardt 1973; Wachinger 2006, 690; zu möglichen theologischen Implikationen Scheuer 2015, 54–56. 27 Vgl. Kundert 2005, 127–130. 28 Vgl. Egidi 2013, 251–254; Stock 2018, 356–370.
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(LDM C Burk 74–78) oder kriegerisch-belagerungstechnische Kontexte. So entwirft LDM C Burk 69–73 eine Szenerie, in der das minneaffizierte Subjekt ohne Aussicht auf Erfolg das eigene, von der Dame eroberte Herz belagern muss, als Reflexion auf die selbstentfremdende Kraft der Minne.29 Minne wird in Burkhards Liedern als imaginationsanregende Kraft verstanden. Dies thematisieren die Lieder und stellen es gleichzeitig performativ aus, da sie im Wortsinn bildgebende Verfahren entwickeln, die das menschlich(-männliche) Innere in der Sondererfahrung Minne zeigen. Solche Szenarien und mit ihnen assoziierte Bildfelder (Falkenjagd; Liebeskrieg; Szenarien des seelischen Inneren und innere Konflikte) sind im Minnesang gängig,30 werden bei Burkhard aber sehr konsequent eingesetzt und allegorisch durchgespielt. Thematisch bewegen sich diese Repräsentations- und Kognitionsprozesse in den meisten Minnekanzonen aber weitgehend im Kontext eines vergleichsweise klassischen Liebesmodells, da sie im minnesangtypischen Kontext einer Fixierung der Gedanken des Subjekts auf eine überhöhte Dame stehen. Burkhards Lyrik ist von minnebezogenen Gedankenspielen und optativen Spekulationen geprägt.31 Man hat Burkhard zu Recht als „psychologischen Theoretiker“ bezeichnet, dessen Fokus auf der „Introversion des Minneverhältnisses“32 liegt. Hierin liegt sein besonderer Beitrag zur Geschichte des deutschen Minnesangs. Die Lyrik Burkhards hatte aber keine erkennbare Nachwirkung auf spätere Minnesänger.
2 Gottfried von Neifen Überlieferung, Herkunft und Zeugnisse In der Heidelberger Liederhandschrift C sind unter dem Namen Gottfrieds von Neifen 190 Strophen in 51 Liedern und Liedfragmenten überliefert, die wohl seit den Anfängen der Liedersammlung zu ihrem Kernbestand gehörten und mehr als die Hälfte der Strophen des mutmaßlichen frühen Kerns der Sammlung ausmachten.33 Der Umfang des Korpus – es zählt zu den größten und einflussreichsten Minnesangkorpora überhaupt – indiziert, dass die Sammler der Heidelberger Liederhandschrift C diese Lyrik besonders schätzten und eine außergewöhnliche Anzahl an Strophen zur Verfügung hatten. Einzelne Strophen sind anonym in anderen Handschriften erhalten.34 Ob Stro-
29 Zur Liebeskrieg- und Belagerungsmetaphorik in LDM C Burk 70–71 siehe Hübner 2008, 65–72, mit weiterer Literatur. 30 Vgl. Kellner 2018, 187–299. 31 Vgl. Eikelmann 1988, 296–301. 32 Beide Zitate Kuhn 1967, 39. 33 Vgl. Kornrumpf 1988; Holznagel 1995, 170. 34 Siehe in LDM Leidinger, Kommentar zu: Gottfried von Neifen.
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phen (und wenn ja, welche) aufgrund des unbedingten Autorprinzips der Handschrift C von den Sammlern diesem Korpus zugeordnet wurden (vielleicht wegen gewisser stilistischer oder anderer Eigenschaften), kann nicht entschieden werden. Diskussionen um die ‚Echtheit‘ vieler Strophen wurden jedenfalls inzwischen weitgehend beigelegt.35 Die Neifen-Überlieferung in C weist viele Leerabstände auf,36 so dass davon ausgegangen werden kann, dass die Redaktoren mit vielen weiteren Strophen, also einem noch umfangreicheren Œuvre, rechneten. Auch dies zeugt von der Hochschätzung des Autors durch die Sammler. Gottfried von Neifen gehörte einer schwäbischen Adelsfamilie an. Sein Name findet sich in Urkunden aus den Jahren 1234–1279.37 Er ist zwischen 1234 und 1237 im Umkreis König Heinrichs (VII.) belegt; allerdings kann aus den historischen Zeugnissen nicht geschlossen werden, dass seine Lyrikproduktion mit dem königlichen Hof verbunden war. Wie für Burkhard von Hohenfels ist auch für Gottfried von Neifen die Vorstellung, dass er Teil eines ‚spätstaufischen Dichterkreises‘ gewesen sei, aufgrund historischer Quellen nicht belegbar, selbst wenn Gottfrieds Familie, wie man an Zeugenlisten sehen kann, eng mit den Staufern verbunden war. Gottfrieds Vater, Heinrich von Neifen, war ein früher Unterstützer Kaiser Friedrichs II. und diente als Erzieher von dessen Sohn, König Heinrich (VII.). Später gehörte Gottfried von Neifen zusammen mit seinem Vater und Bruder zu den Anhängern des gegen Kaiser Friedrich II. rebellierenden Königs Heinrich (VII.). Nach Heinrichs Unterwerfung wurden Gottfried, sein Bruder und sein Vater 1235 inhaftiert; 1236/37 kam es offenbar zur Aussöhnung mit Friedrich II. Nach 1237 ist Gottfried nicht mehr in der großen Reichspolitik, sondern lediglich in Urkunden von regionaler Bedeutung belegt. Ein Zusammentreffen zwischen Gottfried von Neifen und dem Ministerialen Burkhard von Hohenfels lässt sich nicht beweisen, ist aber wahrscheinlich, da dieser mindestens zweimal mit Gottfrieds Vater und Bruder urkundet.38 Wenn es sich dabei um den Minnesänger Burkhard handelt, kann man eine Bekanntschaft zwischen den beiden Dichtern annehmen.
Liedtypen, Formmerkmale und zentrale Themen Im Neifen-Korpus lassen sich eine überwiegende Anzahl von Minnekanzonen von thematisch variableren Erzähl- oder Szenenliedern unterscheiden. Die Minnekanzonen
35 Vgl. Schiendorfer 2009, 477. Kraus sonderte in seiner einflussreichen Edition aus fragwürdigen stilkritischen und impliziten moralischen Gründen (KLD II) eine Reihe von Liedern als unecht aus. Bereits de Jong (1923, 17) plädierte dafür, „den Wert der Ueberlieferung“ über die Frage der Echtheit oder Unechtheit der Strophen zu stellen, da diese sich nicht entscheiden lasse. 36 Vgl. Schubert 2008. 37 Dies und die folgenden Informationen nach Meves 2005, 353–371. 38 Vgl. Meves 2005, 238–241.
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verhandeln typisch minnesängerische Klage- und Freude-Themen. Sie zeugen von eminenter rhetorischer und sprachklanglicher Meisterschaft und weisen eine geradezu programmatische formale Experimentierfreude auf.39 In farbenreicher, gelegentlich synästhetischer Metaphorik variieren sie stilistisch und thematisch einen sehr ähnlichen Bestand an Bausteinen, unter denen stabile Elemente wie das Beklagen von Minneverwundung, die Fixierung auf den lachenden oder lächelnden roten Mund und den Gruß der Dame sowie die Anrufung einer personifizierten Minne als Motive öfters wiederkehren.40 Eine Untergruppe dieser Werbungskanzonen bietet eine an sexuellen Konnotationen reiche Variation: In ihnen (LDM C Neif 1–5; 6–10; 102–105) stellt sich die umworbene Frau nicht als Adlige, sondern überraschend als Flachsschwingerin heraus.41 Die Minnekanzonen werden regelmäßig durch einen Jahreszeiteneingang eingeleitet.42 Die Wiederkehr ähnlicher Motive und Formulierungen erschwert die Unterscheidung der einzelnen Lieder, sorgt aber gleichzeitig für einen relativ homogenen Motiv-, Stil- und Sprachduktus, der in nicht geringem Maße auch zeitgenössische und spätere Minnesänger beeinflusste. Gottfried von Neifen kann so als „der eigentliche ‚Klassiker‘“43 in der Geschichte der Minnekanzone gelten. In einer kleineren Gruppe von sechs Szenenliedern im genre objectif (→ Erzähllied) spielen dienende Frauenfiguren eine wichtigere Rolle. Die in diesen Liedern gestalteten Szenen sind erotisch aufgeladen und stehen zum Teil sicherlich unter dem Einfluss der Lieder Neidharts.44 Drei dieser Lieder sind Pastourellen (LDM C Neif 113– 116; 125–127; 160–162), in denen die Frauenfiguren genretypisch dienenden und arbeitenden Bevölkerungsgruppen zugeordnet werden (Garnwinderin, Wasserträgerin und Flachsschwingerin).45 Sie bieten kurze pastourellentypische Dialoge und Szenen von Verführungsversuchen. Diese Lieder weisen unterschiedliche Grade formaler Artifizialität auf. Selbst das metrisch einfache Refrainlied zur Flachsschwingerin (LDM C Neif 160–162) scheint im Refrain den iterativen Vorgang des Flachsschwingens zu imitieren:46 ez kam umb einen mitten tac, dô hôrte ich eine swingen: Wan si dahs, wan si dahs, si dahs, si dahs. (1, V. 3–6) 39 Vgl. Stock 2004; Worstbrock 2007; Bleumer 2010; Braun 2013, 218–220. 40 Zum lachenden roten Mund bei Gottfried von Neifen Dartmann 2011, 97–116; Stock 2012, 396–397; Eder 2016, 221–222. 41 Zu dieser Liedgruppe und ihren Traditionen Tomasek 1996; Herweg 2010; zu den sexuellen Konnotationen siehe in LDM Leidinger, Kommentar zu C Neif 4. 42 Vgl. Eder 2016, 207–228. 43 Hübner 2008, 73. 44 Besonders deutlich im sogenannten Wiegenlied (LDM C Neif 188–189); dazu Lienert 1996; allgemeiner zu Neifens Neidhart-Rezeption Herweg 2010. 45 Vgl. Brinkmann 1985, 130–153; Herweg 2013, 76–95. 46 Vgl. in LDM Leidinger, Kommentar zu C Neif 160–162; zitiert wird nach dieser Edition.
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Weitaus virtuoser ist die aus lückenlosen äquivoken Endreimen gebaute Pastourelle LDM C Neif 113–116. Hier überlagert das Spiel mit gleichen Reimklängen das narrative Syntagma des Erzähllieds in selbst für Gottfried von Neifen einzigartiger Weise.47 Ins Obszöne geht besonders das Büttnerlied (LDM C Neif 153–157), das in der Frühgeschichte des kodifizierten deutschsprachigen erotischen Lieds einen Platz beanspruchen kann.48
Formkunst und Sprachklang Bei aller thematischen Innovation in den Szenenliedern stechen Gottfrieds Lieder vor allem durch die Brillanz ihrer Formkunst heraus. Prägend für die Mehrzahl seiner Minnekanzonen ist die auffällig gehäufte Anwendung von Wiederholung und Variation auf der Wortebene, besonders von Anaphern, Paronomasien, grammatischen Reimen und einer komplexen und experimentierfreudigen Endreimverwendung (→ Form- und Klangkunst). Selbst wenn gelegentlich formale Subtilitäten zum Tragen kommen, die nicht hörbar sind (wenn etwa in einem reimtechnisch ohnehin forciert durchgestalteten Lied die erste Silbe einer jeden Strophe auf die letzte reimt; LDM C Neif 26–30),49 scheinen Gottfrieds Lieder auf eine Rezeption zu zielen, in der sprachlich-klanglich induzierte Unmittelbarkeitseffekte und ästhetisches Intensitätserleben gegenüber einem verstehenden Entschlüsseln dominieren.50 Lange Zeit stand die literaturwissenschaftliche Mediävistik dieser Kunst Gottfrieds eher ratlos gegenüber, da sich entscheidende Charakteristika seiner Lyrik üblichen ‚verstehend‘-hermeneutischen Verfahren nicht öffnen. Sobald man sich aber stärker mit den wirkungsrhetorischen und sprachklanglichen Aspekten der Lieder auseinandergesetzt hat,51 wurde deutlich, dass die Montage von konventionellen Formeln und Leitworten sowie die dichten Netze von Wiederholung, Variation und Reim in den Liedern einen eigenen Sprachklang-Stil erzeugt, der nicht nur einzelne Lieder prägt, sondern korpusübergreifend nachweisbar ist. Er ist (in intensiveren und weniger intensiven Ausprägungen) das zentrale gestalterische Mittel zur Erzeugung von euphonischen Effekten im NeifenKorpus. Man muss nicht einmal die extremeren Formspiele Neifens zitieren (etwa LDM C Neif 11–15; 26–30; das unvollständige Lied 45–47; 59–63; 92–95; 96–101; 110–112; 113–116; 130–134; 172–174), um den Effekt von Reim und Paronomasie zu illustrieren.
47 Vgl. Worstbrock 2007. 48 Vgl. Brednich 1973, 604–605. 49 Vgl. Cramer 1998, 176. 50 Nach Hench (2017, 52–54) entsteht eine entscheidende Spannung dieser Lyrik zwischen „Leitwort“ und „Leitklang“, zwischen „semantic concept[s]“ und „sounds“; diese Spannung wird durch die gehäuften Wortwiederholungen im Neifen-Korpus gesteigert. 51 Vgl. Worstbrock 1996 und 2007; Hübner 2008 und 2013; Stock 2004 und 2016 mit weiterer Literatur; Schanze 2020, 205–212.
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So bilden etwa in der folgenden Strophe Polyptota auf lachen, machen und liebe Wiederholungsstrukturen in Spannung zu den Endreimen aus und tragen dadurch dazu bei, die Liebesfreude stiftende, vereinigende Wirkung (V. 4–6) des Grußes der Dame auch sprachlich zu performieren: Owê, rœselehter gruoz! wie du lachest, sô du herzeliebe lachen wilt! dâ wirt sender sorgen buoz. sô du machest, daz diu liebe gegen der liebe spilt nâch gewinne, da ist eht Minne nâhe bî unde machet zwei geliebe herzen swære frî. (LDM C Neif 140)
Die Dominanz solcher stilistischer Mittel über Gottfrieds Minnekanzonen hinweg ist Beleg für eine Konventionalisierung einer Klangästhetik, welche die Lieder unverwechselbar macht, obwohl sie auf einer Kombinatorik verwechselbarer Elemente beruhen.52 Dieser Neifen-Stil hat nachhaltig auf den späteren Minnesang eingewirkt, und seine Rezeption lässt sich für eine ganze Gruppe von Lyrikern nachweisen.53 Sein Erfolg zeigt sich auch darin, dass das eigentlich sehr häufig auch anderswo im Minnesang anzutreffende Motiv des roten Munds der Dame, der bei Neifen eine Art Kennmarke und verkörpertes Zentrum der Liebeskonzeption ist, vom Taler (SMS 25,3, II) direkt auf Neifen bezogen wird,54 und vielleicht darin, dass der Name Neifen in der späteren Minnesang-Überlieferung zum Gattungsnamen geworden sein könnte.55
3 Fazit Burkhards und Gottfrieds Lyrik wurden lange als Wegmarken für eine ‚Wende‘56 im Minnesang angesehen, doch diese Einordnung beruhte auf veralteten Vorstellungen einer Trennlinie von Klassik und Nachklassik im Minnesang, die gerne vorausgesetzt, selten aber text- oder formanalytisch begründet wurde.57 Sicherlich gehören beide Korpora aus unterschiedlichen Gründen zu den herausragenden des deutschen Min-
52 Vgl. Stock 2016, 386. Die Melodien, die nicht erhalten sind, hätten unter Umständen weitere Aufschlüsse über eine solche konventionalisierte Klangästhetik liefern können. Ihr Fehlen trägt zu den methodologischen Unsicherheiten in der Beurteilung dieser Lyrik bei. 53 Wie spezifisch die Neifen-Rezeption in Einzelfällen wirklich ist, bedürfte einer Überprüfung. Zu Vertretern einer solchen „Neifen-Gruppe“ siehe de Boor und Janota 1997, 264–268. 54 Vgl. Stock 2012, 396–397; Eder 2016, 221. Im zitierten Neifen-Beispiel wird der rote Mund der Dame synästhetisch zum rœselehten gruoz verdichtet; die dichterische Sprache fusioniert so den erotisch konnotierten Körperteil und die erotisch konnotierte Geste und Sprachhandlung (gruoz). 55 Vgl. Tervooren 1999, 185–186. 56 Vgl. Kuhn 1967. 57 Vgl. Hübner 2000, 301.
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nesangs. Beide weisen historisch bedeutende Liedexemplare im genre objectif auf; für Gottfried sind besonders die Pastourellen, für Burkhard die Tanz- und Gespielinnengesprächslieder zu nennen. Die Minnekanzonen Burkhards stehen in ihrer Bildsprache und ihren Themen in der Tradition des reflektierenden Minnesangs (besonders Morungens und Reinmars), führen diesen aber durch innovative bildgebende Verfahren weiter. Die Sprachklangkunst Gottfrieds schlägt formal innovative Wege ein, die man im Minnesang vor ihm nicht besonders häufig antrifft. Reimkunst, Wiederholung, Variation und formale Brillanz affizieren Sinnbildungsprozesse auf der Vers-, Strophen-, Lied- und Korpusebene, die immer noch nicht ausreichend verstanden sind (und aufgrund des Fehlens der Musiküberlieferung vielleicht auch nur zum Teil verstanden werden können). Mit ohnehin für den Minnesang problematischen Periodeneinordnungen58 als ‚nachklassisch‘ sind beide Korpora aber in jedem Fall weder ausreichend noch angemessen beschrieben.
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58 Zu den Problemen Kellner 2018, 65.
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Eva Bauer
Konrad von Würzburg 1 Leben und Werk Konrad von Würzburg ist einer der profiliertesten Dichter des dreizehnten Jahrhunderts. Der Autor nennt sich selbst in seinen erzählenden Werken zumeist in der Form von Wirzeburc ich Cuonrât (u. a. ‚Herzmäre‘, V. 581; ‚Partonopier‘, V. 192; ‚Trojanerkrieg‘, V. 266) oder Cuonze dâ von Wirzeburc (Minneleich, SCHR 2, V. 136).1 Er wird in den mittelalterlichen Überlieferungen stets als meister bezeichnet (u. a. Codex Manesse, Bl. 383r) und zählt zu den zwölf alten Meistern.2 Tätig war Konrad wohl vor allem in Straßburg und Basel,3 eine Basler Urkunde von 1295 erwähnt das Haus eines magistri Cuͦ nradi de Wirzeburg. In den Colmarer Annalen wird ein Cuonradus de Wirciburch 1287 als verstorben gemeldet.4 Überdies findet Konrad von Würzburg rühmende Erwähnung in zahlreichen Strophen anderer Dichter; Boppe und Frauenlob beklagen seinen Tod.5 Zu Konrads Repertoire gehören großepische Werke (‚Partonopier und Meliur‘, ‚Engelhart‘, ‚Trojanerkrieg‘) ebenso wie kleinere Dichtungen (u. a. ‚Der Schwanenritter‘, ‚Das Herzmäre‘, ‚Der Welt Lohn‘, ‚Heinrich von Kempten‘), drei Legenden (‚Silvester‘, ‚Alexius‘, ‚Pantaleon‘), ein Marienpreisgedicht (‚Die goldene Schmiede‘) sowie allegorische Dichtungen (‚Die Klage der Kunst‘). Zwei Leichs (Minneleich und Marienleich); etliche Sangsprüche sowie 23 Minnelieder mit insgesamt 64 Strophen machen Konrad zudem zu einem der bedeutendsten Lyriker des dreizehnten Jahrhunderts. Neben Autoren wie → Frauenlob oder → Heinrich von Mügeln zählt er zu den sogenannten blüemern.6 Der Forschung galt Konrad lange als Vertreter des ‚späten Sangs‘, in dem die Klangkunst (Formalismus, Ästhetisierung) über den bereits gefestigten und nicht mehr verhandlungsbedürftigen Inhalt gesetzt werde.7 Dabei trete ein konkretes Minner-Ich zugunsten einer allgemeingültigen Minnelehre (Didaktisierung, Konkretisierung) in den Hintergrund (Objektivierung),8 während die Dame an Bedeutung gewinne, zugleich aber entindividualisiert werde.9 1 Siehe ausführlicher Brunner 1985, 273. 2 Brunner 1985, 283; Rettelbach 2002. Ausführlicher siehe u. a. Brunner und Rettelbach 1985. 3 Zum Minnesang in der Stadt vgl. Cramer 1977 sowie Hofmann 1989. 4 Einen nur vermeintlich sicheren Todestag glaubt man mit dem 31. 8. 1287 zu kennen, für den im Anniversarienbuch des Basler Münsters ein Konrad als Stifter einer Jahrzeit registriert ist. 5 Vgl. zu den Angaben zusammenfassend Brunner 1985, 272–304, sowie Hübner 2008, 132–133, mit weiterführender Literatur. 6 Siehe u. a. Hübner 2008, 7–32. 7 Zugrunde liegt die These Hugo Kuhns von einer ‚Wende‘ des Minnesangs (vgl. Kuhn 1967). 8 Vgl. auch Meyer 1998. 9 Vgl. Kuhn 1967 sowie zusammenfassend Hübner 2008, 7–13. Während Hugo Kuhn von einer teleologischen Entwicklung des Minnesangs ausgeht, dessen Höhepunkt und Überwinder Walther ist, https://doi.org/10.1515/9783110351859-044
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2 Lieder Überlieferung und Liedtypen Hauptüberlieferungszeuge der Minnelieder Konrads von Würzburg ist der Codex Manesse, die Große Heidelberger Liederhandschrift, die die 23 bekannten Minnelieder Konrads, 21 davon unikal, überliefert. Die mit meiſtˢ Chuͦ nrat von Wuͥrʒburg (Bl. 383r) überschriebene Autorminiatur zeigt den erhöht sitzenden Konrad in der Pose eines Lehrenden, der einem vor ihm sitzenden Schreiber diktiert. Drei Minnesangstrophen überliefert zudem das Berner Hausbuch, eine niederrheinische Liederhandschrift.10 Die maßgebliche Ausgabe stellen noch immer die von Edward Schröder besorgten ‚Kleineren Dichtungen‘ dar, digital ist die Lyrik Konrads inzwischen auch im LDMProjekt erfasst. Die 23 Minnelieder Konrads werden in Lieder mit und ohne → Natureingang eingeteilt,11 wobei man die erste Kategorie in Sommerlieder (SCHR 3, 4, 7, 9, 11, 16, 20, 22, 29) und Winterlieder (SCHR 5, 6, 8, 10, 12, 13, 17, 21, 26, 27) unterteilen kann, während die zweite Kategorie lediglich aus drei dem → Tagelied gewidmeten Liedern (SCHR 14, 15, 30) besteht. Dazu kommt das Lied SCHR 28, das womöglich unvollständig überliefert ist. Sieben der Lieder mit Natureingang beginnen mit der jârlanc-Formel (SCHR 5, 6, 10, 13, 17, 21, 27), fünf haben einen Refrain (SCHR 4, 7, 9, 11, 29).12 Neben dieser Unterscheidung lassen sich Konrads Lieder auch in Tagelieder (3), Minnekanzonen (5) und ‚allgemeine‘ oder ‚generalisierende‘ Minnelieder13 (15) unterteilen.14 Die beiden Tagelieder SCHR 14 und 15 führen den Abschied der heimlich Liebenden nach erfolgtem Warngesang durch einen Wächter vor und haben deutlich episierende Tendenz, die an die Tagelieder Wolframs von Eschenbach erinnert. Das dritte Tagelied (SCHR 30) greift die Motive der tagewîse auf und transponiert sie in eine allgemeine Reflexion.
plädiert Gert Hübner eher für eine „gattungsgeschichtliche[ ] Kontinuität“ (Hübner 2008, 1–13). In beiden Fällen ist zu berücksichtigen, dass mittelalterliche Rezipienten keine (philologisch geschulten) Minnesangexperten waren und es somit fraglich ist, inwieweit das ‚Spiel‘ mit der Tradition überhaupt erkannt und gewürdigt werden konnte. 10 Zu Autor und Überlieferung vgl. u. a. Braun und Seidl in LDM. 11 Vgl. zur Einteilung auch Brunner 1985, 280–281. 12 Zur Lyrik Konrads von Würzburg allgemein vgl. u. a. Essen 1938; Brauneck 1964; Cramer 1987; Vogt 1990; Huber 2005. 13 Hübner 2008, 137; Hübner 1994; Worstbrock 1996. 14 Hübner 2008, 134.
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Minner-Ich und Allgemeinheit Das im Minnesang prominente Sänger- oder Minner-Ich tritt besonders in den ‚generalisierenden‘ Liedern Konrads zurück.15 Häufig ersetzt dabei das verallgemeinernde Pronomen swer (u. a. SCHR 3, 8, 10) oder eine andere allgemeine Bezeichnung der dritten Person (man, SCHR 3; im, SCHR 4) das konkretere Ich, die Perspektive bleibt jedoch eindeutig männlich. Anstelle ‚individueller‘ Minneaussagen steht der Frauenpreis:16 wîp/vrouwen bringen den Männern mehr vröude als der schönste Mai/Sommer (u. a. SCHR 4, 7, 8). Die Perspektive wird damit von der (pseudo-)individuellen Ebene des einen Liebenden auf die Allgemeinheit hin geöffnet, die Liedaussage wird gleichsam objektiviert und erhält einen über minne und wîp reflektierenden Charakter. Auch in den Fällen, in denen ein konkretes Ich spricht – was im Übrigen gar nicht so selten der Fall ist (u. a. SCHR 6, 8, 13, 28, 29) –, wird zumeist nicht das vermeintlich individuelle Minneempfinden ausgestellt, sondern die Ich-Perspektive als Ausgangspunkt für weitere allgemein(er)e Reflexionen darüber, wie Minne vröude bereiten kann, oder Ermahnungen zur (rechten) minne genutzt (u. a. SCHR 8, 13). Allerdings bleibt das Ich zumeist nicht der Ratgeberrolle verhaftet, sondern wird beispielsweise mittels des Dienstgedankens der Hohen Minne (dienste, SCHR 13, V. 33; dienestman, SCHR 8, V. 23)17 rücküberführt in eine Minnerrolle. Als Ausnahme hiervon können u. a. die Lieder SCHR 27 und 28 gesehen werden, in denen das Ich eine Dame anspricht und um ihre Gunst bittet.18 Derartige Apostrophen lassen sich auch in anderen Liedern Konrads mit spezifischem Ich finden, dann aber wendet sich das Ich an (personifizierte) Instanzen wie Minne (SCHR 8) oder Welt (SCHR 13), ohne diese jedoch selbst zu Wort kommen zu lassen.19 Auch in Liedern, in denen ein Ich präsent ist, ist dieses Ich somit nicht homogen, sondern kann verschiedene Rollen – die eines Sängers, Minners, Ratgebers etc. – annehmen. Indem das Ich zwischen Minner und Mahner, zwischen Betroffenem und Belehrendem changieren kann (u. a. SCHR 13), verschwimmen auch die Gattungsgrenzen von Minnesang und Sangspruch (→ Sangspruch – Minnesang).20
15 Cramer 1977, 94. 16 Schnell 2013, 306. 17 Hübner 2008, 140–141. 18 Hier wie auch in SCHR 13 findet laut Hübner 2008, 141, keine Entproblematisierung statt. 19 Siehe auch Schnell 2013, 304, sowie Klein 2019, 123. 20 Vgl. zu Konrad als Sangspruchdichter u. a. Hübner 2019; Haustein 2015.
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Natureingang und Dame 19 der 23 Minnelieder weisen einen → Natureingang auf,21 zehn können dabei als Winterlieder gelten, neun als Sommerlieder. In den Winterliedern wird eine Natur beschrieben, die valwet (u. a. SCHR 8, V. 4), die ihre sommerliche Pracht verliert und in triste Farblosigkeit übergeht. Diese Natur ist entweder Sinnbild für die Stimmung eines Ich und/oder der Allgemeinheit (swer) oder kontrastiert diese. Analog dazu funktionieren die Sommerlieder: Die Natur weist (nach dem vergangenen Winter wieder) farbenprächtige Blumen, grünes Gras und Bäume, Vogelsang usw. auf, doch auch hier kann die Stimmung kontrastiv negativ oder analog positiv (auch zur Stimmung aller) sein. Zumeist rekurriert der Natureingang bei Konrad nicht auf die Stimmung eines (spezifischen) Sprecher-Ich oder der Allgemeinheit, sondern korrespondiert vielmehr mit einer (oder mehreren) Dame(n). Die wîp werden explizit mit Mai, Blumen oder Vogelsang verglichen, wobei die generelle Tendenz diejenige ist, der Dame den Vorzug zu geben: Sie ist besser als alles andere, auch als die Maienzeit (wîp sint âne lougen den ougen vil tougen ein gewin, | der vil baz dann alle bluomen drinne tuot; SCHR 8, V. 11–12).22 Neben den expliziten Bezügen zwischen Dame und Natur werden weitere subtile Verbindungen hergestellt: So wird die Natur beispielsweise mittels Kleidermetaphorik (becleit; SCHR 9, V. 2) personifiziert, häufig direkt angesprochen und mit Attributen einer Minnedame versehen (des meien güete; SCHR 11, V. 7),23 was die Korrespondenz zur Dame noch verstärkt. Die Thematisierung von Natur kann sich bisweilen durch das ganze Lied ziehen (u. a. SCHR 11).24 Die Naturtopik steht dabei einerseits stellvertretend für die Beschreibung der Damen, die ihrerseits als unbeschreiblich dargestellt werden. Wie schon das Ich einem allgemeinen swer weichen kann, treten an die Stelle einer konkreten Minnedame alle wîp,25 das Lob der einen Dame wird zu einem allgemeinen Frauenpreis.26 Andererseits korrespondiert die Beschreibung der Natur auch mit der erfüllten minne des Liebespaares, die Natur wird gleichsam erotisiert.27 Die minne eines wîbes, die erfüllte Liebe also, wird als Medizin gegen leit, trûren und wunden des Mannes bezeichnet, das wîp selbst als Ärztin (u. a.
21 Vgl. u. a. Köbele 1998; Kellner 2002; Köbele 2003, 106. Eder 2016 hingegen unterscheidet zwischen Natur- und Jahreszeiteneingang. Zum Unterschied von ‚Natureingang‘ und ‚ Jahreszeitentopos‘ siehe den Artikel → Natur und Natureingang, Abschnitt 2. Für Konrad ist entsprechend eher von Natureingang als von Jahreszeitentopos zu sprechen, da der Begriff ‚Natureingang‘ stärker auf die das Lied einleitende Anfangsposition der Naturreferenz rekurriert. 22 Hübner 2008, 136. Vgl. auch die Natur-Dame-Korrelation bei → Heinrich von Mügeln. 23 Zu diesen und anderen Möglichkeiten der Personifizierung von Natur vgl. Hübner 2008, 138. 24 Hübner 2008, 135–136. 25 Im Gegensatz zu anderen Minnesängern (Walther, Reinmar, Frauenlob u. a.) scheint Konrad keinen Unterschied zwischen wîp und vrouwe zu machen, er setzt sie nahezu unterschiedslos und bisweilen innerhalb weniger Verse nebeneinander (SCHR 10). 26 Hübner 2008, 136; Schnell 2013, 306. 27 Hübner 2008, 138.
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SCHR 8).28 So erhält die Frau als freude- und heilspendendes Prinzip Anklänge an eine abstrakte Wirkmacht,29 die sie wiederum zu Minne oder Welt in Bezug treten lässt.30 Tendenziell steht in den ‚allgemeinen‘ Minneliedern Konrads eher die Minnevröude und nicht die Minneklage im Vordergrund. Eine Bedingung muss allerdings erfüllt sein: Die wîp müssen zur minne bereit sein,31 erst und nur dann übertrifft (rechte) minne alles Schöne und heilt alles Leid. Aufgrund dieser Bedingung erhalten die Lieder einen restriktiven Charakter, der die tatsächliche vröude, die Liebeserfüllung, in Frage stellt, ist sie doch nur für denjenigen möglich, der eine solche Frau tatsächlich hat (u. a. SCHR 4, 7). Scheinen die Motive des Hohen Sanges (leit, trûren etc.) für die (‚allgemeinen‘) Minnelieder Konrads zunächst nicht von Belang zu sein, kann man sie auch als nur geschickt ausgeblendet sehen: Da von Beginn an einzig zur minne bereite wîp adressiert und thematisiert werden, wird die Möglichkeit des Minneleides gleichsam unterlaufen.32 Der Natureingang, wie die Parallelisierung von Natur und Dame, erzeugen zudem ein erzählendes Moment, das – beispielsweise aus den Tageliedern Wolframs von Eschenbach bekannt – womöglich den Epiker Konrad von Würzburg zu erkennen gibt.
Klangkunst versus Inhalt Die meisten Lieder sind dreistrophig, die Strophenform ist zumeist diejenige der Kanzone (Ausnahmen sind SCHR 22, 26, 28, 30) mit Steg und drittem Stollen (außer SCHR 3, 6, 9, 16, 28, 30; → Metrik und Formanalyse).33 Fünf Lieder haben überdies einen Refrain (SCHR 4, 7, 9, 11, 29), der zumeist inhaltlich kunstvoll in die Aussage des Strophenverlaufs eingebunden ist und nicht in rein formaler Wiederholung erstarrt (vgl. besonders SCHR 7). Der Reimgebrauch ist überaus kunstvoll, selbst bei einfacherem Reimgebrauch ist die Dichte an Reimen aufgrund von Binnen-, Pausenoder Schlagreimen, homonymen Reimen, Schüttelreimen o. ä. höher als in anderen Liedern. Der dadurch erzeugte Reimklang gilt als Besonderheit Konrads, seine Texte – die epischen ebenso wie die lyrischen – „perlen dahin“34, wodurch eine klare „Aufmerksamkeitsverschiebung“ auf den Klang erzeugt wird:35
28 Hübner 2008, 136. 29 Vgl. auch die Frau bei → Heinrich von Mügeln. 30 Vgl. die Lieder, in denen ein Ich Minne, Welt oder aber (s)eine Dame explizit anruft. 31 Anders dagegen Hübner 2008, 136, der in den Liedern ein „generalisiertes Lob der beglückenden Liebe“ sieht. 32 Hübner 2008, 137. Hübner betont allerdings die völlige „Entproblematisierung“ der Minnethematik in Konrads Liedern. Anders beispielsweise in SCHR 13 (Hübner 2008, 141). 33 Hübner 2008, 138. 34 Hübner 2008, 1138–1139. 35 Braun 2013.
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Gar bar lît wît walt, kalt snê wê tuot: gluot sî bî mir. gras was ê, clê spranc blanc, bluot guot schein: ein hac pflac ir. schœne dœne clungen jungen liuten, triuten inne minne mêrte: sunder wunder- bære swære wilden bilden heide weide rêrte, dô frô sâzen die, der ger lâzen spil wil hie. (SCHR 26, V. 1–10)
Die Reimkunst solcher Lieder soll als „Artistik“, als „Virtuosität“ wahrgenommen werden und das Interesse zunächst allein auf diese lenken.36 Dass der Inhalt zugunsten der Form in den Hintergrund trete, gilt als wesentliches Kennzeichen des Minnesangs im dreizehnten Jahrhundert.37 Tatsächlich scheint der Inhalt vieler Lieder Konrads auf den ersten Blick weniger komplex, zumindest aber weniger vielfältig zu sein als in den Liedern seiner Vorgänger. Das Schema, dem die meisten Minnelieder folgen, ist schnell entworfen (u. a. SCHR 8, 11, 12): Natureingang mit Freude oder Trauer über die jeweilige Jahreszeit; (Refrain); Überlegenheit der Frauen im Vergleich zur Natur; (Refrain); Preis der glücklichen Männer, die minneclîche wîp haben; (Refrain). Dieses Grundschema begegnet in den meisten der 23 Minnelieder Konrads, wobei es variiert, ausgestaltet oder eingegrenzt und mit anderen Motiven verknüpft werden kann. Der Komplexitätsgrad der formalen Einkleidung spielt dabei kaum eine Rolle, das Grundschema kann in komplexesten Reimkunstwerken (u. a. SCHR 27) ebenso umgesetzt werden wie in einfacheren Kanzonen (u. a. SCHR 10). Doch handelt es sich deswegen nicht um inhaltsentleerte Formkunst. Der Schwerpunkt auf dem Klang kann vielmehr als surplus zu anderen Minneliedern gesehen werden, das den Inhalt nicht zurückdrängt, sondern vielmehr anreichert und somit anders rezipierbar macht. Einen Sonderfall stellt das Lied SCHR 30 dar, das in der Tradition des Tageliedes steht, die daraus entstehende Situation jedoch allgemein reflektiert und so zwischen Minnelied und Minnespruch zu changieren scheint: Swâ tac er- schînen sol zwein liuten, die ver- borgen inne liebe stunde müezen tragen, dâ mac ver- swînen wol ein triuten: nie der morgen minne- diebe kunde büezen clagen. er lêret ougen weinen trîben; sinnen wil er wünne selten borgen. swer mêret tougen reinen wîben minnen spil, der künne schelten morgen.
36 Hübner 2008, 141–142. 37 Hübner 2008, 7–8; Kuhn 1967. Vgl. mit etwas anderen Akzenten den Artikel → Form- und Klangkunst im vorliegenden Handbuch.
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Jede Silbe eines jeden Verses reimt auf die entsprechende Silbe des übernächsten Verses: swâ:dâ, tac:mac, erschînen:verswînen usf.38 Lieder wie dieses stellen verstärkt auch die Frage nach der Medialität, denn einerseits scheinen sie eine schriftliche Konzeption zu erfordern, andererseits bleibt fraglich, wie weit die Komplexität der Lieder im gesungenen Vortrag allein durch auditive Rezeption erfasst werden konnte.39
Gattungsinterferenzen zum Sangspruch Dass die Grenzen zwischen Minnesang und Sangspruch verschwimmen, ist keine neue Entwicklung erst des späteren dreizehnten Jahrhunderts, sondern lässt sich schon früher, beispielsweise an → Walthers von der Vogelweide Œuvre, beobachten (→ Sangspruch – Minnesang).40 Für die Lyrik Konrads kann man geradezu von einem Spiel mit den Gattungen sprechen. Die dem (zeitgenössischen) Publikum vermeintlich als bekannt vorausgesetzten Unterschiede der beiden Gattungen werden aufgerufen, dann aber (unerwartet) anders gewendet. Besonders deutlich wird dies an denjenigen Texten, die mit einem minneliedtypischen Natureingang, bisweilen sogar mit der prominenten jârlanc-Formel beginnen:41 Der Natureingang kann eine Klage über das Minneleid (sende swære; SCHR 5, V. 12) ebenso nach sich ziehen wie eine Klage über (fehlende) milte (u. a. SCHR 19, 31).42 Das Spiel mit den Gattungsimplikationen zeigt sich folglich besonders deutlich im Klagemodus, der in das eine wie andere Rollenverständnis umschwenken kann, wobei die im Minnesang adressierte Frau (wîp/vrouwe) im Sangspruch durch begüterte Herren oder die Schelte der rîchen tugentlôsen ersetzt wird (u. a. SCHR 19, 31).43 Erleichtert wird dieses Spiel zusätzlich durch das dem Minnesang des späteren dreizehnten Jahrhunderts eigene Zurücktreten des Minner-Ich hinter eine allgemeine Sprechposition (swer). Der Sangspruch nähert sich so nicht 38 Hübner 2008, 143–144. 39 Hübner 2008, 144. 40 Klein 2019, 120–121. Dass das Bewusstsein für die Gattungsdifferenzen von Minnesang und Sangspruchdichtung bereits im Mittelalter existierte, legt überdies die handschriftliche Überlieferung (besonders die Jenaer Liederhandschrift J) nahe, die bisweilen eine Trennung der beiden Gattungen erkennen lässt (vgl. Brunner 1975). 41 Vgl. auch Klein 2019, 131. Allgemein siehe auch Brem 2003. 42 Vgl. Hübner 2019, 397. Hübner explizierend könnte man sagen, dass Natur und Freigiebigkeit das verbindende Element (einiger) der Sangsprüche und Minnelieder Konrads sind: Die Freigiebigkeit der Dame im Hinblick auf minne wird mit der Natur im Natureingang ebenso verglichen wie die Freigiebigkeit der Gönner im Hinblick auf finanzielle Zuwendungen (milte). In Konrads Sangsprüchen finden sich über den Natureingang hinaus weitere Naturvergleiche, etwa des Geizigen mit der Fledermaus, die wahres Licht nicht von faulem Holzglanz unterscheiden kann (SCHR 25, V. 61–74; vgl. Hübner 2019, 396). 43 Hübner 2019, 396, spricht davon, „dass die Relation Minnesänger–Frauen implizit durch die Relation Sangspruchdichter–Gönner ersetzt wird“. Siehe auch Cramer 1977. Zu Konrad als Sangspruchdichter siehe Miedema 2002 und 2003.
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nur im Hinblick auf inhaltliche Aspekte dem Minnesang an, sondern auch formal: Die Sangspruchstrophen werden zu liedähnlichen Gebilden zusammengefasst, die die prinzipielle Einstrophigkeit des Sangspruchs stärker als gewöhnlich zu überschreiten scheinen. Die Gattungsinterferenzen sind folglich wechselseitig, man könnte beinahe sagen, dass sich in Konrads Lyrik beide Gattungen so sehr annähern, dass sie bisweilen ununterscheidbar werden.44
3 Fazit In den Minneliedern Konrads von Würzburg kulminieren zahlreiche literarhistorische Tendenzen: Konrad greift Typisches und Topisches auf und verbindet es zu einem individuellen Ganzen, das einen genreenthobenen Wiedererkennungseffekt erzeugt. Die inhaltlichen Aspekte vieler Lieder scheinen dabei zunächst von der enormen Klangkunst überlagert, doch kann man sie nachgerade als Strategie sehen, (bekannte) Inhalte immer wieder neu herauszustellen.45 Während Konrads geistliches und spruchdichterisches Werk deutliche Spuren in den Texten anderer Autoren hinterlässt, scheint sein Minnesang – zumindest für diese – von gering(er)er Bedeutung zu sein: Der Sangspruchdichter Konrad wird bereits zu Lebzeiten von Dichterkollegen wie Hermann Damen oder Rumelant von Sachsen rühmend erwähnt.46 Nach seinem Tod preisen ihn Boppe und Frauenlob. Beide Sprüche bitten für das Seelenheil Konrads.47 Implizit erinnern die Sprüche dabei auch an Konrads Œuvre, wobei der Fokus bei Boppe ausschließlich auf Konrads geistlicher Dichtung (Religiöser Leich, ‚Goldene Schmiede‘) zu liegen scheint. Bei Frauenlob (WACH 4,3) mag man sich auch an Konrads epische Werke (helt, V. 21) erinnert fühlen. Allenfalls implizit könnten die Erwähnungen von Lilien und Rosen (V. 1, 3, 7) oder die Anrufung der armonie (V. 15) auf den Minnesänger Konrad deuten.48 Der ‚dahinperlende Stil‘ Konrads49 scheint dagegen bereits den Zeitgenossen aufgefallen zu sein, denn Konrad(s Kunst), al sin blut, ist gevult mit margariten nicht zu kleine und zu grob (V. 11–12).
44 Hübner 2008, 137. 45 Braun 2013. 46 Brunner 1985, 277. 47 Boppe: von Wirzeburc Kuonrâden (Alex 1998, 1,21, V. 18); Frauenlob: Conrat, | den helt von Wirzeburc (WACH 4,3, V. 20–21). 48 Vgl. Wachinger 2006, 887–889. 49 Hübner 2008, 138–139.
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Max Schiendorfer
Steinmar und Hadlaub Unter den Autornamen Steimar und Meister Johans Hadlovb enthält die Manessische Liederhandschrift – und zwar in dem um 1300 in Zürich aufgezeichneten Handschriftengrundstock – zwei Sängerkorpora, die für das spätere dreizehnte Jahrhundert zu den markantesten und vielseitigsten zählen. Abgesehen von einer einzigen Liedstrophe Hadlaubs sind beide Œuvres ausschließlich in dieser Monumentalsammlung des höfischen Sangs erhalten geblieben.
1 Steinmar Im Falle Steinmars äußerte Neumann 1885 erstmals die Vermutung, die Handschrift enthalte seine Lieder „wenigstens im ganzen in chronologischer Reihenfolge“1. Und auch Bartsch glaubte, dass dies „für den größern Theil […] unbedenklich zugege ben werden“ könne.2 Einig war man sich aber stets darüber, dass das von einem rundum souveränen Autor zeugende Herbstlied Sît si mir niht lônen wil (SMS 1) gewiss nicht Steinmars Erstlingswerk gewesen sei. Vielmehr hätten es – weil es besonders berühmt war und das Sujet für die Miniatur abgeben sollte3 – erst die Redaktoren des Codex Manesse gegen die Chronologie an den Anfang gerückt. Wie man inzwischen weiß, verdankt sich diese Frontstellung aber eher einer separaten Quellenabkunft des Stücks: Die Vorlage der Lieder SMS 2–14 gelangte wohl erst später in die Zürcher Redaktion und wurde eben deshalb nicht mehr durch den Schreiber As, sondern durch dessen mutmaßlichen Schüler Bs aufgezeichnet.4 Dieser Überlieferungsbefund entzieht zugleich der ohnehin etwas angestrengt wirkenden Deutung Lübbens, wonach Steinmar im Herbstlied den in sein Gesamtœuvre einführenden poetologischen Verständnisschlüssel zur Verfügung stellen wollte,5 den entscheidenden Ansatzpunkt.
1 Neumann 1885, 21; ihm folgend Krywalski 1966, 99–105. 2 Bartsch 1964 [1886], CXVI. 3 Die Miniatur zeigt eine Runde von vier erregt gestikulierenden Zechern und Schlemmern, denen ein bedienender Wirt soeben Nachschub herbeiträgt. Welche der Figuren den Sänger Steinmar darstellen soll, ist völlig unklar. Am wenigsten einleuchtend scheint das gelegentlich geäußerte Votum zugunsten des Wirtes (z. B. Steinmayr 1931, 2; Krywalski 1966, 1; Lübben 1994, 57), der im Lied ja gerade als fiktives Gegenüber des Sängers auftritt. 4 Vgl. dazu die tabellarische Aufstellung der in C vertretenen Schreiberhände bei Salowsky 1988, 426. 5 Namentlich mit SMS 1,2, V. 11: ich singe, daz wir alle werden vol liefere Steinmar ein programmatisches Manifest seines hochintellektuell ausgetüftelten Autorkonzepts, unter welchem Blickwinkel demnach sein Gesamtwerk zu beurteilen sei; vgl. Lübben 1994, 108 u. ö. https://doi.org/10.1515/9783110351859-045
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Statt einer chronologischen könnte im Übrigen eher eine Reihung nach abwechselnden Liedtypen intendiert sein: Abgesehen vom überlieferungsgeschichtlich selbstständigen Herbstlied macht ein weiteres Einzelstück, das einzige Minnelied ohne → Natureingang und Refrain, den Auftakt (SMS 2); daran schließen sich zwei Sommerlieder und ein → Tagelied (SMS 3–5) an, daran nochmals dieselbe Abfolge (SMS 6–8). Weiter folgen zwei → Sommerlieder (SMS 9, 10), zwei → Winterlieder (SMS 11, 12), ein Sommerlied (SMS 13) und ein Winterlied (SMS 14), welches abschließende Stück zugleich Steinmars einzige nichtstollige Bauform aufweist. Unter diesen 14 Liedern gelten seit von der Hagen das dritte und zwölfte als grundsätzlich datierbar.6 Die Erwähnung Wiens in SMS 3,3, V. 4 wird dabei allgemein auf die im Oktober/November 1276 erfolgte Belagerung der Stadt durch Rudolf von Habsburg bezogen.7 Nach der Kapitulation am 21. November blieb der König mit einem Teil seiner Truppen noch bis zum August 1278 in der Stadt. Demzufolge müsste Steinmars Lied 3 – ein Mailied – in den Frühsommer 1277 oder 1278 gesetzt werden8 und wäre damit, vielleicht etwas überraschend, wohl mindestens einige Jahre später als das Herbstlied entstanden. Auf dieses wird nämlich sicher zu Recht das Relief einer Zwickelfüllung im Straßburger Münster bezogen, das einen zechenden Mann mit Krug und Trinkgefäß zeigt und die Inschrift *STEIMAR* trägt.9 Da die Innenausstattung des Münsters in den frühen 1270er Jahren erfolgte, muss das Herbstlied zu dieser Zeit bereits einen größeren Bekanntheitsgrad erlangt haben, und die darin artikulierte radikale Abkehr vom hohen Minnedienst hielt den Autor offensichtlich nicht davon ab, auch weiterhin eher traditionelle Liebesklagen zu verfassen. Dessen ungeachtet kann die historische Situierung von SMS 3 als plausibel gelten, während die in SMS 12,4, V. 5–6, angesprochene vart, | die der künig gen Mîssen vert, umstrittener ist. Das Gros der Forschenden folgte von der Hagen in der Ansicht, auch dieses Lied sei im selben historischen Zusammenhang entstanden, genauer: noch etwas vor der Wiener Belagerung. Da aber für diese Zeit kein Meißenzug Rudolfs nachweisbar ist, wurde ein solcher ‚erschlossen‘,10 oder man behalf sich mit der Vermutung, der Sänger sei zum Zeitpunkt der Niederschrift über die Absichten des Königs offenbar im Unklaren gewesen.11 Aufgrund dieser Problematik zogen andere Forscher
6 Vgl. von der Hagen 1963 [1838], 469. 7 Auf dieselbe militärische Unternehmung Rudolfs spielt auch der St. Galler Schenk Konrad von Landeck an, mit dessen Lied SMS 13 dasjenige Steinmars mehrere wörtliche Anklänge teilt. Und dafür, dass Konrad zu jener Zeit tatsächlich ein dezidierter Parteigänger des Habsburgers war, lassen sich auch verschiedene urkundliche Spuren aufzeigen. Vgl. ferner das ebenfalls hierher gehörende Lied KLD 4 des elsässischen Sängers Püller. 8 Vgl. Bartsch 1964 [1886], CXV. 9 Vgl. hierzu zuerst Schultz 1922, 2 u. ö., mit Abbildungsbeilage. 10 Vgl. von der Hagen 1963 [1838], 469. 11 Vgl. Neumann 1885, 17, sowie Bartsch 1964 [1886], CXV.
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zwei spätere Kriegszüge von 1289/9012 beziehungsweise 1294/96 in Erwägung.13 Dabei macht aber wiederum der beträchtliche Zeitabstand zwischen den stilverwandten Liedern 3 und 12 misstrauisch, und es fiele zudem der erklärte Forschungsfavorit, Berthold Steinmar von Klingnau, Dienstmann des Freiherrn und Minnesängers Walther von Klingen, für den Sänger außer Betracht. Berthold Steinmar begegnet urkundlich zwischen 1251 und 1293 mindestens 27 Mal, wobei jedoch ein fünfzehnjähriger, von 1272 bis 1287 klaffender Quellenunterbruch ins Auge fällt. Dass das Zurzacher Jahrzeitbuch ihn als Deutschordensritter ausweist,14 bietet einen Fingerzeig, wo er sich in diesem Zeitraum zumindest teilweise aufgehalten und seinen Rittertitel erworben haben könnte: auf dem ‚Kreuzzug‘ der Ordensritter in Preußen. Denn erst in den späten Urkunden ab 1288 wird Steinmar als miles bezeichnet, und nur hier tritt er als handelnder Aussteller von Urkunden auf. In diesen traf der mittlerweile Betagte die Vorkehrungen für seinen Lebensabend: Nach mehreren 1290/91 zu seinem Seelenheil getätigten Schenkungen an die Klöster St. Blasien und Säckingen erwarb er am 25. Januar 1293 als seinen Alterssitz die Hälfte eines dem Deutschorden gehörenden Hauses zu Waldshut samt dem Bürgerrecht dieser Stadt.15 Nicht lange danach, spätestens 1296, muss er gestorben sein. An den zu SMS 12 erwogenen späteren Feldzügen kann dieser Steinmar also nicht teilgenommen haben, und so bleibt nur die Alternative, das Lied eben doch um die Mitte der 1270er Jahre anzusetzen oder die Identität des Sängers anderswo zu vermuten. Weit eher als ein von Steinmayr ins Spiel gebrachter Steinmar von Sießen-Stralegg16 käme dafür ein 1267 bezeugter Rudolf Steinmar von Klingnau, ein mutmaßlicher jüngerer Bruder Bertholds, in Betracht.17 Dass sich das erwähnte Steinmar-Relief ausgerechnet in Straßburg findet, wo sich eben im fraglichen Zeitraum 1271–1274 Walther von Klingen niedergelassen hatte,18 kann allenfalls als weiteres Indiz zu Gunsten der Klingnauer Steinmare beansprucht werden. Eine zweifelsfreie historische Zuweisung lässt die derzeitige Quellenlage jedoch nicht zu. Das von C gebotene Liederkorpus lässt sich in inhaltlich-stilistische Untergruppen kategorisieren, wie dies schon mehrfach und in weitgehender Übereinstimmung geschehen ist:19
12 Vgl. zuerst Meissner 1886, 13–16, sowie ihm folgend z. B. Mittler 1967, 47. 13 Vgl. zuerst Pupikofer 1886, 422. 14 Vgl. Baumann 1888, 610. 15 Vgl. Mittler 1967, 47. 16 Steinmayr 1931; vgl. ihm nachfolgend auch Krywalski 1966. 17 Vgl. Bartsch 1964 [1886], CXIII–CXIV. 18 Vgl. Schiendorfer 2003, 215–222. 19 Vgl. Neumann 1885, 20; Meissner 1886, 85; Krywalski 1966, 83; Stackmann 1953, 270.
a) b) c) d)
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höfische Minnelieder: SMS 2, 3, 4, 6, 9, 10, 12, 13; 20 niedere Minne: SMS 7, 11, 14; Tagelieder: SMS 5, 8; das Herbstlied SMS 1.
So plausibel diese Gruppierung scheint, lassen sich aus ihr doch keine Schlüsse hinsichtlich der Zeitbestimmung der Lieder und Liedergruppen ziehen. Gewisse literarische Bezüge besonders zu Ulrich von Winterstetten und → Ulrich von Liechtenstein legen immerhin nahe, dass manche von Steinmars Werken noch in den 1260er Jahren entstanden sein dürften,21 darunter womöglich das Herbstlied. Aber auch zu Walther von Klingen findet sich eine auffällige Motivparallele: Für die Ankündigung zu Beginn von Lied 13 – ich wil mit dien bluomen blüen | und mit den vogelîn singen (SMS 13,1, V. 3–4) – gibt es im deutschen Minnesang keinen überzeugenderen Vergleichsfall als Walthers mit den vogelîn wolde ich singen, | uns den lieben sumer bringen (Walther von Klingen SMS 4,1, V. 6–7). Entscheidend ist dabei, dass beide Autoren ihr lyrisches Ich nicht lediglich in den Gesang der Vögel einstimmen, sondern es gewissermaßen in deren Gestalt und Funktion als Frühlingsboten und -bringer auftreten lassen. Das Motiv der ‚Einswerdung‘ des Sängers mit der Natur findet sich in dieser Art sonst nirgendwo. Und in Walthers straff und modern geführter kleiner Eigenstadt Klingnau hätten seine Gefolgsleute namens Steinmar jedenfalls eine ausgesprochen prädestinierte kulturelle Plattform vorgefunden.22 Ansonsten gehört SMS 13, zusammen mit SMS 2 und 6, zu Steinmars konventionellsten Werken, während er in den übrigen ‚höfischen Minneliedern‘ wiederholt mit originellen und z. T. leicht drastischen Bildern zu überraschen weiß. Am auffälligsten ist dies in Lied 4, wo der Sänger sein nach der Liebsten rasendes Herz mit einem Schwein vergleicht, das in einem Sack gefangen vor Panik zappelt und quiekt (dieses Bild greift Hadlaub in SMS 17 auf); ungewöhnlich für ein ansonsten höfisches Lied ist auch die Selbstnennung des Autors in der Schlussstrophe. In SMS 9,3 stellt Steinmar sich das Herz der Dame als einen unerweichlichen Amboss vor, und in SMS 10 beschreibt er sich selbst als einen verzweifelt Minnenden, der vor den ihn plagenden minnenschriken (SMS 10,2, V. 12) wie eine Ente vor den Attacken jagender Falken wegzutauchen sucht.23 Steinmars Lieder der ‚niederen Minne‘ variieren die aus → Neidharts Winterliedern bekannte Konstellation des ritterlichen Sängers und einer erfolglos umworbenen
20 Stackmann unterteilt hier noch weiter und sondert die Lieder 4, 9, 10 und 12 ab, „denen die allmähliche Zersetzung des strengen Stils abzulesen ist“ (Stackmann 1953, 270). 21 Vgl. zu Ulrich von Winterstetten Hausner 1980, bes. 378–384; zu Ulrich von Liechtenstein Ortner 1887; Mertens 1998b. 22 Vgl. Schiendorfer 2003, 223–228. 23 Dass SMS 10 mit seinen zwei Strophen unvollständig überliefert ist, scheint offensichtlich, zumal Strophe 1 gänzlich durch den konventionellen Sommereingang vereinnahmt wird. Tatsächlich folgt in C danach ein auf drei weitere Strophen berechneter Freiraum.
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Dorfschönen. Diese benennt der Erzähler in SMS 7 zwar gleich zu Beginn als eine tüchtige Gemüsegärtnerin, um im Folgenden aber unbeirrt am damit parodistisch kontrastierenden hohen Stil klassischer Werbelieder festzuhalten. Auf Neidharts Einfluss deuten auch die Figur der die huote verkörpernden Mutter sowie die Selbstadresse Steinmars in Strophe 5. Den Winterliedern SMS 11 und 14 ist gemeinsam, dass sich die umworbene Magd hier keineswegs grundsätzlich abgeneigt zeigt, ihr Einlenken aber von materiellen Zuwendungen abhängig macht. Da dies die Mittel des offenbar seinerseits ärmlichen Sängers übersteigt, wird ihm wohl auch künftig das im Refrain von SMS 11 offen deklarierte Ziel seiner Wünsche, das Beilager auf dem Strohsack, verwehrt bleiben. Sämtliche elf Minnelieder belegen Steinmars erklärte Vorliebe für den Refrain. Mehrheitlich entspricht dieser zwar der Standardform einer wörtlichen Textwiederholung in allen Strophen (so in SMS 3, 4, 6, 7, 9, 12, 13), doch zeigt bereits SMS 10 eine zu Beginn minimale Abwandlung zwecks syntaktisch korrekter Anbindung an den Abgesang. Gravierendere Variationen weisen SMS 14 und vor allem SMS 11 auf, wo einzig noch das Reizwort strousak als Refrainelement fungiert, das zudem in Strophe 4 an anderer Stelle platziert ist. Der Refrain ist somit fast bis zur Responsion „aufgeweicht“24; offenbar experimentierte Steinmar hier bewusst mit der ‚Dehnbarkeit‘ des Formprinzips. Dessen extreme Reduktion hat er aber gleichsam dadurch wieder aufgewogen, dass er es durch die plakative Wiederholung der ersten Refrain-Zeile stattdessen in den Rahmen jeder Einzelstrophe verlagert hat. Und vielleicht darf man gar in den anaphorisch eingeleiteten Waisenzeilen des letztverbleibenden Minnelieds SMS 2 (als einen …; also hêre …; als ein …) bereits einen ersten leisen Ansatz zur Refrainbildung erblicken. Auch das Tageliedmodell forderte Steinmar zu Gattungsexperimenten heraus. In SMS 8 erscheint dessen Personal erneut vom höfischen ins bäuerliche Milieu verlagert: Magd und Knecht, die sich im Heuschober vergnügen, werden vom Hirten – offenbar ihrem Vorgesetzten oder Aufseher – barsch zur Arbeit abkommandiert.25 Hingegen bietet SMS 5 eher eine kritische Reflexion über das Gattungsmodell des → Tagelieds und besonders die Rollenfigur des Wächters. Dabei wird die fiktive Konstellation wörtlich genommen und mit den bei Hofe üblichen Gegebenheiten konfrontiert. Den literarischen ‚Wächter‘ setzt Steinmar kurzerhand dem realen, in Diensten des Paterfamilias stehenden Nachtwächter gleich, der durch die Komplizenschaft mit den heimlich Liebenden einen unverzeihlichen Treuebruch begeht. Einem derart ruchlosen Verräter müsste doch eigentlich auch das Liebespaar aufs Äußerste misstrauen – wie leicht könnte er die Fronten abermals wechseln!26
24 Hausner 1980, 374. 25 Vgl. dazu Borck 1981. 26 Ganz ähnlich hatte bereits Ulrich von Liechtenstein, dem Steinmar die Anregung verdankt haben mag, die Figur des Tageliedwächters kritisch hinterfragt; vgl. KLD 40 und dazu Ortner 1887, 122–123.
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Zu guter Letzt ist nochmals auf das schon mehrfach beiläufig genannte Herbstlied zurückzukommen, das seit jeher als das eigentliche Prunkstück in Steinmars Repertoire gilt und entsprechend große Beachtung gefunden hat.27 Konstitutiv für diese Neuschöpfung ist die sich in der resoluten Abkehr vom ungelohnten Minnedienst ausdrückende antihöfische Tendenz bei gleichzeitiger Bekehrung zum Luderleben, zum Dienst am kulinarische Gaben verheißenden Herbst. Unter den gemeinhin als motivische Vorläufer betrachteten Zechreden kommt diesem Konzept der anonyme ‚Weinschwelg‘ am nächsten. Denn während z. B. der Stricker die Freuden der Minne und des Gaumens lediglich als unvereinbar postuliert (,Der unbelehrbare Zecher‘ und ‚Die Minnesänger‘), spielt der ‚Weinschwelg‘ die Wonnen des Weins gegen das E l e n d des Minnedienstes aus. Zumindest ebenso bedeutsam sind aber auch, als s t r u k t u r e l l e s Vorbild, klassische Minne-Absagelieder wie namentlich → Walther L 48,12 und → Hartmann MF 216,29, in denen bereits der Tausch des frustrierenden Dienstverhältnisses gegen ein lohnenderes – wîp, die danken kunnen (L 49,23, II, V. 12) – propagiert wurde. Dass neben diesen zwei Vorläufergattungen noch weitere Inspirationsquellen wie etwa die lateinische Vagantenpoesie (→ Lateinische Liebesdichtung des Mittelalters) mit im Spiel waren, ist denkbar, wenn auch nicht wirklich zwingend. Seinerseits hat Steinmar übrigens weit weniger mit seiner ‚Konvertiten‘-Pose als mit dem bloßen Herbst-M o t i v Nachahmer gefunden, und dies insbesondere in der Person seines jüngeren Zeitgenossen Hadlaub.
2 Johannes Hadlaub Johannes Hadlaub entstammte einer erstmals 1227 fassbaren, gesellschaftlich nicht unbedeutenden, aber gegen 1350 offenbar bereits ausgestorbenen Zürcher Bürgerfamilie. Zum Sänger selber lässt sich festhalten, dass er um 1293/94 sicher verheiratet war, denn damals erscheint seine Gattin in einem Steuerverzeichnis als Lehensträgerin des Zürcher Großmünsterstifts.28 Und gemäß einem vom Zürcher Rat unter Anführung Rüdiger Manesses besiegelten Rechtsbrief konnte Hadlaub am 4. Januar 1302 ein Haus in der bevorzugten Wohnlage des Neumarktquartiers erstehen (heutige Adresse Neumarkt 1).29 Dieses darf man sich vergleichsweise komfortabel vorstellen, da es später vom begüterten Großmünsterkämmerer Konrad Phentzi erworben wurde.30 Dabei erfolgte der Handwechsel gewiss erst nach Hadlaubs Tod, den das 1338/39 ange-
27 Vgl. in jüngerer Zeit die Spezialuntersuchungen von Simon 1969; Grunewald 1976, 61–67; Adam 1979, 94–103; Grunewald 1993; Lübben 1994, 61–109; Strohschneider 2006. 28 Vgl. Schiendorfer 1990, Nr. 4. 29 Vgl. Schiendorfer 1990, Nr. 3. 30 Vgl. Baumann 1888, 557.
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legte Großmünsteranniversar ohne Jahresangabe unter dem 16. März verzeichnet.31 Mit einiger Wahrscheinlichkeit war Hadlaub aber bereits zur Zeit der ersten Nachtragsarbeiten am Codex Manesse, um 1310, verstorben. Damals wurde der auf den letzten Seiten seiner Handschriftenlage für noch zu ergänzende Lieder vorsorglich ausgesparte Raum geopfert, um hier stattdessen das Korpus des Sangspruchdichters Regenbogen unterzubringen, und auch von Hadlaubs Liedtexten weist keiner über diesen zeitlichen Rahmen hinaus. Den Redaktoren war demnach bekannt, dass von ihm keine weiteren Werke mehr zu erwarten waren: ein erster Hinweis auf deren persönliche Nähe zum Sänger. Mit seinen stattlichen 51 Liedern und drei Leichdichtungen darf Hadlaubs ‚autorisiertes‘ Œuvre daher wohl als vollständig überliefert gelten. Hinzu kommt die auffällige, fast schon leicht aufdringliche Sonderstellung im Codex: Vor Hadlaubs Texteintrag, der auf die in C exklusive Schreiberhand Ms zurückgeht, prangt die mit Abstand größte und kunstvollste Filigraninitiale der ganzen Handschrift, und der Schreiber konnte mit demjenigen einer ebenfalls von Rüdiger Manesse, dem jahrzehntelangen spiritus rector der Lokalpolitik, veranlassten Kopie des Zürcher Richtebriefs identifiziert werden.32 Am Liedercodex war er aber weniger als Kopist denn als leitender Redaktor beteiligt, der für die Anordnung der Korpora und die Formulierung der Sängerpersonalien ebenso verantwortlich zeichnete wie für die Hervorhebung des in Hadlaubs Lied 2 genannten Rüdiger Manesse durch einen allein hier verwendeten roten Zierstrich.33 Dass hinter diesem ominösen Ms gar der Sänger selber zu erblicken sei, ist eine durchaus erlaubte, aber nicht belegbare Vermutung. Hingegen legt die Tatsache, dass das Schlussblatt von Hadlaubs Handschriftenlage als einziges im ganzen Codex beidseitig unliniert blieb, die Annahme nahe, dass es ursprünglich als rückseitiges Deckblatt vorgesehen war und Hadlaub demnach den – wohl eher krönenden als bescheidenen – Abschluss der monumentalen Liedersammlung bilden sollte.34 Und nicht zuletzt bekam Hadlaub als Einziger der 140 Sänger eine echte Doppelminiatur mit den voneinander unabhängigen Illustrationen zu den ersten beiden seiner → Erzähllieder zugewiesen. In beiden Teilminiaturen erscheint Hadlaub, den der Grundstockmaler im Unterschied zu sämtlichen übrigen Sängern wohl persönlich zu Gesicht bekommen haben dürfte, mit einem bräunlichen Kinnbart dargestellt. Und obschon der Miniator grundsätzlich keine Porträtähnlichkeit anzustreben pflegte, stellt sich in Hadlaubs speziellem Falle wohl doch die Frage nach einem möglichen realen Hintergrund. Evident
31 Vgl. Baumann 1888, 559; Schiendorfer 1990, Nr. 5. 32 Vgl. Gamper 1993; Oppitz 1999. 33 Vgl. Salowsky 1989; Schiendorfer 2013, 656–658. 34 Daraus lässt sich vielleicht weiter schließen, dass Hadlaub „die Ehre vorbehalten gewesen [sei], als letzter Dichter der Liedersammlung Informationen über deren Initiator und den literarischen Zirkel zu geben, aus dem heraus und für den das repräsentative Sammelwerk entstanden ist“ (Neudeck 2004, 145). Dem Hadlaub-Korpus wäre damit, zumindest teilweise, die Funktion eines Romanepilogs übertragen worden.
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scheint zumindest, dass der Maler ihn nicht als ausgesprochenen Jüngling, sondern als einen um 1300 bereits in reiferem Alter stehenden Mann erscheinen lassen wollte. Falls dies der Realität entspräche, könnte Hadlaub nicht allzu lange nach der Jahrhundertmitte geboren und noch in den 1270er Jahren sängerisch tätig geworden sein. Ebenfalls zu beachten ist die blau-gelb quergestreifte Mi-parti-Kleidung im oberen Teilbild – wiederum die einzige des Handschriftengrundstocks –, die um 1300 wohl als hochmodisch galt und mit der Hadlaub vielleicht in seiner Eigenschaft als Sänger und Vortragskünstler ausgezeichnet werden sollte.35 Im Sinne einer Auszeichnung als ‚Sangesmeister‘ ist wohl auch das ihm zugeschriebene Meister-Attribut zu deuten. Ein universitärer Magistergrad kommt jedenfalls nicht in Betracht, denn dieser wäre im Hauskaufsvertrag höchst wahrscheinlich, im Großmünster-Nekrolog sogar mit Sicherheit registriert worden, wie dies etwa beim Zürcher Sängerkollegen Meister Heinrich Teschler der Fall war.36 Hadlaubs Nähe zur Redaktion von C führte schon früh zur Annahme, dass die handschriftliche Anordnung der Lieder auf ihn selbst zurückgehe. Daran anknüpfende Versuche, eine durchgehend chronologische Reihung oder eine biographistisch gedeutete Zyklenbildung nachzuweisen,37 sind jedoch gescheitert und methodisch prinzipiell unzulänglich. Hingegen wies Schleicher zu Recht darauf hin, dass sich in bestimmten Abschnitten der Sammlung eine thematisch orientierte Regelmäßigkeit erkennen lässt, indem sich Sommer- und Winterlieder (beziehungsweise statt Letzteren auch Herbst- oder Erntelieder) streng alternierend abwechseln. Dies ist der Fall in den Liedergruppen SMS 18–31 und 35–42, die durch eine Minneklage ohne Natureingang sowie zwei Tagelieder voneinander getrennt werden. Eine weitere Gruppierung bilden z. B. die Klagegesänge SMS 45–49, bei denen ein Disput des Sängers mit Frau Minne den Anfang macht und sich die folgenden Stücke alternierend an alle Frauen beziehungsweise an die eine Geliebte richten. Ähnlich wie bei Steinmar zeichnet sich demnach ein eher oberflächliches, dem Wunsch nach Abwechslung gehorchendes Ordnungsprinzip ab, aus dem weder über die relative Chronologie der einzelnen Lieder noch über jene der Liedergruppen Verbindliches abzuleiten ist. Auch die von Leppin ins Spiel gebrachte These, wonach die ersten drei (SMS 1, 2 und 8) und die letzten zwei Lieder der Handschrift (SMS 5 und 6) eine vom Dichter bewusst gesetzte ‚historische Klammer‘ um das Kernkorpus der eigentlichen Minnegesänge bilden sollen, muss hinterfragt werden. Gerade die exponiertesten Lieder 1 und 6 lassen sich dieser Definition schwerlich zuordnen.38 Die alternative Option, dass ursprünglich die drei Leichdichtungen SMS 51–54 den Abschluss bilden sollten und die beiden dahin35 Dies scheint bei den Nachträgen dann mehrfach der Fall zu sein, vgl. besonders die Miniatur des zweiten Nachtragmalers zu Nr. 129, Heinrich Frauenlob. 36 Vgl. Schiendorfer 1991, 101–105. 37 Zuerst Schleicher 1888, 41–44. 38 Mit welcher Rechtfertigung Leppin Hadlaubs Lied 6 gleichwohl als ‚h i s t o r i s c h e s‘ Erzähllied gewertet wissen möchte, bleibt unerfindlich (LEP, 22 u. ö.).
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ter noch folgenden Lieder nachgetragen wurden – sei es, weil sie bei der Reinschrift zunächst übersehen worden waren oder tatsächlich erst später entstanden –, bleibt daher weiter zu beachten. Dies gilt gerade darum umso mehr, als die End- anstelle der in C sonst vorherrschenden Anfangsposition der Leichs „äußerst ungewöhnlich“ ist.39 Einzig im Falle Hadlaubs sollten sie eben nicht nur dem Dichterkorpus, sondern mehr noch dem Liedersaal als Ganzem ein prunkvolles Schlussbukett aufsetzen. Egal, ob und in welcher Weise Johannes Hadlaub am Zustandekommen der Liedersammlung aktiv mitgewirkt haben mag, er hatte jedenfalls Zugang zum stetig wachsenden Fundus der Herren Manesse, und davon war er natürlich auch als produzierender Liederdichter maßgeblich betroffen. Mehr als irgendeinem Sänger zuvor boten ihm die in Zürich zusammengetragenen liederbuoch (SMS 8,1, V. 6) die Chance, sich in die Gattungsgeschichte des höfischen Sangs fundiert einzuarbeiten und sich an den vorangegangenen Sängergenerationen in vielerlei Hinsicht zu schulen, ja sich von ihnen auch zu eigenen originellen Einfällen inspirieren zu lassen. So gibt es denn kaum einen Liedtypus, an dem Hadlaub seine Kunst nicht versucht hätte. Am zahlreichsten vertreten sind die mehrheitlich konventionellen Lieder mit Sommer-Natureingang (SMS 19, 21, 23, 25, 27, 29, 31, 35, 37, 39, 41, 47).40 Allerdings insistiert Hadlaub mehr als jeder andere auf jenen ultimativen Sommerwonnen, welche die jetzt wieder öfter unter freiem Himmel – und zudem in liebreizend leichten Kleidchen – zu erblickenden schönen Frauen gewähren. Vor allem aber stechen die beiden sogenannten Blumenbettlieder SMS 35 und 41 ins Auge, die sich (dieses offenbar problematisierend) auf Walthers sogenanntes Mädchenlied Under der linden (L 39,11) beziehen.41 Daran schließen sich als Nächstes die Minnelieder ohne Natureingang (SMS 9–13, 16, 32, 45, 46, 48, 49) und die Winterlieder an (SMS 3, 26, 28, 30, 36, 38, 40, 42). Und auch den Herbst zieht Hadlaub für drei seiner einleitenden Saisonschilderungen hinzu (SMS 18, 20, 44).42 Denn anders als bei Steinmar, dem Vorreiter der Herbstmotivik im Minnesang, fungiert die üppige Jahreszeit der Ernte und Lese bei Hadlaub nicht als Substitut der undankbaren und daher nicht länger umworbenen Minnedame, sondern vielmehr als Variante des traditionellen Sommereingangs: Während alle Welt in den herbstlichen Sinnenfreuden schwelgt, bleibt einzig der unglücklich Minnende davon ausgeschlossen. Die sich wiederum hier thematisch anschließenden Erntelieder (SMS 22, 24, 43) stellen als Liedtyp eine Neuschöpfung Hadlaubs dar, wenn er auch einzelne Züge schon bei früheren Sängern vorfinden konnte. Das bäuerliche Milieu sowie gewisse dort angesiedelte frivole Liebesspiele hatte ja bereits Neidhart geschildert (z. B. im Winterlied 8). Oder bei Ulrich von Winterstetten fand sich jenes 39 Kreibich 2000, 91, Anm. 192; vgl. weiterhin zu Hadlaubs drei Leichs Kreibich 2000, 91–102; Fischer 1996, 195–226. 40 Eine exemplarische Interpretation des Sommerlieds SMS 39 bietet Loleit 2008. 41 Zu Hadlaubs Blumenbettliedern vgl. Brinkmann 1985, 214–218, sowie zuletzt ausführlich Neudeck 2004 und Backes 2008. 42 Zu Hadlaubs Herbstliedern vgl. Grunewald 1976, 68–74; Adam 1979, 88–94.
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liebeshungrige Mädchen, das seiner Mutter droht: ich wil in die erne oder anderswâ (KLD 4,5,V. 14). Für Hadlaub gilt freilich auch hier wieder, dass der Sänger nicht zu den Profiteuren der günstigen Gelegenheit zählen darf – zumal seine Angebetete natürlich nicht unter dem Erntegesinde zu suchen ist. Auch anstelle des traditionellen WinterNatureingangs ließ Hadlaub sich originelle Ersatzmotive einfallen, so vor allem die sprichwörtlichen (beziehungsweise literarisch-topischen) Hausstandssorgen in SMS 7,43 von denen ein minderbemittelter Familienvater zur Verzweiflung getrieben wird. Analog zu den winterlichen Unbilden dienen ihm nun auch diese zu einem Überbietungstopos: Sogar die bekanntermaßen existenzbedrohlichen Hausstandssorgen werden durch das Minneelend des Sängers weit in den Schatten gestellt. Und dasselbe gilt für die von den Schwerstarbeitern aus der Gilde der Köhler und Kärrner durchlittenen Torturen (SMS 17). Selbstredend dürfen bei Hadlaub auch verschiedene Ausflüge in das genre objectif nicht fehlen. Bereits die schon erwähnten Blumenbettlieder lassen erkennbar den Gattungstyp der Pastourelle anklingen, und zum Typus des Tagelieds hat er gleich vier Variationen beigesteuert (SMS 14, 33, 34, 50). Auffallend ist deren Tendenz, das Hauptinteresse vom heimlichen Liebespaar auf die Figur des Wächterkomplizen zu verlagern, den Hadlaub sich selbst als unzuverlässigen Hasenfuß bloßstellen lässt. Dazu dürfte ihn nicht zuletzt erneut ein Lied Steinmars (SMS 5) angeregt haben. Inhaltlich ergänzend neben die Tagelieder stellt sich sodann das Abendlied (,Serena‘). Dieses bietet gewissermaßen deren Vorgeschichte und schildert das listige Umgehen der huote, das Eintreffen des Geliebten und den freudvollen Auftakt ins nächtlichsinnliche Stelldichein (SMS 51).44 Endlich verbleibt noch das Lied vom Streit zweier Bauerntölpel um die Dorfschöne, das die wiederum bei Neidhart vorgefundenen analogen Konstellationen aufgreift und zu einem flott erzählten burlesken Dramolett ausgestaltet (SMS 15). Als Hadlaubs wichtigster poetologischer Originalbeitrag zum Minnesang gelten aber gemeinhin seine → Erzähllieder, eine eigentümliche Hybridform, in welcher charakteristische Elemente des genre subjectif mit solchen des genre objectif verschmelzen. Am eindeutigsten diesem Typus zuzuordnen sind SMS 1–2 und 4–6,45 wobei aber auch SMS 11, 13 und 16 Ansätze in gleiche Richtung zeigen. Allgemein gesprochen präsentiert sich der Sänger dieser Lieder jeweils als Akteur einer rückblendend in Ich-Rede berichteten pseudobiographischen Episodenhandlung, die ihn beispiels-
43 Zum Lied von den Hausstandssorgen und dessen literarischer Vorgeschichte vgl. bes. Schwob 1980/1981 und Schiendorfer 1993c. 44 Vgl. dazu insbesondere Moser 1970 mit dem Verweis auf den alten Kiltbrauch ‚Hengert‘, an den Hadlaubs Schilderung sich offenbar eng anschließt, sowie Leppin 1984/1985. 45 An neueren Forschungsbeiträgen vgl. zu SMS 1 Schiendorfer 1993b; zu SMS 2 Schiendorfer 1993a, Müller 1996, 67–74; Oswald 2005, 33–37; Brinker-von der Heyde 2008, 190–196; zu SMS 4 Hoffmann 2012; zu SMS 5 Thumser 2012; zur ganzen Liedgruppe Fischer 1996, 65–121; Mertens 1998a, 338–340.
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weise beim Spaziergang vor der Stadt unverhofft auf seine Geliebte treffen ließ (SMS 6). Ein andermal will er beobachtet haben, wie sie in ihrer ganzen Anmut ein kleines Kind liebkoste (SMS 4), oder er will ihr heimlich in Pilgerkleidung nachgeschlichen sein (SMS 1), um ihr hinterrücks einen Liebesbrief an den Mantel zu heften. Gemeinsam ist all diesen ‚Erlebnisberichten‘, dass ihnen stets eine klassisch-konventionelle Minneklage auf dem Fuß folgt, da sich die Dame ungeachtet ihrer vorübergehenden körperlichen Nähe auch weiterhin als unnahbar erweist. Durch das pseudobiographische Präludium wächst nun freilich diesen konventionellen Klagen eine durchaus neuartige Qualität zu, denn im Unterschied zu den klassischen Vorläufern wie etwa → Reinmar oder → Gottfried von Neifen ist es nun eben nicht mehr ein phantomhaftes, idealisiertes und daher annähernd austauschbares lyrisches Subjekt, das sie äußert, sondern ein (vorgeblich) konkretes und behaftbares Individuum. Diese „‚Realinszenierung‘ des Autors als Minnenden“46 soll aber nicht nur der etwas blutleeren Rollenfigur des klagenden Minnedieners neues Leben einflößen, sondern der Kunstform des traditionsverpflichteten hohen Minnesangs insgesamt. Der „minnesängerische Schluß der Erzähllieder [ist] ihre eigentliche Pointe, um seinetwillen wurden sie inszeniert“47. Dass im Übrigen bereits Hadlaub selber die Erzähllieder als eine besondere Untergattung seines facettenreichen Œuvres verstanden hat, macht er allein schon durch den Einsatz der identischen Strophenbauform in den Liedern SMS 2–6 hinreichend deutlich. Nun gilt ja die Wiederverwertbarkeit von Tönen keineswegs als konstitutives Merkmal des Minnesangs, sondern vielmehr der Sangspruchdichtung. Und auch in dieser anderen Hauptgattung höfischer Sangeskunst hat Hadlaub wenigstens zwei Kostproben in Form von Preisliedern hinterlassen. SMS 2,13 ist eine panegyrische Einzelstrophe, welche die erst kurz zuvor, im Juli 1293, erfolgte Wahl Heinrichs von Klingenberg zum Konstanzer Bischof feiert. Um eine das Lied planvoll abschließende Geleitstrophe48 kann es sich dabei schwerlich handeln, da die vorausgehenden Strophen, in denen der Klingenberger nun schon ganz selbstverständlich als in Amt und Würden stehender vürste von Konstenz apostrophiert wird (SMS 2,7, V. 1, und 9, V. 3), offenkundig erst etwas später anzusetzen sind. Es war also wohl eher umgekehrt der zuerst als aktuelle Gelegenheitsdichtung separat entworfene Fürstenpreis, der Hadlaub in der Folge auf den originellen Einfall brachte, zur selben Melodie auch noch ein Erzähllied zu konzipieren, in welchem neben dem Klingenberger weitere historische Persönlichkeiten in der Rolle seiner angeblichen ‚Minnehelfer‘ auftreten. Und diesem Lied wiederum ließ er gleich nochmals ein ähnlich gestricktes, nun aber primär zu Ehren des Freiherrn von Regensberg vorgesehenes folgen (SMS 5). Bilanzierend kann man sagen, dass in diesen zwei ‚historischen Erzählliedern‘ nicht nur die genres subjectifs und objectifs, sondern auch die Traditionslinien des Minnelieds 46 Mertens 1988, 64. 47 Mertens 1988, 64. 48 So Leppin 1995, 130 und 138.
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und des höfischen Spruchsangs eine durchaus glückliche Verbindung miteinander eingegangen sind. Auf der in SMS 2 präsentierten Namenliste prominenter Zeitgenossen erscheint her Rüedge Manesse in aller Bescheidenheit erst ganz zum Schluss (SMS 2,9, V. 5). Diesem herausragenden Zürcher Stadtritter und Magistraten und seinem Sohn Johannes, dem lokal ebenfalls respektablen Thesaurar der Großmünsterpropstei, widmet Hadlaub dafür in SMS 8 ein desto glanzvolleres Denkmal, dies jedoch ausdrücklich in Würdigung ihrer ‚nebenamtlichen‘ Verdienste um die Minnesangkunst. An beidem sei ihnen gleichermaßen gelegen, am Sammeln und Archivieren der ‚alten Meister‘ ebenso wie an der Förderung der aktuell noch praktizierenden Sänger. Denn beides ist gleichermaßen unabdingbar, sollen boun und würzen (SMS 8,1, V. 9) des edlen Sangs vor dem um 1300 wohl wirklich bereits zu befürchtenden Untergang bewahrt werden und weiterhin florieren.49 Und in der Tat: Mehr als die Hälfte der uns heute bekannten Minnesangzeugnisse verdanken wir ausschließlich dem einmalig ambitionierten, auf die Mehrung ihrer eigenen Ehre ebenso wie auf das Lob der edlen Frauenwelt abzielenden Effort der Herren Manesse (SMS 8,2, V. 7–11), darunter nicht zuletzt auch die Lieder ihres ‚Hofsängers‘ Johannes Hadlaub.50
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49 Zur metaphorischen Umschreibung des edlen Sangs als eines im Zürcher Manessehof wurzelnden Baumes vgl. zuletzt Oswald 2005, 37–42. 50 Zu der erst mit Johann Jakob Bodmer und vor allem Gottfried Keller aufblühenden neuzeitlichen Hadlaubrezeption in Literatur und Bildenden Künsten vgl. die Überblicksdarstellung und Dokumentation bei Schiendorfer 1986, 217–235, und Schiendorfer 1990.
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Sandra Linden
Ulrich von Liechtenstein und Oswald von Wolkenstein – das Spiel mit der Biographie 1 Vorbemerkungen Ulrich und Oswald – zwei Autoren mit einem zeitlichen Abstand von mehr als hundert Jahren und dennoch vielen Verbindungen, die eine gemeinsame Besprechung im vorliegenden Handbuch motivieren. Eine erste Gemeinsamkeit liegt in der reichen historischen Bezeugung: Über den steirischen Ministerialen Ulrich von Liechtenstein (1200/1210 bis nach 1274), der schließlich zum Landrichter und Marschall der Steiermark aufsteigt, ergibt sich aus 94 urkundlichen Belegen ein differenziertes Bild,1 und die Quellen über den Südtiroler Adligen Oswald von Wolkenstein (1376/77–1445) füllen sogar ein fünfbändiges Regesten- und Quellenwerk.2 Für Oswald ist dokumentiert, dass er zum Ratgeber des Königs und späteren Kaisers Sigmund avanciert, in dessen Umfeld er mehrfach zu finden ist.3 Oswalds Ehe mit Margarethe (wohl ab 1417), die aus der reichsunmittelbaren Familie der Schwangauer stammt, ist ebenso belegt wie seine Streitigkeiten um die Burg Hauenstein, die ihm durch großväterliche Erwerbungen zu einem Drittel gehörte und ihm zwei Gefangenschaften einbrachte (1421/22 und 1427). Die historischen Quellen zeigen beide Autoren als regional einflussreiche Politiker, nicht jedoch als Dichter und Sänger, und dennoch haben beide auf sehr unterschiedliche Weise für die Überlieferung ihres literarischen Werks Sorge getragen. Ulrich ordnet sein lyrisches Werk zu einem Autorœuvre an, indem er seine Lieder in die fiktive Autobiographie ‚Frauendienst‘ integriert, die vom Leben des Minnedieners Ulrich erzählt – er ist somit der einzige Minnesänger, für den eine vom Sänger selbst autorisierte Liedreihenfolge überliefert ist. Von Oswald sind zwei Autorsammlungen erhalten, die er selbst in Auftrag gegeben hat und die in ihrem Grundstock noch zu seinen Lebzeiten fertiggestellt wurden. Ulrich und Oswald finden sich zudem darin, dass sie – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise – mit dem Faktor des Autobiographischen experimentieren und ihn zu einem bestimmenden Charakteristikum ihres Werks machen. Die Frage nach
1 Für eine ausführlichere Darstellung des historischen Ulrich von Liechtenstein vgl. Linden 2010. Die früheste Urkunde mit Ulrich als Beteiligtem datiert auf den 11.05.1227, als er zusammen mit seinem Bruder Dietmar auftritt, die letzte Urkunde stammt vom 27.08.1274. Einen Überblick über die urkundliche Bezeugung bietet Spechtler 1999. 2 Vgl. Schwob 1999–2013. 3 Etwa 1415 auf dem Konstanzer Konzil, 1430/31 in Wien und auf dem Nürnberger Reichstag, 1432 auf dem Weg zur Kaiserkrönung nach Rom, um nur einige Stationen zu nennen. https://doi.org/10.1515/9783110351859-046
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dem Biographischen ist ein beliebtes Forschungsthema für beide Autoren (für Oswald noch forcierter als für Ulrich),4 und so ist im Folgenden vor allem zu prüfen, ob gerade die vergleichende Betrachtung neue Aufschlüsse über die Funktion des Biographischen gibt und das Verhältnis von literarischer Rolle und biographischer Referenz neu zu bewerten hilft.
2 Ulrich von Liechtenstein Die Literaturgeschichten kennen Ulrich nicht nur als Minnesänger, dessen 58 Lieder in der Manessischen Liederhandschrift überliefert sind, sondern auch als Autor des 1850 Strophen umfassenden ‚Frauendienst‘.5 In diesem Minnedienerleben werden Topoi des hochhöfischen Minnesangs wie der Dienst von Kindesbeinen an oder das fortwährende Dienen ohne Lohn in konkrete Narration umgesetzt,6 zudem sind neben Minnebüchlein7 und Briefen auch Ulrichs Lieder als Bestandteile des Minnedienstes in den Text inseriert. Der wohl um 1255 entstandene Text gibt sich als Autobiographie: Ulrich berichtet als Ich-Erzähler in der Rückschau von seinem Leben als Minnediener im Dienst zweier Damen.8 In der Gattungsgeschichte des Minnesangs gilt Ulrich nicht als großer Innovator; weder in formaler noch in inhaltlicher Hinsicht zeigt das Liedkorpus einen markanten Charakter, der ihn unverwechselbar von anderen Sängern absetzen würde. Seine Qualität liegt vielmehr darin, in einer Art Bestandspräsentation „die poetologische Kontinuität des Minnesangs“9 dokumentiert zu haben. Es gibt zwar gegenüber der Tradition einige Neuerungen, z. B. eine kommentierte Tageliedkritik (Lied 36 und 40; → Tagelied) oder – vielleicht in Rekurs auf → Reinmars Lied MF 179,3, V – die Etablierung des personifizierten hôhen muotes als Stellvertreterfigur des Ichs (programmatisch in Lied 32, vgl. auch die Lieder 41, 47 und 53). Doch in der Gesamtsicht gewinnt man den Eindruck, dass Ulrich den Minnesang nicht diskutieren, sondern eher affirmativ vorführen will, dies aber mit dem Anspruch, die Gattung in ihrer ganzen Breite aufzuzeigen. Einen Erklärungsansatz für dieses betont breite Œuvre kann man wiederum in der besonderen Überlieferungssituation finden: Genau wie Oswald kann Ulrich sein 4 Braun 2013, 137 hat der Oswald-Forschung ein „Begehren nach dem Biographischen“ attestiert. 5 Ulrichs von Liechtenstein Lieder werden zitiert nach BECH-FD; vgl. auch FD. Eine Neuedition der Lieder Ulrichs durch Sandra Linden in der Reihe ‚De Gruyter Texte‘ ist in Vorbereitung. 6 Vgl. Peters 1971. 7 Zu den im ‚Frauendienst‘ integrierten Büchlein fügt sich auch das im Ambraser Heldenbuch überlieferte Frauenbuch Ulrichs, das Regeln des Minneverhaltens diskutiert (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Ser. nova 2663, 220va–225rb). 8 Zum autobiographischen Schreiben im ‚Frauendienst‘ vgl. Glauch 2016 mit weiterer Literatur. 9 Hübner 2000, 333.
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Autorœuvre aktiv modellieren, verdankt sich das überlieferte Korpus nicht einer zeitlich versetzten Sammlung durch Minnesangkenner wie den Manesse-Kreis, sondern unterliegt einem deutlichen Willen der Selbstpräsentation des Autors. Man kann wohl davon ausgehen, dass Ulrich den ‚Frauendienst‘ erst dann verfasst, als er schon zumindest über einen gewissen Grundstock an Liedern verfügt und eine gewisse Bekanntheit als Minnesänger erreicht hat. Ein wichtiges Motiv mag dabei die Überlieferungsfestigkeit gewesen sein, die sich ja auch tatsächlich bewährt: Dass die Sammler von C den ‚Frauendienst‘ kannten, lässt sich aus der Autorminiatur erschließen,10 denn Ulrich wird hier mit einer Venushelmzier abgebildet, die sich auf die im ‚Frauendienst‘ geschilderte Venusfahrt bezieht. Der ‚Frauendienst‘ stellt innerhalb der Minnesangüberlieferung einen Sonderfall dar, da das Ich der Lieder durch die Einbettung in eine Narration als Minnediener Ulrich konkretisiert wird. Das vielfältige Panorama der Lieder entwirft zwar ganz unterschiedliche Ich-Rollen, doch werden diese durch das im Hintergrund stets präsente Œuvre-Ich zu einem Lebenslauf gebündelt. Die autobiographische Darstellung richtet sich nicht auf den steiermärkischen Politiker Ulrich von Liechtenstein, sondern ausschließlich auf den Minnediener Ulrich. Dennoch werden im ‚Frauendienst‘ 172 historische Personen genannt, von denen 86 zusammen mit dem historischen Ulrich in einer Urkunde verzeichnet sind,11 d. h., Ulrichs Zeitgenossen werden in einem historisch plausiblen Personennetzwerk ganz konkret in das System Minnedienst einbezogen. Indem die Minnelieder als Elemente eines erzählten Minnedienstes präsentiert werden, kommt es im ‚Frauendienst‘ zu einer Beschreibung von Minnesangproduktion und -rezeption, und zwar nicht nur für die Minnelieder, die schriftlich an die Dame gesandt werden, sondern auch für den öffentlichen Liedvortrag vor einem höfischen Publikum.12 Die einzige vollständige Handschrift cgm 4413 ermöglicht durch Überschriften, die zudem Liedtypen wie tanzliet, leich oder sincwîse differenzieren,14 ein schnelles Auffinden der Lieder. Der Minnesänger Ulrich sieht das präsentierte Œuvre deutlich als Bilanz: Zweier minner sehtzic dœne ich han | gesungen: die stant gar hier an (Str. 1846), kalkuliert aber zugleich noch zukünftige Liedproduktion ein, wenn er seine Rezipienten um Vervollständigung der noch offenen Autorsammlung bittet.15 10 Vgl. cpg 848, Bl. 237r. 11 Vgl. die Liste bei Linden 2010, 93–98. 12 Vgl. etwa Str. 1383: Diu liet diu wâren sinne rîch: | si dûhten manigen gämellîch; oder auch Str. 1398: Diu liet vil maniger niht verstuont, | als noch die tumben ofte tuont; | swer aber was sô rehte wîs, | der sî verstuont, der gabe in prîs. 13 Neben der Münchener Handschrift cgm 44 gibt es noch zwei Fragmente (Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, Fragm. germ. 10; Landshut, Staatsarchiv, Vom Einband der Fischmeisteramtsrechnungen 1510), die zumindest auf eine gewisse Verbreitung des ‚Frauendienst‘ hinweisen. 14 Zu den Liedüberschriften vgl. die detaillierte Darstellung bei Schmid 2012, vor allem 91–96. 15 Vgl. Str. 1847: noch wil ich vrowen lop niht lân: | ich wil si gerne loben mê. | swer welle, daz ez hier an stê, | swenne ichz gesinge, der schrîbe ez dran.
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Das Panorama vieler unterschiedlicher Minneliedtypen ergibt sich im ‚Frauendienst‘ schon allein durch die Darstellung zweier Minnedienste: Während der Dienst für die erste Dame dem klassischen Modell der Hohen Minne mit einer unerreichbaren Minnedame verpflichtet ist, zeichnet sich der zweite Dienst durch Elemente der Gegenseitigkeit aus. Die Lieder sind in etwa zu gleichen Teilen auf beide Dienste verteilt, nicht jedoch die erzählenden Passagen, denn der erste, handlungsreiche Dienst für die abweisende Minnedame ist viel ereignisreicher als der zweite, der eher von einem Einverständnis der beiden Minnedienstpartner geprägt ist. Im ersten Dienst zeigt der Minnediener Ulrich die unbedingte Bereitschaft, sich dem Willen der Dame zu unterwerfen, was bis zur Selbstzerstörung geht, etwa wenn er den von der Dame kritisierten ungefüege (Str. 80) aussehenden Mund operativ korrigieren lässt oder ihr einen abgeschlagenen Finger in einem Miniatursarg zusendet. In der Drastik und Konsequenz des Minnewerbens entwickelt der erste Dienst eine Reihe von mitunter auch komischen Werbungsszenen, in denen die Lieder hauptsächlich zur Kontaktaufnahme und Dienstversicherung gegenüber der Dame genutzt werden. Zu Ulrichs Diensten für die erste Dame gehört aber auch die Venusfahrt, die er als aufwendige ritterliche Verkleidungsfahrt von Italien bis nach Österreich veranstaltet. Nach einem misslungenen Stelldichein mit der Dame markiert Ouwê daz ich bî den wolgemuoten (Lied 14) einen Wendepunkt in der Beziehung, denn die Dame gewährt ihm in Reaktion auf dieses Lied einen nicht näher bestimmten Minnelohn (Str. 1348–1349). Das Lied führt vor, wie das Ich in der Gedankenwelt positive Emotionen generieren kann, wenn es ganz unabhängig von der Verweigerung der Dame seine Liebeshoffnungen imaginiert. Erst als Ulrich nicht mehr drängend die Liebeserfüllung fordert, scheint die Dame zu Zugeständnissen bereit. Es folgt eine Zeit der erfüllten Minne, die durch geringe narrative Rahmung und eine dichte Liedfolge charakterisiert ist, bis eine untât der Dame (Str. 1361) den ersten Dienst zu einem abrupten Ende führt. Zwar sind die Lieder im ‚Frauendienst‘ grundsätzlich in einen biographischen Lebensverlauf integriert, aber in der Zusammenschau fällt doch auf, dass passend zu den Stationen des Minnedienerlebens auch bestimmte Liedtypen gruppiert werden. So wird die Dienstaufsage zur Möglichkeit, die Liedgattung der Scheltlieder zu entfalten (Lieder 20–22), worauf die wânwîsen folgen (Lieder 27, 28, 29 und 31; zum Terminus vgl. Str. 1376), die sich in einer Zeit der Suche nicht an eine konkrete Dame, sondern hoffnungsvoll an alle richten. Im zweiten Minnedienst dominieren dann Liedtypen mit einem geringeren hierarchischen Gefälle zwischen Ich und Dame wie etwa → Dialoglieder (Lieder 30 und 33)16 oder auch stärker verallgemeinernde Lieder, die über die Minne an sich reflektieren und sich in einen bestehenden höfischen Minnediskurs eingliedern (Lieder 49, 50, 51, 53 und 54).17 Besondere Aufmerksamkeit verwendet 16 Lied 10 aus dem ersten Dienst ist ebenfalls zu den Dialogliedern zu rechnen, doch handelt es sich um einen Dialog mit Frau Minne. Zu den Dialogliedern vgl. Eming 2011. 17 Diesen Zielpunkt des höfischen Colloquiums betont Lutz 2013, der das, was ich in meiner Dissertation (Linden 2004) als ein singulär auf Ulrich bezogenes Experimentieren mit Formen höfischer
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Ulrich in den Minnephantasieliedern im zweiten Dienst (Lieder 41, 56 und 57) auf die mit der → Imagination verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten, indem ein Grundproblem des Minnesangs, nämlich erfüllte Minneinteraktion zu beschreiben, ohne die Diskretionspflichten zu verletzen, durch eine Verschiebung der Aussageebenen umgangen wird: Liebeserfüllung wird nicht als reale Handlung gefasst, sondern in die Sphäre des Gedanklichen verschoben.18 Dabei betont Ulrich nicht etwa eine Defizienzerfahrung in der Unterscheidung von Phantasie und Wirklichkeit, sondern gesteht der Imagination eine höchst reale Wirkung auf die innere Disposition des Ichs zu, denn der aus der vorgestellten Liebeserfüllung entspringende hôhe muot lässt sich als echte Emotion aus dem Sang generieren und dauerhaft bewahren – ganz ähnlich hatte schon Gottfried von Straßburg in der rede von guoten minnen im ‚Tristan‘ den Aufschwung beschrieben, der sich aus der intensiven Meditation über eine ideale Minne ergeben kann.19 Der hôhe muot ist nun die charakteristische Einstellung des Sänger-Ichs und wird in Hôher muot, nu wis enpfangen (Lied 32) zur Personifikation ausgebaut. Das Lied entfaltet dabei durch das Miteinander zwischen Ich und hôhem muot eine Interaktionsebene, ohne die Konzentration auf das liebende Ich durch zusätzliches Personal zu verwässern, und so wird die Ich-Reflexion mit Hilfe der Personifikation zu einer bewegten Szene auserzählt. Nach dem ereignisreichen ersten Minnedienst bietet die Idealität der zweiten Dame wenig Ansatzpunkte für eine narrative Entfaltung. Die Darstellung öffnet sich zunehmend dem Politischen und geht nach einer Klage über den Tod des österreichischen Herzogs Friedrich des Streitbaren zu einer Beschreibung der verheerenden gesellschaftlichen Zustände während des österreichischen Interregnums über. In dieser rechtlich unsicheren Lage, in der Ulrich sogar von seinen eigenen Dienstmännern gefangengenommen wird, schenkt nur noch der Sang Zuversicht: die Gefangenschaftslieder (Lieder 47–48) entfalten ähnlich wie die Minnephantasielieder eine Trostwirkung durch die → Imagination der Dame. Die Narration geht immer weiter ins Reflexive und Didaktische über,20 zugleich nimmt die Frequenz der Lieder deutlich zu; das epische Präteritum des Textes wird schließlich zum Ende des ‚Frauendienst‘ kaum noch realisiert, sondern ist ganz durch ein reflektierendes Präsens ersetzt, so dass sich die Lieder inhaltlich kaum noch von den übrigen Textpassagen abheben.
Kommunikation beschrieben hatte, breiter perspektiviert und treffend als das Bemühen des Autors versteht, sich möglichst anschlussreich in ein schon bestehendes Gespräch über den Frauen- und Minnedienst einzuschreiben und an einem vielschichtigen Diskurs über ein schönes und kunstvolles Sprechen über die Minne teilzunehmen. 18 Zur dynamisierenden Funktion der → Imagination im Hohen Sang vgl. den Beitrag von Kellner im vorliegenden Band. 19 Vgl. etwa Str. 1789–1790; vgl. auch Lutz 2013, 274, der jedoch vor allem die Lieder analysiert, in denen das Ich über die Tugend der Minnedame reflektiert. 20 Zur Selbstauflösung des Erzählens im ‚Frauendienst‘ vgl. Bleumer 2011.
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Die Tendenz zur Konkretisierung und Narrativierung, die schon Hugo Kuhn als charakteristisches Merkmal für den Minnesang im dreizehnten Jahrhundert herausgestellt hatte,21 zeigt sich nicht in Ulrichs Liedern, sondern in der ‚Frauendienst‘-Erzählung. Die Bewegung weg von der Reflexion hin zur Darstellung eines stärker handlungsbasierten und narrativ ausgestalteten Minnedienstes teilt Ulrich also mit anderen Minnesängern des dreizehnten Jahrhunderts, lediglich der Ort, an dem diese Konkretion literarisch umgesetzt wird, ist ein anderer.
3 Oswald von Wolkenstein Oswald von Wolkenstein attestiert man gern eine gewisse Egozentrik, sieht in seinen Liedern ein starkes Ich, das vielfach auf die außerliterarische Existenz des historischen Autors anspielt.22 Tatsächlich bieten die Lieder neben markigen Ich-Aussagen des Wolkensteiners auffällig viele Orts- und Personennamen, die durch ihre konkrete realhistorische Referenz eine biographische Lesart motivieren. Die spezifische IchPräsentation, die wie bei Ulrich von Liechtenstein über eine biographische Anreicherung des Ichs funktioniert,23 steht dabei wieder in direktem Zusammenhang mit den Bedingungen der Überlieferung. Durchaus untypisch für die mittelalterliche Liedüberlieferung betreibt Oswald hohen Aufwand, um die geordnete schriftliche Fixierung der eigenen Dichtung sicherzustellen, indem er zwei Handschriften selbst in Auftrag gibt:24 Handschrift A (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2777) ist mit einem Grundstock von 43 Liedern 1425 abgeschlossen, Nachträge sind bis um oder nach 1436 vorgenommen worden, bis eine Sammlung von 108 Lieder entstanden ist. Handschrift B (Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Cod. ohne Signatur), die als Ausgabe letzter Hand gilt,25 ist in ihrem Hauptteil auf den 30. August 1432 datiert und bietet insgesamt 118 Lieder.26 Beide Handschriften schalten den Liedern ein ganzseitiges Autorportrait vor und verknüpfen so den Inhalt der Handschrift mit der historischen Person des Autors. Dieser lässt sich im Ganzkörperbild von Handschrift A als vortragender
21 Vgl. Kuhn 1967. 22 Zur Diskussion dieses Forschungsansatzes vgl. grundlegend Spicker 1993, 73–115. Ein besonderes Interesse an der Person Oswald zeigt auch das aktuelle Handbuch Müller und Springeth 2011. 23 Vgl. Mertens 1998, der die Biographisierung mit dem Spannungsfeld von mündlicher und schriftlicher Liedform in Verbindung bringt. 24 Vgl. aber Hugo von Montfort, für den ebenfalls eine von ihm selbst autorisierte Handschrift (cpg 329) vorliegt. 25 Vgl. Wolf 2003, hier 196. 26 Als dritte Haupthandschrift für Oswalds Lieder ist Handschrift c (Innsbruck, Landesmuseum Ferdinandeum, Cod. FB 1950) zu nennen, die – wohl als Abschrift von Handschrift B – 116 Lieder ohne Noten enthält.
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Sänger mit einem Notenblatt in der Hand darstellen, während das Portrait in Handschrift B eher den Politiker Oswald abbildet, wobei er die repräsentativen Insignien des Greifen- und Kannenordens auf beiden Bildern trägt. Burghart Wachinger und nach ihm Johannes Spicker haben zehn Liedtypen in Oswalds Œuvre differenziert,27 nämlich Tagelieder, Liebeslieder in der Ich-Form, Liebesdialoge, eine Minneallegorie (OSW 52), Lieder mit ausführlicher Naturdarstellung, Kontraste zur feinen Liebe wie etwa die Pastourelle, geistliche Lieder, weltliche Didaxe, politische Lieder und schließlich Erzähllieder. Die Lieder, die als eine Art Lebensbericht autobiographischen Charakter einnehmen, fallen größtenteils in die Kategorie der → Erzähllieder, stellen also nur eine Sparte in Oswalds vielfältigem Werk dar,28 allerdings eine, die von der Forschung mit besonderem Interesse betrachtet wurde.29 Es ist zu fragen, welche literarischen Effekte sich daraus ergeben, dass das Ich wiederholt auf außertextuelle Referenzen verweist. Dabei ist sich die neuere literaturwissenschaftliche Forschung weitgehend einig, dass es dem Autor nicht primär darum geht, möglichst neutral über einen faktualen Lebensverlauf zu berichten, sondern dass die Ich-Stilisierung, die autobiographisches Material mit literarischen Mustern kombiniert und konfrontiert, eine primär poetische Funktion hat. Die geschilderten Erlebnisse ergeben sich aus einem Wechselspiel von Exemplarität, d. h. der Verarbeitung von allgemeinen Lebensmustern und literarischen Formen, und individueller Erfahrung, die das Ich als einzigartig für sich behauptet. Es fuegt sich, do ich was von zehen jaren alt (OSW 18) ist als Rückschau des Ichs in der Lebensmitte mit den für Lebensaltermodelle topischen 40 Jahren mehrfach auf das komplexe Verhältnis von Dichtung und Wahrheit befragt worden.30 Tatsächlich orientiert sich die Darstellung mit konkreten Altersangaben oder dem Verweis auf Lebensphasen wie die Jugend oder Lebenszäsuren wie Heirat und Familiengründung (als Perspektive in Str. 7) an einem Lebensweg. Vor dem Hintergrund historischer Orte wie etwa im Katalog der bereisten Länder (2) und Personen (3: König Sigmund, Gegenpapst Pedro de Luna) wird eine persönliche Lebensgeschichte entfaltet. Das autobiographische Erzählen nimmt dabei eine signifikante Fokussierung vor, nämlich nicht auf die große Weltpolitik, sondern auf das persönlich eindrückliche Ereignis, das zugleich eine Exklusivität des direkten Erlebens und eine besondere Herrschernähe vermittelt. Oswalds Lied-Ich berichtet nicht von den politischen Themen des Konstanzer Konzils, über die der historische Oswald als Augenzeuge informiert war,
27 Vgl. Wachinger 1989 und Spicker 2011, 202–206. Daneben sind natürlich andere Kategorisierungen denkbar, die wie die Margarethenlieder, die Gefangenschaftslieder oder die hûssorge-Lieder eher von der jeweiligen inhaltlichen Spezifik als von der Integration der Lieder in ein vorhandenes Liedtypenspektrum ausgehen. 28 Vgl. Spicker 2011, hier 211: „Wichtiges Merkmal von Oswalds Liedkunst ist ihre poetische wie musikalische Variationsbreite und Typenvielfalt.“ 29 Vgl. den Forschungsbericht von Hofmeister 2011, hier 335–336. 30 Vgl. z. B. Hirschberg und Ragotzky 1984/1985 und Hartmann 1993.
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vielmehr wird launig zum Besten gegeben, wie Margarita von Prades, die junge Königinwitwe von Aragon, ihm ein Ringlein in den Bart flicht und ihn mit Ohrringen verziert. Der Rezipient wird als derjenige, der nicht dabei gewesen ist, ausgeschlossen, aber zugleich durch das vertrauliche Erzählen im Lied auch wieder involviert. Wie vorhandene literarische Themen und Formen durch die Anreicherung mit autobiographischen Aussagen variiert werden, lässt sich gut anhand der geistlichen Lieder beobachten. So wird z. B. im Marienpreis In Frankereich (OSW 12)31 die Unvergleichbarkeit der vrouwe dadurch hergestellt, dass sie die vom Ich bereisten Länder und Städte übertrifft, so dass eine Form der Selbstdarstellung in die typische Mariensymbolik eindringt. Das Bittgebet OSW 31 Der oben swebt formuliert in kunstvoll gereihten Relativsätzen einen Gottespreis und die Bitte um göttlichen Schutz und folgt somit einem etablierten geistlichen Aussagemuster. Doch indem sich das Ich als – wenn auch angesichts der Aufgabe des angemessenen Gotteslobs unzulänglichen – Künstler zeichnet und Gott als denjenigen beschreibt, aus dem all kunst geflossen ist (2, V. 7), tendiert das Gebet auch zur Selbstinszenierung.32 Und wenn das Ich verspricht, dass es Gott als Gegenleistung für dessen Hilfe auch weiterhin so kunstvoll loben wird (3), klingt dies gar nicht mehr nach einem demütigen Gebet, sondern nimmt sich schon fast wie ein kühl kalkulierter Handel aus. Der Tenor des Bittgebets beziehungsweise des Gotteslobs, in dem das Ich eigentlich eine offene Sprechhaltung einnimmt, in die der jeweilige Beter einstimmen kann, wird durch das Hereindrängen der Ich-Darstellung deutlich verändert. Oswald erweitert auch das geistliche Denkmuster des memento mori, das zur rechtzeitigen Umkehr ermahnt, gegenüber der Tradition, indem er es konsequent in einen persönlichen Lebenslauf übersetzt und so mit konkreter Anschaulichkeit versieht, zugleich aber wieder bricht:33 Zwar sieht das Ich seine Verstrickung in die Sünde und die Notwendigkeit einer sofortigen Umkehr reumütig ein, dennoch wird in OSW 5 Ich sich und hör genau diese geistliche Umkehr unter fragwürdigem Verweis auf körperliche Altersgebrechen verweigert. Das Thema der Todesnähe wird zu einem Argument, um ein reflektierendes Nachdenken über das eigene Leben erst anzustoßen und über ein geistliches Handlungsmuster von Sünde, Reue und Buße zu legitimieren. Aber selbst für das ernste theologische Thema der Sündenschuld kommt durch Distanzierungs- und Spielelemente eine ironische Distanz zum Ich in die Darstellung hinein.
31 Dass mit der vrouwe Maria und wohl nicht Oswalds Ehefrau gemeint ist, hat Lutz 1991 überzeugend gezeigt. Löser 2013, hier 13, hat herausgearbeitet, dass die Inszenierung der eigenen Person auch in geistlichen Liedern möglich ist, und für Oswalds geistliches Liedœuvre neben dem Marienpreis als zweiten Schwerpunkt „religiös-geistlich zu gewichtende Reaktionen des Ich auf die Herausforderungen der Welt“ genannt. 32 Suerbaum 2010 weist für dieses Lied Oswalds Umgang mit Psalmmotiven und in der rhetorischen Formung Parallelen zu Johann von Neumarkt nach, so dass sich zeigt, wie vielfältig die literarischen Traditionen hier zusammenlaufen. 33 Vgl. Linden 2012.
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Zu den Liedern, in denen das Ich am deutlichsten über die eigene psychische Befindlichkeit reflektiert, gehört wohl auch Durch Barbarei, Arabia (OSW 44), das den Topos der hûssorge aufgreift, die Vorgaben aber radikalisiert, indem der Hausherr zu Hause wie ein Fremder ist und sich eher in die Ferne sehnt. Die Forschung hat das Lied als Reflex auf Oswalds Gefangenschaft im Konflikt um die Burg Hauenstein gesehen.34 Es handelt sich im Kern um eine selbstkritische und gebrochene Reflexion, die in depressiver Grundstimmung die Lage des von Familie und Gesellschaft isolierten Ichs bedenkt und zugleich mit dem vor Publikum gesungenen Lied doch auch wieder den Ausgang aus der Vereinzelung sucht. Auch hier ergibt sich der Versuch, die eigene psychische Befindlichkeit in Worte zu fassen, zunächst aus der Variation des Vorhandenen, nämlich der exakten Umkehr eines locus amoenus, wenn das Ich statt mit Vogelgezwitscher und einer lieblicher Quelle mit einem schreienden Esel und einem reißenden Bach konfrontiert ist (3, V. 1–6). Oswalds Lieder suggerieren häufig, dass sie – wenn auch in stilisierter Form – die Erlebnisse einer singulären Person mit ihren je eigenen Ängsten und Sorgen zeichnen, doch offenbart sich beispielsweise für Wie vil ich sing und tichte (OSW 23), wie sehr die Darstellung letztlich ein Textprodukt in Auseinandersetzung mit vorhandenen literarischen Traditionen ist, hier der Erzählung über Alexanders Reise zum Meeresgrund und der Todeserfahrungen, die Paulus im zweiten Korintherbrief beschreibt.35 Wenn sich das Ich nach dem Muster des Apostels Paulus stilisiert, wandelt sich über das literarische Zitat die scheinbar gefährdete Existenz zu einer recht vermessenen Selbststilisierung. Viele Lieder Oswalds gewinnen ihre Auffälligkeit durch den Materialcharakter der Sprache wie etwa im Vogelstimmenlied Der mai mit lieber zal (OSW 50). Das Ausreizen der Klangseite der Sprache ergibt zusammen mit den in den Handschriften A und B überlieferten, oftmals mehrstimmigen Melodien ein komplexes Wechselspiel aus wort und wîse, das sich nur schwer analytisch einfangen lässt, da es primär über eine nicht vollständig rekonstruierbare Performanz läuft.36 Dass der Rezipient aufgrund der metrischen und musikalischen Komplexität oftmals ganz genau hinhören muss, um den Wortsinn zu erfassen, kalkuliert dann etwa auch Vil lieber grüesse süesse (OSW 42) ein, das in einer dynamischen Naturdarstellung die erotische Doppeldeutigkeit der Frühlingsmotive extrem ausreizt. Auch in Ain graserin (OSW 76), das eine Pastourellensituation beschreibt, ergibt sich ein eindeutig zweideutiges Auslegungsspiel, wenn bäuerliche Agrarmetaphorik zur Darstellung des Sexuellen genutzt wird. Hübner sieht in den Liedern, die von erfüllter Sexualität handeln, ein „Konzept des 34 1421 wird Oswald von Martin Jäger auf dem Schloss Forst in Meran festgesetzt und kann 1422 durch Vermittlung des Herzogs gegen eine Bürgschaft freikommen. Da der Grundstock der Handschrift A 1425 abgeschlossen ist und die ersten 43 Lieder in Oswalds Œuvre enthält, könnte OSW 42 vor 1425 entstanden sein. 35 Vgl. McDonald 1982/1983. 36 Vgl. Lukassen 2015.
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Begehrens als Naturprinzip“,37 das sich deutlich von den Legitimierungsfiguren des Minnesangs absetzt. Dabei kann Innovation auch einfach einmal dadurch entstehen, dass inhaltlich Exotisches einbezogen wird, z. B. in der Beschreibung der fremdartigen Spanierin in OSW 21, die mit aufreizenden roten Fingernägeln und langen Hosen merkwürdig quer zu den Kategorien eines konventionellen Frauenpreises fasziniert.
4 Ein gemeinsames Experimentierfeld: das Tagelied Beide Autoren setzen sich ausführlich mit dem Liedtypus des → Tagelieds auseinander, was sich bei Oswald in der Fülle der überlieferten Tagelieder und bei Ulrich in einer poetologischen Kommentierung in den Erzählstrophen manifestiert. Eine Erklärung für diese gemeinsame Vorliebe kann man wiederum aus einer überlieferungsgeschichtlichen Perspektive gewinnen, nämlich dass Ulrich und Oswald hier gezielt ein Autorbild modellieren und sich dabei um möglichst hohe Originalität bemühen: Am Tagelied kann sich der Autor durch die feste Grundstruktur besonders gut profilieren und deutlich zeigen, wo er etwas anders macht als die Sänger vor ihm. Der Ausgangspunkt für Ulrichs Experimentieren mit dem etablierten Liedtypus des Tagelieds ist symptomatisch für den Minnesang im dreizehnten Jahrhundert, denn er formuliert den allgemeinen Wunsch nach neuem, innovativem Singen, für das als probates Beispiel das Tagelied gewählt wird: mîn hertze mir dô riet singen aber niuwen sin. ich gedâhte her, ich gedâhte hin: ich gedâht an der minnære klage, daz si klagent von dem tage, wie si der von hertzenliebe ie schiet. dâ von sang ich niuwiu liet. (Str. 1621)
Knapp und präzise wird hier eine zeitgenössische Definition des Tagelieds gegeben: Als zentrales Element des Liedtypus nennt Ulrich die Klage der Liebenden aufgrund des Abschiedsschmerzes am Morgen. Seine Tageliedkritik ist betont einfach und folgt dem Wunsch nach narrativer Kohärenz und Plausibilität: Die Wächterfigur sei unrealistisch, weil höfisch Liebende ihr Liebesglück nie einem so unhöfischen gebûren (Str. 1622) anvertrauen würden. Entsprechend ersetzt Lied 40 Ein schœniu maget den Wächter durch die Zofe, die sich aber nur mäßig bewährt: Sie weckt zu spät, so dass der Ritter den Raum nicht mehr unbemerkt verlassen kann, sondern den ganzen Tag bei der Dame versteckt wird. Es ergibt sich eine Variation auf zwei Ebenen, wovon
37 Hübner 2013, hier 98.
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eine, nämlich die Einführung der Zofe, allgemeinere Geltung beansprucht, während sich das Verstecken des Ritters wohl nur als einmaliger Überraschungseffekt eignet. Auch in Oswalds Œuvre nimmt die Tageliedvariation eine Sonderrolle ein, weil die Gruppe von 13 Liedern38 schon rein quantitativ einen deutlichen Schwerpunkt bildet. So übersetzt Oswald etwa mit Stand auff, Maredel | Frou, ich enmag (OSW 48) das Tagelied ins bäuerliche Milieu, lässt die Bäuerin als Herrin gegen ein Liebesverhältnis von Knecht und Magd angehen, das keinerlei Heimlichkeit braucht. Verdeckte erotische Interessen der Bäuerin bewirken eine Dynamisierung der Figurenkonstellation des Tagelieds, die durch die Überlagerung der Singstimmen auch musikalisch umgesetzt ist. OSW 48 demonstriert wie in einer Versuchsanordnung, was passiert, wenn man die Gattung Tagelied mit einem Mutter-Tochter-Streit nach dem Muster → Neidharts kombiniert. Zudem ergeben sich komische Effekte, wenn die bäuerlichen Figuren sprachliche Formeln aus dem Fundus des hochhöfischen Minnesangs bemühen. Vielfach zeigt sich in Oswalds Tageliedern eine besondere deskriptive Kompetenz,39 die eindrückliche Beschreibungen der Dame hervorbringt, so etwa im intim-liebevollen Blick auf die am Morgen erwachende Geliebte in Frölich zärtlich lieplich und klärlich (OSW 53), einer weiteren Tageliedvariation, in der das Ich eine vertraute Situation der gegenseitigen persönlichen Zuwendung beschreibt. In diesem Sinne präsentiert Oswald für die Gattung des Tagelieds immer neue Konstellationen, in denen er jeweils einige Stellschrauben des Liedtypus dreht und die literarischen Effekte der Variation erprobt.
5 Autobiographischer Gestus und Überlieferungs geschichte – ein kurzes Fazit Das Spiel mit der Biographie ist eine von mehreren Variationsmöglichkeiten im Umgang mit der vorhandenen Liedtradition, zugleich ist es für beide Sänger ein Innovationsfeld, das sie mit besonderem Nachdruck verfolgen. Für Oswald ist im Vergleich zu Ulrich bezeichnend, dass er sich um eine dezidiert personale Signatur des Ichs bemüht und eben kein typisiertes Ich schaffen will, wie es Ulrich mit der Darstellung des zwar radikalen, aber letztlich doch in Bezug auf die etablierten Normen vorbildlichen Minnedieners intendiert. Die Einbindung biographischer Konkreta, das bestätigt der Blick auf Ulrich von Liechtenstein, hat im Minnesang seit dem dreizehnten Jahrhundert eine Tradition, die auch Oswald in seiner Ich-Darstellung noch aufgreift, aber weiterführt, indem das Konzept des Rollenhaften, das die frühen autobiographischen Versuche immer noch bündelt, fast ganz aufgegeben wird. Während 38 Aufgrund des hohen Variationsgrads ist die Zählung nicht ganz eindeutig, vgl. dazu Spicker 2011, 207. 39 Vgl. Knapp 2002, der analysiert, wie Oswald mit seinen Schönheitsbeschreibungen die Grenzen des klassischen Beschreibungsmodells a capite ad calcem austestet.
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Ulrichs ‚Frauendienst‘ das Experimentieren mit dem Ich noch aus den MinnesangTopoi heraus gestaltet, ist der spielerische Umgang mit Ich-Aussagen zu Oswalds Zeit bereits deutlich etablierter. Eine besondere Vergleichslinie zwischen Ulrich und Oswald ergibt sich dadurch, dass sich die autobiographischen Bemerkungen und Erzählszenen zu einem zwar vielschichtigen, aber durchaus konsistenten Lebenslauf zusammenfügen – in Ulrichs ‚Frauendienst‘ ergibt sich dieser Zusammenhalt durch die Narration, in Oswalds Œuvre durch die Beharrlichkeit, aber auch Kantigkeit und Auffälligkeit, mit der das Ich in den Liedern modelliert und sorgsam auf einen historischen Hintergrund hin durchsichtig gehalten wird. Das Einbinden von Realitätselementen führt dabei zu ganz neuen Inszenierungsstrategien des Sänger-Ichs, die Ulrich primär über die Narration einspielt und die sich nur indirekt auf das Verständnis des Ichs in den Liedern auswirkt, die bei Oswald hingegen unmittelbar die Charakterisierung des Lied-Ichs betreffen: Das Ich wird, verstärkt durch seine Beziehungen zu einem historisch nachweisbaren Personennetzwerk, das auch Herrscherpersönlichkeiten einschließt, beschreibbar und kann die eigene Nähe zu Herrschern und gesellschaftlich einflussreichen Personen ganz konkret zur Profilierung nicht nur als Politiker, sondern vor allem als Sänger nutzen.40 Neben dem gesellig mit den Herrschern parlierenden Ich zeichnet Oswald aber auch komplexere Selbstpräsentationen, die oft auch durch einen Konflikt der konventionellen Rolle mit der erfahrenen Lebensrealität geprägt sind und ein eher gebrochenes, problematisches Ich zeigen. Gerade das Defizitäre, das Scheitern an vorausgesetzten Rollen und Normen, eröffnet einen Freiraum für die Ich-Darstellung, etwa wenn der gescheiterte Politiker darüber sinniert, warum er grundlos seine Kinder schlägt (OSW 44,2), oder wenn das verzweifelte, mit dem nahen Tod konfrontierte Ich ganz ohne den Gestus christlicher Heilsgewissheit fragt: o sel, wo bistu morgen? (OSW 6,2, V. 10). Ulrichs und Oswalds Entwürfe einer autobiographischen Anreicherung des LiedIchs sind durch die besondere Überlieferungssituation bestimmt, da für beide Autoren der Sonderfall einer gelenkten Überlieferung besteht, in der der Wunsch nach der Darstellung eines prägnanten Autorbilds deutlich hervortritt. Der autobiographische Gestus stellt ein klares Kalkül im Bemühen um literarische Präsenz und Permanenz dar. Eine Strategie in diesen beiden von den Sängern selbst zusammengestellten Liedsammlungen scheint es zu sein, die eigene artistische Kompetenz über die Fülle an verwendeten Themen und Liedformen zu demonstrieren: Während der Redaktor einer Sammelhandschrift den Bedingungen der Verfügbarkeit unterworfen ist, können Ulrich und Oswald ganz nach Belieben ergänzen, wo sie Leerstellen entdecken, und ihre künstlerische Selbstpräsentation durch Auswahl ganz den Erfordernissen des zeitgenössischen Literaturgeschmacks anpassen. So bieten sie für sämtliche gängige
40 Wie Oswald die Herrscherdarstellung zur Selbstinszenierung des Dichters nutzt, untersucht Franzke 2016/2017.
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Liedtypen einige Werkstücke und modellieren ein Autorprofil mit auffällig großer artistischer Bandbreite. Bemerkenswert ist, dass gerade in besonders programmatischer Position, nämlich am Anfang beziehungsweise am Ende des überlieferten Liedkorpus, die biographische Prätention wieder zurückgefahren wird: Oswald lässt seine beiden Handschriften nicht mit den autobiographischen Berichten beginnen, sondern mit einem dezidiert geistlichen Liedprogramm, und Ulrichs Ich verlässt gegen Ende des ‚Frauendienst‘ die handlungsreiche Narration und geht zunehmend in den Aussagemodus einer allgemeinen Minnereflexion über.
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Franziska Wenzel
Frauenlob und Heinrich von Mügeln 1 Frauenlob: Leben, Dichtung, Überlieferung und Rezeption Der späthöfische Minnelyriker und Sangspruchdichter Heinrich von Meißen (*1250– 1260, †29.11.1318) nennt sich selbst Frauenlob (ich, Vrouwenlob; GA V,115, V. 5). Seine Dichtung, die drei Leiche (Marien-, Minne- und Kreuzleich), ein großes Streitgedicht zwischen Minne und Welt, über 300 Sangspruchstrophen in zehn Tönen und sieben Minnelieder umfasst, ist in großen Teilen dem Lob der Frauen und im Besonderen der Mutter Gottes gewidmet. Die programmatische Selbstnennung verdankt sich dem zentralen Thema des Dichters. Auch die Überlieferung kennt den Autor unter dem Namen Frauenlob und unter zwei weiteren Bezeichnungen (Meister Heinrich Frauenlob und Meister Heinrich von Meißen der Frauenlob), welche mit dem Meistertitel Ausweis der Qualität seiner Dichtung und wohl auch des eigenen Anspruchs sind.1 Die Ortsangabe im Namen weist vermutlich auf die Herkunft des Dichters hin. Frauenlob gehörte zu den sogenannten ‚Zwölf alten Meistern‘ die der Sage nach den Meistergesang begründet haben.2 In diesem Rahmen wurde ihm zuweilen auch der Titel eines Doctor Theologiae attestiert, wahrscheinlich aufgrund seiner Leichdichtung und der theologischen und mariologischen Tendenzen der Sangsprüche. Die mitteldeutsche Reimsprache stützt die Herkunftsbezeichnung im Namen. Frauenlobs Sangspruchdichtung lässt sich recht sicher entnehmen, dass der Dichter als fahrender Sänger mit einer Reihe weltlicher Herren in einem Radius, der auch Dänemark, Böhmen und Österreich einschließt, in Kontakt stand. Genannt werden vor allem weltliche Herren und Könige im Osten und Norden, an deren Höfen um 1300 das ritterlich-adlige Selbstverständnis noch immer gegeben war. Unter ihnen waren der König von Böhmen, der Markgraf von Brandenburg, der Erzbischof von Bremen, der König von Dänemark, der Herzog von Mecklenburg, der Fürst von Rügen und der Herzog von Schlesien. Beim Aufenthalt am Hof König Wenzels II. von Böhmen lernte Frauenlob möglicherweise dessen Kanzler und späteren Erzbischof von Mainz, Peter von Aspelt, kennen, der als ein wichtiger Mäzen gilt und der auch den Grabstein Frauenlobs im Mainzer Dom veranlasst haben könnte. Hinweise auf diese Gönnerschaft, mindestens jedoch ein Bezug in den letzten Lebensjahrzehnten, finden sich in nur einer Begleitnotiz zur ersten Strophe des Langen Tons, wo es heißt, dass der Erzbischof mit dem Dichter in 1 Zur Verwendung des Meistertitels in der Spruchdichtung und im Meistersang vgl. Obermaier 1995, 299–303. Zum Konzept der Meisterschaft vgl. Kellner 2009; Wenzel 2012, 39–52; Bürkle 2015. 2 Zur Rezeption der Sangspruchdichter als sogenannte ‚alte Meister‘ durch die Meistersinger vgl. umfassend Brunner 1975. Zu den ‚Zwölf alten Meistern‘ vgl. Brunner und Rettelbach 1985. https://doi.org/10.1515/9783110351859-047
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dessen Todesstunde die Kommunion gefeiert habe.3 Zu den eigentümlichen Umständen seiner Beisetzung im Kreuzgang des Mainzer Doms gibt es einen Eintrag in der Chronik von Matthias von Neuenburg, der auf die Überführung des Leichnams durch Frauen, deren Klage und den vielen Wein, der ausgegossen wurde, hinweist.4 Über das Leben des Autors ist darüber hinaus urkundlich kaum mehr belegt.5 Als fahrender Sangspruchdichter widmete Frauenlob sich nicht nur der Panegyrik und dem Frauenlob. Sein breites gelehrtes Wissen dokumentiert eine solide Schulbildung, die ihn in die Lage versetzte, naturkundliche, theologische, philosophische und auch zeichentheoretische6 Themen zu bearbeiten. Seine schwierigen und auch sprachtheoretisch anspruchsvollen Texte legen die Vermutung nahe, dass es sich bei seinem Publikum um eine interessierte Elite gehandelt haben muss. Frauenlobs dunkler und geblümter Stil verstärkt diesen Eindruck; er steht ebenfalls für einen elitären Anspruch. Die sprachlich komplexen, dunklen und enigmatischen Facetten seiner Dichtung polarisierten bereits zu Lebzeiten. Das legen etwa das im Langen Ton in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C 32–39) überlieferte Streitgedicht zwischen Frauenlob und Regenbogen nahe, aber auch eine Reihe weiterer polemischer Strophen in seiner Dichtung.7 Trotz zeitgenössischer Kritik und ebenso greifbarer Ablehnung bei den jüngeren Dichterkollegen imitierten die Meistersänger Frauenlob in einer Breite, die ihresgleichen sucht. Die Kolmarer Meisterliederhandschrift k von 1470 dokumentiert dies eindrücklich. Eine Abgrenzung derjenigen Strophen, die dem Dichter gehören, von denen seiner Nachahmer ist für die umfangreiche Überlieferung von k nicht mehr sicher möglich. Die weit streuende Überlieferung von echten und unechten Tönen Frauenlobs verbindet Strophen, die zur Phase der Sangspruchdichtung gerechnet werden, mit solchen, die zur Phase des Meistersangs gehören.8 Die seit dem vierzehnten Jahrhundert üblich gewordene Fremdtonverwendung findet sich besonders stark bei Tönen der verehrten Meister, zu denen Frauenlob gehörte, sodass eine Fülle von
3 Bertau 1964, 199–200. 4 Hofmeister 1984, 312. 5 Erwähnt ist ein Pferdekauf, für den Frauenlob von Heinrich von Kärnten im Jahr 1299 Geld bekam, siehe Schönach 1887, 175. Zu den Lebensumständen Frauenlobs vgl. den Lexikoneintrag von Stackmann 1980 mit Verweis auf die ältere lebensgeschichtlich orientierte Forschung; siehe auch Hübner 2008, 146–148. 6 Huber 1977. 7 Wachinger 1973, 188–298, rekonstruiert einen Streit zwischen Frauenlob und Regenbogen auch aus den sogenannten ‚unechten Strophen‘ der späten Überlieferung, sodass sich in einem breiten Feld polemischer Strophen eine deutliche Kritik an der Frauenlob’schen Manier, insbesondere dem anspruchsvollen und dunklen Stil, abzeichnet. 8 Die Göttinger Frauenlob-Ausgabe (GA) bietet neben den drei Leichdichtungen, dem langen Streitgedicht ‚Minne und Welt‘ und den Liedern knapp 300 Sangspruchstrophen in neun Tönen (Langer Ton, Flugton, Grüner Ton, Zarter Ton, Würgendrüssel, Vergessener Ton, Neuer Ton, Goldener Ton und Kurzer Ton).
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Autoren auf seine Melodien dichtete und infolgedessen Strophen beziehungsweise Bare nicht ausgewiesener Textautoren von solchen Frauenlobs kaum mehr zu unterscheiden sind.9 Heinrich von Mügeln, eine Generation jünger als Frauenlob, reagierte auf die konzeptuellen und stilistischen Eigenheiten des Älteren, insofern, als er – im Blick auf das Liedwerk und die Minnekonzeption der Sangspruchdichtung10 – Motive und Stil modifizierte (vgl. Abschnitt 4).
2 Frauenlob: Minnelieder In Frauenlobs Œuvre nehmen sich die sieben überlieferten Lieder gegenüber dem Spruchwerk und der Leichdichtung schmal aus. Von den vier Hauptüberlieferungszeugen bietet nur die Weimarer Liederhandschrift F Frauenlobs Lieder. Die beiden Lyrikhandschriften, die Große Heidelberger Liederhandschrift C und die Jenaer Liederhandschrift J, kennen Frauenlob allein als Leich- und Sangspruchdichter. Im Frauenlobcorpus von F stehen nach einem ersten großen Abschnitt Sangspruchdichtung in einer zweiten Partie Texte zum Thema Minne: das Streitgedicht ‚Minne und Welt‘, die Minnelieder und der Minneleich. Die sieben Lieder sind geschlossen überliefert, allerdings mit einem Hiat zwischen dem sechsten und dem siebten Lied, in dem sich ein fünfstrophiges Lied Heinrichs von Breslau und ein fünfstrophiges Lied König Wenzels finden. Auch im Möserschen Fragment m, in welchem die Lieder Frauenlobs ebenfalls überliefert sind, stehen sie mit Liedern König Wenzels von Böhmen und Heinrichs von Breslau zusammen. Das auffällige Überlieferungsgefüge und die ebenso auffälligen stilistischen Anklänge lassen an eine mögliche „gemeinsame Entstehungsgeschichte“ dieser ostdeutschen Gruppe später Minnesänger denken.11 Die Göttinger Frauenlobausgabe bietet die sieben Lieder Frauenlobs nacheinander, doch in leicht veränderter Reihenfolge. Das in F fünfte Lied steht in der GA als zweites Lied, sodass sich folgende Reihung ergibt: Lied 1: Got grüze mines herzen wirt (GA XIV,1–5 = F 264–368), Lied 2: Ouwe, herzelicher leide (GA XIV,6–10 = F 384–388), Lied 3: Ich muz unter wilen borgen (GA XIV,11–15 = F 369–373), Lied 4: Ahi, wie blüt der anger miner ougen (GA XIV,16–20 = F374–378), Lied 5: Von niuwen senden sorgen (GA XIV,21–25 = F 379–383), Lied 6: Mir ist ein wip (GA XIV,26–30 = F 389–393), Lied 7: War wilt du, selig wip? (GA XIV,31–35 = F 404–407). Die Lieder sind „überwiegend […] schlecht“ überliefert und die Herausgeber der GA entschlossen sich zu einem „modifizierten Leit-
9 Diese das Bild Frauenlobs ebenso prägenden fremden Strophen sind, bezogen auf die sogenannten ‚echten Töne‘, im Supplement zur Göttinger Frauenlobausgabe (GA-S) dokumentiert. 10 Zu einem solchen direkten Bezug zwischen Heinrich von Mügeln und Frauenlob vgl. stellvertretend Stackmann 1992. 11 Wachinger 2011 [1988], 181.
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handschriftenprinzip“, einem „eklektischen Text“,12 was notwendig dazu führt, dass der „‚Liedautor‘ Frauenlob […] eine Hypothese bleibt“.13 Ungeachtet dessen gelten die sieben Lieder der Forschung als echt. Die Liedlyrik des Spätmittelalters stand immer im Schatten des klassischen Minnesangs. Umso weniger verwundert es, schaut man auf die geringe Zahl und auf die mit diesen Liedern verbundenen stilistischen und bedeutungsgeschichtlichen Hürden, dass auch die Lieder Frauenlobs in der Forschung lange Zeit nur am Rande zur Kenntnis genommen wurden. Es ist das Verdienst Einzelner, dass diesem Desiderat Abhilfe verschafft worden ist. Durch die hervorragende Edition von Burghart Wachinger14 und die Studien von Susanne Köbele und Gert Hübner,15 die jeweils Übertragungen ins Neuhochdeutsche anbieten, sind die liedlyrischen Texte Frauenlobs nun auch in Übersetzung verfügbar. Durch die Arbeiten von Köbele und Hübner sind sie sowohl in ihren gattungsgeschichtlichen als auch in ihren interartifiziellen Bezügen sowie in ihren stilistischen, historisch-semantischen und poetologischen Details ausgezeichnet erschlossen. Darüber hinaus erlauben es die Monografien von Margreth Egidi zur Höfischen Liebe und von Gert Hübner zum Geblümten Stil16 respektive zum Frauenpreis, zentrale thematische Fixpunkte von Frauenlobs Schaffen, insbesondere die Minnekonzepte in ihren jeweiligen thematischen und gattungsgeschichtlichen Bezügen genauer als bislang zu verstehen.17 Wenn Karl Stackmann 1980 noch davon spricht, dass sich die Lieder nicht aus dem Rahmen der klassischen Sehnsuchtsminne herausbewegen, weil der Liebende nur das Bild der Dame im Herzen besitze,18 treten bei Margreth Egidi, Gert Hübner und Susanne Köbele die gattungsspezifischen Alleinstellungsmerkmale deutlicher hervor. Frühere Studien zu Frauenlobs Liebesentwürfen arbeiteten die Liebe in der Leichdichtung und der Sangspruchdichtung als universales Prinzip allen Werdens, als universalen Schöpfungsgrund im religiösen, naturphilosophischen oder sexualphysiologischen Sinn heraus.19 Übersehen wird dabei die radikale Innerlichkeit, die in vielen Minneliedern Frauenlobs in den Vordergrund tritt. Frauenlob verabschiedet das traditionelle binäre beziehungsweise trianguläre Beziehungskonzept (Ich, Dame,
12 Köbele 2003, 37. 13 Köbele 2003, 38. Die Problematik des klassischen Autor-Werk-Gefüges bleibt für diesen Beitrag ausgeblendet. Vgl. Köbele 2003, 38–39. 14 WACH. 15 Hübner 2008; Köbele 2003. Vgl. darüber hinaus die der Monographie vorausgehenden Aufsätze zu poetologischen, stilistischen und erkenntnistheoretischen Aspekten in Frauenlobs Liedern (Köbele 1994, 1998, 2000). 16 Egidi 2002a; Hübner 2000. 17 Es ist das Verdienst von Margreth Egidi, dass die Forschung mittlerweile texttypübergreifende Konzepte wie das der Minne wahrzunehmen im Stande ist; in diesem Falle wären das Minneleich, Minnespruch und Minnelied. Vgl. neben der genannten Monographie auch Egidi 2002b. 18 Stackmann 1980, 873. 19 Huber 1988; de Boor 1963 und Steinmetz 1999.
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Gesellschaft) spätestens dann, wenn die Dame nur noch Gedächtnisinhalt ist, und der Bezug zur körperlich präsenten Dame und zur Gesellschaft eingedämmt wird. Frauenlob testet die Möglichkeiten des Minnesangs in allen sieben Liedern bis zum Äußersten aus. Dahinter ist zugleich der Versuch einer Arbeit am „alten Gattungsgegensatz“ von Sangspruch und Lied zu erkennen.20 Gegenläufig zu anderen Tendenzen im Spätmittelalter wird die Gattungsdifferenz bei Frauenlob nochmals gestärkt, denn trotz aller Experimentalität der Lieder schließen sie deutlich an die Gattungskonventionen des Minnesangs an. In den Liedern wird weder ein distanziertes Sprechen über die Minne favorisiert, noch ist der Sprecher in der Rolle eines (die Minne preisenden) Meisters oder eines (zur rechten Minne ermahnenden) Lehrers konturiert.21 Gesprochen wird vor allem in der Rolle eines liebenden Ich. Im Extremfall wird die Dame maximal verinnerlicht, sodass das mentale Bild als eigentliches Liebesobjekt an die Stelle der realen Person tritt (Lied 1). Frauenlob schließt an die „topische Kampfmetaphorik, […] samt den ihr angelagerten Bereichen der Metaphorik der Herrschaft (Lied 1 und 7), Gefangenschaft (Lied 6) und Tötung (Lied 4)“ an,22 radikalisiert diese jedoch durch die Betonung der Innerlichkeit: Zwar beruht die Liebe noch auf dem Anblick der Dame, doch gilt sie nicht dem Körper, sondern dem „Gedankeninhalt“.23 Eine solche aus der Interaktion mit der Dame gelöste Liebe relativiert Prämissen des klassischen Sangs. Frauenlobs Nachdenken über die Liebe und ihre Wirkung ist in einigen Liedern (Lied 1, 5, 7) auf zwei Gesprächspartner oder Gesprächsgruppen auseinandergelegt. Das Ich wendet sich an die personifizierte Minne, die als überpersonale Instanz des Minnesangs und der Sangspruchdichtung vertraut ist (so auch in Lied 2, 3), oder es ist im Gespräch mit den eigenen Sinnen. Insofern die eigenen Sinne mit der Position des Ich konkurrieren, spaltet sich die Ich-Instanz auf (etwa GA XIV,3–5). Die Paradoxie von Besitzen-wollen und In-Besitz-genommen-sein (GA XIV,5) erklärt die Spaltung im Ich selbst, überführt die Anteile des Ich in eine agonale Situation und veranschaulicht dabei die Gefahren von Selbstverlust und Selbstzerstörung durch die Minne. Auf diese Weise können einerseits unterschiedliche Meinungen über ein und dieselbe Sache unversöhnlich oder hierarchisch abgestuft nebeneinandertreten, und andererseits können innere und äußere Ich-Position räumlich konkretisiert und diskutiert werden. Der Wahrnehmungsprozess bei Frauenlob zeigt sich so zugleich als ein Prozess der Selbsterkenntnis.24
20 Wachinger 2011 [1988], 192. 21 Egidi 2002b, 106, weist darauf hin, dass die jeweilige Verarbeitungsweise der Minnethematik in den Sangsprüchen und den Liedern strukturell verschieden sei. 22 Egidi 2002b, 111; zum Todesmotiv in Lied 4 als Verschränkung ästhetischen Erlebens und existentiellen Selbstverlustes im Sinne einer Grenzerfahrung vgl. Eikelmann 1988; zur Bildrede in Bezug zur ‚Physiologus‘-Tradition in Lied 4 vgl. Scheer 1990. 23 Hübner 2008, 163. 24 Vgl. Köbele 2003, 117–128.
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Mit dieser Minnekonstellation geht in den Liedern eine rhetorische Versiertheit einher, die üblicherweise als geblümter Stil bezeichnet wird.25 Obgleich diese rhetorische Technik zu den bestimmenden Merkmalen des gesamten späthöfischen Minnesangs gehört, ist sie in ihrer Eigentümlichkeit bei Frauenlob Alleinstellungsmerkmal, greifbar als „Technik variierender Umschreibung“.26 Statt offener Reihen von Tropen, die weithin dem schmückenden Lobpreis oder der Schelte dienen,27 zählen Verschiebungen, Verfremdungen und Umbesetzungen28 zum Grundprinzip der Sprachartistik Frauenlobs. Die dazugehörigen autoreflexiven Bezüge auf die eigene Kunst sind bei Frauenlob allerdings nur in seiner Sangspruchdichtung greifbar. In den Liedern tritt der Dichter hinter die Konzeption einer Phänomenologie der Liebeserfahrung zurück. Die Arbeit am topischen Inventar des Hohen Sangs – hierzu gehören der → Natureingang, die Dialogizität, die Relation von Sein und Schein beziehungsweise Äußerem und Innerem, respektive Betroffenheit und Affektivität – und die stilistischen Finessen des Blümens hat Frauenlob mit → Konrad von Würzburg, → Burkhard von Hohenfels, aber vor allem mit → Gottfried von Neifen gemein, doch reizen seine Lieder die Spannung zwischen Traditionalität und Innovativität auf irritierende Weise aus:29 Der ‚Minnekrieg‘ mit der Dame kehrt als Feindschaft zwischen den Sinnen und dem Ich wieder; die Innen-Außen-Perspektive führt über die Inkorporation der Dame zur Liebe eines Gedankenbildes (etwa GA XIV,1–5, 11–12, 16–17, 21), und der Minneprozess bringt nicht nur die Spaltung des Ich in affektive innere Anteile und ein äußeres Ich hervor, er markiert dieses Ich zudem als ein ortloses und emotional bedrohtes Ich im dargestellten Selbstverlust: Ich suchte mich, da vant ich min da heime nicht. Ich wante, ein ding daz wolte mich töten gar mit lüste. lip, wa was ich do? (GA XIV,28, V. 1–5)
Die meisten Lieder umspielen den Übergang von außen und innen, aber auch für diese Relation gibt es eine radikale Option (Lied 3), wenn das Erblicken der Dame als einer Augenweide als Teil der → Imagination selbst verstanden wird. Die bekannte Differenz eines Außen- und eines Innenraums der Liebe wird ein zweites Mal im Inneren auf-
25 Zur Kritik des Begriffs beziehungsweise des uneinheitlichen und weiten Begriffsverständnisses siehe Hübner 2000, 7–32. 26 Köbele 2003, 9. 27 Zum Blümen im Sinne laudativer und vituperativer Passagen vgl. Hübner 2000, 4–5; zur Technik des Blümens vgl. insgesamt Hübner 2000. 28 Köbele 2000. 29 Köbele 2003, 20. Die Darstellungen zu Frauenlobs Bildsprache, seinen unüblichen Denkfiguren und irritierenden Neuerungen im Rahmen dieses Artikels lehnen sich an die detailreichen, umsichtigen Interpretationen von Köbele 2003, 217–258, an.
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gebaut.30 Obgleich der Wahrnehmungsprozess mit dem Weg von außen nach innen korreliert, changiert der Minneverlauf zwischen Zirkularität und Zeitenthobenheit: Mit dem Sehen der Dame ist die Dame bereits Gedankenbild und als solches im permanenten Besitz der Sinne, sodass sich das Erlebte als abgeschlossen und dauerhaft zugleich zeigt (GA XIV,12–14). Dessen ungeachtet bleibt die Dame zu jeder Zeit Objekt des männlichen Begehrens. Diese paradoxe Konstellation zeigt sich auch in Frauenlobs Sprachkunst der Umschreibung: Allegorien, Metaphern und Personifikationen arbeiten in vielen Fällen frauenlobspezifischen Denkfiguren zu. Wenn z. B. Bildfelder aus dem Bereich der Natur religiös und dann auch sexuell bestimmt werden (GA XIV,12, V. 5), beginnt die Beschreibungssprache zu schillern. Oder wenn konventionell unverfängliche Metaphern des Schauens – wie der Garten als Augenweide – so konkretisiert werden, dass der Glanz der Rosen und Lilien von Wangen und Augen der Dame das Ich zu infiltrieren und gewaltsam in Besitz zu nehmen beginnt bis hin zur Bitte um Einlass durch den personifizierten Glanz (GA XIV,16), dann sind Bedeutungszuordnungen nur noch schwer möglich, weil Bildebene und Bildbedeutung sich kaum mehr trennen lassen. Charakteristisch sind auch ineinanderlaufende und insofern fragmentarische Metaphern, mit denen einerseits ein dicht gewebtes Bildfeld entsteht, das andererseits konnotativ hoch aufgeladen ist. Die Bedeutungen verschieben sich, der Sinn wird pluralisiert. Die Nähe der Sprache der Liebe zur religiösen Semantik wird besonders deutlich bei begrifflichen Umbesetzungen, so zum Beispiel wenn etwa aus dem geistlichen Bereich stammende Begriffe wie der des Wunders (GA XIV,2, V. 1: wunder) im Minneentwurf für die Zerrissenheit des Ich stehen: Nu merket wunder, daz ein wip mich mit mir selben überwindet. minne, ich clage: min ir gedenken verderbet mir min selbes witze, so kan sie ane ir danc gesigen. (GA XIV,2, V. 1–5)31
Frauenlob, dessen Spruchstrophen in eine Reihe mit Konrad von Würzburg und Heinrich von Mügeln zu stellen sind, weicht im Rahmen der Gattungskonventionen des Minnesangs vom Bisherigen ab: Der Selbstverlust der Minneerfahrung erhält mit den genannten Verschiebungen, Umschreibungen und Umbesetzungen eine konkrete Kontur: Die Nähe zur Dame wird zum weitschweifigen Gedankenexperiment, das aus der Schwebe zwischen Besitzen-wollen und Nicht-Besitzen-können heraus neue Bedeutsamkeiten generiert. Reflektiert wird besonders die durch die Liebe bedingte mentale Verfasstheit. Die Eigenart der Lieder Frauenlobs ist insgesamt weniger in der Imagination anthropologischer Erfahrungen zu sehen als vielmehr in ihrer sprachartistischen Gestaltung. 30 Egidi 2002b, 118–123. 31 Vgl. dazu Köbele 2000, 228.
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3 Heinrich von Mügeln: Leben, Dichtung, Überlieferung und Rezeption Über eine Selbstnennung hinaus, die in einer Valerius-Maximus-Bearbeitung mit der Ortsangabe pey der Elbe in dem land zu Meissen steht – die Widmung ist auf 1369 datiert –, ist kaum etwas über das Leben Heinrichs von Mügeln (um 1320 bis nach 1371) bekannt.32 Trotz offenkundig breiter Bildung auf dem Gebiet der Artes liberales, der Theologie, der Philosophie und der Naturkunde – der Besuch einer Universität lässt sich nicht nachweisen – nennt Heinrich von Mügeln sich im Tum einen Laien.33 Die Überlieferung kennt ihn hingegen als einen Magister und Meister, sodass nicht sicher zu entscheiden ist, was Tatsache und was (Selbst-)Stilisierung ist. Nach 1346 war er wohl am Prager Hof Karls IV., am Hof Ludwigs I. von Ungarn und bei Rudolf IV. von Österreich tätig. Heinrich von Mügeln wurde sekundär, im sechzehnten Jahrhundert, in die Liste der sogenannten ‚Zwölf alten Meister‘ aufgenommen34 und seine Töne, insbesondere sein Langer Ton, wurden von den Meistersingern immer wieder aufgegriffen. Heinrich von Mügeln wirkte in der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts und seine Dichtungen wurden im fünfzehnten Jahrhundert breit überliefert.35 Die Diversität seiner Texte weist ihn als hochgelehrten latein- und volkssprachlich arbeitenden Autor aus, als Mittler zwischen lateinischer Bildung und einem lateinunkundigen Publikum.36 Zu Heinrichs von Mügeln Œuvre gehören ein Psalmenkommentar, eine deutsche und eine lateinische Ungarnchronik, eine Bearbeitung der Exempelsammlung des Valerius Maximus, die allegorische Personifikationsdichtung Der meide kranz, die zugleich auch eine Rangstreitdichtung ist, ein lateinisches Lied über die Artes liberales und die Libri tocius Biblie mit einem Überblick über die Bücher des Alten Testaments sowie Sangspruchstrophen in drei eigenen (Hofton, Langer Ton und Grüner Ton) sowie neun fremden Tönen.37 Die wichtigste Sammlung für die Dichtung Heinrichs von Mügeln ist die Göttinger Handschrift g, welche die 407 Spruchstrophen in sechzehn Abschnitte aufteilt, von denen der letzte Abschnitt acht dreistrophige Lieder zusammenbindet. Die Göttinger Handschrift gilt als zweiteilige Autorsammlung, die die Sangspruchdichtung (144r–223r) und das Reimpaargedicht Der meide kranz (223v–274v) vereint und der ein späterer Traktatteil vorgebunden wurde. Die Handschrift g ist gegen die üblich gewordene Barkennzeichnung in Töne gegliedert, die auf einer nächsten Stufe die Meisterlieder zu Büchern fügen (Langer Ton: Bücher I–IV; Hofton: Bücher V–XII; Grüner Ton: Buch XIII; Traumweise: Bücher XIV– 32 Zuletzt Wachinger 2006, 907–910. 33 Zum Marienpreisgedicht Der Tum vgl. Stolz 1996. 34 Rettelbach 2002, 148, Anm. 12. 35 Vgl. zu Heinrich von Mügeln Stackmann 1958; Kibelka 1963 und auch die beiden Lexikonartikel von Stackmann 1981; Huber 1990. 36 Stackmann 2006, 239; Stolz 2008, 207. 37 Stackmann 1981, 819.
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XV und Buch XVI, das die acht Lieder in je einem eigenen Ton bündelt).38 Alle Bücher sind mit einer möglicherweise vom Autor selbst stammenden Vorrede versehen,39 in der Heinrich von Mügeln als (Lehr-)Meister ausgewiesen ist und die Strophen als getichte (144r, 180v) oder lieder, lyder (164r, 170r, 183v) bezeichnet sind. Der Terminus ‚Lied‘ kann für die Spruchbücher Einzelstrophe und Bar meinen, für die Liebeslieder, welche wiederum jeweils mit einer eigenen Überschrift versehen sind, meint der Terminus das dreistrophige Minnelied.40 Neben diesen acht Liedern überliefert die Autor-Sammlung drei weitere Lieder, die sich gegen Ende der Spruchbücher IX, X und XV finden.41 Die Einbettung dieser drei Lieder in die Spruchsammlung, auch die eingebundenen Exempla, sind ein Hinweis auf die geringe Distinktion zwischen (Minne-) Spruch und Minnelied. Gleiches gilt für den Liederzyklus, der durch moralisierende und didaktisierende Tendenzen Merkmale des (Minne-)Spruchs aufgreift.42 Die Lieder Heinrichs von Mügeln sind, ähnlich wie bei Frauenlob, nur ein Nebenschauplatz der Forschung gewesen, bedingt auch durch das Stigma der Konventionalität später Minnelyrik. Karl Stackmann hatte die Lieder in seiner Mügeln-Edition von 1959 (STMN), der Handschrift folgend, mit den Spruchbüchern abgedruckt. 40 Jahre später war er der Erste, der die Übergänge zwischen (Minne-)Spruch und Minnelied untersuchte,43 allerdings ist die Nähe zwischen den Minnekonzeptionen beider Texttypen noch immer nicht abschließend in den Blick der Forschung gerückt. Gleichermaßen unbearbeitet ist die gattungsgeschichtliche Position der Mügeln’schen Minnelyrik im spätmittelalterlichen Minnesang, auch in Bezug zur späteren Liebes-
38 Eine genaue Beschreibung der Gliederung von g im Umkreis der Überlieferung des fünfzehnten Jahrhunderts bietet Baldzuhn 2002, 430–440. Dort auch Überlegungen zur konzeptionellen Einheit von Buchüberschrift und ausgespartem Platz für die Aufnahme der Tonmelodien (2002, 437). 39 Stackmann 1981, 823; Baldzuhn 2002, 434. 40 Vgl. z. B. vor Lied 6: Eyn ander clage lidelin, vor Lied 7: Eyn ander clage lidelin und vor Lied 8: Eyn mynn lidel In dem sich die selben suchen in den ersten geledirn. 41 Mich wundert, wie mich lat (Str. 215–217 = STMN IX,22–24), Wann sich verbirget nu (Str. 257–259 = STMN X,19–21) und Tigris, das tier, geboren (Str. 381–383 = STMN XV,28–30). Zu diesen Liedern nur Wachinger 2011 [1999], 62, dessen knapper Überblick vor dem Hintergrund der Entwicklung der Liedlyrik zwischen zwölftem und sechzehntem Jahrhundert gesehen werden muss. Eine umfassende Interpretation dieser drei Lieder, auch in ihrem Bezug zum Liederzyklus des letzten Buches in g, steht noch aus. Eine erste Durchsicht ebenfalls bei Wachinger 2011 [1999], 62–64. Stackmann 2002 [1995], 143–144, unterscheidet Minnesprüche und Minnebekundungen, zu denen er diese drei Lieder und die acht im sechzehnten Buch rechnet: Die Minnelehre im Traumton (Str. 381–383) ist für ihn (2002 [1995], 147) ein Bindeglied zwischen Minnelehre und Minnebekundung; zu den beiden liednäheren Minnebekundungen der Spruchsammlung vgl. 2002 [1995], 148–149. 42 Kellner 2002, 232–233. Das Minne-Thema verhandelt Heinrich von Mügeln neben den acht plus drei Liedern in vier exemplarisch gehaltenen Minnesprüchen, die Belehrungen beziehungsweise Warnungen vor schlechter Minne sind; dazu Stackmann 2002 [1995]. 43 Vgl. Stackmann 2002 [1995] zum Vergleich von Minnespruch und Minnelied. In den Philologischen Untersuchungen zu seiner Mügeln-Ausgabe (Stackmann 2004) finden sich keine Untersuchungen zum sechzehnten Buch und damit zum Zyklus der Minnelieder.
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dichtung.44 Jüngere poetologische Ansätze zu den Liedern richten sich auf eine gegenüber dem Hohen Sang andere Sprechsituation, auf die Bearbeitung der klassischen und späten Minneentwürfe mit ihren topischen Elementen sowie auf den Bezug vor allem zu Konrad von Würzburg und zu Frauenlob.45
4 Heinrich von Mügeln: Minnelieder Die Vorrede zum XVI. Buch der Göttinger Handschrift weist die Lieder als Mustersammlung aus, welche über das Verfassen von Minnegedichten belehrt, zu dem die Konzeption sowie die stilistische Gestaltung von Natureingängen gehören. 46 Durch den → Natureingang ist eine Konvention des Minnesangs in die liedlyrische Dichtkunst des vierzehnten Jahrhunderts zurückgeholt und zugleich wieder mit Geltung versehen worden.47 Darauf richten sich wohl auch die direkt vor den Liedern formulierten Hinweise u. a. auf die Maienzeit, von der gedichtet werde.48 In den Liedern selbst werden Natureingang und Minnethematik wiederholt auf unterschiedliche Weise in Beziehung gesetzt. Die Sammlung bietet eine Typologie solcher Verknüpfungen,49 die alle auf eine unbedingte idealisierte Minnetreue hinauslaufen. Traditionelle Motive des Hohen Sangs – neben dem Natureingang sind das der Frauenpreis, die Sehnsuchts- und die Altersklage – werden diesem Ziel angepasst. Zum Zyklus des sechzehnten Buches gehören Lied 1: Mit leide heide was beruft (Str. 384–386 = STMN XVI,1–3), Lied 2: Set, wie des meien früte (Str. 387–389 = STMN XVI,4–6); Lied 3: Was, ab nu des meien hütten (Str. 390–392 = STMN XVI,7–9), Lied 4: Set, wie den salamander für (Str. 393–395 = STMN XVI,10–12), Lied 5: Wib, blündes ris, lustparadis (Str. 396–398 = STMN XVI,13–15), Lied 6: Set, wie des meien hant dem winter drouwet (Str. 399–401 = STMN XVI,16–18), Lied 7: Ein frouwe sprach: ‚min falk ist mir entflogen (Str. 402–404 =
44 Für den sogenannten ‚Letzten der Minnelyriker‘, für Oswald von Wolkenstein am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, hat Burghart Wachinger 2011 [1999], bes. 54–57, die Bezüge zur Gattungstradition und zugleich auch zur späten Liebeslyrik erarbeitet; für Heinrich von Mügeln ist Vergleichbares ein Desiderat. Der Kern einer Wende im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert ist nicht die Ablösung des Minneparadoxons durch ein Konzept erfüllter gegenseitiger Liebe, vielmehr sei die Sprechsituation tendenziell eine andere: Spreche das männliche Ich der Hohen Minne in einer Situation einseitiger Betroffenheit, so verschiebe sich dies hin zu einer Situation bestehender beziehungsweise erlebter Minne, aus der heraus monologisiert werde (Wachinger 2011 [1999], 57–59). 45 Stackmann 2002 [1995]; Wachinger 2011 [1999]; Kellner 2002; Köbele 2003, 41–45, 103–115, 148–162. 46 Zur im späten Minnesang üblich gewordenen Verknüpfung von Natureingang und Minnedidaxe vgl. Köbele 1989; Kellner 2002; Köbele 2003, 106. 47 Vgl. zuletzt die Monographie zum Natureingang von Eder 2016. 48 Köbele 2003, 51. 49 Stackmann 2002 [1995], 144–147 und zur Gruppe der Minnebekundungen 148–150.
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STMN XVI,19–21) und Lied 8: Wie bin ich von der guten nu gescheiden (Str. 405–407 = STMN XVI,22–24). Trotz der motivisch und stilistisch großen Nähe zu Frauenlob ist die Liebe bei Heinrich von Mügeln anders konturiert. Im Vordergrund des Entwurfs stehen in einem generalisierenden Sinn der immerwährende Dienst, das Lob der Frau und die Leben spendende Wirkkraft der Frau. Über den Natureingang (Lied 1, 2, 3, 6) kann die Frau in ihrem Wirken der Natur angenähert werden.50 Das Wirken der Frau wird nicht nur aus der Natur abgeleitet, sondern ist mit der wiederholten ‚Physiologus‘-Referenz auch zum Wirken des Gottessohnes in Beziehung gesetzt. Beispielsweise verweist Lied 5 auf Frauenlobs wîp-Etymologie aus dem ‚wîp-vrouwe-Streit‘ und ist gleichermaßen im Kontext der im Spätmittelalter virulenten Marienverehrung zu situieren:51 Die Frau als ganz irdisches lustparadis ist zugleich und analog zu Maria ein blündes ris (XVI,13, V. 1) und tröstender touw (XVI,13, V. 5, und XVI,15, V. 2), die selbst zu fruchten (XVI,14, V. 4) vermag. Letztlich wird die Frau als ein der Natur vergleichbares positives Wirkprinzip stilisiert, als naturanaloges reines Erweckungsprinzip des Begehrens, der Minne und der Freude (Lied 1, 2 und 5). In letzter Konsequenz übertrifft sie in ihrer Konstanz die Wandelbarkeit der Natur, insofern, als die Kälte des Winters, der für das Alter steht, durch ihre Herzenswärme verdrängt werden kann (Lied 3). Damit steht sie auch für eine unverbrüchliche Minnetreue, die in den Altersliedern 3, 6 und 7 entfaltet wird.52 Da die Argumentation der Lieder eher abstrakt ist, was an die Spruchdichtung erinnert, erscheint auch die Frau weniger als begehrtes Objekt denn als abstraktes Wirkprinzip. Die bekannten klassischen Rollen sind atrophiert:53 Weder zielen die Lieder Heinrichs von Mügeln auf die paradoxe Situation männlichen Begehrens wie im Hohen Sang (→ Minnekonzepte und semantische Felder) noch auf eine Phänomenologie der Minne wie bei Frauenlob. Das topische Inventar des Minnesangs bietet Material und Bedeutungsmatrix für einen Entwurf, der statt der höfischen Dame die Minnetreue überhöht. Der Mann dient auch im Alter, opfert gar sein Leben, wie der Pelikan sich seinen Jungen opfert (Lied 6); reziprok dazu ist die Frau in der Rolle einer Amme (lebens amm) mit der Aufgabe betraut, dem alternden Mann neues Leben zu spenden (Lied 3 und 4). Lied 7 rekurriert auf das Kürenberger-Motiv (→ Der von Kürenberg) des gezähmten, aber entflogenen Falken (MF 8,33). Die Frau bevorzugt in diesem 50 Hübner 2008, 156, betont im Blick auf die Lieder Frauenlobs und ihre Situierung im Rahmen des Hohen Sangs, dass die Dame dort weder ein Lebens- noch das Mutterprinzip verwirklichen könne. Die Lieder Heinrichs von Mügeln demonstrieren hingegen eine Entlastung von den Vorgaben und Verbindlichkeiten der Gattung, insofern, als sie den Entwurf der Dame in eben dieser Richtung modifizieren. 51 Köbele 2000, 222, erfasst Frauenlob als Exponenten einer volkssprachlichen, relativ lateinunabhängigen Marientheologie, die sich gerade in dessen singulärer Minnemetaphorik greifen lasse. Das zeigt sich insbesondere dann, wenn die Minneparadoxie das religiöse Paradox einschließt, sodass Analogiebildungen kaum mehr funktionieren (Köbele 2000, 234). 52 Analytisch entwickelt wird dieses an das Alter gebundene Konzept der Minnetreue bei Kellner 2002, 239–251. 53 Worstbrock 1996, 199.
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Lied mit dem minderwertigen Blaufuß-Falken den treuen Mann anstelle des begehrenswerten Mannes. Sehnsuchts- und Treuemotiv werden gegeneinander getauscht.54 Exemplarisch untermauert durch Salamander- und Phönixvergleich wird der Frau eine das Leben erneuernde reine Kraft zugesprochen (Lied 4), die durch eine Fülle von Vergleichen (Lied 1, 4 und 6), auch durch attestierte heilende und erneuernde Wirkkraft (Lied 5) eine neue Einheit der Treue von dienendem Mann und Leben spendender Frau imaginiert. Im Durchgang durch die acht Lieder ist damit über die Geltung des Wirkprinzips hinaus auch immer wieder die Gegenseitigkeit einer neuen Minne (-treue) in den Blick gerückt. Der Fall einer Frau, die ihr Ansinnen nur auf den begehrenswerten jungen Mann richtet und dessen Altern ablehnt, zeigt, dass ein solcher Frauentyp dem weiblichen Wirkprinzip zuwiderläuft (Lied 6). Für den alternden Mann bietet der phönixgleiche Tod im Minneentwurf von Lied 6 eine Lösung an: Denn der damit gestaltete letzte Dienst des Mannes ist ein christlich überhöhter und also auf Dauer gestellter Dienst. Lied 8 ist zuletzt eine Minneklage des Liebenden, dessen Herz im Leid erstarrt (XVI,22, V. 8), aber zugleich auf der Suche nach Gnade (XVI,24, V. 1–2) ist, weil die Frau den Minneschmerz entflammen und gleichermaßen löschen kann. Die Minnezustände Freude und Leid werden zeitlich entzerrt, dem einstigen Glück steht die momentane Not entgegen. Insgesamt lassen sich die acht Lieder Heinrichs von Mügeln als Anleitung zum „Abfassen von Minnegedichten“ lesen.55 Die Lieder lassen sich aber auch konzeptionell lesen, als ein in der Strophenfolge entwickeltes Thema:56 Sie präsentieren ein aus dem klassischen Natureingang abgeleitetes, um religiöse Konnotationen bereichertes und aus dem Rekurs auf die Spruchdichtung Frauenlobs sich speisendes Wirkprinzip der Frau. Dessen hervorbringende Kraft bezieht sich auf die Minne und zugleich auch auf die Dichtkunst (Lied 1, XVI,3, V. 1: Din güte blüte minne ticht, und Lied 8, XVI,24, V. 8: das herzeleit din schulde hat geticht). Im Bezug zum Hohen Sang und in Auseinandersetzung mit Frauenlob trifft man bei Heinrich von Mügeln auf ein Experimentierfeld zwischen Konvention, Neubewertung und variierender Umschreibung.57 Die in den Liedern bemerkbare stilistische Nähe zu Frauenlob, etwa in den Metaphern und der Fülle von Genitivkonstruktionen, ist auch eine Nähe zu Konrad von Würzburg, die sich in den Schlagreimhäufungen, in Reimbrechungen und einer insgesamt „forcierte[n] Reimartistik“58 zeigt. Bekannte Bildfelder Frauenlobs sind ausgearbeitet, allegorisiert und moralisiert. So kehrt z. B. das irdische Wirkprinzip, das sich im Namen wîp manifestiert, aus der Spruchdichtung Frauenlobs (GA V,102, V. 11: Wunne Irdisch Paradis) bei Mügeln geistlich gewendet wieder (XVI,13, V. 1: Wib, blündes ris, lustparadis), sodass die Güte dieser irdischen Minne unterstrichen ist. Der 54 Kellner 2002, 248–250. 55 Erstmalig Kellner 2002. 56 Zur Zyklusbildung vgl. auch Wachinger 2011 [1999] und im Anschluss daran Huber 2005, 89. 57 Köbele 2000, 221. 58 Köbele 2003, 106.
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Mann als in seiner Lust verbrennender Phönix (GA XIV,19, V. 3–4) wird bei Heinrich von Mügeln zu jemandem, dessen Herzensminne sich aus der Glut weiblicher Tugend zu erneuern vermag (XVI,11, V. 1–3). Im tierallegorischen Lied 4 Frauenlobs sind die Vergleiche „positiv und negativ konnotiert“59 und zugleich werden die übertragen gebrauchten Wirksamkeiten durch syntaktisch verunsichernde Konstruktionen unklar: Si tut mir als dem venix, den sin brende | in lust verbrennen (GA XIV,19, V. 3–4). Bei Heinrich von Mügeln sind diese Verschiebungen nicht vorhanden, da verjüngt sich das Ich in der Tugendglut, wie sich der Phönix verjüngt. In der Konsequenz ist die Frau die lebens amm (XVI,9, V. 8; XVI,10, V. 3; XVI,18, V. 1), welche das männliche Ich bis ins Alter hinein am Leben erhält. Sind die Genitivkonstruktionen bei Frauenlob durch Vergleiche uneindeutig – die Frau als Anger der Augen –, werden die Zuordnungen bei Mügeln – die Frau ist der Anger – eindeutig und sie werden auf ethische Begriffe tugent, triuwe gelenkt.60 Doch verdichtet Heinrich von Mügeln die Bildrede, ruft unterschiedliche Bildfelder auf und bindet deren Bedeutungen aneinander. Um das Lob der Frau zu konturieren, werden Blumen-, Kleider-, Auferstehungs- und Goldläuterungsmetaphorik nacheinander in einer syntaktischen Fügung angesprochen, sodass die Frau im Kleid der Tugend grünt, heilbringender Ostertag ist und sich zuletzt als lebens amm in der Blüte der Tugend klärt wie eine sich im Gold spiegelnde Flamme (XVI,6). Der Frauenpreis wird (Bild-)Bedeutung für (Bild-)Bedeutung gefüllt, ohne dass es zu Äquivokationen käme. Während die Dunkelheit der Zuschreibungen bei Frauenlob bestehen bleibt, dienen bei Heinrich von Mügeln Schlagreime und durch den Reimklang verdeckte Zuordnungen61 einem langsamen, Schritt für Schritt zu erschließenden, ethisch bestimmten Preis der Frau, der eingebunden wird in eine thematisch übergreifende Bedeutung, die sich dem Rezipienten erschließen soll. Letztlich trägt genau das der Konzeption des Liederzyklus als Unterweisungsform Rechnung (Hie wil der meister leren [219r]). Die drei sich gegen Ende der Spruchbücher IX, X und XV findenden Lieder modifizieren die Gattung des Minnelieds. Dienstgedanke und Tugendmotiv fehlen, sodass auch die moralisierende Tendenz ausfällt.62 Minneverfallenheit und Verlust der Sinne durch die Minne dominieren diese drei Lieder, die zugleich, der Konzeption der Spruchstrophen verhaftet, mit historisch-mythologischen Exempla arbeiten. Angebunden sind jeweils didaktische Strophen. Aufs Ganze gesehen stehen die sich auch untereinander deutlich unterscheidenden Liedentwürfe Frauenlobs und Heinrichs von Mügeln im Spannungsfeld zwischen Umarbeitung und Überbietung der Tradition. In beiden Fällen wird eine individuelle,
59 Köbele 2003, 150. 60 Köbele 2003, 109, 115. Bereits 2000, 221, betont Susanne Köbele, dass sich die Unterschiede der beiden Dichter vor allem in der metaphorischen Technik zeigen. 61 Köbele 2003, 107. 62 Wachinger 2011 [1999], 62.
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auch stilistisch einzigartige Minnekonzeption präsentiert.63 Sind Frauenlobs Lieder einem Konzept absoluter Innerlichkeit verpflichtet und damit immer wieder auf die gedankliche Durchdringung der Minneempfindungen gerichtet, präsentieren die Lieder des Späteren, die deutlicher an die Konventionen und das topische Inventar des klassischen Minnesangs anschließen, ein neues Konzept höchster Minnetreue, das zugleich das Wirkprinzip Frau verherrlicht. Das Spiel mit den Facetten des Hohen Sangs belebt diesen erneut und zeigt zugleich die Atrophie der männlichen und der weiblichen Rolle traditionellen Minnesangs im vierzehnten Jahrhundert, auch wenn der Orientierung gebende Vorgänger Frauenlob die Unverfügbarkeit des Du noch einmal zum phänomenologischen und erkenntnistheoretischen Problem zu erheben vermochte.
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63 Die Lieder Heinrichs von Mügeln markieren eine Zwischenstufe der Liedlyrik, welche aufgrund der Überlieferungslücke um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts weithin im Dunkeln liegt, vgl. Baldzuhn 2002, 426–440; Köbele 2003, 44; vgl. auch Rettelbach 2002 zur Sangspruchdichtung in diesem Zeitraum.
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Minnesang-Rezeption
Jens Haustein
Minnesangrezeption literarisch Im folgenden Beitrag wird es um die literarische Rezeption des hochmittelalterlichen Minnesangs gehen, also um seine „Übersetzung, Nachdichtung, Imitation, Anverwandlung“1. Außen vor bleibt die auf den akademischen Unterricht ausgerichtete, möglichst wortgenaue Übersetzung in Vers oder Prosa, obwohl sie streng genommen ebenfalls ein Rezeptionsphänomen darstellt, wie auch Prosaerzählungen mit Minnesängern als Sujet oder der Imagination der Entstehung von mittelalterlichen Handschriften, vorzugsweise der Manessischen Liederhandschrift C, wie sie etwa in der Züricher Novelle ‚Hadlaub‘ von Gottfried Keller begegnet. Die literarische Rezeption des Minnesangs ist grundsätzlich – und das prägt sie von ihren Anfängen im achtzehnten Jahrhundert bis heute – vor zwei Probleme gestellt. Zum einen ist sie keine Übersetzung aus einer fremden Sprache, sondern eine Übertragung aus einer älteren Sprachstufe in das jeweilige Gegenwartsdeutsch. Das zieht ein beständiges Lavieren zwischen Bewahren und Modernisieren nach sich und setzt ein Bewusstsein für semantische Wandlungsprozesse des Deutschen voraus. Zum andern weist der mittelhochdeutsche Minnesang – bekanntlich und holzschnittartig gesprochen – mit seiner ‚dilemmatischen‘ Struktur eine Leerstelle auf: Die Dame verweigert sich dem Begehren des Mannes, ohne diese Ablehnung zu begründen. Die Folge ist die wiederholte, vielfach modulierte Klage des Mannes über den ausbleibenden ‚Lohn‘ für seinen ‚Dienst‘ an der Dame in Gestalt seines Liedes. Dieses ‚Grundproblem‘, das sich zudem mit einer völlig anderen Sprechhaltung mittelhochdeutschen Minnesangs verbindet, in dem sich zumeist kein Ich einem Du zuwendet, sondern ein Ich dem Publikum seinen Kummer schildert, dieses ‚Grundproblem‘ einer Zeit zu vermitteln, die von einer romantisch geprägten Liebesauffassung ausgeht, stellt die andere Herausforderung an neuzeitliche Minnesangrezeption dar. Aufs Ganze gesehen gibt es deshalb auch deutlich mehr missglückte und in der Folge auch weitgehend vergessene Versuche der literarischen Vermittlung als geglückte.2 Denn sie führten in ihrer Mehrheit, so Peter Rühmkorf in seinem ‚Walther von der Vogelweide‘, „meist nur zu jener Art von Gelehrtenlyrik, die ohnmächtig und beflissen hinter Originalen hergrimmassiert“3. Das Folgende kann kaum mehr sein als eine Auswahl, die sich auf die wesentlichen Stationen der Rezeption konzentriert. Die Übersicht wird bei Gleim und seinen ‚Gedichte[n] nach den Minnesingern‘ (1773) sowie den ‚Gedichte[n] nach Walther von der Vogelweide‘ (1779) beginnen, dann Tiecks ‚Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter‘ von 1803 und Wilhelm Müllers ‚Blumenlese aus den Minnesingern‘ von 1816 1 Marquardt und Wagner 2017, 8. 2 Grosse und Rautenberg 1989. 3 Rühmkorf 2017, 97. https://doi.org/10.1515/9783110351859-048
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als Beispiele romantischer Adaptation vorstellen. Den wohl bedeutendsten Versuch einer produktiven Anverwandlung im neunzehnten Jahrhundert stellen die hier aus Platzgründen nur gestreiften ‚Lieder und Sprüche der Minnesinger‘ Friedrich Rückerts aus den Jahren 1835 und 1836 dar. Am Ende wird nach einem kurzen Blick auf Rühmkorf die Vorstellung des wohl ambitioniertesten neueren Versuchs einer literarischen Auseinandersetzung mit mittelhochdeutscher Minnelyrik stehen: die Anthologie ‚Unmögliche Liebe‘ von 2017. Zunächst freilich ist ein kurzer Blick auf die Voraussetzungen der literarischen Rezeption nötig.
1 Voraussetzungen 1746 bekam Johann Jakob Bodmer die Manessische Liederhandschrift von Paris aus nach Zürich ausgeliehen, worüber er in den ‚Vorberichte[n]‘ seiner 1748 erschienenen ‚Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts‘ seine Leser ausführlich informiert.4 Seit den ‚Proben‘ heißt die Handschrift auch und bis heute Manessische Liederhandschrift, da Bodmer aus einer Interpretation der Gedichte → Hadlaubs auf Rüdiger Manesse als den Sammler und Zürich als den Entstehungsort der Handschrift schloss. Im Editionsteil, dem übrigens eine kleine ‚Grammatik‘ des Mittelhochdeutschen vorangeht und ein ‚Glossarium‘ folgt, wurden dann 81 Dichtercorpora (von 140) mit einem Schwerpunkt auf dem Minnesang ediert. Erst die ‚Sammlung von Minnesingern aus dem schwæbischen Zeitpuncte CXL Dichter enthaltend‘ von 1758 und 1759 bot dann – fast – den gesamten Bestand der Handschrift. „Einige Strophen von geringem Werthe, von wiederholten Gedanken, von yberspanntem oder anstoessigem Inhalt“5 wurden jedoch ausgelassen, immerhin etwa ein Siebentel der Handschrift. Mit Bodmers ‚Sammlung‘ war eine zuverlässige Grundlage für die literarische Rezeption des deutschen Minnesangs geschaffen, die einzige sogar, bis 1838 Friedrich Heinrich von der Hagens ‚Minnesinger‘-Ausgabe erschien. Wie zuverlässig die Bodmerʼsche Ausgabe war, erhellt übrigens auch daraus, dass sogar Karl Lachmann für seine Walther-Ausgabe von 1827 den Bodmerʼschen Text und nicht etwa die Handschrift selbst benutzt hat.
2 Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) Schon vor Erscheinen der ‚Proben‘ im Jahr 1748 erhielt Gleim von Bodmer „einige schöne Stücke in Abschrift“6 aus dem Codex Manesse. Die Gesamtausgabe von 1758/59 4 Das Folgende ausführlicher und mit weiterer Literatur nach Haustein 2019. 5 Bodmer und Breitinger 1759, V. 6 Gleim 2003, 726.
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wurde dann auch die Grundlage seines zweifachen Versuchs, sich dichterisch dem deutschen Minnesang zu nähern: In den ‚Gedichte[n] nach den Minnesingern‘ (1773) übertrug er Lieder vor allem von hochadligen Sängern wie König Wenzel von Böhmen, Markgraf Otto von Brandenburg oder Herzog Heinrich von Breslau;7 1779 erschienen dann seine ‚Gedichte nach Walther von der Vogelweide‘.8 Gleim war zu diesem Zeitpunkt berühmt durch seine Übertragungen des griechischen Lyrikers Anakreon. Diese produktive, zwischen Scherz und Empfindsamkeit changierende Anverwandlung, die auch erkennbar blieb in seiner eigenen Lyrik, hatte ihm das Epitheton ‚der deutsche Anakreon‘ eingetragen. Dieses anakreontisch-empfindsame Dichtungsverständnis wurde nun auch zur Grundlage seiner Versuche, die mittelhochdeutsche Minnelyrik einem zeitgenössischen Publikum zu vermitteln. Übrigens war auch diesem Versuch der Vermittlung – wie schon der Ausgabe Bodmers – kein großer Erfolg beim Publikum beschieden: Im August 1775 schreibt Gleim an eine Freundin: „Von den Gedichten nach den Minnesingern sind zu leipzig in allen buchläden nur acht Exemplare verkauft.“9 Und auch die – scharfsinnige – Kritik ließ kaum ein gutes Haar an den Anverwandlungen Gleims. Die Kritik sei mit zwei Beispielen deshalb etwas ausführlicher zitiert, weil sie den cantus firmus eigentlich der gesamten Geschichte der produktiven Minnesangrezeption schon in ihren Anfängen als grundsätzliches Problem formuliert. Der Kritiker des ‚Magazins der deutschen Critik‘ schrieb 1773: Ich weiß nicht, wie ich diese Gedichte nennen könnte: – – Uebersetzungen? – Modernisirte Minnelieder? – Nachahmungen? – Das alles sind sie nicht, oder vielmehr sie sind bald dies, bald jenes. Aber das weiß ich, daß der Ton sehr oft verloren ist; nur da ist er übrig geblieben, wo man das Gedicht freie Uebersetzung nennen kann. Ohngeachtet es nun aber der Ton der alten Minnesinger nicht ist, welchen wir in den mehrsten dieser Gedichte finden, so wird man doch überhaupt die Gleimische Muse darin gewiß nicht verkennen.10
Der Kritiker der ‚Allgemeinen deutschen Bibliothek‘ rügt ebenfalls den Schwebezustand, ja die Unentschiedenheit zwischen ‚freier Übersetzung‘ und Gleimʼscher Manier: Wir wissen überhaupt nicht recht, wofür wir diese Gedichte halten sollen. Nachahmungen der beigedruckten Originalgedichte der Minnesinger? Dann wären sie oft gar nicht im Geiste der Minnesinger, hätten zu viele fremde Einschaltungen, wovon im Originale auch nicht die geringste Spur ist.
7 Die mittelhochdeutschen Texte nach Bodmer sind den Übertragungen jeweils beigegeben. 8 Zu Gleims ‚freien‘, das eigene literarische Selbstverständnis spiegelnden Übertragungen ausführlicher und mit Literatur Mertens 2002. 9 Gleim 2003, 727. 10 Gleim 2003, 727.
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Oder sollen es Gleimische Gedichte seyn, welche nur durch dies oder jenes der Minnesinger veranlasst worden? Dazu sind zu viele Stellen nicht im Ausdruck unserer Zeiten, zu viele allzuängstlich aus den Minnesingern übertragen. Das Neue und Alte sticht oft sonderbar gegen einander ab.11
Aber auch deutlich wohlgesinntere Zeitgenossen, wie die oben erwähnte Freundin Anna Louisa Karsch (1722–1791), kritisierten gerade das, was Gleim aus eigenem Antrieb den Minneliedern hinzufügte, etwa, wie in diesem Fall, den ausgedehnten Preis der Natur: […] sonst aber ist die Übersezung dieser Gesänge eine schwere und fast undankbahre Arbeit, die Ihnen unendlich viel gekostet haben möchtte, wenn Sie nach Ihren und meinem Wunsch allemahl den Sinn und dem Geiste der altten Sänger getreu geblieben wären, ich hätte zum Exempel den empfang des Wintters sehr gern So eingerichtet, wie der Herzog von Anhalt So kurz und so körnicht, denn die beschreibung Seiner lieben frauen zieh ich der beschreibung des Schneebringenden Wintters ungleich weit vor […]. 12
Das angesprochene dreistrophige Lied des Grafen Heinrich von Anhalt (KLD 1) beschreibt in den ersten vier (von acht) Versen der ersten Strophe den Einbruch des Winters, dem der Sänger seine Freude über die Schönheit und Zuneigung seiner Dame entgegenstellt, einer Freude, der auch der haz der Neider nichts anhaben kann. Gleim nun verschiebt die Proportionen völlig: Dem einbrechenden Winter trotzt das Ich in drei Strophen mit seinem der Dichtung huldigenden inneren Feuer; erst im letzten Vers wird, wie etwas lieblos nachgetragen, die Dame erwähnt: Der Empfang des Winters [nach dem Herzoge von Anhalt] Der Winter kommt, behangen Um seine blassen Wangen Mit Flocken und mit Eiß; Er kommt und färbt die Felder, Die Wiesen und die Wälder, Und alles, alles weiß. Die Sänger auf den Zweigen, Die kleinen Vögel, schweigen Und ziehn aus ihrem Hayn; Ich aber, ich empfange Den Winter mit Gesange, Den Winter, ich allein.
11 Gleim 2003, 727–728. 12 Gleim 2003, 727.
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Denn ihm, dem Schnee-Erfinder, Trotz ich, ein Ueberwinder, Und wär er noch so rauh, Mit Feuer in dem Busen, Für meine lieben Musen Und meine liebe Frau.13
Entstanden ist so in der Tat ein anakreontisches Gedicht ganz aus dem Geist der Gleimʼschen Muse.
3 Ludwig Tieck (1773–1853) „Die erste produktive Phase Tiecks im Aneignungsprozeß der nationalen literarischen Tradition setzt um 1795 mit seiner Aufwertung der ‚verkannten und verschmähten Volksbücher‘“14 ein. In seiner Jenaer Zeit (1799–1800) stand er dann in beständigem Austausch mit August Wilhelm Schlegel über mittelalterliche Literatur, um so seine Kenntnisse nachhaltig zu verbreitern. In Ziebingen beschäftigte sich Tieck ab 1802 nun vorzugsweise – anhand von Schlegels Exemplar der Bodmer’schen ‚Sammlung‘15 – mit dem Minnesang. 1803 erschienen dann die ‚Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter‘. Den ersten gedruckten Exemplaren fehlte noch die programmatische Vorrede mit ihrer Konzeption der „Einen Poesie“. „In der Forschung gilt die Vorrede mit guten Gründen […] als eine von Tiecks ‚bedeutendsten Leistungen überhaupt‘.“16 Aber auch die Zeitgenossen, etwa Clemens Brentano oder Jacob Grimm, haben die Vorrede geschätzt, ohne mit Tiecks Verfahren der Erneuerung einverstanden gewesen zu sein. Den Ausgangspunkt seiner – übrigens buchhändlerisch ebenfalls wenig erfolgreichen17 – ‚Minnesinger‘-Bearbeitung wie seiner Vorrede bilden eigentlich zwei Umstände: zum einen, wie gesagt, das Konzept der „Eine[n] Poesie, die in sich selbst von den frühesten Zeiten bis in die fernste Zukunft, mit den Werken, die wir besitzen, und mit den verlorenen, die unsere Phantasie ergänzen möchte, sowie mit den künftigen, welche sie ahnden will, ein unzertrennliches Ganze ausmacht“18. Zum anderen der die Erforschung des Minnesangs von ihren Anfängen begleitende Vorwurf, dass
13 Gleim 2003, 527–528. 14 Meves 2016, 207. 15 Meves 2016, 208. 16 Meves 2016, 209, mit Zitatnachweis; vgl. auch Scherer 2012, 89; zum Verhältnis von Tiecks Ausgabe zu der Bodmers und zur Intention Tiecks Mertens 2007 mit weiterer Literatur zur Mittelalterrezeption im achtzehnten Jahrhundert. 17 Brinker-Gabler 1980, 144–145. 18 Tieck 1848, 188.
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sich diese Gattung in Redundanzen ergehe. Friedrich Schiller schrieb 1806 mit Bezug auf Tiecks Ausgabe: „Welch eine Armuth von Ideen, die diesen Minneliedern zum Grunde liegt! Ein Garten, ein Baum, eine Hecke, ein Wald, und ein Liebchen; ganz Recht! das sind ungefähr die Gegenstände alle, die im Kopfe eines Sperlings Platz haben!“19 Diesen um 1800 bereits topischen Vorwurf greift Tieck gewissermaßen implizit auf, indem er in der Vorrede zu inhaltlichen Gesichtspunkten so gut wie nichts sagt, sondern allen Wert auf Metrum, Strophik und Reim legt, in denen sich abwechslungsreichste Vielfalt und innere Notwendigkeit zeige. Wenn im Reim freilich die Leistung der Minnesinger liegt, dann ist dieser in der Erneuerung zu bewahren. Die enge Anlehnung an den mittelhochdeutschen Lautstand zur Bewahrung des Reims hat der Tieckschen Ausgabe dann massive Kritik eingebracht.20 Zwar gesteht Tieck zu, dass der „Frühling, die Schönheit, die Sehnsucht […] nie ermüden konnten“21, mit diesem inhaltlich orientierten Blickwinkel sei aber das Wesentliche dieser wie überhaupt aller formgebundenen Kunst nicht erfasst. Denn: Die größte Mannichfaltigkeit entdeckt man in den Liedern der Minnesinger, selbst beim flüchtigsten Anblick, in Hinsicht der Sylbenmaße, die größte Verschiedenheit der Strophen, die verschiedenste Anwendung des Reimes. Es ist kein Dichter, selbst bis auf die spätern, der nicht, wie er seinen eigenen Ausdruck, seine eigene Sprache hat, auch eine neue Form suchte, in welcher er sich ausdrückt.22
Der eher formale Aspekt des Tonprinzips, den Tieck hier hervorhebt, wird im Folgenden dann immer wieder mit romantischen Vorstellungen von sprachlicher Musikalität verbunden: Es ist nicht weniger, als Trieb zur Künstlichkeit oder zu Schwierigkeiten, welche den Reim zuerst in die Poesie eingeführt hat, sondern die Liebe zum Ton und Klang, das Gefühl, daß die ähnlich lautenden Worte in deutlicher oder geheimnisvoller Verwandtschaft stehen müssen, das Bestreben, die Poesie in Musik, in etwas Bestimmt=Unbestimmtes zu verwandeln.23
Minnesang als Werbungskunst lasse sich geradezu – und darin kommt nicht nur der für Tieck und sein Poesieverständnis identifikatorische Charakter der Vorrede zum
19 Zitat nach Brinker-Gabler 1980, 153. Allerdings hat Schiller in seinen ‚Musenalmanach für das Jahr 1796‘ (22–23) auch eine Bearbeitung eines Liedes Christans von Hamle (KLD 3) von Johann Christoph Friedrich Haug (1761–1829) aufgenommen, die von der Bearbeitungstendenz her zwischen der freien Umdichtung Gleims und der ‚getreuen‘ Erneuerung Tiecks steht und eine Verbindung zwischen klassizistischer und volksliedhafter Tonlage sucht. Haug verdiente wegen seiner zahlreichen, erstaunlich stilsicheren Nachdichtungen (s. dazu die Register bei Grosse und Rautenberg 1989) eine eigene Studie. 20 Dazu ausführlich Brinker-Gabler 1980. 21 Tieck 1848, 196. 22 Tieck 1848, 197–198. 23 Tieck 1848, 199.
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Ausdruck, sondern auch die Abwehrhaltung gegenüber aller Kritik am Minnesang, die von einem wenig modulationsfähigen Inhalt ausgeht – vom Reim her erklären: In vielen dieser Lieder zeigt sich die Liebe des Dichters fast unerschöpflich, alles ist ihm noch immer nicht musikalisch und lieblich genug, er beugt die harten Worte seiner Sprache immer wieder in Reimen um, daß sie sich recht glatt und gelinde, recht liebkosend an das Herz der Geliebten schmiegen sollen, das Gefühl kann fast nicht die beflügelten Laute zurückweisen, die so schmeichelnd und tändelnd nahen und in denen der Gedanke des Gedichts so demüthig durchscheint […]. 24
Tiecks Auffassung, dass der Minnesinger „seinen Gegenstand lieber durch eine neue Anordnung der Reime, als durch neue und auffallende Gedanken hervorzuheben“25 suche, führt ihn mit Notwendigkeit zu der Aufgabe, bei seiner Erneuerung die mittelhochdeutschen Reime im Neuhochdeutschen zu bewahren, die andere, womit auch Gleim gemeint ist, zu stark modernisiert hätten. Konsequenterweise schließt sich eine Liste mit mittelhochdeutschen Reimwörtern an, deren Bedeutungen sich zum Neuhochdeutschen hin verändert haben.26 Die Abwehr aller Kritik an der Monotonie des Minnesangs aus der Betonung seiner vielfältigen Form- und Reimsprache heraus, seiner ‚Musikalität‘, die von den Zeitgenossen geradezu als romantisches Manifest angesehen und gefeiert wurde, führte Tieck in eine Aporie, die es ihm gebot, den Lautstand bei seiner Erneuerung so weit wie möglich – und nicht selten darüber hinaus – zu bewahren. Auch Wohlmeinende (wie Achim von Arnim oder Clemens Brentano) konnten darin keinen gangbaren Weg für die Vermittlung des Minnesangs sehen. Im Wesentlichen beschränkte sich Tieck bei seiner ‚Erneuerung‘ auf die Einführung der Diphthongierung beziehungsweise Monophthongierung und die Eliminierung doppelter Negationen. Das Ergebnis war dann ein geradezu künstlich wirkendes Mittelneuhochdeutsch, das an einem willkürlich herausgegriffenen Beispiel aus dem Œuvre Dietmars von Aist demonstriert sei: ‚Ez dunket mich wol tûsent jar, daz ich an liebes arme lac. sunder âne mîne schulde vremedet er mich menegen tac. sît ich bluomen niht ensach noch enhôrte der vogel sanc, sît was mir mîn vröide kurz und ouch der jâmer alzelanc.‘ (MF 34,11) Es dünket mich wohl tausend Jahr daß ich an Liebes Arme lag, Sonder ohne meine Schulde ist er mir fremde mannichen Tag, Seit ich Blumen nicht mehr sah noch hörte kleiner Vögle Sang, Seit war all meine Freude kurz und auch der Jammer allzu lang.27
24 Tieck 1848, 201. 25 Tieck 1848, 204. 26 Tieck 1848, 212. 27 Tieck 1803, 44 (Nr. 32).
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4 Wilhelm Müller (1794–1827) Auch Wilhelm Müller gehörte zu den Kritikern der Tieckʼschen ‚Minnelieder‘. Müller hat zwischen 1812 und 1817 in Berlin vor allem Gräzistik studiert (‚Griechen-Müller‘), war dort auch Mitglied der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache geworden und schloss mit Arnim, Brentano und auch Tieck Freundschaft. Bekannt wurde er mit seinen Gedichten zum griechischen Freiheitskampf, aber auch mit seiner Lyrik im Volksliedton (‚Die schöne Müllerin‘, ‚Winterreise‘ u. a.). Seine erste selbständige Publikation war 1816 die ‚Blumenlese aus den Minnesingern‘. Gleich zu Beginn der Vorrede äußert er sich programmatisch zur Absicht seines Vorhabens. Sein „Hauptaugenmerk“ sei es gewesen, „den alten Geist in der neuen allgemeinverständlichen Sprache und in der gängigen Form des heutigen Liedes aufzufassen und wiederzugeben“.28 Müller entwirft sogar eine produktionsästhetischromantische Fiktion (?) seiner Liedneudichtung, die er als „gleich treu und gleich frei“ beschreibt: „Jetzt wird es auch keinen mehr befremden, wenn ich erkläre, daß ich die meisten Lieder so übersetzt habe, daß ich die Urschrift drei bis vier Mal aufmerksam durchlas, dann das Buch weglegte und das Gedicht aus meinem Innern wieder heraussang.“29 Im Anschluss setzt er sich von seinen Vorgängern ab, unter denen er Gleim und Tieck heraushebt. Die Lieder „Vater Gleim[s]“ sind „ganz frei und in beliebigen Versmaßen und Reimarten, oft aus einem Paar alten Zeilen ein Paar neue Stanzen und selten ein vollständiges Gedicht der Urschrift […]. Jedoch kann man“, fügt er lobend hinzu, „sicherlich aus Gleims Liedern immer noch einen richtigern Begriff von den alten Minnesängern gewinnen als aus den meisten nachfolgenden Bearbeitungen“.30 Unter diesen geht er mit der Ausgabe Tiecks besonders scharf ins Gericht. Tieck habe sich gerade nicht „um das Verständigen und Genießbarmachen für den ungelehrten Leser“31 bemüht. „[…] nur hie und da, oft wo es am wenigsten nötig scheint, ist ein Wort oder ein Vers geändert, an hundert andern Stellen, wo die Änderungen ebenso leicht als nützlich gewesen wäre, ist nichts angerührt. Die Auswahl selbst ist aber oft mit gar zu geistreicher Nachlässigkeit gefertigt.“32
Im Hauptteil seiner Vorrede entwickelt Müller seine Vorstellung vom – modern gesprochen – medialen Status der Lieder zwischen Entstehung und Aufzeichnung in der Manessischen Handschrift, und diese Vorstellung ist zutiefst romantisch. Die Sänger haben nämlich, wenn sie ein Lied gedichtet haben, dieses keineswegs aufgezeichnet oder aufzeichnen lassen:
28 Müller 1994, 9. 29 Müller 1994, 9. 30 Müller 1994, 11. 31 Müller 1994, 11. 32 Müller 1994, 11.
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Sie trugen es im Kopfe, oder, wenn man das lieber hört, im Herzen, und die Tonart und die Sangweise, die sich wohl unter dem Dichten selbst um die Worte schlangen oder vielmehr in dem Gefühle und mit demselben aus dem Sängerherzen quollen, dienten dem Gedächtnisse zum Leitfaden, die vielen Lieder festzuhalten und voneinander zu unterscheiden. […] aus dem wahren Sänger fließt Gedanke, Wort, Maß, Reim und Weise in einem Strome.33
Dieses memotechnische Konzept der Gleichzeitigkeit von Wort und Melodie, von Metrum und Strophik ist für Müller die Voraussetzung seiner Vorstellung vom Sitz im Leben des Minnesangs vor seiner Kodifizierung im vierzehnten Jahrhundert: Die Sänger zogen von Burg zu Burg und Schloss zu Schloss und trugen bei passender Gelegenheit ihre Lieder aus dem Gedächtnis vor, was übrigens auch erklärt, so Müller, dass Lieder von anderen Sänger übernommen werden konnten oder dass kaum „vom Schreiben oder Schicken der Gedichte, aber desto öfter vom Singen und Bringen, welches letzte überall vom mündlichen Überbringen zu verstehen ist“34, die Rede ist. Diese romantische Vorstellung von der Entstehung und Tradierung des Minnesangs findet sich ja auch in Müllers Beschreibung seines eigenen Verfahrens bei der Nachdichtung wieder: Sie ist aus dem Innern heraus neu gesungen. Im Ergebnis dieses Verfahrens sind vielleicht einige der besten Neu- oder Nachdichtungen des hochmittelalterlichen Minnesangs entstanden, wobei Müllers Auswahl erkennbar auf Lieder mit → Natureingang zielt oder auf solche, die das Singen thematisieren: Unermüdliche Treue Es ist in dem Wald gesungen, Daß ich ihr mein Leiden klage, Die mein Herze hat bezwungen Und bezwingt noch alle Tage. Mir geht’s wie der Nachtigall, Die so gar vergebens singet, Weil ihr doch nur Schaden bringet Auf der Letzt‘ ihr süßer Schall. Was taugt in den Waldesklüften, Kleine Vöglein, eur Gesang? Er verhallet in den Lüften, Taub und fühllos steht der Wald: Eure heißen Minnelieder Tönen kalte Felsen wieder: Keiner fühlt des Sangs Gewalt. Also klag ich meine Minne Dir, du kaltes Felsenherz.
33 Müller 1994, 13. 34 Müller 1994, 15.
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Ach, mit meinem treuen Sinne Treibst du grausam deinen Scherz. Spotte nur mit meiner Pein: Ei, wenn ich dich dürfte schelten, Wunder könnt‘ ich von dir melden, Doch ich will verschwiegen sein.35
5 Zwischeneinkehr und erneute Aventiure Gleims, Tiecks und Müllers Versuche, sich den Minnesang des dreizehnten Jahrhunderts in Auswahl anzueignen und dann – allerdings weitgehend erfolglos – einem offenbar nur bedingt interessierten Publikum zu vermitteln, stehen nicht allein. Zu nennen wären die – zumeist in Zeitschriften oder Almanachen erschienenen – Übertragungen von Ludwig Hölty, Friedrich David Gräter, Christian Gottfried Böckh, Clemens Brentano oder dem schon genannten Johann Christoph Friedrich Haug u. a. Wenige Jahre nach Müllers ‚Blumenlese‘ erschienen noch die ‚Lieder und Sprüche der Minnesinger‘ (1835 und 1836) von Friedrich Rückert. Sie sind vom Übertragungskonzept her denen Müllers vergleichbar, in ihrer sprachlichen Eleganz ihnen überlegen. Rückerts ‚Lieder und Sprüche‘ zielen allerdings inhaltlich gesehen deutlicher als die Müllers auf den exemplarischen Gehalt von Liebes- und Leiderfahrungen, ja auf die auch in mittelalterlicher Lyrik formulierten überzeitlichen Einsichten. Von daher erklärt sich auch, dass Rückert mehr Sangsprüche als Minnelieder übertrug. Wenn sich dieser Beitrag weitgehend auf die Erneuerungen Gleims, Tiecks und Müllers konzentriert hat, so deshalb, weil in ihnen die übersetzerischen Möglichkeiten, die sich einer derartigen Aneignung bieten, sämtlich und geradezu exemplarisch zum Tragen kommen: Gleim greift nur einzelne Motive heraus, um sie zu eigenständigen Liedern zu erweitern; Tieck versucht, den mittelhochdeutschen Laut- und Formenstand bis zum Äußersten, gelegentlich bis zur Unverständlichkeit, zu bewahren; Müller (wie auch Rückert) überträgt, ohne sich inhaltlich und formal sehr weit von den Vorlagen zu entfernen, das Mittelhochdeutsche geschickt in ein manchmal biedermeierliches, manchmal romantisch geprägtes Neuhochdeutsch seiner Zeit. Die wenigen Versuche aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und der ersten des zwanzigsten Jahrhunderts stammen nur von poetae minores (Emanuel Geibel, Victor von Scheffel, Rochus von Liliencron, Will Vesper, Wilhelm von Scholz u. a.) und führen nicht über das hinaus, was wir von Tieck oder Müller her kennen. Die bedeutenderen Lyriker, etwa Rilke oder George, gehen in der Aneignung mittelalterlicher Motive eigene Wege. Ihnen ist die Literatur des Mittelalters allenfalls ein 35 Müller 1816, 111. Das Lied des Tugendhaften Schreibers (KLD 8) ist in C vierstrophig überliefert und in anderer Reihenfolge. Seine Kürzung und Umstellung rechtfertigt Müller in den Anmerkungen folgendermaßen: „Aus einem größeren Gedichte doch so auch ein rundes Ganzes“ (168).
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Spiegel für eigene Gestaltungen.36 Der Minnesang mit seiner Klage und Entsagung bot ihnen ohnehin keine Anknüpfungspunkte. Eine Übersetzung von Minneliedern seines Jüngers Friedrich Wolters kommentierte George mit dem bekannten Topos, dass sich „das meiste in allgemeinheiten und herkömmlichen wendungen“ verliere.37 * Einen Neuansatz in der literarischen Aneignung mittelhochdeutscher Lyrik stellt der 1975 zuerst erschienene Band Peter Rühmkorfs ‚Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich‘ dar. Der Walther-Abschnitt erschien 2017, ergänzt um weitere Materialien (Briefwechsel Rühmkorf-Wapnewski u. a.), erneut. Auch wenn sich Rühmkorfs Interesse vor allem auf den ‚Reichssänger und Hausierer‘, also den politischen Dichter, konzentriert, kommt er nicht völlig am Minnesänger → Walther von der Vogelweide vorbei, lässt diesen aber gern an ungerechten, politisch-sozialen Machtverhältnissen scheitern. Zu den Entstehungsbedingungen und lebensweltlichen Folgen von L 111,22 heißt es etwa: Wie tief Walther die innere Brüchigkeit des Minnesangs durchschaut hatte, so wenig war er sich über die eigene Rolle am Wiener Hof im klaren. Der Eindruck, den seine versifizierten Frechheiten auf die Hofgesellschaft machten, war gewiß beachtlich; da die Ausfälle gegen Reinmar aber indirekt auch dessen Dame trafen – es war die Herzogin und Herzoginmutter Helene persönlich – war es nur eine Frage der Zeit, wann solche Scheinsiege sich in eine ganz reale Niederlage verwandeln würden.38
„Literatursoziologie“ betreibt Rühmkorf natürlich auch, wenn er sein Hauptaugenmerk auf die ‚Mädchenlieder‘, „lebensfrische Schäferpoesie“, richtet, die Walther für den Thüringer Hof geschrieben haben soll, „an dem die Herren den Ton“ angeben, „ausgesucht schneidige Kavaliere und Potenzprotze, die sich die Anspielung auf ein nicht standesgemäßes Liebeserlebnis ganz gern gefallen lassen und bei denen die lyrische Schäferszene bestimmte erotische Alltagspraktiken widerspiegeln und nachmalen hilft“.39 Da Rühmkorf eigentlich nur die „Pastourellen“40, zu denen er auch Under der linden (L 39,11) zählt, „bei unserer ungebrochenen Kunst-Pietät noch am ehesten für übersetzbar“41 hält, wundert es kaum, dass er Bin ich dir unmære (L 50,19) als einziges Minnelied Walthers in Gänze übersetzt hat. Dabei trifft er, der begabte Lyriker, einen Ton, der einerseits zeitgemäß ist, anderseits den Waltherʼschen Duktus sehr wohl noch erkennen lässt: 36 Kiening 2014, 63–64. 37 Zitiert nach Kiening 2014, 65. 38 Rühmkorf 2017, 106. 39 Rühmkorf 2017, 131–132. 40 Rühmkorf 2017, 130. 41 Rühmkorf 2017, 130.
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Magst du mich wohl leiden? Ich weiß nichts! Ich liebe dich. Könntest du dich entscheiden! Immer siehst du her und neben mich. Zwischen Sieden und Erkalten: Es ist nicht mehr auszuhalten, was du mir auf meine Seele bürdest. Besser wär, wenn du mir tragen helfen würdest. […] Liebste, das will überlegt sein, ob dir doch nicht was an mir gefällt. Einsam und alleine aufgeregt sein ist die dummste Sache von der Welt. Liebe kann auf Erden recht geteilt, verdoppelt werden. Teilen wir, mein Liebchen, daß sie durch zwei Herzen geh und jedes dritte laß sie.42
Fast zeitgleich mit der Neuausgabe von Peter Rühmkorfs ‚Walther von der Vogelweide‘ erschien die Anthologie ‚Unmögliche Liebe‘, die die Herausgeber, Tristan Marquardt und Jan Wagner, durchaus in der Rühmkorfʼschen Tradition sehen. Am Anfang des Unternehmens stand, und damit wiederholen sie in der Sache ein Argument, das die literarische Übersetzung des Minnesangs von den Anfängen her prägt, die Verwunderung, ja das Bedauern, dass es keine „belebende Auseinandersetzung mit dem Erbe“ des Minnesangs in Deutschland gebe, und die Hoffnung, dass „eine gleichermaßen kenntnisreiche wie eigensinnige Bearbeitung des Minnesangs durch praktizierende Dichterinnen und Dichter“ vielleicht Abhilfe schaffen könne.43 Gefragt wurden zahlreiche Lyrikerinnen und Lyriker; im Ergebnis bietet der Band 141 Mal „Übersetzung, Nachdichtung, Imitation, Anverwandlung“44. Reiz in der Sache und eine gewisse Verwunderung im Ergebnis ergaben sich für die Herausgeber daraus, zu sehen und zu erleben, wie die eingeladenen Dichterübersetzerinnen und Übersetzerdichter sich der angebotenen Originaltexte aus dem Mittelalter annehmen würden – kühn oder ehrerbietig, frech oder bescheiden, mit einer Verbeugung oder einer Unverschämtheit, ob sie die Formen sprengen oder dehnen, den Originalen durch die Jahrhunderte entgegengehen oder sie mit einem energischen Ruck ins Hier und Heute zerren würden.45
Aus der Perspektive dieses Beitrags ergeben sich – bei allen Unterschieden vor allem im Vokabular – erstaunliche Korrespondenzen zu den Übertragungsversuchen aus der Zeit um 1800: ‚durch die Jahrhunderte entgegengehen‘ (Tieck), ‚ins Hier und Heute
42 Rühmkorf 2017, 53 und 130–131 (hier nur die erste und vierte Strophe zitiert). 43 Marquardt und Wagner 2017, 5. 44 Marquardt und Wagner 2017, 8. 45 Marquardt und Wagner 2017, 8.
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zerren‘ (Gleim), ‚mit einer Verbeugung begegnen‘ (Müller), damit sind im Grunde bei vielen Übergängen, bei einem Mehr oder Weniger im Einzelnen, die drei grundsätzlich gesehen unterschiedlichen Herangehensweisen an literarische Minnesangrezeption bezeichnet. Das sei an je einem Beispiel demonstriert. Vorausgeschickt werden sollte freilich, dass sich den Übersetzern unterschiedlich schwere Aufgaben boten: Ein Lied → Neidharts oder → Oswalds von Wolkenstein in eine witzig-heitere Anverwandlung zu verwandeln, ist gewiss leichter, als dies mit einem Lied → Reinmars oder etwa → Burkhards von Hohenfels zu tun. Gerade die Übertragungen von Liedern dieser Autoren zeigen deshalb mehrfach im Vokabular (‚hoher Mut‘, ‚holde Frauen‘, ‚süße Minne‘, ‚Gnade‘, ‚weibliche Güte‘ usw.) eine Nähe zum Ausgangstext, die auch Tieck gefallen hätte: Die süße Schöne, sie wirkt Wunder sogar wenn sie mich Jungen straft. Und meines dummen Herzens hoher Mut wähnt sich für immer unbezwungen. Einst lockten holde Frauen ihn und keusche Mädchen, frei allzeit, deren Macht er widerstand, auch wenn sie meine Wunden heilt. Denn ihre Kunst ist es, die Weisheit mehrt. Mit ihrem Gruß tilgt er die Sehnsucht aus den Herzen, an denen süße Minne zehrt. Als ich keine Gnade fand, versuchte ich, den Schmerzen zu entrinnen, machte mich auf in fremdes Land, auf der Flucht wähnt ich, Frieden zu finden. Ich barg mich hinter hohen Bergen, wildem Wasser, weiter Flur, viel Unwegsames war mein Schild, mit rauer widriger Natur. Doch es war zwecklos, weil sie mich dermaßen kränkt, dass sie mit rechter Güte meinen hohen Mut in tiefe Trauer senkt. Ihr segensreicher hoher Mut hat das edelste Gesinde, das hilft gegen schweren Mut und unheilvolle Winde. Scham trägt ihren Spiegel, da sie Keuschheit über alles liebt. Ihre züchtige Blüte, ihre weibliche Güte gewinnt die Gemüter für sich. Das gereicht ihrer Ehre zur Zier, denn ihr frohes Herz hat einen Makel, der ihm niemals nahegeht, es nirgendwo berührt.46
Als ein Beispiel für eine freie Adaptation, die kaum mehr mittelhochdeutsches Wortund Motivmaterial verwendet, die Vorlage radikal modernisiert und – ähnlich wie bei Gleim – das Anregungspotential des mittelhochdeutschen Liedes für einen im Grunde
46 Marquardt und Wagner 2017, 149. Die Übersetzung von Burkhards von Hohenfels Lied Diu süeze klâre wunder tuot (KLD 5) stammt von Theresia Prammer. Zitiert sind drei von fünf Strophen.
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selbständigen Text verwendet, sei Nora Gomringers im Anschluss an Dietmars von Aist Es dunket mich wol tûsent jâr (MF 34,11) entstandenes Gedicht zitiert: ›1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, Manneye. 1000 Jahre her will es mir scheinen, dass ich im Arm des Liebsten lag. Der Vöglein Chor: Pah! 1000! Menschen und ihre Jahresschätzungen. Seither bleibt er aus, viele Tage schon. Alle fragen: ER? Seit weder Blumen – Rosen, andere, egal sah noch Gesang kleiner Vögel hörte. Seitdem war meine ganze Freude (das ist ER!) super short und mein sorrow waaaaaaay too long.‹47
Der Band bietet aber auch Übersetzungen aus dem ‚mittleren Register‘, Versuche – vergleichbar denen Müllers oder Rückerts also –, das mittelhochdeutsche Lied in ein modernes Gedicht zu transponieren, ohne die Verbindungslinien zum Ausgangstext zu kappen. Als gelungenes, auch die Reimstruktur und weitgehend das Metrum bewahrendes Beispiel seien abschließend die ersten drei Strophen von Ulrike Draesners „Übersetzung, Nachdichtung, Imitation, Anverwandlung“ von Walthers Herzeliebez vrouwelîn (L 49,25) zitiert: Liebstes mädchen meines herzens stets gutes möge gott dir schenken! mein wille freilich wäre erzen noch besseres für dich zu erdenken. was kann darüber hinaus ich sagen als dass keiner dir gewogener ist? o weh, was hab ich drum zu klagen? sie tadeln mich, dass mein gesang zu einer von niederem stande spricht. indes, dass sie der liebe klang nicht greifen, ihre schuld ist’s nicht! die liebe, liebe, traf sie nie wo minne nach geld und schönheit geht, o weh, wie lieben die? schönheit geht mit groll einher rasche schönheit bringt verdruss. liebe gefällt dem herzen sehr schönheit folgt auf liebes fuß. liebe macht wohl schön die frau schönheit indes vermag es nicht, dass man den leib mit liebe schau.48
47 Marquardt und Wagner 2017, 27. 48 Marquardt und Wagner 2017, 90.
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Literatur Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger (Hg.): Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte. CXL Dichter enthaltend. Bd 2. Zürich 1759. Gisela Brinker-Gabler: Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption. Ludwigs Tiecks Erneuerung altdeutscher Literatur. Göppingen 1980 (GAG 309). Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke. Hg. von Walter Hettche. Göttingen 2003. Siegfried Grosse und Ursula Rautenberg: Die Rezeption mittelalterlicher deutscher Dichtung. Eine Bibliographie ihrer Übersetzungen und Bearbeitungen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Tübingen 1989. Jens Haustein: Forschungs- und Editionsgeschichte. In: Sangspruch / Spruchsang. Ein Handbuch. Hg. von Dorothea Klein, dems. und Horst Brunner, in Verbindung mit Holger Runow. Berlin u. a. 2019, 27–41. Christian Kiening: Das Mittelalter der Moderne. Rilke – Pound – Borchardt. Göttingen 2014 (Figura 1). Tristan Marquardt und Jan Wagner (Hg.): Unmögliche Liebe. Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen. München 2017. Volker Mertens: … zum Besten zweyer armen Mägdchen. Johann Wilhelm Ludwig Gleims Gedichte nach den Minnesängern und Walther von der Vogelweide. In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Produktion, Edition und Rezeption. Hg. von Thomas Bein. Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Walther-Studien 1), 225–248. Volker Mertens: Minnesangs zweiter Frühling: von Bodmer zu Tieck. In: wort unde wîse, singen unde sagen. Festschrift für Ulrich Müller zum 65. Geburtstag. Hg. von Ingrid Bennewitz. Göppingen 2007 (GAG 741), 159–180. Uwe Meves: ‚Altdeutsche‘ Literatur. In: Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Claudia Stockinger und Stefan Scherer. Berlin u. a. 2016, 207–218. Wilhelm Müller (Hg.): Blumenlese aus den Minnesingern. Erste Sammlung. Berlin 1816. Wilhelm Müller: Werke – Tagebücher – Briefe. Hg. von Maria-Verena Leistner. Bd. 4: Schriften zur Literatur. Berlin 1994. Peter Rühmkorf: Des Reiches genialste Schandschnauze. Texte und Briefe zu Walther von der Vogelweide. Hg. von Stephan Opitz, unter Mitarbeit von Christoph Hilse. Göttingen 2017. Stefan Scherer: Populäre Künstlichkeit. Tiecks Minnelieder-Anthologie im Kontext der Popularisierungsdebatte um 1800. In: Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur. Hg. von Mathias Herweg und Stefan Keppler-Tasaki. Berlin u. a. 2012 (TMP 27), 89–111. Ludewig Tieck: Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter neu bearbeitet und herausgegeben. Mit Kupfern. Berlin 1803. Ludwig Tieck: Kritische Schriften. Zum erstenmale gesammelt und mit einer Vorrede hg. von dems. Bd. 1. Leipzig 1848.
Volker Mertens
Die Rezeption des Minnesangs in der Musik Die künstlerische Wiederentdeckung des Mittelalters fängt in England in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts an, strahlt aus nach Frankreich und in die Schweiz. Die Lyrik mit ihrer Musik erfährt Einzeleditionen im Zusammenhang historischer Darstellungen seit 1702 (Thibaut de Champagne)1, von Aufführungsversuchen ist jedoch nichts bekannt. Diese beginnen erst am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.
1 Minnesänger auf der Opernbühne Mit König Richard Löwenherz und seinem Ménestrel Blondel betreten gleich zwei mittelalterliche Sänger die Opernbühne im Jahre 1784 in Paris: ‚Richard cœur de lion‘ von André-Ernest-Modeste Grétry basiert auf einem Libretto des als Lustspielautor und Operndirektor hoch angesehenen Michel-Jean Sedaine. Der style troubadour kam Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Mode, in der Literatur, in der Malerei, in Kunstgewerbe und Kleidung sowie in der Musik. Die bereits veröffentlichten Troubadourmelodien interessierten den Komponisten nicht, er schuf ein eigenes, gefälliges Mittelalter. Für die beiden Chansons Blondels und das von ihm und Richard gemeinsam gesungene Dialoglied „Une fièvre brûlante“ (zweiter Akt, vierte Szene), das Letzterer für seine Marguerite geschaffen hatte und das, als Erinnerungsmotiv eingesetzt, zum Hit der Partitur wurde, schrieb Grétry eine Melodie im Stil provenzalischer ‚Volkslieder‘2 und etablierte damit ein Paradigma für mittelalterliche Musik, das bis in die Gegenwart wirksam blieb: das der Volksnähe und Simplizität, ja Naivität (s. u.). ‚Richard cœur de lion‘ traf damit den Nerv der Zeit, nicht nur in Frankreich, auch in Deutschland, wo schon 1785 eine Festaufführung in Darmstadt zu einer Fürstenhochzeit stattfand, worauf Aufführungen in Wien, Weimar und Dresden folgten. Auch die Troubadour-Oper ‚Les Ménestrels‘ von Jean-Pierre Solié / Jacques-Antoine de Révéroni-St. Cyr (Paris 1811) fand in Köln als ‚Der Minnesänger‘ 1823 ein Publikum; als erste deutsche Minnesänger-Oper darf Franz Teybers Zauberspiel ‚Ruthards Abenteuer oder die beiden Sänger‘ (Berlin 1808) gelten, das ein wirkungsmächtiges Paradigma etabliert, wenn der Held in einem Sängerwettstreit über seinen Konkurrenten siegt (Finale des ersten Aufzugs); die Sängerkompetenz spielt jedoch weiter keine Rolle: Ein Minnesänger ist ein sensibler, romantisch empfindender Mann, kein konkurrenzorientierter Macho.
1 Je me cuidoie partir (RS 1440); vgl. Haines 2004, 109–110 (mit Faksimile). 2 Vgl. Haines 2004, 139–140. https://doi.org/10.1515/9783110351859-049
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Lorenzo da Ponte, Mozarts Meisterlibrettist, reagierte auf die zeitgenössische Troubadourmanie in seinem Libretto zu ‚Le nozze di Figaro‘ von 1786. Während in seiner Vorlage ‚La folle journée ou Le mariage de Figaro‘ von Beaumarchais Chérubin eine Romanze auf das volkstümliche Lied „Malbrough s’en va-t-en guerre“ singt, trägt er bei Mozart / da Ponte die Umformung eines mittelalterlichen Liebesliedes vor: Aus „Donne ch’avete intelletto d’amore“ wurde „Voi che sapete che cosa è amor“ (Nr. 11) – die Quelle ist Dantes Lied im 19. Kapitel seiner Dichterautobiographie ‚La vita nuova‘.3 Da Ponte kennzeichnet implizit die mittelalterliche Liebeslyrik als Produkt pubertärer Schwärmerei, das Mittelalter wird so als Jugendphase der europäischen Gesellschaft verstanden; Mozarts Vertonung mit ihrem Wandel vom Liedhaften zu emphatischem Ausdruck bildet das ab. Giuseppe Verdis Troubadour Manrico (‚Il trovatore‘, Rom 1853) repräsentiert das Klischee eines romantisch empfindsamen Mannes ‚aus dem Volk‘, der ein einsamer Künstler und Vorkämpfer der Freiheit im Gegensatz zu seinem dominant aggressiv auftretenden Bruder, dem Grafen Luna, ist. Er hat durch seine Lieder die Liebe der Hofdame Leonora gewonnen. In der dritten Szene des ersten Aktes singt er eine harfenbegleitete Romanza („Deserto sulla terra“) für sie, die durch Simplizität gekennzeichnet ist4 und im Kontrast zur vorausgehenden höfischen Cavatina Leonoras steht. Verdi bedient das Paradigma des einfachen elegischen Liedes in altertümlicher Form (drei settenarii, ein quinario). Zum künstlerischen Protagonisten wurde der Minnesänger in Richard Wagners ‚Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg‘ (Dresden 1845), angeregt unter anderem durch E. T. A. Hoffmanns Novelle ‚Der Kampf der Sänger‘.5 Der Wettbewerb der Minnedichter auf der Wartburg war zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ein populäres Thema, denn es eignete sich zur Thematisierung der Künstlerproblematik zwischen dem spießbürgerlichen Diesseits und einer poetischen Anderswelt. Während es bei Hoffmann Heinrich von Ofterdingen ist, der sich mit den dunklen Mächten einlässt, hat Wagner ihn mit dem Tannhäuser der spätmittelalterlichen Ballade identifiziert und das Dämonische mit dem Reich der Frau Venus gleichgesetzt. Tannhäuser hat durch seine Lieder die Liebe der Göttin gewonnen und sich von Elisabeth, die ihn ebenfalls wegen seines Gesanges liebte, abgewendet. Die anderen Minnesänger sind Vertreter einer Hohen Minne, die alle Sinnlichkeit negiert. Beim Sängerkrieg kommt es zur Katastrophe: Tannhäuser besingt die Freuden der Venusliebe und soll wegen dieses Verstoßes gegen das Sittengesetz getötet werden, wird dann aber auf Bitten Elisabeths zur Ableistung des Bußrituals der Romfahrt begnadigt. Wagner zeichnet den Minnesang doppelgesichtig: die gesellschaftskonforme Repression natürlicher Sinnenfreude gegen ihre Feier im Liebeslied Tannhäusers. Wagner kannte die Lieder des Tannhäuser wahrscheinlich aus der Großen Heidelberger Liederhandschrift, es 3 Verbunden mit Motiven aus dem Sonett im 13. Kapitel („Tutti li miei penser parlan d’Amore“). 4 Inhaltlich gibt es keine Berührungen mit mittelalterlicher Liebeslyrik. 5 Vgl. Mertens 2018.
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finden sich jedoch keine inhaltlichen Reflexe darauf. Auch für die Melodie zu den Sangsprüchen des Wartburgkriegs6 hat er sich nicht interessiert. Tannhäuser singt für Venus ein fanfarenhaftes, von der französischen Oper geprägtes Lied, das allerdings der Bauform der Minnesängerkanzone folgt, während die anderen Minnesänger diese nicht beherrschen – mit Ausnahme von Wolfram, der der Hohen Minne die biografische Authentizität des Verzichts zu verleihen versucht („Dir, hohe Liebe töne, begeistert mein Gesang“; zweiter Aufzug, vierte Szene). Während der konventionelle Minnesänger beim Sängerkrieg zur Stabilisierung der repressiven Wartburggesellschaft beiträgt, isoliert die Kompetenz in Sangeskunst und Sinnenliebe Tannhäuser und zerstört letztlich sein und Elisabeths Leben. Er ist der romantische poète maudit, kein Minnesänger – das sind die anderen. Das Mittelalter ist kein goldenes Zeitalter, wie Novalis es gezeichnet hatte, es ist ambivalent, ist ancien régime: prachtvolle Repräsentation einerseits, Unterdrückung des Individuums auf der anderen Seite. Von den Minnesängeropern des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts (unter anderen mit → Walther von der Vogelweide als Protagonisten) wird keine mehr beachtet.7 Eine Ausnahme bildet ‚Guntram‘, die erste Oper von Richard Strauss.8 Der Held ist zwar Minnesänger, zählt zur Gesellschaft der ‚Streiter der Liebe‘, singt jedoch kein einziges Liebeslied, denn ihm ist das Soziale wichtiger. Er kämpft nicht mehr für die Geschlechterliebe, sondern für die Menschenliebe, singt beim Sängerstreit ein langes Lied zum Preis des Friedens und erregt damit (nicht durch den Preis der Sinnenliebe wie Tannhäuser) gesellschaftliche Ablehnung. Guntram vollzieht die Wende zum Sozialen ähnlich wie Wagners Parsifal, jedoch nicht auf der individuellen, sondern auf der gesellschaftlichen Ebene. Strauss’ Oper ist ein Anti-Tannhäuser, denn die mit ihm verknüpften Werte weist der Textdichter und Komponist zu Gunsten des Politisch-Sozialen zurück. Auf die Liebe der Gräfin Freihild (sprechender Name) verzichtet Guntram zu Gunsten seines einsamen Lebens in der Welt. Er ist als Gegenbild zum romantisch verstandenen Liebeshelden Tannhäuser konzipiert: kein Liebesdichter und -sänger, sondern das Idealbild eines neuen Dichtertums der sozialen Verantwortung. Das Mittelalter ist nur deshalb die Zeit des Geschehens, weil so der Antagonismus zu Wagners Oper deutlich wird; da die Mittelalterbegeisterung zur Zeit der Entstehung schon abgeflaut war, blieb ‚Guntram‘ erfolglos. Die herausragende Minnesang-Oper der jüngeren Zeit verdanken wir der finnisch-französischen Komponistin Kaija Saariaho mit ihrem Librettisten Amin Maalouf (‚L’amour de loin‘). Im Zentrum steht eines der berühmtesten Troubadourlieder, das Fernliebelied von Jaufré Rudel (PC 262,2), aus dem die vida abgeleitet ist, die das dramatische Gerüst der Oper bildet: die Sehnsucht des provenzalischen Sängers nach der vollkommenen Liebe, verkörpert in der nie gesehenen Gräfin von Tripolis, die hier Clemence heißt. Die Entstehung der Hohen Minne aus dem Überdruss an der all6 Vgl. HMS IV, 843–844. 7 Vgl. Fischer 1986. 8 Vgl. Rode-Breymann 2014, 151–155.
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nächtlichen bloßen Lust steht am Beginn, eine glanzvolle Widerlegung der Theorie von der Frustrationsneurose, anders als in Wagners ‚Tannhäuser‘, wo die vom Helden propagierte Emanzipation des Fleisches als avantgardistisch gelten darf. Gut 150 Jahre später, wo die ubiquitäre Sinnenlust zum gesellschaftlichen Leitbild geworden ist, zeigt Saariaho die titelgebende Fernliebe als mystische Übersteigerung der Gewöhnlichkeit. Ein Pilger trägt der Gräfin drei Strophen (5, 2, 7) von Jaufrés Lied vor und erweckt damit ihre Liebe. Die Fahrt des Troubadours in das Heilige Land endet mit Krankheit und Tod in den Armen von Clemence. Das Minnelied löst sich vom mittelalterlichen Kontext und wird zur Chiffre der menschlichen Existenz. Musikalisch greift Saariaho auf originale Melodien nach der Handschrift R zurück, überschreitet sie allerdings mit orientalisierenden Ornamenten, expressiver Stimmführung, schwebender Begleitung in vorwiegend elektronischen Klängen, löst sie so aus aller mediävalisierenden Anmutung, schafft eine mystisch aufgeladene Alterität. Die Oper, uraufgeführt bei den Salzburger Festspielen 2000, war und ist ein internationaler Erfolg, unter anderem in London, Paris und New York. Vorangegangen war 1996 eine zwanzigminütige Szene ‚Lonh‘ für Sprecher, Sopran und elektronische Instrumente, in denen die erste Strophe von Jaufrés Lied auf Französisch rezitiert wird, während die folgenden zu suggestiven Worten fragmentiert sind und sich in verschiedenen vokalen Formen zwischen Singen und Flüstern entfalten. Sprechen und Singen vereinen sich auf dem wiederholten Wort „amatz“ (geliebt), das die Liebesvereinigung symbolisiert, die dem Paar in der Oper zu Gunsten der metaphysischen Perspektive versagt ist.9
2 Minnelyrik im Salon Das Klavierlied ist eines der beim bürgerlichen musizierenden Publikum beliebtesten Genres im neunzehnten Jahrhundert. Im Folgenden geht es um die Vertonung von (zumeist übersetzten) Minneliedern, nicht um mediävalisierende Gedichte oder solche, die zwar als Minnelied betitelt sind, aber nur eine bestimmte ‚naive‘ Liebeskonzeption thematisieren (wie das von Franz Schubert vertonte von Ludwig Heinrich Christoph Hölty D 429). Auch die diversen ‚Minnelieder‘, die Johannes Brahms in Musik setzte, darunter eines von Johann Heinrich Voß als op. 44, 1, sind nicht Thema. Ob das Minnelied im vermeintlichen Geist des Mittelalters erfunden war oder ob
9 Vgl. des Weiteren ‚Oswald von Wolkenstein‘ von Wilfried Hiller / Felix Mitterer (Nürnberg 2004; www. wilfried-hiller.de/werk/wolkenstein [30. Januar 2018]). Der Librettist verarbeitet hier die Forschungen zur Biografie zu einem bunten Mittelalterpanorama zwischen Konzil und Privatintrige. Der Komponist bedient Mittelalter-Stereotype und stellt den Sänger als Außenseiter dar. Vgl. zur Kritik auch https:// www.deutschlandfunk.de/wolkenstein-ein-schmarrn.691.de.html?dram:article_id=47750 (31. März 2020).
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es sich um eine Originaltextübersetzung handelte, dürfte nicht allen Komponisten bewusst gewesen sein. Felix Mendelssohn vertonte in seinem op. 8 (1824/1827) neben Liedern von Hölty, Grillparzer und Goethe aus Tiecks (sonst wenig beachteter) Übersetzung10 (→ Minnesangrezeption literarisch) ein Lied von Jakob von Warte (SMS 1), ohne dass ein stilistischer Unterschied spürbar würde. ‚Echte‘ mittelalterliche Lieder in Übersetzung wurden erst in den 1840er Jahren vermehrt zur Textgrundlage. Fanny Hensel (geborene Mendelssohn) vertonte 1840 drei Gedichte von Markgraf Otto von Brandenburg (KLD 2, 3, 5) als Duette nach der Übersetzung von Wilhelm Müller von 1816. Die Übertragungen von Walthers Liedern durch Karl Simrock (1833) lieferten die Worte für Kompositionen von ‚Unter der Linden‘ (L 39,11) durch Edvard Grieg (1889, op. 48, 4), Engelbert Humperdinck und eine große Reihe kleinerer Komponisten.11 Die Melodien zu altdeutschen Gedichten unterscheiden sich nur wenig von denen mit neueren Texten, sie werden in die zeitgenössische Liedästhetik aufgenommen. Griegs Vertonung des Lindenliedes ist träumerisch, die einfache Linie durch Verzierungen (Melismen) leicht mediävalisierend gestaltet, während Ferruccio Busoni 1885 einen gemäßigten Tanzrhythmus anschlägt. Hans Pfitzner hingegen schreibt eine spätromantische expressive Szene, Alban Berg vertonte die erste Strophe mit siebzehn Jahren (1901) in spätromantischem Stil („Mit eindringlicher Leidenschaft“ ist das Klavierzwischenspiel überschrieben) – es gibt bei den Klavierliedern bis 1920 keine übergreifenden ‚mittelalterlichen‘ Charakteristika. Um 1920 änderten sich Publikum und Hörverhalten in der ernsten Musik. Das Bildungsbürgertum als relativ homogene Rezipientenschicht fächerte sich auf, neue Hörergruppen kamen hinzu, im Rahmen der jungen Musikbewegung wird die Liedkultur des sechzehnten Jahrhunderts wieder gepflegt, das romantische Klavierlied hingegen wird obsolet, neue Besetzungen kommen auf. Die Vertonung von Dû bist mîn, ich bin dîn (MF 3,1) als ‚Des Herzen Slüzzelîn‘ im originalen Mittelhochdeutsch durch den siebzehnjährigen Carl Orff im Jahre 1912 im emphatischen Stil von Robert Schumann ist der Abgesang auf das Minnelied des neunzehnten Jahrhunderts. Die neue Zeit zeigt sich im Frauentanzzyklus von Kurt Weill für Sopran und Bläserquintett mit Viola (1923, op. 10). Sieben Minnelieder von Dietmar von Aist, dem → Kürenberger und Johann von Brabant sowie anonyme Dichtungen des zwölften bis sechzehnten Jahrhunderts bilden die Textbasis. Einerseits ist die Wortbehandlung noch inspiriert durch Hugo Wolf, andererseits geht die Harmonik bis zur Atonalität, was die Lieder der romantischen Tradition entreißt, sie als ‚anders‘ inszeniert. Der Instrumentalpart ist bestimmt von der zeitgenössischen Sing- und Spiel-Musik etwa Paul Hindemiths,12 10 Vgl. Tieck 1803, Nr. 20. 11 Bis 1914 sind 55 Vertonungen als Klavierlied, neun für Männerchor (!), drei für gemischten Chor und eine für Frauenchor in Challiers Katalogen verzeichnet. 12 Für seine Tanzlegende über den Heiligen Franziskus, ‚Nobilissima Visione‘ (1938), verwendete er die Originalmelodie des Trouvère-Liedes Ce fut en mai von Moniot d’Arras (RS 94) in der Solooboe als
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der 1925 drei Minnelieder für gemischten Chor a cappella vertonte: ‚Lieder nach alten Texten‘ enthalten Kompositionen nach dem Burggrafen von Regensburg (MF 16,23), → Heinrich von Morungen (MF 127,1) und → Reinmar dem Alten (MF 152,15, II). Er wollte damit sangbare, aber nicht anspruchslose Musik für die Laienchöre der Jugendmusikbewegung schaffen, die sich an der gemäßigt polyphonen Satztechnik der weltlichen Liedmusik des sechzehnten Jahrhunderts orientierte. 1936 setzte Hindemith das Tristanlied von → Heinrich von Veldeke (MF 58,35) in Musik, 1937 publizierte er dieses mit drei Stücken von 1925 (darunter MF 16,23) in ‚erleichterter‘ Neubearbeitung mit englischen Texten für das amerikanische Publikum (‚Five Songs on Old Texts‘). Ein Gegenbild bieten die von Ernst-Lothar von Knorr um 1930 komponierten vierstimmigen Chorsätze zu fünf Übersetzungen von Walther und König Konrad dem Jungen (KLD 2) als Gebrauchsmusik im neuromantischen verkitschten Hugo-Distler-Stil. Avantgardistisch im Anspruch, doch (so die Kritik) zu wohlklingend im Ergebnis ist Alfred Schnittkes Komposition ‚Minnesang‘ von 1981. Texte von Walther, Wolfram, → Neidhart, dem Mönch von Salzburg sowie anderen Sängern bilden die Basis der viertelstündigen Komposition für 52 Sänger a capella. Die Leitmelodie bietet das Palästinalied (L 14,38). Exquisite Klangfolgen werden entfaltet, die keine unmittelbaren Beziehungen zu den Liedern aufweisen, ein Geflecht ferner Melodien, teilweise in modaler Faktur, syllabische Deklamation einzelner Stimmen wie des gesamten Chores, flächige Klänge schaffen ein wohlklingendes Tableau ferner Überlieferungen, die durch die menschlichen Stimmen gegenwärtig werden – ein impliziter Kommentar zur Bedeutung vokaler Performanz als Existenzform des Minnesangs. Mutmaßlich haben bestimmte Formen der Wiederaufführung mittelalterlicher Lieder, etwa die Engelsstimmen des Frauenensembles Anonymous 4, auf die Konzeption gewirkt. Auf Frank Martin dürften hingegen historisierende Ensembles Einfluss ausgeübt haben. Im Jahre 1960 schrieb er ‚Drey Minnelieder für Sopran und Klavier‘, darunter Walthers Under der linden (L 39,11) in einem betont linearen, teilweise melismatischen Stil,13 der in seiner Transparenz ‚Mittelalter‘ suggerieren soll, was in der alternativen Besetzung für Sopran, Flöte und Gitarre deutlicher zum Ausdruck kommt. Mario Castelnuovo-Tedesco hielt sich 1959 in Bozen auf und huldigte dem vermeintlichen genius loci Walther in einem Zyklus von zehn Liedern (davon fünf Minnelieder) zur Gitarre in anspruchslosem melodischem Gestus. Er leitet damit über zur Aneignung von Minneliedern durch die Liedermacherszene, der es Walthers Lindenlied besonders angetan hat. Franz Josef Degenhardt und Konstantin Wecker nahmen es zum Anlass einer ReLektüre: Degenhardt kontrastierte 1965 das in der Rezeption verkitschte Bild einer innigen Liebesbegegnung mit moderner Liebespraxis und der Rollenverteilung der Geschlechter, einen vergleichbaren, weniger radikalen Weg ging Konstantin Wecker
Charakteristikum der ersten Szene, in der Franziskus als Troubadour gekleidet mit Freunden feiert (vgl. Lug 2001, 138–139). 13 Mittelhochdeutsch nach der Ausgabe von Wehrli 1946.
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1973.14 Der italienische Cantautore Angelo Branduardi sang sein ‚Sotto il tiglio‘ 1976 auf eine eigene Melodie als Zeugnis einer modernen sensibel-melancholischen Männlichkeit: Der Sänger trauert der Liebe zu der Frau nach, die ihn wie der (Kürenberger) Falke verlassen hat. Ebenfalls eine eigene Melodie (in Anlehnung an die übliche altfranzösische) fand Joana (Emetz) im Jahr 1977 (‚Lieder um Liebe und Minne‘). Die Sängerin Sylvia Zangenberg spielte 1993 eine anspruchslos wirkungsvolle LindenliedVertonung des Filmkomponisten Ulrich Sommerlatte ein (‚Tandaradei‘), gleichzeitig kam gerade dieses Lied (nach dem Palästinalied; L 14,38) auf dem ‚Mittelalter-Marktplatz‘15 in Aufführungen unterschiedlichster Gruppen zum Erfolg. Die Grenzen zu neomediävaler Musik (Gruppe Ougenweide seit den 1970er Jahren, Corvus Corax seit 1989) sind fließend, ein eigenes Genre bildet die Gothic Music mit ihrer erfundenen Mittelalter-Heterotopie, die sich genauso gut keltisch oder germanisch kleiden kann.16
3 ‚Wiederaufführungen‘ – zwischen Hörsaal und Kneipe Der praktische Umgang mit der mittelalterlichen Musik, speziell der Monodie, lässt sich mit zwei polaren Kategorien erfassen: der Verähnlichung (Similarisierung) und der ‚Veranderung‘ (Alterisierung), das heißt, dass die Rezeption befördert wird, indem die mittelalterliche Musik in das gängige Kunstsystem integriert oder aber als ‚das Andere‘ inszeniert wird.17 Beide Verfahrensweisen sind auf verschiedene Art zu allen Zeiten praktiziert worden.
‚Verähnlichung‘ Die Beschäftigung mit dem Mittelalter wurde im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts ein wichtiges Element der nationalen Identitätsfindung. Deshalb wurde auch originaler Minnesang in die kulturelle Praxis des gebildeten Bürgertums integriert. Zwei Besetzungen boten sich an: einmal das Chorsingen als patriotisch konnotierte Freizeitbeschäftigung des gebildeten Bürgertums mit seinen Sängerfesten, dann, wie oben dargestellt, das Klavierlied. Rochus von Liliencron, der Kenner des spätmittelalterlichen Liedes, brachte zusammen mit Wilhelm Stade 1854 ‚Lieder und Sprüche aus der letzten Zeit des Minne sanges übersetzt, für gemischten und Männerchor vierstimmig bearbeitet‘ heraus und 14 Vgl. Mertens 2009. 15 Vgl. Schmees 2008. 16 Vgl. Lug 2001; Voigt 2008. 17 Vgl. Mertens 2009.
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brachte sie damit in einen patriotisch gefärbten Kontext ein. Den Herausgebern war klar, dass die Lieder ursprünglich ohne eine ausgeführte harmonische Begleitung gesungen wurden, sie wollten sie aber dem „heutige[n] Hörer“ und Ausführenden durch Anpassung an seine „Bedürfnisse[] und Gewöhnungen“18 nahe bringen. Dem dienen auch die sehr freien romantisierenden Übersetzungen. Zwanzig Lieder sind für gemischten Chor, vier für Männerchor gesetzt, sie sind der Jenaer Liederhandschrift entnommen und im Stil der Barockzeit einfallsreich harmonisiert. Von Minnesängern sind der Wilde Alexander (Nr. 13, 14; KLD 5, 6 zweimal) und Wizlav (Nr. 15–19, 24; HMS III 14, 13, 12, 10, 9) vertreten, das Bußlied des Tannhäuser19 gleich in zwei Sätzen (Nr. 1, 21) und sogar Heinrich von Morungen (MF 136,1) mit einer Melodie Wizlavs (Nr. 20), also eine hypothetische (allerdings wenig passende) Kontrafaktur, ein Verfahren, das von Liliencron aus seiner Beschäftigung mit dem spätmittelalterlichen Lied vertraut war. Noch 1905 publizierte Hugo Riemann eine Ausgabe von zehn Neidhart-Liedern mit Melodien nach der Hs. c, anspruchslos homophon gesetzt für vierstimmigen Chor. Als Alternative zu den im Minnestil geschaffenen Liedern der Romantiker für den bürgerlichen Salon komponierte Franz M. Böhme ‚Originalgesänge‘ (nach 1880). Anders als in seinen ‚Altdeutschen Liedern‘ von 1877 schafft er hier im Rahmen der damaligen Vortragspraxis aufführbare Versionen mit Klavierbegleitung. Die Begleitung ist bewusst einfach gehalten und nimmt Motive aus den Originalmelodien auf, im Fall des Bußliedes des Tannhäuser erinnern Arpeggien im Klavierpart an den Titelhelden von Wagners Oper und stellen somit eine Verbindung vom Original zum im kulturellen Bewusstsein präsenten Opernhelden her.20 Buchgestalterisch aufwändig ist die Ausgabe ‚Das Taghorn. Dichtungen und Melodien des bayerisch-österreichischen Minnesangs‘ von Alfred Rottauscher und Bernhard Paumgartner (1922) mit einer Einführung in die Gattung und biographischen Skizzen, einem Band mit den Nachdichtungen der 42 Lieder von Walther bis → Oswald und einem dritten mit den Melodien mit einer von Amateuren ausführbaren Klavierbegleitung. Ziel ist die „künstlerische Wiedergabe in unserer Zeit“ (Titelblatt), also im privaten Musizieren. Es überwiegen die munter-ausgelassenen Lieder, die das Bild eines trink- und feierfreudigen Spätmittelalters transportieren. Der in vielen Fällen einfallsreiche Klaviersatz sicherte ihnen einen guten Platz in der häuslichen Praxis. Minnesang war auch an die ‚ Jugendbewegung‘ und die ‚Hausmusik‘ anschlussfähig: 1925 bereitete Hans Joachim Moser dreißig altdeutsche Liedweisen, darunter Walthers Palästinalied (L 14,38), Neidhart (WL 3 [SNE I: c 106], SNE I: C 285/c 110), Melodien aus der Jenaer Handschrift (Wizlav HMS III 9, 11), vom Mönch von Salzburg (Falkenlied, MÄRZ W 48), von Hugo von Montfort (Frau-Welt-Lied, HOF 29) und von 18 Von Liliencron und Stade 1854, 10. 19 SIEB, 207–210. 20 Ferner sind vertreten: Neidhart (SNE II: c 4), der Wilde Alexander (KLD 6), Wizlav (HMS III: 9) und Oswald (OSW 56 [Auszug], 19; beides wurde bereits bei Forkel 1801, 765–766, veröffentlicht).
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Oswald (OSW 85) für das neue Publikum auf. Trotz der Erkenntnis, dass die „Originalausführung“21 einstimmig war, gibt es wiederum eine Klavierbegleitung, die ähnliche Ansprüche wie die von Paumgartner stellt, ohne ganz so originell zu sein. Mit dem Aufkommen einer ‚mittelalternahen Performanz‘ versiegen zunächst die Versuche, Minnesang in die Amateur-Praxis einzubringen. Das änderte sich fünfzig Jahre später mit der Liedermacher-Bewegung: Die musikalisch von Michael Korth verantworteten Ausgaben von Oswald- und Mönch-Liedern22 setzen (nach der Vorläufer-Edition von Moser und Müller-Blattau 1968) wieder die Vertonung durch Laien voraus, regen jedoch (außer in der Rhythmisierung) keine konkrete Darstellung an. Die Oswald-Ausgabe von Marc Lewon zu der CD von Andreas Scholl (2010) bereitet ein- und mehrstimmige Lieder „historisch informiert[]“23 auf. Die Musikedition ‚Nu wol uf, ritter, ez ist tac! Die Tagelieder des von Wissenlo‘ des gleichen Herausgebers steht zwischen den Ausgaben von Originalmelodien und den oben behandelten Neukompositionen: Marc Lewon und Albrecht Haaf haben für die Lieder des von Wissenlo (KLD 1–4) und des Brunwart von Augheim (KLD 2, 5) Melodien im Stil erhaltener Weisen von Minnesängern und Trouvères geschaffen24 und sie mit Vorschlägen für Begleittöne (nicht: Akkorde!) zum Musizieren mit oder ohne Instrumentalbegleitung einstimmig abgedruckt. Im Kommentar wird Vortrag nach dem Textrhythmus vorgeschlagen und Wortverständlichkeit als oberstes Prinzip proklamiert. Die Ausgabe zeigt einen gangbaren Weg, dem Minnesang trotz der defizitären Musiküberlieferung seine performative Medialität zurückzugeben.
Wiederaufführungspraxis: ‚Veranderung‘ Die Praxis der Wiederaufführung geht von der These aus, dass Minnesang, vor und neben der schriftlichen Tradierung, Aufführungslyrik war (→ Die pragmatische und mediale Dimension des Minnesangs, → Melodien zu Minneliedern).25 Die Aufführungspraktiken hinter den Aufzeichnungen lassen sich nur schwer und nicht eindeutig erschließen. Folgende Problemfelder zeichnen sich ab: 1. Verbindlichkeit der überlieferten Melodielinie: Die jeweilige Aufzeichnung hält eine der möglichen Realisierungsformen fest, vor allem im Hinblick auf die Ornamentik, vermutlich auch auf Melodievariationen. 2. Einstimmigkeit (Monophonie): Da in der abendländischen Tradition die Mehrstimmigkeit (Polyphonie) als künstlerisch überlegene Leittechnik gilt, wird in den meisten Wiederaufführungen Monophonie vermieden durch Hetero21 Moser 1925, 3. 22 Heimrath und Korth 1975; Spechtler 1980. 23 Lewon 2016, 9. 24 Abgedruckt ist neben neukomponierten Zwischenspielen die lateinische Kontrafaktur von Walther L 51,13 nach Gautier d’Espinal RS 2067; vgl. Lewon und Haaf 2004. 25 Vgl. die Forschungsliteratur und die Diskussion bei Mertens 2012.
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phonie (simultane Realisierung von Varianten) und (nicht selten unhistorische) harmonische Grundierung. Beweise für solche Praktiken gibt es nicht. 3. Instrumente: Da eine ‚nackte‘ Melodielinie im neuzeitlichen Kontext als defizitär empfunden wird, werden heute fast immer Begleitinstrumente eingesetzt. Historische Zeugnisse legen nahe, dass Instrumente verwendet werden konnten, ob simultan oder für Vor-, Zwischen- und Nachspiele, bleibt offen. Aus Gründen der Textverständlichkeit ist eher Letzteres anzunehmen. Allein Harfe und Fiedel sind in diesem Kontext bezeugt. 4. Rhythmus und Metrum: Da die Notation beides nicht überliefert, bleibt offen, ob ein festes Metrum zu den ungeschriebenen Selbstverständlichkeiten gehört oder ob ein metrisch freier, rhythmisch textorientierter Vortrag üblich war. 5. Stimmästhetik und Vortrag. Über die Stimmtechnik ist kaum etwas bekannt. Eine historisch ‚richtige‘ Aufführung ist folglich nicht realisierbar, sondern nur eine ‚historisch informierte‘.26 Schon 1875 war bei einem Konzert mit alter Musik, das der Musikwissenschaftler Ludwig Nohl in Meran veranstaltet hatte, ein Lied des Trouvères Raoul von Soissons gesungen worden.27 Bei einem wissenschaftlichen Kongress in Breslau sang man 1902 das Tagelied von Giraut de Bornelh (PC 242,64) mit Klavierbegleitung. In Frankreich besann man sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf die Troubadours und Trouvères als Autoren lebendiger Musik (wobei die Wiederbelebung des gregorianischen Chorals um die Jahrhundertwende eine Rolle gespielt haben dürfte) und brachte sie in eigenen Konzerten zu Gehör. Der Musikologe Jean Beck arbeitete dafür (seit 1916) mit der berühmten Chansonsängerin Yvette Guilbert zusammen, die bereits seit 1910 mittelalterliche Lieder in ihr Programm im Café-Concert aufgenommen hatte.28 In Deutschland war es Willibald Gurlitt, der 1922 in Karlsruhe und dann 1924 in Hamburg erstmals mittelalterliche weltliche Musik („Musica vulgaris“) zur öffentlichen Aufführung brachte,29 darunter Walthers Palästinalied (L 14,38).30 In Hamburg kamen Troubadour- und Trouvèrechansons hinzu und Neidharts Sail (SNE II: c 18), dann drei (unechte) Frauenlob-Strophen im Grünen Ton,31 schließlich zwei Lieder des Mönchs von Salzburg (Falkenlied und trumpet, MÄRZ W 48 und W 5). Als
26 „Historische Angemessenheit“ (Schubert 2011, 316) ist also eine problematische Kategorie. Vgl. des Weiteren dazu, dass die Inszenierung von ‚historischen‘ Instrumenten zur Beglaubigungspraxis der Ensembles zählt, kommunikativ jedoch oft andere Faktoren einer performativen Authentizität wichtig sind, Mertens 2020. 27 Allerdings mutmaßlich kein Original, sondern eine Imitation von François-Augustin Moncrif, die dieser textlich aus den Liedern des Sängers destilliert und zu der er eine Melodie ‚herausgegeben‘ hatte, die den Stil des späten achtzehnten Jahrhunderts trägt; vgl. Haines 2004, 133–134. 28 Es existiert eine expressiv-elegante, theatral authentische Aufnahme einer der Chansons de la femme mal mariée, Pourquoi me bat mon mari (RS 1564) mit Klavierbegleitung: Electrola EW 54. 29 Vgl. die Programme bei Kreutziger-Herr 2003, 350–396. 30 Das Palästinalied darf wegen der Herkunft der Melodie (Fernliebelied von Jaufré Rudel PC 262,2) zum Minnesang (als Wendung geistlich) gerechnet werden; vgl. Mertens 2009. 31 Keine „Minnesinger-Weise“ wie angekündigt; es handelt sich um die Strophen ETT 283–285 aus der Wiener Leichhandschrift Wien, Österreichische Nationalbibliothek, 2701, Bl. 17r.
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klangliche Beispiele für seine ‚Geschichte der deutschen Musik. Von den Anfängen bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges‘32 nahm Hans Joachim Moser auf einer Schallplatte verschiedene Minnelieder auf. Der Vortrag ohne Instrumentalbegleitung entsprach seiner Auffassung von der mittelalterlichen Monodie, allerdings hielt er eine Begleitung auf der Fiedel für möglich. Die Wiederentdeckung der weltlichen Musik des Mittelalters ging zwar von der Musikwissenschaft aus (und blieb ihr auch zumeist verpflichtet), wäre aber ohne die Rahmenbedingung der oben angedeuteten Veränderung der Hörgewohnheiten des Publikums kaum erfolgreich gewesen. Neben den ‚dokumentarischen‘ Aufnahmen begann sich eine Aufführungsszene zu etablieren: Der Amerikaner Safford Cape gründete 1933 in Brüssel das Ensemble Pro Musica Antiqua, das aus Sängern und Instrumentalisten bestand und sich der französischen (und franco-flämischen) Musik seit dem dreizehnten Jahrhundert widmete, im Konzert (wie 1935 zur Eröffnung der Brüsseler Weltausstellung) wie auf Schallplatten im Rahmen der ‚Anthologie sonore‘. Minnesang spielte (als Reflex der spärlichen Überlieferung) eine untergeordnete Rolle. Musikgeschichtliche Dokumentation blieb ein wichtiger Beweggrund für die Aufführungen, sie erreichten jedoch bald ein weiteres, nicht wissenschaftlich motiviertes Publikum. In Basel war es die 1933 gegründete Schola cantorum Basiliensis, die die Erforschung und Aufführung der Alten Musik förderte.33 1943 erklang ein Marienlied des Mönchs von Salzburg und wiederum Rumelants Sangspruch Ob aller minne minnen kraft (HMS III 5,1). Safford Capes Pro Musica Antiqua beeinflusste noch die Alte-Musik-Szene der Nachkriegszeit, sie spielte mehrere Platten bei dem 1949 gegründeten Label „Archiv Produktion“ der Deutschen Grammophon Gesellschaft ein. Dieses hatte den Anspruch, die Alte Musik von Beginn bis in das achtzehnte Jahrhundert in einzelnen ‚Forschungsbereichen‘ auf der Basis von Urtextausgaben und mit Originalinstrumenten (Nachbauten) zu dokumentieren. Das Mittelalter kam allerdings kaum zum Zuge; immerhin erschienen 1956 elf Lieder von Oswald von Wolkenstein. Der ‚wissenschaftliche‘ Impuls schlägt sich in der Aufführung in zurückhaltendem (‚objektivem‘) Ausdruck, maßvollen Tempi und einem neuzeitlich kammermusikalischen Gestus nieder.34 Zum wichtigsten Zentrum der Wiederaufführungen wird im Laufe der 1950er Jahre die Schola cantorum in Basel, Neidhart hingegen wird wegen seiner eingängigen Melodik außerhalb des deutschen Sprachraums erfolgreich.35 Als spätes ‚dokumenta-
32 Moser 1923. 33 Vgl. Reidemeister und Gutmann 1983. 34 Vgl. Schubert 2011, 316. 35 Maien zeit (SNE II: c 18) wurde von Safford Cape 1951 eingespielt, der Autor ist auch in die klangliche ‚Histoire de la musique vocale du Grégorien à 1750‘ (Vol. 1, 1953) eingegangen (SNE I: B 69, unbegleitet!), und die italienische ‚Storia della musica‘ (in einer Art wöchentlichen Abonnements) dokumentierte 1954 mit dem Collegium Musicum, Krefeld, Neidharts SNE I: R 8 und SNE I: R 53, Wizlavs
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risches‘ Projekt sind die drei LPs ‚Goldene Lieder des Mittelalters‘ angelegt, als Begleitung zur Edition ‚Deutsche Lieder des Mittelalters‘ (in moderner Notenschrift) von Hugo Moser und Joseph Müller-Blattau (1968). Durch die intensivierte Beschäftigung mit der Musik hatte sich die Haltung der Aufführenden verändert, sie gingen freier mit dem Notentext um, Instrumente wurden nicht nur zur Melodieverdopplung eingesetzt, sondern stellten ein Bassfundament her, sogar heterophone Gegenstimmen wurden erfunden. Das Ergebnis nannten die Herausgeber die „selbstverantwortliche Darstellung eines musikalischen Kunstwerks“ und wiesen damit in die Zukunft, wenngleich das Ergebnis noch deutlich vom restringierten Ausdrucksspektrum der ‚dokumentarischen‘ Ära geprägt ist.36
Lebendige Musik In den 1960er Jahren erfand eine Gruppe um den amerikanischen Musikwissenschaftler und Lautenisten Thomas Binkley die mittelalterliche Monodie im Sinn des Alteritätsparadigmas neu: Was vergleichsweise monochrom gewesen war, wurde bunt durch ungewohnte (und auch neu erfundene) mittelalterliche Instrumente im Nachbau, was zurückhaltend, objektiv vorgetragen worden war, wurde stimmlicher Ausdruck. Die gemessenen Rhythmen wichen prägnanten Akzenten und schwingenden Impulsen, alles klang neuartig, fremd und faszinierend.37 Dafür wurde das orientalisierende Paradigma, das es schon seit dem neunzehnten Jahrhundert in Bezug auf die Musik des Mittelalters gab, aktiviert: Zeitliche Ferne wird durch geographische Distanz ausgedrückt. Beweise für die Abhängigkeit der Troubadours von der andalusischen Musik gibt es nicht, aber das Vorgehen, arabische (und türkische) Instrumente wie ud (Laute), rebec (Fiedel) und diverse Trommeln einzusetzen, passte zu der aktuellen kulturellen Praxis von ‚East meets West‘.38 Hinzu kommt, dass die Langspielplatte zu einer beherrschenden Vermittlungsform wurde und das Live-Konzert nicht nur dokumentierte, sondern ersetzte. Der Verlust der starken sinnlichen Wirkung der lebendigen Aufführung wurde im akustischen Medium kompensiert durch abwechslungsreiche, vielfarbige Instrumentation, prägnanten vokalen Vortrag und rhythmische Stringenz, Phänomene, die also kaum historisch, vielmehr aktuell motiviert sind. Schon früh, 1963 bis 1966, spielte das
beliebtes Lied Owe! ich han gedacht (HMS III: 9) sowie Walthers Palästinalied (L 14,38) und Oswalds Der mai mit lieber zal (OSW 50). Die Platte ist ein Auszug von Lyrichord LL 85, die zusätzlich Lieder von Troubadours und Trouvères umfasst sowie weitere von Neidhart (SNE II: c 6, SNE II: c 30) und Wizlav (HMS III: 17); beide Platten sind Schubert 2011 und 2018 entgangen. 36 S. u. die Angabe im Abschnitt „Diskographie“ (1969). 37 Leech-Wilkinson 2002, 98, zitiert Rezensenten, die den Effekt Binkleys mit dem der Beatles verglichen. 38 Haines 2004, 247–248. Vgl. Arlt u. a. 1977.
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Studio der frühen Musik auf einer 17cm-Platte für die Reihe „Das Alte Werk. Musik und ihre Zeit“ Lieder von Oswald, Wizlav, Walther, Neidhart und dem Wilden Alexander ein.39 1972 begann die Electrola ihre Reihe „Reflexe“; der Titel der auf 60 LPs berechneten Serie verweist auf den Paradigmenwandel von einer systematischen zu einer wirkungsästhetischen Konzeption. Die erste Platte war dreizehn Liedern Oswalds von Wolkenstein gewidmet in der Produktion des Studios für frühe Musik unter Thomas Binkley. Sie realisierte durch instrumentale Vielfalt, virtuosen Vortrag, rasante Tempi in den mehrstimmigen Stücken einen ähnlich hohen Erlebnisfaktor durch alterisierendes Musizieren wie die vorhergehenden Aufnahmen des Ensembles. Es war bereits zum Vorbild geworden und seine Nachwirkungen sind bis heute erkennbar, denn mit ihm hielt eine intensive Performanz Einzug in den Umgang mit dem mittelalterlichen Lied: Eine Vermittlung, die Ausdrucksmomente bereithält, die die wissenschaftlich erschließende Lektüre übersteigen und unmittelbar auf der emotionalen Ebene wirken. Ob sie im historisch ‚richtigen‘ Vorgehen erzeugt sind, ist letztlich weniger erheblich als die Tatsache, dass sie erzeugt werden – in einer Weise, die einerseits als ‚anders‘ gegenüber der herrschenden musikalischen Praxis erfahren wird, andererseits so viel Anschließbares enthält, dass eine unmittelbare Rezeption möglich ist. Der performative Impetus des Studios wirkte weiter in Ensembles, die ähnliche Wege gingen. Sequentia, aus Schülern Binkleys zusammengesetzt, pflegte einen stärker textorientierten Umgang mit dem Lied (langsamere Tempi, flexible Rhythmen, Verzicht auf Schlagwerk). Verdienste um das deutsche Lied erwarb sich das Ensemble für frühe Musik Augsburg mit der Sängerin Sabine Lutzenberger, das seit Ende der 1970er Jahre mit (überreichem) Instrumentarium und Schlagwerk Eindringlichkeit durch äußere Effekte erzielte.40 Das farbenreiche ‚Mittelalterliche‘ orientiert sich eher am Abwechslungsbedürfnis moderner Hörer als an historischen Quellen. Andrea von Ramm, Sopran (aus dem Binkley-Kreis), gestaltete 1987 mit dem Tenor Sterling Jones Sangsprüche von → Konrad von Würzburg und aus dessen Umkreis. I Ciarlatani setzt für bessere Wortkommunikation ein schmaleres Instrumentencorpus ein.41
39 Es handelt sich um ein weniger systematisch angelegtes Parallelunternehmen zur „Archiv Produktion“ der Deutschen Grammophon. Schon der Untertitel verrät, dass der dokumentarische Anspruch zugunsten eines stärker erlebnishaften Ansatzes relativiert wurde. 40 Dass Sängerinnen (gegen die historische Evidenz) häufig eingesetzt werden, hängt mit den Bedingungen des Musikmarkts zusammen: Frauen widmen sich eher einer vokalen Karriere in der (schlechter bezahlten) Alten Musik als Männer. Ein extremes Beispiel bietet die CD ‚Sweet is the Song‘ (1996), auf der Catherine Bott unbegleitet (!) zwölf Troubadour- und Trouvèrelieder singt (OL PY 925). 41 Aus dem hohen Mittelalter haben sie 1996 eine Anzahl von (gesicherten und unsicheren) Kontrafakturen von Dietmar (MF 35,16 nach PC 70,43), Bernger (MF 112,1 nach RS 1664), Bligger (MF 118,19 nach RS 42), Rugge (MF 103,3 nach PC 70,43) eingespielt, den vierten Leich des Tannhäuser (SIEB 4), ein Lied des Wilden Alexander (KLD 6) und drei Neidhart-Weisen (SNE I: R 30, SNE II: c 35, SNE I: 53).
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Einen anderen Weg ging das Ensemble Bären Gässlin unter Michael Korth, hier dominiert ein Liedermacher-Gestus mit folkigen Anklängen und tänzerischen Rhythmen, die eine zeitbedingte Annäherung an die mittelalterlichen Lieder erleichterte. In ihrer Oswald-Aufnahme erzeugen sie bei einzelnen Liedern Kneipenatmosphäre durch entsprechende Hintergrundgeräusche. Der eingängige Ton trägt auch die Platten mit Liedern des Mönchs von Salzburg und von Walther von der Vogelweide (mit Meisterliedertönen und Kontrafakta). Von hier ist der Weg auf die Mittelaltermärkte nicht mehr weit. Einen Sonderweg ging Eberhard Kummer, der sich selbst auf der Drehleier und der Schoßharfe begleitet und so zu einem flexiblen Vortrag gelangt, der die Textvermittlung in den Fokus stellt.42 Keine Resonanz im deutschen Sprachraum fand die rein vokale Theorie und Praxis des Musikologen Christopher Page mit seinen Gothic Voices in den 1990er Jahren. In jüngster Zeit hat der Musikwissenschaftler und -praktiker Marc Lewon sich mit der Neidhartüberlieferung kritisch auseinandergesetzt und ein Album mit den Liedern des Fragments O (Musik und Text!) vorgelegt, das sich in der Frage des Metrums von der herkömmlichen Starre löst und neue Wege geht, die dem Wort und Sinnverständnis zugute kommen. Lewon weist damit den Weg zu einer Aufführung des mittelalterlichen Liedes, die sich einerseits philologisch an der Überlieferung von Text und Melodie orientiert, die andererseits die oft abhandengekommene Textvermittlung ernst nimmt und der artifiziellen Dimension des Minnesangs gerecht wird, ohne auf die sinnlich unmittelbare Klanglichkeit und die damit verbundene Affektvermittlung zu verzichten, denn diese ist der Trumpf der Wiederaufführungen. Historische Authentizität und performative Authentizität sind keine Widersprüche, sie sollten und können einander bedingen.
Diskographie 1925/1926 [?]: Pourquoi me bat mon mari. (+ Eustache Deschamps : Dites moi si je suis belle) – Yvette Guilbert – Electrola EW 54. 1930: 2000 Jahre Musik auf der Schallplatte. Nr. 6. Der Minnesang – Hans Joachim Moser – Parlophon B 37024. 1935: Troubadours Francais. Minnesänger – Max Meili – L’Anthologie sonore 18. 1948: Chants du Moyen Âge – Max Meili – L’Anthologie sonore 132. 1951: Music of the 12th and 13th Centuries – Safford Cape: Pro Musica Antiqua – EMS 201. 1953: Histoire de la musique vocale du Grégorien à 1750. Vol. 1. – Mogens Wöldike: Solistes et Ensemble Danois – Erato LDE 3018. 1953: Music of the Middle Ages – Robert Haas: Collegium Musicum, Krefeld – VOX PL 8110. 42 1985: Neidhart; 1998: Oswald; 2007: Hugo von Montfort. Kummer hat auch 1983 den Zinnenwechsel des Kürenbergers (MF 8,1) und Walthers sogenannte Elegie (L 124,1) nach der Melodie des ‚ Jüngeren Hildebrandsliedes zusammen mit Auszügen aus dem Nibelungenlied eingespielt. Unter den Gruppen nähert sich das Ensemble Unicorn („Minnesang in Südtirol“) der Kummerschen Textdeklamation.
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1954: Storia della musica (Vol. XII) N. 2. Minnesänger e Meistersinger – Robert Haas: Collegium Musicum, Krefeld – SdM 145. 1956: Oswald von Wolkenstein. 11 Lieder – Lotte Wolf-Matthäus u. a. – DG Archiv Produktion 13 042. 1964: Carmina Burana. Aus der Original-Handschrift um 1300 – Thomas Binkley: Studio der frühen Musik – Telefunken AWT 9455-A. 1965: Franz-Josef Degenhardt: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern – Polydor 237 816. 1966: Walther von der Vogelweide. Neidhart. Wizlaw. Frauenlob u. a. Minnesang und Spruchdichtung um 1200–1300 – Thomas Binkley: Studio der frühen Musik – Telefunken SAWT 9487. 1969: Goldene Lieder des Mittelalters. Deutsche Lieder des Mittelalters von Walther von der Vogelweide bis zum Lochamer Liederbuch – Wendelin Müller-Blattau – MPS 090 209 4. 1972: Oswald von Wolkenstein – Thomas Binkley: Studio der frühen Musik – EMI 1 C 063-30 101. 1973: Konstantin Wecker: Die sadopoetischen Gesänge des Konstantin Amadeus Wecker – Ariola 86 825 IU. 1973: Ougenweide – Zebra 2949 009. 1975: Oswald von Wolkenstein. Frölich geschray so well wir machen – Bären Gässlin – Pläne 10054. 1976: Angelo Branduardi: Alla fiera dell’est – Polydor 2448 051. 1977: Joana: Ich hab’ die Nacht geträumet. Lieder um Minne und Liebe – Intercord INT 160070. 1980: Der Mönch von Salzburg. Lieder des Mittelalters – Bären Gässlin – Pläne 88171. 1980: Walther von der Vogelweide. Frau Welt, ich hab von dir getrunken – Bären Gässlin – Pläne 88218. 1983: Das Nibelungenlied. Gesungen im Hildebrandston – Eberhard Kummer – PAN 150005. 1983: Spruchdichter des 13. Jahrhunderts. Kelin und Fegefeuer – Sequentia – Deutsche Harmonia Mundi 1C 069 1999941. 1985: Lieder und Reigen des Mittelalters. Neidhart von Reuental – Eberhard Kummer – PAN 170005. 1987: Minnesänger und Meistersinger. Lieder um Konrad von Würzburg – Andrea von Ramm u. a. – Christophorus CHR 74542. 1988: Oswald von Wolkenstein. Ritter und Minnesänger – Ensemble für frühe Musik Augsburg – Christophorus CHR 77304. 1991: Neidhart von Reuental. „Von hehren Frauen & tumpen Tölpeln“. Minnelieder – Ensemble für frühe Musik Augsburg – Christophorus CHR 77108. 1993: Corvus Corax: Inter Deum et Diabolum Semper Musica est – Pica Records. 1993: Oswald von Wolkenstein. Lieder. Sequentia – Barbara Thornton, Benjamin Bagby: Ensemble für Musik des Mittelalters – Deutsche Harmonia Mundi 05472 77302 2. 1993: Sylvia Zangenberg: Balladen und Lieder von Ulrich Sommerlatte – Bogner 3651. 1996: Codex Manesse. Grosse Heidelberger Liederhandschrift – I Ciarlatani – Christophorus CHR 77192. 1998: Es fuegt sich. Lieder des Oswald von Wolkenstein – Eberhard Kummer – Preiser Records 9LC 0992-91051. 2007: Fro welt ir sint gar hüpsch unde schön. Die Lieder des Hugo von Montfort – Eberhard Kummer – ORF Edition Alte Musik. 2010: Oswald von Wolkenstein. Songs of Myself – Andreas Scholl; Shield of Harmony – Harmonia Mundi HMC902051. 2012: Neidhart. A Minnesinger and his ‚Vale of Tears‘ – Marc Lewon: Ensemble Leones – Naxos 8.572449. 2014: The Cosmopolitan. Songs by Oswald von Wolkenstein – Marc Lewon: Ensemble Leones – Christophorus CHR 77379. 2015: Walther von der Vogelweide: Lieder von Macht und Minne – Per-Sonat – Christophorus CHR 77394.
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Volker Mertens
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Abkürzungsverzeichnis ABäG ATB BECH-FD BEHEIM
BiblGerm BMZ
BRT BS
BSM CB
DLL DTM DVjs DWB
EH ETT
FD FdM GA
GA-S
GAG
Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik. Altdeutsche Textbibliothek. Ulrich’s von Liechtenstein Frauendienst. Hg. von Reinhold Bechstein. 2 Bde. Leipzig 1888 (Deutsche Dichtungen des Mittelalters 6/7). Die Gedichte des Michel Beheim. Nach der Heidelberger Hs. cpg 334 unter Heranziehung der Heidelberger Hs. cpg 312 und der Münchener Hs. cgm 291 sowie sämtlicher Teilhandschriften. Hg. von Hans Gille und Ingeborg Spriewald. 3 Bde. Berlin 1968– 1972 (DTM 60/64/65). Bibliotheca Germanica. Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854–1866. Heinrich Peter Brodt: Meister Sigeher. Hildesheim 1977 [ND der Ausg. Breslau 1913]. Jean Boutiere und A.-H. Schutz: Biographies des Troubadours. Textes provençaux des XIIIe et XIVe siècles. Edition refondue, augmentée d’une traduction française, d’un appendice, d’un lexique, d’un glossaire et d’un index des termes concernant le ‚trobar‘ par Jean Boutiere. Paris 1964 (Les classiques d’oc 1). Die Schweizer Minnesänger. Hg. von Karl Bartsch. Darmstadt 1964 [ND der Ausg. Frauenfeld 1886]. Carmina Burana. Texte und Übersetzungen. Mit den Miniaturen aus der Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothee Diemer. Hg. von Benedikt K. Vollmann. Frankfurt a. M. 1987 (Bibliothek des Mittelalters 13). Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter. Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Hg. von Wolfgang Achnitz. 8 Bde. Berlin u. a. 2011‒2016. Deutsche Texte des Mittelalters. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 33 Bde. Leipzig 1854–1960. Neubearbeitung: Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Zusammen arbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 9 Bde. Leipzig u. a. 1965– 2018. Europäische Hochschulschriften. Frauenlob: Leiche, Sprüche, Streitgedichte und Lieder. Hg. und erläutert von Ludwig Ettmüller. Amsterdam 1966 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 16) [ND der Ausg. Quedlinburg u. a. 1843]. Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst. Hg. von Franz Viktor Spechtler. Göppingen 1987 (GAG 485). Frauenlieder des Mittelalters. Zweisprachig. Übers. und hg. von Ingrid Kasten. Stuttgart 1990 (RUB 8630). Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund der Vorarbeiten von Helmut Thomas hg. von Karl Stackmann und Karl Bertau. Bd. 1: Einleitungen, Texte; Bd. 2: Apparate, Erläuterungen. Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Klasse. 3. Folge. Nr. 119–120). Sangsprüche in Tönen Frauenlobs. Supplement zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe. 2 Teile hg. von Jens Haustein und Karl Stackmann. Göttingen 2000 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Klasse. 3. Folge. Nr. 232). Göppinger Arbeiten zur Germanistik.
https://doi.org/10.1515/9783110351859-202
Abkürzungsverzeichnis
GLMF
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Germania Litteraria Mediaevalis Francigena. Handbuch der deutschen und nieder ländischen mittelalterlichen literarischen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100–1300). Hg. von Fritz Peter Knapp. 7 Bde. Berlin u. a. 2010–2015. GRLMA Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters. Begründet von Hans Robert Jauss und Erich Köhler. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und Ulrich Mölk. 11 Bde. Heidelberg 1968–2005. GRM Germanisch-Romanische Monatsschrift. GROOTE Lieder Muskatblutʼs. Hg. von Eberhard von Groote. Köln 1852. Elisabeth Hages-Weissflog: Die Lieder Eberhards von Cersne. Edition und Kommentar. HAG Tübingen 1998 (Hermaea NF 84). Liederbuch der Clara Hätzlerin. Aus der Handschrift des Böhmischen Museums zu HÄTZ Prag hg. und mit Einleitung und Wörterbuch versehen von Carl Haltaus. Quedlinburg u. a. 1840 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 8). Jens Haustein: Marner-Studien. Tübingen 1995 (MTU 109). HAU Hubert Heinen: Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und HEI frühen 13. Jahrhunderts. Göppingen 1989 (GAG 515). Die Haager Liederhandschrift. Faksimile des Originals mit Einleitung und Transskription. HLH Hg. von Ernst Ferdinand Kossmann. 2 Bde. Haag 1940. HMS I–IV Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, aus allen bekannten Handschriften und früheren Drucken gesammelt und berichtigt, mit den Lesarten derselben, Geschichten des Lebens der Dichter und ihrer Werke, Sangweisen der Lieder, Reimverzeichnis der Anfänge, und Abbildungen sämtlicher Handschriften. Hg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. 4 Bde. Aalen 1962/63 [ND der Ausg. Leipzig 1838–1861]. Hugo von Montfort: Das poetische Werk. Hg. von Wernfried Hofmeister. Mit einem HOF Melodie-Anhang von Agnes Grond. Berlin u. a. 2005. Jahrbuch für Internationale Germanistik. JIG Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft. JOWG Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Hg. von Ingrid Kasten. Frankfurt KAS a. M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters 3). Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. KILLY 2., vollst., überarb. Aufl. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. 13 Bde. Berlin u. a. 2008– 2012. KLD, KLD II Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. 2. Aufl. durchges. von Gisela Kornrumpf. Hg. von Carl von Kraus. Bd. 1: Text. Tübingen 1978; Bd. 2: Kommentar. Bes. von Hugo Kuhn. Tübingen 1978. KLEIN Minnesang. Mittelhochdeutsche Liebeslieder. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg., übersetzt und kommentiert von Dorothea Klein. Stuttgart 2010 (RUB 18781). KNLL Kindlers neues Literaturlexikon in 22 Bänden. Hg. von Walter Jens und Rudolf Radler. München 1988–1998. L Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hg. von Karl Lachmann. Berlin 1827. L/COR Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausg. Karl Lachmanns. Hg. von Christoph Cormeau. Berlin u. a. 1996. L/BEIN Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränd. und um Fassungseditionen erw. Aufl. der Ausg. Karl Lachmanns. Aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearb. Ausg. neu hg. von Thomas Bein. Edition der Melodien von Horst Brunner. Berlin u. a. 2013.
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L/SCHW
L-FD LDM LEP LEXER
LiLi LN
MÄRZ MAY
MF
MF2
MF/K MF/LH MF/V
ML1 MGG MTU NL 1–2
Abkürzungsverzeichnis
Walther von der Vogelweide: Werke. Bd. 1: Spruchlyrik. Hg. von Günther Schweikle. 3., verb. und erw. Aufl. hg. von Ricarda Bauschke-Hartung. Stuttgart 2009 (RUB 819). Bd. 2: Minnelyrik. 2., verb. und erw. Aufl. hg. von Ricarda Bauschke-Hartung. Stuttgart 2011 (RUB 820). Ulrich von Lichtenstein. Mit Anmerkungen von Theodor von Karajan. Hg. von Karl Lachmann. Hildesheim 1974 [ND der Ausg. Berlin 1841]. Lyrik des Deutschen Mittelalters. Hg. von Manuel Braun, Sonja Glauch und Florian Kragl. http://www.ldm-digital.de/lieder.php. Johannes Hadlaub: Lieder und Leichs. Hg. und komm. von Rena Leppin. Stuttgart u. a. 1995. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke-MüllerZarncke mit einer Einleitung von Kurt Gärtner. 3 Bde. Stuttgart 1992 [ND der Ausg. Leipzig 1872–1878]. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Die Lieder Neidharts. Hg. von Edmund Wiessner. Fortgeführt von Hanns Fischer. 5., verb. Aufl., hg. von Paul Sappler. Mit einem Melodienanhang von Helmut Lomnitzer. Tübingen 51999 (ATB 44). Christoph März (Hg.): Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Texte und Melodien. Tübingen 1999 (MTU 114). Die Meisterlieder des Hans Folz. Aus der Münchener Originalhandschrift und der Weimarer Handschrift Q.566 mit Ergänzungen aus anderen Quellen. Hg. von August L. Mayer. Berlin 1908 (DTM 12). Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. 1: Texte. 38., erneut rev. Aufl. Stuttgart 1988. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. 2: Editionsprinzipien, Melodien, Handschriften, Erläuterungen. 36., neugestaltete und erw. Aufl. Stuttgart 1977. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt. Hg. von Carl von Kraus. Leipzig 1948. Des Minnesangs Frühling. Hg. von Karl Lachmann und Moriz Haupt. Leipzig 1857. Des Minnesangs Frühling. Mit Bezeichnung der Abweichungen von Lachmann und Haupt und unter Beifügung ihrer Anmerkungen. Neu bearb. und hg. von Friedrich Vogt. Leipzig 1911. Mittelhochdeutsche Minnelyrik. Bd. 1: Frühe Minnelyrik. Texte und Übertragungen, Einführung und Kommentar. Hg. von Günther Schweikle. Stuttgart 1993. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2., neubearb. Aufl. hg. von Ludwig Finscher. 26 Bde. in zwei Teilen. Kassel u. a. 1994–2008. Münchener Texte und Untersuchungen. Hg. von der Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Neidharts Lieder. Unveränderte Nachdrucke der Ausgaben von 1858 und 1923. Hg. von Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz-Behr und Franz Viktor Spechtler. Bd. 1: Neidhart von Reuenthal. Hg. von Moriz Haupt. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1858. Bd. 2: Neidharts Lieder. Hg. von Moriz Haupt. 2. Aufl. neu bearb. von Edmund Wiessner. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1923. Kritische Beiträge zur Textgestaltung der Lieder Neidharts von Edmund Wiessner. Unveränderter Nachdruck der Veröffentlichung 1924. Mit einem Nachwort u. einer Bibliographie zur Überlieferung
Abkürzungsverzeichnis
OGS OSW PBB PC PhilGerm PhStQ PL PSS 1–3
QF REI RF
RGR I RGR II RLW
ROETHE RS RSM RUB SCHR SIEB SL SM SMS SNE I–III
SPECH ST/KE
829
und Edition der Neidhart-Lieder von Ingrid Bennewitz-Behr, Ulrich Müller und Franz Viktor Spechtler. Stuttgart 1986. Oxford German Studies. Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. Hg. von Karl Kurt Klein. 4., grund. neu bearb. Aufl. von Burghart Wachinger. Berlin u. a. 2015 (ATB 55). Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Alfred Pillet und Henry Carstens: Bibliographie der Troubadours. Halle a. d. S. 1933 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft 3). Philologica Germanica. Philologische Studien und Quellen. Patrologia Latina. I Poeti della Scuola Siciliana. Edizione promossa dal Centro di studi filologici e linguistici siciliani. Bd. 1: Giacomo da Lentini. Bd. 2: Poeti della corte di Federico II. Bd. 3: Poeti siculo-toscani. Mailand 2008. Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. Reinmar: Lieder. Nach der Weingartner Liederhandschrift (B). Mhd./Nhd. Hg. von Günther Schweikle. Stuttgart 22002 (RUB 8318). Romanische Frauenlieder. Eingel., hg., übers. und komm. von Ulrich Mölk. München 1989 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 28). Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I. Lieder der Trobadors. Prov./Dt. Ausgewählt, übers. und komm. von Dietmar Rieger. Stuttgart 1980 (RUB 7620). Mittelalterliche Lyrik Frankreichs II. Lieder der Trouvères. Frz./Dt. Ausgewählt, übers. und komm. von Dietmar Rieger. Stuttgart 1983 (RUB 7943). Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1 hg. von Klaus Weimar. Bd. 2 hg. von Harald Fricke. Bd. 3 hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin u. a. 1997–2003. Die Gedichte Reinmars von Zweter. Mit einer Notenbeilage. Hg. von Gustav Roethe. Amsterdam 1967 [ND der Ausg. Leipzig 1887]. G. Raynauds Bibliographie des alt-französischen Liedes. Neu bearbeitet und ergänzt von Hans Spanke. Leiden 1955 (Musicologica 1). Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Hg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger. 16 Bde. Tübingen 1986–2009. Reclams Universal-Bibliothek. Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg. Bd. 3: Die Klage der Kunst. Leiche, Lieder und Sprüche. Hg. von Edward Schröder. Dublin u. a. 1970. Johannes Siebert: Der Dichter Tannhäuser: Leben, Gedichte, Sage. Hildesheim 1980 [ND der Ausg. Halle a. d. S. 1934]. Sommerlied [Zählung der Lied- und Strophenangaben gemäß LN]. Sammlung Metzler. Die Schweizer Minnesänger. Bd. 1 nach der Ausgabe von Karl Bartsch neu bearb. und hg. von Max Schiendorfer. Tübingen 1990. Neidhart-Lieder, Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke. Hg. von Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz und Franz Viktor Spechtler. 3 Bde. Berlin 2007 (Salzburger Neidhart-Edition). Franz Viktor Spechtler (Hg.): Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Berlin u. a. 1972 (QF 51). Alttschechische Liebeslyrik. Texte, Übersetzungen und Kommentar. Hg. von Sylvie Stanovská und Manfred Kern. Wien 2010 (Praesens-Textbibliothek 7).
830
Abkürzungsverzeichnis
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Register Vorbemerkung: Das Register umfasst die Namen historischer Personen sowie die im Handbuch thematisierten Lieder und Sprüche der mittelhochdeutschen Dichter. Es bezieht sich auf alle Nennungen im Fließtext; Fußnoten und Verzeichnisse sind nicht berücksichtigt. Bei den Textangaben sind nur dort mehrere Kürzel desselben Textes aufgeführt, wo die Artikel auf unterschiedliche Ausgaben verweisen. Adam de la Halle 116, 162 Alanus ab Insulis 126, 132, 146 Albrecht von Haigerloch 631 Albrecht von Johannsdorf 59, 186, 188, 190, 204, 213–214, 221, 223, 261, 300, 321–322, 324, 388, 416, 418, 471–473, 489–490, 494, 527, 547–549, 559–561, 592, 610, 631, 702 – MF 86,1 59, 547 – MF 87,5 190, 221, 223, 547 – MF 87,29 186, 213–214, 547–548 – MF 89,9 321 – MF 89,21 547–549 – MF 90,16 204 – MF 90,32 188, 322, 418 – MF 91,22 261, 702 – MF 92,14 388 – MF 93,12 324, 559–560, 592, 610 – MF 94,15 300, 547–548 Der Wilde Alexander 11, 35, 220, 224, 308, 400, 418, 466, 495, 497–498, 545, 603, 815, 820 – KLD 1 35 – KLD 2 545 – KLD 3 / LDM C WAlex 7–11 418 – KLD 4 35 – KLD 5 / LDM J WAlex 30–36 400, 497–498, 815 – KLD 6 35, 220, 224, 308, 815 Aliénor von Aquitanien 113 Alighieri, Dante 119, 121–122, 172–173, 809 Alix de Blois 113 Alram von Gresten 557 Anakreon 795 Andreas Capellanus 113, 126, 139 Angiolieri, Cecco 122 Archipoeta 143, 202 Aristoteles 433, 566 Arnaut Daniel 119 https://doi.org/10.1515/9783110351859-203
von Arnim, Achim 799–800 Arnulf von Lisieux 128 Augustinus 433–434 B von Barth, Caspar 150 Bartolome Zorzi 119 Baudelaire, Charles 150 Baudri von Bourgueil 125, 127, 144 Beheim, Michel 37, 540, 543 – RSM 1Beh/328 543 – RSM 1Beh/329 543 – RSM 1Beh/345 / BEHEIM 345 540 Berg, Alban 812 Bernardus Silvestris 128, 132, 146 Bernart de Ventadorn 106, 113, 157, 221–223, 354, 429, 668 Bernger von Horheim 221–222, 268, 278, 300–301, 319, 322, 324, 382, 395, 416, 427, 444, 471, 486, 511, 614–616 – MF 112,1 221, 319, 322, 382, 444, 511, 614–615 – MF 113,1 222, 301, 324, 427 – MF 113,33 300 – MF 114,21 222 – MF 115,3 268 – MF 115,27 221, 395 Bernhard von Clairvaux 160 Béroul 616 Bertran de Born 107 Bligger von Steinach 222, 416, 471, 489 – MF 118,19 222 Blondel de Nesle 221, 808 Böckh, Christian Gottfried 802 Boethius 133 Bollstatter, Konrad 666 Boncompagno da Signa 126 Boppe 736, 743 Brahms, Johannes 811 Branduardi, Angelo 814 Brentano, Clemens 797, 799–800, 802
832
Register
Bruno von Hornberg 382 – KLD 1 382 Brunwart von Augheim 816 – KLD 2 816 – KLD 5 816 Der von Buchein 300 – KLD 5 300 Burkhard von Hohenfels 11, 13, 192, 201–202, 279, 289, 303, 309, 386, 399, 414, 419, 424, 448, 472, 476, 493, 580, 591, 722–729, 732–733, 780, 805 – KLD 1 / LDM C Burk 1–5 289, 309, 724–726 – KLD 2 / LDM C Burk 6–10 399, 724, 727 – KLD 4 / LDM C Burk 14–16 724 – KLD 5 / LDM C Burk 17–21 / WACH 1 386, 448, 724 – KLD 6 303 – KLD 7 / LDM C Burk 27–31 493, 724–725 – KLD 8 / LDM C Burk 34–36 724, 726 – KLD 9 / LDM C Burk 37–41 493, 727 – KLD 10 424 – KLD 11 / LDM C Burk 45–49 192, 202, 414, 493, 724–725 – KLD 12 / LDM C Burk 50–53 419, 724, 726–727 – KLD 13 / LDM C Burk 54–58 493, 725 – KLD 14 / LDM C Burk 59–63 726 – KLD 15 / LDM C Burk 64–68 201, 493, 724 – KLD 16 / LDM C Burk 69–73 726, 728 – KLD 17 / LDM C Burk 74–78 726, 728 – KLD 18 / LDM C Burk 79–81 726 Busoni, Ferruccio 812 C Cape, Safford 818 Caron de Beaumarchais, Pierre Augustin 809 Castelnuovo-Tedesco, Mario 813 Catull 146 Cavalcanti, Guido 121–122 Cercamon 107 Chaillou de Pesstain 162 Charles d’Orléans 113 Chrétien de Troyes 103, 113, 158, 221, 354, 615, 654, 668 Christan von Hamle V, 499, 539 – KLD 6 539 Cielo d’Alcamo 120, 122 Cino da Pistoia 122 Colard le Bouteiller 159
Colin Muset 116 Colin, Philipp 29 Conon de Béthune 221, 223, 456, 545–546 D Damen, Hermann 743 Degenhardt, Franz Josef 813 Dietmar von Aist 25, 149, 188, 195, 197, 204, 222, 300–301, 310, 323, 414–415, 418–419, 441, 443, 445, 483, 485, 487, 516, 525, 536, 540, 557, 563–564, 656, 665, 799, 806, 812 – KLD Namenlos h 34 / LDM C Dietm 21 485 – MF 32,1 310, 323 – MF 32,13 / LDM B Dietm 4–6 557 – MF 33,15 / LDM C Dietm 7–11 414, 485, 656 – MF 33,31 485 – MF 34,3 418 – MF 34,11 799, 806 – MF 34,19 300, 441, 443 – MF 35,16 222, 656 – MF 37,4 / LDM C Dietm 12 419, 445, 485 – MF 37,18 525 – MF 37,30 / LDM C Dietm 25–28 188, 415, 485, 516 – MF 38,32 / LDM C Dietm 29–31 204, 485, 563 – MF 39,18 / LDM C Dietm 32–34 188, 195, 485, 536 – MF 40,19 / LDM C Dietm 38–40 564 – MF XVI / LDM C Dietm 41–42 485 Dietrich, Markgraf von Meißen 665 Distler, Hugo 813 Draesner, Ulrike 806 Der Düring 210, 212, 279, 288–289, 291, 318, 382, 499, 631 – KLD 1 212, 291 – KLD 2 288 – KLD 3 210, 382 – KLD 4 289 – KLD 5 318 Der Dürner 426, 499 – KLD 3 426 E Eberhard von Cersne 222, 289 – HAG 2 289 – HAG 12 222 Eberhard von Sax 634 Eilhart von Oberg 616 Elias d’Uisel 561 Engelhart von Adelnburg 489
Register
Enikel, Jans V Enzo (Heinz), König von Sardinien 121 F Folquet de Marseille 221, 223, 688 Folz, Hans 540 – MAY 50 540 Francesco da Barberino 120 Frauenlob 3, 11, 13, 23–24, 28, 35–38, 56, 163, 172, 176, 392–393, 405, 424, 467, 495, 497, 510, 601–603, 605, 616, 707, 736, 743, 775–781, 783–788, 817 – GA I / WACH 1 392 – GA V,102 786 – GA V,115 775 – GA VIII,26 / WACH 4,3 743 – GA XIII,36 163 – GA XIII,43 163 – GA XIII,44 163 – GA XIV,1–5 (Lied 1) 23, 424, 777, 779–781 – GA XIV,6–10 (Lied 2) 616, 777 – GA XIV,11–15 (Lied 3) / WACH 7 392–393, 777, 780–781 – GA XIV,16–20 (Lied 4) 172, 176, 392, 777, 780–781, 787 – GA XIV,21–25 (Lied 5) 777, 780 – GA XIV,26–30 (Lied 6) 777, 780 – GA XIV,31–35 (Lied 7) 777 Friedrich der Knecht 466, 499 Friedrich der Schöne, deutscher König 719 Friedrich II. der Streitbare, Herzog von Österreich 716, 765 Friedrich II., König von Sizilien, deutscher König und Kaiser 10, 119–121, 149, 544, 715, 722, 729 Friedrich von Hausen 158, 197, 199, 204–205, 215, 221–224, 245, 301–302, 307, 323, 387, 394, 416, 423, 425–426, 429, 441–443, 447, 471–472, 474, 486–487, 509, 511, 516, 518, 544, 546–547, 593, 611, 613–614 – MF 42,1 593, 613 – MF 43,28 222, 323 – MF 44,13 221, 223, 387 – MF 45,1 221, 302 – MF 45,37 197, 205, 221, 223, 394, 443, 516, 547 – MF 47,9 215, 423, 516, 518, 546 – MF 48,3 222, 547 – MF 48,23 426, 442 – MF 48,32 221, 223, 611
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– MF 49,13 158, 221, 223, 301, 511 – MF 49,37 204, 387, 447 – MF 50,19 221 – MF 51,13 423 – MF 51,33 199, 221, 224, 301–302, 425 – MF 52,37 307, 429, 441–442 – MF 53,31 222, 544 Friedrich von Leiningen 549 – KLD 549 G Gace Brulé 115, 157, 159, 221 Gaucelm Faidit 221–223, 553, 694 Gedrut 31 Geibel, Emanuel 802 Geltar 499, 591 George, Stefan 802–803 Gerhardt, Paul 220 Giacomino Pugliese 119 Giacomo da Lentini 121 Gilbert de Berneville 160 Gilles de Vieux-Maisons 159 Giraut de Bornelh 817 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 793–797, 799–800, 802, 805 Der von Gliers 246, 322 – SMS 3 322 Goeli 32, 38, 499, 591 von Goethe, Johann Wolfgang 812 Gomringer, Nora 806 Gontier de Soignies 222 Gösli von Ehenhein 207 – KLD 1 207 Gottfried von Neifen 13, 29, 185, 199, 203, 209, 211, 279, 281, 283, 285–286, 303, 309, 383, 386, 389, 414, 416, 446, 452–453, 455, 472, 476, 495–498, 500, 510, 562, 574, 580, 593, 722–724, 728–733, 756, 780 – KLD 1 / LDM C Neif 1–5 303, 455, 730 – KLD 2 / LDM C Neif 6–10 730 – KLD 3 / LDM C Neif 11–15 285, 731 – KLD 4 383 – KLD 5 414 – KLD 6 / LDM C Neif 26–30 209, 731 – KLD 7 203, 283 – KLD 8 / WACH 5 446 – KLD 10 / LDM C Neif 45–47 731 – KLD 13 / LDM C Neif 54–58 283, 496 – KLD 14 / LDM C Neif 59–63 574, 731
834
Register
– KLD 16 / LDM C Neif 69–73 497 – KLD 18 209 – KLD 22 / LDM C Neif 92–95 283, 386, 389, 731 – KLD 23 / LDM C Neif 96–101 283, 496, 731 – KLD 24 / LDM C Neif 102–105 730 – KLD 25 283 – KLD 26 / LDM C Neif 110–112 731 – KLD 27 / LDM C Neif 113–116 203, 497, 730–731 – KLD 30 / LDM C Neif 125–127 730 – KLD 32 / LDM C Neif 130–134 731 – KLD 33 283 – KLD 34 / LDM C Neif 138–142 732 – KLD 36 199 – KLD 39 / LDM C Neif 153–157 498, 593, 731 – KLD 41 / LDM C Neif 160–162 730 – KLD 42 199 – KLD 46 / LDM C Neif 172–174 731 – KLD 50 286, 309 Gottfried von Straßburg 34, 199, 240, 338, 492, 616, 620, 654, 662, 666, 678–679, 687, 700, 707, 765 – MF I 199 de Gourmont, Remy 150 Gräter, Friedrich David 802 Grétry, André-Ernest-Modeste 808 Grieg, Edvard 812 Grillparzer, Franz 812 Grimm, Jacob 150, 797 Grimm, Wilhelm 150 Guibert von Nogent 127 Gui d’Uisel 561 Guilbert, Yvette 817 Guilhem de Cabestanh 668, 705 Guillaume de Lorris 157 Guillaume de Machaut 162 Guinizzelli, Guido 121–122 Guiot de Provins 221, 224, 237 Guittone d’Arezzo 121, 123 Günther von dem Forste 261, 426, 540, 631 – KLD 5 540 – KLD 6 / LDM C Günth 36–40 261, 426 H Hadewijch 156, 159–160, 162 Hadlaub, Johannes 13, 34, 200, 208, 246, 273, 306, 310, 312, 429, 468, 476, 495, 498, 538–539, 591–597, 634–635, 746, 749, 751–757, 794
– SMS 1 / LEP 1 429, 498, 594–595, 753, 755–756 – SMS 2 / LEP 2 208, 476, 498, 594, 753, 755–757 – SMS 3 754, 756 – SMS 4 / LEP 5 595, 755–756 – SMS 5 / LEP 53 498, 595–596, 753, 755–756 – SMS 6 / LEP 54 594, 596, 753, 755–756 – SMS 7 306, 755 – SMS 8 753–754, 757 – SMS 9 754 – SMS 10 754 – SMS 11 754–755 – SMS 12 754 – SMS 13 754–755 – SMS 14 538–539, 755 – SMS 15 755 – SMS 16 754–755 – SMS 17 749, 755 – SMS 18 753–754 – SMS 19 753–754 – SMS 20 200, 753–754 – SMS 21 753–754 – SMS 22 753–754 – SMS 23 753–754 – SMS 24 753–754 – SMS 25 753–754 – SMS 26 753–754 – SMS 27 753–754 – SMS 28 753–754 – SMS 29 754 – SMS 30 753–754 – SMS 31 753–754 – SMS 32 754 – SMS 33 755 – SMS 34 755 – SMS 35 753–754 – SMS 36 753–754 – SMS 37 753–754 – SMS 38 753–754 – SMS 39 753–754 – SMS 40 753–754 – SMS 41 753–754 – SMS 42 753–754 – SMS 43 754 – SMS 44 754 – SMS 45 753–754 – SMS 46 753–754 – SMS 47 753–754
Register
– SMS 48 753–754 – SMS 49 753–754 – SMS 50 539, 755 – SMS 51 753, 755 – SMS 52 753 – SMS 53 753 – SMS 54 753 Hartmann von Aue 1, 13, 27, 61, 103, 198, 222, 258, 261, 268, 319, 356, 382, 396, 415–416, 444, 450–451, 453, 468, 471–472, 474, 488–491, 529–530, 550–551, 561, 565, 611, 616, 654–655, 658–662, 751 – MF 205,1 659 – MF 206,19 261, 489, 659 – MF 207,11 659–660 – MF 209,5 450 – MF 209,25 550, 659–661 – MF 211,20 551, 659–660 – MF 211,27 319, 451, 491, 659 – MF 212,13 659 – MF 212,37 529, 660 – MF 214,12 490, 659 – MF 214,34 396, 491, 565, 658–659 – MF 215,14 222, 382, 659–660 – MF 216,1 415, 529, 561, 660 – MF 216,29 198, 268, 444, 490, 611, 659–660, 751 – MF 217,14 453, 530, 659–660 – MF 218,5 1, 258, 551, 660 – MF XVIII 659–660 Hartmann von Starkenberg 207 – KLD 3 207 Hartwig von Raute 199, 221, 335, 416, 445, 486, 518, 631 – MF 116,1 199, 221 – MF 117,1 335 – MF 117,26 445, 518 Haßler, Hans Leo 220 Hätzlerin, Clara 534, 538–540 – HÄTZ I 6 538 – HÄTZ I 11 538, 540 – HÄTZ I 21 540 – HÄTZ I 27 539 – HÄTZ I 37 540 Haug, Johann Christoph Friedrich 802 Hawart 499, 545 – KLD 1 545 – KLD 2 545
835
Haydn, Joseph 220 Heinrich II., König von England 113, 128–129 Heinrich III., deutscher König und Kaiser 133 Heinrich III., Herzog von Brabant 160 Kaiser Heinrich (Heinrich VI.) 31, 121, 197, 306, 402, 416, 471, 474, 483, 485, 487, 630 – MF 5,16 306, 485 Heinrich (VII.), deutscher König, König von Sizilien 722–723, 729 Graf Heinrich von Anhalt 489, 796 – KLD 1 796 Heinrich von Breslau 418, 430, 466, 777, 795 – KLD 2 418, 430 Heinrich von Frauenberg 538–539 – SMS 1 538–539 Heinrich von Klingenberg 756 Heinrich von Morungen 13, 23, 25, 31, 59–61, 190, 199–200, 204, 206, 219, 221, 245–246, 258, 268, 272, 282, 288, 300–303, 305, 307, 315, 318–319, 323–324, 333–334, 383, 386, 388–389, 394, 396, 416, 418–419, 426–432, 440–441, 444–447, 450–451, 453, 456, 468, 471–472, 474, 488–493, 511–512, 514, 516–517, 528–529, 537, 557, 578, 581, 593, 611, 618–620, 634, 662, 665–675, 682, 698, 700, 704, 723, 733, 813, 815 – MF 122,1 206, 302, 388, 511, 514, 671, 673 – MF 123,10 199, 333, 441, 450, 511, 516, 668, 670, 674 – MF 124,32 302, 319, 428, 490, 517, 667–668, 670–671, 673 – MF 125,19 301, 318, 389, 427–428, 512, 668, 671–672, 675 – MF 126,8 302, 430, 444, 669, 672–673, 700 – MF 127,1 418, 429, 441, 670, 674, 813 – MF 127,12 667 – MF 127,34 204, 418, 489, 491, 516, 667–668, 675 – MF 129,14 199, 272, 302, 430, 669–671 – MF 130,9 23, 430, 445, 593, 666, 670, 672 – MF 130,31 668–669 – MF 131,25 59, 301, 307, 492, 668, 670 – MF 132,27 675 – MF 133,13 200, 258, 272, 315, 429, 446, 492, 666, 668–669, 674 – MF 134,6 669 – MF 134,14 302, 388, 418, 446–447, 667, 669–671
836
Register
– MF 135,9 324, 441, 445, 669, 674 – MF 136,1 319, 396, 418, 491, 668–671, 815 – MF 136,25 323, 383, 418, 444, 667–668 – MF 137,10 665, 670 – MF 137,17 674 – MF 137,27 300, 669 – MF 138,17 272, 302, 386, 394, 419, 429, 451, 667, 671–672, 674 – MF 139,19 324, 578, 593, 669 – MF 140,11 268, 517, 670 – MF 140,32 190, 288, 389, 430, 441, 446, 453, 669–670, 672 – MF 141,15 668–670, 675 – MF 141,37 282, 288, 430–432, 611, 668–669, 672 – MF 142,19 219, 669 – MF 143,4 318, 428, 491, 671 – MF 143,22 204, 490, 537, 557, 669 – MF 144,17 388, 418 – MF 145,1 60, 303, 305, 334, 426, 429–430, 450, 456, 489, 528, 593, 618–620, 667–670, 674 – MF 145,33 673 – MF 146,11 669 – MF 147,4 430, 451, 672 – MF 147,17 221, 668 Heinrich von Mügeln 3, 11–13, 390, 400, 412, 601, 736, 775, 777, 781–787 – STMN XVI,1–3 (Lied 1) 400, 784–786 – STMN XVI,4–6 (Lied 2) 390, 784–785, 787 – STMN XVI,7–9 (Lied 3) 784–785, 787 – STMN XVI,10–12 (Lied 4) 784–787 – STMN XVI,13–15 (Lied 5) 784–786 – STMN XVI,16–18 (Lied 6) 784–787 – STMN XVI,19–21 (Lied 7) 785 – STMN XVI,22–24 (Lied 8) 785–786 Heinrich von der Mure 631 Heinrich von Neifen 729 Heinrich von Rugge 62, 209, 214, 278, 284, 286, 300, 315, 318, 322, 385, 387, 415, 453, 472, 486–487, 544, 549, 678, 680 – MF 96,1 544 – MF 100,34 278, 284, 487 – MF 101,15 214, 300, 322, 387 – MF 102,1 549 – MF 103,3 62, 318 – MF 103,35 385 – MF 106,24 415
– MF 108,22 286, 315 – MF 110,26 209 Heinrich von Sax 575 – SMS 1 575 Heinrich von dem Türlin 654–655 Heinrich von Veldeke 13, 156, 158, 160–161, 198–199, 203–206, 222, 236, 278, 284, 300, 414, 419, 445, 453, 471, 473, 486–487, 515, 593, 611–613, 615–616, 654–658, 661–662, 813 – MF 56,1 158, 206, 445, 593, 611, 657–658 – MF 57,10 222, 656–658 – MF 58,11 657–658 – MF 58,35 158, 414, 615, 657–658, 813 – MF 59,23 158, 203, 657 – MF 60,13 158, 204, 657–658 – MF 60,29 158, 206, 657–658 – MF 61,1 658 – MF 61,9 158 – MF 61,18 658 – MF 61,25 658 – MF 61,33 222, 278, 284, 658 – MF 62,11 658 – MF 62,25 160, 199, 657–658 – MF 63,20 657 – MF 63,28 658 – MF 64,10 657–658 – MF 64,17 658 – MF 64,26 658 – MF 65,13 658 – MF 65,21 158, 658 – MF 65,28 222, 658 – MF 66,1 658 – MF 66,9 419 – MF 66,16 612, 658 – MF 66,24 515, 657–658 – MF 66,32 198, 657 – MF 67,25 300, 658 – MF 67,33 658 – MF XXXV 656 – MF XXXVI 656 – MF XXXVII 414, 656, 658 Heloise 127 Henri von Huntington 128 Hensel, Fanny 812 Herder, Johann Gottfried 13 Hermann I., Landgraf von Thüringen 699 Hetzbold, Heinrich, von Weißensee 395 – KLD 3 395
Register
Hilarius von Orleans 128, 131, 142 Hildebert von Lavardin 125–126, 133 Hiltbolt von Schwangau 189, 202, 493, 550 – KLD 11 202 – KLD 17 550 Hindemith, Paul 812–813 Hoffmann, E. T. A. 14, 809 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 220 Markgraf von Hohenburg 300, 308, 537 – KLD 5 537 – KLD 6 300, 308 Hölty, Ludwig Heinrich Christoph 802, 811–812 Horaz 133, 146 Hornburg, Lupold 28 Hugo Primas 128, 135, 142 Hugo von Montfort 37, 161, 403, 458, 534, 540–541, 633, 637, 815 – HOF 29 458, 815 – HOF 37 540 Hugo von Mühldorf 499, 656 Hugo von Trimberg 28, 666, 707 Hugo von Werbenwag 258 – KLD 4 / LDM C Werb 13–15 258 Humperdinck, Engelbert 812 Huysmans, Joris-Karl 150 J Jacopone da Todi 122 Jakob von Warte 812 – SMS 1 812 Jan van Hulst 166 Jan Moritoen 166 Jaufré Rudel 106, 110, 128, 157, 425, 810–811 Jean de Lescurel 162 Jean Renart 157–158 Jehan Érart 160 Joana (Emetz) 814 Johannes von Hauvilla 132 Johann Ohneland, König von England 113 Johann von Brabant 156, 161, 812 Jones, Sterling 820 Joseph Iscanus 128 Der Junge Meißner 38 Der Junge Spervogel 31 K Kafka, Franz 467 Der Kanzler 164, 285, 466, 495–497, 500 – KLD 13 / LDM C Kanz 49–51 497 – KLD 15 / LDM C Kanz 55–57 285, 496
837
Karl der Große, König des fränkischen Reichs, Kaiser 125 Karl IV., deutscher und böhmischer König, Kaiser 782 Karsch, Anna Louisa 796 Kastellan von Coucy 115, 157 Keller, Gottfried 793 Klingsor 34 Klopstock, Friedrich Gottlieb 803 von Knorr, Ernst Lothar 813 Kol von Niunzen 499 Konrad II., König des Ostfrankenreichs, von Italien, Burgund und Kaiser 133 Konrad von Altstetten 385, 558, 631, 634 – SMS 2 385 König Konrad der Junge 121, 630, 813 – KLD 2 813 Konrad von Kirchberg 32, 38, 591 Konrad von Winterstetten 202 – KLD 10 202 Konrad von Würzburg 3, 13, 28, 164, 185, 200, 205, 208, 210–211, 279, 287, 290–291, 390, 414, 453, 468, 470, 472, 495–498, 500, 510, 540, 602, 620, 654, 736–743, 780–781, 784, 786, 820 – SCHR 2 736 – SCHR 3 737–738, 740 – SCHR 4 737–738, 740 – SCHR 5 737, 742 – SCHR 6 / LDM C KonrW 12–14 497, 737–738, 740 – SCHR 7 208, 414, 737–738, 740 – SCHR 8 737–741 – SCHR 9 737, 739–740 – SCHR 10 208, 737–738, 741 – SCHR 11 737, 739–741 – SCHR 12 737, 741 – SCHR 13 / LDM C KonrW 33–35 210, 287, 290, 497, 737–738 – SCHR 14 737 – SCHR 15 540, 737 – SCHR 16 737, 740 – SCHR 17 737 – SCHR 19 742 – SCHR 20 737 – SCHR 21 737 – SCHR 22 737, 740 – SCHR 26 / LDM C KonrW 75–76 211, 290–291, 498, 737, 740–741
838
Register
– SCHR 27 737–738, 741 – SCHR 28 737–738, 740 – SCHR 29 737–738, 740 – SCHR 30 211, 290–291, 540, 737, 740–741 – SCHR 31 742 Kříž von Telč, Oldřich 172 Kummer, Eberhard 821 Kunz von Rosenheim 656 Kürenberg 13, 19–20, 191–192, 196–197, 205, 306, 310, 323, 336, 341, 416, 418–419, 442–443, 454–455, 483–485, 487, 525, 531, 563–564, 592, 601, 648–651, 785, 812, 814 – MF 7,1 306, 484, 650 – MF 7,10 484 – MF 7,19 20, 323, 484, 650 – MF 8,1 310, 336, 484, 531, 563, 648–651 – MF 8,9 484, 564, 650 – MF 8,17 196, 310, 418, 443, 484, 650 – MF 8,25 341, 484, 651 – MF 8,33 19–20, 191, 196, 419, 454, 484, 525, 649, 785 – MF 9,5 19, 341, 484, 649, 651 – MF 9,13 454, 484, 650 – MF 9,21 484, 650 – MF 9,29 455, 484, 564, 648, 650–651 – MF 10,1 442, 484, 650 – MF 10,9 484, 650 – MF 10,17 484, 649–650 L Lanfranc Cigala 119 Leopold V., Herzog von Österreich 530, 679 Leopold VI., Herzog von Österreich und Steiermark 544, 699 Leuthold von Seven 31, 61, 571, 631 Leyser, Polycarp 150 Burggraf von Lienz 538 – KLD 1 538 Schenk von Limburg 632 Lodewijk van Gruuthuse 165 Lotharius II., fränkischer König 156 Ludwig I., Herzog von Bayern 716 Ludwig I., König von Ungarn, Kroatien und Polen 782 Ludwig VII., König von Frankreich 113 Lukrez 146 Luther, Martin 534, 541 Lutzenberger, Sabine 820 M
Maalouf, Amin 810 Manesse, Johannes 32, 722, 757 Manesse, Rüdiger 32, 635, 722, 751–752, 757, 794 Manfred, König von Sizilien 120–121 Marbod von Rennes 125–126, 129, 133, 135, 142, 144, 150 Marcabru 107, 545 Margarethe von Schwangau 761 Margarita von Prades 768 Marie de Champagne 113 Der Marner 1, 149, 470, 539, 679 – HAU 15 1 – WMS 2 539 – WMS 6 679 Marquardt, Tristan 804 Martianus Capella 146 Martin, Frank 813 Mathilde, Herzogin von Bayern und Sachsen 113 Matthias von Neuenburg 776 Maximinian 125, 146 Mechthild von Magdeburg 405 Meinloh von Sevelingen 196–197, 215, 306, 310, 323, 416, 441, 444–445, 451, 483, 485, 487, 564 – MF 11,1 441, 444 – MF 11,14 485, 564 – MF 12,1 485 – MF 12,14 306 – MF 13,1 451, 485 – MF 13,14 323 – MF 13,27 445 – MF 14,1 197, 215, 564 – MF 14,26 310 Mendelssohn, Felix 812 Michael de Leone 3, 20, 28–29, 33, 707 Mönch von Salzburg 161, 175, 218, 391, 534, 540, 813, 815–818, 821 – MÄRZ W 2 391 – MÄRZ W 3 540 – MÄRZ W 5 817 – MÄRZ W 48 815, 817 Moniot d’Arras 159 Mozart, Wolfgang Amadeus 809 Müller, Wilhelm 14, 233–234, 244, 793, 800–802, 805–806, 812 Muskatblut 543 – RSM 1Musk/2/16 543
Register
Namenlos 38, 195, 205, 219–220, 226, 343, 403, 485, 812 – KLD 234–238 D 38, 403 – KLD El 219 – KLD h 34 485 – KLD LI 219 – KLD Mb 220, 226 – MF 3,1 205, 812 – MF 3,7 195 – MF 6,5 343 – MF II 195 – MF IV 195 – MF VI 195, 205 – MF XIII 195 Neidhart 3, 5, 13, 25, 27–28, 32–33, 38–40, 56–57, 77, 79, 148–149, 162, 201, 218–219, 226, 241, 272–273, 285–286, 299, 309, 338, 352, 413–414, 416–418, 448, 452–453, 457, 468, 470–472, 474, 481–482, 494–495, 498, 500, 522, 530–531, 552–553, 557, 560, 571, 574–581, 583–592, 698, 705, 712–720, 724, 730, 749–750, 754, 771, 805, 813, 815, 817–818, 820–821 – SL 1 286, 309, 560 – SL 2 309, 585 – SL 3 309, 586 – SL 4 / WACH 7 448, 586 – SL 5 586 – SL 6 309, 585 – SL 7 309, 560, 585 – SL 8 309, 560 – SL 9 309 – SL 10 585, 588 – SL 11 201, 219, 309, 552–553, 585, 714 – SL 12 553, 585, 589, 714 – SL 13 586, 588 – SL 14 / WACH 1 309, 448, 560, 585, 589 – SL 15 309, 585, 589 – SL 16 309, 560, 574, 585, 588 – SL 17 560, 588–589 – SL 18 201, 309, 560, 585, 588, 717–718 – SL 19 585, 588, 717 – SL 20 201, 585, 588 – SL 21 201, 530–531, 560, 588 – SL 22 586, 589–590 – SL 23 285, 309, 585, 588 – SL 24 585, 588 – SL 25 560, 585, 588
– SL 26 576, 585, 589 – SL 27 309, 586, 589–590 – SL 29 586 – SL 30 586 – SNE I: C 285/c 110 815 – SNE II: c 7 585–586 – SNE II: c 13 586 – SNE II: c 15 586 – SNE II: c 17 585 – SNE II: c 18 817 – SNE II: c 36 585 – SNE II: c 38 585 – SNE II: c 39 585 – SNE II: c 45 586 – SNE II: c 48 585 – SNE II: c 58 585 – SNE II: c 61 585 – SNE II: c 66 585 – SNE II: c 73 586 – SNE II: c 90 585 – SNE II: s 15 585 – WL 1 586 – WL 2 586 – WL 3 586, 815 – WL 4 309, 586 – WL 5 586 – WL 6 586, 717 – WL 7 309, 586 – WL 8 586 – WL 9 586 – WL 10 586 – WL 11 586, 716 – WL 12 586 – WL 13 586 – WL 14 309, 586 – WL 15 586 – WL 16 586 – WL 18 586 – WL 19 586 – WL 20 586 – WL 22 309, 586 – WL 23 309, 585–586, 716–717 – WL 24 715–716 – WL 28 585–586 – WL 30 586 – WL 34 586 – WL 35 585 – WL 37 585, 717 Niune 11, 31, 466, 499, 656
839
840
Register
Der von Obernburg 499 Opitz, Martin 13, 184, 186 Orff, Carl 151, 812 Origenes 147 Oswald von Wolkenstein 3, 5, 11–13, 37, 175, 218, 281, 285–286, 306, 310, 391, 398, 403–404, 417, 458, 534, 540–541, 543, 562, 597, 633, 637, 761–762, 766–773, 805, 815–816, 818, 820–821 – OSW 1 398, 458, 633 – OSW 5 768 – OSW 6 772 – OSW 12 768 – OSW 17 541 – OSW 18 767 – OSW 19 543 – OSW 21 770 – OSW 23 769 – OSW 31 768 – OSW 34 391, 541 – OSW 40 541 – OSW 42 769 – OSW 44 769, 772 – OSW 48 310, 540, 771 – OSW 50 769 – OSW 52 767 – OSW 53 771 – OSW 76 769 – OSW 82 286 – OSW 85 816 – OSW 90a/b 543 – OSW 118 403, 541 – OSW 121 540 Otto der Fröhliche, Herzog von Österreich, Steiermark und Kärnten 719 Markgraf Otto IV. von Brandenburg 631, 795, 812 – KLD 2 812 – KLD 3 812 – KLD 5 812 Otto IV. von Braunschweig, deutscher König und Kaiser 544 Otto von Botenlauben 202, 219, 322–323, 489, 536–537, 550 – KLD 3 537 – KLD 9 536–537 – KLD 10 202 – KLD 12 550
– KLD 13 219, 322, 537 – KLD 14 323, 536–537 Ovid 135, 143–145, 536, 546, 618, 667 P Pedro de Luna 767 Peire Vidal 119, 221, 668, 698, 705–706 Peirol 668 Péladan, Joséphin 150 Perrin d’Angicourt 160, 222 Peter Abaelard 126–128, 131, 142 Peter von Aspelt 775 Petrarca, Francesco 122, 172–173 Petrus Riga 133 Petrus von Blois 127–128, 130, 141–142, 145–146 Pfeffel 631 Pfitzner, Hans 812 Phentzi, Konrad 751 Philipp der Kühne, Herzog von Burgund 166 Pier della Vigna 121 Pierre de Molins 222 Platon 566 Der Pleier 26 da Ponte, Lorenzo 809 Properz 146 R Raimbaut de Vaqueiras 119, 668 Raimon de Miraval 668 von Ramm, Andrea 820 Raoul von Soissons 817 Regenbogen 603, 752, 776 Burggraf von Regensburg 310, 483, 485, 522, 525, 813 – MF 16,1 310, 522, 525 – MF 16,15 310 – MF 16,23 813 Reinmar der Alte 3, 13, 25, 28–29, 31, 33, 56–57, 61–62, 83, 149, 163–164, 189, 193, 198–199, 203, 215, 219, 221–222, 238, 246, 257, 259–264, 268, 278, 289, 299–300, 302–303, 305, 311–312, 315–324, 332–333, 345, 383, 385–386, 390, 416, 419, 423–424, 429–432, 443–445, 451, 453, 455–456, 466–468, 471–472, 474, 488–493, 514, 516–518, 524, 527–530, 537, 551–552, 561, 564, 578, 581, 611–612, 659, 662, 666–668, 670, 678–695, 698–699, 704, 707, 723, 733, 756, 762, 805, 813
Register
– MF 150,10 315, 691 – MF 151,1 311, 491, 686 – MF 152,15 311, 455, 491, 686, 813 – MF 153,14 444–445, 611, 682–683 – MF 154,32 203, 537, 682–683, 688, 691, 695 – MF 156,10 419, 689, 694 – MF 156,27 215, 455, 682, 691–693 – MF 158,1 264, 268, 319, 430, 455, 489, 682–683, 691, 693 – MF 159,1 189, 333, 383, 431–432, 490, 516, 667, 682–684, 690–691, 693, 704 – MF 160,6 491, 516, 692, 694–695 – MF 162,7 199, 305, 317, 320, 489, 516, 683–684, 688–690 – MF 163,23 257, 259, 262–263, 305, 317, 324, 385, 444–445, 516, 691–692 – MF 165,10 199, 261, 263, 268, 303, 305, 317, 332–333, 390, 424, 514, 518, 561, 688 – MF 166,16 431, 456, 516, 528, 683–684 – MF 167,31 453, 530, 678, 688 – MF 168,30 318, 689, 692 – MF 169,9 416, 693 – MF 170,1 193, 260, 317, 386, 516, 667, 690–691, 704 – MF 170,36 317, 683, 688 – MF 171,32 682 – MF 172,23 320, 451, 687–688, 693 – MF 173,6 386, 687 – MF 174,3 687 – MF 175,1 317, 691 – MF 176,5 323, 687 – MF 177,10 198, 219, 311, 319, 491, 528, 564, 685, 692, 695 – MF 178,1 193, 198, 311, 528, 564, 685, 692 – MF 179,3 163, 257, 419, 424, 762 – MF 180,28 552, 690, 694 – MF 181,13 423, 551, 690, 693 – MF 182,14 302, 318, 688, 694 – MF 182,34 688 – MF 183,33 689, 694 – MF 184,31 578, 689, 692 – MF 185,27 164, 219 – MF 186,19 685, 692, 694 – MF 187,31 300, 694 – MF 190,3 517 – MF 190,27 687 – MF 191,7 322, 688, 695 – MF 191,34 321 – MF 192,25 686, 692
841
– MF 193,22 695 – MF 194,18 221, 694 – MF 195,3 695 – MF 195,10 492 – MF 195,37 312, 443, 491, 686 – MF 196,35 268, 322, 693 – MF 198,4 289, 686, 695 – MF 198,28 688 – MF 199,25 686, 693–694 – MF 203,10 312, 490, 686, 695 – MF 203,24 689, 693 – MF LXIII 688 – MF LXIV 690 – MF LXV 695 – MF LXVI 695 – MF LXVII 345, 491, 690, 694–695 Reinmar von Brennenberg 29, 323, 466, 561, 602, 632, 678–679 Reinmar der Fiedler 543, 571, 678 – KLD 3 543, 571 Reinmar der Junge 499, 678 – KLD 4 / LDM C Brenn 20–22 561, 679 – KLD 5 323 Reinmar von Zweter 29, 36–37, 444, 541, 601–602, 678 – ROETHE 25 / WACH 4 444 – ROETHE 219 541 Remigius von Auxerre 146 de Révéroni-St. Cyr, Jacques-Antoine 808 Richard Löwenherz, König von England 113, 808 Burggraf von Riedenburg 61, 222, 310, 415, 483, 485, 487, 526 – MF 18,1 310, 485 – MF 18,17 415 – MF 18,25 222 – MF 19,17 526 Rilke, Rainer Maria 802 Rogeret de Cambrai 160 Rubin 11, 31, 258, 466, 499, 549, 631 – KLD 7 549 – KLD 22 / LDM C Rubin 64–68 258, 549 Rückert, Friedrich 14, 794, 802, 806 Rudolf I. von Habsburg, deutscher König 747 Rudolf IV., Erzherzog von Österreich 782 Rudolf von Ems 237, 654, 662 Rudolf von Fenis 158, 190, 199, 221, 319, 415, 443–444, 472–473, 486–487, 509 – MF 80,1 221, 487
842
Register
– MF 80,25 221, 319 – MF 81,30 158, 221, 443–444 – MF 83,11 190, 221 – MF 83,25 415 – MF 84,10 221 Rudolf von Rotenburg 631 Rudolf der Schreiber 303 – KLD 2 303 Rühmkorf, Peter 14, 793–794, 803–804 Rumelant 743, 818 – HMS III 5 818 Rustico Filippi 122 Rutebeuf 116 S Saariaho, Kaija 810–811 Der von Sachsendorf 163, 499, 634 – KLD 4 163 von Scheffel, Victor 802 Schiller, Friedrich 798 Schlegel, August Wilhelm 797 Schnittke, Alfred 813 Scholl, Andreas 816 von Scholz, Wilhelm 802 Schubert, Franz 811 Der Schulmeister von Esslingen 466, 499, 631 Schumann, Robert 812 Sedaine, Michel-Jean 808 Serlo von Wilton 128, 142 Sextus Amarcius 125, 127, 133 Sigmund, deutscher König und Kaiser 761, 767 Solié, Jean-Pierre 808 Sommerlatte, Ulrich 814 Sordello 119 Spervogel 31, 601 Stefano Protonotaro 121 Steinmar 13, 205, 310, 412, 495–496, 498, 538–540, 562, 591, 746–751, 753–755 – SMS 1 498, 746, 749 – SMS 2 746–747, 749–750 – SMS 3 746–747, 749–750 – SMS 4 746–747, 749–750 – SMS 5 538–539, 746–747, 749–750, 755 – SMS 6 746–747, 749–750 – SMS 7 746–747, 749–750 – SMS 8 310, 539, 746–747, 749–750 – SMS 9 746–747, 749–750 – SMS 10 746–747, 749–750 – SMS 11 746–747, 749–750
– SMS 12 746–750 – SMS 13 746–747, 749–750 – SMS 14 746–747, 749–750 Strauss, Richard 810 Der Stricker 27, 751 T Der Taler 499, 591, 732 – SMS 25 732 Der Tannhäuser 164, 220, 224–225, 292, 448, 468, 470–471, 495, 553, 575–576, 580, 809–810, 815 – SIEB 2 575 – SIEB 3 / WACH 2 448 – SIEB 9 164, 220, 224–225, 292 – SIEB 10 292 – SIEB 11 / WACH 4 448, 576 – SIEB 13 / WACH 5 553 Teschler, Heinrich 322, 499, 753 – SMS 10 322 Teyber, Franz 808 Thibaut de Champagne 115, 160, 808 Thomasin von Zerklaere 433, 707 Thomas von Aquin 433 Tibull 146 Tieck, Ludwig 14, 793, 797–800, 802, 804, 812 Der Tugendhafte Schreiber 308, 324, 499 – KLD 5 308 – KLD 11 324 U Uc Faidit 119 Uhland, Ludwig 14 Ulrich von Baumburg 383, 394, 632 – SMS 2 394 – SMS 3 383 Ulrich von Gutenburg 199, 221, 418, 471, 486 – MF 69,1 418 – MF 77,36 199, 221 Ulrich von Liechtenstein V, 13, 25–26, 36–37, 208, 210, 234, 241–245, 257–258, 266, 288, 299–300, 308, 319, 322, 383–384, 386, 393, 416, 454, 472, 495, 497, 500, 536, 538–539, 558–559, 571–572, 574, 593, 596, 620, 632, 656, 707, 749, 761–766, 770–773 – KLD 3 300 – KLD 9 393 – KLD 10 / LDM L Liecht 44–49 559 – KLD 12 656
Register
– KLD 13 / LDM C Liecht 60–64 257–258 – KLD 14 / BECH-FD Lied 14 764 – KLD 20 / BECH-FD Lied 20 764 – KLD 21 / BECH-FD Lied 21 764 – KLD 22 / BECH-FD Lied 22 764 – KLD 25 36 – KLD 27 / BECH-FD Lied 27 764 – KLD 28 / BECH-FD Lied 28 308, 764 – KLD 29 / BECH-FD Lied 29 / LDM C Liecht 143–147 497, 764 – KLD 30 / BECH-FD Lied 30 / LDM C Liecht 148–154 558, 764 – KLD 31 / BECH-FD Lied 31 764 – KLD 32 / BECH-FD Lied 32 762, 765 – KLD 33 / BECH-FD Lied 33 / LDM C Liecht 167–171 497, 764 – KLD 35 383 – KLD 36 / BECH-FD Lied 36 319, 536, 539, 762 – KLD 39 288, 416 – KLD 40 / BECH-FD Lied 40 208, 454, 538–539, 762 – KLD 41 / BECH-FD Lied 41 762, 765 – KLD 46 / FD 46 386, 571 – KLD 47 / BECH-FD Lied 47 762, 765 – KLD 48 / BECH-FD Lied 48 765 – KLD 49 / BECH-FD Lied 49 322, 764 – KLD 50 / BECH-FD Lied 50 764 – KLD 51 / BECH-FD Lied 51 764 – KLD 52 / LDM C Liecht 274–278 210, 497 – KLD 53 / BECH-FD Lied 53 762, 764 – KLD 54 / BECH-FD Lied 54 764 – KLD 56 / BECH-FD Lied 56 765 – KLD 57 / BECH-FD Lied 57 593, 765 – KLD 58 384 Ulrich von Rappoltstein 29 Ulrich von Singenberg 31, 467, 470–471, 495, 497, 500, 665, 679, 707 – SMS 27 497 Ulrich von Winterstetten 201, 205, 215, 279, 292, 303, 414, 453, 472, 476, 495, 498, 500, 538, 559, 561, 575, 580, 749, 754–755 – KLD 4 / LDM C Wint 16–20 498, 755 – KLD 5 215 – KLD 9 414 – KLD 11 / LDM C Wint 47–51 559 – KLD 26 201 – KLD 29 538 – KLD 34 303 – KLD 36 292
843
Valerius Maximus 782 Venantius Fortunatus 145 Verdi, Giuseppe 809 Vergil V, 119, 133, 146 Vesper, Will 802 Voß, Johann Heinrich 811 W Wachsmut von Mühlhausen 499, 634 Wagner, Jan 804 Wagner, Richard 14, 809–811, 815 Walther von Breisach 499 Walther von Chatillon 128–129 Walther von Klingen 300, 631, 748–749 – SMS 2 300 – SMS 4 749 Walther von Mezze 29, 38, 258, 499 – KLD 4 / LDM C Mezze 12–16 258 – KLD 6 38 Walther von der Vogelweide 1, 3, 11–13, 23–26, 28–29, 31, 33–35, 38, 56–57, 59–61, 74, 77, 79, 82–83, 85, 87, 89–90, 92–96, 110, 120, 128, 148–149, 163, 185–186, 188, 200, 203–204, 207–208, 219, 222, 238, 242, 258, 261, 263–264, 268–270, 272, 278–280, 282, 285, 288–289, 299–302, 306–308, 310, 312, 315, 318–324, 337–338, 344–345, 355, 358, 382–384, 386–388, 395, 397–398, 402–403, 415–418, 426–428, 430–432, 441–447, 451, 453–455, 457–458, 467–475, 488–492, 495, 497, 513–518, 527, 529–530, 537, 541, 544–545, 558, 562–563, 565, 574, 577–578, 581, 601–602, 604, 612, 655, 659, 665–668, 678–679, 682, 687, 690, 693–694, 698–708, 713, 742, 751, 754, 793–795, 803–804, 806, 810, 812–815, 817, 820–821 – L 3,1 148 – L 8,4 707 – L 10,9 544 – L 12,6 544 – L 13,5 545 – L 13,33 310, 702 – L 14,38 110, 200, 545, 813–815, 817 – L 19,29 574, 699 – L 21,25 402, 541 – L 28,31 699 – L 29,15 544 – L 31,13 700
844
Register
– L 32,7 699 – L 39,11 185, 204, 285, 306, 312, 418, 432, 443, 490, 529–530, 693, 703, 754, 803, 812–813 – L 40,19 261 – L 42,15 60 – L 42,31 60, 491 – L 43,9 38, 59, 323, 558 – L 44,35 268, 321 – L 45,37 23, 300–301, 322, 418, 444, 492, 706 – L 46,32 186, 300–301, 306, 322, 490 – L 47,16 207, 491, 706 – L 47,36 82–83, 93–94, 321, 703 – L 48,12 82–83, 85, 87, 89–90, 92–96, 264, 269–270, 306, 315, 321, 454, 491, 703, 751 – L 49,25 306, 308, 382, 490, 702, 806 – L 50,19 60, 324, 442, 490, 706, 803 – L 51,13 219, 384, 415, 453, 705 – L 52,23 319, 455, 515, 700 – L 53,25 23–24, 38, 60, 219, 282, 302, 344, 386–387, 395, 431–432, 442–443, 445–447, 490, 492, 690, 701, 705–706 – L 54,37 60, 667, 701 – L 56,14 26, 242, 384, 492, 693, 700, 703, 705, 707 – L 57,23 457, 492 – L 58,21 60, 268, 703 – L 62,6 208 – L 63,8 489, 701 – L 64,31 322, 492, 705 – L 65,33 427 – L 66,21 1, 208, 258, 269, 388, 397, 457, 491–492, 706 – L 69,1 163, 188, 307, 514, 517, 701–702 – L 69,22 307 – L 70,22 312, 319, 455, 491, 563 – L 71,35 563, 702 – L 72,31 263–264, 270, 337, 383, 387, 430, 455, 492, 515, 518, 667, 693, 700, 704, 707 – L 73,23 492, 704 – L 74,20 203, 306, 312, 426, 441, 490, 562, 578, 701 – L 75,25 288, 443, 453, 491, 706 – L 76,22 545 – L 82,24 678–679 – L 83,1 678–679 – L 84,1 699 – L 85,34 61, 491, 702 – L 88,9 537
– L 90,15 264, 322, 491 – L 92,9 222, 702 – L 93,19 706 – L 94,11 427 – L 96,29 320, 451 – L 100,24 397, 457, 703 – L 109,1 700 – L 110,13 705–706 – L 111,22 386, 431, 693, 704, 803 – L 112,3 264, 491 – L 112,35 491, 565, 702 – L 113,31 702 – L 114,23 577 – L 115,6 516, 700 – L 116,33 322, 458, 491 – L 118,24 318, 428, 492, 667, 704, 706 – L 119,17 203 – L 124,1 398, 545 – L 185,1 432 Wecker, Konstantin 813 Weill, Kurt 812 König Wenzel von Böhmen (Wenzel II.) 176, 300, 466, 538–539, 630, 775, 777, 795 – KLD 1 300 – KLD 3 538–539 Bruder Wernher 544 – ZCK 73 544 – ZCK 74 544 – ZCK 76 544 Wernher von Teufen 631 Wilhelm IX. von Aquitanien 104–106, 110, 113, 689, 694 Wilhelm X. von Aquitanien 107 Wilhelm von Champagne 129 Winli 499 Wisse, Claus 29 von Wissenlo 499, 816 – KLD 1 816 – KLD 2 816 – KLD 3 816 – KLD 4 816 Wizlav 35, 205, 220, 224–225, 815, 820 – WIZ 1 35, 220, 224 – WIZ 2 35, 220, 224 – WIZ 3 35, 220, 225 – WIZ 4 / HMS III 9 35, 220, 224, 815 – WIZ 5 / HMS III 10 35, 220, 225, 815 – WIZ 6 / HMS III 11 35, 220, 224, 815 – WIZ 7 / HMS III 12 35, 220, 224, 815
Register
– WIZ 8 / HMS III 13 35, 220, 224, 815 – WIZ 9 / HMS III 14 35, 220, 224, 815 – WIZ 10 35, 220, 224–225 – WIZ 11 35, 220, 224–225 – WIZ 12 35, 220, 224 – WIZ Ton IV 35 – WIZ Ton VI 224–225 Wolf, Hugo 812 Wolfger von Erla 699 Wolfram von Eschenbach 23–24, 29, 32, 38, 103, 207, 306, 417–418, 446, 453–454,
845
472, 474, 492–494, 500, 531, 536–540, 654, 707, 737, 740, 813 – MF 3,1 23, 446, 454, 493, 536–537 – MF 4,8 23, 446, 454, 493, 536–537 – MF 5,34 306, 493, 537, 540 – MF 6,10 493, 537 – MF 7,11 418, 453 – MF 7,41 207, 493, 537 Wolters, Friedrich Wilhelm 803 Z Zangenberg, Sylvia 814 Záviš 172, 176–177