Handbuch des Strafprozesses: Erster Band. Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft. Neunte Abtheilung, vierter Theil, erster Band. Hrsg. von Karl Binding [1 ed.] 9783428561506, 9783428161508


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German Pages 773 Year 1883

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Handbuch des Strafprozesses: Erster Band. Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft. Neunte Abtheilung, vierter Theil, erster Band. Hrsg. von Karl Binding [1 ed.]
 9783428561506, 9783428161508

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Handbuch des Strafprozesses Von Julius Glaser

Erster Band

Duncker & Humblot reprints

Systematisches Handbuch der

Deutschen Rechtswissenschaft. Unter Mitwirkung P r o f e s s o r e n Dr. H. Brunner i n B e r l i n , Dr. E. Brunnenmeister i n H a l l e , Dr. 0. Biilow i n T ü b i n g e n , Dr. H. Degenkolb i n T ü b i n g e n , Dr. V. Ehrenberg i n R o s t o c k , Dr. A. Franken i n J e n a , des G e n e r a l - P r o c u r a t o r s Dr. J. Glaser i n W i e n , d e r P r o f e s s o r e n Dr. A. Grawein i n C z e r n o w i t z , Dr. A. Haenel i n K i e l , Dr. A. Heusler i n B a s e l , Dr. R. v. Jhering i n G ö t t i n g e n , Dr. P. Krüger i n K ö n i g s b e r g , Dr. P. Laband i n S t r a s s b u r g , Dr. F. v. Martitz i n T ü b i n g e n , Dr. E. Meier i n H a l l e , Dr. Th. Mommsen i n B e r l i n , Dr. F. Regelsberger i n B r e s l a u , Dr. W. v. Rohland i n D o r p a t , Dr. A. Schmidt i n L e i p z i g , Dr. R. Sohm i n S t r a s s b u r g , Dr. A. Wach i n L e i p z i g , des Dr. R. Wagner i n L e i p z i g , des P r o f e s s o r s Dr. B. Windscheid i n L e i p z i g

der

herausgegeben von

Dr. K a r l B i n d i n g , Professor in Leipzig.

Neunte Abtheilung, vierter Theil, erster Band:

Glaser,

H a n d b u c h des S t r a f p r o z e s s e s .

Band

Leipzig, V e r l a g ν ο η Τ) h η e k e r et H u ni b 1 ο t. 1883.

I.

Handbuch. des

Strafprozesses. Yon

Dr. J u l i u s Glaser.

Erster

Band.

Leipzig, V e r1 ag

v o n 1) il η c k e r & I I u in b l o t .

1888.

Das Recht der Uebersetzung bleibt vorbehalten.

Piever'sclie Hofbuelidruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.

Rudolph von Jhering unci

Joseph Unger gewidmet.

V ο r w ο r t. Unter den Wohlthaten, die eine neue Codification gewährt, besonders eine solche, wie sie das Deutsche Reich für den Strafprozess errang, wird vielleicht keine lebhafter empfunden, als die der tabula rasa, welche sie herstellt.

Sammlungen von Judicaten, literarische

Bearbeitungen, welche das Entstehen und die Anwendung zahlreicher einander ewig nah und ewig fern bleibender Gesetze über dieselben Gegenstände beleuchten, Controversen, welche die unklare Fassung eines Textes, seine Vergleichung mit einem anderen, die Collision neuer Einrichtungen oder Aufgaben mit alten Traditionen, oder welche zufällig an einzelnen Orten hervorgetretene Conflicte erregten, alles dies bildet allmählich einen Apparat, der bei der praktischen und wissenschaftlichen Behandlung des Rechtsstoffes

nur schwer zu be-

nützen und doch nicht zu umgehen ist. Eine befreiende That scheint daher die neue Codification, die dies alles bei Seite schieben muss. Bald aber zeigt sich, dass dies nicht in vollem Maasse eintritt.

Die

Worte des neuen Gesetzes, die Einrichtungen, die es herstellt, die Geistesrichtung, welche seine Auslegung und Anwendung beherrscht: alles dies ist das Ergebniss des vorausgegangenen Rechtszustandes, der Bestrebungen, Kämpfe, ja selbst der Missverständnisse, aus denen er sich und die sich aus ihm entwickelten.

Auch ist der Rechtsstoff

vielfach derselbe geblieben, auf welchen eine Gedankenarbeit verwendet wurde, deren Ergebnisse von Generation zu Generation, ja von

Vorwort.

Vili

Jahrhundert zu Jahrhundert überliefert und vermehrt wurden, und auf welche nicht blos darum verzichtet werden kann, weil sie mit abgegeschafften Texten und geänderten Einrichtungen in bald mehr bald weniger äusserlichem Zusammenhange stehen. Die wissenschaftliche Bearbeitung des neuen Rechtes, zumal diejenige, die in systematischer Behandlung desselben und zu einer Zeit unternommen wird, wo die auf dessen speciellem Gebiete entstandene Literatur und Judicatur noch nicht so angewachsen sind, dass sie wesentlich fördern oder — hemmen könnten, hat daher vor allem die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen, zu sondern, was wirklich neu ist, von demjenigen, was nur in neuer Fassung und Umgebung erscheint, das erstere aus sich heraus, das geschichtlich gewordene aus seiner Geschichte zu erklären, aus dem literarischen Apparat vergangener Epochen auszuscheiden, was antiquirt ist, dagegen das auch für die Zukunft werthvolle aus der seine Benützung erschwerenden Umgebung herüberzuretten auf das Gebiet

des

neuen

Rechtes.

Die

systematische

Form

der

Be-

arbeitung mahnt ferner dazu und gestattet es, dass dabei vorzüglich auf dasjenige Rücksicht genommen werde,

was vermöge der

Form der Codification nicht in den Worten cles Gesetzes, nur in dessen Gesammtanlage und geschichtlicher Stellung Ausdruck findet oder Avas doch daraus den Anspruch auf fortdauernde Anerkennung ableitet. Diese meine Ansicht von dem, was anzustreben Pflicht ist, wie wenig auch die Kräfte ausreichen mögen, es zu vollbringen, leitete mich bei der Entwerfung des Planes dieses Werkes und bei der theilweisen Ausführung in diesem ersten Bande, dessen zwei Bücher gerade solche Stoffe behandeln, auf welche ganz vorzugsweise das gesagte Anwendung

findet.

Obenan steht dabei die Lehre vom Beweis, der

ich sehr gern schon hier die wesentlich der Gegenwart angehörige Lehre von der Strafklage („der Stoff des Strafprozesses als Gegenstand juristischer Würdigung") gegenüber gestellt hätte.

Die Raum-

verhältnisse gestatteten dies nicht und nöthigten mich, auch noch so manche ins Detail gehende Ausführungen, namentlich solche, welche der geschichtlichen Entwicklung des Beweisrechts und der Kritik der

Vorwort.

IX

Beweise gewidmet sind, hier auszuscheiden und einem in kürzester Frist erscheinenden Excursenbande vorzubehalten.

Dieser Excursen-

band und das zweite Buch des gegenwärtigen Werkes sind von einander unabhängig, aber bestimmt, sich gegenseitig zu ergänzen und zu unterstützen ; sie bilden zusammen den Versuch einer vollständigen Darstellung oder doch der Anbahnung einer Behandlung des Beweisrechts, wie sie mir als durch die jetzige Lage des Strafprozesses dringend geboten erscheint. liegenden Werkes

Namentlich die § § 3 6 und 61 des vor-

(Beweisgegenstand und Beweislast —

Indicien-

beweis) bitte ich den geneigten Leser als kurze Zusammenfassung der Ergebnisse von im Excursenbande niedergelegten eingehenden Studien ansehen zu wollen. Als im Jahre 1879 an mich die so ehrenvolle Aufforderung erging, den hiemit gewagten Versuch zu unternehmen, war ich im Begriffe, ähnliches auf dem mir vertrauteren Gebiete des ö s t e r r e i c h i s c h e n Strafprozesses zu beginnen, und meine besondere Verpflichtung gegen letzteren bildete eines der zahlreichen Bedenken, die ich zu überwinden hatte und nur vermöge der unwiderstehlichen Lockung der Arbeit selbst und der in ihrer Uebertragung liegenden Auszeichnung überwand. Mich bestimmte die Hoffnung, dass es mir möglich sein werde, durch eine entsprechende Behandlung zugleich dem deutschen und

dem österreichischen

Strafprozessrecht

nützlich

zu

werden. Die Hauptaufgabe des Buches muss die Darstellung des d e u t s eh e η Strafprozesses, nicht blos in seiner Grundanlage, sondern auch in allen seinen Details bilden; die Erörterung specifischer Specialfragen des österreichischen Strafprozesses, die eingehende Berücksichtigung seiner besonderen Judicatur und seiner zahlreichen Besprechungen in fachwissenschaftlichen Zeitschriften können.

hätte hier

nur Verwirrung

erregen

Allein die geschichtliche Entwicklung des deutschen und

österreichischen Strafprozesses ist eine durchaus gemeinsame, und auch in der Gestaltung des neuesten Rechtes ist das gemeinsame weit überwiegend.

Eben darum dient alles, Avas sich hierauf bezieht, beiden

Rechtsgebieten, während andererseits die Hervorhebung der wichtigeren Verschiedenheiten, wenn sie nicht durch überwucherndes Detail

χ

Vorwort.

die Uebersicht stört, nicht selten ein helleres Licht auf die Bestimmungen des einen wie des anderen Gesetzes fallen lässt. Dies bezeichnet die Grenzen, innerhalb welcher hier das österreichische Strafprozessrecht Berücksichtigung finden sollte, und ich glaube, dass ich sie nicht überschritten habe. W i e n , am 19. März 1883.

Glaser.

Inhaltsverzeiclmiss. Erstes Buch. Die Grundform des Strafprozesses und das Strafprozessrecht. Erste Abtheilung. Die Grundform des Strafprozesses. Seite

Erstes Kapitel. § § § § §

1. 2. 3. 4. 5.

Der Strafprozess und die seine Gestaltung bestimmenden Elemente Prozesstheorie und Prozessrecht Eigenart des juristischen Prozesses Eigenart des Strafprozesses Anklage- und Untersuchungsverfahren Sonstige Elemente, welche die Gestaltung des Strafprozesses bedingen

Zweites Kapitel. § 6. § 7. § 8. § 9. § 10. § 11.

Die geschichtliche Entwickelung der Grundform des Strafprozesses

Das altdeutsche Strafverfahren Der römische Strafprozess Der Strafprozess cles kanonischen Rechts Die Carolina Der gemeine deutsche Inquisitionsprozess Die österreichische Particulargesetzgebung über Strafprozess während der Epoche des gemeinen deutschen Inquisitionsprozesses § 12. Die Codificationen zu Beginn des 19. Jahrhunderts . . . § 13. Notwendigkeit und Richtung der Reformbestrebungen bis 1848

3—49 3—5 6—11 11—18 18—41 41—49 49—187 49—59 59—68 69—78 78—91 91—106

106—120 120—125 125—130

Inhaltsverzeichniss. Seite

§ 14. Das englische Recht § 15. Der französische Strafprozess § 16. Die Reformbewegung Drittes Kapitel.

§ 17. § 18. § § § § § §

19. 20. 21. 22. 23. 24.

§ 25.

Die Entstehung der Strafprozessordnungen Deutschlands und Oesterreichs und die Lösung der Principienfragen in denselben . . Entstehungsgeschichte der deutschen Strafprozessordnung Entstehungsgeschichte der österreichischen Strafprozessordnung Hauptergebniss der geschichtlichen Entwickelung . . . Das Princip der Staats-Anklage Privat-Anklage Stellung der Parteien Mündlichkeit und Oeffentlichkeit Mitwirkung von Laien bei der Entscheidung der Strafprozesse Gliederung des Verfahrens

131—145 145—162 162—187

188—275 188—197 197—208 208—214 214—233 233—237 237—246 246-259 259—266 266—275

Zweite Abtheilung. Das Strafprozessrecht und seine Quellen. Erstes Kapitel. § 26.

Stellung des Strafprozesses im Rechtssystem .

Stellung des Strafprozesses im Rechtssystem

Zweites Kapitel.

276—295 276—295

Die Quellen des Strafprozessrechts und ihre Behandlung

296—327

§ 27. Die Quellen des Strafprozessrechts § 28. Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts . . . § 29. Auslegung und Anwendung der Rechtsquellen . . . .

296—300 300—314 314—327

Drittes Kapitel.

Der literarische Apparat der Strafprozesswissenschaft § 30. Literatur des neuesten deutschen und österreichischen Strafprozesses § 31. Hilfswissenschaften

327—336 327—332 332-336

Inhaltsverzeichniss.

XIII

Zweites Buch. Der Stoff des Strafprozesses als Gegenstand ^tatsächlicher Feststellung: der Beweis.

Erste Abtheilung. Beweis und Beweisverfahren überhaupt. Seite

Erstes Kapitel. Allgemeine Beweislehre 339—373 § 32. Subjective Ueberzeugung 339—343 § 33. Beweis 344—346 § 34. Gegensatz der freien Ueberzeugung und der gesetzlichen Beweistheorie 346—350 § 35. Das Beweisrecht des heutigen Strafprozesses 350—358 § 36. Beweisgegenstand und Beweislast 358—365 § 37. \^erschiedenlieit der Beweismittel und Beweisarten . . . 366—373 Zweites Kapitel.

Beweisverfahren

§ § § §

38. Grundsätze für die Beweisführung 39. Beweisverfahren ausser der Hauptverhandlung . . . . 40. Sammlung des Beweismaterials für die Hauptverhandlung 41. Verfügung über das Beweismaterial in der Hauptverhandlung § 42. Gegenseitige Beziehungen der Parteien und des Gerichts bei der Bestimmung des Beweismaterials. A. Frist für Beweis und Gegenbeweis § 43. Fortsetzung: B. Gemeinsamkeit der Beweismittel und Verzicht § 44. Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung

373—457 373—375 375—382 382—395 395—414

414—4Î5 425-429 430—457

Zweite Abtheilung. Die einzelnen Beweise und ihre Aufnahme. Erstes Kapitel. § § § § § § §

45. 46. 47. 48. 49. 50. 51.

Der Zeugenbeweis

Begriffliche Abgrenzung des Zeugenbeweises Ausschliessung vom Zeugniss Die Zeugnisspflicht Befreiung von der Zeugenaussage Befreiung von der Aussage über bestimmte Gegenstände Entgegennahme und Ablegung des Zeugnisses . . . . Die Beeidigung der Zeugenaussage

458—598 458—464 465—483 483—499 499—516 516—538 538—556 556—598

I n h a l t s v e r z e i c h n i s s . Seite

Zweites Kapitel. Die Aussage des Beschuldigten § 52. Die Aussage des Beschuldigten § 53. Die Entgegennahme der Aussage des Beschuldigten . . Drittes Kapitel. § § § § § § §

54. 55. 56. 57. 58. 59. 60.

Sachliche Beweismittel und persönliche Termi ttelung ihrer Benutzung Sachliche Be\veismittel Augenschein Sachverständige Die Berufung der Sachverständigen ». Die Beeidigung der Sachverständigen Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel . Die Aussage der Sachverständigen

599—647 599—622 622—647

Viertes Kapitel.

Indicien

§ 61. Indicien Alphabetisches Sachregister

647—736 647—654 654-670 670-689 689—704 704—711 711—727 728—736 736—747 736—747 749—756

Erläuterung der Abkürzungen.

A AA

= =

ANF = Anm = Ann = AY

=

Β Bern Ber BGBl

= = === =

Archiv. Altes Archiv des Criminal rechts. Halle 1799-1807. Archiv des Criminal rechts. Neue Folge. 1884—1857. Anmerkung. Annalen des Reichsgerichts, hrsg. von Braun und Blum. Ausführungsverordnung. Band. Bemerkung. Bericht. Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes.

CA = CCC = C. d'I. = CGO = CH = CHE = CO = CPO =

Archiv für civilistische Praxis. Constitutio criminalis Carolina. Code d'instruction criminelle. Criminalgerichtsordnung. Cassati onshof. Cassationshof-Erkenntniss. Criminalordnung. Civilprozessordnung.

d.

deutsch.

E

=

= Erkenntniss bei Gerichtshöfen. = Entwurf bei Gesetzesstellen. EG = Einführungsgesetz. EGYG = Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz. Entsch = Entscheidungen des Reichsgerichts (in Strafsachen), hrsg. von den Mitgliedern des Gerichtshofes. Entsch. = Entscheidung. Entw = Entwurf. Erk. = Erkenntniss.

EStGB =

Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch. EStPO = Einfülirungsgesetz zur Strafprozessordnung. G = Gesetz GA = Goltdammers Archiv. Ges = Gesetz. GewO = Gewerbeordnung. Grünhut = Zeitschrift für das Privat-und öffentliche Recht der Gegenwart, hrsg. von Grünhut. GS = Der Gerichtssaal. Zeitschrift für Strafrecht, Strafprozess u. s. w. GV = Gerichtsverfassung. GVG = Gerichtsverfassungsgesetz. GZ = Gerichtszeitung. Holtzendorffs Encyklopädie HEnc = der Rechtswissenschaft. HH = Holtzendorffs Handbuch des Strafprozesses. HH d. StR=Holtzendorffs Handbuch des Strafrechts. HRLex = Holtzendorffs Rechtslexikon. J = Jahrbuch. JMB1 = Justizministerialblatt. JMR =s Justizmini sterialrescript. JMV = Justizministerialverordnung. KrÜ = Kritische Ueberschau der deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung. KrV == Kritische Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung u. s. w. hrsg. von Pözl. 1 = lex. 1. lib. = liber etc.

XVI

Mag = Mot = n. = NA =

Abkürzungen.

Magazin. Motive, nota etc. Neues Archiv des Criminalrechts. 1817—1838. NF = Neue Folge. Nr = Nummer. Ο = Ordnung, ö. = österreichisch. OAG = Oberappellationsgericht. ORspr = Oppenhoff, Die Rechtsprechung des Obertribunals in Strafsachen. OTr = Obertribunal, ρ = pagina. Ρ = Prozess, p. = pars etc. PGO = Peinliche Gerichtsordnung. Prot = Protokolle. RAO = Rechtsanwaltsordnung. RG = Reichsgericht. RGBl = Reichsgesetzblatt. RGE = Reichsgerichtserkenntniss. Rspr = Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichts in Strafsachen, hrsg. von den Mitgliedern der Reichsanwaltschaft. RtC = Reichstagscommission. S = Seite. S. s. == Siehe.

StG StGB

StP StPO

StR StPR StRZ

= =

Strafgesetz. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, vom 26. Februar 1876. = Strafprozess. = Strafprozessordnung; insbesondere = deutsche Strafprozessordnung vom 1. Februar 1877. = Strafrecht. = Strafprozessrecht. =• Allgemeine deutsche Strafreclitszeitung, herausg. von v. Holtzendorff.

V = Verordnung. V. v. = vide. V d. deutsch. JT = Verhandlungen des deutschen Juristentags. WRLex =

Weiskes Rechtslexikon.

Ζ = Z. = Ζ f. RG =

Zeitschrift. Zeile. Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Ζ f. DR = Zeitschrift für deutsches Recht. Ζ f. StRW = Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft. Ζ f. vgl. RW = Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft.

Sonstige Abkürzungen bei Citatens Commentare zu der deutschen oder österreichischen Strafprozessordnung werden durch einfache Nennung des Namens des Verfassers angeführt, der von Β ο m h a r d und K o l l e r blos mit Β ο m h a r d. — Geyer § . . verweist auf G e y e r s Lehrbuch des gemeinen Strafprozessrechts. Leipzig 1880. — U l i m a n n § . . auf U l i m a n n , Lehrbuch des österreichischen Strafprozessrechts. 2. Aufl. Innsbruck 1882. — D o c h o w = D o c h o w , Der Reichsstrafprozess. 3. Aufl. Berlin und Leipzig 1880.

Erstes Buch. Die Grundform des Strafprozesses und das Strafprozessrecht.

Binding. Handbuch.

IX. 4. I : G i a ? e r , Strafprozess.

I.

1

Erste Abtheilung. Die Grundform des Strafprozesses. Erstes Kapitel. Der Strafprozess

und die seine Gestaltung bestimmenden Elemente.

§ 1. P r o z e s s t h e o r i e u n d

Prozessrecht.

Prozess im juristischen Sinne ist der Vorgang, vermöge dessen in einem einzelnen Falle durch Herbeiführung und Vollzug eines richterlichen Spruches der der Rechtsnorm entsprechende Zustand hergestellt wird. In jedem Prozess ist also die doppelte Aufgabe zu lösen: das thatsächliche des Falles klar zu stellen und dessen Uebereinstimniung mit den Voraussetzungen einer bestimmten Rechtsnorm ausser Zweifel zu stellen. Letzteres ist seiner Natur nach ein speciell juristisches Geschäft; ersteres dagegen bedeutet eine Aufgabe, wie sie nicht blos für den oben bezeichneten Zweck zu lösen ist, sondern an jeden Menschen als Voraussetzung jeder erfolgreichen Wirksamkeit auf was immer für einem Gebiete herantritt, und welche insbesondere allen empirischen Wissenschaften, welche alle auf richtige Erkenntniss thatsächlicher Verhältnisse und Zustände hinarbeiten, gestellt ist. Eben darum scheint es auf den ersten Blick unzulässig, dass die hierauf abzielende Thätigkeit innerhall) des Prozesses von anderen Regeln abhängig sei als ausserhalb desselben. Der Zweck ist der gleiche und wenn anderswo dafür kein anderes Gesetz aufgestellt werden kann, als welches sich aus der Betrachtung des Zweckes und der zur Erreichung desselben geeigneten Mittel ergiebt, nämlich das Walten der freien Forschung desjenigen, der die Erkenntniss sucht, geleitet und beherrscht von den Regeln des Denkens, so muss es fraglich sein, ob es sich 1*

4

£ 1.

Prozesstheorie und Prozessrecht.

rechtfertigen lässt, innerhalb des juristischen Prozesses einen) andern Gesetz neben diesem allgemeinen Geltung zuzuerkennen. Allein auf allen anderen Gebieten handelt es sich um das eigene Interesse des Forschers; nicht davon, dass er dies oder jenes als wahr ansehe, sondern (lass er die Wahrheit richtig erkenne, hängt es ab; darauf allein kann es ihm ankommen; er kann durch W ü n s c h e nicht irregeführt, nur angetrieben werden, alles aufzubieten, Irrthünier zu vermeiden ; er kann und muss oft seine Forschung den zur Verfügung stehenden Mitteln anpassen, in der Regel die Entscheidung unterlassen oder aufschieben, wenn ihm die Erkenntniss der Wahrheit nicht gesichert ist. oder er wird, wenn er durch seine Verhältnisse dazu genöthigt ist, mit dem Bewusstsein der Ungewissheit des Ergebnisses der bisherigen Forschung und der darauf gebauten tatsächlichen Annahme handeln dürfen. Wissenschaftliche Forschungen können in dei· Regel zu jeder beliebigen Zeit unternommen und erneuert werden. Im juristischen Prozess dagegen handelt es sich nicht blos um die Lösung von Zweifeln über Thatsaehen, sondern um widersprechende Behauptungen, an welche einander widersprechende Interessen beteiligter Personen geknüpft sind, Personen, welche durch dieses ihr Interesse dazu angetrieben werden, zu wünschen, dass gerade d e r Sachverhalt, welcher ihren Interessen entspricht, als der wahre anerkannt werde, und welche daher auch nichts unterlassen, was geeignet ist, ihn als wahr erscheinen zu lassen, gleichviel ob er wahr sei oder nicht, und welche sich nicht dabei beruhigen, dass die Frage unentschieden bleibt, vielmehr auf eine Entscheidung drängen, die auch gewöhnlich nur im gegebenen Zeitpunkt mit Aussicht auf Erfolg angebahnt werden kann. Es handelt sich ferner um eine Feststellung von Thatsaehen. welche nicht blos demjenigen genügt, welcher glaubt, sich die volle Ueberzeugung davon verschafft zu haben, sondern welche auch andere, davon berührte als wahr gelten lassen sollen. Es handelt sich um ein Mittel zur \ 7 erwirklichung des Rechts, dessen Natur fordert, dass es unabhängig von Willkür und Zufall zur Geltung gelange. Es handelt sich um das Zusammenwirken in verschiedener Weise an der Sache beteiligter Personen, das ein zweckentsprechendes nur sein kann, wenn es ein geordnetes ist und zwar ein rechtlich geordnetes. Hieraus ergiebt sich eine eigentümliche Wechselwirkung zwischen Zweck und Mittel, zwischen Wahrheit und Recht. Zweckmässigkeit und Rechtmässigkeit. Das Recht ist liier Zweck und Mittel zugleich. Die Erforschung und Erkenntniss der Wahrheit ist Mittel für die Verwirklichung des Rechtes; was erstere fördert oder schädigt, fördert oder schädigt auch letztere; aber selbst auf die Gefahr hin. dass die

§ 1.

Prozosstheorio und Prozessrecht.

5

Erkenntniss der Wahrheit darunter leiden könnte, kann der Forschung hier nicht einlach freier Lauf gelassen, muss sie rechtlicher Regelung unterstellt werden, welche zwar nur darauf abzielt, den Zweck sicherer zu erreichen, aber doch auf selbständige und unbedingte Geltung Anspruch machen muss und so unter Umständen einen Conflict zwischen dem, was tatsächlich ist und was als rechtlich festgestellt angesehen werden darf, hervorrufen kann. Die Gestaltung des juristischen Prozesses hängt also ab einerseits von der aus der Betrachtung des Zweckes und der zu dessen Erreichung dienenden Mittel sich ergebenden P r o z e s s t h e o r i e und von der rechtlichen Ordnung der auf die Erreichung des Prozesszweckes abzielenden Thätigkeit, dem P r o z e s s r e c h t . Das positive Prozessrecht ist aber selbst das Ergebniss der Anschauungen über den zweckentsprechendsten Vorgang, deren Folgerungen wieder modifient werden durch die mit der Aufstellung von Rechtsregeln unvermeidlich verbundene G e n e r a l i s i r u n g , welche an und für sich mit der durch das Gesetz der Zweckmässigkeit geforderten I n d i v i d u a l i si r u n g ili Widerstreit geraten muss. Dieser Widerstreit kann nur gelöst werden durch die Beschränkung der Rechtsnormen auf das unbedingt n o t wendige. Aber eben dämm fällt das Gebiet, das sie offen lassen, nicht wTie sonst unter die Herrschaft des persönlichen Beliebens, sondern wieder unter das Gesetz der Zweckmässigkeit und somit unter die Prozesstheorie : das Verhalten im einzelnen Falle hat sich zunächst nach der Rechtsnorm, und AVO diese schweigt, nach den Anforderungen der Prozesstheorie zu richten. Diese beherrscht also zunächst die durch das Prozessrecht sanetionirte Grundform und übt entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der Prozessnornien ; aber allerdings ist dieser Einfluss materiell nicht allein entscheidend und formell muss er für die individuelle Beurteilung hinter der ihm entsprungenen Rechtsnorm zurückweichen; er beherrscht aber andererseits wieder das Gebiet, welches die Rechtsnorm der individuellen Beurteilung frei lässt. Wenn gesagt wurde, dass für die Gestaltung der Prozessnornien die Erkenntniss der Zweckmässigkeit nicht allein entscheidend ist, so hat dies seinen Grund darin, dass das Prozessrecht nicht isolili: bleiben kann, sondern einzufügen ist in das gesanimte Recht des Landes und insbesondere in dessen Staatsrecht. Daraus ergiebt sich, dass für die Gestaltung des Prozessrechtes maassgebend sind: einerseits die Betrachtung der dem Prozess gestellten Aufgabe und der geeignetsten Mittel zu deren Lösung, andererseits die aus anderen rechtlichen Beziehungen und namentlich aus staatsrechtlichen Monienten sich ergebenden Beschränkungen.

6 § 2.

Eigenart

des j u r i s t i s c h e n

Prozesses.

Wo immer der Mensch darauf ausgeht, die Wahrheit in Bezug auf äusserliche Dinge zu erfahren, findet er eine doppelte Aufgabe vor sich. E r muss zunächst s u c h e n , n a c h s u c h e n , u η t e r s u c h e n , sich bemühen, alle Thatsaehen kennen zu lernen, welche geeignet sind, über die zu erforschende Thatsache Aufklärung zu verschaffen; der nächste Schritt ist dann die Sichtung der so gefundenen Aufklärungsinittel, die Prüfung und Vergleiehung der aus ihnen sich ergebenden Folgerungen und die Feststellung eines abzuleitenden Gesanimturtheils. F o r s c h u n g und P r ü f u n g , U n t e r s u c h u n g und B e u r t h e i l u n g , A n a l y s e und S y n t h e s e sind die zwei zu lösenden Aufgaben. Doch ist ihre Auseinanderhaltung nur eine logische; tatsächlich stehen sie in solcher Wechselwirkung, dass sie sich gegenseitig bedingen und durchdringen, und dass eine zeitliche Trennung derselben schwer, ihre V e r t e i l u n g auf zwei Personen nicht oline Gefährdung des Zweckes stattfinden kann. Denn die erste Bedingung der Erreichung dieses Zweckes ist die V o l l s t ä n d i g k e i t der Grundlagen des U r t e i l s . Dazu ist erforderlich, dass die Nachforschung mit Einsicht und Eifer geführt wird, dass der Untersuchende in ungehemmter Freiheit überall und so lange forscht, wo und so lange eine Aufklärung zu erwarten ist, aber auch dass diese ganze Thätigkeit und ihr Ergebniss planmässig zusammengefasst, in seiner Person concentrili wird. Wenngleich die B e u r t h e i l u n g erst auf Grund der gesammelten Materialien stattfinden kann, so kann sie doch nicht ganz bis dahin aufgeschoben wrerden, AVO die Sammlung abgeschlossen ist, Aveil die F o r s c h u n g die Anforderungen der Beurtheilung voraussehen und im voraus zu befriedigen suchen muss. Andererseits aber droht der Vollständigkeit der Untersuchung, der Richtigkeit der Prüfung gleichniässig Gefahr, Avenn dem Endurtheil vorgegriffen Avird, Avenu auf die Untersuchung eine vorgefasste Meinung, ein V o r u r t l i | e i l Einfluss übt, Werth und Verlässlichkeit des Ergebnisses solcher Wahrheitserforschung ist daher in erster Linie abhängig von der Unbefangenheit, dem Eifer und der Tüchtigkeit des Nachforschenden. Nicht minder wichtig ist aber auch der Umfang der ihm für diese Forschung zur Verfügung stehenden Mittel und die Fernhaltung jeder Störung durch diejenigen, welche Interesse daran haben können, dass die Wahrheit nicht erkannt Averde. Das Ergebniss ist also abhängig von der P e r s o n des F o r s c h e r s und den U m s t ä n d e n d e r F o r s c h u n g . Eben darum hat das Ergebniss solcher Forschungen auch nur i n d i v i d u e l l e Geltung und Bedeutung. Andere Averden es für sich

§ 2.

Eigenart des juristischen Prozesses.

als »massgebend nur betrachten, wenn sie z u m m i n d e s t e n die sänimtlichen Materialien, die dem ersten Forscher zur Verfügung standen, einer selbständigen Prüfung unterziehen können; allein da der Werth der letzteren von der Verlässlichkeit der Grundlagen abhängt, wird man in der Regel selbst die Nachforschung wiederholen wollen, oder sich doch erst dann beruhigen, wenn dieselbe Operation von mehreren vorgenommen ist, wenn die Ergebnisse ihrer Thätigkeit mit einander verglichen werden können und wenn bei sich ergebenden Zweifeln über das Endresultat das F ü r und das W i d e r vollständig und in aller Freiheit vorgebracht ist und übersehen wird — eine Erörterung, die sich immer wieder erneuern kann. Freie F o r s c h u n g , C o n c e n t r i r u n g ihrer Ergebnisse in derselben Person und u n b e f a n g e n e , a l l s e i t i g e Erörterung derselben sind also die Bedingungen der sicheren Erkenntniss der Wahrheit auf dem Gebiet der Wissenschaften und des Alltagslebens. Gleichgültigkeit gegen den Erfolg der Untersuchung, ein lebhafter Wunsch oder eine vorgefasste Meinung zu Gunsten eines bestimmten Ausganges derselben sind daher Klippen, an denen die Untersuchung und Beurtheilung gleichmässig scheitern kann. Nur Eifer kann die Anspannung aller Kräfte, insbesondere auch die der Phantasie, bewirken, welche allein dafür Gewähr bietet, dass nichts erhebliches übersehen wird; b l i n d e r Eifer, Voreingenommenheit, bewirkt, dass nur, Avas für, nicht was gegen die gewünschte oder erwartete Lösung spricht, gefunden oder doch beachtet wird. Eifrige allseitige Nachforschung und Zurückhaltung mit der Bildung der eigenen Meinung, bis eine kühle objective Sichtung und Beurtheilung der gefundenen Materialien möglich ist, diesen entgegengesetzten Anforderungen muss der Forscher entsprechen ; dies allein rechtfertigt die Erw artung, dass er die Wahrheit erkennen werde. Die Corrective gegen die nicht immer venneidlichen i n d i v i d u e l l e n Mängel und Fehler liegt darin, dass niemand das Ergebniss fremder Forschung sich aneignen muss, dass man letztere in der Regel beliebig wiederholen kann, dass die Ergebnisse wiederholter Forschung der Vergleichung und vielseitiger Prüfung unterworfen werden können. Der juristische Prozess kann aber nach seiner oben dargelegten Natur diese Bürgschaften für die Richtigkeit seiner Ergebnisse theils nicht bieten, theils nicht sich damit begnügen. Sein Ausgangspunkt ist ein Widerstreit von Interessen und von betheiligten Personen, seine Aufgabe die Herstellung des der Wahrheit und dem Rechte entsprechenden Zustandes durch einen R i c h t e r ß p r u c h , d. i. durch den Ausspruch eines von den Betheiligten verschiedenen, unbefangenen

8

§ 2.

Eigenart des juristischen Prozesses.

D r i t t e n , einen Ausspruch, der nicht unterbleiben und nicht verschoben werden kann.

Sichert Mangel an persönlichem Interesse, die wesent-

liche Voraussetzung seines Einschreitens, den Richter davor, leichthin etwas als wahr anzunehmen,

weil es diesem Interesse

entspricht, so

entzieht er seinem W i r k e n auch jene Gewähr eifrigen Forschens, welche sonst das

den

Sinn

schärfende

Interesse

bietet,'

k a n n die hier stets zu fürchtende beirrende

Aber

andererseits

Einwirkung beteiligter

Personen nicht v ö l l i g ausgeschlossen werden,

u n d es bleibt also n u r

ü b r i g ein Gegengewicht

Alles dies drängt

dagegen zu suchen.

den

juristischen Prozess, den E r f o l g sich dadurch zu sichern, dass er jene oben hervorgehobene Doppelaufgabe der U n t e r s u c h u n g fung,

der A n a l y s e und S y n t h e s e

und P r ü -

schärfer s o n d e r t 1 : dies macht

1 Noch ein anderer Gegensatz macht sich dabei bemerkbar; die U n t e r s u c h u n g verlangt ungestörte Vertiefung in den Gegenstand, individuelle Thätigkeit; die Beurtheilung kann an Sicherheit nur gewinnen, wenn die für und wider ein bestimmtes Urtheil sprechenden Gründe nicht blos im Kopfe eines Menschen gegen einander abgewogen, sondern durch wirkliche Vertreter der beiden Behauptungen in belebter E r ö r t e r u n g geltend gemacht werden. Diese Gegnerschaft, die anderswo vom Zufall abhängig ist, gehört zum Wesen des juristischen Prozesses ; und sie gestattet es, dass sich zwischen U n t e r s u c h u n g und U r t h e i l ein drittes einschiebt: die offene Erörterung, die D i s c u s s i o n . Vgl. hiemit die Ausführung von P e s s i n a , Elementi di procedura penale. Napoli 1876, ρ 3. 4: „La logica ci presenta, in quanto a' fatti che avvengono, tre possibili stati del nostro animo. S'ignora, infatti, dapprima un fenomeno, si rivela poscia, indi si crede alla sua rivelazione, oppure no. Questo terzo momento ci dà la convinzione, che importa combattimento tra due opinioni contrarie e vittoria dell' una siili' altra. Questa si può dire la forma elementare del giudizio penale . . . . Perchè la società si convinca, la tesi passa ad esame, esame che tutto si aggira nel mettersi innanzi la tesi, la quale combatte la sua negazione, che è anche tesi alla sua volta. L'una delle due però dev' essere vera e presentarsi al pensiero sociale, come ferma convinzione, convinzione che non è mica possibile, se una tesi non vinca l'altra nella lotta, se non nasca lo stato di certezza, eh'è appunto il cons c i r e s i b i . Ma non sempre nella vita umana ci si presenta l'indicazione affermativa intorno ad un fenomeno, che anzi talvolta ci si presenta un problema, il quale abbisogna dell' accertamento di taluni dati ignoti per risolversi. Avviene un' uccisione, di cui s'ignora l'autore; ebbene è necessario si vada in cerca di questi. Or quando si ha innanzi l'ignoto, non v'è questione d'esame, è il momento dell' indagare, del cercare, dell' i n q u i r e r e, che diventa tanto più necessario, per quanto ben si conosce, che senza ricerca alcuna non puossi riaffermare quel diritto, che il colpevole ha violato. Sicché si hanno due forme di conoscere ; sapere una uccisione e non sapere q u i s a u c t ο r s i t , ed esaminare ciò ch'è noto. Questi due momenti hanno la loro distinzione ed hanno anche un lato comune, perchè ogni disamina è un indagine ed ogni indagine è una disamina . . . . Qui i due momenti prendono nome concreto, i n q u i s ì t i o e dibattimento. Né ciò è tutto. Noi abbiamo detto, ο per l'una ο per l'altra via, bisogna pervenire ad un risultato; ebbene per giungere a

§ 2.

Eigenart des juristischen Prozesses.

es möglich, dass den Betheiligten die volle Freiheit gelassen wird, die Mittel zur Aufklärung des Sachverhaltes selbst aufzusuchen und durch das Ergebniss derselben auf den unbefangenen Dritten, den Richter, zu wirken; der von eigenem Interesse angefachte Eifer des einzelnen und die daraus hervorgehende Thätigkeit desselben findet so das Gegengewicht in der gleichen Einwirkung des Trägers des entgegengesetzten Interesses und in dem unbefangenen Urtheil desjenigen, auf welchen von diesen entgegengesetzten Standpunkten aus eingewirkt wird. So macht der juristische Prozess den durch das ParteiInteresse eingeflössten Eifer (den gefährlichsten Feind der Wahrheit) ihrer Entdeckung dienstbar, indem er die in jenem liegende Gefährdung durch die entsprechende Gegenwirkung bekämpft; er erwartet die Enthüllung der Wahrheit von der u η g e li e 1111111 en, a b e r g l e i c li b e r e c h t i g t e n E i n w i r k u n g d e r B e t h e i l i g t e n (der P a r t e i e n ) auf den dieser E i n w i r k u n g v o r u r t h e i l s l o s sich h i n g e b e n d e n u n d i h r E r g e b n i s s u n b e f a n g e n p r ü f e n d e n Dritten, den R i c h t e r . Hieraus ergiebt sich eine Reihe wichtiger Folgerungen: 1. Es bedarf fester Grundsätze, welche darüber entscheiden, wer in einem bestimmten Falle berufen ist, als R i c h t e r zu wirken und wer die Ρ a r t ei S t e l l u n g einzunehmen hat. 2. Eben darum und damit eine vollständige gegenseitige Verständigung möglich sei, muss der G e g e n s t a n d der Entscheidung genau abgegrenzt sein. Diese Abgrenzung ist natürlich nicht Sache desjenigen, der die Entscheidung fällen soll, sondern desjenigen, der sie begehrt: die I n i t i a t i v e gebührt den Parteien, und sie können durch den Rücktritt dem durch ihre Initiative begonnenen Prozess jederzeit ein Ende machen (ne ultra petitum). 3. Damit es möglich sei, dass jede Partei alles vorbringe, Avas ihr Interesse fördern kann, alles bekämpfe, was gegen dasselbe spricht, muss jeder Tlieil von allem, Avas im Prozesse vorgeht, genaue Kenntniss haben ( P a r t e i e n ö f f e n t l i c h k e i t ) , muss diese Kenntniss sofort und jedenfalls zu einer Zeit und unter Umständen erlangen, wo ihm Gelegenheit gegeben ist, den Einwirkungen des Gegners entgegenzutreten (Forderung des gleiehmässigen rechtlichen Gehörs, audiatur et altera pars). questo risultato è uopo d'una qualche cosa che accetti la rivelazione. E questo q u a l c h e cosa, questo q u i d che ancora è a noi sconosciuto, è appunto quello che i Latini chiamavano p r o b a t i o , document-urn, j u d i c i u m etc. Questa prova può essere ignota ed allora è mestieri cercarla; q u a e r e r e p r o b a t ione in ; può essere nota ed allora riesce necessario esaminarla, p r ο b a t i ο η i s d i s p u t a t i o i ; .

10

§ 2.

Eigenart des juristischen Prozesses.

4. Dazu gehört auch ein äusserlich geordnetes Aufeinanderwirken der Parteien und des Richters; es muss für jeden Schritt Z e i t , O r t und A r t des A u f t r e t e n s so bestimmt· sein, dass der, der ihn thut, sicher ist, er entspreche den berechtigten Anforderungen der anderen, und umgekehrt, dass letztere bei ihrer Thätigkeit auf die Einhaltung dieser F o r m e n rechnen können (Notwendigkeit rechtlich geschützter Formen). 5. Eben daraus folgt, dass der Richter seinen Ausspruch nur auf dasjenige gründen darf, Avas ihm auf die angegebene Weise durch die Parteien vorgelegt wird; jeder Versuch, darüber hinaus zu gehen, setzt ihn der Gefahr aus, die durch die Initiative gezogene Grenze zu überschreiten, die eine Partei vor der anderen durch Berücksichtigung von Gründen zu beeinträchtigen, zu deren Bekämpfung jene keine ausreichende Gelegenheit hatte, und selbst die Unbefangenheit des Urtheils zu verlieren, welche die notwendigste Bedingung richterlicher Wirksamkeit ist und die nicht einmal in Frage gestellt sein darf, wenn der Prozess seinem Zweck entsprechen soll. 6. Es ist ferner noth wendig, dass die Parteien möglichst genau wissen, von welchen Grundsätzen der Richter bei der Beurtheilung desjenigen sich leiten lässt, was sie ihm vorlegen, was er als geeignet erkennen wird, seine Ueberzeugung zu bestimmen; und daraus erwächst das Bedürfniss nach möglichst genauen B e w e i s r e g e l n . 7. Haben die Parteien alles getti an, was sie nach den Prozessregeln thun müssen, um eine Entscheidung herbeizuführen, so haben sie ein Recht darauf, dass diese auf der im Prozess gegebenen Grundlage ergehe und ihr Recht jeder weiteren Anfechtung oder Bozweifelung entrücke ( P r i n c i p d e r R e c h t s k r a f t ) . 8. Aus all dem folgt, dass die richterliche Entscheidung nicht blos eine n a t ü r l i c h e , sondern auch eine k ü n s t l i c h e Grundlage hat, dass die Nichteinhaltung der Formen, die Nichtbenutzung der Beweise, die Unfähigkeit einer Partei, sie herbeizuschaffen, die allzuweite oder allzuenge Fassung einer Beweisregel, die Notwendigkeit, die Entscheidung zu einer gegebenen Zeit zu fällen, dahin führen können, dass trotz aller Pflichttreue und Befähigung des Richters sein Ausspruch nicht der Wahrheit und dem Rechte entspricht (möglicher Gegensatz der materiellen und der formellen Wahrheit, des materiellen und formellen Rechtes). Diese Grundsätze charakterisiren den juristischen Prozess in seiner Eigenart ; das ihnen zu Grunde liegende Princip contradictorischer Verhandlung wird als V e r h a η d l u n g s m a χ i m e bezeichnet. Dieselbe gelangt zu uneingeschränkter Geltung, wenn es sich um die Herbeiführung einer Entscheidung über Privatrechte, um die Anwen-

§

.

Eigenart des

trozesses.

düngen von Privatrechtsnornien auf einen bestimmten Fall, um den C i ν i 1 ρ r ο ζ e s s handelt. § 3.

Eigenart

des

Strafprozesses.

I. Ks ist nunmehr zu untersuchen, ob der juristische Prozess in dem eben dargestellten Sinne auch dann zur Geltung kommen kann und muss, wenn es sich um den S t r a f p r o z e s s d. i. um den Vorgang handelt, vermöge dessen in einem einzelnen Falle durch Herbeiführung und Vollzug eines richterlichen Spruches dei· einer S t r a f r e c h t s η o r n i entsprechende Zustand hergestellt wird. Die dem Strafprozess gestellte Aufgabe ist bedingt durch die Eigenart des Strafrechtes und durch die Natur und den Zweck des Strafrechtes. Ist auch letzteres nicht Gegenstand der gegenwärtigen Untersuchung und ist es eben so wenig möglich, hier eine eingehende Begründung der Auffassung des Verfassers zu geben, als gehofft werden kann, auf diesem bestrittensten Gebiete neues oder anders denkende überzeugendes zu sagen, so kann doch nicht unterlassen werden, eine möglichst nüchterne und auf möglichste Vermeidung von Controversen abzielende Darstellung der Grundanschauung des Verfassers hier vorauszuschicken. — Das Unrecht, als die mit dein Hecht im Gegensatz stehende Tliatsache, erscheint gewöhnlich blos als Störung eines einzelnen Rechtsverhältnisses und wird in diesem Falle gänzlich dadurch beseitigt 1. dass das blosse Vorhandensein einer entgegengesetzten Norm die Tliatsache gar nicht zur Geltung gelangen lässt, schon an sich die von ihr drohende Störung eines Rechtsverhältnisses verhindert oder aufhellt (Ungiltigerklärung) ; 2. dass durch Anwendung von Gewalt jener Zustand hergestellt wird, welcher vorhanden wäre, wäre überhaupt kein Unrecht begangen worden. So lange das Unrecht in dieser Sphäre bleibt, in welcher es sich überhaupt nicht behaupten kann, und deshalb auch zu vermuthen ist, dass die Widerrechtlichkeit der es begründenden Handlung nicht eingesehen wurde (unbefangenes Unrecht, Civilunrecht), berührt die Handlung auch nur denjenigen, dessen Interesse dadurch verletzt wurde. Es ist nun seine Sache, vom Staate die Herstellung des dem Rechte entsprechenden Zustandes zu verlangen, und für den öffentlichen Rechtszustand genügt die allgemeine Ueberzeugung, dass dieselbe auf diese Weise jederzeit erlangt werden kann. Dies ist das Gebiet der C i v i l r e c h t s p f l ege.

12

§ 3.

Eigenart

es Strafprozesses.

Es kann aber eine Handlung einen rechtswidrigen Zustand herstellen, welcher entweder 1. so beschaffen ist, dass er auf den oben bezeichneten Wegen überhaupt nicht oder doch nur unter Voraussetzungen beseitigt werden kann, auf deren Eintritt nicht bestimmt zu rechnen ist, so dass hierdurch die Ueberzeugung von der gesicherten Geltung des Rechtes selbst, die opinio necessitatis, erschüttert wird, oder welcher 2. Grundeinrichtungen tatsächlich verleugnet, auf welchen einflussreiche Rechtsregeln beruhen und deren umsichgreifende Nichtanerkennung die Gemeinsamkeit der Ueberzeugungen (communis consensus), worauf der öffentliche Rechtszustand beruht, in (1er Weise in Frage stellt, dass je öfter sich solche Handlungen hervorwagen und behaupten, desto mehr jene Genieinsamkeit abgeschwächt wird. In solchen Fällen wird die Störung des einzelnen Rechtsverhältnisses zur S t ö r u n g d e r ö f f e n t l i c h e n R e c h t s o r d n u n g , deren Fortwirkung nur durch eine Gegenwirkung verhindert werden kann, welche von der Verkörperung der öffentlichen Rechtsordnung, der Staatsgewalt, ausgehend, gegen den Urheber jener Störung sich kehrend an ihm die Uebermacht der rechtlichen Ordnung und die Unmöglichkeit der Ueberhebung des einzelnen über dieselbe darthut und dadurch die in Frage gestellte psychische Grundlage des Rechtes, die Gemeinsamkeit der Ueberzeugung von dessen unbedingter Geltung, vor Erschütterung bewahrt. Die S t r a f e ist daher der Zwang, welchen die Staatsgewalt kraft ihres Rechts und ihrer Pflicht zur Wahrung der öffentlichen Rechtsordnung gegen einen Menschen anordnet, um der von ihm ausgegangenen Störung der letzteren entgegenzuwirken. II. Hieraus ergiebt sich (abgesehen von denjenigen Folgerungen, welche daraus für die Bedingungen der Strafbarkeit , das Maass der Strafe, die verschiedenen Nebenzwecke, welche mit letzterer in Verbindung gebracht werden können, fiiessen): 1. Das Recht, zu strafen, das subjective Strafrecht (das jus puniendi), ist ein integrirender Theil der Befugnisse, ein R e c h t d e r S t a a t s g e w a l t , dessen Ausübung nicht davon abhängig ist, ob der von der strafbaren Handlung zunächst und unmittelbar in seinem Recht verletzte die Bestrafung des Schuldigen oder die Unterlassung derselben verlangt, — ein Recht, das sie ihrerseits gleich allen anderen ihr zukommenden staatsrechtlichen Befugnissen, die ihr nur um des Staatszweckes und des öffentlichen Wohles willen eingeräumt sind, pflichtmässig auszuüben hat und nicht willkürlich, aus Gunst oder anderen dem Staatszwecke fremden Rücksichten unaus-

§ 3.

Eigenart

es Strafprozesses.

13

geübt lassen darf. Die nähere Abgrenzung der Rechte und Pflichten der Staatsgewalt in dieser Hinsicht ist in erster Linie eine Aufgabe des Staatsrechts und erst in zwreiter, sofern durch positive Einrichtungen die Staatsgewalt dabei unter die Contrôle des zur Entscheidung des einzelnen Prozesses berufenen Richters gestellt ist, des Strafprozesses. 2. Dem Rechte der Staatsgewalt, zu strafen, entspricht die Pflicht des Uebertreters des Strafgesetzes, sich bestrafen zu lassen, die Strafe über sich ergehen zu lassen. Er ist aber weder verpflichtet, die verdiente Strafe selbst herbeizuführen, noch berechtigt, das Strafrecht des Staates statt des letzteren selbst geltend zu machen, die Strafe als sein eigenes Recht zu fordern. So wie ferner das Recht des Staates zur Bestrafung einer bestimmten Person davon abhängig ist, dass diese eine strafbare Handlung wirklich begangen hat, so liegt es auch nicht in der rechtlichen Macht des zu bestrafenden, eine nicht verdiente Strafe durch falsche Selbstbeschuldigung, durch Verzicht auf die Vertheidigung herbeizuführen. Nicht blos enthält ein solcher Vorgang in der Regel einen ethisch unzulässigen Verzicht auf Leben, Ehre, Freiheit, sondern er muss auch möglichst verhindert werden, weil er, wenn auch nicht selbst eine strafbare Handlung, doch fast wrie eine solche die öffentliche Rechtsordnung gefährdet, indem er den Zweck der Strafrechtspflege beeinträchtigt. 3. Dieser Zweck ist nämlich nach vorstehendem die Bekämpfung der psychischen Wirkung des Verbrechens durch die psychische Wirkung, welche das Walten der Strafrechtspflege hervorbringt. Dazu gehört vor allem, dass die materielle Thatsache, welche die Bestrafung enthält, streng die Eigenschaft einer Gegenwirkung gegen eine strafbare Handlung, wie sie nur gegen solche Handlungen sich richtet, bewahre. Dass sie eintritt, wo sie diese Eigenschaft nicht hat, beeinträchtigt ihren Charakter überhaupt: das Verbrechen hat die Strafe zur Folge und die Strafe muss ausschliesslich Folge des Verbrechens sein; die scheinbar gleiche Behandlung eines Nichtstrafbaren beeinträchtigt die Bedeutung und Wirksamkeit der verdienten Strafe. Aber noch mehr: der Zweck der Strafe kann nur erreicht werden, wenn diese unter Umständen eintritt, welche keinen Zweifel darüber lassen, dass sie rechtmässige Anwendung des Rechtes, zu strafen, ist, wenn durch den Richterspruch und die A r t , wie er ergangen ist, der Zusammenhang zwischen Schuld und Strafe verbürgt ist. Das Strafurtheil ist eben darum von grösserer sachlicher Bedeutung, als es in der Regel das Civilurtheil ist. Das letztere ist nur ausnahmsweise declaratorischer Natur, sonst aber nur von Werth als Grundlage und Bedingung der Vollstreckung. Das Strafurtheil ist nicht blos

14

§ 3.

Eigenart

es Strafprozesses.

Voraussetzung der Gegenwirkung gegen das Verbrechen, sondern der bedeutungsvolle Anfang derselben. (Der Rechtsgrund, aus welchem jemand zur Zahlung einer bestimmten Geldsumme, zur Herausgabe eines bestimmten Grundstückes v e r u r t e i l t wird, ist in der Regel beiden Parteien vollkommen gleichgiltig : es ist aber nicht gleichgiltig für den zu bestrafenden und noch weniger für die Staatsgewalt, ob das Urtheil den Grund, wegen dessen jemand eine bestimmte Gefängnissstrafe auferlegt wird, richtig oder unrichtig angiebt.) Durch eine Strafe, welche auch nur zweifelhaft lässt, ob sie verdient sei, durch ein Urtheil, welches eine unverdiente Strafe verhängt oder eine verdiente unter Umständen, die erkennen lassen, es sei nur Sache des Zufalls gewesen, dass es gerade der Schuldige war, den sie traf, wird der Zweck der Strafrechtspflege in höherem Grade geschädigt als durch den Unistand, dass erkennbar wird, es sei in diesem oder jenem Falle der Schuldige der verdienten Strafe entgangen. 4. Daraus folgt zunächst, dass die Staatsgewalt darauf verzichten muss, ihr Strafrecht gleich anderen öffentlich-rechtlichen Befugnissen nach eigenem Ermessen auszuüben, s i c h s e l b s t R e c h t z u n e h m e n . Sie muss vielmehr die Ausübung dieses Rechtes dem Ausspruche der von ihr unabhängig gemachten richterlichen Gewralt anheimstellen und diese in die Lage bringen, zwischen ihr und demjenigen, dessen Bestrafung sie beabsichtigt , eine unparteiische Entscheidung zu fallen. Somit löst sich das Recht, zu strafen, in drei Elemente auf: in das R e c h t der S t r a f v e r f o l g u n g , in das R e c h t d e r s t r a f r i c h t e r l i c h e n E n t s c h e i d u n g und in das R e c h t des S t r a f v o l l z u g e s , drei Rechte, von denen das zwreite der Staatsgewalt nur insofern zustellt, als die richterliche Gewalt einen Tlieil von ihr bildet, während bezüglich der beiden anderen es denkbar ist und tatsächlich geschehen ist, dass sie in grösserem oder geringerem Umfange ebenfalls der richterlichen Gewalt überlassen werden. Ob nun dies geschieht oder nicht, so enthält doch die Anerkennung des Satzes, dass über die Zulässigkeit der Bestrafung stets der Richter entscheiden muss, die Annahme einer Parteistellung seitens des Staates, vermöge welcher er die selbständige Berechtigung des zu bestrafenden, das gleiche Recht desselben anerkennt, und nach aussen hin zum Ausdruck bringt, dass eine Bestrafung nur da stattfinden kann, wo sie in den Formen des juristischen Prozesses als gerechtfertigt erklärt ist. 5. Trotzdem aber fehlt im Strafprozess jenes (objective) G l e i c h g e w i c h t der einander widerstreitenden Interessen, welches die Grundform des Civilprozesses bedingt. Auf der einen Seite steht hier eine physische Person, deren Wohl und Wehe von dem Ausgang dieses

§ 3.

Eigenart (les Strafprozesses.

15

e i n e n Prozesses oft in dem Maasse abhängt, dass derselbe für sie die moralische, ja selbst die physische Vernichtung zur Folge haben kann; schuldig oder nicht schuldig hat sie (abgesehen von ganz ungewöhnlichen Fällen, wie ζ. B. aufopferungsbereiter oder bezahlter Uebernahme der Schuld und Strafe eines anderen, Lebensüberdruss, der diese Form des Selbstmordes wühlt, schlaue Berechnung, die in einer geringeren Verurtheilung Schutz gegen eine härter treffende sucht) ein entschiedenes Interesse, nicht verurteilt, nicht gestraft zu werden. Man muss darauf rechnen, dass sie alles aufbieten werde, der unverdienten Verurtheilung zu entgehen, und man muss ihr die weitestgehenden Befugnisse einräumen, um ihr dies zu ermöglichen, und man kann es ihr kaum verdenken, wenn sie selbst Missbrauch davon macht, wenn sie versucht, durch Verdunkelung der Wahrheit vor unverdienter, ja selbst vor verdienter Strafe sich zu schützen 1 . Auf der andern Seite steht die machtvollste Collectivperson, welche eine im grossen und ganzen ihren Zweck erreichende Strafrechtspflege allerdings als Lebensbedingung erkennen muss, welche aber am einzelnen Fall nur ein vermöge dieser Beziehung des einzelnen zur Gesainintheit begründetes Interesse hat, und in diesem Interesse ebensosehr und mehr noch durch eine unverdiente Bestrafung als durch eine unverdiente Freisprechung-oder durch das Straflosbleiben eines Schuldigen geschädigt würde. Der Angeklagte hat unter allen Umständen das Interesse, freigesprochen zu wTerden ; der Staat hat ein Interesse, ein verurteilendes Erkenntniss zu erlangen, nur unter der Voraussetzung, dass es ein in Wahrheit und Recht begründetes, ein sachlich und formell rechtmässig ergehendes ist. Hieraus entwickelt sich eine g e r e c h t f e r t i g t e Neigung, im Zweifel den Angeklagten zu begünstigen, ein favor defensionis. welcher für die Gestaltung des ganzen Strafprozesses maassgebend 1 S t e p h e n , General view of the criminal law of England. London and Cambridge 1863, ch. Υ ρ 202, sagt: „Der Prozess sollte allerdings eine Nachforschung nach der Wahrheit (an inquiry into the truth) sein; aber man darf nicht voraussetzen, dass der Yertheidiger des Angeklagten die Sache von diesem Gesichtspunkt aus ansehen wird". Er will damit nicht etwa einen Vorwurf erheben; vielmehr sagt er an einer anderen Stelle (ch. Υ ρ 166), wo er die im Kreise der englischen Praktiker anerkannte Auffassung der gegenseitigen Stellung des Vertreters der Anklage und der \~ertheidigung darstellt: „In der Praxis ist allgemein zugegeben, dass der Ankläger die sittliche und die Berufs-Pflicht hat, den Endzweck, die Entdeckung der Wahrheit, stets vor Augen zu haben, während eine solche Pflicht dem Angeklagten und denen, welche ihn vertreten, nicht auferlegt werden kann". Als Beispiel führt er an: der Yertheidiger wird einen vom Angeklagten ihm namhaft gemachten Alibi-Zeugen nicht vorrufen, von dem er hört, dass er die Anwesenheit des Angeklagten in der Nähe vom Thatort eher bestätigen würde.

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3.

Eigenart

es Strafprozesses.

und praktisch von weit grösserer Bedeutung ist, als dasjenige, worauf sonst bei der Vergleichung des Civil- und Strafprozesses das Hauptgewicht gelegt wird, die auf beiden Seiten allerdings bestehende U n z u l ä s s i g k e i t des in der Sachlage nicht begründeten Verzichtes auf den Streitgegenstand, der beliebigen, willkürlichen Verfügung über denselben durch Nichtgeltendniachung der der Wahrheit und dem Recht entsprechenden Ansprüche und Behelfe 2 . Will man aus diesem 2 Die Unzulässigkeit des Verzichtes der Staatsgewalt auf einen Theil der für den schwebenden Strafprozess »massgebenden Thatsaehen ist ganz unabhängig von dem unten näher zu besprechenden Streit über das „Princip der Strafverfolgung" und über den Einfluss des „Officialprincips" auf die Gestaltung des Strafprozesses. In letzterer Hinsicht mag hier nur bemerkt werden, dass man selbst eine unbedingte Pflicht des Staates, in jedem einzelnen Falle, wo Strafe verwirkt ist, die Strafverfolgung auch wirklieh auszuüben, statuiren kann, ohne es darum für nöthig oder auch nur für zulässig zu halten, ihn bezüglich der Erfüllung dieser Pflicht unter die Contrôle des S t r a f r i eli ter s, mit unvermeidlicher Gefährdung der Unbefangenheit des letzteren, zu stellen. Allein wenn man hieraus die volle (Konsequenz zieht und den Organen der staatlichen Strafverfolgung ebensowohl das uneingeschränkte Recht (1er Initiative, wie das (les Rücktrittes von derselben einräumt, so besteht immer noch kein Grund, ihnen das Recht zu geben, vom Strafrichter zu verlangen, dass er eine wesentlich declaratorische Entscheidung, wie es das Strafurtheil, namentlich das condemnatorische ist, auf Grund eines willkürlich verdunkelten oder beschnittenen Beweismaterials falle. Es ist ihnen nicht zuzumutlien, dass sie mit einem, gleichviel für oder gegen den Angeklagten sprechenden Beweismittel, das dem Richter erheblich scheint, aus einem anderen Grunde zurückhalten, als weil sie es für überflüssig ansehen. Ebenso darf der Richter annehmen, dass auch der Angvkhigte ein zu seiner Verteidigung dienliches Beweismittel nur deshalb nicht vorbringt, weil er dies nicht vermag oder für überflüssig hält. D a r i n liegt meines Erachtens der Hauptgrund des Unterschiedes in der Stellung des Civil- und des Strafrichters zu dem von den Parteien nicht vorgebrachten Beweismaterial. Auch im Civilprozess, darin ist J o h n (StPO S 11 ff.) vollkommen beizustimmen, verlangt in der Regel jede Partei vom Richter, (lass er die ihr günstige Wahrheit erkenne und ausspreche, und sie legt durchaus keinen AVerth darauf, dass dies gerade nur auf Grund der von ihr beigebrachten Beweise geschieht. Aber es ist im Civilprozess jede Partei unbeschränkt berechtigt, auf ihren Anspruch zu verzichten ; sie handelt weder unrecht noch unsittlich, wenn sie es tliut, und es ist denkbar, dass die Kosten, Gefahren oder sonstigen Nachtheile einer bestimmten Beweisführung ihr so gross erscheinen, (lass sie der Benutzung der letzteren den eventuellen Verlust ihres Rechtes vorzieht. Der Zweifel also, ob ein bestimmtes Beweismittel vorsätzlich, auf die gedachte Gefahr hin. zurückgehalten wurde, ist im Civilprozess möglich, und seine Aufklärung kann oft nicht ohne bedenklichen Eingriff in das Privatrecht der Partei erfolgen. Der Civilrichter k a n n daher in der Regel (las Uebersehen der Partei nicht verbessern und was er etwa sporadisch thun könnte, soll er unterlassen, weil es ihn dem Verdacht der Parteilichkeit aussetzt. Der Strafrichter dagegen k a n n und s o l l nicht voraussetzen, dass Ankläger oder Angeklagter ein unrichtiges, ihr Recht verkürzendes Urtheil der Anwendung aller zur Entdeckung der

§

.

Eigenart

17

es Strafprozesses.

an sich richtigen Gedanken, wie vielfach versucht wird, das oberste Priiicip des Strafprozesses ableiten, so gelangt man nur vermöge eines logischen Sprunges und einer nach vorstehendem nicht gerechtfertigten Gleichstellung der „Parteien" dazu, dem Richter das Recht und die Pflicht zuzuweisen, mit offenbarer Gefährdung seiner Unparteilichkeit die Controle der Handhabung des S t r a f v e r f o l g u n g s r e c h t e s des Staates zu üben, die Unterlassungen des berufenen Trägers desselben zum Nachtheil des Angeklagten gut zu machen und die diesem entgegentretende Gegnerschaft, wo sie ihm unausreichend scheint, zu ergänzen. Immerhin aber ist daraus 6. mit Recht abgeleitet worden, dass im Strafprozess in höherem Grade als im Civilprozess dafür gesorgt werden muss, dass zwischen der formellen oder vielmehr der durch das Urtheil formalisirten Wahrheit und der materiellen kein Unterschied bestehe. Zwar ist dies auch bei der Gestaltung des Civilprozesses überhaupt und bei der Durchführung der einzelnen Prozesse mit allem Nachdruck anzustreben; denn die Fälle, wo sich die Parteien darüber einigen, dem Richter einen erdichteten Sachverhalt unterzuschieben, oder wo eine Partei, ohne dem Streit ein Ende und den Richterspruch entbehrlich zu machen, ihr Recht vorsätzlich nicht oder schlecht vertheidigen will, bilden doch eine allzuseltene Ausnahme. Wenn die Partei den Richter von der ihr günstigen Wahrheit nicht überzeugt, so hat dies der Regel nach in dem Mangel der Mittel zur Darthuung der Wahrheit oder in einem Versehen seinen Grund und führt der Sache nach zu einem Fehlgehen der Rechtspflege, dessen Eintritt verhindert werden sollte, so weit dies nur immer möglich ist. Immerhin aber ist es denkbar, dass die Partei ihrem· Recht nur einen bedingten Werth beilegt, dass sie lieber darauf verzichten will, als dass sie es zur Anwendung von gewissen Beweismitteln, zur Erörterung gewisser Thatsachen kommen lässt, und es liegt in der Anwendung minder sicher wirkender Mittel der Aufklärung des Sachverhaltes ein bedingter, aber vollkommen zulässiger Verzicht auf das Recht (vgl. oben Anni 2). Wo das aber auch nicht der Fall ist, kann der Staat den Gütern, um welche es sich hier handelt, den Rechten, welche liier geltend gemacht werden, nicht einen unbedingten Werth beilegen, so dass er in schrankenloser Weise alle etwa ihm zugänglichen Mittel für die zur richtigen Entscheidung über Wahrheit dienenden Mittel vorziehen wollen, und dies ermöglicht ihm eine Ergänzung der Parteithätigkeit, welche im Civilprozess nicht zulässig ist und in letzterem eher einen Gegensatz zwischen m a t e r i e l l e r und f o r m e l l e r Wahrheit (oder vielmehr zwischen den wahren und den vom Richter seiner Entscheidung zu Grunde gelegten Thatsachen) herbeiführen kann als im Strafprozess. Binding, Handbuch.

IX. 4. I :

G l a s e r , Strafprozess.

I.

2

18

3.

Eigenart

es Strafprozesses.

einen Civilreclitsanspruch erforderliche Aufklärung des Sachverhaltes zur Verfügung stellen könnte 3 . Beides steht im Strafprozess anders. Eine Vereinbarung eines fictiven Sachverhaltes ist hier völlig unzulässig. Macht die Staatsgewalt von dem Rechte der Strafverfolgung Gebrauch, so darf nicht daran gezweifelt werden, dass sie die volle Aufklärung des Sachverhaltes mit allen Mitteln anstreben wolle, und diese Mittel sind um des grossen Werthes willen, den die Strafrechtspflege für alle im Staate hat, um der grossen Gefahr ungerechtfertigter Verurtheilung willen, die bei ungenügender Strafrechtspflege über allen Bürgern schwebt, so reichlich als nur irgend möglich zuzumessen. Auf der anderen Seite soll kein Versehen, kein Fehler, kein Zufall, keine Verabsäuinung von Formen, kein \ r erzicht, kein Mangel an Mitteln auf Seite des Angeklagten, keine Rücksicht auf die äussere Ordnung des \Terfahrens bewirken, dass irgend etwas unberücksichtigt bleibe, Avas geeignet ist, dem Angeklagten zu statten zu kommen. Innerhalb dieser Begrenzung ist es also richtig, dass der Strafprozess in höherem Maasse als der Civilprozess d i e m a t e r i e l l e W a h r h e i t anstreben müsse und das Wesen über die Form, selbst über die der R e c h t s k r a f t d e r E n t s c h e i d u n g , zu stellen habe. § 4.

Anklage-

und

Untersuchungsverfahren 1.

I. Zu den vorstehend dargelegten, in der Natur der Sache gegründeten Beziehungen kamen noch geschichtliche Einwirkungen hinzu. Dies tritt in entscheidender Weise hinzu zu dein, was oben Anni 2 gesagt wurde. Es kann für den Civilprozess nicht als Kegel aufgestellt werden, dass der Staat durch den Richter die Reweise sichere und beschaffe, und eben darum würde die sporadische Ergänzung der Parteithätigkeit durch den Richter, so weit sie über das Abstreifen jener Passivität hinausgeht, mit welcher eine Beweisaufnahme als „Richterakt", als „Aufdecken der im dargebotenen Beweismaterial liegenden Ueberzeugungsgriinde", wie sie W a c h , Vorträge S 56, mit Recht bezeichnet, überhaupt nicht vereinbar ist, als Willkür erscheinen und den \ r erdacht der Parteilichkeit erregen. Sie ist ihm daher im Civilprozess verboten (vgl. daselbst S 57. 149), und eben darum ist allerdings vom Standpunkt des R i c h t e r s die Feststellung der Wahrheit „ein zufälliges Resultat" des Civilprozesses, nicht aber (lem Gesetzgeber gegenüber, der vermeint, den Parteien die Möglichkeit zu bieten, die Feststellung der Wahrheit dadurch zu erwirken, dass sie dem Richter die nöthigen Beweise darbieten. 1 Die Uebersicht der älteren Literatur bei K a p p 1er, Handbuch der Literatur des Criminalrechts S 1010ff'. ; M i t t e r m a i e r, Strafverfahren I 51ff. ; Ii. Α. Ζ a c h a r i ä . Grundlinien S 60; AV. M ü l l e r , Lehrbuch §§ 74. 75.— F i l a n g i e r i , Scienza della Legislazione l. I I I e. 1—5 (ed. „Filadelfia" 1799: I I 207 sq.); C a r n i i g n a n i , Teoria delle leggi di sicurezza sociale. Pisa 1831. IV c. 3—5 ρ 25—80; F e u e r b a c h , Betrachtungen über (lie Oeffentlichkeit u. s. w. II 366 ff.; Hep]), Anklageschaft.

4.

Anklage- un

Untersuungsverfaren.

welche geeignet waren, Anschauungen Bahn zu brechen, die, in voller Folgerichtigkeit zur Geltung gebracht, den Strafprozess fast vollständig Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Strafverfahrens. Tübingen 1842; A h e g g . Beiträge zur Strafprozessgesetzgebung. Neustadt 1842. S 42 ff. ; H e n k e , Handbuch 'IV § 5; W. Η. Ρ u d i t a . Der Inquisitionsprozess. Erlangen 1844. S 3—134: l i ö p f n e r , lieber den Anklageprozess und das Geschwornengericht. Hamburg 1844. S 1 —35 ; WRLex I 260 ff. V 449 ff. ( J a g e m a η η ) ; H. Α. Ζ a c h a r i ä, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens. Göttingen 1846. S 23 ff. ; Die strafrechtlichen Fragen der Gegenwart, von einem süddeutschen Juristen. Heidelberg 1847. S 13 ff.; M i t t e m i ai er, Die Mündlichkeit u. s. w. Tübingen 1845. S 281 ff: B i e n e r , Ueber die neueren Vorschläge zur A^erbesserung des Criminalverfahrens in Deutschland (Berlin 1844. S.-A. aus Β X I I der Ζ f. gesell. RW) S 87 ff.: D e r s e l b e , Abhandlungen aus dem Gebiete der Rechtsgeschichte. Heft II. Leipzig 1848. S 18—38. 43—48. 90—102; D e r s e l b e , Das englische Geschwornengericht I I 14 ff. und im GS 1855 I I 408 ff.; G e i b , Die Reform des deutschen Rechtslebens. Leipzig 1848. S 89ff.; K ö s t l i n , Der Wendepunkt. Tübingen 1849. S 18—21. 37 ff.; D e r s e l b e , Das Geschwornengericht, für Nichtjuristen dargestellt. Tübingen 1849. S 163—172; Temine, Grundzüge des deutschen Strafverfahrens. Arnsberg 1850. S 32. 33; ν. W ü r t l i , Oesterreichische StPO von 1850 S 3—16; M i t t e r m a i er, Gesetzgebung und Rechtsübung etc. Erlangen 1856. S 269 ff.; P l a n c k , Systematische Darstellung. Göttingen 1857. S 146—157 ; L i e η b a c li e r , Anklagegrundsatz und Anklageforni in ihrem Einfluss auf die Dauer und Kosten des österreichischen Strafprozesses. Pest 1857; Τ emme in seiner Ausgabe von M a r t i n s Lehrbuch des Criminalprozesses (1857) § 174; v. S t e m a n n , Darstellung des preussischen Strafverfahrens. Berlin 1858. S 9 ff. ; H. F. O r t i ο ff, Das Strafverfahren in seinen leitenden Grundsätzen und Hauptformen. Jena 1858; Η. A. Z a c h a r i ä , Handbuch I (1861) § 11; Betrachtungen aus dem Gebiet der Strafprozesslehre (Breslau s. a., besprochen in Schletters J λ' 1859 S 162); S c h w a r z e in Schletters J IV 1858 S 44 ff.; W a l t h e r in der KrÜ IV 215 ff'.; D e r s e l b e , Lehrbuch des bayerischen Strafprozessrechts S 8 ιι. 9; Do I l m ann, Das bayerische Strafprozessgesetz etc. Erlangen 1857. S 30 ff'.; D e r s e l b e , System des bayerischen Strafprozessrechts. Erlangen 1864. S 79 ff.; H e r b s t , Einleitung in das österreichische Strafprozessrecht. 1. Aufl. 1860. 2. Hauptst. A I ; L ö w e , Der preussische Strafprozess. Berlin 1861. § 29; Vas a I l i , Allgem. rechtspliil. Betrachtungen über das Strafverfahren I. Erlangen 1869. § § 3 — 7; H u g o M e y e r , Die Mitwirkung der Parteien im Strafprozess. Erlangen 1873. S 5 ff.; v. B a r , Kritik der Principien des Entw einer deutschen StPO. Berlin 1873. S 22 ff.; D e r s e l b e in Grünhut 1874 S 303 ff.; W a h l b e r g , Kritik des Entw einer StPO für das Deutsche Reich. Wien 1873. S 44 ff.; G n e i s t , Vier Fragen etc. Berlin 1874. S 34—36. 58 ff.; Mot zum Entw der österreichischen StPO von 1873 A S 7 ff., — gleichlautend G l a s e r , Ges. kleine Schriften (nur in der ersten Aufl. I I 98 ff.); H e i n z e , Strafprozessuale Erörterungen. Erlangen 1875. S 6 ff.; S. M a y e r , Handbuch des österreichischen Strafprozessrechts I 294 ff. 336 ff. ; D e r s e l b e , Kritik des Entw der deutschen StPO S 333 ff.; M e n g e r , System des österreichischen Civilprozessrechts I 16. 17; U l i m a m i , Oesterreichisches Strafprozessrecht §§ 12—14; J o h n , Das deutsche Strafprozessrecht § 5; Κ ays er, Strafgerichtsverfassung und Strafverfahren. Paderborn 1879. S 25—30; L ö w e , StPO, Beni 1 ff. zum 1. Abschn. des 2. Buches und Beni 1 u. 2 zu § 151; B i n d i n g , Grundriss des gemeinen deutschen StPR. Leipzig 1881. 2*

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4.

Anklage- un

aller E i g e n t ü m l i c h k e i t e n

Untersuungsverfaren.

des juristischen

Prozesses

der ausserhalb dieses letzteren herrschenden,

entkleiden

und

wissenschaftlichen

und

allgemein menschlichen Methode der Feststellung von Thatsaehen auch für den Strafprozess Geltung verschaffen mussten. liche N a t u r des Strafrechts

i m Gegensatz

Die öffentlich-recht-

zu dem Anspruch

des Be-

schädigten auf Ersatz u n d Genugthuung gelangt i n den Anfangen staatlichen Lebens n u r

zu sehr

beschränkter

Anerkennung,

u n d wo

es

der F a l l ist, handelt es sich u m die Gefährdung so dringender Existenzbedingungen des k a u m noch gefestigten Staatswesens (fast i m m e r u m die militärische D i s c i p l i n u n d die Sicherheit dem Feinde gegenüber), dass das Einschreiten dagegen den Charakter u n m i t t e l b a r e r Ausübung der obersten

Staatsgewalt u n d

militärischer Disciplin weit eher als

eines gerichtlichen Verfahrens nahmefällen

hält

aber

materiellen Strafrechts

mit

annimmt. der

fortschreitenden

der Strafprozess

den

Abgesehen von diesen AusEntwickelung

selten gleichen S c h r i t t ;

des dem

noch wesentlich einheitlichen gerichtlichen Verfahren giebt überwiegend der

Civilprozess das Gepräge.

Macht

dann gesteigerte Empfindlich-

k e i t der bedrohten öffentlichen u n d privaten Interessen u n d das N i c h t 8 62; L u e d e r , Grundriss §§ 10. 11 ; Geyer, Lehrbuch §§ 4 u. 5; Hé l i e , Traité de l'instr. crini. Paris 1845—1860. §§ 305—308 (V 15 sq.); C a r r a r a , Programma. Parte generale §§ 825—860 (II 347 sq.); ferner in der Vorrede zu seiner italienischen Ausgabe von "VVeiskes Handbuch und der österreichischen StPO von 1873 (Florenz 1874) §§ 18 if. ; P e s s i n a , Elementi di procedura penale c. 1—5; S t e p h e n , General view ch. V ρ 159 sq. ; L. Cas ο r a t i , I l processo penale ρ 224 sq. J u s t . M o s e r , Patriotische Phantasien (Ausg. von Z ö l l n e r . Leipzig 1871. II 75—79): „Also verdient der Anklageprozess den Vorzug vor dem Inquisitionsprozess": K l ei η s ehr od, AA d. CrR I I Heft 4 S 1—14; G e r a u , Bemerkungen über Ausführung des Anklageprincips im Strafverfahren. ANF 1853 S 125 ff. ; Ab egg, Ueber die Bedeutung des Strafrechtsprincips für das strafrechtliche λ'erfahren. Ζ f. deutsches Strafverfahren I 291—329; vgl. A h e g g , Leber den organischen Zusammenhang . . . des Strafverfahrens . . . mit dem materiellen Strafrecht . . . Bremen 1863. S 10 ff. ; M o l i t o r , Erfahrungen im Gebiet der Criminalrechtspfiege : 3. Anklageprozess, Ζ f. deutsches Strafverfahren I I I 24—29 : H e ρ ρ , Beiträge zur Beurtheilung des Inquisitionsprozesses, das. NF I I I 43—76. 153—267 IV 1 ff. 284 ff'. 329 ff. (Wie erfüllt der Inquisitionsprozess die durch die Verfassungsurkunden den Unterthanen verheissenen Garantien?); Τ emme das. IV 90—107; D i e t e r i ci in GA 1854 S 501—512; T i p p e i s k i r c h , Beiträge zur künftigen StPO Preussens, das. 1853 S 26—39, 1854 S 313—338; D e r s e l b e , Inquisitions- und Verhandlungsprineip in der Appellationsinstanz des preussischen Strafprozesses, das. 1873 S 252ff'. : I l e i n z e , Dispositionsprincip und Ofticialprincip; Verhandlungsform und Untersuchungsform, das. 1876 S 265—310; L i e n h a c h e r , Begriff und Berechtigung des Anklagegrundsatzes im Strafprozess, in Haimerls Vierteljahrsschrift IV 1—44; S u n d e l i n, Die Losungsworte „Untersuchungsprincip", „Anklageprincip" in ihrer missbräuchlichen Anwendung, in Gross' Strafrechtspfiege I 41—65; M i t t er m a i e r . Der Grundsatz der Gleichheit der Waffen. StRZ 1861 S 20 ff. 37 ff.

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ausreichen des zurückgebliebenen Strafprozesses das Bedürfniss nach erhöhtem Schutz der öffentlichen Ordnung geltend, sind tumultuarische Versuche der Abwehr überwunden, die zunächst daraus entstehen, und ist durch sie auch die Kehrseite wieder zur Geltung gebracht, das Bedürfniss nach Schutz des Angeklagten gegen leidenschaftlich - w i l l kürliche Vorgänge, so macht sich dann vor allem fühlbar, dass das Interesse des Angeklagten in diesem selbst einen von vornherein legitimirten und wirksamen Vertreter hat, während für das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung ein solcher erst gefunden werden muss. Der Gedanke, einen solchen eigens von Staatswegen zu bestellen, obgleich der einleuchtendste, ist, wie die Geschichte zeigt, nicht der nächstliegende. Während man sich auf der einen Seite damit hilft, das Recht der Gesammtheit durch Private ausüben zu lassen, fand man auf der anderen Seite das Auskunftsmittel, vom Richter zu erwarten, dass er Recht und Pflicht der Strafverfolgung in die eigne Hand nehme, nicht ohne dass anfangs noch mitunter die Notliwendigkeit erkannt wurde, dass dann der Richter sich in einen Ankläger verwandle und das Richteramt aus der Hand gebe 2 . Erst später ward diese aus der geschichtlichen Entwickelung hervorgegangene Thatsache der Ausgangspunkt für die Aufstellung einer Theorie, welche sie als die Verwirklichung der oben dargestellten, aus der Natur des Strafrechtes und cles Strafprozesses abgeleiteten Folgerungen hinstellte und als der Eigenart des Strafprozesses entsprechend das Princip d e r U n t e r s u c h u n g v o n r i c h t e r l i c h e n A m t e s w e g e n 3 bezeichnete, das in der Unzulässigkeit des Verzichtes auf den Gegenstand des Strafprozesses seine theoretische Begründung, in der Pflicht des Richters, selbst und allein für die Enthüllung der Wahrheit thätig zu sein, und in dieser Thätigkeit sich weder durch das active oder passive Verhalten der Betheiligten, noch durch Rücksichten auf prozessuale Formen, wo diese jenem obersten Zweck im Wege stehen, 'hemmen zu lassen, seinen alles andere beherrschenden Folgesatz fand 4 . Das' so aufgestellte Princip drängt 2 O r t i off, Ueber die öffentliche Anklage in Deutschland. Ζ f. D i l X V I 264 ff. 376 ff'.; D e r s e l b e . Das Strafverfahren S 111. 3 Deshalb gehen mit den Ausdrücken I n q u i s i t i o n s - , U n t e r s u c h u n g s p r i n c i p ' , I n q u i s i t i o n s p r o z e s s parallel der Ausdruck O f f i c i a l p r i n c i p und als Gegensatz die Ausdrücke A n k l a g e g r u n d s a t z , V e r h a n d l u n g s m a x im e. D i s p o s i t i o n s p r i n c i p (in letzterer Anwendung und im Gegensatz zum „ 1 m m u t a b i l i t ä t s p r i n c i p " insbes. H e i n z e in GA 1876 S 265 ff.). 4 Es ist bezeichnend, in welcher Wechselwirkung bei den Versuchen zur Feststellung des Untersuehungsprincips diese beiden Gesichtspunkte: „Verfolgung von Staats wegen" und „Streben nach materieller Wahrheit" mit einander stehen. W a l t h e r . Die Rechtsmittel. München 1853. Vorw. S XIV, sagt: „Man begreift unter

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aber, im Widerspruch mit dem oben dargelegten Wesen des juristischen Prozesses, das Einschreiten der Strafgewalt aus dem Rahmen des letzteren ganz hinaus und unterstellt es dem Princip der f r e i e n dem Worte > Untersuehungsprincip« gewöhnlich zwei Hauptgrundsätze: die Verfolgung (1er Verbrechen von Amts- oder Staatswegen und das Streben nach materieller Wahrheit". „Ersterer bringt freilich letzteren mit sich, aber darum sind doch nicht beide dasselbe; beide können unabhängig von einander bestehen". W a l t h e r selbst hält letzteren für das entscheidende und wünscht, dass durch das Wort „Untersuchungsprincip" diese Richtung bezeichnet werde; und indem er bemerkt, gerade der englische Prozess habe das Streben nach materieller Wahrheit, nicht aber (las Officialprincip verwirklicht, gelangt er dazu, als Consequenzen des IJntersuchungsprincips die Mündlichkeit des Verfahrens und die freie Beweiswürdigung (die „Entscheidung nach der freien Ueberzeugung des Richters") hinzustellen (S ΧλΊΙ). K ö s t l i n , Wendepunkt S 21, sagt: „Da der Zweck des Strafrechts die unbedingte Wiederaufhebung des durch das Verbrechen gesetzten Unrechts, mithin die Geltendmachung des Rechts als solchen um seiner selbst willen, also ohne Vermittelung durch Parteienwillkür, der Strafprozess aber nichts anderes, als die Vermittelung tur diese Thätigkeit des Staates im einzelnen Fall ist. so ergiebt sich als Z w e c k : die schlechthin von keiner Willkür abhängige Erhebung (1er Wahrheit in Beziehung auf Verbrechen, die begangen sein sollen". Hier ist also die materielle Wahrheit der Ausgangspunkt, die Verfolgung von Staats wegen die Folgerung. Und doch sagt er an einer anderen Stelle (Schweglers J 1845 S 915): „Der Untersuchungsprozess hat sein W e s e n darin, dass der Staat es nicht dem einzelnen überlässt, die Verfolgung und Bestrafung von Verbrechen herbeizuführen, sondern dass er Beamte aufstellt, die von Amts wegen im unmittelbaren Interesse und als unmittelbares Organ des Staates hiefür thätig sein müssen. X u r dies constituât die Idee des Untersuchungsprozesses". (Vgl. auch 1847 S 294. 295.) Dagegen hält H e i n z e , GA 1876 S 265 ff., diesen letzten Gedankengang in unverzagt consequenter Durchführung ein. Ihm ist nicht mehr das ausschliessliche R e c h t , sondern die P f l i c h t (les Staates zur Strafverfolgung das oberste; weder der Staat noch der Angeklagte verfügt über die verwirkte Strafe upd d a r a u s f o l g t (las unbedingte Streben nach Wahrheit im Strafprozess: „Das Dispositionsprincip stellt die Thatsaehen unter die Herrschaft des Beschuldigten, das Officialprincip, könnte man sagen, stellt den Beschuldigten wie den Ankläger unter die Herrschaft der Thatsaehen" (S 280). O r t i ο f f hinwieder, Strafverfahren S 34, sagt: „Der e r s t e von dem Princip der Gerechtigkeit a b g e l e i t e t e G r u n d s a t z für die Rechtspflege ist demnach die Verfolgung und Aufhebung jeglicher Rechtsverletzung von Staatsoder Amtswegen, oder wie man zu sagen pflegt: ex officio. Wir müssen d i e s e n Grundsatz jedoch über die blosse Anregung und die Initiative hinaus durch die ganze Rechtspflege als leitenden Grundsatz anerkennen, können ihn aber als solchen nur durch Vermittelung des von der Gerechtigkeit abzuleitenden Strebens nach materieller Wahrheit begründen . . . Daher ist eine von der Gerechtigkeit- für den Verlauf der Rechtspflege a b g e l e i t e t e Forderung, dass Verhältnisse und Thatsaehen in ihrer wahren Sachlage oder in ihrer objectiv sich kundgebenden Erscheinung zum Rechtsspruche vorliegen müssen, dass der Richter, so weit menschliche Kräfte es vermögen, eine der mathematischen möglichst nahe, historische Gewissheit darüber erhalte. Eine solche Gewissheit in Bezug auf die Sache nennt man m a t e r i e l l e W a h r h e i t " .

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F o r s c h u n g , dessen Unvereinbarkeit mit rechtlicher Ordnung des Verfahrens bereits oben dargethan wurde. Es wurden daher auch niemals die äussersten und letzten ConseqUenzen des aufgestellten Grundsatzes gezogen; vielmehr erhielt die Nachwirkung älterer prozessualer Einrichtungen doch äusserlich juristische Formen in Geltung : die mit dem Theorem eigentlich nicht zu vereinigende Sonderung der Person des untersuchenden von der des urtheilenden Pachters 5 und die Beschränkung des letzteren durch ein mit dem Grundsatz ebenfalls nicht in Einklang zu bringendes, aber geschichtlich gewordenes Beweisrecht sorgten dafür, dass der Boden des juristischen Prozesses mehr theoretisch verleugnet, als praktisch völlig verlassen wurde. Eben darum war es aber auch umgekehrt möglich, dass das theoretisch entwickelte Princip des so historisch gewordenen Prozesses denselben überlebte und als aus dem Wesen des Strafrechts abgeleitete Folgerung Geltung noch in Anspruch nimmt, nachdem die Prozessformen längst aufgegeben sind, zu deren Erklärung und Rechtfertigung es ursprünglich aufgestellt wurde. Der i n q u i s i t o r i s c h e T y p u s des Strafprozesses ist daher etwas historisch gegebenes, die T h e o r i e des i n q u i s i t o r i s c h e n P r o z e s s e s etwas in ihrer Reinheit niemals verwirklichtes 6 , bald der geschichtlichen E n t w i c k l u n g folgendes, Γ)

Denn gerade die Concentration der gesammten Prozess-Thätigkeit in derselben Person liegt im Wesen dieses Prozesses; statuirt man einen Gegensatz des untersuchenden und des urtheilenden Richters, so' ist schon nicht mehr die Individualität des letzteren allein entscheidend; die „Wahrheit", die letzterer erkennt, kann durch jenen beeinflusst sein; sein Ausspruch ist das Ergebniss einer fertigen Prozesslage, nicht seiner Forschung, die — seiner Individualität gemäss — vielleicht einen ganz anderen Weg gegangen wäre. 6 Dies gilt zunächst von der Theorie des Inquisitionsprozesses, verglichen mit der äussersten praktischen Entwickelung, die ihm zu tlieil ward. In noch höherem Grade gilt es aber von den mancherlei Forderungen, welche als Consequenzen des Principe der Verfolgung von Staatswegen oder des im Untersuchungsprincip liegenden Strebens nach materieller Wahrheit bezeichnet wurden. So sahen wir (oben Anm 4) W a l t h e r die Mündlichkeit und die freie Beweiswürdigung aus einem obersten Satz ableiten, welcher die theoretische Grundlage des gemeinen Inquisitionsprozesses bildet; und ebenso sieht O r t i ο ff, Strafverfahren S 93 u. 94, den Zweck der Unmittelbarkeit darin, „dass das Gericht von Amtswegen um so besser und leichter zur Erkenntniss der Wahrheit gelange" ; ebenso findet dieser mit der aus seinem Of'ficialprineip heraus entwickelten mündlichen Beweisaufnahme weder eine gesetzliche Beweistheorie, noch die Instanzentbindung vereinbar (S 93 u. 94). Andererseits leitet Κ ö st I i n, Schweglers ,J 1845 S 927, aus dem Untersuchungsprincip die N o t wendigkeit (1er Staatsanwaltschaft ab (vgl. darüber Ζ a char i ä , Die Gebrechen S 35). Und doch wäre es noch leichter, aus dem O f f i c i a l p r i n c i p , wie es namentlich H e i n z e scharf hinstellt, die allgemeine Denuntiationspflicht abzuleiten, deren nächstes Analogon gerade das als übertrieben accusatorisch bekämpfte e n g l i s c h e

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bald von ihr überholtes oder doch zurückgedrängtes. Der Nachweis und die Darstellung dieses geschichtlichen Prozesses muss einem Recht zeigt, welches die Behörden berechtigt, den Beschädigten, ja seihst den Thatzeugen die Pflicht der Strafverfolgung aufzuerlegen. In einer gegen die Benutzung des englischen Vorbildes gerichteten Ausführung sagt Schwarze (Schletters J IV 18-58 S 39): „Das Officialprincip ist wohl jetzt allgemein als das allein berechtigte anerkannt, wie es bezeichnend genug ist, dass Frankreich bei der Adoption des englischen Schwurgerichts, trotz aller Vorliebe für dasselbe und den in ihm angeblich dargebotenen Schutz der Freiheit, von dem Officialprincipe sich nicht losringen konnte und nach ihm allenthalben das englische Verfahren modificirte, insbesondere die Trennung der That- und Rechtsfrage aufstellte und hiemit sofort den Grundcharakter der englischen Jury zu Gunsten des juristischen, in den Staatsrichtern vertretenen Elements vernichtete". Die äussersten Consequenzen des O f f i c i a l p r i n c i p s zieht wohl (allerdings nicht um deren Verwirklichung zu fordern, vielmehr mit der alles sanirenden Erklärung : „Die Geltung des Officialprincips ist in unserem heutigen Strafprozess weder eine unbeschränkte, noch eine ausnahmslose") die schon angeführte scharfsinnige und feine Untersuchung H e i n z es in G A 1876 S 265 ff. Es seien nur folgende Stellen hervorgehoben: „Unter der Herrschaft des Officialprincips (bildet) die vorliegende Anschuldigung oder Anklage und die dieser entgegentretende oder sie abschwächende Darstellung mit nicliten ein tliema probandum . . . . Man spricht passender nicht von Beweismitteln, sondern von Erkenntnissmitteln" (S 280). „Man stand in Wirklichkeit auf dem Boden des Officialprincips, wenn man die Geltung der Rechtskraft des Urtheils überhaupt verneinte" (S 283 Anm 3). „Der Forderung des Officialprincips, dass alles erreichbare und erhebliche Material verwerthet werde, entspricht das Recht, resp. die Pflicht des Richters, sich eines Urtheils zu enthalten, wenn der gewonnene Stoff zur Begründung eines zuverlässigen Urtheils nicht ausreicht. Dies war die negative Seite der gemeinrechtlichen absolutio ab instantia; der gleiche Gedanke liegt dem «not proven« der schottischen Jury zu Grunde". Das Recht der peremtorischen Ablehnung des Richters ist eine Abweichung vom Officialprincip (S 297). Die äusserste, begreiflicherweise nicht als realisirbar bezeichnete Consequenz des Officialprincips würde in Bezug auf R e c h t s m i t t e l dahin führen, dass, „wenn ein Richter vorhanden ist, welcher entweder an sich besser geeignet ist, ein zutreffendes Urtheil zu fällen als der erste Richter, oder doch in der Lage ist, etwaige von diesem begangene Kehler aufzufinden und zu verbessern"', „dass dieser Richter unter allen Umständen in eine Prüfung des ersten Urtheils einzutreten hätte" (S 298) u. s. w. — Während H e i n z e S 286 dem Gericht bei Anwendung des Officialprincips alles anheimgiebt („Vom Standpunkt des Officialprincips aus dürfte man sagen: quidquid in mundo, sit in actis. Alles erhebliche Material soll verwerthet werden. Aber auch nur das erhebliche. Daher ist jede der richterlichen Aburtheilung vorausgehende Prüfung zugleich gerichtet auf eine materielle Sichtung des bisher an Thatsaehen und Beweismitteln gewonnenen Stoffes. Einerseits also werden die unerheblichen Thatsaehen ausdrücklich oder stillschweigend bei Seite geschoben, die erheblichen als Grundlage der Aburtheilung verwerthet, werden auch alle Beweismittel fem gehalten, deren Unergiebigkeit ermittelt oder vorausgesetzt wird; andererseits müssen zu der entscheidenden Verhandlung alle in den Vorbereitungsstadien zu Tage geförderten Thatsaehen und ermittelten Erkenntnissmittel herbeigezogen werden, den

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späteren Abschnitt vorbehalten werden ; aber eben weil die Geschichte des Strafprozesses überwiegend die der gegenseitigen Bekämpfung, Betheiligten ist also eine Auswahl nach freiem Belieben versagt"), sagt dagegen S c h w a r z e , der nicht minder das Officialprincip hoch hält (Schletters J 1858 S 57): .,Es ist die Frage wegen der S e l b s t ä n d i g k e i t des Staatsanwalts bei Aufstellung der Anklage, sowie der Beweismittelliste von erheblicher Bedeutung, indem wir hiebei insbesondere dem Gerichte eine Befugniss, die Liste zu prüfen und abzuändern, durchaus nicht zugestehen können". Diese letztere Forderung erhebt hinwieder (ìeib grade vom entgegengesetzten Standpunkte aus, freilich unter gleichzeitiger Forderung der absolut gleichen Stellung des Angeklagten (Die Reform S 123). Die Ableitung vom „Anklageverfahren" ist hier wohl unzweifelhaft berechtigt; minder unzweifelhaft sind aber andere Ableitungen, die dieser hinsichtlich der Consequenzen des inquisitorischen und accusatorischen Verfahrens vornimmt, indem er ζ. B. es für eine ebenso unzulässige als „unbedingte Sanction des Inquisitionsprincips" erklärt ( S 103), dass der Staatsanwalt ebensowohl für die Entdeckung der Unschuld wie der Schuld des Angeklagten thätig zu sein habe (als ob es nicht selbst vom Standpunkt der beschränktesten Parteitaktik im Interesse der Anklage läge, dass sie nicht, eine falsche Fährte verfolgend, dem wahren Schuldigen zum Entrinnen noch selbst verhelfe, indem sie sich gegen einen Unschuldigen kehrt). Demungeachtet erklärt er, wohl als der erste, dem später erst andere folgten: „Die Aufstellung eines besonderen Untersuchungsrichters ausser und neben den Beamten der Staatsbehörde . . . muss getilgt und dieser ganze Abschnitt des Verfahrens muss der Staatsbehörde ausschliesslich (der Verlauf zeigt freilich, dass es mit dieser Ausscliliesslichkeit nicht geht) überwiesen werden" (S 106). „Auch die Verhöre im Vorverfahren müssen »von den Mitgliedern der Staatsbehörde abgehalten werden«, aber nur um dem ganzen Prozess seine inquisitorische Unterlage zu sichern" (S 115). Er findet ferner die Haft wegen Fluchtverdachts mit dem Anklageverfahren, ungeachtet der in die Augen fallenden Ungleichheit der Behandlung der beiden Parteien, vollkommen vereinbar; „schon durch ihre Eigenschaft als Beamte geben ja die Mitglieder der Staatsbehörde die genügende Sicherheit für ihre fortwährende Anwesenheit und die wirkliche Durchführung des Prozesses, und durch die Verhaftung des Angeklagten wird somit jene rechtliche Gleichheit der Parteien so wenig verletzt, dass dieselbe vielmehr blos dazu dient . . . hinsichtlich des Angeklagten nur die nämliche Garantie zu liefern, welche die Ankläger bereits durch ihre Staatsanstellung darbieten" ; dagegen nieint er, Verhaftungen wegen Collusion „müssen aus einem jeden \7erfahren verschwinden, wo das Princip des Anklageprozesses und der rechtlichen Gleichheit der Parteien eine Wahrheit sein soll" (S 111 u. 112). — Die Forderung inner gesetzlichen Beweistheorie bezeichnet Ζ ach a r i ä, Die Gebrechen und die Reform S 48 If'., als eine solche, die „das Untersuchungsprincip seinem wahren Wesen nach" ausschliessen muss, denn dieses müsse „die Frage über das Dasein und den Umfang der Schuld von der innern oder moralischen I Jeberzeugung desjenigen abhängig machen, w e l c h e r d i e U η t e r s u c h u η g s e l b s t g e f ü h r t h a t , wozu noch der Grund kommt, dass rechtliche Vorschriften über die Zulässigkeit und die Bedeutung der für oder wider eine Thatsache sprechenden Gründe durch das Vorhandensein zweier P a r t e i e n bedingt sind"; dagegen führe „das accusatorische Princip nothwendig zu bestimmten, vom Richter zu befolgenden Beweisregeln oder zur Aufstellung einer sog. gesetzlichen Beweistheorie" (S 59).

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Ablösung, Durchdringung der zwei Typen ist, deren einer auf möglichster Festhaltung des specifisch juristischen Prozesses und seines Principe (der Y e r h and l u n g s m a x i m e , in ihrer Anwendung auf den Strafprozess A n k l a g e g r u n d s a t z genannt) beruht, muss der geschichtlichen Darstellung die Charakterisirung dieser beiden Typen des Strafprozesses vorausgehen 7. Dieser Gegensatz dürfte kaum treffender auszudrücken sein, als in folgender Darstellung B i e n e r ' s 8 geschieht: Ebenso leitet er (a. a. 0. S 60) aus dem Anklageprincip die Notwendigkeit der Entscheidungsgründe und der Errichtung mehrerer Instanzen ab, während es K ö s t l i n , Wendepunkt S 53 u. 54, nicht schwer fällt, auf andere (z. B. Schwarze und den Verfasser der „Strafrechtlichen Fragen der Gegenwart") hinzuweisen, welche dieselben Forderungen auf das Inquisitionsprincip gründen u. s. w. 7 Die im Text gebotene Ausführung nimmt den Standpunkt ein, dass der accusatorische und der inquisitorische Prozess in ihrer vollen Reinheit nicht verwirklicht werden können, dass nur die niedersten Prozessgestaltungen sich dieser Reinheit nähern, dass nur die g e s c h i c h t l i c h e Betrachtung einen historischen Typus des accusatorischen und des inquisitorischen Strafprozesses ergiebt, und dass der Strafprozess einer gegebenen Epoche fast immer nur ein Ueberwiegen bald des einen, bald des anderen Typus zeigt. Eben daraus ergiebt sich die Notwendigkeit, einerseits die Darstellung der geschichtlichen Entwickelung der Prüfung der Stellung des heutigen Rechtes vorauszuschicken, andererseits aber die Uebersieht und Beurtheilung der geschichtlichen Entwickelung durch Voranstellung einer Charakteristik der beiden Typen zu erleichtern. Dieser Zweck wäre aber nicht zu erreichen, würden bei dieser Darstellung die Ausdrücke, welche auf ein Prozessp r i n c i p oder einen obersten P r o z e s s g r u n d s a t z (im Gegensatz zur G r u η d f o r m des Prozesses) hinweisen, vermieden. Streitig und unklar ist schon das Verhältniss selbst der Worte P r i n c i p und G r u n d s a t z in ihrer Beziehung auf den Prozess, und ganz undurchführbar der Versuch, für diesen einen denselben ausschliesslich beherrschenden Grundsatz aufzustellen. „Man redet von einem «obersten Grundsatz« oder »obersten Satz«", sagt H. F. O r t i ο ff, Das Strafverfahren in seinen leitenden Grundsätzen S 28 ff., „und giebt durch den Zusatz des Superlativs zugleich dessen Ausschliesslichkeit zu verstehen . . . Da zugleich der oberste Grundsatz der Anfangs- oder Ausgangspunkt ist, nennt man ihn Princip«, aber es liegt in diesen beiden Ausdrücken auch die Beherrschung und Durchdringung eines grösseren Ganzen, eines Systems oder eines Organismus Inbegriffen, also A n f a n g und E n d e . . . Der G r u n d s a t z kann für ein bestimmtes Verhältniss immer nur e i n e r sein, wie nach einem bestimmten Punkte im Kreis immer nur ein Radius denkbar ist . . . Entweder gilt ein Grundsatz oder er gilt nicht und dann gilt der andere ; immer aber kann nur einer von beiden herrschen. Die Form dagegen kann für denselben Inhalt, für e i n e n Gedanken, mehrfach gestaltet, eine verschiedene sein". Bedenkt man aber, dass wenn man von Prozess spricht, man nicht etwas absolutes, sondern etwas relatives, nicht einen Zweck, sondern ein Mittel, nicht das Wesen, sondern eben die Form seiner Verwirklichung vor Augen hat, so muss man diesen Gegensatz bedenklich linden. Der Prozess ist die rechtlich geordnete Form des gerichtlichen \Torganges, und ein Princip, das nicht die Form des Verfahrens bedingt, oder das gar durch dessen Form verleugnet wird, ist gewiss kein P r o / e s s p r i n c i p . Im weiteren Verlaufe seiner Darstellung macht O r t i o f f

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Anklage- un

Untersuungsverfaren.

.,I)as W e s e n des a c c u s a t o r i s c h e n P r o z e s s e s ergiebt formell einen Rechtsstreit zweier Parteien, vor dem Richter einander gegenüberstehend, materiell das Parteienverhältniss wie im Civilprozesse. In dem Principe des Anklageprozesses liegt also: 1. Der (S 30) folgende Bemerkung: „Es giebt für ein Ganzes, auch für die kleinste Einheit, immer nur eine einzige leitende Idee oder einen Grundsatz, der auch die Tlieile beherrscht; andere gleichfalls geltende Grundsätze für dasselbe Verhältniss sind nicht neben jenem Grundsatz, sondern vielleicht u n t e r ihm als abgeleitete denkbar : ζ. B. die Herstellung der Gerechtigkeit ist als erster Satz der Rechtspflege aufgestellt ; daneben kann nicht die Zweckmässigkeit oder die Kürze des Verfahrens als gleichberechtigt gestellt werden, denn dann müsste ein Gebot der Zweckmässigkeit, wenn es auch mit einem der Gerechtigkeit collidirte, neben diesem bestehen und so entständen Widersprüche und Unsinn" . . . Damit ist recht deutlich die Verwickelung bezeichnet, in die man gerätli, wenn man im Prozess nach einem Satz sucht, der alle Tlieile beherrscht. Denn wenn die „Herstellung der Gerechtigkeit" „erster Satz der Rechtspflege" ist, so muss die Gestaltung der letzteren darauf berechnet sein, dass sie ein geeignetes Mittel zur Erreichung jenes Zweckes sei. Wie soll hier also das „Gebot der Zweckmässigkeit" „mit einem der Gerechtigkeit" collidiren? Dagegen ist es allerdings (lenkbar, dass das Verfahren, welches a priori als das zweckmässigere erscheint und daher durch positives Recht vorgezeichnet ist, im concreten Kall sich als unzweckmässig oder doch den Zweck minder sichernd erweist. Hier besteht aber in Wahrheit die Collision zwischen dem, was dem Gesetzgeber in abstracto und dem, was dem individuellen Beurtheiler in concreto als das zweckmässigere erscheint, während beide das zweckmässige für das durch die Gerechtigkeit gebotene ansehen. 8 Abhandlungen aus dem Gebiete der Rechtsgeschichte I I 36. Ausdrücklich auf diese Darstellung sich berufend, kommt B i e n er auf die Frage zurück (Beitrag zur Theorie des neueren Criminalprozesses. GS 1855 I I 408 ff.), nicht ohne die Einseitigkeit zu erkennen, welche darin liegt, wenn man die beiden Typen lediglich mit der Anerkennung oder Verleugnung der öffentlichen Natur des Strafrechtes in \7erbindung bringt. Er habe sich der Ausdrücke „Accusations- und Inquisitionsprincip" in der Weise bedient, dass ersterer bezeichne „die Grundsätze, die für die Verfolgung der Verbrechen aus dem privatrechtlichen Standpunkt hervorgehen, »Inquisitionsprincip« hingegen diejenigen, welche aus dem politischen Standpunkt, der Verfolgung von Staatswegen, sich ergeben". Diese Ausdrücke seien aber nicht zweckmässig, „weil sie zu anscheinenden Paradoxien führen, ζ. B. dass die Verfolgung durch öffentliche Ankläger dem Inquisitionsprozess angehört". Es seien daher die Ausdrücke „privatrechtliches" und „politisches Princip" vorzuziehen (S 410). Damit ist aber zugegeben, dass dieses „Princip" nicht allein maassgebend ist für die Gestaltung des Prozesses, für dessen Grundform, und in der That bezeichnet dann B i e n e r als das „Endresultat" (S 437), „dass unser neuer deutscher Prozess auf dem politischen oder Untersuchungsprincip beruht, also auf dem Grundsatz, dass der Staat sowohl das Recht als die Pflicht hat, alle Beeinträchtigungen der vom Staate garantirteli öffentlichen Rechtsordnung zu verfolgen und zur Strafe zu bringen". „Für die Ausübung dieses dem Staate zustehenden Rechts hat derselbe sich der A n k l a g e f o r n i zu bedienen, welche die althergebrachte, wahlberechtigte Weise ist, um einen Anspruch durchzuführen".

28

4.

zur Klage berechtigte

Anklage- un

Untersuungsverfaren.

k a n n nach Belieben klagen oder n i c h t ,

die angefangene Klage wieder zurückziehen:

selbst

2. der Beklagte ist be-

fugt, sein Beeilt gegen den Kläger geltend zu machen; 3. der gegenseitige Beweis ist an F o r m e n

u n d F r i s t e n gebunden;

liche Entscheidung darf n u r

auf

Ermittelungen Prozesses

beruhen. ergiebt

Das

den

von

Wesen

formell den

4. die richter-

den Parteien des

gelieferten

inquisitorischen

untersuchenden Richter

gegenüber

dem I n d i v i d u u m , welches Gegenstand der Untersuchung w i r d ; materiell l i e g t hier ein Subjectionsverhältniss vor. quisitionsprozesses l i e g t :

I n dem P r i n c i p e

1. D e r zur Verfolgung

des I n -

berechtigte Staat ist

verpflichtet, zu untersuchen, selbst wenn der Beschädigte es nicht anregt;

2.

der

Angeschuldigte

hat keine

machen als diejenigen, welche i h m einräumt; bunden,

die

andern

Rechte

Billigkeit

geltend

zu

des Vorgesetzten

3. die Untersuchung ist nicht an Formen u n d Fristen gesondern v ö l l i g f r e i ;

4. die richterliche Entscheidung beruht

auf der Ueberzeugung. die W a h r h e i t gefunden zu h a b e n " 9 . 9 Damit ist zu vergleichen, was I i e p p , Anklageschaft S 30. 31, als die Normen bezeichnet, welche man gewöhnlich besondere, den gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess charakterisirende, speciell dessen Grundprincip, dem Streben nach der sog. materiellen Wahrheit entsprechende Normen nennt: 1. Die Notwendigkeit einer m a t e r i e l l e n Defension des Angeschuldigten, im Gegensatz zu der nur relativ-wesentlichen formellen Defension. 2. Die A k t e n m ä s s i g k e i t und zwar die volle Aktenmässigkeit des Verfahrens. 3. Die Trennung der Untersuchungs- von den erkennenden Behörden. 4. Die NichtÖffentlichkeit des Verfahrens. — Die am meisten sachgemässe, die Ziehung geradezu unpraktischer äusserster ( 'onsequenzen vermeidende Gegenüberstellung der beiden Typen bietet Za d i a r i a , Handbuch I 41 ff. Dieser verlangt die Sonderung der drei Gesichtspunkte: 1. Das Princip der materiellen und der formellen Wahrheit; 2. die Official- und die von P r i v a t willkür abhängige Rechtsverfolgung ; 3. die Untersuchungs- und die Verhandlungsmaxime — und charakterisirt die Verschiedenheit, „welche in den beiden gemeinrechtlichen Hauptformen des Anklage- und Untersuchungsprozesses zwar einen Ausdruck, aber keine conséquente Entwickelung gefunden hat", folgendermaassen : „Beide Principien können ebenmässig zur Erreichung des Zieles einer der Gerechtigkeit entsprechenden Entscheidung über die Schuldfrage führen, obwohl sie es auf verschiedenem Wege erstreben. Nach dem i n q u i s i t o r i s c h e n Princip wird die Erreichung dieses Zieles blos von der auf Erforschung der Wahrheit gerichteten, zwar g e s e t z l i c h g e r e g e l t e n , i n c o n c r e t o aber wesentlich nur durch das e i g e n e E r m e s s e n b e s t i m m t e n Thätigkeit des R i c h t e r s abhängig gemacht, dergestalt dass in seiner Person die Functionen der Anklage, der Vertheidigung und des prozessleitenden Richteramtes vereinigt erscheinen. Nach dem accusa tor i s c h e η Principe dagegen ist es die zwischen den selbständig auftretenden Subjecten des Angriffs und der Vertheidigung (dem Ankläger und Angeklagten), welche sich in g l e i c h b e r e c h t i g t e r S t e l l u n g gegenüberstehen, vom Richter geleitete, für den Zweck des Strafprozesses g e r e g e l t e c o n t r a d i c t o r ! s che V e r h a n d l u n g , durch welche die Erreichung des Zieles erstrebt werden soll. Als Oonse-

4.

Anklage- un

Untersuungsverfaren.

II. Die Hauptpunkte, in welchen sich die Verschiedenheit der beiden Typen äussert, sind folgende: 1. Die Vertretung des Rechts der Strafverfolgung durch eine vorn Richter gesonderte P e r s o n , und der Gegensatz zwischen dieser q u e η ζ e η des einfachen Begriffs ergeben sich für die Gestaltung des Strafprozesses : A. Aus dein i n q u i s i t o r i s c h e n P r i n c i p e : 1. dass unter Ausschluss aller Parteirollen und -rechte der R i c h t e r über Eröffnung, Fortsetzung und weitere Ausdehnung des Prozesses aus eigener Bewegung und nach eigenem Ermessen zu bestimmen , 2. dass er allein das für die Urtheilsfällung nöthige Material aufzusuchen, zu sammeln und zu sichern und alle zur Untersuchung der Sache nach s e i n e m Ermessen nothwendigen Schritte zu thun hat; 3. dass dabei auch der Beschuldigte zum Object der Untersuchung gemacht und für den Zweck derselben auch wider seinen Willen benutzt wird . . ., um von ihm Erklärungen über das Sachverhältniss, insbesondere ein Geständniss der Schuld, zu erlangen. B. Aus dem a c c u s a t o r i s c h e n P r i n c i p e ergiebtsich: 1. dass Angriff, Verteidigung und das, was zum unparteiischen Richteramt gehört, ihre besonderen, als wirkliche Prozess s u bj ec te auftretenden Organe erhalten und in das ihrer Natur entsprechende Verhältniss zu einander gesetzt werden müssen, unter Vermeidung jeder Vereinigung der generiseli verschiedenen Functionen in e i n e r Person; 2. die richterliche Thätigkeit ist in ihrem Beginn und im weiteren Verlauf des Verfahrens durch die A n t r ä g e der rechtverfolgenden und -vertheidigenden S u b j e c t e bedingt und dem G e g e n s t a n d nach auf das, was in judicium deducirt ist, b e s c h r ä n k t , ohne Befugniss zur Aenderung und weiteren Ausdehnung der Anklage; 3. es ist Sache der im contradictorischen Verhältniss stehenden Prozesssubjecte, das ihrem Zwecke dienliche Material für die Beurtheilung der Sache zu s a m m e l n und v o r z u l e g e n ; 4. Angriff und Vertheidigung haben, unter richterlicher Direction, g l e i c h e s p r o z e s s u a l i s c h e s R e c h t , und es darf keines von beiden auf Kosten des andern bevorzugt werden, so dass insbesondere der Beschuldigte in keiner Weise verpflichtet sein kann, dem Angriffe zu dienen, oder sich zum Beweise desselben gebrauchen zu lassen; 5. es müssen beiden Theilen in betreff der Anfechtung richterlicher Entscheidungen (interlocutorischer und Endsentenzen) gleiche Befugnisse für die von ihnen vertretene Seite der Rechtsverfolgung zugesprochen werden". Mit der vollsten Prägnanz endlich charakterisirt P l a n c k , Systematische Darstellung S 147 ff., den Gegensatz der Grundansichten" über die Organisation des Strafverfahrens. Seinen Gedankengang muss man a. a. 0. in der Detailausführung verfolgen; den Kern derselben drückt folgende Stelle aus: „Nach der einen Auffassung wird dem Strafgericht der Stoff v o r g e l e g t , es nimmt an dessen Sammlung keinen thätigen Antheil ; es beschränkt sich auf die Beurtheilung des vorgelegten Stoffs, auf die Entscheidung des Streits zwischen denjenigen Personen, welche bei der Erforschung betheiligt sind. Nach der zweiten sammelt es den zur Erkenntniss des Rechts tauglichen Stoff sich selbst. Die erste Auffassung fordert nothwendig das Auftreten anderer Personen, welche die Entscheidung des Gerichts über den von ihnen vorgelegten Stoff anrufen und, da sie ein entgegengesetztes Interesse verfolgen, als streitende Theile, als Parteien sich darstellen. Ilire Thätigkeit im Verfahren bedarf ebenfalls der gesetzlichen Anordnung, welche, ausgehend von dem leitenden Gedanken der Gleichheit der Parteienrechte, die beiderseitigen Befugnisse und Pflichten, die Form, Reihenfolge und Wirkung der Parti?ihandlungen feststellt. Das Strafverfahren erhält dadurch die Form eines

30

4.

Anklage- un

Untersuungsverfaren.

und dem Angeklagten, bei thunlichst gleicher Stellung dieser beiden Parteien zum Richter im a c c u s a t o r i s e l i e n Prozess, während der i n q u i s i t o r i s c h e Prozess nur zwei Personen einander gegenüberstellt: den Richter und den Beschuldigten. 2. Die E i n l e i t u n g des P r o z e s s e s (Initiative) hängt im accusatorisehen Prozess vom Begehren des Anklägers ab, im inquisiRe c h t s s t r e i t es. Sein Zweck ist die rechtsgiltige Anerkennung oder Verwerfung des behaupteten Strafrechts. Der hier leitende Gedanke wird bezeichnet mit dem Ausdruck: Verba ndlungsmaxime, (Accusations-) Anklageprincip. Der zweiten Auffassung dagegen ist das Auftreten anderer Personen etwas zufälliges, welches nur als Unterstützung der gerichtlichen Thätigkeit in Betracht kommen kann. Parteien kennt sie nicht; auch der des Verbrechens beschuldigte ist nur Object der richterlichen Thätigkeit. Das ganze Verfahren, soweit es sich mit Ermittelung des Strafrechts beschäftigt, trägt die Form einer U n t e r s u c h u n g . Der leitende Gedanke heisst hier daher: Untersuchungs- (Inquisitions-)Maxime, -Princip. Nur dieser von der verschieden gefassten Aufgabe des Gerichts, und folgeweise der Parteien, im Verfahren ausgehende Gegensatz gehört dem Prozessrecht an. Mit den beiden Ausdrücken, welche dafür gebraucht sind, verbinden indess manche Rechtslehrer einen ganz anderen Begriff. Nicht die Thätigkeit oder Unthätigkeit des Gerichts bei Sammlung des thatsächlichen zur Aburtheilung erforderlichen Stoffs erscheint ihnen die Grundlage des Unterschieds, sondern die Thätigkeit und Unthätigkeit des Staats. Der Staat nämlich kann sich der Verfolgung des Strafrechts gegenüber passiv verhalten. Das war der Fall, wie noch heutzutage bei bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, im alten römischen und deutschen Recht, so lange die Auffassung des Verbrechens als Privatverletzung vorherrschte. Die Folge der Unthätigkeit ist, dass den Rechtsuchenden, also den Parteien, die Sammlung des Stoffs überlassen bleibt, mithin ihrer Willkür unterliegt. Der Staat kann sich aber auch activ bei diesem Geschäft betheiligen. Und diese Richtung tritt geschichtlich hervor, sobald die höhere Auffassung des Verbrechens als Bruch der Rechtsordnung selbst sich ausbildet'·. Man vergleiche noch die Darstellung bei C a r r a r a § 843, I I 359. 360. Die Eigentümlichkeiten der accusatorischen Prozessform (§ 841 nennt er sie metodo accusatorio. § 842 f. sagt er, sie habe zur Grundlage das Princip, dass niemand vor Gericht gestellt werden könne ohne eine Anklage, die jemand gegen ihn vor den zuständigen Behörden a u f r e c h t e r h ä l t ) seien: 1. Volle Oeffentlichkeit des ganzen Verfahrens. 2. Persönliche Freiheit des Angeklagten bis zur endgiltigen Verurtheilung. 3. Absolute Gleichheit der Rechte und Gewalt des Anklägers und des Angeklagten. 4. Passivität des Richters bei Sammlung der Be- und Entlastungsbeweise. 5. Die Continuität der contradictorischen Verhandlung. 6. Die Synthese im ganzen Verfahren. — Dagegen sind (§ 844) Merkmale des inquisitorischen Prozesses: 1. Mitwirkung geheimer Denuntianten. 2. Die Leitung der Beweisaufnahme ganz in der Gewalt des Richters. 3. Schriftlichkeit der Untersuchung von Anfang bis zu Ende und Schriftlichkeit der Vertheidigung. 4. Heimlichkeit, selbst gegenüber dem Untersuchten, bis auf die (Konfrontationen und die Mittheilung des spruchreifen Prozesses. 5. Untersuchungshaft und einsame Absperrung. 6. Nichtcontinuität der Akte und Urtheilsfällung zu der dem Richter beliebigen Zeit, nach seiner Bequemlichkeit. 7. Analytische Anordnung des Verfahrens bis zur Aktenvorlage.

4.

Anklage- un

Untersuiungsverfaren.

torischen ist sie das Ergebniss eines Beschlusses, den der Richter kraft seines Amtes in pflichtmässiger Prüfung der Verhältnisse fasst: in Folge dessen ist 3. im ersteren Falle der Prozess die E r p r o b u n g d e r R i c h t i g k e i t einer P a r t e i b e l i a u p t u n g . im zweiten die einer vorläufigen A n n a h m e des R i c h t e r s . Im ersteren ist der Richter an die B e h a u p t u n g e n des Anklägers, an sein Begehren gebunden, welches die Grenze der im Prozess und Ilrtheil zu lösenden Aufgabe bezeichnet, dessen Z u r ü c k z i e h u n g dem Prozess ein Ende macht; es ist aber auch dem Angeklagten nur zuzumuthen, dass er gegen d i e s e Anklage sich vertheidige, wie sie vorliegt, dass er freigesprochen werde, wenn sie als ungegründet erscheint , gleichviel ob sie etwa in geänderter Gestalt sich hätte durchsetzen lassen. Im inquisitorischen Prozess kann alles das nicht hindern, dass der Gang und der Inhalt des Verfahrens sich ändern, sobald sich die V e r m u t h u n g e η des R i c h t e r s über das zu erwartende Ergebniss verändern, und dass er am Schluss der Ueberzeugung Ausdruck gebe, die die Ergebnisse der Untersuchung, gleichviel Avas diese ursprünglich veranlasste, in ihm hervorriefen. 4. Der accusatorische Prozess legt in erster Linie dem Ankläger die Pflicht auf, seine Behauptungen zu be w e i sen, d. h. den Richter von ihrer Richtigkeit zu überzeugen: weder der Angeklagte ist verpflichtet, ihn darin zu unterstützen, noch d a r f der Richter seine Thätigkeit ergänzen, statt deren Ergebniss abzuwarten und zu prüfen : wohl aber hat der Angeklagte ein Recht und ein Interesse der G e g e n w i r k u n g durch G e g e n b e w e i s , und hieraus entwickelt sich das Bedürfniss nach festen Grundsätzen über B e w T e i s l a s t , Formen und Gang des B e w e i s v e r f a h r e n s . Der i n q u i s i t o r i s c h e Prozess weist den Richter an, die Wahrheit zu suchen, giebt ihm nahezu unumschränkte Rechte in Bezug auf die Verschaffung der Mittel hierfür und macht unvermeidlich den Beschuldigten zu dein wichtigsten G e g e n s t a n d dieser nachforschenden Thätigkeit. 5. In Bezug auf die W ü r d i g u n g des g e f ü h r t e n B e w e i s e s macht der accusatorische Prozess das Bedürfniss fühlbar, dass die Grundsätze, von welchen sich der Richter dabei leiten lässt, den Parteien bekannt seien, damit sich ihre Beweisthätigkeit darauf einrichten könne, während andererseits der Richter dabei seinem persönlichen Eindruck um so leichter überlassen werden kann, als er mit völliger Unbefangenheit an die Prüfung des Beweisergebnisses geht und als es sich überhaupt nicht darum handelt, auszusprechen, was w a h r i s t , sondern was sich als Ergebniss der B e w e i s t h ä t i g k e i t

32

S 4.

Anklage- unii Untersudiungsverfaliren.

d e r P a r t e i e n darstellt. Auf dem Gebiete des inquisitorischen Prozesses bestehen zwar die entgegengesetzten Verhältnisse; allein die historische Sonderung des untersuchenden und des urtheilenden Richters hat doch auch hier das Bedürfniss hervorgerufen, dass ersterem die Forderungen des letzteren bekannt seien, und wenn der Staat den Strafprozess so regelt, dass er die Entdeckung der Wahrheit von jeder Parteithätigkeit unabhängig zu machen verspricht, muss er das Bedürfniss empfinden, die Feststellung der letzteren auch gegenüber der etwa blos individuellen Auffassung des Richters möglichst zu sichern. Eben darum kann man nicht sagen, dass der eine oder der andere Typus eine bestimmte Stellung zu der Frage nothwendig mache, ob dem urtheilenden Richter überlassen werden solle, nach persönlicher Ueberzeugung allein über das Beweisergebniss zu urtheilen oder ob er an B e w e i s r e g e l n zu binden sei. 6. Was G a n g und G l i e d e r u n g des P r o z e s s e s betrifft, so verlangt der a c c u s a t o r i s c h e Prozess, dass sie möglichst ausgesprochen seien und fest eingehalten werden ; er führt aber auch dahin, dass ein grosser Theil der Prozessthätigkeit von den Parteien aussergerichtlicli, ja selbst vor Beginn des Prozesses besorgt wrerde, dass beide Tlieile ihre gerichtliche Thätigkeit bis zu dem Augenblick aufsparen, wo sie cler entscheidenden Persönlichkeit, dem Richter, deren Ergebnisse vorlegen — dass letzteres unter fortwährender gegenseitiger Ueberwachung und Bekämpfung geschehen muss — und dass möglichst dafür gesorgt wird, dass die so vorbereitete Entscheidung der Verhandlung rasch und sicher folge. Daraus folgt die S ο η de r u n g i η e i η λ τ ο r ν e r f a l l r e η , das mehr die F e s t s t· e 11 u il g d e r Ρ r ο ζ es s r o l l e n als die Sache selbst und die Prüfung der formellen Zulässigkeit der Anklage zum Gegenstande hat, und in eine u n m i t t e l b a r vor dem urtheilenden Richter von den gleichzeitig anwesenden Parteien (c o n t r a d i e t o r is eli) zu führende Hauptverhandlung. Im Gegensatz hierzu drängt der i n q u i s i t o r i s c h e Prozess zu möglichst freiem und formlosem Beginn des Verfahrens, zur Vertheilung der Untersuchungsakte nach den sie am meisten begünstigenden örtlichen und zeitlichen Verhältnissen, mit Beseitigung der aus einer jeden Gliederung des Prozesses sich ergebenden Hindernisse — eben darum aber auch zur s c h r i f t l i c h e n Aufzeichnung der Ergebnisse der Untersuchung und dazu, dass der Richterspruch wesentlich auf diesen schriftlichen Aufzeichnungen beruhe. Daraus folgt: der accusatorische Prozess ist seiner Natur nach gegliedert und findet seinen Mittelpunkt in einer mündlichen, eontradictorischen Verhandlung, der inquisitorische Prozess sträubt sich gegen jede Gliederung, gegen jede Fixinmg- eines Stadiums.

S 4.

Anklage- un

Untersuiugsverfaren.

in welchem eine endgiltige Lösung einer bestimmten Aufgabe erfolgen muss, und ist dämm seiner Natur nach s c h r i f t l i c h und eben darum dem unmittelbaren Verkehr zwischen Richter und Partei, ja selbst der Kenntnissnahine der letzteren vom Gange des Verfahrens ( P a r t e i e n ö f f e n t l i c h k e i t ) ungünstig. 7. Der accusatorische Prozess fordert vom Richter eine endgiltige Entscheidung auf Grund des gegebenen Materials, zu Gunsten d e r Partei, die auf Grund desselben als dazu berechtigt erscheint. Der i n q u i s i t o r i s c h e Prozess widerstrebt der Anerkennung der f o r m e l l e n R e c h t s k r a f t und der Nöthigung des Richters zu einem bestimmten Ausspruch; er begünstigt die Zulassung e v a s i ν er und die Sache i m Z w e i f e l lassender Aussprüche des Gerichts. I I I . So gross dieser Gegensatz ist, und so vielfach er in der Geschichte cles Strafprozesses sich wirksam gezeigt hat, so wäre es doch ein Irrthuin, auf ihn allein die Gestaltung des Strafprozesses zurückführen zu wollen ; vielmehr muss man sich dabei folgendes gegenwärtig halten: 1. Es ist nicht richtig, dass der Gegensatz der geschilderten Prozesstypen lediglich auf die Anerkennung oder Verleugnung der öffentlich-rechtlich en Natur des Strafrechts zurückzuführen ist. Weder die Aufstellung eines ausschliesslichen Rechts des Staates, noch die Betonung seiner unbedingten Pflicht, für die Bestrafung der Verbrechen zu sorgen, noch die hieraus abgeleitete Unzulässigkeit eines Verzichtes führt nothwendig zu all denjenigen Consequenzen, die im inquisitorischen Prozesstypus hervortreten. Es lieisst den Anklageprozess ganz einseitig auffassen, wenn man sein Wesen darin erblickt, dass der Private, etwa gar nur der durch die strafbare Handlung beschädigte, die Strafverfolgung als sein ausschliessliches Recht übt. Alle von diesem Gesichtspunkt abgeleiteten und ihm zur Last gelegten, allerdings unerträglichen Consequenzen entfallen, sobald man Organe des Staates als Träger der Anklage zulässt. Es ist aber mit Recht bemerkt worden, dass die Aufstellung eines öffentlichen Anklägers, die nothwendig zu mannichfachen Abweichungen von dem inquisitorischen Prozesstypus führen muss, gerade dem angeblich dem letzteren zu Grunde liegenden Princip mehr entsprechen würde als dem Gegensatz desselben, wie es denn der historischen Wahrheit widerspricht, den accusatorischen Prozess als auf der privatrechtlichen Behandlung des Strafrechts beruhend hinzustellen. Umgekehrt wäre auch mit letzterer ein Prozess begrifflich nicht unvereinbar, vermöge dessen die Parteien sich auf clie Anrufung des Richters beschränken und sodann alles weitere diesem überlassen. — Ist ein öffentlicher Ankläger Binding, Handbuch. IX. 4. i :

G l a s e r , Strafprozess.

I.

3

34

4.

aufgestellt,

Anklage- un

so k a n n die Frage

Untersuungsverfaren.

der Zulässigkeit

ausdrücklichen

oder

stillschweigenden Verzichtes, die allerdings m i t der öffentlich-rechtlichen N a t u r des Strafrechts zusammenhängt,

auf die Grundform

des Straf-

prozesses umsoweniger einen entscheidenden Einfluss üben, als sie für die

regelmässig

wiederkehrenden,

alltäglichen Aufgaben

des

Straf-

prozesses gar nicht i n Betracht k o m m t , für Ausnahmeverhältnisse aber durch ihnen entsprechende

Specialmaassregeln

gesorgt werden kann,

ohne dass es nöthig ist, u m i h r e t w i l l e n den Prozess auf unzutreffende Voraussetzungen zu bauen (auf die Geneigtheit des Angeklagten, sich unschuldig verurtheilen, oder die des Anklägers, clen Schuldigen,

den

von i h m angeklagten, dem Gesetz zum Hohn, entrinnen zu lassen). Einseitig ist es daher nicht m i n d e r , das Streben nach m a t e r i e l l e r ihn

geltenden 10

Grundsatz

dem

Wahrheit

zuzuschreiben10;

Untersuehungsprozess als ausschliesslich

man

mag

nun

für

dieses

Das unhaltbare dieser Behauptung hat namentlich I l e p p , Anklageschaft S 10—30, schlagend nachgewiesen; und Ζ ach a r i ä sagt (Gebrechen und Reform S 40 u. 41): „Untersuchungsprincip und Erforschung materieller Wahrheit verhält sich zu einander blos wie Mittel zum Zweck, ohne dass es das einzige und ausschliessliche Mittel genannt werden könnte. Im Prozess überhaupt handelt es sich um die Erkenntniss geschichtlicher Facta, zu welcher sehr wohl verschiedene AVege führen können. Selbst der bürgerliche Prozess verzichtet nicht auf die Herstellung des materiellen Rechts und will n i c h t b l o s eine formelle Wahrheit erreichen, obwohl ihm das Untersuchungsprincip ganz fremd ist. Nur lässt er natürlich die Parteien über das verfolgte oder vertheidigte Recht disponimi und nöthigt deshaH) keiner derselben ein Angriffs- oder Yertheidigungsmittel auf . . . . Für das Strafverfahren ergiebt sich nun freilich, wie schon oben bemerkt wurde, unmittelbar aus dem AYesen des Verbrechens und der Strafe die Notwendigkeit, nur den wirklich schuldigen zu strafen, und damit die Unmöglichkeit, die Frage über Schuld oder Unschuld von der Willkür der darin handelnden Subjecte abhängig zu machen. Darin liegt aber durchaus nicht die Sanction des Untersuchungsprincips. Im Gegentheil wird, selbst bei strenger Festhaltung des accusatorischen Princips, die auf materielle Wahrheit gerichtete Forderung sich wenigstens n e g a t i v durch A^erwerfung dessen, was zur Bestrafung eines Unschuldigen führen könnte, geltend machen, und hat sich nach dem Zeugniss der Geschichte überall geltend gemacht. Offenbar gehört die Identiticirung des I n q u i s ì t i onspr i n cip s und des P r i n c i p s der m a t e r i e l l e n Wahrheit zu den verbreitetsten, aber auch zu den schädlichsten Irrthümern der neueren Zeit. Sie ist die Quelle der verkehrtesten und widersprechendsten Behauptungen. An sich haben beide Principien gar nichts mit einander gemein, wenn es auch richtig sein sollte, dass das inquisitorische Princip die Erforschung der materiellen AVahrheit sicherer und kräftiger erziele als das accusatorische, wobei man aber wieder nicht unerwogen lassen darf, dass dieser Vorzug des Inquisitionsprincips in Betreff der Herstellung materieller AVahrheit gerade auf der höchst bedenklichen, für ein gerechtes Strafverfahren gefährlichen Eigenschaft desselben beruht, vermöge welcher es nämlich dem mit der Untersuchung beauftragten die freiesten Allmächten ausstellt, dessen s u b j e c t i v e s E r m e s s e n

§ 4.

35

Anklage- und Untersuchungs verfahren.

Stieben als Consequenz der Anerkennung der öffentlich-rechtlichen Natur des Strafrechts hinstellen oder umgekehrt aus der Notwendigkeit der Erzielung der „materiellen Wahrheit" die der Verfolgung von Amts wegen (das Offlcialprincip) ableiten. Die Wahrheit zur Geltung zu bringen ist der Zweck jedes Prozesses; jeder erhält diejenige Einrichtung, welche am besten zu verbürgen scheint, dass die Wahrheit, die das Urtheil verkündet, mit der geschichtlichen Wahrheit übereinstimme; keiner wird so eingerichtet werden können, dass nicht die Mittel, die dies sichern sollen, manchmal versagen, ja selbst clem ihnen gesteckten Zweck entgegenarbeiten. Der Untersuchungsprozess schlägt die Gefahr höher an, welche der Wahrheit von dem einseitigen Interesse, von der Hilflosigkeit und der Schwäche der Parteien droht·, und flüchtet sich in die unbeirrte, concentrirte Thätigkeit des Gerichtes; der Anklageprozess sieht die Einseitigkeit des Gerichtes und die Fernhaltung der Parteien als Gefahren für die Dartliuung der Wahrheit an. Vielmehr ist in dem Gegensatz der beiden Prozesstypen nur der innere Gegensatz der an den juristischen Prozess als solchen gestellten Anforderungen, der Gegensatz zwischen freier Forschung und juristischer Regelung, zwischen materieller Wahrheit und schützenden Formen, zwischen Individualisirung und Generalisirung, zum Ausdruck gebracht. Andererseits übt auf b e i d e Prozesstypen der Umstand einen unvermeidlichen Einfluss, das der im juristischen Prozess vorausgesetzte Gegensatz zweier Interessen im Strafprozess nicht in gleicher Weise vorhanden ist wie im Civilprozess. Hieraus folgt zunächst einmal die Unzulässigkeit bindender Kraft eines willkürlichen, der Wahrheit widersprechenden Geständnisses des Angeklagten und wTeiter überhaupt die der Berechtigung oder gar Verpflichtung des Richters, sich einen erfundenen Thatumstand durch angenommene oder auch selbst ausdrücklich erklärte Uebereinstinmiung der Parteien als Grundlage des Urtheils darbieten zu lassen. So ergeben sich als n e g a t i v e Regeln, wrelche in jedem nicht ganz primitiven Strafprozess Geltung haben, die Sätze: D i e S t r a f v e r f o l g u n g ist unabhängig von P r i v a t w i l l k ü r ; die that sächlichen F e s t s t e l l u n g e n des U r t h e i l s s i n d u n a b h ä n g i g v o n d e r W i l l k ü r der Parteien. zur dominirenden Entscheidungsnorm erhebt, in dem der Untersuchung unterworfenen, welcher mehr als Sache behandelt wird, die Rechte freier Persönlichkeit ignorirt und dadurch zur Anwendung hiermit unverträglicher, an sich verwerflicher und nur durch den Z w e c k gerechtfertigter Mittel hingeführt wird". Vgl. auch J o h n , StPO S 18 ff. 3*

36

4.

2.

Alles

Anklage- un

Untersuungsverfaren.

dies ermöglicht Yermittelungs - u n d

Uebergangsgestal-

tungen, die ganz undenkbar wären, wäre der Unterschied der beiden T y p e n w i r k l i c h durch einen obersten Satz, der n u r neint

werden kann, bedingt.

bejaht oder v e r -

Sie sind aber vollkommen

lebensfähig

und unentbehrlich u n d verlieren ihre Berechtigung dadurch nicht, dass man, u m

sie theoretisch zu begründen,

zwischen

Prozessprincip

u n d P r ο ζ e s s f ο r m unterscheidend, einen auf dein U n t e r s u c h u n g s princip

und

der

A n k l a g eform

beruhenden

Prozess

statuirt,

ein Unternehmen, das allerdings daran scheitern muss, dass dasjenige nicht als das Princip eines Prozesses gelten k a n n ,

was dessen F o r m

nicht bestimmt, sondern durch E n t l e h n u n g der angeblich seinem Gegensatz entsprechenden F o r m e n

verleugnet

werden m u s s 1 1 . —

D i e un-

11 Vgl. oben Anm 7. In letzter Linie ist es allerdings nur ein Streit um Worte. Die Geltung der Grundsätze, dass der Strafprozess nicht von der Privatdisposition über die Anklage abhänge und dass dem Urtheil nicht Fictionen zu Grunde liegen dürfen, bestreitet eigentlich niemand; ebensowenig wird andererseits bestritten, dass aus deren Annahme nicht nothwendig eine bestimmte Grundform des Strafprozesses, entsprechend derjenigen, welche man lange Zeit als durch jene Sätze charakterisirt ansah, folge. Sie bildeten das Princip des gemeinen deutschen Prozesses, wie er sich von der Carolina bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gestaltete, d. h. sie bestimmten dessen Grundform und was für diese das entscheidende ist: die Stellung des Richters zu den Parteien. Es kann nur Verwirrung erzeugen, wenn man das gleiche Princip einem Prozess zu Grunde legen will, dessen Grundform, dessen Regelung des Verhältnisses des Richters zu den Parteien etwa die entgegengesetzte wäre. Es ist nicht ganz leicht, den Ursprung dieser Unterscheidung von P r o z e s s p r i n c i p und P r o ζ e ss f o r m nachzuweisen. Spuren davon finden sich schon in A h e g g s Lehrbuch des gemeinen Criminalprozesses (1833) § 148, wo von den „gemeinrechtlich anerkannten Hauptformen des strafrechtlichen Verfahrens, nämlich des Untersuchungs- und des Anklageprozesses" die Rede ist und bemerkt wird, „selbst das in Frankreich u. s. w. übliche, sich der Form des Anklageprozesses nähernde Verfahren stütze sich auf die Untersuchungsmaxime, die auch, wiewohl in geringerem Grade, im englischen Prozess erkennbar ist". Daran anknüpfend sagt A h e g g in seinen „Beiträgen zur Strafprozessgesetzgebung" S 46 if. : .,dass, wenn das P r i n c i p der Untersuchung von Amtswegen ein nothwendiges, im Hechte gegründetes sei, die Frage nach der F o r m zugleich der Politik angehöre . . . dass die Richtung unserer Zeit sich, mit Beibehaltung des U n t e r su chu η gsp r i n c i p s, der accu s at ο r i s e l i en F o r m zuwendet" . . . Bezeichnend für den Wortstreit, der hier immer bei oft weitgehendem Einverständniss in der Sache geführt wurde, ist noch folgende Bemerkung A h e g g s (das. Anm 44): „ L e u e erkennt richtig an, dass Anklage- und Untersuchungsprozess sich nicht ausschliessen, aber er hält sich theils nicht frei von der Verwechslung des Principe und der Form, theils entstellt er (las Verhältniss, einer vorgefassten Ansicht zu Liebe. Wenn er sagt: »Der Criniinalprozess ist immer Anklageprozess: dieser aber erscheint entweder in seiner reinen Form oder versteckt und verunstaltet in der Untersuchung von Amtswegen: da ist er aber immer«; so ist vielmehr gerade das G e g e n t l i e i l das richtige. Es wird jetzt immer von Amtswegen die Untersuchung und das ganze

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befangene Betrachtung der beiden Prozesstypen zeigt aber, dass jeder derselben einer mannichfaltigen Entwickelung fähig ist, dass keiner von Verfahren bewirkt, aber dieses Princip erscheint entweder in der Form des Anklageoder des Untersuchungsprozesses". Allein trotz seiner regen Aufmerksamkeit für alles neu auftauchende ignorirt M i t t e r m ai er in seinem 1845 erschienenen Buch über „Mündlichkeit" u. s. w. diese Unterscheidung noch ganz, obgleich er der schroffen Betonung des Gegensatzes der beiden Prozessprincipien entgegentritt. Er sagt 8 281 : „Die richtige Würdigung des Werthes der zwei Grundprincipien des Strafprozesses, des Anklage- und des Untersuchungsprincips, ist zum grossen Theile durch die Einseitigkeit, mit welcher man nicht selten die B e g r i f f e der b e i d e n F o r m e n auffasste, und durch den schroffen Gegensatz, in welchem die Principien von einander geschieden wurden, erschwert worden". In der Besprechung dieses Buches nun sehen wir I v ö s t l i n (in Schweglers J 1845 S 906 ff.) zuerst, wie mir scheint, den Vorwurf erheben, dass es das Anklage- und Untersuchungsprincip nicht gehörig zu scheiden wisse und Form und Princip durcheinander werfe. Bald darauf wurde in einer Schrift, welche der Hauptsache nach zu ganz anderen Resultaten als Ivöstlin gelangt (Die strafrechtlichen Fragen der Gegenwart; von einem süddeutschen Juristen. Heidelberg 1847), dieselbe Unterscheidung mit folgenden Worten vorangestellt (S 13): „Streit ist nicht so sehr darüber, was Untersuchung und Anklage sei, als vielmehr darüber, ob neben jenen beiden die öffentliche Anklage als ein dritter und wesentlich anderer Organismus stehe, oder wenn nicht, ob die öffentliche Anklage im Untersuchungsprincip und nur in der Anklage for m oder in Princip und Form der Anklage sich bewege? Bei der Unterscheidung dieser einzelnen Begriffe kommt es natürlich nicht darauf an, beliebig erst Formen zu richten und in diesen dann die Substanz zurecht zu legen, vielmehr sind in dem ganzen der prozessualischen Entwickelung die vorhandenen Gestalten nach ihren hauptsächlichen Momenten, d. h. hier: so wahrzunehmen, wie sie auf eigentümlichen Rechtsansichten ruhen und wie diese naturgemäss in entsprechende Organismen sich ausleben mussten. In dieser Hinsicht sehen wir durch die Geschichte zweierlei Gedanken, bald neben- bald ineinander, zuletzt den einen über den andern gehen. Beiden ist das gemein, dass Urtheil und Vollzug vom Staate kommen. Dass diese aber überhaupt eintreten, dann rücksichtlich welcher Person, und wie viel Stoff' geboten werde zur rechten Ansicht von der Schuld, ist bald auf die beliebige E r schliessung und das Gelingen des Privaten gestellt, der s e i n e n Sinn w i d e r e i n e n a n d e r n vor Gericht durchsetzen will. Das ist Anklage. Bald ist nicht nur Urtheil und Vollzug, sondern auch Verfolgung und Beweis des V e r b r e c h e n s mit Einsicht und Machtmitteln des Staats, und zwar jedesmal als n o t h w e n d i g , angeordnet. Das ist Untersuchung. Fragen wir nun, in welchem Verhältniss die später noch hinzugetretene ö f f e n t l i c h e Anklage zu jenen beiden Maximen stehe, so ist zunächst zu bemerken, dass sie nichts neues, d. i. nicht solches enthält, was nicht schon in der einen oder der andern von jenen enthalten wäre. Denn so ferne sie das Einschreiten und die Beweisführung von Amtswegen in Criminalsachen statuirt, will sie nichts als was die Untersuchung selbst will. So ferne sie aber zu jenem Ende eine Staatsbehörde als P a r t e i aufstellt, welche die Verurtheilung des Angeklagten in contradictorischer Verhandlung anstrebt, geräth sie in die Weise der Anklage. — Fragen wir dann weiter, in welcher der beiden Hauptrichtungen die öffentliche Anklage dem P r i n c i p nach und in welcher sie der F o r m nach stehe.

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beiden zum Extrem ausgebildet werden muss, dass dalier nicht alle dem einen derselben näher liegenden Erscheinungsformen und Modaliso kommt zu erwägen, dass auch sie, die "Willkür und Zufälligkeit der Anklage abweisend, die Behauptung des Hechts als einer η ο t h w en d i g en Ordnung, d. i. die Verfolgung des Verbrechens von Amtswegen ins Auge fasst, zur Erreichung jenes ihres endlichen Z i e l e s aber die Rollenverteilung und contradictorische Verhandlung der Anklage für geeignet hält. Weil nun die öffentliche Anklage den gleichen Rechtsboden und die gleiche Absicht mit der Untersuchung gemein hat und zur Erreichung des ihr mit der Untersuchung gemeinschaftlichen Z w e c k e s die Weise der Anklage nur als Mittel annimmt, so muss, wenn irgend hierauf etwas ankömmt, gesagt werden, dass sie im Untersuchungsprincip und in der Anklage form sich befinde". Das ist nun allerdings ein bequemer Ausgangspunkt für eine blosse Darlegung des gegebenen mit der Tendenz principieller Beibehaltung des nicht blos auf dem Inquisitionsprincip, sondern auch auf der Untersuchungsform beruhenden Prozesses. Schwieriger aber war die Stellung K ö s t l i n s , der ganz das Gegentheil wollte. Er musste sich bald von Z a c h a r i ä (Gebrechen und Reform S 32. 33) sagen lassen: „Wie oft hat man auch von der Seite her, die eine radicale Umgestaltung des Strafverfahrens verlangt, das Zugeständniss vernommen: das Untersuchungsprincip müsse die Seele des neueren Strafprozesses bleiben, aber der Prozess accusatorisch werden, damit man auch hier gegenüberstehende Parteien, einen davon verschiedenen Richter und eine »organische Gliederung« des Verfahrens habe ! Ist das nicht ein sonderbares Verfahren, das auf dem entgegengesetzten Principe seiner wirklichen Gestaltung beruht? Ist hier nicht die accusatorische Form ein unberechtigter Aufdringling, der seine Legitimation aus fremden Papieren beschaffen muss? Oder meint man wirklich, dass die Form eben nur etwas rein äusserliches sei? Wozu dann diese F o r m , die, wenn sie nicht auf der Notwendigkeit des a c c u s a t o r i s c h e n P r i n c i p e s beruht, eine Schale ohne Kern ist! Die Sache ist die, dass man eben das Wesen des inquisitorischen und accusatorischen Princips nicht erfasst und dabei von einer zu beschränkten oder unrichtigen Begriffsbestimmung oder auch von gar keiner ausgegangen ist". Was hierauf K ö s t l i n (zunächst in Schweglers J 1847 S 289 ff. und insbes. S 294 u. 295, sodann auch Wendepunkt S 39 ff.) antwortet, concentrili; sich in dem Satze : „Der Grundirrthum ist der, dass diese und andere Juristen gewöhnlich das Princip des Verfahrens mit blossen Formen desselben verwechseln. Sie unterscheiden das Anklageprincip von dem Untersuchungsprincip. Letzteres identificiren sie sofort mit dem Princip unseres bestehenden Prozesses, welcher doch in Wahrheit nur eine fratzenhafte Abart des naturgemäss entwickelten Untersuchungsverfahrens bildet; und so kommen sie zu der Forderung, dass unser Prozess das Untersuchungsprincip aufgeben und das Anklageprincip annehmen, oder gar dass er beide Principien in sich vereinigen soll, wovon das erste eine geschichtliche, das letzte eine logische Unmöglichkeit ist". Der Grund des Irrthums liege darin, dass der Untersuchungsprozess überhaupt mit dem des gemeinen deutschen Rechts unter \rerkennung der „unorganischen Eigenschaft" des letzteren verwechselt werde. Vielmehr könne dieser auch organisch gegliedert sein; in diesem Falle werden „die verschiedenen Interessen, die im Strafprozesse wesentlich ihre Befriedigung suchen, auch ihre verschiedenen Organe haben, es werden also auch die parteilichen Interessen ihre relativ selbständige \ 7 ertretung finden, insbesondere wird aber die Function der A u f s u c h u n g und V e r f o l g u n g des V e r b r e c h e n s , w e l c h e e i n e i n s e i t i g e s I n t e r e s s e involvirt, von der

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tüten gleichmässig durch die Consequenz geboten oder gleichmässig unvereinbar sind mit dem entgegengesetzten Typus. (Beispiele bietet Function seiner Untersuchung, welche die höchste Unparteilichkeit fordert, formell vollständig getrennt sein müssen ; es wird also jene einem besondern Beamten, dem Staatsanwalte zu übertragen, und, da wesentliche unterschiedene Momente in einem Organismus auch in ihren Functionen gegen einander relativ selbständig sein müssen, das Verfolgen des Verbrechens als eigenthiimliches Geschäft dem Staatsanwalte zuzutheilen sein, so dass nur im Nothfalle auch der Untersuchungsrichter Handlungen dieser Art vornehmen darf, während er für die Regel darauf beschränkt bleiben muss, nur das zu untersuchen, zu dessen Untersuchung der Staat durch seinen Anwalt ihn auffordert. Zu all dem bedarf es aber keinesfalls der Herbeiziehung des Anklageprincips, wodurch nur Verwirrung in die Sache kommt. Vielmehr kommt es nur darauf an, dem Untersuchungsprincipe seine richtige Durchführung zu geben". Um nun daran festhalten zu können, dass der so umgestaltete Prozess mit seinem Princip vereinbar sei, und der Einwendung zu begegnen, dass die Verbindung accusatorischer Formen mit der Verfolgung der Verbrechen von Amtswegen mehrfach in der Geschichte vorgekommen sei, sieht er sich genöthigt zu erklären, dass „in den betreifenden Fällen von einer blossen Form des Verfahrens die Rede ist, während das Princip desselben in der amtlichen Verfolgung des Verbrechens beruht", da man unter dem Anklageprincip doch wohl nichts anderes verstehen könne „als dies, dass die Verfolgung des Verbrechens von der Willkür eines Anklägers abhängig gemacht, dass der Verlauf des ganzen Prozesses nach der Maxime des bürgerlichen Verfahrens eingerichtet, dass das Gericht indifferent in die Mitte gestellt, kurz dass das Anklagen nicht blosse Form eines durch ein anderes Princip beherrschten Verfahrens ist, sondern darin das bedingende Grundelement für alles weitere liegt. Dies ist aber eben nur da der Fall, wro die Anklage in die Privatwillkür gestellt ist, nicht aber da, wo der Staat ein dazu verpflichtetes Organ stellt, da im letztern Fall das Verzichtsprincip, welches dem Anklageprozesse wesentlich ist, schlechthin ausgeschlossen wird". Allein wenn einmal für die Anklage der Staat ein dazu verpflichtetes Organ stellt und dieselbe daher nicht mehr in die Privatwillkür gestellt ist, warum muss hier dann die Anklage „eine blosse Form" sein, und warum ist ein Prozess, der diese Form nicht kennt, unorganisch? Ist es nicht richtig, dass für die Gestaltung des Strafprozesses das Vorhandensein eines Anklägers, der blos „der Form wegen" aufgestellt wird, überflüssig wäre und dem nicht entspricht, was I v ö s t l i n erwartet, wrenn er aber nicht blos pro forma thätig ist, sein Vorhandensein auf die ganze Gestaltung des Prozesses einwirken muss? Und was wäre ein Prozessprincip, das in Bezug auf die Gestaltung des Verfahrens den einem entgegengesetzten Prozessprincip ihren Ursprung verdankenden Formen Raum gewähren muss, Formen, die Κ ö s 11 i η selbst zurückführt (Wendepunkt S 50) auf die „Scheidung der parteilichen Interessen von der unparteilichen Thätigkeit des Richters", welche „in beiden Formen des Prozesses, im bürgerlichen wie im Strafverfahren, in gleicher Weise geboten" sei. Lässt es sich nicht auch umdrehen, wenn er (Schweglers J 1847 S 298) fragt, „was für einen Sinn denn das Anklageprincip haben soll, wenn es nicht eben als Princip den ganzen Gang des Verfahrens determinirt"? — In der That geschieht dies auch bei Z a c h a r i ä , Gebrechen S 35, folgendermaassen: „ I v ö s t l i n sagt: Das Ganze lässt sich so zusammenfassen: I m S t r a f v e r f a h r e n muss das U n t e r s u c h u n g s p r i n c i p h e r r s c h e n , d. h. von A m t s w e g e n v e r f a h r e n w e r d e n ; aber es genügt für

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das oben über die Gliederung des Prozesses und über die Mündlichkeit gesagte.) Die geschichtliche Entwickelung bringt es vielmehr mit sich, dass nachfolgende Epochen selbst aus den Yerirrungen und Uebertreibungen einer früheren Nutzen ziehen, unci dass das Gute, das selbst aus Fehlern sich oft herausentwickelt , nicht mehr verloren gehen kann. Es ist daher thatsächlich nicht möglich und wissenschaftlich nicht gerechtfertigt, ein sog. reines Prozessprincip in der Weise aufzustellen, dass man glaubt, jede positive Forderung durch Ableitung aus diesem, jede negative durch den Nachweis, dass das zur Beseitigung bestimmte aus dem entgegengesetzten Princip herausgewachsen sei oder sich daraus ableiten lasse, rechtfertigen zu können. 3. Ueberdies aber erschöpft der Gegensatz des Anklage- und Untersuchungsprozesses keineswegs die Summe der Bedingungen, von welchen die Gestaltung des Strafprozesses abhängig ist. Am deutlichsten sieht man dies beim B e w e i s , der doch den Mittelpunkt jedes Prozesses bildet. Schon oben hat sich gezeigt, (lass die wichtige Frage der juristischen Regelung oder der Freiheit der Β e w e i s W ü r d i g u n g von dem Prozesstypus kaum beeinflusst wird. Aber auch die viel wichtigere Frage: was ist geeignet, als Beweis, als sachlicher Grund für den richterlichen Ausspruch über die Wahrheit einer Thatsache zu dienen? — kann mit dem Gegensatz der beiden Prozesstypen nur künstlich in Verbindung gebracht werden. Ihre Lösung hängt \ielinehr von ganz anderen Verhältnissen, von der Erkenntniss der Gesetze des Denkens, von der Verbreitung richtiger Ansichten über das Walten der Natui' und das innere Leben des Menschen, ganz besonders aber von staatsrechtlichen Momenten ab, welche die Grenze bestimmen, an welcher das öffentliche Interesse vor dem des einzelnen Bürgers Halt machen muss. Aehnlich verhält es sich mit andern Fragen, welche den Gegensatz zwischen der bürgerlichen Freiheit und der Macht der Staatsgewalt die Staatsfunctionen, die hier vorkommen, nicht an einem Organ ; vielmehr bedarf es zweier, eines Staatsanwalts für die V e r f o l g u n g , eines Inquirenten für die U n t e r s u c h u η g. Nun könnte man, ohne durch diese Begründung des angeblichen Untersuchungsprincips in irgend etwas widerlegt zu werden, gerade im Gegensatz davon das Ganze so zusammenfassen: Im Strafprozess muss von Amtswegen verfahren werden und das accusatorische Princip herrschen — und dadurch schon den offenbaren Vortheil erlangen, dass man das weitere nicht mit einem « a b e r « anzuknüpfen brauchte, sondern fortfahren dürfte: D a h e r genügt es für die Staatsfunctionen, die hier vorkommen, nicht an einem Organ, sondern es muss ein vom Richter verschiedener A n k l ä g e r als Organ des Staats auftreten". — Für die Sprachenverwirrung, welche durch das Durcheinanderrütteln der Ausdrücke: „Anklagegrundsatz" und „Anklageform" hervorgerufen wird, findet man reiche Belege· in der sie billigenden Darstellung bei O r t lo ff, Strafverfahren S 18—27.

§ 5. Sonstige Kiemente, welche die Gestaltung des Strafprozesses bedingen.

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betreffen. Ein anderes Beispiel bietet die Frage, ob der einmal ergangene Spruch unabänderlich sein oder (durch R e c h t s m i t t e l ) soll angefochten werden können u. s. w. § 5.

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E l e m e n t e , w e l c h e die G e s t a l t u n g S t r a f ρ r oz e s s e s b e d i n g e n .

des

I. Die Aufgabe des Strafprozesses und seine Eigenart sind oben bereits dargestellt worden; im Hauptpunkt ist erstere gleichartig mit anderen Aufgaben, deren Lösung von der Feststellung unbekannter oder zweifelhafter Thatsaehen abhängt, verlangt sie möglichst ungehemmte, diesem Zweck entsprechende Benutzung aller dazu dienenden Mittel. Dieses oberste Gesetz wird beschränkt durch die ebenfalls bereits dargestellten Verhältnisse, welche die Einhaltung der Grundformen des juristischen Prozesses mit jenen Modificationen, die die Eigenart des Strafprozesses bedingt, mit sich bringt. Die Würdigung der von diesen beiden Ausgangspunkten sich ergebenden Folgerungen führt dahin, dass für j e d e 4 η Strafprozess, der denselben gerecht werden soll, folgende Hauptpunkte aufgestellt werden müssen: 1. Ein u n b e f a n g e n e r Richter, d. h. ein solcher, der ohne vorgefasste Meinung und ohne selbst Partei genommen zu haben, an die Beurtheilung der Sache geht, entschlossen, seine Entscheidung nur auf dasjenige zu gründen, was vermöge des ordnungsmässig durchgeführten Verfahrens amtlich zu seiner Kenntniss gekommen ist; dazu gehört , dass der Richter mit der Bildung unci dem Ausdruck seiner .Meinung über den Fall zurückhalte, bis er alles gehört und gesehen hat. und eben darum vor allem, dass er weder Ankläger noch Angeklagter sei. und also insbesondere, dass die Beschuldigung, über deren Begründung er urtheilen soll, nicht von ihm selbst erhoben werde. Der A n k l ä g e r darf n i c h t R i c h t e r und ebenso der R i c h t e r n i c h t A n k l ä g e r sein. 2. Dagegen muss der Richter dem Ankläger und dein ihm gegenübertretenden Angeklagten v o l l e s r i c h t e r l i c h e s Gehör schenken; er muss nicht blos bereit sein, alles entgegenzunehmen, was sie. um ihn von der Gerechtigkeit ihrer Sache zu überzeugen, vorbringen wollen, sondern er muss ihnen auch dazu v o l l e und g l e i c h m a s s i g e Gelegenheit gewähren; aus letzterem folgt, dass er jeder Partei die Möglichkeit geben muss, sich über das gegen sie vorgebrachte vor ihm auszusprechen (audiatur et altera pars), und eben darum auch 3. das R e c h t d e r P a r t e i e n , vor der Fällung des Urtheils und zu einer Zeit, wo sie noch davon Gebrauch machen können.

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emente, welche die Gestaltung des Strafprozesses bedingen.

von allen Vorgängen des Prozesses, welche ein sachliches Ergebniss liefern, Kenntniss zu erhalten und zwar in derselben Gestalt, in welcher der Urtheiler selbst davon Kenntniss erlangt, also durch Anwesenheit bei dem Prozessakt oder durch Einsichtnahme der darüber gemachten, dem Urtheiler vorzulegenden Aufzeichnung ( P a r t ei en öffentlichkeit). 4. Die Entscheidung des Richters muss auf Gründen beruhen, welche denjenigen entsprechen, die die Menschen überhaupt als geeignet anerkennen, eine mit der Vernunft in Einklang stellende Ueberzeugung von der Wahrheit bestimmter Thatsachen zu begründen — die Thatsachen müssen b e w i e s e n sein. — Allein so gewiss es ist, dass es möglich ist, diese Grundlagen der menschlichen Ueberzeugung von Thatsachen im allgemeinen zu bezeichnen und von demjenigen, was hierzu unbedingt nicht dienen kann, zu sondern — eben so gewiss ist, dass die Vergleichung dieser Beweisgrundsätze mit dem einzelnen Falle und die hieraus abgeleitete p e r s ö n l i c h e Ueberzeugung eines unbefangenen, gewissenhaften und vollkommen von cler Sachlage unterrichteten die einzige Gewähr für die Uebereinstimniung des Ausspruches mit der Wirklichkeit, für die Feststellung der Wahrheit bildet; jedem Strafprozess ist also die widerspruchsvolle Aufgabe gestellt, ein B e w e i s r e c h t aufzustellen und dem Urtheiler die F r e i h e i t d e r Be w e i s W ü r d i g u n g zu wahren. 5. Wesentlich erleichtert wird die Verwirklichung der Forderungen des gleichinässigen Gehörs beider Parteien, der Parteienöffentlichkeit und der freien Beweiswürdigung dadurch, dass die Entgegennahme der Beweise u n m i t t e l b a r in Gegenwart des Urtheilers und der Parteien stattfindet und dass letztere sich unmittelbar an ersteren wenden, in welchem Falle es natürlich weder für das eine noch für das andere der Verniittelung durch die Schrift bedarf. Schon hieraus ergiebt sich die Forderung der U n m i t t e l b a r k e i t oder M ü n d l i c h k e i t des Verfahrens — die aber zugleich sich als Folgerung des obersten Gesetzes des Prozesses ergiebt, welches verlangt, (lass 6. zur E ut (l e c k u η g d e r W a h r h e i t alle dazu dienlichen Mittel in cler dazu geeignetsten Art angewendet werden, und dass alle durch die sonst massgebenden Gesichtspunkte vorgezeichneten Anforderungen an die Regelung des Verfahrens, an dessen Gang und Gliederung, an den gegenseitigen Verkehr zwischen den Parteien und dem Gericht mit diesem obersten Zweck in Einklang gebracht werden: bei der Ordnung des Strafprozesses ist die fernere widerspruchsvolle Aufgabe zu lösen, ihm eine f e s t e F o r m z u g e b e n u n d z u v e r h i n d e r n , class eli e G e l t e n d m a c h u n g d e r W a h r h e i t d a r u n t e r l e i d e .

§ 5.

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7. I.)a aber diese widerspruchsvollen Aufgaben niemals vollständig gelöst werden können, da im besten Falle die den Menschen zur Verfügung stehenden Mittel beschränkt sind und die Erreichung des Zweckes nicht unbedingt sichern, da eine unverdiente Verurtheilung und Bestrafung, wie bereits gezeigt wurde, nicht nur das Recht des Angeklagten, sondern auch das Interesse des Staates verletzen würde, so ist es gerecht, dass überall, wo nicht völlige Gleichheit hergestellt werden kann, der Angeklagte begünstigt, überall, AVO ein Zweifel bleibt, dieser in dem ihm günstigeren Sinne gelöst wird: diese B e g ü n s t i g u n g des A n g e k l a g t e n (favor defensionis) wirkt somit als eine Einschränkung des Strebens nach H e r s t e l l u n g d e r v o l l e n W a h r h e i t und der Forderung nach gleicher B e h a n d l u n g d e r V a r t e i e 11. II. Andere sehr wichtige Beschränkungen ergeben sich aus der A r t , wie in dem betreffenden Lande und Zeitpunkt das Verhältniss zwischen S t a a t u n d S t a a t s b ü r g e r , der G e s a m m t h e i t unci dem e i n z e l n e n geregelt ist. Die Regelung dieses Verhältnisses ist die ewig sich erneuernde Aufgabe cles Staatsrechts ; auch sie ist eine widerspruchsvolle. Man kann dem Staatszweck nicht unbedingt gerecht werden, ohne tief in das Interesse des einzelnen einzugreifen, und der letztere kann ein menschenwürdiges Dasein nicht führen, das Volk nicht sein Bestes für die Erreichung des Staatszweckes leisten, wenn, mit Verkehrung des richtigen Verhältnisses zwischen Zweck und Mitteln, Recht und Interesse des einzelnen völlig und unbedingt dem Staatszwecke weichen muss. Der Strafprozess dient der Erfüllung einer der allerwichtigsten Aufgaben der Staatsgewalt, er ist eine ihrer frühesten, constantesten und einflussreichsten Bethätigungen ; daran, dass er seinem Zweck entspreche, hängt das öffentliche Wohl vielleicht mehr als an etwas anderem. Aber er greift auch empfindlicher in die Rechte und Interessen der einzelnen ein, stellt mehr als alles andere dieselben in Frage. Es kann daher das Staatsrecht des Landes nicht ohne Einfluss auf clie Gestaltung des Strafprozesses bleiben, und dieser Einfluss äussert s i c h 1 : 1. Durch Vorsorge für d i e S i c h e r u n g d e r S t e l l u n g u n d R e c h t e des A n g e k l a g t e n . Diese Vorsorge liegt zwar im 1

Ein Theil dieser Forderungen kommt, namentlich da, wo der accusatorische Typus des Strafprozesses maassgebend ist, auch der Strafverfolgung zu statten ; überwiegend sind dieselben aber doch im Interesse des Angeklagten zu erheben. Ueber den Einfluss des Staatsrechtes und des dadurch gewährleisteten Maasses bürgerlicher Freiheit auf den Strafprozess s. Car mi g η a n i IV cap. 3 ρ 25 sq. M i t t e r m a i e r , Strafverfahren I § 25.

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Hauptpunkte schon in den aus der Natur der Aufgabe des Strafprozesses selbst sich ergebenden und oben dargestellten Forderungen. Allein verkennen lässt sich nicht, dass die Art wie überhaupt das Verhältniss des einzelnen zur Gesammtheit geregelt ist, darauf wesentlichen Einfluss üben muss; je schutzloser überhaupt der Bürger dem Staat gegenüber steht, desto rücksichtsloser wird auch der Strafprozess den Angeklagten ergreifen, desto tiefere Eingriffe in dessen Rechtsstellung mit sich bringen, um der blossen Gefahr zu begegnen, dass ein Schuldiger der Strafe entgehe; wenn es der Ordnung des staatsrechtlichen Verhältnisses entspricht, dem Staatsbürger eine rechtlich gesicherte Stellung zu gewähren, so wird dies vor allen Dingen seinen Ausdruck in Einrichtungen finden, welche darauf abzielen, dafür zu sorgen, dass die mit der Anwendung des Strafgesetzes verbundenen Uebel nur den Schuldigen treffen, dass die Leiden und Nachtheile, die ohne Gefährdung des Zweckes der Strafrechtspflege dem Verdächtigen nicht erspart werden können, möglichst beschränkt, und dass er wenigstens gegen W i l l k ü r u n d E i g e i m i a c h t bei Zufügung derselben möglichst geschützt sei. Deutlich lässt sich erkennen, dass dieser Richtung des Strafprozesses der a c c u s a t o r i s e l i e T y p u s desselben mehr entspricht als der i n q u i s i t o r i s c h e . Cranz besonders aber fällt unter diesen Gesichtspunkt : a. Schutz gegen Willkür in der Auswahl cler T e r s o l i des R i c h t e r s : Feststellung des Begriffes des o r d e n t l i c h e n R i c h t e r s und Verbot gegen clie Uebeitragung seiner Gewalt an gelegentlich eingesetzte oder sog. A u s n a h m e g e r i c h t e : Aufstellung fester Grundsätze über die Zuständigkeit der Gerichte und über die Art ihrer Zusammensetzung. b. Schutz gegen die Nachtheile, welche von individuellen Eigenschaften und Verhältnissen der Richter den Parteien, besonders dem Angeklagten drohen. Er liegt in der Gewährung eines positiven (was selten mehr vorkommt) oder doch negativen Einflusses auf die Zusammensetzung des Gerichtes, in der Aufstellung von richtigen Grundsätzen über die A i t der Berufung der Urtheiler, über die an sie zu stellenden Anforderungen und über die Verhältnisse, welche den Parteien es ermöglichen sollen, sich gegen die Mitwirkung eines Urtheilers zu schützen, wenn zu besorgen ist. dass dieser nicht die vollste Unbefangenheit mitbringe ( A u s s c h l i e s s u n g und A b l e h n u n g ) — in der möglichsten Ausdehnung der Zahl der Richter und also zunächst in der Annahme des C o l l e g i a l s y s t e m s für alle oder doch für die einigermaassen wichtigen Strafsachen (theilweise fällt unter diesen Gesichtspunkt, als ein Mittel, das sonst unerreichbare zu bieten.

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das Zusammenwirken von J u r i s t e n und N i c h t j u r i s t e n , die Mitwirkung des L a i e η e l e m e n t s ) — endlich in der Möglichkeit, vor anderen und zumal höher gestellten Richtern sich über clas nachweisbar durch eine richterliche Entscheidung der Partei zugefügte Unrecht zu beschweren und dort Abhilfe zu erlangen: Ausbildung des S y s t e m s der R e c h t s m i t t e l . c. Specielle Vorsorge für die V e r t h e i d i g u n g , und zwar p e r so n i i eli e und s a c h l i c h e . Die erstere liegt darin, dass dem Angeklagten die Möglichkeit gegeben wird, sich in seiner Verteidigung durch sachkundige Personen seines \ 7 ertrauens unterstützen zu lassen, dass ihm nicht blos in der Auswahl derselben, sondern auch in dem Verkehr mit ihnen eine möglichst weitgehende Freiheit gewährt wird. Die s a c li 1 i c h e liegt einerseits darin, dass diesen b e r u f s m ä s s i g e n V e r t h e i d i g e r n eine Stellung eingeräumt wird, welche es ihnen möglich macht, ungescheut und ungehindert alle rechtlich zulässigen und ehrenhaften Mittel zum Schutz cles zu verteidigenden in der den Erfolg möglichst sichernden Weise in Anwendung zu bringen ( F r e i h e i t d e r V e r t h e i d i g u ng), andererseits darin, dass der Angeklagte nicht auf diejenigen Mittel der Verteidigung beschränkt wird, welche er sich selbst zu verschaffen vermag, sondern dass alles, Avas geeignet ist, dazu zu dienen, nötigenfalls auf Kosten und mit Benutzung der Zwangsgewalt des Staates herbeigeschafft werde, unci zwar selbst solches Material, das der Angeklagte selbst nicht gekannt oder zu verlangen übersehen hat. d. S c h u t z d e r P e r s o n u n d i h r e r F r e i h e i t . Schutz der Person gegen Misshandlungen und üble Behandlung, welche dem Beweise der Schuld und cler Verhängung der gesetzlichen Strafe vorgreifend oder gar die überhaupt im Fall zulässige Strafe überbietend dem Bürger Leiden auferlegt, die ihre Rechtfertigung nicht in dem Strafrecht des Staates finden können. Allerdings kann diese in der Natur cler Sache begründete Forderung, aus welcher insbesondere die Fernhaltung aller an die Folter erinnernden Qualen folgt, nur mit den Beschränkungen zur Geltung kommen, welche sich als unerlässlich erweisen, sofern die Erreichung cler Zwecke des Strafverfahrens und namentlich die Sicherung des Vollzuges des Strafurtheils nicht völlig preisgegeben werden soll. Auch hier ist also bei cler Gestaltung des Strafprozesses eine Ausgleichung einander widerstreitender Anforderungen anzustreben, w e s e n t l i c h u n t e r d e m Einfluss der s c h o n b e z e i c h n e t e n s t a a t s r e c h t l i c h e n V e r h ä l t n i s s e , welche darüber entscheiden, welche Gefahr so hoch angeschlagen wird, dass man, um ihr auszuweichen, es selbst darauf ankommen lässt, in

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Sonstige

emente, welche die Gestaltung des Strafprozesses bedingen.

die entgegengesetzten Nachtheile zu geraten. Danach richten sich die Grundsätze über clie Voraussetzungen der Verhängung und Aufhebung d e r H a f t des einer strafbaren Handlung nur v e r d ä c h t i g e n und über die B e h a n d l u n g desselben während dieser Haft, ferner über den Schutz des H a u s r e c h t e s , des B r i e f g e h e i m n i s s e s und über Sicherung gegen willkürliche B e s c h l a g n a h m e des E i g e n t h u m s für Zwecke der Strafrechtspflege. e. Im innigen, wenn auch nicht ausschliesslichen Zusammenhange damit steht der Schutz gegen willkürliche, böswillige oder fahrlässige Einleitung von Strafprozessen und gegen die Erhebung u n g e n ü g e n d b e g r ü n d e t e r A n k l a g e n . Die zu diesem Zwecke zu treffenden Veranstaltungen sind zum nicht geringen Theil durch das Ueberwiegen des accusatori sehen oder inquisitorischen Typus bedingt. Die Einleitung des Strafprozesses kann nicht an Nachweise geknüpft sein, wie sie zur Fällung des Urtheils, das durch den Prozess erst ermöglicht werden soll, erforderlich sind; sonst wrürde der Prozess mit der Fällung des Urtheils beginnen oder der Ausspruch über die Zulässigkeit der Anklage ein anticipates Urtheil sein; wohl aber können die Anforderungen in dem Maasse gesteigert werden, als die Gelegenheit zur Aufklärung der Sache schon vor dieser Entscheidung geboten ist, und sie müssen es, wenn letzterer die Bedeutung eines richterlichen Ausspruches in der Sache und nicht blos der Zulassung eines nur beschränkter Prüfung unterliegenden, in jeder Hinsicht unvorgreiflichen Parteiantrages beiwehnt. Eben darum ist es von sachlicher Bedeutung, ob die Eröffnung des Prozessstadiunis unbedingt vom Vorhandensein eines Parteiantrages abhängt, zu dessen Erörterung und Widerlegung auch dem Angeklagten Gelegenheit gegeben ist, oder ob die Entscheidung der nach allen Seiten ungebundenen Ueberzeugung des Gerichtes Ausdruck zu geben hat; namentlich in letzterem F'alle ist auch hier die Zulassung von R e c h t s m i t t e l n sorgfältig zu prüfen. f. Ihre Ergänzung in der entgegengesetzten Richtung finden diese Anstalten in der Vorsorge dafür, dass der einmal eingeleitete Strafprozess zu einer endgiltigen Entscheidung über Schuld und Strafe des Angeklagten kommt, welche ihn gegen w i l l k ü r l i c h e Erneuerung des Verfahrens unbedingt schützt und auch dagegen einen b i l l i g e n und wirksamen Schutz gewährt, dass er den Leiden und Gefahren der Erneuerung des abgeschlossenen Strafprozesses, auch we sachliche Gründe dafür sprechen, nicht ohne die dringendste Notwendigkeit und nicht ohne ganz einleuchtende Begründung ausgesetzt werde: Ausschliessung von U r t e i l e n , welche keinen bestimmten Ausspruch über Schuld oder Unschuld enthalten und dem Nichtüberwiesenen

§ 5.

Sonstige

emente, welche die Gestaltung des Strafprozesses bedingen.

47

die Nachtheile eines amtlich ausgesprochenen Verdachtes ( I n s t a n ζ e η tb i n d u n g , vorläufige Freisprechung, Freisprechung wegen Mangels an Beweisen u. dgl.) oder gar V e r d a c h t s t r a f e n auferlegen — Anerkennung des Grundsatzes: N e b i s i n i d e m und sorgfältige Regelung der etwa zugelassenen Beschränkungen desselben. g. Als eine Forderung der Billigkeit, die sich von dem hier erörterten Standpunkt aus ergiebt, wenngleich die Sache auch unter andere Gesichtspunkte zu bringen ist, erscheint es, dass bei der Zulassung von Rechtsmitteln dem Angeklagten die Möglichkeit geboten werde, sich ihrer zu bedienen, ohne befürchten zu müssen, dass ungünstige Zwischenfälle des hierdurch veranlassten Verfahrens oder die strengere persönliche Ansicht des angerufenen höheren Richters zu einer Entscheidung führen, welche noch ungünstiger ist, als diejenige, die er angefochten hat, und die ohne diese Anfechtung zu seinen Gunsten in Rechtskraft erwachsen wäre: Verbot der r e f o r m a t i o i n p e j u s . 2. Schutz der durch den Strafprozess berührten Rechte und Interessen solcher Personen, welche nicht verdächtigt oder als Beschuldigte angesehen werden. Auf der einen Seite steht auch hier das Recht des Staats, sein eminentes an die Strafrechtspflege geknüpftes Interesse unci die Gefahr, class dieselbe zum Nachtheil bald der öffentlichen Ordnung allein, bald auch eines unschuldig angeklagten gänzlich fehlgehe, wenn die ohnehin beschränkten Mittel, welche zur Aufklärung unbekannter Thatsaehen den Menschen zur Verfügung stehen, nicht benutzt werden können: — andererseits aber sind die Staatsbürger nicht schutzlos jeder Härte preiszugeben, clie bei Führung eines nicht einmal gegen sie selbst gerichteten Strafprozesses den entscheidenden Personen, und wären es auch Richter, nothwendig oder wünschenswerth scheint, um clie Entdeckung cler Wahrheit zu sichern. Es ist klar, dass unbetheiligte Dritte, Z e u g e n , S a c h v e r s t ä n d i g e , die E i g e n t i l i n n e r von Gegenständen, welche als Beweismittel in Anspruch genommen werden u. s. w. mindestens das gleiche Recht auf Schutz ihres H a u s r e c h t e s , ihrer G e h e i m n i s s e , ihres E i g e η t h u ni s unci ihrer persönlichen Freiheit in Anspruch nehmen können, wie der Angeklagte selbst, und class bei cler Regelung cler ihnen auferlegten Pflichten und cler zur Durchsetzung ihrer Erfüllung zulässigen Zwangsmaassregeln ( Z e u g n i ss p f l i c h t und Z e u g n i s s z w a n g ) auf die möglichste Schonung ihrer Interessen und ihrer Gefühle in dein Maass mehr Bedacht genominen werden muss, als überhaupt clie bürgerliche Freiheit den Anforderungen des Staates gegenüber mehr geschützt ist. 3. Wenn die öffentlichen Einrichtungen des Staates über diese n e g a t i v e A n e r k e n n u n g der bürgerlichen Freiheit hinausgehen,

Sonstige

emente, welche die Gestaltung des Strafprozesses bedingen.

wenn sie darauf beruhen, dass die einzelnen Staatsbürger ein positives Recht darauf haben, dass die wichtigeren Staatsangelegenheiten nicht als etwas ihnen fremdes, nur ihre passive Unterwerfung forderndes, ihrer Einwirkung und Controle aber völlig entzogenes behandelt Averden. so muss das noth wendig auch auf die Gestaltung des Strafprozesses einen tiefgreifenden Einfluss üben. Mit Recht bemerkt ein englischer Criminalist 2 , die Handhabung der Strafrechtspflege sei die gewöhnlichste, am meisten die Phantasie ergreifende , am tiefsten einschneidende Gestalt, in welcher das Wirken der obersten Staatsgewalt der grossen Masse der Staatsbürger entgegentritt; und noch treffender bezeichnete eine viel angeführte Vergleichung des englischen und französischen Strafprozesses 3 als Zweck aller Strafrechtspflege: „das Gefühl des Gesicheitseins gegen Unrecht in der Gesellschaft, der das Gericht angehört, aufrechtzuerhalten". Es ergiebt sich daraus, dass alle Staatsbürger ein mittelbares Interesse an einer zugleich die öffentliche Rechtsordnung sichernden und die bürgerliche Freiheit schonenden Strafrechtspflege haben und dass sie den grössten Werth darauf legen müssen, class clie aus diesen beiden Gesichtspunkten abgeleiteten Anforderungen in befriedigender Weise gelöst sind, und insbesondere, dass sich clie Strafrechtspflege keiner Mittel bediene, welche mit den Forderungen cler Menschlichkeit, mit der Aufrechthaltung cles Gefühls persönlicher Würde, mit cler Würde des Staates als eines sittlichen Gemeinwesens nicht im Einklang stehen. Jeder solche Vorgang erniedrigt nicht blos denjenigen, der ihm verfällt und gegen den er unmittelbar gekehlt ist, sondern alle diejenigen, clie sich sagen müssen, dass sie unter Umständen das gleiche über sich könnten ergehen lassen müssen. Dieses ausserordentlich mächtige Interesse cler gesanmiten Bevölkerung an der Strafrechtspflege wird nun unvermeidlich überall da sich Ausdruck und Anerkennung zu verschaffen suchen, wo überhaupt eine Theilnahine cler Staatsbürger an der Leitung und Beaufsichtigung cler Besorgung cler öffentlichen Angelegenheiten stattfindet. Dies wird sich insbesondere äussern in dem Streben nach a. Herstellung cler O e f f e n t l i c h k e i t Strafgerichte ;

der Verhandlungen der

b. der Theilnahine des s t a a t s b ü r g e r l i c h e n FH ein e n t e s a l s s o l c h e n (cles L a i en e l e i n entes) an der Besetzung cler Strafgerichte mit Uitheilern; - S t e p h e n , General view ch. V I ρ 207. Edinburgh review, July 1842 ρ 361.

S 6.

49

Das altdeutsche Strafverfahren.

c. Regelung des R e c h t e s d e r S t r a f v e r f o l g u n g in einer Weise, welche e i n e r s e i t s Bürgschaften dafür bietet, dass dieser wichtigste Theil der Thätigkeit der Staatsgewalt derselben Controle und Verantwortlichkeit unterstehe, wie andere Zweige der Regierungsthätigkeit, und insbesondere, dass es an der erforderlichen O b e r a u f s i e h t über die Organe der Strafverfolgung nicht fehle, dass dadurch ein unparteiisches, nur durch sachliche Rücksichten geleitetes, von jeder willkürlichen Begünstigung oder Benachtheiligung einzelner fernbleibendes Vorgehen derselben gesichert werde, während a n d e r e r s e i t s auch dafür gesorgt wird, class bei aller Anerkennung des überwiegenden Interesses cler Gesainmtheit an cler Bekämpfung des Verbrechens doch auch das besondere Interesse cler durch strafbare Handlungen in ihrem Rechte verletzten selbständigen Ausdruck finde und class es nicht völlig von cler persönlichen Auffassung cler Organe cler staatlichen Strafverfolgung abhängig gemacht, sondern ihm ein selbstständiger Zugang zum Gerichte offen gelassen werde.

Zweites Kapitel. Die geschichtliche Entwickelung der Grundform des Strafprozesses 1. S 6.

Das a l t d e u t s c h e

Strafverfahren.

Indem wir den Versuch machen, clie zahllosen Gestaltungen, welche cler Prozess der germanischen Vorzeit und der grösseren Hälfte des deutschen Mittelalters erfahren hat, in e i n Bild zusammen zu 1 L i t e r a t u r der Geschichte des deutschen Strafprozesses überhaupt und speciell der hier behandelten Epoche: ausser den Werken über Deutsche Reichs-, Rechts- und Verfassungsgeschichte (insbesondere von E i c h h o r n , W a l t e r , W a i t z ) H e n k e , Geschichte des deutschen peinlichen Rechts. Sulzbach 1809. T i t t m a n n , Geschichte der deutschen Strafgesetze. Leipzig 1832. S t e i n , Geschichte des peinlichen Rechts und der Criminalverfassung Teutschlands. Heilbronn 1807. A b egg, Historisch-praktische Erörterungen aus dem Gebiete des strafrechtlichen Verfahrens. Berlin 1833. J a g e m a n n in WRLex IV 441 ff. 450—458. H au s c h i l d , Gerichtsverfassung der Deutschen. Leipzig 1751. M a l b l a n c , Geschichte der peinlichen Gerichtsordnung. Nürnberg 1783. L i p ο w s k y , Geschichte des bayerischen Criminalrechts. München 1803. R o g g e , Gerichtswesen der Germanen. Königsberg 1820. M e y e r , Esprit, origine et progrès des institutions judiciaires I. Paris 1823. G. L. ν. M a u r e r , Geschichte des altgermanischen, namentlich altbairischen Gerichtswesens. Heidelberg 1824. F r e y b e r g , Das altdeutsche öffentliche Gerichts-

Binding, Handbuch. IX. 4. I:

G l a s e r , Strafprozess.

I.

4

50

6.

Das altdeutsche Strafverfahren.

drängen, betreten wir ein Gebiet, das zwar nicht überall scharf abgeschlossen werden kann, dessen Grenzen aber doch wenigstens anverfahren. Landshut 1824. B u c h n e r , Das öffentliche Gerichtsverfahren in bürgerlichen und peinlichen Sachen. Erlangen 1825. S t e i n e r , Das altdeutsche, insbes. altbayerische Gerichtsverfahren. Aschaffenburg 1824. W i e g a n d , Das Femgericht Westfalens. Hamm 1825. Karl Phil, und Ulr. Friedr. K o p p , Verfassung der peinlichen Gerichte in Westphalen. Göttingen 1794. Theod. B e r c k , Geschichte der westfälischen Femgerichte. Bremen 1815. Marquardi F r ehe r i De secretis judiciis olim in Westphalia etc. Ratisbonae 1762. T r o s s , Sammlung merkwürdiger Urkunden für die Geschichte des Femgerichts. Hamm 1826. T r ü m m e r , Vorträge über die Tortur, Hexenverfolgungen, Vehmgerichte L Hamburg 1844. W e r n e c k e , Die westfälischen Fehmgerichte. Soest 1861. J. G r i m m , Deutsche Kechtsaltertümer. 2 Bände Göttingen 1828. D e r s e l b e , Weistümer. 4 Teile Göttingen 1840—1863. Ζ ö ρ f i , Das alte Bamberger Recht. Heidelberg 1839. S 133 ff. B i e n e r , Beiträge S 119 ff. v. S a v i g n y , Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter. I Kap. 4. U n g e r , Die altdeutsche Gerichtsverfassung. Göttingen 1842. W a i t z , Das alte Recht der salischen Franken. Kiel 1846. E n c k e , Constitutio judiciorum secundum speculum saxonicum exposita. Berol. 1847. Wächter, Beiträge zur deutschen Geschichte. Tübingen 1845. D e r s e l b e , Beilagen zu Vorlesungen über das deutsche Strafrecht. Leipzig 1881. Beil. 22. 23. 25. Hé l i e , Traité de l'instruction criminelle §§ 36—84, I 179 sq. I v ö s t l i n , Wendepunkt S 248 ff. R ö s s l e r , Deutsche Rechtsdenkmäler aus Böhmen und Mähren. 2 Bände Prag 1845 u. 1852. v. W u r t h , Das Stadtrecht von Wiener Neustadt. Wien 1846. M i c h e 1 s e η , Ueber die Genesis der Jury. Leipzig 1847. H ä l s e li η e r , Geschichte des brandenburgisch-preussischen Strafrechts. Bonn 1855. §§ 1—5. 7. B i e n e r , Das englische Geschwornengericht. Leipzig 1852. I Abtli. I §§ 1—31. Homey er, Der Richtsteig Landrechts. Berlin 1857. S 411 ff. S i e g e l , Geschichte des deutschen Gerichtsverfahrens I. Glessen 1857. D e r s e l b e , Erholung und Wandelung im gerichtlichen Verfahren. Wien 1863. D e r s e l b e , Die Gefahr vor Gericht. Wien 1866. T o m a s c h e k , Deutsches Recht in Oesterreich im 13. Jahrhundert. Wien 1859. D e r s e l b e , Der Oberhof lglau in Mähren. Innsbruck 1868. B é c o t , Organisation de la justice répressive. Paris 1860. p. 125 sq. Κ ü l i n s , Geschichte der Gerichtsverfassung und des Prozesses in der Mark Brandenburg. 2 Bde. Berlin 1865 u. 1867. B r u n n e r , Zeugen- und Inquisitionsbeweis der karolingischen Zeit. Wien 1866. D e r s e l b e , Wort und Form im altfranzösischen Prozesse. Wien 1868. D e r s e l b e , Die Entstehung der Schwurgerichte. Berlin 1872. D e r s e l b e in HRLex Art. „Schwurgericht geschichtlich" I I I 622 ff. E s eben b ü r g , De delicto manifesto jure saxonico. Berol. 1866. F r a n k l i n , Das Reichshofgericht des Mittelalters. 2 Bände Weimar 1867 u. 1869. S ohm, Der Prozess der lex salica. Weimar 1867. D e r s e l b e , Altdeutsche Reichs- und Gerichtsverfassung I. Weimar 1871. Β e hr end, Zum Prozess der lex salica. In d. Festgaben für Heffter Berlin 1873. B r u n n e n m e i s t e r , Die Quellen der Bambergensis. Leipzig 1879. L u s c h i n v. E b e n g r e u t h , Geschichte des älteren Gerichtswesens in Oesterreich ob und unter der Enns. Weimar 1879. P l a n c k , Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter. 2 Bände Braunschweig 1879. B r u n n e r in Holtzendorffs Encykl. Syst. Thl. (3. Aufl.), besonders §§ 6 u. 18. v. B e t h m an η - H o l l w e g , Der germanische Civilprozess im Mittelalter I u. II. Bonn 1868 u. 1871. S t ö l z e l , Die Entwickelung des gelehrten Richterthums in deutschen Territorien. 2 Bände Stuttgart 1872. Κ l e n z e ,

6.

gedeutet werden müssen. denjenigen

51

Das altdeutsche Strafverfahren.

Es handelt sich hier nur d a r u m , zunächst

Zustand zur

Anschauung zu b r i n g e n ,

welcher

vor

dem

Eindringen der fremden Rechte der normale, das Ergebniss der selbstständigen deutschen E n t w i c k e l u n g finden, damit

gewesen

m i t welchem jene fremden Rechte das

entstehe,

was

man

Criminalprozess genannt hat. verwandte Bildungen

auf

nachher

ist



das Element

den

gemeinen

Spurlos vorübergegangene

nordischem

zu

sich vermischen mussten, deutschen Urzustände,

u n d britischem Boden

müssen

dabei möglichst fern gehalten werden, so unentbehrlich auch manches, Avas nur dort v o l l k o m m e n entwickelt i s t , selbst für

das

Verständniss

des eigentlich deutschen, des Rechts, welches sich noch i n den Rechtsbüchern des späteren Mittelalters spiegelt, sein m a g ; w i r unseren Lesern nicht Gewirre dieses

der Kreises

zumuthen

Jurisdictionen liegen,

zu

eben

können,

folgen,

so

wenig

die kann

aber eben wie

uns durch selbst die

noch

das

bunte

innerhalb

folgende

Skizze

Anspruch darauf machen, als die vollständige Darstellung des Rechtes eines b e s t i m m t e n

Gebiets,

E i n grosser Z u g macht

sich

einer

bestimmten Periode

zu

gelten.

aber überall i n diesem weiten Kreise

Lehrbuch S 36 if.; M i tte r m ai e r , Strafverfahren § 15; H . A . Z a c h a r i ä , Handbuch §§23—25; Geyer, Lehrbuch §§ 12—14; B i n d i n g , Grundriss StP § 12 A 3 : L u e d e r , Grundriss §§ 17. 18. — Speciell in Bezug auf Beweisrecht und Beweisverfahren: Aeltere Literatur angeführt in K a p ρ 1er s Handbuch der Literatur des Criminalrechts Nr 625—750; darunter Essen, De jure revelationis. Gryphiswald. 1673. Ο els η er, De jure feretri sive revelationis. Ienae 1735. Ephr. G e r h a r d , I)e judicio duellico. Francof. et Lips. 1735. M a j e r , Geschichte der Ordalien, insbesondere der gerichtlichen Zweikämpfe in Deutschland. Jena 1795: A l b r e c h t , Doctrinae de probationibus secundum jus Germanicum niedii aevi adunibratio (1825); I d e m , Commentatio juris Germanici antiqui doctrinani de probationibus adumbrans (1827); W i l d a ' s Art, „Ordalien" in Erscli und Grubers Encvklopädie; H o f m a n n , Zweikampf und Ehrengerichte, in der Ζ f. DR IX 229 ff. : P l a n c k , Das Recht der Beweisführung nach dem älteren deutschen, bes. sächsischen Recht, das. X 205 if.; D e r s e l b e , Beweisurtheil. Göttingen 1848. S 3 ff. : J o l l y , Beweisverfahren nach dem Recht des Sachsenspiegels. Mannheini 1846. P h i l l i p s , Ueber die Ordalien bei den Germanen, im I. Bde. seiner „Vermischten Schriften". U n g e r , Der gerichtliche Zweikampf bei den germanischen Völkern. Göttingen 1847. A. G e m e i n e r , Ueber Eideshilfe und Eidhelfer des älteren deutschen Rechts. München 1848. Sachsse, Das Beweisverfahren nach deutschem, mit Berücksichtigung verwandter Rechte des Mittelalters. Erlangen 1855. D a h n , Studien zur Geschichte der germanischen Gottesurtheile. München 1857. v. B a r , Das Beweisurtheil des germanischen Prozesses. Hannover 1866. K. M a u r e r in der KrÜ V 180 ff. 332 ft'. Homey er, Das sächsische Landrecht S 402 sub verbo Beweis, S 504 s. ν. Zeuge. Z o r n , Das Beweisverfahren nach langobardischem Recht. München 1872. Κ r i es, Der Beweis im Strafrecht des Mittelalters. Weimar 1878. R. Lö n i η g, Der Reinigungseid bei Ungerichtsklagen im deutschen Mittelalter. Heidelberg 1880.

52

6.

Das altdeutsche Strafverfahren.

bemerklich, und er bildet die hervorragendste Eigenthüinlichkeit, die uns in demselben auffällt; — es ist das die Art, wie die richterliche Gewalt und ihr Verhältniss zur Rechtsprechung selbst aufgefasst wurde. Ueberall sehen wir nämlich, dass das Recht und die Macht, Gericht zu halten, die zur Entscheidung einer Rechtssache erforderlichen Personen zusammen zu bringen, den Vollzug der Urtheile zu leiten, als der eigentliche Inhalt dessen, was man später den Gerichtsbann oder G e r i c h t s z w a n g genannt hat, angesehen wurde, während das Erkenntniss selbst, ja der Gang des zur Herbeiführung desselben bestimmten Verfahrens ausserhalb dieser Macht lag. Mit e i n e m W o r t e , derjenige, den mittelalterliche Rechtsquellen gewöhnlich den Richter nennen, fragt blos um diese Entscheidung an; die Entscheidung selbst liegt aber in der Antwort, welche auf seine Frage andere Personen geben, die dem Richter gegenüber als Private erscheinen und es meist auch wirklich waren. In den ältesten Zeiten war die Versammlung sänimtlicher Freien eines bestimmten Bezirkes dazu berufen — eine Versammlung, durch welche allein eigentlich der auf seinem Gehöfte vereinzelt lebende Mann mit Land und Staat zusammenhing, durch welche alle beiderseitigen Beziehungen geregelt wurden, und in welcher zu erscheinen und mitzuwirken daher eine der vorzüglichsten staatsbürgerlichen Pflichten war. I )i ese Versammlungen nun. die nach A l t und Zeiten verschieden, im Reichstag und im Hofgericht des Kaisers ihre höchste Spitze und in ersterem ihre dauerndste Fortsetzung fanden, waren theils solche, die regelmässig zu festgestellten Fristen wiederkehrten ( u n g e b o t e n e s D i n g ) , theils solche, die eigens einberufen wurden ( g e b o t e n e s D i n g ) . In beiden wurden auch die Rechtsangelegenheiten geordnet und erledigt. Um die Entscheidung fragte da, auf Begehren der Partei, jener Träger der Gerichtsgewalt (den auch wir der Kürze halber Richter nennen wollen) die erschienenen Dingpflichtigen wohl niemals alle in der Art, dass sie zugleich tuinultuarisch geantwortet hätten, sondern (je nach der Gewohnheit des Ortes und der Zeit) eine grössere oder geringere Zahl von aus dieser Menge hervorgehobenen Männern; — meist waren es 7 oder 12. Den Ausspruch musste in den ältesten Zeiten unzweifelhaft die übrige Menge ausdrücklich billigen; später ward es wohl genügend gefunden, dass sie ihn nicht missbillige; zuletzt ward selbst diese negative Art der Zustimmung bedeutungslos. Jene zur Urtlieilsfindung hervorgehobenen Personen wurden anfangs wohl nur für den einzelnen Fall und nach der Willkür des Richters ausgewählt, zu den Bänken berufen, n i e d e r g e s e t z t , d. i. zu einem Tlieile des Gerichtes gemacht und zu den die Schranken umgebenden Ding-

6.

Das altdeutsche Strafverfahren.

53

Pflichtigen (dem U m s t a n d ) in eine Art von Gegensatz gebracht. Eine Einrichtung Karls des Grossen, über welche viel gestritten wird und an welche sich wohl auch die Veränderung des für diese Männer früher partiell gebrauchten Namens Rachimburgi residentes in S c a b i η i , Scholien, knüpft, hat jedenfalls dahin geführt, dass jene Urtheiler für längere Zeit, später auf lebenslang und erblich bestellt wurden, wodurch natürlich die Sonderung zwischen ihnen und dem Umstand immer strenger wurde. Es ist hier nicht der Ort, die Varietäten, welche die Stellung dieser U r t h e i l e r bietet, die Veränderungen, welche sie im Laufe der Zeiten erfuhr, zu schildern; wir müssen uns mit dem begnügen, was überall wiederkehrt. Ueberall aber bestand die früher beschriebene4 Trennung der Functionen des Richters und der Urtheiler; überall hatten diese auf die Frage des Richters aus sich heraus die Entscheidung zu schöpfen, wenngleich hie und da Berathung mit eigens dazu bestellten Personen, Zuhilfenahme eines Rechtsbuchs und gar häufig Besprechung mit dem Umstand hinzukam. Immer auch, und darauf muss angesichts der noch manchmal vorkommenden Vergleichung dieser Schöffen mit dem englisch-schottischen Geschwornengericht Gewicht gelegt werden — immer waren sie nur berufen, von der in ihnen und in ihrem Volke lebenden Rechtsüberzeugung Zeugniss zu geben. Sie hatten unmittelbar (mittelbar geschah das, wie sich später zeigen wird, freilich doch) über Thatfragen nicht abzusprechen ; sie hatten noch weniger willkürlich Rechtsregeln aufzustellen; sie hatten einfach zu erklären, Avas im vorliegenden Falle i n Geni äs sh e i t des b e s t e h e n d e n R e c h t s geschehen müsse. Somit war das deutsche Gericht aus zwei Factoren zusammengesetzt, deren Zusammenwirken allein ein Vorwärtskoninien möglich machte. Schon daraus wäre man wohl berechtigt zu folgern, dass diese Gerichte zu spontanen Bewegungen, zu raschem, unverhofftem und energischem Einschreiten nicht berufen sein konnten. Darin wird man denn auch bestärkt durch die Stellung, welche in den ältesten Zeiten dem Strafrecht angewiesen war, eine Stellung, die nur allmählich und durch lange, kaum merkliche Umgestaltungen aufgegeben wurde. Der Zusammenhang zwischen dem einzelnen und der Gesannntheit war noch so lose, der Staatszweck ward noch als ein so enger gedacht , dass kaum eine oder die andere Handlung als eine solche angesehen ward, der entgegen zu treten im öffentlichen Interesse liege. In der Regel war es Sache des Verletzten und der seinen, den Eingriff abzuwehren; war dieser von solcher Art, dass er als ein Friedensbruch angesehen wurde, so war die F e Ii de das

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Das altdeutsche Strafverfahren.

gewöhnlichste, nächstliegende Auskuiiftsiiiittel ; der Angegriffene selbst verschaffte sich gewaltsam auf Kosten des Gegners die gewünschte Genugthuung. Doch hatte er das Recht, diese Genugthuung vor Gericht in jener Versammlung der Dingpflichtigen zu fordern; nur musste er sich in diesem Fall ( L e i b e s s t r a f e n waren in ältester Zeit fast unbekannt und lange nachher noch sehr selten) mit der Ausgleichung (conipositio) begnügen, welche zu zahlen nach der Natur des Falles der Thäter gewohnheitsrechtlich verpflichtet war. Dazu wurde denn auch der schuldig gefundene, wenn er sich weigerte, g e z w u n g e n ; und um die Gewährung dieser Zwangsvollstreckung drehte sich also, wie noch heute der Civilprozess, so damals das ganze Strafverfahren. Dass diese Auffassung der Dinge sich später änderte, dass ein Friedensbruch bald als eine Verletzung eines öffentlichen Interesse erkannt wurde, und dass eine öffentliche Strafe bald 11 e b e η die Compositio und zuletzt an deren Stelle kam, konnte natürlich nicht ohne Rückwirkung auf den Gang des Strafprozesses bleiben; diese Rückwirkung ist aber nur sehr langsam eingetreten. Kein Wunder also, dass der deutsche Strafprozess, so lange er eben deutsch blieb, nur durch die Parteien in Gang gesetzt und erhalten wurde, dass der Spruch: „AVO kein Kläger ist, ist kein Richter", auch für den Strafprozess galt, dass es dem Ankläger und dem Angeklagten vollständig überlassen blieb, ihr Interesse zu wahren und selbst an den Tag und zur Geltung zu bringen, was zu ihrem Vortheil gereichen mochte. Dabei aber gewahren wir (und das ist wohl geeignet, jene in Erstaunen zu setzen, welche die Formalitäten des heutigen Prozesses eigentlich für überflüssige Erfindungen der Juristen halten) unter diesem einfachen Zuständen, in dieser volkstümlichen Rechtspflege eine F o r m s t r e n g e , von der unsere moderne Justiz keine Vorstellung zu geben vermag. In der That ist alles gleich wichtig; Ort und Zeit der Gerichtssitzung, der Platz des Richters und der Urtheiler, der Stab in des ersteren Hand, die Art der Ladung des Angeklagten, die A i t wie ein Begehren ausgesprochen wird u. s. w. Unter solchen Umständen konnte natürlich nicht jedem zugelnuthet werden, all diesen Formen zu genügen; daher denn das Recht, einen F ü r s p r e c h zu begehren. Der Fürsprech hatte die Aufgabe, in gebührender Weise für die Partei das Wort zu führen, an das aber diese nicht eher gebunden war, als bis sie selbst es bestätigt hatte; das gab daher Gelegenheit, etwa vorgekommene Foringebrechen rechtzeitig unschädlich zu machen. Im übrigen ist der Fürsprech nur das äusserliche Organ der Partei und er hat mit ihr keine Interessen-

S 6.

Das altdeutsche Strafverfahren.

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Gemeinschaft; es scheint sogar, dass man von ihm nicht befürchtete, er könnte zu Gunsten derselben voreingenommen werden. Verfolgen wir nun den Gang einer Strafverhandlung in jenem einfachsten Fall, den man als den des ordentlichen Prozesses bezeichnen könnte. Erscheint ein Ankläger vor dein Richter, um eine Klage vorzubringen, so heisst ihn dieser schweigen, bis das Gericht gehörig versammelt und gehegt ist; dass das der Fall sei, muss auf Frage des Richters durch Urtheil gefunden werden. Sodann begehrt der Ankläger seinen Fürsprech, und unter „Zeter"-Geschrei stellt er das Begehren, zur Anklage zugelassen zu werden. Diese wird dann mit folgenden Worten erhoben: „So steht hier N. und klagt Gott und Euch, Herr Richter, an Gottes statt, dass der benannte N. sei gekommen und habe den Frieden an ihm gebrochen u. s. w. und bittet den Richter, dass er ihm zu antworten gebiete" 2 . Nachdem dann auf die Frage des Richters die Rechtmässigkeit des Begehrens durch Urtheil anerkannt ist, wird dem Geklagten aufgetragen, sich zu verantworten; und es findet dann die an vielfache Förmlichkeiten gebundene Ladung statt. Erscheint dann der Angeklagte und gesteht die That, oline rechtliche Entschuldigungsgründe geltend zu machen, so hat er sich freilich selbst gerichtet, und es wird auf Verlangen des Anklägers und Anfrage des Richters durch die Antwort der Urtheiler über ihn verhängt, wras Rechtens ist. Leugnet er dagegen, so handelt es sich darum, durch Beweise die Entscheidung über die einander widersprechenden Behauptungen beider Theile herbeizuführen. Die Regel ist nun, dass der Angeklagte das R e c h t h a t , s i c h v o n d e r A n k l a g e z u r e i n i g e n , und mit dem Recht allerdings auch die Pflicht. Zur Reinigung genügt im allgemeinen der Eid des Angeklagten; das charakteristische des germanischen Beweisrechtes liegt eben darin, dass nicht die (objective) Glaubwürdigkeit der Behauptungen, sondern die Vertrauenswürdigkeit des Behauptenden das entscheidende war. In einer Zeit aber und bei einem Volke, wTo Trotz und Gewaltthätigkeit die herrschenden Fehler, Heimtücke und Hinterlist aber selten waren und Verletzung religiöser Verpflichtungen als das unerhörteste gelten konnte, durfte wohl selbst von den der schwersten Verbrechen angeklagten nicht leicht angenommen wTerden, dass sie sich zu einem Meineid entschliessen würden. Auch genügte (eben in diesem Sinne) der Eid des Angeklagten für sich allein nicht immer. Seine Vertrauenswürdigkeit musste in vielen Fällen durch E i d h e 1 f e r dargethan 2

Richtsteig C. 33 a (50).

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Das altdeutsche Strafverfahren.

sein, d. i. durch eine bestimmte Anzahl von Genossen des Angeklagten, welche sich an seinem Eid mit dem Schwur betheiligen, dass er „rein sei und uninein". Die Eidhelfer bestätigen daher nicht direct die Richtigkeit der vom Schwörenden behaupteten Thatsache. sondern ihr eigenes Vertrauen zu seiner Wahrhaftigkeit. Eben deshalb mussten die Eidhelfer Genossen des Schwörenden, also mit ihm und seinen Verhältnissen wohl bekannte Personen sein. An manchen Orten (namentlich in Oesterreich) kam man übrigens bald dahin, dem Schwörenden gewisse Personen zu b e n e n n e n , unter welchen ersieh Eidhelfer gewinnen musste, was denn wohl dahin führte, dass jemand, den man des Verbrechens allgemein für schuldig hielt, sich auf diese Art nicht reinigen konnte. (Siehe das nähere unten bei Darstellung der geschichtlichen Entwickelung des Zeugenbeweises.) Nicht immer aber gab der Eid den Ausschlag; anrüchige, übel beleumundete Personen, solche, die die nöthigen Eidhelfer nicht finden konnten, solche, die bereits als Diebe oder Räuber verurtheilt waren, konnten sich nur durch das G o t t e su r t lie i l reinigen. Auch die Gottesurtheile erhalten ihre Beweiskraft nicht durch die Beziehung zwischen den aus ihnen sich ergebenden Thatsachen und dem Beweissatz, sondern durch die Glaubwürdigkeit desjenigen, für welchen, wie man glaubte, Gott selbst durch sichtbares Eingreifen in den natürlichen Gang der Dinge sich erklärte. Zumeist wenigstens, wie beim Tragen des glühenden Eisens, beim Kesselfang u. dgl. ist das Verhältniss dieses; nur sehr selten besteht das umgekehrte, dass nämlich ein wunderbarer Eingriff zum N a c h t h e i l e desjenigen, der falsches behauptet, erwartet wird. Gewisserinaassen die Mitte hält in dieser Hinsicht der gerichtliche Z w e i k ä m p f , auf welchen übrigens nicht blos der Angeklagte sich berufen, sondern den sogleich, dem Reinigungseid zuvorkommend, der Ankläger fordern konnte, der eine wie der andere freilich nur, wenn er dem Herausgeforderten gleich stand oder höher gestellt war. Im Zweikampf zeigt sich am deutlichsten, wie das Gericht angewiesen ist, bei der Entscheidung zwischen zwei mit einander in Widerspruch stehenden Behauptungen nichts von seiner persönlichen Ueberzeugung, alles von dem Beweissatz ganz fremden Thatsachen abhängen zu lassen. Wer im Kampf unterlag, dessen Behauptung musste als die unwahre angesehen werden. Eben deshalb musste der Träger der Behauptung nicht einmal immer persönlich kämpfen; für Frauen und Gebrechliche konnte ein K ä m p e eintreten, dessen Sieg wie dessen Niederlage auf sie zurückfiel. Dass ein solches Beweissystem für den eigentlichen Zeugenbeweis wenig Platz haben und den Indicien überhaupt keine unmittelbare Be-

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Das altdeutsche Strafverfahren.

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achtung zu Theil werden lassen konnte, versteht sich von selbst : aber ebenso gewiss ist, dass ein so schroffer Formalismus unmöglich nach allen Seiten hin aufrecht zu erhalten war. Ein Auskunftsinittel, eine Gelegenheit, der wahren Natur des Beweises näher zu kommen, fand man früh in der Unterscheidung zwischen h a n d h a f t e r u n d ü b e r n ä c h t i g e r That. Es wurde nämlich dem auf frischer That betretenen, unverweilt vor Gericht gebrachten (wir vermeiden es absichtlich, die verschiedenen Varietäten dieses Verfahrens hervorzuheben) die Reinigung dadurch abgeschnitten, dass der Ankläger selbst zum Eid zugelassen wurde, wobei es ihm an Eidhelfern nicht wohl fehlen konnte: dass es sich um handhafte That handle, wurde dagegen oft durch eigentlichen Zeugenbeweis darget-han. — Bei zunehmender Rechtsunsicherheit und namentlich gegen das Ende des Mittelalters fand man insbesondere in den Städten alle diese Mittel, die Ueberführung des Angeklagten zu erleichtern, unausreichend; und wie schon anfangs der Umstand, dass der Angeklagte nicht freiwillig, sondern gefangen vor Gericht erschien, seine Stellung erschwerte, so ward zuletzt an vielen Orten zur Ueberweisung des Angeklagten der Eid des Anklägers und mehrerer Eideshelfer (meist 6 — daher iìb e r s i e b n e n ) für ausreichend erklärt. Aus all dem ergiebt sich, dass die Lösung der T h a t f r a g e von der Beantwortung einer R e c h t s f r a g e abhing; sobald nur festgestellt war. welches das hier anzuwendende Beweisverfahren sei, konnte für die Schöffen die Beantwortung der Anfrage, ob der Angeklagte sich gereinigt V — oder ob der Ankläger ihn überwunden habe wie Recht ist? — keine Schwierigkeiten bieten. Es gab daher auch k e i n e d r i t t e Art des Endurtheils: der Angeklagte stand entweder ganz gereinigt da. oder es musste zum Straferkenntniss geschritten werden. Was nun das Urtheil selbst betrifft, so gab es zwei Mittel, zu verllindern, dass es rechtskräftig werde. War von einem Schöffen ein Urtheil gefunden, so musste, wer anderer Meinung war, sogleich widersprechen und ein anderes Urtheil finden, Avas denn die Folge hatte, dass die Majorität zwischen den verschiedenen Urtheilen den Ausschlag gal). — War das Urtheil einstimmig oder durch den Beitritt der Mehrheit festgestellt, so reichte der einfache Widerspruch nicht aus; noch immer aber konnte die Partei (und lange Zeit hindurch jeder aus dem Unistand) das Urtheil s c h e l t e n : „Das Urtheil, das hier gefunden ist, das schelte ich und ziehe es, wohin ich es nach Recht, ziehen soll, und bitte da um ein Urtheil, wo ich es soll". Nun aber musste ihm der, der das Urtheil gefunden hatte, seinen Platz räumen, und der Scheltende setzte sich an seine Stelle und musste das Urtheil

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Das altdeutsche Strafverfahren.

sprechen, wie es nach seiner Ueberzeugung lauten sollte. Dieser Widerspruch konnte aber hier nicht mehr gehoben werden, sondern nur vor dem nächst höheren Gerichte, wohin der Richter seine Boten (und bald wohl auch den Gerichtsbrief über den Gang der bisherigen Verhandlung) mitgab. Auch noch vor dem höchsten Gericht, dem des Königs, konnte wenigstens der Sachse das Urtlieil schelten, d. h. es auf einen Kampf ankommen lassen, der zwischen ihm und sechs Kampfgenossen auf der einen und sieben Urtheilsfindern auf der andern Seite ausgefochten ward. — Nicht selten kam es übrigens, besonders in Städten, die mit dem Recht einer angeseheneren Stadt bewidniet waren, vor. dass die Urtheiler selbst sich der Entscheidung enthielten und um diese bei den Schöffen jener Stadt (beim O b e r h o f , wie man ihn nannte) anfragten. Suchen wir nun die Grundlagen des eben beschriebenen Strafverfahrens uns klar zu machen, so lässt sich nicht verkennen, dass sie dem auf ihnen ruhenden Gebäude nicht ewige Dauer sichern konnten. Die erste Voraussetzung ist jener einfache Zustand der ältesten Zeit, in welchem die Rechtskenntniss noch Gemeingut aller oder doch der meisten sein konnte und in welchem die staatlichen Interessen noch so wenig verwickelt, noch so wenig empfindlich waren, dass sie von der Bestrafung oder Straflosigkeit der meisten Verbrecher eben nicht berührt wurden. Die zweite ist, dass die Thatfrage keine Schwierigkeit bereitet, weil man im Besitz von Mitteln zu sein glaubte, welche auch ohne Untersuchung die Wahrheit unfehlbar an den Tag bringen mussten. — Beide Voraussetzungen verloren sich aber nach und nach; die Schöffen wurden bald nicht blos ein isolirter Stand, sondern die Träger von Traditionen, die eben nur in ihnen noch lebten und fortwirkten, und kamen so zu dem übrigen Volk fast in dasselbe Verhältniss, in das bald zu ihnen die rechtsgelehrten Richter traten. Das Bedürfniss nach Repression überhandnehmender Verbrechen hatte in den V e h m g e r i c h t e n , wie in der tumultuarischen Justiz mancher Städte, noch vor dem Eindringen des fremden Rechtes, in den feierlichen, strengbemessenen, aber schwerfälligen, durch Formen und Parteiwillkür ganz beherrschten altdeutschen Prozess manche Bresche geschossen. Nun kam noch hinzu, dass die alten Beweismittel allen Boden verloren; von der Kirche mit ungünstigen Augen angesehen, bei geringem Nachdenken als unhaltbar leicht zu erkennen, mussten sie wohl vor allem dem überhandnehnienden Gefühl der Unsicherheit weichen. Damit war aber der ganze altdeutsche Prozess untergraben, ohne dass ein Auskunftsmittel sich bot, das vom Alten zu Neuem hinübergeführt hätte ; fast scheint es, als ob die Tortur, auf der einen

S 7.

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Der römische Strafprozess.

Seite an die alten Gottesurtheile, auf der anderen an die Beweislehre der fremden Rechte sich anlehnend, allein diese Brücke gebildet hätte. Genug — als die Doctoren

des römischen u n d kanonischen Rechtes

i n Deutschland festen Fuss zu fassen anfingen, fanden sie den Strafprozess rathlos, i n seinen Grundlagen erschüttert; heimischen Recht ein Organ,

es fehlte dem ein-

das rechtzeitig das Abgestorbene ausge-

schieden u n d durch lebenskräftige

N e u b i l d u n g ersetzt h ä t t e ;



der

Sieg des fremden Rechtes war gesichert. S 7.

Der römische

Strafprozess 1.

Durch das ganze römische Recht bis tief i n die Kaiserzeit h i n e i n zieht

sich 1

die Auffassung

des Strafrechts

als

eines Elementes

der

L i t e r a t u r (vgl. die Anführung derselben bei Ζ ach a r i ä, Handbuch § 8 Nr 4, I 26 u. 27; B i n d i n g , Grundriss StP § 12 A 1; L u e d e r , Grundr. § 14): Neben dem Hauptwerk: Geil), Geschichte des römischen Criminalprozesses bis zum Tode Justinians. Leipzig 1842 — sind namentlich zu benutzen: M a t h a eus, De criminil). lib. 48 t. 13—17. I i e n a z z i , De ordine seu forma judiciorum criminal. Romae 1777. §§ 4 et 5. I n v e r n i z i . De publicis et criminalibus judiciis Romanorum. Romae 1787. Neuer Abdruck Leipzig 1846. S c h m i e d i c k e , De historia processus crini. Roman. Vratisl. 1827. A b egg, Lehrbuch des gemeinen Criminalprozesses. 1833. § 13. R o s s h i r t , Geschichte und System des deutschen Strafprozesses. 1839. I I I 237—243. M i t t e l * m a i e r , Das deutsche Strafverfahren I 55 if. J a g e m a n n in WRLex IV 445 ff. P l a t n e r , Quaest. de jure criminum Romano praesertim de criminibus extraordinariis. Marb. et Lips. 1842. ρ 82 sequ. H é l i e , Traité de l'instruction criminelle §§5—35, I 32—178. R u d o r f , Römische Rechtsgeschichte II. 1859. §§ 98—104. 137—141. A. W . Z u m p t , Das Criminalrecht der römischen Republik. 2 Bde. Berlin 1865—1869. D e r s e l b e , Das Criminalprozessrecht der römischen Republik. Leipzig 1871. (S- auch M o m m s e n s Römisches Staatsrecht.) B é c o t , De l'organisation de la justice répressive aux principales époques. Paris 1860. p 41—121. Geyer §§ 8. 9. B i n d i n g , Grundriss zur Vorl. über . . Strafrecht. Leipzig 1879. §§ 4—8. M e n n , Ueber die allmähliche Einschränkung der altrömischen Schwurgerichte für Criminalsachen unter der Kaiserherrschaft. Neustadt 1859 (Gymnasialprogramm). B u r c k h a r d t , Die Criminalgerichtsbarkeit in Rom bis auf die Kaiserzeit. Baseler akadem. Einladungsschrift. 1838. K. S. Ζ a eli a r i ä, Lucius Cornelius Sulla. Heidelberg 1834. Osenb r ü g g en, Cicero's Rede für Tit. Milo. Hamburg 1841. K r a u s e , Die deutschen Schwurgerichte. Leipzig 1843. S 37 if. — Einzelnes: San i o , De jurispr. Rom. formul. injure crimin. hand neglig. Regioni. 1862. A h e g g , De sententia condemnatoria ex sol. indieiis secund. principia juris romani baud admittenda. Vrat. 1838. A. Es eher, De testium ratione, quae Romae Ciceronis aetate obtinuit. Turici 1842. W a s s e r s c h l e b e n , De quaestionum per tormenta apud Romanos historia., Berol. 1837. AVestphal, Die Tortur der Griechen, Römer und Teutschen. Leipzig 1785. S 7—80. L a b o u i ay e, Essai sur les lois criminelles des Romains concernant la responsabilité des magistrats. 1845. B i n d i n g , De natura inquisitionis processus criminalis Romanorum. Gotting. 1863. Heidelberg. 1864. So η t a g , Die Entlassung gegen Caution im römischen Strafverfahren. Heidelberg 1865.

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Der römische Strafprozess.

Politik. Unbeschadet mancher Schwankungen im einzelnen blieben blosse Verletzungen von Privatrechten, wenn sie auch unter Umständen erfolgten, die nach heutiger Auffassung eine Bestrafung nothwendig machen, ja selbst Störungen der polizeilichen Ordnung, der Civilrechtspflege vorbehalten, auf welchem Wege theils durch Auferlegung von Geldstrafen (bei Privatdelicten und in Folge von Popularklagen), theils vermöge der bei gewissen Prozessen den Unterliegenden treffenden Ehrenfolgen 2 eine genügende Repression erzielt wurde. Damit war das Gebiet der Strafrechtspflege (judicium publicum) auf jene Handlungen eingeschränkt, deren kräftige Unterdrückung ganz unverkennbar unmittelbar im öffentlichen Interesse lag; und in diesem Sinne war denn auch die Strafgewalt ein Attribut der öffentlichen Gewalt überhaupt. Wie dem Hausvater das jus vitae et necis als Theil der väterlichen Gewalt zukam, so hatten die Könige, die pontifices, der Senat eine Strafgewalt, die sie nach dem jeweiligen Bedürfniss, nach ihrem Ermessen, wenig durch Gesetze oder Rechtsgewohnheiten eingeschränkt, jedenfalls aber als ein Recht (dem nicht eine Pflicht, zu strafen, entsprach) ausübten. Bekanntlich änderte der Untergang des Königthuins nur die Person des obersten Magistratus, nicht aber die Stellung der Individuen zur Staatsgewalt, Die Strafgewalt blieb lange in den Händen der Consuln und Prätoren in cler alten Gestalt, bis sie in Capitalsachen, sofern es um römische Bürger sich handelte, auf die Comitien, von diesen erst ausnahmsweise, dann für immer auf für einzelne Arten von Delicten bestellte Commissionen, die quaestiones perpetuae, überging 3 . In all diesen Fällen waren die Richter die E i s e n l o h r , Die provocatio ad populum. Schwerin 1858. — Darstellung eines einzelnen Prozesses aus der Kaiserzeit hei Degen, Das römische öffentliche \rerfahren in einem Criminalfalle aus Justinians Zeitalter. NA V I I 596 ff. B a r o n , Ad causam Horatianani. Berolini 1870. M o r e au, Des jurisdictions criminelles jusqu'à l'extinction des questiones perpetuae et de la composition du jury. Paris 1876. Cas ora t i , Processo penale ρ 227 ff. Vollständigste Anführung römischer Quellen bei den einzelnen Materien in I v l e n z e , Lehrbuch des Strafverfahrens. Berlin 1836. 2 L 1 D de his qui notantur inf. 3, 2. v. S a v i guy, System des heutigen römischen Rechtes I I 173 ff. A r n d t s , Pandekten § 31. M a r e z o l l , lieber die bürgerliche Ehre. Giessen 1824. S 123 ff. R u d o r f , Römische Rechtsgeschichte I I 346 ff 3 Die erste Einsetzung einer quaestio perpetua erfolgte im J. 605 u. c. für das crimen repetundarum durch die 1 Calpurnia. Die dauernde Ordnung der quaestiones perpetuae ist auf Sulla zurückzuführen. G e i b , Geschichte des römischen Criminalprozesses. S 169 ff. K. S. Z a c h a r i ä , Sulla I I 125 ff. R u d o r f , Römische Rechtsgeschichte I I 334. 336 ff.

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Träger eines ihnen für ihre Person eingeräumten unbeschränkten staatlichen Rechtes — ein Verhältniss, das sich erst ändern konnte, als nach dem Untergang der quaestiones perpetuae die Strafgewalt nicht blos vom Kaiser, sondern auch durch die von i h m bestellten Organe gehandhabt wurde, die natürlich an seine Anweisungen, seinen Willen, seine Gesetze gebunden waren. Der Untergang der quaestiones perpetuae bezeichnet daher einen freilich chronologisch nicht zu fixirenden, aber doch entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des römischen Criminalprozesses. Wir wenden uns daher zunächst jener ersten Periode zu, welche ihren Höhepunkt in den quaestiones perpetuae erreichte; das Verfahren dieser letzteren ist nichts als die Entwickelung des Ganges, welchen die Dinge schon früher genommen hatten und der nur durch den Wegfall jener Hemmnisse modifient wurde, welchen das an sich schon schwerfällige Verfahren vor den Comitien noch deshalb unterlag-, weil alle Regeln, welche für die legislative Thätigkeit derselben galten, auch auf den Strafprozess angewendet wurden 4 . W i r können uns daher mit einer Darstellung des Prozesses zur Zeit der quaestiones perpetuae begnügen. Schon der Umstand, dass die Versammlung des ganzen Volkes den wichtigsten Theil der Strafrechtspflege lange Zeit in Händen hatte, und dass die quaestiones die Stelle der Comitien vertreten sollten, weist darauf hin, dass die Einleitung eines Strafprozesses nicht von einem so schwerfälligen Gericht selbst ausgehen konnte; ein Criminalprozess konnte also nur beginnen, wenn sich ein Ankläger fand, und nur durch einen solchen zu Ende geführt werden. Dass er sich, wenn ein Verbrechen begangen war, auch wirklich finde, dafür war (abgesehen von ganz unbeträchtlichen Ausnahmen 5 ) in keiner Weise gesorgt, sei es nun, dass man in den meisten Fällen die blosse M ö g l i c h k e i t der Verfolgung für genügend hielt, sei es, dass man dem 4 Unmittelbar konnte nur einer der höheren Magistrate als Ankläger auftreten. Es musste von einem Magistratus die Bestimmung eines Tages (diei dictio) erwirkt, an diesem die Anklage zuerst erhoben (anquisitio) und an drei einander folgenden Markttagen wiederholt werden. Geib S 100. 116. 117. Z a c h a r i ä I § 20 Anm 1. r ' Allerdings lag die Verfolgung von Verbrechen, soweit sie sich von Eall zu Fall als nothwendig erwies, in den Attributionen der öffentlichen Beamten, und manchesmal wurden speciell zu diesem Zweck eigene Beamte, wie die triumviri capitales, die quaestores parricidii, die decemviri perduellionis, bestellt/— Mitunter wurden denjenigen, welche zur Entdeckung von Verbrechen beitrugen (indices et quadruplatores) dafür gewisse Vortheile, Straflosigkeit den Mitschuldigen, den Sklaven Freilassung, Geldbelohnungen zugesichert. Geib S 103 ff.

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Gemeingefühl der Bürger vertraute, oder endlich, dass die Verpflichtung gewisser Magistrate zur Bekämpfung alles staatsgefährlichen als ausreichende Bürgschaft angesehen wurde. Zur Erhebung einer Anklage (accusatio) b e r e c h t i g t was dagegen zur Zeit der quaestiones perpetuae j e d e r Bürger, sofern nicht ganz besondere, in seiner Person oder in seiner Beziehung zu dem Beschuldigten begründete Ausschliessungsursachen gegen ihn sprachen 6 . Gegen m u t h w i l l i g e Erhebung von Anklagen schützten, ausser clen grossen Mühseligkeiten und Beschwerden, die mit cler Durchführung des Prozesses verbunden waren, die C a l u m n i e n s t r a f e n und der C a l u m n i e n e i d 7 , welchen der Ankläger gleich beim Beginn des Prozesses ablegen musste; dagegen war aber auch dafür gesorgt, dass der einmal begonnene Prozess nicht eigenmächtig oder gar in betrügerischem Einverständniss mit dem Angeklagten (durch T e r g i v e r s a t i o n oder P r ä v a r i c a t i o n ) vom Ankläger eingestellt werde 8 . Wer als Ankläger auftreten w ollte, musste diesen seinen Entschluss dem Vorstand der quaestio erklären — postulare. War dabei gegen seine Zulässigkeit nichts einzuwenden und ein etwaiger Streit zwischen mehreren Anklägern geschlichtet (divinatio), so kam es zur noininis delatio, professio criminis. Der Ankläger gab nämlich nun genau den Namen des Beschuldigten und das Verbrechen an, welches er ihm zur Last legte. Höchst wahrscheinlich ging diesem Akt die Vorladung des 6

R u d o r f § 127. Unmündige, Frauenspersonen, Ehrlose, wer bereits Anklagen gegen zwei — oder nach einer Emendation von Cujacius gegen drei — verschiedene Personen anhängig hat (1 12 § 2 D de accus. 48, 2) oder selbst schwerer \7erbrechen angeklagt ist (1 19 C qui accusare 9, 1), wer ein falsches Zeugniss gedungen oder für An- oder Abstellung der Anklage Geld angenommen hat, endlich Vermögenslose sind überhaupt vom Anklagerecht ausgeschlossen. Relativ ausgeschlossen sind Eltern, Kinder und Geschwister gegen einander, Sklaven, Freigelassene, Clienten gegen ihre Herren und Patrone. Indess wird von diesen Ausschliessungsgründen abgesehen, sobald ein wichtiges individuelles Interesse an die Anklage geknüpft ist. 7 Nomenque eins deferto sei deiuraverit calumniae causa non postulare. Fragm. leg. Serv. c. 8. 8 Der Ankläger konnte von der einmal förmlich erhobenen Anklage nicht ohne Genehmigung des Gerichtes (abolitio) zurücktreten; geschah dies dennoch, so war er der T e r g i v e r s a t i o n schuldig, während die nur scheinbare Fortführung des Prozesses gegen einen heimlich begünstigten Angeklagten als P r é v a r i c a t i o n gestraft wurde. Die eigentliche Strafe von Calumnia, Tergiversation und Prävarication ist nicht ganz festzustellen; allein empfindlich war es schon, dass diese Delicte die Infamie nach sich zogen, und dass die Verurtheilung ohne Einleitung eines besonderen Prozesses im Hauptprozesse selbst erfolgte. Geib, Geschichte S 290 ff. 577 ft'. Ζ ach a r i ä I § 19 Anni 7.

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Beschuldigten und die Befragung desselben durch den Ankläger über die der Anklage zu Grunde zu legenden Thatsaehen (interrogatio) voraus. Der Beschuldigte war weder verpflichtet zu erscheinen, noch zu antworten, da der Zweck des ganzen Verfahrens nur darin lag, dass durch seine Zugeständnisse und Widersprüche der eigentliche Gegenstand des künftigen Streites von Anfang an genau bestimmt- werde. Eben deshalb wurde die nunmehr genau fomiulirte Anklage jetzt erst zu Protokoll genommen und vom Ankläger unterschrieben. Mit dieser nominis subscriptio, an welche der Ankläger zu Gunsten des Beschuldigten unter allen Τ Tinständen gebunden blieb, war dem beginnenden Prozess die Richtung genau bezeichnet 9 . Je nachdem der Inhalt dieser Anklage sich unbedingt aufrecht erhalten liess oder nicht, musste die Endentscheidung, d. i. die einfache Annahme oder Verwerfung der Anklage, erfolgen. Deshalb war auch erst mit dem Augenblick, wo der Richter diese Anklage förmlich als entgegengenommen erklärte (receptum noinen) der Beschuldigte als a n g e k l a g t (reus, in reatu) anzusehen. Beide Parteien standen sich nun gegenüber ; der Richter hatte nur die Zeit für die eigentliche Verhandlung zu bestimmen und überliess es den Parteien, alles erforderliche für dieselbe vorzubereiten und die Beweismittel herbeizuschaffen. Während das mehr oder weniger sorgfältig geschah, ward namentlich auf der Seite des Angeklagten nichts unterlassen, was den künftigen Richter für ihn günstig stimmen konnte. Obgleich eine unserer Untersuchungshaft ähnliche Freiheitsentziehung nur selten, und meist nur in sehr milder Form eintrat (konnte ja durch freiwillig gewähltes Exil der angeklagte Bürger dem Prozess selbst bei Capital verbrechen immer ein Ende machen) — ward der Zustand des Reates doch als ein drückender empfunden und dies auch äusserlich möglichst auffallend an den Tag gelegt. Der Reus selbst und wer ihm irgend näher stand oder sich berufen fühlte, seiner Sache zu dienen, erschien mit allen äusseren Zeichen tiefster Trauer und in einem Aufzug, der darauf berechnet war, das Mitleid des Volkes zu erregen. Kam endlich der Tag der Entscheidung heran, so handelte es sich vor allem um die Constituirung des Gerichtes. Die quaestio bestand aus dem Vorstande (welches entweder ein Prätor oder ein eigener 9 L 3 pr. D de accus. 48, 2: Libellorum inscriptionis conceptio talis est: Consul et dies, apud illum Praetorem vel Proconsulem Lucius Titus professus est, se Maeviam lege Julia de adulteriis ream deferre, quod dicat, eam cum Caio Seio in civitate illa, domo illius, mense ilio, consulibus illis, adulterium commisisse...

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judex quaestionis war, und dem nur die Leitung des äusseren Ganges der Verhandlung zustand) und aus einer sehr grossen Anzahl von Richtern, welche von Jahr zu Jahr designili wurden und deren Namen öffentlich bekannt gemacht waren 1 0 . Aus diesen Richtern nun, deren Zahl immer einige hundert betrug, mussten diejenigen ausgewählt werden, welche den speciellen Fall zu entscheiden hatten; — auch ihre Zahl war nicht unbeträchtlich und schwankte zwischen 32 und 75. Nach Beseitigung derjenigen, welche aus g e s e t z l i c h e n G r ü n d e n in dem Falle als Richter nicht zuzulassen waren 1 1 , fand (in der R e g e l ) die L o s u n g der Richter (sortitio) statt. Beiden Theilen stand ein sowohl der Zahl nach fast unbegrenztes, als auch dem Inhalt nach durch die Verpflichtung zur Angabe von Gründen nicht beschränktes Verwerfungsrecht zu; mitunter wurde die Ergänzung durch nachträgliche Losung (subsortitio) nothwendig 12 . Hie und da, wie es scheint, nur in der älteren Zeit, wurde das Gericht statt durchs Loos durch editio bestellt, dadurch nämlich, dass jede der beiden Parteien die erforderliche Anzahl von Richtern benannte und dagegen die Hälfte der vom Gegner benannten verwarf. Waren auf diese A i l säimntliche Richter bestimmt (judices selecti), so legten sie den Eid ab, weshalb sie wohl auch jurati genannt werden. 10 Die Gesetzgebung hierüber folgte bekanntlich regelmässig den politischen Schwankungen. In den letzten Jahren der Republik wurden die vom Prätor urbanus in das Album von Jahr zu Jahr einzutragenden in gleicher Zahl den drei oberen Ständen (unter August kam eine v i e r t e , unter Caligula eine f ü n f t e Decurie hinzu) entnommen. R u d o r f I I § 103. 11 G e i b S 306. 12 Das Verwerfungsrecht ward einerseits durch die Leges Corneliae ungeniein eingeschränkt (Angeklagte, welche nicht senatorischen Standes waren, sollten nur drei Richter verwerfen dürfen), andrerseits durch die 1 Vatinia maasslos, bis zur wiederholten Verwerfung des ganzen ausgelösten Consilium, ausgedehnt. Die Grenzen, welche ihm im normalen Verfahren gesteckt waren, sind nicht recht erkennbar. Ebenso ist nicht deutlich, wann der Moment der Rejection eintrat: das natürlichste wäre wohl, dass die Rejection suecessiv, so wie die Namen aus der Urne hervorgingen, stattfand; unter dieser Voraussetzung war es allerdings widersinnig ( R u d o r f § 103), die s u b s o r t i t i o als Mittel zur Ausfüllung der dadurch entstandenen Lücken anzusehen, und man müsste sie auf jene Fälle einschränken, wo später aus irgend einem Grunde Richter ausscheiden. Allein es ist keineswegs unwahrscheinlich, vielmehr der Analogie der Recuperatoren und des Editionsverfahrens entsprechend, dass (lie Rejection erst dann erfolgte, wenn das erste Consilium gebildet war; damit würde auch dem Rejectionsrecht eine bestimmte Grenze gesteckt, wenn man annehmen dürfte, dass, abgesehen von der Lex Vatinia. nach der subsortitio keine Verwerfung mehr zugelassen wurde. Vgl. F i l a n g i e r i . Scienza della Legislazione lib. I I I p. I c. 15 (II 421).

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Wenden wir uns nun dem Verfahren selbst, welches in dieser Zeit ö f f e n t l i c h auf dem Forum stattfand, zu, so müssen wir wohl nebst dem, was schon früher über die Stellung des Criminalrechtes in Rom gesagt wurde, den nationalen Zug nicht übersehen, dass überall dem Wort als solchem eine grössere Bedeutung beigelegt wurde, als welche die germanischen Völker ihm zugestehen. Das Verfahren begann nämlich (eine kurze Unterbrechung, welche Pompejus bewirkte, abgerechnet) mit den R e d e n der Parteien. Dass den Reden das Beweisverfahren n a c h f o l g t e , muss wohl als cler beste Beweis dafür angesehen werden, dass die Ueberzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit der vom Ankläger aufgestellten Behauptung nicht als die e i n z i g e Quelle der Entscheidung galt, und dass am allerwenigsten kühles Abwägen der Beweismittel als die einzige Aufgabe des Richters angesehen wurde. Das wird denn auch durch die aus jener Zeit erhaltenen Reden reichlich dargethan. Herabsetzung des Gegners, Hervorhebung der eigenen Verdienste und Vorzüge, Einwirkung auf das Gefühl der Richter, auf deren Eitelkeit, Hereinziehung politischer Rücksichten und Aufregung der Parteiinteressen sind die Mittel, welche die causarmi! patroni in bewunderungswürdiger Kunst der Rede in Anwendung brachten. Die Reden wurden ursprünglich nur einmal gewechselt-, der Ankläger sprach zuerst, ihm antwortete der Vertheidiger. Dann durften nicht mehr zusammenhängende Reden, wohl aber kurze Erörterungen in Dialogform (altercationes) folgen. Unter solchen Umständen sollte man dem B e w e i s ν e r f a h r e n selbst wohl kaum jenen Grad von Ausbildung zutrauen, den es denn doch erlangt hat. An eigentliche Beweisregeln, geschweige denn eine geschlossene Beweistheorie war nach vorstehendem nicht zu denken; der Partei, der es darum zu thun war, den Richtern eine gewisse Ueberzeugung beizubringen, war die Wahl der hiezu erforderlichen Mittel frei gelassen, und diese Freiheit nur durch das meistens gleiche Recht des Gegners und durch die ihm gebotene Möglichkeit, jenem entgegenzuwirken, beschränkt. Doch hatte dabei der Ankläger einerseits die für die Unschuld sprechende Präsumtion g e g e n , andererseits seine Stellung als Repräsentant eines ö f f e n t l i c h e n Interesse f ü r sich; daher ist es namentlich zu erklären, dass nur i h m das Recht zustand, Zeugen zum Erscheinen wider ihren Willen zu zwingen 1 3 . Die Z e u g e n wurden übrigens beeidigt, und vor versammeltem Gerichte zuerst vom Producenten, dann vom Gegner, n i c h t aber von 13

Dem Ankläger ward ein Maximum der Zeugenzahl aufgestellt, das er nicht überschreiten durfte. Geib S 339. R u d o r f § 133 Anm 11. Binding, Handbuch. IX. 4. I :

G l a s e r , Strafprozess.

I.

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den Richtern vernommen. Eine Ausnahme hievon wurde nur dann gemacht, wenn der Zeuge (was damals nur bei Sklaven geschehen konnte) g e f o l t e r t wurde. In diesem Fall fand das Verhör unter der Leitung des Judex quaestionis, der die Protokollirung überwachte, ausserhalb des Gerichtes statt. — Nicht blos in diesem, sondern noch in manchem anderen Falle bediente man sich schrittlicher Aufzeichnungen und U r k u n d e n zur Beweisführung, für welche übrigens auch 1 4 die I n d i c i e η eine wichtige Rolle spielten. Dass bei der strengen Einhaltung des Accusationsprincips das B e k e n n t n i s s mehr als ein blosses Beweismittel war, braucht wohl kaum bemerkt zu werden; die Vertheidigung nahm, wo ein solches vorlag, die eigenthümliche Form der deprecatio an. Erzwungen konnte auch das Geständniss nur bei Sklaven werden. I n der älteren Zeit folgte dem Beweisverfahren sogleich die Abstimmung. Jeder Richter erhielt ein Täfelchen, auf welches er, ohne es anderen zu zeigen, eines der drei Zeichen: A (absolvo), NL (11011 liquet), C (condonino) setzte. Zur Verurtheilung war absolute Stimmenmehrheit erforderlich; sie erfolgte als unbedingte Annahme der Ank l a g e 1 5 mit den Worten des Judex quaestionis: fecisse videtur, sowie im entgegengesetzten Falle der Ausspruch : fecisse non videtur lautete. Non liquet war zunächst nur eine individuelle Erklärung, mittels deren der Richter die Abstimmung ablehnte: nur wenn wegen der grossen Zahl der mit N L bezeichneten Täfelchen w e d e r ein condemnirendes noch ein freisprechendes Urtheil geschöpft war. lautete der Gesamnitausspruch : Ainplius! Es musste dann das ganze Verfahren so lange wiederholt werden, bis die Mehrheit der Richter sich hinlänglich aufgeklärt sah, um über die Sache absprechen zu können. Auch dies scheint sich nicht lange erhalten zu haben: dagegen fand wenigstens bei Repetunden nach \ 7 ollendung des ersten Verfahrens (actio prima) und vor der Abstimmung eine Wiederholung und weitere Ausführung der Sache (eoniperendinatio) in einer Fortsetzung des Prozesses (actio seeunda) statt. 14

Mit Unrecht bestritten von A h e g g , De sententia condemnatoria ex solis incliciis secundum principia juris romani haud adniittenda. Vgl. Geil) S 144 ff. 355 ff. R u d o r f § 134. (S. sonstige Literatur später hei der Darstellung der geschichtlichen Entwickelung des Indicienbeweises.) 15 Die Anklage konnte in der hier in Frage kommenden Zeit (anders in der späteren Kaiserzeit, s. Z a c h a r i ä I § 20 Anni 9) nur auf e i n Verbrechen gerichtet sein ; das Urtheil war in jeder Richtung daran gebunden. Der Schuldausspruch zog von selbst die gesetzliche Strafe nach sich.

$ 7.

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Der römische Strafprozess.

Bei der ganzen vorstehenden Darstellung muss man freilich nicht übersehen, dass es einen gemeinsamen Criminalprozess thatsächlich nicht gab. und dass für jedes Verbrechen, für welches eine quaestio eingesetzt wurde, zugleich durch dasselbe Gesetz Strafe und Verfahren geregelt wurden. Indess war doch eine überall so gleichmässig wirksame Grundform vorhanden, dass sie noch lange nach dem Untergang der quaestiones perpetuae als solche erkannt und als die Regel des ordentlichen Verfahrens noch zu einer Zeit bezeichnet wurde, wo selbst die Namen des judicium publicum und der extraordinaria cognitio 1 6 schon ganz andere Bedeutungen hatten. In der K a i s e r z e i t wurde nämlich das öffentliche Interesse an Bestrafung der Verbrechen lebhafter erkannt; der eigentlichen Bestrafung wurden mehr und mehr Handlungen unterzogen, denen sonst immer nur als Privatdelicten auf dem Wege des Civilprozesses begegnet wurde; die Strafen wurden härter; die Strafgewalt, theils vom Princeps selbst, theils von dessen Beamten und vom Senat geübt, konnte nun wenigstens bei letzteren nicht mehr in jener alten W^eise als etwas angesehen werden, Avas man nach eigenem Ermessen anwenden d ü r f e , aber nicht anwenden m ü s s e . Desto mehr muss sich jetzt das Interesse in der Beantwortung der T h a t f r a g e concentri ren, desto begreiflicher ist es, dass die Behörden nicht immer mehr den Ankläger abwarten und keinenfalls mehr blos von der Thätigkeit, dem Eifer und der Geschicklichkeit der Parteien selbst Gang und Ausgarig der Sache abhängen lassen. Auch wird das unmittelbare Eingreifen des Richters jetzt wesentlich dadurch erleichtert, dass die Gewalt jetzt immer in e i n e r Hand, der des inagistratus, wie immer er genannt wird, ruht, und dass ihm die assessores (sowie dem Kaiser sein consistorium) nur berathend zur Seite stehen. — Das hatte denn schon fast von selbst die Folge, dass das Gericht das Foruni verliess und sich in Säle zurückzog, in welche nur den Honoratioren der Zutritt offen stand, während das Publicum durch Schranken und Vorhänge ausgeschlossen wurde; sowie die Möglichkeit einer Berufung an den Kaiser es nöthig machte, den Gang des Prozesses und dessen wichtigste Ergebnisse a u f z u z e i c h n e n . Alle diese Umgestaltungen wurden aber ganz unmerklich, mehr durch die Macht der veränderten Zeiten als durch plötzliche, ausdrückliche Anordnungen herbeigeführt. So kommt es denn, dass die alten Formen noch immer nicht zu verkennen, ja in vielem noch immer maassgebend sind und als die R e g e l bildend anerkannt werden. Noch 16

Z a c h a r i ä I § 19 Anm 6. 5*

68

7.

Der römische Strafprozess.

immer fand, wo ein Ankläger auftrat, die noniinis delatio, freilich jetzt vor derselben Person statt, welche die Entscheidung überhaupt zu fällen hatte; noch immer konnte dabei, wenigstens in der Regel, auch der Angeklagte erscheinen und vom Gegner, jetzt wohl auch vom Richter, befragt werden. Die nominis subscriptio und receptio bleiben ebenfalls, Avas sie waren, nur dass freilich jetzt häufiger Untersuchungshaft im Gefolge des durch letztere herbeigeführten Reates ging, wobei die eigentümliche Form der custodia militaris (Ankettung an bewachende Soldaten) erwähnt zu werden verdient. Noch immer begann die eigentliche Verhandlung mit den Reden der beiden Parteien und ihrer Vertreter, wTobei freilich bemerkt werden muss, dass die Anwesenheit des Anklägers überhaupt nicht immer für unerlässlich galt. Auch das darauf folgende Beweisverfahren konnte nicht mehr lediglich auf die subjective Ueberzeugung des Richters hinzuwirken bestimmt sein, sondern sollte nunmehr gewissen Regeln, gewissen M i n i m a l a n f o r d e r u n g e η Genüge leisten — wenngleich ein völlig ausgebildetes System von Beweisregeln noch immer nicht zu finden ist und die individuelle Ueberzeugung der Richter (ex sententi a animi tili, 1 3 § 2 D de testibus) entscheidend blieb. Jene Regeln machten sich namentlich bei der Frage über die Zulässigkeit des Z e u g n i s s e s gewisser Personen geltend. — Die Zeugen wurden unmittelbar vor dem Richter und später wohl auch meist v o n demselben vernommen ; bei Sklaven konnte noch immer die Folter angewendet werden, welcher jetzt auch angeklagte Freie, sofern sie nicht den höchsten Kreisen der Gesellschaft angehörten, unterworfen werden durften. Das Urtheil, welches vom Magistratus selbst nach Anhörung des Rathes des Assessors ausging, wTurde vor der Publication niedergeschrieben und nicht selten mit Entscheidungsgründen versehen; der Richter war dabei nicht mehr streng an dasjenige Verbrechen gebunden, auf welches die Anklage ging. Dass er den Spruch aussetzen und das Verfahren fortsetzen konnte, bis ihm die Sache klar geworden wrar, ergiebt sich aus vorstehendem; eben daraus folgt aber, dass weder die alte Ampliatio, noch die Comperendinatio mehr stattfinden konnte, selbst wenn sie nicht ohnehin längst in Vergessenheit gerathen wären. Der Spruch selbst, wenn er erfolgte, musste daher entweder verurtheilen oder freisprechen; eine dritte Formel gai) es nicht, worüber die Worte der 1 3 Cod. de sentent, et interlocut, : Praeses provinciae non ignorât, definitivani sententiani, quae condemnationeni vel absoluta onem non continet, pro justa non haben — wohl keinen Zweifel lassen.

69 § 8.

D e r S t r a f p r o z e s s des k a n o n i s c h e n

Rechts1.

Ungleich schwieriger als die Darstellung des römischen Criminalprozesses ist die des kirchlichen Strafverfahrens. So bedeutsam und einflussreich diese Prozessform für die Strafrechtspflege des europäischen Continents, insbesondere aber für das gemeine deutsche Criminalrecht geworden ist, so erscheint sie äusserlich doch wechselvoller, abhängiger von Zeit und Umständen, als andere Grundformen des Prozesses. Schon das Gebiet, auf welchem sie Geltung hatte, und die Stellung, die das kanonische Recht der Strafe anwies, sind nicht eben durch scharfe Linien zu bezeichnen. Der Anlass zu strafendem Einschreiten war nämlich für die Kirche nicht in allen Fällen derselbe und wurde auch nicht immer in derselben Weise angesehen. Dabei kann man aber mit ziemlicher Sicherheit folgende Richtpunkte hervorheben: Auszuscheiden ist vor allem das, was vor das forum internum gezogen wurde und wobei lediglich zur Sicherung des Seelenheiles des Sünders selbst dessen Lebenswandel zu prüfen war, obgleich nicht zu verkennen ist, dass die darauf sich beziehenden Stellen der Rechtsquellensaminlungen auf den Gang der eigentlichen Strafgerichtsbarkeit der Kirche nicht nur, sondern auch auf die Entwicklung des Criniinalrechts überhaupt nicht ohne Einfluss blieben. Neben dieser, ausserhalb des Rechtsgebietes liegenden Thätigkeit sehen wir aber die Bemühung zur Beseitigung desjenigen, was, allgemein bekannt geworden, Aergerniss giebt. Diese gegen alles unsittliche und unkirchliche gerichtete Thätigkeit übte die Kirche seit den ältesten Zeiten durch die Ausscheidung, Excommunication des beharrlich widersetzlichen aus und in minder schweren Fällen durch Auferlegung von Pönitenzen, durch welche der Gestrafte 1 L i t e r a t u r : B i e n e r , Beiträge zur Geschichte des Inquisitionsprozesses. Leipzig 1827. S 16 ft'. H é l i e , Traité de l'instr. crim. §§ 55 et 68, I p 260 ss. 359—414. E i c h h o r n , Grundsätze des Kirchenrechtes. Göttingen 1833. I I 67 ff. A s c h b a c h , Kirchenlexikon s. v. Inquisition. J a c o b s o n in WRLex IV 620 ff. Jag e man η das. V 447 ff. Τ ho mas i n s , De orig. processus inquis. Hai. 1721. §§ I I sequ. M a r x , De denuntiatione juris canonici. Schaffhausen 1859. M o l ito r, Ueber kanonisches Gerichtsverfahren gegen Kleriker. Mainz 1856. J. F e s s i e r , Der kanonische Prozess nach seinen positiven Grundlagen und seiner ältesten historischen Entwicklung in der vorjustinianischen Periode. Wien 1860. M ü n c h e n , Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht. 2 Bde. 2. Aufl. Köln u. Neuss. 1874. Ζ a c h a r i ä, Handb. I §§ 21. 22. M i 11 e r m a i e r , Deutsches Strafverfahren I 79 ff. Geyer, Lehrbuch §§ 10 u. 11. B i n d i n g , Grundriss StP § 5. L u e d e r , Grundriss § 15. C. Gross, Die Beweistheorie im kanonischen Prozess. 2 Bde. Innsbruck 1867 u. 1880. cf. P o r s e l i , Bedeutung des Indicienbeweises im kirchlichen Strafverfahren. Breslau 1876. Speciell über Ketzerinquisition: N. E y m e r i c i Directorium Inquisitoruni. Mit Commentar von Fr. Pegna. Rom 1578 (2. Ausg. Rom 1585).

70

§

Die uralte denuntiatio evangelica (auf Ev. Matth. 18, 15—20 gestützt; vgl. auch Fessier S 10 und 11) konnte zu einer eigentlichen Strafe nicht führen; sie führte zur Ausstossung aus der Gemeinde, wenn die geheime brüderliche Ermahnung (charitativa admonitio) und die geheimen Besserungsversuche der Kirche erfolglos blieben (c. 18. 19 C. I I qu. 1). — Allein sobald überhaupt anerkannt war, dass ohne einen Ankläger eine förmliche Procedili* möglich sei, diente die denuntiatio nicht blos zu der Erforschung des Rufes (inquisitio famae), sondern es wurde dem Denuntianten schon eine gewisse Berechtigung zur Betreibung der Sache (ad prosequendam inquisitionem) eingeräumt, c. 14 X 19 de accus. 5, 1 (Innoc. III. 1198. 1205). Bald wurden denn auch Personen bestellt, welche zur Anzeige verpflichtet wurden, c. 25 X de accus. 5, 1 (Innoc. III. 1216).

76

§

.

Der Strafprozess des kanonischen

chts.

Der z w e i t e noch wichtigere Yortheil, der durch das kanonische Recht für die Dauer gewonnen war, liegt darin, dass der römischen Auffassung und Behandlung der B e w e i s e der Weg gebahnt wurde. Das Beweisrecht der Germanen beruhte, wie schon früher angedeutet ist, auf uns heute beinahe unfassbar gewordenen Voraussetzungen: und so kam es denn, dass das Recht, welches die Juristen ins Land brachten, in nichts so schroff jenem Rechte entgegentrat, welches sie im Lande vorfanden, als in dem, worin man heute principielle Meinungsverschiedenheit für unmöglich halten sollte. Das römische Recht, und nach ihm noch entschiedener das kanonische, gingen in diesem Punkte beim gemeinen Menschenverstände in die Schule; der Ausspruch des Richters sollte durch Schlüsse von dem, wTas ihm unmittelbar vorlag, auf das, was streitig war, gewonnen werden. Die Aussage von Zeugen über das, was sie selbst gesehen und gehint, durch den Eid erhärtet, der Kritik des Gegners blosgestellt, bildet den Mittelpunkt dieser Beweisführung. Nach germanischem Rechte hing aber nichts von der inneren Glaubwürdigkeit der Behauptung, alles von der Autorität des Behauptenden ab, davon nämlich, ob diesen eidhelfende Genossen oder der Ausgang eines Gottesurtheils für vertrauenswürdig erklärte. Das kanonische Recht beförderte unzweifelhaft das Durchdringen der römischen Anschauung, wenn diese auch auf die Länge von selbst sich hätte Bahn brechen müssen; es beförderte es selbst mit Hilfe der Concessionen, die es da und dort germanischen Beweisformen machte, und wurde so der Ausgangspunkt der Beweistheorie des gemeinen deutschen Redites — eines Systems von Beweisregeln, das in seinem Grundgedanken auch da noch Autorität behält, wo nur an den Eindruck, den das Verfahren auf den Richter übt, appellili:· wird. Dagegen lässt sich auch nicht verkennen, dass die Theorie die Consequenzen, welche sie aus jenen kanonischen Anfängen zog, zu weit zog und in manchem wieder den Eigentümlichkeiten der Objecte des kanonischen Prozesses nicht genügend Rechnung trug, dass sie eben dadurch auf die Entwickelung des deutschen Criminalprozesses auch hemmend einwirkte, dass sie unterdrückte. Avas sich mit voller Existenzberechtigung auf deutschem Boden erhalten hatte und später erst aus der Fremde wieder eingeführt Averden musste. Die Berücksichtigung des öffentlichen Interesse am Strafrechte hatte dahin geführt, dass auch, AVO ein klagender Privatmann nicht vorhanden war. das Verbrechen nicht ungestraft blieb: sie führte Aveiter dahin, dass der Richter dem Ankläger, selbst AVO er vorhanden Avar, und darum billigerweise auch dem Angeklagten mit seiner besseren Einsicht nachhalf.

§

.

Der Strafprozess des kanonischen Rechts.

Weil aber das naheliegende Auskunftsniittel, die Wahrung des öffentlichen Interesse einem öffentlichen Ankläger zu übertragen, da übersehen ward, dort nicht ergriffen werden konnte, weil man eben deshalb nach der anderen Seite hin auch vom Beschuldigten den Fürsprech, den ihm das deutsche Recht fast aufzwang, mehr und mehr hinwegdrängte: musste man zuletzt (immer in angeblich consequenter Durchführung des Inquisitionsprineips) darauf hinauskommen, dass die Anklage e r s t nicht mehr gern gesehen, dann förmlich ausgeschlossen wurde, und dass der Richter, statt von seinem unbefangenen Standpunkte aus nur zu ergänzen, was die Parteien lückenhaft Hessen, die ganze Arbeit des Prozesses allein verrichten musste. So kam es denn — was noch heute ausserhalb Englands fast überall empfunden wird —, dass der Verletzte, dem die staatliche Gesittung die Privatrache aus den Händen nimmt, nicht einmal, AVO er es will, auf den Gang des Prozesses nachhaltig einwirken kann; so kam es, dass dem Richter übermenschliches zugeinuthet ward : ruhige Umsicht, während er doch eifrig suchen soll — unerschütterliche Unparteilichkeit, da er doch selbst alles, Avas nur einen Menschen menschlich ergreift, in Bewegung zu setzen hat. Auf dem Gebiete des Beweisrechtes namentlich zeigte sich am Unrechten Orte der Einfluss der kanonischen Einrichtungen ; eine kirchliche Behörde kann auf ein reumüthiges Bekenntniss nie einen zu grossen Werth legen. für sie ist ja die darin liegende Unterwerfung der eigentliche Zweck des Verfahrens ; so giebt es — selbst erpresst — noch Gelegenheit, auf das Gewissen des Sünders einzuwirken. Weltliche Strafgerichte aber hätten Gründe genug gehabt, dem Bekenntnisse keinen allzugrossen Werth beizulegen und nicht, um es zu erlangen. von Rom nachzuholen, Avas das ä l t e r e kanonische Recht nicht mit herüber nehmen wollte — die T o r t u r . Viele den Prozess betreffende Stellen der kanonischen Rechtsquellen beziehen sich endlich auf eigenthüniliche kirchliche Verhältnisse .und wurden mit Unrecht generalisirt. Nur e i n s sei hier erwähnt. Es ist schon früher darauf aufmerksam gemacht worden, wie verschiedenartig die Zwecke waren, welche durch den kanonischen Prozess erreicht werden sollten. Es handelte sich da eben (z. B. wenn einem Würdenträger cler Kirche seine Unwürdigkeit vorgeworfen wurde) oft nicht um die Frage: ob schuldig oder nicht schuldig? — sondern um die: v e r d ä c h t i g oder u n v e r d ä c h t i g ; wie daher der Prozess nicht immer in ein Dilemma zusammengefasst werden konnte, so war auch das Endurtheil nicht immer die Antwort auf ein: aut — aut. Diese Neigung, die Form der Endurtheile zu vervielfältigen,

78

§ 9.

Die Carolina.

entwickelte sich dann bekanntlich erst im deutschen Criminalprozess zu Verdachtsstrafen, ausserordentlichen Strafen u. dergl. 111. § 9.

Die C a r o l i n a .

Die Elemente des Rechtszustandes, wie sie in Deutschland in der letzten Periode des Mittelalters sich fanden, sind nun vorgefühlt; die Verwirrung, welche durch ihr ungeordnetes Zusaimnenfliessen angerichtet wurde, darzustellen, wäre eine eben so schwierige als undankbare Aufgabe. An den italienischen Schulen und unter dem Einfluss des geordneten Städtelebens in Italien, der Praxis grösserer Municipien, war namentlich römisches und kanonisches Recht in Uebereinstimmung gebracht worden; oder richtiger, es war durch exegetische Behandlung einzelner Stellen beider Rechtsquellen gelungen, jenem Strafprozess, der sich dort ausgebildet hatte, theoretischen Halt und eine gewisse wissenschaftliche Einheit zu geben 1 . Was aber vor allem die Lehren und Werke jener italienischen Schule charakterisirt, das ist die feste, nirgends sich verleugnende Ueberzeugung von der unbedingten Geltung des römischen und kanonischen Rechts, dem gegenüber germanische Einrichtungen und Regeln höchstens als consuetudo generalis totius mundi sich erhalten könnten. Wie schwer diese Behandlung der Frage es der neuen Prozesslehre und ihren 1 lieber die Beziehungen der Glossatoren und der sog. i t a l i e n i s c h e n Praktiker zum Strafprozess vgl. insbes. B i e n e r , Beiträge S 78 ff. ; Ro s s h i r t , Gesch. I 33 ff.; Wilhelm M ü l l e r , Lehrbuch des Criminalprozesses. Braunschweig 1837. § 23; Η. Α. Ζ ach a r i ä, Grundlinien des gemeinen deutschen Prozesses 8 5: G e i b , Lehrb. I 284 ; Η ä 1 s c h η e r , Gesch. §§ 8 u. 9 ; B i n d i n g , Grundriss StP § 12 Β; D e r s e l b e , Grundriss zur Vorl. über . . Strafrecht § 11; S t i η tz i n g . Geschichte d. deutschen Rechtsw. 147—110; L u e d e r , Grundr. § 19. Zu erwähnen sind hier die Arbeiten von Placentinus (f 1192); Azo (f nach 1229); Tancredus (f 1240); Roffredus (f c. 1243); Joannes Teutonicus (f 1245); Goffredus (f 1245): Sinibaldus Fliscus (Innocenz IV. f 1254); Accursius (fc. 1260); Odofredus (f 1265): Henricus de Segusio (card. host, f 1272); G. D u r a n t is (speculum juris 1271, f 1296): Albertus G a n d i n u s (f c. 1300); Jacobus de Belvisio (f 1335); Joann. Faber (f c. 1355); Bartolus (f 1359); Baldus (f c. 1360); Jo. Pet. de Ferrariis (c. 1414); Angelus de Gambilionibus de Aretio (f nach 1451); H i p p o l y t , de M a r s i l i is (f c. 1525). — Aus späterer Zeit, aber von nicht geringem Einfluss auf die deutsche Praxis besonders Jul. C. C l a r u s (+ 1575) und Prosper F a r i n a c c i us (geb. 1544. f 1613). Wichtig sind auch die Statuten der italienischen Städte. Vgl. M i t t e r ni ai er, Strafverfahren § 16 Anm 2; S c l o p i s , Della autorità giiuliciaria. Torino 1842. ρ 120 ff. (lieber südtirolische Statuten insbesondere Rapp in den Beiträgen zur Geschichte von Tirol und Vorarlberg, lierg. von M'eusi, P f a u n d l e r und R ö p p e l . Insbes. V I I I 43 ff.) Von dem Einfluss auch der älteren dieser Schriften auf Deutschland zeugen die deutschen Bearbeitungen, besonders Ulrich Τ e η g 1 e ι- s Laienspiegel (1509) und Seb. B r a n t s Richterlich Klagspiegel (1516).

§ 9.

Die Carolina.

Trägern, den Doctoren cler Rechte, gemacht haben mag, in Deutschland Eingang zu finden, wäre leicht zu ermessen, auch wenn nicht zahllose Spuren darauf hinwiesen. Das war es eben, was die Verwirrung in Deutschland so über alle Beschreibung gross machte. Die Rechtspflege den Schöffen aus den Händen zu nehmen, wäre nicht schwer gewesen; sie hatten längst, seit ihre Verbindung mit dem Umstand zerrissen war, ihren eigentlichen Halt verloren; in dem Maass als die Strafen strenger wurden, der Zustand des blossen Reates schon drückender sich gestaltete, war das Amt der Schöffen minder ehrenhaft geworden; die Würdigsten zogen sich mehr und mehr zurück; dem Rechte selbst, von dem sie Zeugniss geben sollten, war der Kern, das altdeutsche Beweissystem, ausgebrochen, und an eine gesunde Fortbildung dieses Rechts durch solche Schöffen war nicht zu denken. Auf cler anderen Seite hatte die mehr und mehr erstarkte Gewalt der Landesherren diesen die Möglichkeit geboten, die Strafrechtspflege ernster zu nehmen, als bisher geschehen war; das Bedürfniss. der Gewalttätigkeit und Eigenmaeht, die so lange schrankenlos geblieben, endlich Herr zu werden, einen geordneten Rechtszustand herzustellen, lag allen Landesherren so nahe, dass d i e ö f f e n t l i c h e N a t u r des Strafrechts nun von selbst zur Geltung gelangte. Dass die Doctoren die geeignetsten Personen schienen, die neue Wendung der Dinge zu organisiren, wird man nur natürlich finden, und so war ihnen eine zuletzt doch immer durchgreifende Wirksamkeit gesichert. Hätten sie die aus dem römischen und kanonischen Rechte gewonnene formelle Bildung als solche an die Behandlung des deutschen Rechts gebracht und dieses mit Liebe erfasst, so hätten sie für dessen organische Fortbildung aufs wohlthätigste ungehindert wirken können. So sahen sie aber die Dinge nicht an; die unwissenden Schöffen und das Recht, das diese fanden, waren für sie eins und dasselbe; letzteres nicht zu kennen, ja nicht als existirend gelten zu lassen, das war der Punkt, in welchem sie, vielfach von einander abweichend, doch eigentlich zuletzt alle zusammentrafen, wie man denn nicht verfehlte, auch das Deutschrechtliche, das nun einmal ununistösslich feststand, wenigstens in romanisirende Formen zu bringen. Denkt man sich nun beide Elemente einander entgegenwirkend in all den zahllosen Territorien des deutschen Reiches; denkt man, wie viel Unordnung, W i l l k ü r , Ungerechtigkeit selbst dem klaren Rechte gegenüber unter Jurisdictionsverhältnissen. wie sie damals bestanden, gedieh : denkt man, wie willkommen es solchen Rechtsprechern und Richtern sein musste, dass man für jeden Vorgang in irgend einem der in Conflict befangenen Rechte einen Anhaltspunkt finden,

80

§ 9.

Die Carolina.

jede noch so klare Kegel durch Berufung auf ein anderes Recht beseitigen konnte, so kann man sich wohl vorstellen, bis zu welchem Grad der Vernachlässigung, der Verderbtheit und der Verächtlichkeit damals die meisten Strafgerichte gelangt sein mussten. Nur die hervorragendsten Ursachen dieser Zerrüttung seien hier noch insbesondere erwähnt. Die erste und wesentlichste lag in dem eben dargestellten Verhältniss der Rechtsquellen; neigte sich auch, langsam genug, an vielen Orten der Sieg mehr und mehr den fremden Rechten zu, so ging es doch nicht an, die Gerichte überall mit Richtern, die derselben kundig waren, zu besetzen. Die Bezirke, für welche eigene Blutgerichte, Banngerichte, Landgerichte bestanden, waren zu bunt und fast durchgehende zu klein, als dass die zu ihrer Besetzung erforderliche Anzahl von rechtsgelehrten Richtern aufzutreiben gewesen wäre, abgesehen davon, dass es oft an dem Willen und den Mitteln gefehlt hätte, sie zu erhalten. Selbst in den grösseren Gebieten bestanden ähnliche Uebelstände, weil auch die Landgerichtsbarkeit (meruni Imperium) vielfach ins Patrimonium einzelner Herren übergegangen war. — Aus letzterem Verhältniss erwuchsen überdies unausgesetzte Conflicte zwischen den Inhabern der Landgerichtsbarkeit und den Gutsbesitzern, welche als solche die niedere Gerichtsbarkeit (jurisdictio bassa) hatten. Auf der anderen Seite mussten die nun erst sich bildenden Landesbehörden den Weg suchen, auf welchem ihnen möglich würde, auf die Strafrechtspflege der ersteren nachhaltig einzuwirken. D i e I n q u i s i t i o η s f o r n i hatte sich nach und nach anfangs in den Städten, später auch in den anderen Gerichtsbezirken an die Seite der Accusation gestellt; aber das gegenseitige Verhältniss beider Formen war völlig unbestimmt; in einer Zeit, wo es an (Privat-) Anklägern fast überall fehlte, ohne dass zur Wahrung der öffentlichen Interessen ein öffentlicher Ankläger aufgestellt worden wäre, galt trotzdem die Inquisition (d. h. nunmehr die Eröffnung eines Strafprozesses von Amts wegen) als die Ausnahme, selbst dann noch, als sie t a t sächlich schon häufig genug vorkam, um dem ganzen Gang aller Prozesse ihr Gepräge aufzudrücken. Eben dadurch fiel der Schwerpunkt des Prozesses in die vorbereitenden Akte, welche, dem altdeutschen Verfahren fremd, diesem nicht angepasst werden konnten. Die unbewegliche, abwartende Haltung der „besetzten Bank" musste nothwendig aufgegeben werden. Ja, das ganze alte Verhältniss zwischen Richtern und Urtheilern, auf dem Gegensatz zwischen richterlicher Gewalt und richterlicher Einsicht beruhend, musste gestört werden, wenn man eine Verfahrungsweise annahm, in welcher Einsicht und

9.

Die Carolina.

um ι littelbares Handeln von einander nicht zu trennen waren ; es musste endlich ganz umgekehrt werden, wenn, Avas denn doch leichter ausführbar Avar, ein Jurist im eigentlichen Sinne als Richter den Schöffen gegenübergestellt wurde;, von seiner geordneten klaren Anschauung der Dinge, von seinem überragenden Standpunkt, von seiner Berufung auf den Schöffen fremdes Recht führte keine Brücke zu ihren Traditionen, zu den Aussprüchen, die sie aus sich selbst schöpften, wenn sie die Sachlage mit dem ihnen bekannten Herkommen verglichen. Sie mussten, AVO dieses Verhältniss eintrat, zu blossen Zuschauern, zu Nachbetern der Aussprüche des Richters herabsinken, desjenigen, der ehemals selbst keine Meinung äusserte und ihren Ausspruch als Recht gelten lassen musste; und dennoch blieb äusserlich ihre Stellung die alte. Die heilloseste Venvirrung aber herrschte — das ward schon früher angedeutet — auf dem Gebiete des BeAveisrechts ; hier schien Einigung und Versöhnung der einander gegenüber stehenden Rechtssysteine unausführbar, ob es gleich im deutschen Rechte an den röinisch-kanonisehen venvandten Elementen nicht fehlte 2 ; aber doch wurden aller Orten Versuche dazu gemacht und Aveit genug geführt, um den fremden Rechten den (in d i e s e m Punkte) wohlverdienten Sieg doch noch nachhaltig zu verkümmern. Nur über e i n s konnten sich die eifrigsten Anhänger deutschen Rechtes mit den Romanisten leicht verständigen — über die Einführung d e r F o l t e r . Wie Aveit war auch der Weg von der Reinigung durch glühendes Eisen, durch siedendes Wasser und selbst durch den Ausgang eines Zwreikanipfes zu der durch beharrliches Ueberstelien der Folter? Wo clas eine für zulässig gegolten hatte, konnte clas andere nicht auf unübersteigliche Hindernisse stossen. Vielmehr, einmal zugelassen, konnte sich die Folter hier viel bequemer ausdehnen als in Rom, wo sie den Schlussstein eines Systems von BeAveismitteln bildete, die das Geständniss oft entbehrlich machten und die Führung eines GegenbeAveises erleichterten; in Deutschland, in ein eben überall zusammenbrechendes BeAveissystem hineingetragen, war sie bald das einzige, Avas stehen blieb, der Mittelpunkt des Gebäudes, der bestgelegene Tummelplatz für Aberglaube, Hartherzigkeit, Ungerechtigkeit und falsche Anklage. Und eben, Aveil verhältnissmässig neu, war sie an Regeln kaum irgend gebunden. Dies Avar der Stand cler Dinge in Deutschland. Darf man sich wundern, dass endlich scharfes Eingreifen cler Gesetzgebung nothwendig wurde? Die Gesetzgebung einzelner Territorien ging voran, sichtlich 2 Vgl. namentlich K. M a u r e r in (1er K r ü V 347 ff. und die Ausführungen unten hei der Darstellung der geschichtlichen Entwickelung des Zeugenbeweises.

Binding, Handbuch. IX. 4. I :

G l a s e r , Strafprozess.

I.

6

82

§ 9.

durch

Die Carolina.

die eben bezeichneten Uebelstände

fast n u r bemüht,

diesen entgegenzutreten.

dieser A r t gehören Oesterreich 1499

und

jedenfalls

die

Gmundener

an;

die tirolische Malefizordnung von

Schon einige Jahre vor

Johanns v. Schwarzenberg,

von

15143

stehen

wenn sie diesen auch nicht allein

a r t i k e l n war die Halsgerichtsordnung Werk

Die ersten Erscheinungen

Landgerichtsartikel

auf dem ersten P l a t z ,

einnehmen.

i n Bewegung gesetzt u n d

den

Gmundener

Landgerichts-

für das Bisthuin Bamberg,

später fast unverändert

auch

ein in

B r a n d e n b u r g eingeführt, ans L i c h t getreten (1507). Sie wurde

bekanntlich

die Grundlage jenes W T erkes,

dem N a m e n der H a l s g e r i c h t s o r d n u n g Ansehen g e l a n g t e 4 .

Für

das unter

K a r l s V . zu so grossem

unseren Zweck hat dieses W e r k der Reichs-

gesetzgebung nicht sowohl darum B e d e u t u n g ,

w e i l es etwa

sogleich

3 Die tirolische Malefizordnung ging später im wesentlichen als 8. Buch in die tirolische Landesordnung über und ward die Grundlage der L a i bach er Malefizordnung von 1514 (s. unten § 11). Ausserdem fällt in diese Zeit auch die Ratolplizeller Landgerichtsordnung von 1506, abgedruckt bei K. W a l c h n e r , Geschichte der Stadt Ratolphzell (Freiburg 1825). 4 Hauptwerk: G u t er b o c k , Entstehungsgeschichte der Carolina. Würzburg 1876. Aus der Literatur über die Entstehungsgeschichte der Carolina und über Joh. v. Schwarzenberg (vgl. K a p p l e r Nr 101—114; G e i b , Lehrbuch d. deutschen Strafrechts I 254 ff.) sind hervorzuheben: K r e s s , Ad C. C. C. (ed. 1760) praef. §§ X I I sequ. Ho r i x , Wahre Veranlassung der peinlichen Hals-Gerichtsordnung. Mainz 1757. Christ. T b ο nias i i Dissert, de occasione, conceptione et intentione constitutionis Carolinae. Halae 1711. M a i l ) l a n e , Geschichte der peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Carls V. Nürnberg 1783. W ä c h t e r , Ad historiam Const. Crini. Carol. Symb. pars I. Lipsiae 1835. R o s s h i r t im ΝΑ IX 234 ff. D e r s e l b e , Beilagen B. 27. H ä l s c h n e r , Gesch. §§ 9 u. 10. Z ö p f l , Ζ für deutsches Strafverfahren I 133 ff. D e r s e l b e , Das alte Bamberger Recht. B r u n n e n m eis t e r , Die Quellen der Bambergensis. Leipzig 1879. M i che Isen, Zur Geschichte der Landfrieden in Deutschland. Nürnberg 1863. Emil H e r r m a n n , Joli. Frh. zu Schwarzenberg. Leipzig 1841. O s e n b r i i g g e n in der Allgemeinen österreichischen Gerichtszeitung 1857 Nr 89 — 91. Ros s h i r t im ΝΑ V I I I 610 ff. B i r n b a u m das. X I I 390; 1835 S 122. W ä c h t e r das. 1834 S 82 und 1836 S 115. G e i b das. 1845 S 105 ff. 173 ff. A h e g g das. 1854 S 439 und 1855 S 549. W e i s si, Hanns Frh. ν. Schwarzenberg. Grünberg 1878. S t i n t z i n g , Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft S 607—629. Geyer § 15. B i n d i n g , Grundriss StR § 12. Ueber die verschiedenen Ausgaben der C. C. C. (die beste von Z ö p f l ) K o c h in der Vorrede seiner Ausgabe der Carolina „nach der Originalausgabe v. J. 1533 auf das genaueste abgedruckt und mit der zweiten und dritten Ausgabe v. J. 1533 u. 1534 verglichen" (erste Ausgabe 1769), K a p ρ 1er Nr 58—98. Geib I 268. — G l o s s a r zur Carolina: C. F. W a l c h i i Glossarium germ, interpretation! constitut. crimin. Carol, inserviens. Jenae 1790. — Lateinische Uebersetzungen und Paraphrasen : s. darüber K a p p 1er Nr 115 ff.; S p a n g e n b e r g im NA V I I 429; W ä c h t e r daselbst X I I 82; Geib I 291. Neueste Ausgabe des G o b i er und Remus veranstaltet von A h e g g Heidelberg 1837.

§ 9.

Die Carolina.

sein: energisch eingegriffen und eine sichtliche Umgestaltung der damaligen Zustände bewirkt hätte, sondern weil es, zwischen den Gegensätzen jener Zeit vermittelnd, den Zustand bezeichnet, welcher damals den Einsichtigsten und Besten als herstellenswerth, als das höchste erreichbare erschien, und welchen herbeizuführen noch lange später Legislation und Jurisprudenz thätig waren; dann aber auch, weil die Carolina, als sie alt und theilweise unverständlich geworden war, auf die Männer der deutschen Wissenschaft und Praxis grösseren Einfluss gewann, als den ihr ihre gelehrten Zeitgenossen zugestehen mochten. Die Carolina bildet daher doch immer den Mittelpunkt jeder Geschichte des deutschen Strafprozesses, und eine etwas ausführliche Darstellung ihres Inhaltes rechtfertigt sich daher von selbst. Die grosse Controverse zwischen einheimischem und fremdem Rechte, und damit auch zwischen Juristen und Schöffen, wurde definitiv zu Gunsten des fremden entschieden. Die Carolina selbst geht überall von der Anschauung aus, dass das römische und kanonische Recht, als das kaiserliche, g e m e i n e , auf unbedingte Geltung Anspruch habe und dass Kenntniss dieser Rechte jede andere Belehrung überflüssig mache. Sie ist nur für nöthig gehalten worden, weil „im römischen Reich deutscher Nation, altem Gebrauch und Herkommen nach, die meysten Gericht mit Personen, die unsere Key serliche Recht nit gelert, erfarn oder Uebung haben, besetzt werden". Für diese letzteren nun ist die C. C. C. vorzugsweise bestimmt, während sie die letzte Entscheidung überall in die Hände der Rechtsgelehrten legt. Die Art, wie dies geschieht, ist in hohem Grade interessant. Noch immer nämlich werden die alten Einrichtungen betreffs Besetzung der Gerichte beibehalten, wie ja überhaupt vermöge der berühmten salvatorischen Clausel „Churfürsten, Fürsten und Ständen an ihren alten wohl herbrachten, rechtmässigen und billigen Bräuchen nichts benommen" sein sollte. Ja, es wird vielmehr für Kräftigung dieser alten Institute Sorge getragen, und schon der erste Artikel der Carolina tritt dem Vorurtheil entgegen, als sei es unehrenhaft oder doch der Ehre nachtheilig, als Schöffe das Gericht zu besitzen. Nur sollten nunmehr Richter und Urtheilsprecher auf die neue Halsgerichtsordnung beeidigt werden. Dass aber den so besetzten Gerichten in allen zweifelhaften oder irgend bedenklichen Fällen die eigentliche Entscheidung gar nicht zukommen solle — diese bestimmte Erklärung zieht sich, wie ein rother Faden, durch das ganze Werk und wird im letzten Artikel (219) noch auf das nachdrücklichste und ausführlichste wiederholt. Die Gerichte sollen nämlich, „so in ihren peinlichen Prozessen, Gerichtsübungen und Urtheilen, darin ihnen Zweifel zufiel, 6*

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bei ihren Oberhofen, da sie aus altem verjährten Gebrauch bisher Unterricht begehrt, ihren Rath zu suchen schuldig sein. Welche aber nicht Oberhöfe hätten und auf eines peinlichen Anklägers Begehren die Gerichtsübung vorgenommen wäre, sollen in obgemelten Fall bei ihrer Oberkeit die das selbig peinlich Gericht fürnemlich und ohn alle Mittel (unmittelbar) zu bannen und zu hegen Macht hat, Rath suchen. W7o aber die Obrigkeit ex officio und von Amtswegen wider einen Misshändler mit peinlicher Anklag oder Handlung volnfüre, so sollen die Richter, wo ihnen Zweifeln zufieln, bei den nächsten hohen Schulen, Städten, Coinmnnen oder anderen Rechtsverständigen — Rath zu suchen schuldig sein". Zugleich wird den Parteien das Recht eingeräumt, die Einholung dieses Rathes auf ihre Kosten selbst zu begehren. — Damit ist denn das Institut der A k t e η v e r sen d u n g begründet, und es wird rechtsgelehrten Collégien der entschiedenste Einfluss auf alle Prozessakte eingeräumt, namentlich aber den Oberbehörden der einzelnen Landesherren die unausgesetzte Einwirkung auf die Unterbehörden möglich gemacht; es wird dem fremden Rechte das Uebergèwicht gesichert, ohne dass doch die Schöffen sogleich aus den Gerichten verdrängt werden. Diese A r t , die Sache zu behandeln, hatte zwei unvermeidliche, einander übrigens gegenseitig bedingende Folgen. Es war vor allein nicht mehr daran zudenken, dass in e i n e r Gerichtssitzung, oder doch in wenigen einander bald folgenden Sitzungen* die ganze Angelegenheit erledigt würde ; genügte doch das Auftauchen einer Rechtsfrage, ja ein einigerniaassen zweifelhafter Stand der Thatfrage, um zu bewirken, dass aus der Ferne Rath eingeholt werden musste, was im Lauf eines und desselben Prozesses öfter vorkommen konnte. Der Prozess zerfiel also in eine kaum berechenbare Anzahl von Theilakten, und man kam so bald dahin, dass nur für die wichtigsten ein vollständig besetztes Gericht zu fordern sei. Es ging also in keinem Fall mehr vor dem erkennenden Gericht, selbst wenn dieses nicht blos ein aus der Ferne zugeschicktes Urtheil zu publiciren hatte, der ganze Prozess vor; er musste demselben daher irgendwie reproducirt werden, und die A u f z e i c h n u n g d e r w i c h t i g s t e n , j a a l l e r A k t e , ohnehin die unerlässliche Voraussetzung der Einholung fremden Rathes, war zur Notwendigkeit geworden. Darum erhält denn der Schreiber eine1 Stellung als Theil des Gerichts, wird auf die Halsgerichtsordnung beeidigt und mit ungemein ausführlichen Vorschriften bedacht (Art. 5, 15, 181 ff.), deren lange Reihe mit der Mahnung schliesst: „Welcher Gerichtsschreiber aus dieser vorigen Anzeigung nicht genugsam Verstand vernehmen möchte, wie er daraus einen ganzen Gerichtshandel

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oder Urtheil formen soll, der soll erstlich vorgemeldt- sein Obrigkeit um Erklärung ansuchen, und wo aber vorgemeldte Obrigkeit des auch nicht genügsamen Verstand hätte, so sollen sie bei anderen Verständigen Rath suchen". Die S c h r i f t l i c h k e i t des Verfahrens hat damit eine Ausdehnung erlangt, welche durch die Vorschriften über den Zeugenbeweis und durch die Gestattung der Vorlesung schriftlicher Eingaben (Art. 99 und 100), sowie wiederholte Anweisungen an die Parteien, schriftliche Ausführungen zu überreichen, noch beträchtlich erweitert wird. — Mit der U n m i t t e l b a r k e i t muss auch die Oeffentlichkeit fallen; nur für den später zu erwähnenden „endlichen Rechtstag", wie er vom altdeutschen Verfahren her sich erhalten hat. ist sie geblieben. Doch so wichtig alle diese Punkte sind, sie berühren immerhin das eigentliche1 Wesen des Prozesses bei weitem weniger nahe, als der grosse Gegensatz zwischen I n q u i s i t i o n und A n k l a g e , welchen die Carolina abzugleichen berufen ward. Hier geräth aber der Leser der Carolina, wenn er eben nur an diese sich hält, in die Gefahr eines argen Missverständnisses. Sieht man die einzelnen Artikel der Halsgerichtsordnung an, betrachtet man den unten ausführlich geschilderten Gang des Verfahrens, so hat man gewiss den Eindruck, dass die Inquisition nur eine sehr untergeordnete Stellung einnimmt. Immer wird der Ankläger erwähnt, nur der accusatorische Prozess wird ausführlich beschrieben und für die Inquisition nur die Regel gegeben, dass sie sich dem letzteren nachzubilden habe. „So jemand (heisst es) inner Uebelthat durch gemeinen Leuniuth berüchtiget, o d e r a n il e r e g 1 a u b w ü r d i g e A η ζ e i g u il g v e r d a c h t und argwöhnig, und derhalb durch die Obrigkeit von Amts halber angenommen würde, dei* soll doch mit peinlicher Frage nicht angegriffen werden, es sey denn zuvor redlich, und derhalben genügsame Anzeigung und Vermuthung, von wegen derselben Missethat auf ihn glaubwürdig gemacht (Art. 6). So die Missethat einer Todstraf halber k ü n d l i c h , oder aber deshalb redliche Anzeigung, wie darvon vor berührt ist, erfunden wird, so soll es der peinlichen Frag u n d a l l e r E r k u n d i g u n g h a l b e r , so z u r E r f i n d u n g d e r W a h r h e i t d i e n l i c h i s t , auch mit Rechtfertigung auf des Thäters Bekennen gehalten werden, w i e k l ä r l i e h h e r n a c h v o n den j e n e n , die auf A n k l ä g e r e i n b r a c h t w e r d e n , g e s c h r i e b e n u n d g e o r d n e t i s t " (Art. 7). Allein sowie es eben irrig wäre, auf oftmaliges Vorkommen von Anklägern und somit darauf zu rechnen, dass die Prozesse mit Intervention der letzteren die häufigeren waren, so weist die eben angeführte Stelle und mehr noch die Natur der Sache entschieden darauf

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hin, dass der Prozess in allen Fällen schon vom Gericht aus eigener Anregung in solcher Weise geführt wurde, dass man die Mitwirkung des Anklägers von demselben leicht hinwegdenken konnte, dass also die Bewegung doch eigentlich nicht mehr von den Parteien, sondern von (lenì Gericht ausging und die alte abwartende Stellung des letzteren, das eigentliche Gebot des Accusationsprincips, längst aufgegeben war. Damit hängt denn auch zusammen, dass das Bekenntniss, wie noch später zu erwähnen sein wird, nicht mehr die alte entscheidende Bedeutung hatte, und dass das Gericht nun angewiesen ist, sich von dessen Aufrichtigkeit zu überzeugen (Art. 48 ff.). So sehen wir denn schon zu selbständiger Bedeutung entwickelt, Avas anfangs nur Auskunftsmittel war; der Gegensatz zwischen formeller und materieller Wahrheit macht sich fühlbar, und indem dem Gericht die Obliegenheit zukommt, letztere zu finden, ist es angewiesen, über das Begehren der Parteien, auch da, wo solche beiderseits erscheinen, hinauszugehen, diesen gleichmässig zu misstrauen und die Erkenntniss der Wahrheit vorzugsweise von den eigenen Erhebungen zu erwarten. Denke man sich nun noch den Ankläger ganz hinweg, so hat man keine Schwierigkeit, zu begreifen, was nachfolgen musste: der Beschuldigte hörte auf, Partei, cl. h. eine der bewegenden Kräfte der Untersuchung, zu sein, und wurde der eigentliche G e g e n s t a n d der letzteren. Doch dürfen wir hierin der Zukunft nicht vorgreifen, welche übrigens, ganz abgesehen von der Tortur, merklich genug im Art. 11 ihren Schatten vorauswirft, wo es heisst: „Und wann auch der Gefangenen mehr dann Einer ist, soll man sie, soviel gefänglicher Behältnisse sein mögen, von einander theilen, damit sie sich unwahrhaftiger Sage mit einander nicht vereinigen oder wie sie ihre That beschönen wollen, unterreden mögen". Verfolgen wir nun den Gang des Verfahrens selbst , wie ihn die Carolina — formell überall die Mitwirkung eines Anklägers voraussetzend — beschreibt. Der Ankläger hat das Recht, die Verhaftung des Beschuldigten zu begehren, wenn er die „Uebelthat und derselben redlichen Argwohn und Verdacht — ansagt". Dieses Anbringen des Anklägers muss jedoch niedergeschrieben werden; auch muss derselbe entweder sich ebenfalls ins Gefängniss setzen, oder je nach Beschaffenheit des Falles Bürgschaft leisten. Uebrigens verdient wohl hervorgehoben zu werden, was von der Untersuchungshaft gesagt wird : „und ist dabei sonderlich zu merken, dass die Gefängnisse zu Behaltung und nicht zu schwerer gefährlicher Peinigung der Gefangenen sollen gemacht und zugericht sein" (Art. 11). Das ganze nun folgende Verfahren hat seinen eigentlichen Mittel-

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punkt in der Tortur. Es ist nicht zu verkennen, dass die Carolina sich bemühte, der hierin schon damals niaasslos weit gehenden Praxis Schranken zu setzen. Sie hat dabei zunächst mit den Auswüchsen des im späteren Mittelalter ausgebildeten, häufig sehr tumultuarischen Verfahrens auf Verdacht und üblen Leumund zu kämpfen, Avas schon aus dem bereits erwähnten A l t . 6 hervorgeht, wo verboten wird, das auf gemeinen Leumuth, Berichtigung u. s. w. von Amts wegen eingeleitete Verfahren ohne weiteres mit der peinlichen Frage zu eröffnen; es lässt sich aber auch die Spur des alten Verfahrens auf liandhafte That in Art. 16 nicht verkennen, nach welchem, wenn die Missethat ö f f e n t l i c h und unzweifelhaft „ist oder gemacht würde, als so Einer ohne rechtmässig und gedrungene Ursachen ein öffentlicher muthwilliger Feind oder Friedbrecher wäre, oder wenn man Einen an wahrer Uebelthat betritt , auch so Einer den gethanenen Raul) oder Diebstahl wissentlich bei sich hätte in solcher und dergleichen öffentlichen, unzweiflichen Uebelthat und so der Thäter die offen unzweifliche Uebelthat freventlich widersprechen wollte, ihn der Richter mit peinlicher ernstlicher Frage zu Bekenntniss cler Wahrheit halten soll". Für alle anderen Fälle wird jedoch darauf gedrungen, dass „wo nicht zuvor redliche Anzeigung cler Missethat , darnach man fragen wollte, vorhanden und beweist würde, niemand gefragt werden soll; u n d ob a u c h g l e i c h w o h l aus d e r M a r t e r d i e M i s s e t h a t b e k a n n t w ü r d e , so s o l l d o c h d e r n i c h t g e g l a u b t , n o c h j e m a n d d a r a u f v e r u r t h e i l t w e r d e n " (Alt. 20). Die A n z e i g e n , auf deren Darstellung grosse Sorgfalt verwendet wird, müssen je „mit zweien guten Zeugen bewiesen werden", ausgenommen, es liege die Aussage eines Zeugen über das Verbrechen selbst vor, Avas einer bewiesenen Anzeigung gleich kommt (Art. 23). „Wo solcher argwöhniger Theil e t l i c h e bei einander auf jemand erfunden werden" (nur einige ganz besonders hervorgehobene werden für so concludent erklärt, class jeder für sich allein genügt), so sollen „die jenen, denen peinlicher Frag halben' zu erkennen gebührt", ermessen, „ob dieselben zur peinlichen Frag genügen, wobei aber auch noch zu erwägen ist, was die verdachte Person guter Vermuthung, die sie von cler Missethat entschuldigen mögen, für sich hat" (Art. 27 und 28). — Wird die peinliche Frage für zulässig angesehen, worüber der Rath der Rechtsverständigen einzuholen ist, so „soll dem Anklager auf sein Begehren ein Tag zur peinlichen Frage benannt werden" (Art. 44). In diesem Fall, sowie wenn dies von Amts wegen geschieht, soll der Gefangene in Gegenwart des Richters, zweier Gerichtsmitglieder und

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des Gerichtsschreibers „fleissig zur Rede gehalten werden, mit Worten, die nach cler Gelegenheit der Personen und Sachen zur weitern Erfahrung der Uebelthat oder Argwöhnigkeit allerbest dienen mögen, auch mit Bedrohung der Marter" nochmals befragt werden. Bleibt dies erfolglos, so soll er z u m G e g e n b e w e i s a u f g e f o r d e r t und zur Führung desselben angeleitet werden: und gewiss verdient die Sorgfalt, mit der die ob ihrer Härte vielgeschmähte Carolina dazu anweist, rühmend hervorgehoben zu werden. „Und solcher Erinnerung'', heisst es, ,,ist darum noth, dass mancher aus Einfalt oder Schrecken nicht fürzuschlagen weiss, ob er gleich unschuldig ist, wie er sich des entschuldigen und ausführen soll". Erst wenn alles, was in dieser Art vorgebracht wurde, erhoben ist, ohne den Verdacht zu beseitigen, kann die peinliche Befragung wirklich vorgenommen werden. Das Bekenntniss, das der Angeklagte auf der Folter ablegt, darf nicht allgemein hingenommen, sondern muss durch gründliches Erfragen des Motivs und der einzelnen Umstände erprobt- werden. Es soll, so schliesst die ausführliche Belehrung hierüber, um solche Wahrzeichen und Umstände gefragt werden, d i e k e i n U n s c h u l d i g e r w i s s e n o d e r s a g e n k a n n (Art, 53). Die Wahrheit dieser Umstände muss sodann untersucht werden, und treffen sie nicht zu, so wird dies dem Gefangenen vorgehalten, und freilich auch die Tortur erneuert. Was der Gefangene während der Marter bekennt, wird nicht aufgeschrieben: aber auch das, was er unmittelbar nachher bekennt. muss einen oder einige Tage später wiederholt und bestätigt werden (Art. 56 und 58). Das sind denn die wichtigsten Bestimmungen der Carolina über die Tortur: abschreckend und schaudererregend wie das Wort schon für uns ist, dürfen wir uns doch nicht abhalten lassen, das verdienstliche dieser Bestimmungen zu erkennen. Es ist gewiss unendlich viel dadurch gewonnen, dass nunmehr die Tortur definitiv, wenigstens im Gesetz, von der Verbindung mit den Ordalien abgelöst ist: sie ist auch im Sinne des Gesetzes nicht mehr Beweismittel, sondern ein sehr verdächtiges und bedenkliches, mit äusserster \ T orsicht anzuwendendes Experiment zur Herbeischaffung eines Beweismittels. Mit der grinsten Energie wird deshalb darauf hingewiesen, dass das durch die Marter erpresste Geständniss an sich nichts beweist, sofern es nicht neue innere Bestärkungen des b e r e i t s v o r h a n d e n e n Verdachts mit sich bringt. Dass das Bestreben gut war, und dass der Verfasser auf das klarste die Natur des Beweises im römisch-kanonischen Sinne erkannte und zur Geltung bringen wollte, ist gewiss. Allein wohin konnte doch all das führen?

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Es giebt Mittel so verderblicher Art. dass niemand sie anwenden kann, ohne trotz aller Vorsicht ihrem corruptiven Einfluss anheimzufallen: die Grenzen, welche das Gesetz für die Anwendbarkeit der Folter zu ziehen versuchte, wurden nur zu leicht überschritten, alle dem Missbrauch entgegengestellten Vorsichtsmaassregeln nur zu rasch vereitelt. Der Verdacht, an dessen Vorhandensein die Rechtsgiltigkeit der Tortur geknüpft werden sollte, ist nicht messbar; die Wiederholung des Geständnisses nach beendigter Mailer ist eine Täuschung, wenn sie mit der Aussicht auf Erneuerung der Qualen erfolgt; selbst jene ernste Mahnung, auf die Umstände der That zu dringen, auf Thatsachen, die kein Unschuldiger wissen kann, geht verloren, wenn die Angst vor der Wiederkehr des entsetzlichsten die Menschen dahin brachte, mehr Schlauheit zum Nachweis einer erlogenen Schuld zu verwenden, als sonst der Schuldige zur Verhüllung seines Verbrechens aufzubieten weiss. Die Carolina war unzweifelhaft, was die Folter betrifft, ihrer Zeit voraus; das zeigt sich am besten darin, dass sie selbst kommenden Geschlechtern nicht laut genug sprach. Wie weit ging die spätere Praxis über das hinaus, was sie gestattete! Wie viele Jahre mussten noch vergehen, bis die einfache Bemerkung gemacht wurde, dass die Tortur ärger sei, als jede Strafe, und dass man ihr niemand unterwerfen dürfe als den, von dessen Schuld man überzeugt ist, und den zu strafen man bereits ohnehin ein volles Recht habe; dass sie dem Ueberwiesenen gegenüber nutzlose Mailer, auf den Nichtüberwiesenen angewendet, unverantwortliche Bedrückung sei ! Und doch wird es nicht schwer zu erkennen, was der Tortur damals ihr Terrain vorzugsweise sichern musste; es ist das Beweissystem, welches die Carolina vermöge ihrer vermittelnden Stellung annehmen musste; der hier oft erwähnte, namentlich von K ö s t l i n 5 sehr schön entwickelte Unterschied zwischen römischem und germanischem Beweisrechte läuft darauf hinaus, dass nach ersterein Thatsachen gefunden werden müssen, welche mit dem Beweissatz in logischem Zusammenhang stehen, während die Beweismittel des germanischen Rechts dem Beweissatz ganz fremd sind und auf jede beliebige Thatsache gleichmässig passen, sofern sich ein Mann findet, der zu ihnen zur Unterstützung seiner Behauptungen greift. Solche »Beweismittel mussten freilich verschwinden, sobald jenes richtigere System hinlänglich bekannt wurde. Allein es war doch mit ihrer Zulassung ein grosser Vortheil verbunden gewesen ; zwischen Beschuldigung Wendepunkt des. deutschen Strafverfahrens S 208 ff.

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und Ueberführung lag nämlich, so lange sie für entscheidend galten, immer eine sehr scharf gezogene Linie ; die \ T erurtheilung und Freisprechung eines Menschen hing da doch immer von Voraussetzungen ab, deren Eintreffen leicht zu constatimi Avar; in nichts schien man also weniger richterlicher Willkür und boshafter Verdächtigung ausgesetzt zu sein. Ist es zu verwundern, dass man diese Vortheile nicht aufgeben zu müssen vermeinte, als man jene äusserlichen Beweismittel mit anderen der Natur der Rache besser entsprechenden vertauschte? Dass aller Schuldbeweis nur einen bis zu einem gewissen Punkte gesteigerten Verdacht constatiren könne, konnte man da nicht wohl gelten lassen; Verdacht und Beweis werden als Dinge verschiedener A r t behandelt; und so entstanden die Beweisregeln der Carolina, die Grundlagen einer durch Jahrhunderte lange Praxis weiter entwickelten Beweistheorie — deren Grundzüge hier anzudeuten sind. D i e C a r o l i n a s c h l i e s s t den B e w e i s d u r c h I n d i c i e n aus. „Item es ist auch zu merken, dass niemand auf einigerlei Anzeigung, Argwohn, Wahrzeichen oder Verdacht endlich zu peinlicher Straf soll verurtheilt werden, sondern allein peinlich mag man darauf fragen ; dann soll jemand endlich zu peinlicher Straf verurtheilt werden, das m u s s aus e i g e n B e k e n n e n o d e r B e w e i s u n g — b e s c h e h e n und nicht auf Vennuthung oder Anzeigung 4' (Art. 22). ,,Item wo der Beklagte nichts bekennen und der Ankläger die geklagte Misshandlung beweisen wollte, damit soll er als recht ist, zugelassen werden" (Art. 62). „Item so eine Missethat z u m λ ν e i l i g s t e n m i t z w e i e n o d e r d r e i e n g l a u b h a f t e n g u t e n Z e u g e n " (welche dies sind, wird in Art. 63—66, dann 68 näher ausgeführt), „die von einem wahren Wissen sagen, bewiesen wird, darauf soll nach Gestalt der Verhandlung mit peinlichen Rechten vollfahren und geurtheilt werden" (Art, 67). „Item so der Beklagte, n a c h g e n u g s a n i e r B e w e i s u n g noch nicht bekennen wollt, soll ihm angezeigt werden, dass er der Missethat bewiesen sei, ob man dadurch sein Bekenntniss desto eher erlangen könnte; ob er aber dennoch darüber nochmals nicht bekennen wollte, dess er doch, als obsteht, genugsam bewiesen war, so sollte er nichts desto weniger der beweisten Missethat nach ohn1 einige peinliche Frage verurtheilt werden" (Art. 69). Was den Zeugenbeweis selbst betrifft, so setzen die darüber gegebenen Bestimmungen überall die Mitwirkung des Beweisführers voraus, welcher seine Fragartikel schriftlich zu überreichen hat; die Zeugenvernehmung erfolgt protokollarisch ; ihr Resultat wird den Parteien später eröffnet, in Abschrift mitgetheilt und schriftlich von beiden

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Theilen ganz nach Art des Civilprozesses erörtert. Auch der Aussage eines M i t s c h u l d i g e n geschieht schon Erwähnung, doch begründet sie nur „ein Argw Tohnigkeit" und auch dies nur unter strengen Bedingungen (Art. 31). Endlich wird, wozu das Erforderniss zweier Zeugen fast unvermeidlich führt, auch schon von h a l b e m B e w e i s gesprochen (Art. 30). Ist das Beweisverfahren (so muss man es ja wohl nennen) geschlossen, so steht dem Kläger und Geklagten zu, einen endlichen Rechtstag zu begehren. D i e s e m e n d l i c h e n p e i n l i c h e n R e c h t s t a g g e h t j e d o c h d i e B e r a t h u n g des G e r i c h t s v o r a u s , bei welcher die gesammten Akten vorgelesen werden, und auf Grund derselben wird vom Gericht selbst (oder denjenigen, an welche die Akten versendet werden) das Urtheil schriftlich abgegeben. Daraus ergiebt sich dann von selbst, dass der nachfolgende endliche Rechtstag aus der alten Zeit eben nur stehen geblieben ist, aber nichts mehr bedeutet. Es ist das ganze früher beschriebene altdeutsche Verfahren; nur dass die Carolina selbst die einzige Antwort vorschreibt, welche die Schöifen hier auf die Frage des Richters zu geben haben: „Herr Richter, ich Sprech' es geschieht billig auf alles gerichtlich Einbringen und Handlung, was in Schriften zu Urtheil verfasst ist" (Art. 93). Dies ist der der Hinrichtung unmittelbar vorausgehende, mit dem Brechen des Stabes endigende A k t , welcher sich unter dem Namen der Hegung hochnothpeinlichen Halsgerichtes an manchen Orten bis in unser Jahrhundert erhalten hat. Wird der Angeklagte nicht bestraft, so lautet das Urtheil: „ist derselbige gemeldete Beklagte mit endlichem Urtheil und Recht von aller peinlichen Straf ledig erkannt" (Art. 201). Was die Rechtsmittel gegen das Endurtheil betrifft , so schweigt die C. C. C. darüber völlig, und zwar (da der Punkt im ersten Entwurf berührt war) offenbar deshalb, wTeil man sich darüber nicht einigen konnte. Da indess clas Endurtheil denn doch formell erst am endlichen Rechtstag gesprochen wTurcle, so liegt in dem beiden Theilen, dann den Freunden und Beiständen cles Angeklagten eingeräumten Rechte, die Aktenversendung zu erwirken, cler Keim für die Entwicklung des späteren Instanzenzuges. §10.

Der gemeine

deutsche

Inquisitionsprozess1.

Die Entwickelungsgeschichte des gemeinen deutschen Strafprozesses von der Carolina bis in das zweite Viertel dieses Jahrhunderts lässt 1

Vgl. hauptsächlich: B i e n er, Beiträge zur Geschichte des Inquisitionsprozesses S 164. 192. I l e n k e , Geschichte des deutschen peinlichen Rechtes II.

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er gemeine deutsche Inquisitionsprozess.

sich zwar leicht in Abschnitte bringen, welche am füglichsten an die Namen C a r p z o w s 2 und Β r u n nein a n n s 3 und an die Codifican o s s h i r t , Gesehiehte und System des deutschen Strafrechts I I I 268 ft'. D e r selbe im ΝΑ V I I I 610 ff. (Ueber den Geist des in der Carolina aufgestellten Criminalprozesses.) A h e g g , Versuch einer Geschichte des Strafrechts und der Strafgesetzgebung der Branclenburg-preussischen Länder. Berlin 1834. M i t t e r m a i er, Deutsches Strafverfahren 4. Aufl. I 108—122. H i l l s e b n e r , Geschichte §§ 11—21. L e v i t a , Von der Carolina bis zur Gegenwart. GS 1860 S 437 ff. O r t i off, Der fiscalische Strafprozess. Leipzig 1859. S t o l z e l , Entwickelung des gelehrten Richterthums in deutschen Territorien. Stuttgart 1872. Seeger, Die strafrechtlichen Consilia Tubingensia bis 1600. Tübingen 1877. S t i n t z i n g , Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft I 630 ff. Η. Α. Ζ ach a r i ä, Grundlin. S 7 u. 8. Handbuch I § 26 S 142ff. G e y e r , Lehrbuch §§ 16—18. L u e d e r , Grundriss § 20. B i n d i n g , Grundriss StR § 13. Uebersicht der Rechtsquellen bieten: A h e g g , Grundriss zu Vorlesungen über den gemeinen und preussischen Criminalprozess (nebst einer Chrestomathie von Beweisstellen). Königsberg 1825. K i t t i e r , Corpus juris criminalis, quod per Germaniam valet, communis academicum, secundum systema Anselmi de Feuerbach. Lipsiae 1834. ρ 421 sq. Κ l e n z e , Lehrbuch des Strafverfahrens; ein Grundriss aus den Quellen . . . . Berlin 1836. Η. A. Z a c h a r i ä , Grundlinien des gemeinen deutschen Criminalprozesses. Göttingen 1837. — U e b e r s i c h t der L i t e r a t u r des gemeinen deutschen Criminalprozesses: I. In den ersten hundert Jahren nach dem Entstehen der C. C. C. und theilweise noch länger ist die Praxis von den Schriften der italienischen Praktiker (s. oben § 9 Anm 4) unci von Jodoc. D a m h o u d e r i Praxis rerum criminalium (zuerst Antwerpen 1554 erschienen, Druckerprivileg vom 15. Januar 1551, s. S t i n t z i n g I 604—606). später auch von M a t h a e us, De criminibus, ad 1 47 et 48 Digest, commentarius (zuerst Trajecti 1644), beherrscht. II. Sodann bemächtigt sich die einheimische Literatur der Carolina, und zwar zunächst überwiegend in der Gestalt von ( 'onmientaren; solche lieferten: Christoph B l u n i b a c l i e r , Salzburg 1620: Anton B u l l a u s . Marburg 1631; Caspar M a n z , Ingolstadt 1650; Mathias Step li a n i , Hannover und Frankfurt 1678; Daniel C l a s e n , Frankfurt und Leipzig 1685 (\rorrede Helmstadt 1684); L u d o v i c i , Halle 1707; ein anonymer Commentar in 16°, Altdorf 1710; Georg B e y e r , Leipzig 1714; G ä r t n e r 1729; Ivress, Hannover 1721 ; Job. Samuel Friedrich v. B ö h m e r , Halle 1770; letztere beide alle früher erschienenen weit überragend. III. Systematische Bearbeitungen oder Zusammenstellungen monographischer Erörterungen: Ausser C a r p z o w und Β n i n n e mann (s. unten Anm 2 u. 3) des ersteren heftiger Gegner Justus O l d e k o p , Observationes practicae criminales (Vorrede datirt Halberstadt 1654) und Contra Bened. Carpzovium tractatus duo (Bremen 1659). Joh. Henr. B e r g e r i Electa jurispr. criminalis variis consultationibus illustrata. Leipzig 1706. Christoph F r ö l i c h von Frölichsburg, Commentarius in Kaiser Karl des Fünften und des H. R. Reichs peinliche Halsgerichtsordnung. Ulm 1709. (Trotz des Titels kein der Legalordnung sich anschliessender Commentar.) H e i l , Iudex et defensor. Lipsiae 1717. Herrn. K e m m e r i c h , Synopsis juris criminalis. Jenae 1731. (Eine in Wien 1759 erschienene Ausgabe berücksichtigt die LGOrdnung Ferdinands III. und die Halsgerichtsordnung Josephs I.) Joli. Sam. Friedr. von B ö h m e r , Elementa jurisprudentiae criminalis, Ilalae 1732, und Observationes selectae ad Ben. Carpzovii Practicam novani . . . Frankof. acl Moen. 1759, Vorrede und Dedication 1757). Joh. Rud. E n g a u , Elementa juris criminalis.

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tionen zu Ende des vorigen und zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts 4 geknüpft werden können. Wie gross indess der Unterschied .lenae 1738. Joli. Geo. Fried. M e i s t e r , Principia juris criminalis. Gött. 1755. Joh. Petr. Β a n n i za, Systema jurisprud. criminalis (behandelt nur den Strafprozess). Viennae 1755. Joh. Chr. K o c l i , Institutiones juris criminalis. Jenae 1758. Christian Fr. Geo. M e i s t e r s Ausführliche Abhandlung des peinlichen Prozesses in Deutschland. 1. Band, welcher die Vorbereitung zum peinlichen Prozesse enthält; Vorrede Göttingen 1758; 2. Aufl. Göttingen 1766—1776, mit einer Fortsetzung von E s c h e n b a c h , Schwerin und Wismar 1796. Joli. ( 'hr. A. v. Q u i s t ο r ρ , Grundsätze des teutschen peinlichen Rechts. 2 Bde. 1770. Jos. Leonh. Β a n n i za, Delineatio juris criminalis secundum constitutionem Carolinam et Theresianam. 2 vol. Ocniponti 1773. J. L. E. P ü t t m a n n i El ementa juris criminalis. Lipsiae 1779. Er. Chr. We s tp li a l , Das Criminalrecht. Leipzig 1785. Geo. Jac. Frid. M ei s t e r i Principia juris criminalis Germaniae communis. Gotting. 1789. E. Ferd. K l e i n , Grundsätze des gemeinen deutschen und preussischen peinlichen Rechts. Halle 1796. Karl von Gr ο Iman, Grundsätze des Criminalrechts ; Vorrede der 1. Aufl. Glessen 1797. Anselm von F eu erb ach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland giltigen peinlichen Rechts. 1. Aufl. 1801. ("ari August T i t t m a n n , Handbuch der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetzkunde. 1. Aufl. 4 Bände Halle 1806—1810. S a l c h o w , Lehrbuch des gemeinen positiven peinlichen Rechts mit besonderen Rücksichten auf das preussische Recht. Leipzig 1807 (8. Aufl. 1823). I ) a b e l o w , Lehrbuch des deutschen peinlichen Rechts. Halle 1807 (von späteren Ausgaben die 3. 1823 mit Berücksichtigung des preussischen Rechts). S t i i b e l . Das Criminalverfahren in den deutschen Gerichten. 5 Bände Leipzig 1811. H e n k e , Darstellung des gerichtlichen Verfahrens in Strafsachen. Zürich 1817. M a r t i n , Lehrbuch des deutschen gemeinen Criminalprozesses. 1. Aufl. 1820, 0. Aufl., von Temme, Leipzig und Heidelberg 1857. M i t t e r m a i e r , Das deutsche Strafverfahren in der Fortbildung durch Gerichtsgebrauch und Landesgesetzbücher und in genauer Vergleichung mit dem englischen und französischen Strafverfahren. 1. Aufl. 2 Bände Heidelberg 1827. 4. völlig umgearb. Aufl. Heidelberg 1846. A h e g g , Lehrbuch des gemeinen Criminalprozesses mit besonderer Berücksichtigung des preussischen Rechts. Königsberg 1833. H e ff t e r , Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts. 1. Aufl. 1833, 6. Aufl. Braunschweig 1857. Ant. B a u e r , Lehrbuch des Strafprozesses. Göttingen 1835. D e r s e l b e , Anleitung zur Criminalpraxis. Göttingen 1837. W. M ü l l e r , Lehrbuch des deutschen gemeinen Criminalprozesses. Braunschweig 1837. H e n k e , Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik. 4 Bände Berlin unci Stettin 1823 ff. (Strafprozess in Β IV 1838). Carl Aug. W e i s k e , Handbuch des Criminalprozesses, mit vorzüglicher Rücksicht auf sächsisches Recht. Leipzig 1840 (italienische Uebersetzung mit Einleitung von Carrara, Florenz 1874). 2 Ben. C a r p z o v i i Practica nova Imper, et Saxon, rerum crini. (1635). 3 Joh. B r u n n em an η , Tractatus de inquisitionis processu. Frankf. 1647. Johann B r u n n e mann, Anleitung zur vorsichtigen Anstellung des Inquisitionsprozesses. Zur nöthigen Information herausgegeben von Stryckius. Halle 1697. 4 Die älteren Particulargesetze schliessen sich, wie an den österreichischen weiter unten nachzuweisen sein wird, ganz eng an das jeweilig geltende gemeine Recht an (vgl. Z a c h a r i ä , Handbuch I § 4 S 5—7). Ein weiteres Bei-

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zwischen der Gestalt sein mag, welche der Prozess der Carolina zeigte, und derjenigen, welche ζ. B. im österreichischen Strafgesetz von 1803, im bairischen von 1813 das Strafverfahren annimmt; es tritt nur hier entwickelt, geläutert, selbstbewusst und herrschend auf, was dort noch unklar, kaum erkennbar und eben nur geduldet sich zu regen begann. Es ist das jene Auffassung des Strafprozesses, welche — davon ausgehend, dass von der Strafgewalt erst dann der rechte Gebrauch gemacht wird, wenn sie, in den Händen cles Staates ruhend, nur öffentlichen Zwecken zu dienen hat — auch den Gang cles Prozesses von aller Parteienthätigkeit unabhängig wissen will: clas I n q u i s i t i o n s princip. Den eigentlich entscheidenden Wendepunkt in cler Geschichte des gemeinen deutschen Inquisitionsprozesses bildet unverkennbar die Abschaffung der p e i n l i c h e n F r a g e ; Stellung und Besetzung des Gerichtes, Gliederung des Prozesses, Beweisrecht und Endurtheil, also alle Hauptpunkte cles Prozesses bekamen durch sie eine neue Gestalt. Die Zustände, deren Consoliclirung die Carolina begonnen und Carpzows Werk fast ganz vollendet hatte, sind nicht geeignet, die Wichtigkeit des zunächst für den Fall berufenen Gerichtes stark hervortreten zu lassen. Sie sind ja eben auf eine Transaction zwischen cler Unwissenheit und Unfähigkeit cles localen Gerichtes, wie es nun einmal (so schien es) nicht anders hergestellt werden konnte, und den Anforderungen cles Rechtes, der öffentlichen und Privatsicherheit und cler Wissenschaft gebaut. Indem die Entscheidung aller erheb-, liehen Fragen in die Häncle meist ziemlich entfernter Juristencollegien gelegt ward, wurde diesen freilich ein gewisser controlirender Einfluss auf den Gang der einzelnen Untersuchungsakte und auf das Benehmen spiel bietet die neben der Bambergensis und der ihr entsprechenden Brandenburger Halsgerichtsordnung im Anhang zu Böhmers Meditationes in Constitutionen! Carolinam abgedruckte h e s s i s c h e Halsgerichtsordnung von 1535, die sich im prozessualen Theil fast ganz an die Carolina hält. Zu erwähnen sind die h en neb e r g i s che Landesordnung von 1539; die bairische Malefizordnung von 1562; die braunschweiglüneburgische Constitution von 1564; das b a d i s c h e Landrecht von 1588; die l i p ρ e sch e peinliche Prozessordnung von 1600; das preussische Landrecht von 1620; die preussische CO von 1620; die h a n n o v e r s c h e Crini.-Instr. von 1736; die gothaische von 1776. Mit grösserer Selbständigkeit treten erst die Codificationen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf: der Codex Maximil. jur. bavarici crini. (1751), die C. C. Theresiana (1769), die Josephinische Criminalgericlitsordnung (1788), das Gesetzbuch Franz' II. über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen (1803), die preussische Criminalgericlitsordnung (1805), das bad is che Strafediet (1803, revidirt 1812), die S. Weimar-Eisenachische Criminalgericlitsordnung von 1812. (Feuerbachs) Strafgesetzbuch für das Königreich B a i e r n (1813).

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des inquirirenden Gerichtes verschafft ; allein wie wenig konnte dieser Einfluss bedeuten, der nur in den eigenen Angaben des inquirirenden Gerichtes, in dessen Akten Anhaltspunkte finden konnte; wie wenig hatte er selbst da zu bedeuten, AVO alle Untersuchungen desselben Gerichtes immer wieder vor dasselbe Sprucheollegium kamen; wie so ganz einschrumpfen musste er aber erst da, wo je nach der Wahl des Gerichtes und der Parteien die Akten bald an dieses, bald an jenes Collegium versendet wurden. Die Formation des eigentlichen Untersuchungsgerichtes also verfiel so ganz localen Einflüssen, dass ein Gesammtbild hievon sich nicht wird herstellen lassen; doch drängt schon jetzt die unvermeidliche Protokollirung der Untersuchungsakte und das Bediirfniss, wenigstens annähernd den Anforderungen des Spruchcollegiums zu entsprechen, dahin, dass die eigentliche Leitung in die Hände eines Mannes von juristischer Bildung gelegt wird, neben dem die Schöffen mehr und mehr zu blossen Urkundspersonen herabsinken. Zugleich wurde aber die Stellung des Beschuldigten, gedrückt wie sie ohnehin schon war, noch unendlich viel peinlicher. Einst, wo noch der Angeklagte als Partei seinem Ankläger entgegentrat, die Beschuldigung wie die Vertheidigung vor allen vorgebracht wurde, in wenigen Stunden vor den Augen aller Nachbarn alles entschieden war, führte das Beat eigentlich keine anderen Uebelstände mit sich, als die mit der Notwendigkeit, sich zu vertheidigen, immer verknüpft sein werden. Noch die Carolina, indem sie schon die Verhängung der Haft gleich im Beginne des Prozesses gestattet, stellt doch Angeklagten und Ankläger wenigstens hierin fast gleich. Nun war aber der Gang der Untersuchung nicht blos viel schleppender geworden als ehemals, sondern was ihn langsamer machte, die Aktenversendung und die ihretwegen nöthige Protokollirung, schloss auch das Publicum von der Kenntniss der Untersuchungsakte naturgemäss aus, ja deren letzte Resultate wurden ihm in vielen Fällen überhaupt nur bekannt, wenn sie die Hegung eines hochnothpeinliehen Halsgerichtes nöthig machten. In welchem Zustand zu jenen Zeiten die Untersuchungsgefängnisse waren, kann man wohl daraus allein bemessen, dass die Ciiminaljustiz an den meisten Orten noch vorzugsweise vom fiscalisehen Gesichtspunkte aus betrachtet wurde; man kann also denken, wie wenig erfreulich die Lage des in Haft genommenen, ganz in die Hände des Untersuchungsgerichtes gegebenen war. Wie es nun immer die Art des grossen Haufens ist, überall, wo er nur vermuthet, gleich das ärgste zu vermuthen und von dem übles zu denken, den er übel behandelt sieht, wurde die Stellung des in Captur genommenen, anders als ehemals die des Angeklagten, eine entschieden

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ehrenrührige. Die Captur enthielt also einen sehr empfindlichen Eingriff zugleich in die physische und in die moralische Existenz des Verhafteten und war somit eine Maassregel der ernstesten Art. Und doch kam man bald dahin, die Captur, als durch die Natur und den Zweck des Prozesses geboten, überall anzuwenden, wenn es um einigermaassen schwere Verbrechen und nicht um besonders hochgestellte Inquisiten sich handelte. Es musste demnach dafür gesorgt werden (schon die Carolina hatte das angebahnt), dass der Eintritt der Captur, also die Einleitung des Prozesses wider bestimmte Personen, an gewisse, schärfer festzustellende Kriterien gebunden werde. Einen Anhaltspunkt gewährte dafür eine Unterscheidung, die den ersten Anfängen des Inquisitionsprozesses den Eingang nicht unbeträchtlich erleichtert hatte. Wo ein Ankläger auftritt, ist es natürlich, dass er sogleich einer bestimmten Person sich gegenüberstellt und dann erst die That, die er ihr und eben nur ihr zur Last legt, näher bezeichnet. Aber eben so natürlich ist es, dass die Dinge in der Pegel gerade in umgekehrter Ordnung hervortreten, wo eine Behörde die Verpflichtung hat, den Spuren begangener Uebelthaten nachzugehen und für die Erforschung und Bestrafung des Thäters sich zu bemühen. Während den Ankläger nicht selten persönliche Gehässigkeit allein in Bewegung setzt und nicht ruhen lässt, bis er entdeckt hat, was an dem Gehassten sich rügen lässt, wird die Behörde erst durch das Hervortreten eines Uebels auf den Menschen, durch dessen Causalität es gesetzt wurde, aufmerksam. Wenn daher jeder, wider den noch kein Beweis hergestellt ist, einen gewissen Grund hat, sich darüber zu beschweren, dass gerade er als Beschuldigter behandelt werden soll, kann niemand sich darüber beklagen, dass die Obrigkeit sich über das Vorhandensein eines Delictes und die Spuren, welche zu dem noch unbekannten Thäter hinführen mögen, Gewissheit zu verschaffen sucht. So liegt es denn allerdings in der Natur des von Amts wegen geführten Prozesses, dass er mit der Feststellung des Thatbestandes beginnen muss, und dass er sogleich sein Ende erreicht, sobald das constare de corpore delicti nicht zu erzielen ist. So wie ferner der Ankläger sich selbst erst Gewissheit darüber zu verschaffen sucht, dass der Anzuklagende schuldig sei, und dass die zu seiner Ueberführung erforderlichen Beweismittel herbeigeschafft werden können: so muss wohl auch der Inquirent, ehe er den eigentlichen Prozess beginnt, in welchem die Functionen des Anklägers auf ihn fallen, sich die Ueberzeugung verschaffen, dass die Ueberführung des Inquisiteli möglich sei.

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Auf diese Art fällt die Thätigkeit des Inquirenten in zwei verschiedene Stadien. Im ersten nimmt er eine formlose, den aussergerichtlichen Erkundigungen des Anklägers analoge Untersuchung vor, mehr darauf berechnet, auf die Spur zu führen, als Beweise herzuschaffen, mehr zur Fixirung der Ueberzeugung des Richters selbst, als zur Rechtfertigung oder Ueberführung eines anderen bestimmt. Dieses Verfahren ist daher an Formen beinahe gar nicht gebunden, die Zeugenvernehmungen erscheinen als blosse Erkundigungen, weshalb die Art des Verhörs dem Richter ganz anheimgegeben ist und eine Beschwörung der Aussagen nicht erfolgt. Zu dieser G e n e r a l u n t e r s u c h u n g stellt dann die S p e c i a l i n q u i s i t i o n im ausgesprochenen Gegensatz ; hier wirken die Formen des alten accusatoiischen Prozesses noch entschieden nach ; so weit es damit vereinbar ist, dass der Ankläger im Richter aufgegangen ist, nimmt hier alles noch den strengeren Gang, nach welchem die Ueberweisung des Beschuldigten nur bei Beobachtung gewisser Solennitäten erfolgen kann. Das Verhör des Inquisiten hat fast noch die Natur der römischen Interrogationen; es besteht nämlich vorzugweise in der Vorhaltung der Beschuldigung und der Beweismittel für dieselbe, woran sich jetzt freilich auch die Anleitung zur Vertheidigung schliesst. So wie nun die Zeugen meist noch, dem speciellen Verlangen der Parteien gemäss, über v o n d i e s e n v e r f a s s t e A r t i k e l vernommen wurden, und der Richter selbst in Ermangelung von Parteibegehren die Beweisartikel, über welche sie zu vernehmen waren, nicht selten noch vorher aufsetzte, so wurde auch der Beschuldigte über die vorher zu Papier gebrachten Artikel oder Fragestücke, welche logisch an einander gereiht und so gehalten wurden, dass sein Eingehen auf dieselben dem Geständniss die volle Beweiskraft geben musste, vernommen ( a r t i c u l i r t e s V e r h ö r ) . Lange kam ein anderes Verhör des Inquisiten als clas articulirte Verhör nicht vor. Incless musste doch schon früh das Bedürfniss sich zeigen, über manche Umstände sich vom Verdächtigen Aufklärung zu verschaffen, ehe die Beschuldigung schon fest um ihn sich zusammengezogen hatte, und ihm Gelegenheit zu geben, durch Aufklärung von verdächtigenden Umständen die Specialinquisition von sich abzuwenden. Auch hatte man hiezu schon darin einen Anlass, dass ja eben die vorausgehende Nachforschung eine allgemeine war, dass in der Generalinquisition niemand juristisch als Inquisit erschien, und die Vernommenen nicht beeidigt wurden, so dass man um Auskünfte wohl auch an den \ 7 erdächtigen sich wenden konnte. So stellte sich das s u m m a r i s c h e V e r h ö r zwischen die General- und die Specialinquisition, Binding, Handbuch.

IX. 4. I :

G l a s e r , Strafprozess.

I.

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gewissermaassen den Uebergang von der einen zur anderen bildend. Eben darum gewann aber der der Specialinquisition vorausgehende Theil des Prozesses an Umfang und Bedeutung; die Verhaftung wurde zugelassen, ehe noch die Beschuldigung in Artikeln formulili war; und je einengender die Formen der Specialuntersuchung waren, desto länger zögerte der Inquirent, zu letzterer überzugehen; bald kam es dahin, dass vorher ein so vollständiges Material aufgehäuft wurde, dass man in minder wichtigen oder ganz klaren Fällen schon auf Grund des summarischen Verhörs das Enderkenntniss schöpfen konnte; der Inquirent, der n u n zur Specialinquisition überging, musste daher von der Schuld des Inquisiteli wohl in der Regel völlig überzeugt sein, und soweit sie nicht blos zur Nachtragung von Solennitäten bestimmt wurde, war sie jetzt ganz angefüllt von dem Kampf zwischen dem Inquirenten, der dem Inquisiteli das Geständniss abzuringen sucht, und dem Inquisì ten, der die ihm nun erst bekannten Belastungsbeweise zu entkräften und selbständige Entlastungsbeweise vorzubringen sich bemüht. Indem so mehr und mehr der Schwerpunkt des Verfahrens von der Specialinquisition entfernt wird, verliert der Criminalprozess immer mehr von jener Formstrenge, die wohl einst von der juristischen Natur des Prozesses untrennbar schien, nimmt er immer mehr die Gestalt formloser Nachforschung an, je später von den vorbereitenden Stadien der Untersuchung zu der doch noch solennen Specialinquisition übergegangen wurde. Je wichtiger dann diese ersten Stadien des Prozesses wurden, desto schrankenloser beherrschte diesen das Ermessen des Inquirenten. Doch trat dies noch nicht völlig hervor, so lange das B e w e i s s y s t e m durch die Tortur beherrscht wurde. So lange diese auch nur auf die in der Carolina bestimmte Weise anwendbar war, konnte die Aufgabe des Inquirenten keine sehr schwierige sein. Es handelte sich nur darum, zur Tortur ausreichende Indicien zu finden. Lagen diese vor, so war das Geständniss des Beschuldigten (falls nicht gar Zeugenbeweis es überflüssig machte) leicht zu erlangen durch die blosse Hinweisung auf die bevorstehende peinliche Frage, und wenn nicht, so konnte das Spruchcollegium nicht unterlassen, auf Tortur zu erkennen. Um diese e i n e Frage drehte sich also das ganze Beweisrecht: welche Indicien genügen zur Tortur? Gerade diese wichtigste Frage, das kann man nicht verkennen, vermochte die Gesetzgebung und vermochte die Doctrin nicht zu lösen. Im Gegentheil wird letztere, die in dieser Zeit ohnehin allmächtig war, von dem Vorwurf nicht freizusprechen sein, dass sie die gesunden Keime in der Carolina

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nicht sich entwickeln Hess, vielmehr sie durch Künsteleien erst völlig erstickte. Stützte sich die Einleitung der Untersuchung auf Indicien, so mussten wohl wenigstens gewichtigere Indicien für die Verhängung der Tortur vorausgesetzt werden. Alles kam darauf an, das richtige Maass zu finden ; allein gerade hierin lässt sich a priori fast nie etwas feststellen; auf den unmittelbaren Eindruck, den die Dinge machen, wird zuletzt alles ankommen ; denn Verdacht lässt sich nicht anders messen als an cler Energie, mit der er sich aufdrängt. Unglücklicherweise waren gerade zu dieser Abmessung des Verdachtes Männer berufen, die den Dingen fern standen. Wie sollten sie Aussprüche über solche Gegenstände dem localen Gerichte gegenüber, das Personen und Dinge gesehen hatte, motiviren, während sie selbst nichts als Akten zu Gesicht bekamen, die in einer Magerkeit und Trockenheit, von der man jetzt kaum mehr eine Vorstellung hat, das individuelle fast überall gänzlich abstreiften ? Es blieb wohl nichts übrig, als auszuführen, was schon die Carolina leichthin angedeutet hatte, eine Theorie des Indicienbeweises herzustellen, die für jeden Fall mit einer möglichst sicheren Regel bei der Hand war und, indem sie unter feste Kategorien brachte, was sich freilich nun einmal nicht schematisiren lässt, die Urtheiler vor der Gefahr und vor dem Verdacht der W T illkürlichkeit in so wichtigen Dingen sicherte. Sorgfältig wurden die Indicien im allgemeinen und die einzelnen Delicten eigenthümlichen in die verschiedenen Classen vertheilt und so Anhaltspunkte für die Lösung der bei speciellen Entscheidungen auftauchenden Schwierigkeiten gegeben. Wenn nur freilich diese fest genug gewesen wären, um die Anwendung der Tortur wenigstens innerhalb jener Grenzen zu erhalten, die ihr die Carolina unverkennbar vorzeichnen wollte ! Allein eben weil die Spruchcollegien auf eine Doctrin sich stützten, der es an Unmittelbarkeit, Lebensfrische und Natürlichkeit fehlte 4, eben weil sie dadurch mit jener Einsicht sich in Widerstreit setzten, welche bei Lösung von Thatfragen jeder sich zutrauen zu dürfen meint, eben deshalb waren sie zu schwach, dem Vorurtheil, das die Massen mit Zaubergewalt ergriff, auf die Länge Widerstand zu leisten. So finden wir sie denn der Epidemie der Hexenprozesse 1 gegenüber 5 Zur Orientirung über die juristische Seite der Hexenprozesse s. W ä c h t e r s meisterhafte Abhandlung in seinen Beiträgen zur deutschen Geschichte (Tübingen 1845), ausführliche Darlegung der Stellung der deutschen Jurisprudenz zu den

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geradezu wehrlos; fast nicht eine jener schützenden Formen, die sich im deutschen Prozess noch behauptet hatten, vermochte sich diesem Sturm gegenüber unberührt zu erhalten. Vorsichtsmaassregeln, wie sie die Carolina bei Anwendung der Folter vorschrieb und deren Einhaltung allein auf etwas längere Zeit der Meinung, dass die Folter in einem geordneten Prozess irgend Platz finden könne, noch Geltung sichern konnte, wurden nun stürmisch beseitigt. Als dann jene Raserei der Verfolgungen über Europa dahingebraust war und endlich sich die Augen der Einsicht öffneten, dass diese Prozessformen nicht einmal davor sichern konnten, dass tausende wegen eines Verbrechens verurtheilt wurden, welches sie gar nicht begangen haben konnten, da brach sich langsam, aber unaufhaltbar, hinter dieser Einsicht auch die Ueberzeugung Bahn : wo auch nur der Schatten der Tortur hinfalle, könne nimmer ein Prozessinstitut sich gesund erhalten. Sie musste endlich weichen. Aber es war zu sehr der ganze bisherige Prozess mit ihr verwachsen, als dass sie nicht eine höchst empfindliche Lücke zurückgelassen hätte — eine Lücke, die füllen zu können man anfangs fast verzweifeln musste. Und doch brachte gerade der Wegfall der Tortur (las Gesetz, welchem die bisherige Entwickelung des deutschen Criminalprozesses gefolgt war, zur Anschauung und zu voller Anerkennung. Gezwungen, rasch den dringendsten Bedürfnissen des Tages abzuhelfen, emancipirte die gemeinrechtliche Doctrin (und um so leichter, ihr folgend, die Gesetzgebung der einzelnen deutschen Länder) sich von dem unbequemen Zwang der älteren Rechtsquellen ; und an die Stelle mühsamer Combinationen, scharfsinniger Ausgleichungen von Aussprüchen, die doch unter sich und mit den Dingen, auf die man sie anwenden wollte, nicht mehr völlig in Einklang gebracht werden konnten, an die Stelle dieser peinlichen, oft der Kleinigkeitskrämerei nahekommenden Arbeit , die dennoch kaum für das unbedingt nöthige den legalen Boclen mehr finden konnte — an die Stelle alles dessen traten neue Versuche, frisch aus dem grossen heraus die Formen eines neuen Prozesses zu schneiden, oder richtiger den Criniinalprozess, wie er eben stand, nach Regeln umzuformen, wie sie aus verständiger Betrachtung seines Zweckes allein sich zu ergeben schienen. So war denn der Augenblick gekommen, wo, was einst als Auskunftsniittel aufgenommen worden, als ein Princip mit jener AusllexenpiOzessen das. S 289. Vgl. ausserdem S o l dan, Geschichte der Hexenprozesse, neue Bearbeitung von Heppe. 2 Bände Stuttgart 1880. S. jetzt auch S t i n t z i n g I 640—648 (vgl. übrigens die Literaturangaben oben § 6 Anm 1).

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schliesslichkeit und Schärfe sich geltend inachte, welche den Dingen in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine so eigentümliche Gestalt giebt. Dass von richterlichen Amts wegen für die Verfolgung von Verbrechen Sorge getragen wird, ist zu allen Zeiten das Ergebniss der Einsicht, dass ein ö f f e n t l i c h e s Interesse diese Bestrafung fordert. Jetzt aber wurde diese Vorstellung ganz anders einflussreich als je zuvor. Mit jener Entschiedenheit, mit welcher damals wohl auch auf anderen Gebieten lauter als je gefordert wurde, dass Privatinteressen vor öffentlichen Bedürfnissen, vor den Ansprüchen des Staates zurücktreten müssen, machte sich jetzt die Ansicht geltend, dass vor allem hier den letzteren Bahn gebrochen werden müsse. Ist es im Interesse des Staates gelegen, beruht die ganze Gesellschaft darauf, dass die Verbrechen gestraft und dass Unschuldige nicht bestraft werden. so muss die Durchführung dieses öffentlichen Interesse auch nicht durch die Thätigkeit oder Passivität von Privaten — wie nahe sie auch immer dem einzelnen Fall stehen — gekreuzt werden können. Nicht genug, dass jetzt der Staat Verbrecher verfolgt, wider die kein oder nur ein unfähiger Ankläger sich erhebt ; er nimmt dieses Geschäft für sich allein in Anspruch und zu gleicher Zeit nimmt er mit eben so grossem Misstrauen dem Angeklagten seine eigene Angelegenheit fast aus den Händen und überwacht die Vollständigkeit der Verteidigung. Der Criininalprozess muss also von den P e r s o n e n emancipili werden; Emancipation von den Personen führt aber unvermeidlich Lossagung von der Herrschaft der Formen mit sich; denn die Form herrscht nur, hat überhaupt nur Bedeutung, wenn an ihre Nichtbeachtung prozessualische Nachtheile geknüpft sind, — wo es e i n e m \ 7 e r z i c h t g l e i c h k o m m t , sie a u s s e r A c h t z u l a s s e n . Gerade das aber hiesse ja mehr oder weniger den Ausgang des Prozesses in die Hände der Personen legen, die ihn führen. Damm fuhrt jetzt der Staat selbst, durch seine Organe, den Prozess, den sonst vor letzteren die Parteien führten; darum weicht aber jetzt auch jede Form zurück, AVO sie der Enthüllung und Anerkennung der Wahrheit hinderlich scheinen könnte; oder, wie man es formulirte: der Inquisitionsprozess stellt d i e m a t e r i e l l e W a h r h e i t ü b e r d i e f o r m e l l e . Man hat den eigentlichen Grundgedanken des Inquisitionsprozesses oft dadurch zu bezeichnen gesucht, dass man auf die Vereinigung der Thätigkeit beider Parteien mit cler des Richters hinwies. Allein dabei lässt man sich doch von cler äusserlichen Stellung des Inquirenten zu sehr bestimmen. Der Inquirent ist zwar ein richterlicher Beamter, aber er ist doch nicht cler Richter, derjenige, der clas Urtheil zu

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sprechen h a t — höchstens ein Mitglied des Collegiums, das in erster Instanz in der Sache entscheidet. Aber allerdings liegt der Grundgedanke darin, dass das Material, worauf das Urtheil sich stützen soll, nicht mehr von den Parteien, sondern von jenem Dritten, der eben weder Ankläger noch Angeklagter ist. herbeigeschafft wird. Diese Forniulirung des Principe musste vor allem auf die E i n r i c h t u n g u n d B e s e t z u n g d e r G e r i c h t e Einfluss haben. Dass sie dahin drängte, die Strafrechtspflege, so viel nur immer möglichT in die Hände oder doch unter die strenge Aufsicht von Staatsbehörden zurückzubringen, braucht nicht erst gesagt zu werden. — Aber auch das Verhältniss des Untersuchungsrichters zum Spruchcollegium oder zu der Behörde, welche das Erkenntniss zu fällen hatte, ward jetzt gründlich geändert. Dass von den ersten Akten des Untersuchungsgerichtes das meiste abhängt, musste jetzt klarer als je werden: je unbedingter alles in die Hände des Inquirenten gelegt ward, desto mehr war seiner Fähigkeit und Pflichttreue anheimgestellt, War er an Formen nicht in dem Sinn gebunden, wie Parteien sie zu beobachten hatten, so mussten doch dem im fremden Namen handelnden, fremdes Interesse vertretenden ausführliche Instructionen gegeben, es musste doch dafür gesorgt werden, dass er diese beachte. C o n c e n t r i r u n g des w i c h t i g s t e n T h e i l s des P r o z e s s e s , j a f a s t a l l e r Prozessakte in den H ä n d e n eines e i n z i g e n , f ä h i g e n , j u r i s t i s c h g e b i l d e t e n I n q u i r e n t e n , der nach u n t e n h i n fast u 11 g e b u il d e η . v o n ο b e η h e r l e i c h t ü b e r w a cht w e r d e n k a n n , der d e r Sache s e l b s t d u r e h \ r e r l e t z u n g d e r G e s e t z e n i c h t s vergeben, sondern nur dafür persönlich zur Vera n t w o r t u n g g e z o g e n w e r d e n k a n n , das i s t d e r G r u n d g e d a n k e , auf dein die G e r i c h t s o r g a n i s a t i o n n u n b e r u h e n muss. Ein Inquirent unter der unmittelbaren Aufsicht eines Collegiums, und mittelbar durch Ausweise. Aktenvorlage und Visitationen unter der Controle höherer Gerichtsbehörden stehend, ward also der Angelpunkt des Prozesses, der jetzt wohl auch blos U n t e r s u c h u n g heisst, denn diese Untersuchung selbst wird jetzt auch etwas ganz anderes, als sie unter dem Einfluss der Tortur sein konnte. Jetzt, wo dieses allezeit bereite Auskunftsniittel wegfiel, ward das U n t e r s u c h e n erst wahrhaft als Aufgabe des Richters angesehen. Jetzt erst, wo das Geständniss nicht mehr nach Belieben zu erlangen war, oder doch nicht mehr nur um einen Preis versagt werden konnte, der nieist den Werth der Straflosigkeit überbot , jetzt erst bemühte man sich, es entbehren zu können. Jetzt erst sah man mit Erstaunen, Avas kaum die heftigsten Gegner der Folter zu behaupten gewagt

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hatten, dass eine gründliche und geschickte Nachforschung fast innner ein sehr helles Licht auf ein Verbrechen wirft, hell genug, dass der Thäter kaum sich zu verbergen vermag. Dazu kamen unverkennbar die glänzenden Erfolge, die auf n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n G e b i e t e n die freie Forschung des Individuums erreicht hatte — Erfolge, welche man sich in gleicher Weise von ähnlichem Vorgehen des Inquirenten versprechen zu können meinte. Rasche, sichere, umsichtige, und vor allen Dingen tactvolle und geschickte Erhebung der Verhältnisse ward vor allem als die Aufgabe des Inquirenten erkannt, und immer mehr stellte sich die Meinung fest, dass von der Befähigung des letzteren sicherer als von äusserlichen Prozessformen ein gedeihlicher Ausgang jeder Untersuchung zu erwarten sei. Dabei war man von der Tortur nicht weit genug entfernt , um etwa auf das G e s t ä n d n i s s des Angeklagten nur geringes Gewicht zu legen. Noch war jene eben erwähnte Art der Untersuchung an viel zu wenig Orten zu erwarten; auch hatte die Polizei noch nicht überall d i e Ausbildung erlangt, die erforderlich ist, damit letztere gehörig von statten gehe; noch war endlich das Beweisrecht nicht dahin gebracht, dass man das Geständniss so leicht hätte entbehren können. Ueberdies hatte auch, clas sollte man doch nicht übersehen, wrenn man die Tortur h i s t o r i s c h würdigt, letztere der subjectiven Auffassung des Strafrechts, der überwiegenden Berücksichtigung cles Willensmomentes unverkennbar Bahn gebrochen. Immer nöthiger wurde es, besonders seitdem die zu Ansehen gelangenden Strafrechtstheorien mehr oder weniger bestimmt alle Berechtigung, zu strafen, davon abhängig machten, dass eine strafbare Willensrichtung vorhanden ist, immer nöthiger wurde es, nicht blos clas materielle Factum klar zu machen, sondern in das innere des Thäters hineinzugreifen, sein Seelenleben bloszulegen und zum psychischen Ursprung des Verbrechens zurückzugelangen. Dass aber cler Beschuldigte nicht blos diese Untersuchung über sich ergehen lassen müsse, dass er sogar schuldig sei, sie zu fördern, ihr mit voller Aufrichtigkeit sich darzubieten, dass er schuldig sei, zu gestehen — das war ein Axiom, das um so unerschütterlicher sich festgestellt hatte, als es gelungen war, in der Tortur einem empörenden Excess, der allerdings in d e r s e l b e n Grundanschauung wurzelte, ein Ende zumachen. So spurlos ist die römisch-germanische Stellung des A n g e k l a g t e n verschwunden, dass an dem Recht, ein Geständniss eines wirklich schuldigen zu e r z w i n g e n , gar nicht mehr gezweifelt wird; und indem die Tortur als ein unverlässliches, weil gegen alle gleichmässig wirkendes, allenfalls auch als ein unmenschliches Mittel, Geständnisse zu fördern,

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verboten wird, wird zugleich dein Inquirenten zur Hauptaufgabe gestellt, auf andere Weise dem Inquisiten das Geständniss abzuringen. Dass die Gesetze in den U n g e h o r s a m s s t r a f e n einen Rest der Tortur stehen Hessen, der lange genug weniger scrupulöse Richter diese kaum vermissen liess, hat in dieser Rücksicht principielle Bedeutung. Wichtiger aber ist, dass gerade in der Erlangung des Geständnisses die höchste Leistung der Untersuchungskunst (denn eine K u n s t war sie geworden) erkannt wurde. Mehr und mehr stellte sich unter den Händen einer Theorie, die die Schlacken der Durchgangsperiode abstreifte, aber dadurch eben das gewonnene Princip um so schärfer zuspitzte, grundsätzlich fest, dass der Inquireht mit dem ihm verdächtigen geistig ringen, dass er von ihm durch Ueberlegenheit der Bildung, durch die Autorität der hinter ihm stehenden Gesellschaft, vor allem aber durch die geschickt-überwältigende Vorführung der bereits gewonnenen Beweise, durch die Hinweisung auf die Unwiderstehlichkeit seiner Untersuchungsmittel das Geständniss zu erlangen suchen müsse. Dazu ist aber allerdings erforderlich, dass der Beschuldigte aufhört, auf den Gang des Prozesses einzuwirken ; vielmehr wird er nun selbst das wichtigste O b j e c t d e r U n t e r s u c h u n g . Jede Bewegung, die der Ueberraschte merken lässt, jedes Zittern der Stimine, jeder Anflug von Erröthen, die Art, wie er diesen Gegenstand anschaut, jenem Zeugen gegenübertritt — das alles soll der Inquirent benützen, um in sein innerstes einzudringen. Darauf, dass er, von der Aussenwelt abgesperrt, vom Gang der Nachforschungen und deren Resultat nichts weiss, dass er genöthigt wird, sich über Dinge zu erklären, deren Zusammenhang ihm verborgen ist, mit einem Wort dass er vom Inquirenten überschaut wird, ohne zu wissen, welche Waffen diesem zu Gebote stehen, darauf, dass er zu jeder Zeit jeder Frage Rede stehen muss, seinerseits aber nur jene Aufklärungen erhält, die man ihm schon ertheilen zu können meint — darauf beruht wesentlich die Aussicht auf Erfolg. Erfahrt auch zuletzt, wenigstens indirect, jeder Inquisit alles, was gegen ihn spricht, so liegt doch schon daran viel, dass ihm möglichst lange zweifelhaft bleibe: ob er auch alles wisse? Eine fernere Consequenz cler geänderten Verhältnisse ist die gänzliche Herabdrückung der S p e c i a 1 u η t e r s u c h u η g zu einer leeren Form, soweit sie nicht von der summarischen Untersuchung völlig aufgesaugt wird 6 . 6 Vgl. B i e n er, Beiträge S 186 ff. G l a s e r , Ueber Specialuntersuchung, in Haimerls Vierteljahrsschrift I I 234 ff. (Ges. kleine Schriften S 65Γ> ff.).

er geine deutsche Inquisitionsprozess.

105

Nun fehlt nur noch die völlige A u s s c h l i e s s u n g des V e r t e i d i g e r s 7. Die letzten Consequenzen des inquisitorischen Gedankens mussten sich endlich in der Gestaltung des B e w e i s r e c h t s und den F o r m e n des E n d u r t h e i l s zeigen. Die Basis jedes Beweisrechtes ist die Lehre von der Beweislast. Gerade sie verliert aber jede Bedeutung, wo der nach Wahrheit suchende Richter dem Leugnen wie dem Geständniss des Beschuldigten mit gleichem Misstrauen entgegentritt und AVO unter allen Umständen die Auffindung und Herbeischaffung der Beweise lediglich Sache des Richters ist. Unter solchen Umständen ist es aber immer weniger zu ertragen, dass das Ergebniss der Beweisführung ein der objectiven Wahrheit nicht entsprechendes sei. Es darf daher einerseits kein Mittel der Feststellung der Wahrheit unbenutzt bleiben, und eben hieraus erwächst andererseits die Notwendigkeit, dem Indicienbeweise Raum zu schaffen und die unlösbare Aufgabe zu unternehmen, ihn ähnlichen Beweisregeln zu unterwerfen, wie sie geschichtlich für die empirischen Beweismittel sich entwickelt hatten und kaum da zu ertragen waren. So ward die gemeinrechtliche Beweistheorie noch auf ein weiteres Gebiet ausgedehnt und war auf diesem der Kampf auszutragen zwischen dem letzten Ergebniss der begrifflichen Entwickelung cles Inquisitionsprincips und den Anforderungen des positiven Beweisrechts, wie es sich geschichtlich entwickelt hatte: auf cler einen Seite die Aufgabe, der Wahrheit , unbeirrt durch Form und Parteiwiderstand, zum Ausdruck zu verhelfen, auf der anderen ein formelles Beweisrecht , dem das Urtheil Genüge t u n sollte. Zugleich aber musste man erkennen, dass clie Fälle häufig eintreten, wo nicht nach Vorschrift cler Gesetze bewiesen werden kann, was doch für wahr zu halten man nicht umhin konnte; und darin lag die moralische Rechtfertigung cler I n s t a n z e n t b i n d u n g , die jetzt notwendig häufigere Anwendung finden musste, die aber. 7 Diese Consequenz ist allerdings nur in der österreichischen Gesetzgebung (Jos. CGO § 151, Strafgesetzbuch für Westgalizien von 1796 § 359, G von 1803 1 § 337) und zwar nur für das Verfahren in e r s t e r Instanz gezogen; allein nicht ohne Grund bemerkt J e n u l i , Das österreichische Criminalrecht I I I 135. 136: „Im Grunde bleibt sie (die österreichische Gesetzgebung) dadurch nur ihrem wohl überdachten Systeme getreu . . . Entweder A n k l ä g e r , R i c h t e r und V e r t h e i d i g e r , oder, wenn kein eigener Ankläger ist, weil die Untersuchung clem Richter von A m t s wegen obliegt, auch aus dem nämlichen Grunde kein eigener Vertheidiger . . . . AVer daher über den Geist des Untersuchungsverfahrens nachgedacht hat und diesen Vorschlag macht, kann im Grunde nichts anderes verlangen, als dass der Anklageprozess demselben vorgezogen werde".

106

§11.

Dio österreichische Partioulargesetzgebuiig über Strafprozess

wie jede bedenkliche Institution, sich in der Anwendung verschlimmerte, auch bei Fällen verhältnissmässig schwachen Verdachtes angewandt ward, um dem den Sieg der „materiellen Wahrheit" sichernden Prozesssysteni, das die Autorität des Richters statt für das Endurtheil schon für den Anfang des Prozesses einsetzen lässt, ein beschämendes Geständniss zu ersparen, und so zu einer wahren V e r d a c h t s s t r a f e wurde, die, wenig empfindlich für das gewerbsmässige Verbrecherthum, auf Angehörige der gebildeten Stände und der Berufskreise der redlichen Arbeit geradezu vernichtend wirkte und eben dadurch die feindselige Spannung der gebildeten Kreise gegen das herrschende Prozesssystem steigerte. Das missliche der Instanzentbindung ward noch dadurch vermehrt, dass sie sich ebenfalls mit ihrem geschichtlichen Ursprung in Widerspruch befand, Sie ward am häufigsten in einer Epoche angewendet, in welcher das verschwand, was die italienischen Praktiker einst bestimmt hatte, sie einzuführen: einst sollte sie dem \ T erd ä cht igen. der freigesprochen ward, den Schutz der exceptio rei judicatae entziehen: jetzt ward sie unter Umständen angeordnet, wo das unbedingte Streben nach materieller Wahrheit alle schützenden Formen untergrub. Aber dieses bedenkliche Auskunftsmittel konnte es der Theorie und Gesetzgebung nicht ersparen, dass die gesetzliche Beweistheorie, welcher nachgerühmt wurde, dass sie die Bedingungen, von denen die Gewissheit der Thatsaehen abhänge, ein für allenial formuliren könne, zu einer blos n e g a t i v e n Theorie herabgedrückt wurde, die nur Minimalanforderungen aufzustellen vermag und die letzte Entscheidung über die Gewissheit der Thatsaehen der Beurtheilung des einzelnen Falles und eben damit der Persönlichkeit des Urtheilers und seiner subjectiven Ueberzeugung anheimstellen muss. S 11. D i e ö s t e r r e i c h i s c h e P a r t i c u l a r g e s e t z g e b u n g ü b e r S t r a f p r o z e s s w ä h r e n d d e r E p o c h e des g e m e i n e n d e u t s c li e η I η q u i si t i ο η s p r ο ζ e s s e s. W i l l man das Ergebniss der bisherigen Entwickelung des gemeinen deutschen Prozesses richtig beurtheilen, so muss man an die an der Wende des Jahrhunderts entstandenen Gesetzbücher sich halten: denn hier allein war die Möglichkeit geboten, der allmählich entwickelten Theorie bewussten Ausdruck zu geben und so manches fern zu halten, was anderswo der elende Zustand der Gerichtsverfassung, der Stillstand der Reichsgesetzgebung gegenüber einem so fundamentalen Umschwünge, wie ihn die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts herbeiführte, und die dadurch verursachte Rathlosigkeit und Willkür der Praxis mit sich brachte.

wahrend der Epoche des gemeinen deutschen Inquisitionsprozesses.

107

Ehe jedoch zu einer Darstellung dieser Codificationen übergegangen wird, dürfte es nicht unzulässig scheinen, das Herauswachsen derselben aus älteren Particulargesetzen, sowie die Entwickelung der Particulargesetzgebung aus der gemeinrechtlichen Grundlage heraus und ihre Beeinflussung durch die gemeinrechtliche Literatur durch die Darstellung der Vorgänge auf einem begrenzten Gebiete anschaulich zu machen, das der Verfasser am besten zu übersehen vermag. Die Strafprozessgesetzgebung in den deutsch-slavischen Landen Oesterreichs folgt, wie dies nicht anders sein konnte, ununterbrochen dem Entwickelungsgange des gemeinen Rechts, und zwar auch noch zu jener Zeit, wo durch das Zustandekommen einer allen diesen Ländern gemeinsamen Codification ein vollständiger Abschluss herbeigeführt zu sein schien 1 . Es ist daher weder möglich, noch wünschenswert] ι , auf die verschiedenen österreichischen Particulargesetze der älteren Zeit näher einzugehen; auch würde aus ihnen kein erschöpfendes Bild des jeweiligen Rechtszustandes zu gewinnen sein; vielmehr handelt es sich nur darum, das Verhältniss zu constatiren, in welchem jene Gesetze zu dem von ihnen mehr oder weniger deutlich vorausgesetzten gemeinen Rechte stehen. Die aufmerksame Betrachtung der gedachten Gesetze führt zur Aufstellung folgender Gruppen : I. Die Gesetzgebung des X V I . Jahrhunderts mit Einschluss der tirolischen Malefizordnung von 1499 entspricht ganz dem Zustand vor und unmittelbar nach dem Zustandekommen der Carolina. II. Die Landgerichtsordnung Ferdinands I I I . von 1656 und die auf ihr ruhende L e o p o l d i n a repräsentiren vollständig den C a r p z o w ' s e h e n Standpunkt, während in der PGO Josephs I. von 1707 bekanntlich die inzwischen zumal durch B r u n η e m a n n herbeigeführte Modification in der Gliederung des Prozesses ihren Ausdruck findet. Auf diesen beiden Gesetzen ruhend steht die T h e r e s i a n a am Schluss jener Periode des gemeinen Prozesses, welche durch die Beseitigung der Folter ihren Abschluss erhielt, III. Die Josephinische Criminalgerichtsordnung von 1788, das 1 Mit Recht bemerkt W a l i l i ) e r g , Die Maximilianischen Halsgerichtsordnungen (1859) S 1; Ges. kleine Schriften I I 86, dass bis zur Theresiana das wahrhaft einigende Band, welches die Entwickelung der verschiedenen Strafrechte in den deutschen Erblanden zusammengehalten hat, nicht ein „gemeines österreichisches, vielmehr das gemeine deutsche Recht war". Aber auch nachdem formell die Einheit hergestellt war, hält die österreichische Gesetzgebung mit der Entwickelung des gemeinrechtlichen Prozesses, zu welcher sie allerdings wichtige Beiträge bot, stets gleichen Schritt. H. auch L u s c h i n v. E b e n g r e u t h , Geschichte des älteren Gerichtswesens in Oesterreich ob und unter der Enns. Weimar 1879.

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§11

i

österreichische P a r t i u l a r g e s e t z g e b u g über Strafprozess

westgalizische Strafgesetz von 1796 und das Gesetzbuch Franz' II. von 1803 constatiren in rascher Aufeinanderfolge den seit Abschaffung der Folter eingetretenen Umschwung und die vollständige Ausbildung des inquisitorischen Prozesses. I.

Erste

Periode:

Z e i t g e n o s s e n der

Carolina.

Die Gesetzeswerke dieser Periode zerfallen in drei Gruppen: 1. die tirolische Malefizordnung von 1499 2 und die ihr nachgebildete Laibacher Malefizordnung von 1514 3 . 2. Maximilians I. „Ordnung und Artikel der Landgerichte des Erzherzogthums Oesterreich unter der Enns" d. d. Gmunden 21. August 1514, die nur in zwei Artikeln abweichende „Reformation und Erneuerung der Landgerichtsordnung . . . im Erzherzogthum Oesterreich unter der Enns" von Ferdinand I. d. d. Wien 12. Jänner 1540 — und die auf der Landgerichtsordnung von 1514 ruhenden Landgerichtsordnungen für Krain von 1535, Oberösterreich 1559 und Kärnten 1577 4 . 3. Des löblichen Fürstenthums Steyer Land und peinlich Gerichtsordnung Karls I I . vom Jahre 1574 5 . 1. Die eigenthümlichste Stellung nimmt hier die t i r o l e r Malefizordnung ein, da sie als eine in jeder Hinsicht abgeschlossene Codification sich darstellt, welche vom gemeinen Recht formell ganz absieht 0 und ganz unverkennbar darauf abzielt, dem Eindringen des 2

Maximilian I., der 1495 die Keichskammergerichtsordnung zu stände brachte, auf dem Reichstage zu Freiburg (1498) das Reichsstrafgesetz in Anregung brachte, war es auch, der am Andreastag 1499 mit der tirolischen Landschaft die M a l e f i z o r d n u n g vereinbarte (vgl. R a p p , Ueber das vaterländische Statutenwesen, in den Beiträgen zur Geschichte, Statistik, Naturkunde und Kunst in Tirol und Vorarlberg V 1829 S 8 ff., das. S 131—142 Abdruck der Malefizordnung selbst), welche im wesentlichen unverändert in die tirolische Landesordnung (confirmirt Tübingen 1. Mai 1526) und in deren Reformation von 1532 (Ausgaben von 1532, 1538, 1558 und 1570 — vgl. R a p p S 65 Anm 59) überging. 3 AVahlberg in den österreichischen Blättern für Literatur und Kunst 1856 S 100; Die Maximilianischen Halsgerichtsordnungen, Haimerls Vierteljahrsschrift IV 1 ff. und Ges. kleine Schriften I I 86 ff. 4 H y e , Beitrag zur österreichischen Strafrechtsgeschichte, in der Ζ f. österreichische Rechtsgelehrsamkeit 1844 I 353 ff. 5 Augsburg 1583. Ausführliche Auszüge bei H e r b s t . Einleitung in das österreichische Strafprozessrecht 1. Hauptst. A S 2—17. 6 Richter und Schöffen werden beeidigt, Recht zu sprechen, „nach laut dieser unserer Ordnung und diess Buches Sag'" (IX) v. 1532 V I I I 2). Wenn (das. V I I I 15) die „neuen unerhörten Laster" künftiger Gesetzgebung vorbehalten scheinen, so ist doch dem Ermessen der Richter auch die Bestrafung der „nicht ausgedrückten Uebelthaten" vorbehalten (das. V I I I 70). In zweifelhaften Fällen ist der Rath „anderer Städte oder Gerichte" einzuholen (das. S 71).

w h r e n d der Epoche des g e e i n e n deutschen Inquisitionsprozesses.

Juristenrechts sich entgegenzustellen. Die Gerichte sollen in den Städten mit Mitgliedern des Stadtraths, auf dem Lande „mit zwölf unversprochnen ehrbaren verständigen Mannen (die unsere Pfleger, Gerichtsherren oder ihre Amtleute fürnehmen und erwählen) also, dass der Rechtsprecher an jedem Ort allwegen zwölf seien", besetzt werden. Dem Richter steht ein Urtheil nur ausnahmsweise zu : bei gleichgetheilten Stimmen der Geschwornen kann er durch seine Stimme für die mildere der beiden Ansichten, wenn beide gleich streng sind, für jene entscheiden, welche ihm die gerechtere scheint. Nur wenn er keine derselben gerecht findet, hat er die Entscheidung der „hohen Obrigkeit" einzuholen 7 . Jeder Rechtszug ist ausgeschlossen; „es wär denn Sach, dass öffentlich und bewärtlich wider diese unser Ordnung und Satzung geurtheilt worden wäre, so mag solches an die mehrer Obrigkeit zu bringen zugelassen werden" 8 . Die Verfolgung von Amts wegen auf Indicien und infamia b i n 9 , ja selbst aus Anlass von Civilprozessen 10 , und die Mittheilung von Indicien, die „auf Einen in einem anderen Gericht sinken würden", an dessen Obrigkeit 1 1 — summarische Aburtheilung der auf wahrer That ergriffenen 12 — Nothwendigkeit eines ordentlichen, auf den Vortrag des Richters gefällten Erkenntnisses über die Zulässigkeit des gütlichen und peinlichen Verhöres des Beschuldigten — Vornahme desselben in Gegenwart von drei Schöffen, sorgfältige Prüfung des auf der Tortur abgelegten Bekenntnisses 13 — Aufzeichnung der Verhandlungen und Vorlesung der Akten „an dem Tag, daran die übelthätige Person für Recht gestellt wird" (Art. 11), Verhandlung und Urtheilsfällung bei g e s c h l o s s e n e n T h ü r e η (Art, 14) — di es sind die charakteristischen Züge des Verfahrens. 2. Die zum zweiten Kreis gehörigen Landgerichtsordnungen sind von einer viel mehr fragmentarischen Natur, weit wichtiger durch das, was sie als bestehend voraussetzen und mehr oder weniger ausdrücklich bestätigen, als das, was sie unmittelbar verordnen. Zum Hauptinhalt haben sie die Abgrenzung der Befugnisse, welche einerseits dem Landgerichtsherrn, andererseits der gewöhnlichen Obrigkeit, dem 7

LO v i l i 72. V I I I 74. 9 V I I I 6. Der „Abtrag der verursachten Todschläg" ist zwar unter obrigkeitliche Aufsicht gestellt, aber doch noch nicht völlig ausgeschlossen. 10 V I I I 13. n V I I I 12. 12 V I I I 7. 13 v i l i 8—10. 8

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11

i österreichische Partiulargesetzgeg üer Strafprozess

Träger der jurisdictio bassa zusteheil. Aber selbst die dadurch hervorgerufenen Bestimmungen konnten nicht ohne Einfluss auf die Gestaltung des Prozesses bleiben. Denn dem Grundherrn wird das Recht eingeräumt, da, AVO der Beschuldigte nicht „mit offenbarer beweislicher That erfahren" wird, die Mittheilung der Indicien vor der Auslieferung zu fordern 1 4 , auch der peinlichen Frage beizuwohnen 15 . Sagt ein Verurtheilter wider einen andern aus, so soll mit der Hinrichtung des Deponenten gewartet werden, bis der Grundherr seinem Unterthan Gelegenheit gab, sich zu verantworten 16 . So wird der Grundherr in wichtigen Punkten Organ der Vertheidigung. Allerdings hat er auch nicht blos für die einstweilige Festhaltung des Beschuldigten zu sorgen 17 , sondern er ist auch verpflichtet, selbst den Landrichter in Bewegung zu setzen, wenn er landgerichtsinässige Delicte entdeckt 1 8 . Auch dem Beschädigten ist übrigens mit dem Rechte die Pflicht, die Anklage zu erheben, zugewiesen, wie denn überhaupt die selbstständige Berechtigung des Beschädigten überall noch hervortritt, freilich aber auch schon alles dasjenige, was dein inquisitorischen Prozess endlich die thatsächliche Alleinherrschaft sichern musste 1 9 . 14

|Bei Hye 1 u. 2. Die Reformation Ferdinands I. zieht sodann die unvermeidliche (Konsequenz, dass wenn Landgericht und Obrigkeit sich über die Zulässigkeit der Einleitung des Strafprozesses nicht einigen können, die Entscheidung der niederösterreichischen Regierung einzuholen sei, womit in dieser wichtigen Frage schliesslich dem Juristenrecht der maassgebende Ausspruch gesichert ist (a. a. 0. §8). 1B A. a. 0. S 17. 16 A. a. Ο. §§ 2. 5. 17 Α. a. Ο. §§ 3. 4. 18 Α. a. Ο. 14-16. 22. 23. 19 Der Ankläger hat die Gerichtskosten zu tragen, und zwar wenn der Angeklagte „zu Tod gericht" wird, die Hälfte derselben (§§ 14. 16). Er wird, wenn er auf der Anklage beharrt, ohne zur Tortur ausreichende Indicien angeben zu können, mit dem Angeklagten bis zur Entdeckung solcher Indicien eingezogen und haftet dann auch dem Angeklagten für Schimpf und Schaden (§ 23). Dem Missbrauch, dass die Todtschläger sich mit dem Landgericht abfinden, tritt Maximilian 1. scharf entgegen; er verlangt die Zustimmung der Verwandten des Beschädigten und Aussöhnung mit dem Gutsherrn, welche letztere jedoch „on ainich bezalung Gelts und Gutzs" zu geschehen hat (§ 25). Ausserdem aber „dieweil ain yeder Todschleger zu fordrist vnser als Romischen Kaysers auch herrn und Landfiursten gnad und huld verwurckht" soll in Fällen muthwilliger und leichtfertiger Tödtung „bei uns oder unserem Regiment" Absolution erlangt werden (§ 26) — eine Regel, welche mit Weglassung der eben angeführten 25 u. 26 Ferdinand I. noch schärfer ausspricht, wonach jeder, welcher nicht im' Rechtswege seine Befreiung erlangen zu können meint, sie im Gnadenwege nur vom Landesfürsten selbst erlangen könne. (Vgl. übrigens §§ 10. 13.)

während der Epoche des geineinen deutschen Inquisitionsprozesses.

H l

Schon ist das Princip der Verfolgung von Amts wegen, bei Abgang eines Anklägers, auf Grund von Indicien hin, vollständig zur Anerkennung gebracht 2 0 , ebenso ist der Zusammenhang zwischen Indicien und der peinlichen Frage hergestellt , welch' letztere bereits den Mittelpunkt des Prozesses bildet. — Das Spruchgericht besteht „aufs Wenigste aus sechs Personen, die dazu verständig und tauglich sind", und die der Landrichter „aus dem Landgericht oder, wo er die nit fund von Ambtlewten Stetten Merckten in der nehend" zu sich entbieten soll. 3. Die peinliche Gerichtsordnung für S t e y e r m a r k , nach der Carolina und auf Grund derselben erlassen, zugleich aber bei Ordnung des Verhältnisses der Land- und Grundgerichte an die eben angeführten österreichischen Landgerichtsordnungen anknüpfend, bietet nur insofern hervortretende Eigenthümlichkeiten. als der Parallelismus zwischen Anklage- und Untersuchungsverfahren hier noch bestimmter hervortritt, und der Einholung des Rathes Rechtsverständiger viel engere Grenzen gesetzt sind als in der Carolina. Hervorzuheben ist namentlich : 1. Zur Urtheilsfällung sind unter dem Vorsitz des B a η η r i c h t e r s mindestens d r e i z e h n Beisitzer berufen. 2. Es ist ein öffentlicher Ankläger angestellt, und es werden zwei Procuratomi besoldet, welche dem Angeklagten nötigenfalls als Fürsprecher zu dienen haben, unbeschadet jedoch des Anklagerechtes des Beschädigten einerseits, andererseits der Befugniss des Angeklagten, seine Sache selbst zu führen, oder einen anderen Procurator oder einen der Beisitzer zum Fürsprech zu bestellen. 3. Ist „kein besonderer willkührlicher Kläger" vorhanden, und die Sache durch Bekenntniss oder genügende Beweise hinlänglich festgestellt, so wird das Urtheil bei verschlossenen Thüren gefallt , und die nachfolgende öffentliche Gerichtsverhandlung „am offenen Recht" ist eine blosse Feierlichkeit, wie der endliche Rechtstag der Carolina. Die Nothwendigkeit einer wirklichen mündlichen Verhandlung und der Urtheilsfällung auf Grund derselben tritt nur ein, wenn „der Fall der begangenen Missethat nicht lauter" und „ein namentlicher Ankläger" vorhanden ist, II. Z w e i t e P e r i o d e : Die Landgerichtsordnung Ferdinands I I I . fand auf dem flachen Lande eine zwar aus dem altdeutschen Schöffeninstitut hervorgegangene, aber doch ganz eigenthüinlich gestaltete Einrichtung in dem unparteiischen Geding vor — eine Einrichtung. 20

Vgl. insbesondere § 16.

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11.

österreichische Particulargesetzgeng üer Strafprozess

welche sie offenbar mit einigem Widerstreben und unter wichtigen Einschränkungen beibehielt. Das eigentümliche dieser Einrichtung liegt darin, dass an der Verhandlung ein Richter im Sinn des deutschen Mittelalters als Träger der richterlichen Gewalt sich gar nicht betheiligt, sondern dass die vierzehn Gedingsinänner auf den Vorschlag des vom Landgericht aus ihrer Mitte designirten Gerichtsschreibers den Richter ebenfalls aus ihrer Mitte selbst wählen. Nach der Signirung des Gedings hat der Gedingsschreiber die gesammten Akten vorzulesen, hierauf wird der Beschuldigte vorgerufen und vernommen, Und sodann zur Urtheilsfällung geschritten, bei welcher im Fall der Stimmengleichheit der Richter den Ausschlag giebt, wTenn er es nicht vorzieht, dein Landgerichtsherrn, und wenn dieser nicht sprechen will, der nieder-österreichischen Regierung unter Vorlegung aller Akten und der b e i d e r s e i t s v o r g e b r a c h t e n E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e die Entscheidung anheim zu stellen. Es ist leicht zu erkennen, dass dieses Volksgericht, berufen ohne Intervention eines Juristen ein auf die Akten sich stützendes Urtheil sannnt Entscheidungsgründen abzugeben, sich auf die Dauer nicht halten konnte. Uebrigens ist ihm in der Landgerichtsordnung selbst der Boden schon dadurch entzogen, dass dem Landgerichtsherrn die Wahl bleibt, entweder ein „unparteiisches Geding" zu besetzen, oder „für sich selbsten oder durch seinen Venvalter, mit Zuziehung verständiger Leuth in genügsamer Anzahl (deren wenigstens sechs sein sollen) das Urtheil zu verfassen". Dass unter den sechs verständigen Leuten Rechtsgelehrte gemeint seien, lässt sich nicht geradezu behaupten, doch werden die Landgerichtsherren ermahnt (I Art, 41 § 6), dass sie „ihren Pflegern oder Landgerichtsverwaltern nicht allein trauen, sondern alles durch Unsere bestellte, oder andere in peinlichen Sachen erfahrene Rechtsgelehrte in reife, wohlerwogene Ber a t u n g ziehen lassen", oder, wie es an einer anderen Stelle ( I I Art. 100) lieisst, „ihr Vertrauen nicht nur auf Pfleger, Beamte, Bürger und Bauern, die in einer so wichtigen Sache nicht genugsam erfahren sind, setzen, sondern dazu auch Rechts-Gelehrte und zwar solche, welche in specie in denen Criminalibus erfahren sind, gebrauchen" 2 1 . 21 In dem (1751 erschienenen) Commentar von B r a t s c h wird bezeugt, dass das unparteiische Oeding völlig abgekommen sei und das Urtheil von sechs Rechtsgelehrten gefällt werde. In den Städten kam schon zur Zeit Ferdinands III. die Urtheilsfällung dem Richter und Rath zu; allein diesen war schon durch die Landgerichtsordnung die Einholung des Rathes Rechts verständiger und die Vorlegung der Bei- und Endurtheile an die niederösterreichische Regierung „zu fernerer Erkenntniss" zur ausnahmslosen Pflicht gemacht. Bei schwereren Verbrechen ist die

während der Epoche des g e e i n e n deutschen Inquisitionsprozesses.

H

Was die Procedur betrifft, so steht sie durchaus unter dem Einfluss der zu jener Zeit herrschenden Theorie des gemeinen Criminalprozesses. Besondere Aufmerksamkeit verdient die scharfe Gegenüberstellung des accusatorischen und des inquisitorischen Prozesses. Der erstere tritt ein, wo eine Anklage vorliegt, oder wo der Beschuldigte zur Purgation 2 2 angehalten wird; der letztere auf Grund einer Denuntiation oder im Falle der eigentlichen Inquisition „auf einkommene erhebliche Anzeigungen", „damit die Frommen in Sicherheit und die Bösen in Forcht der Nachstellung und Strafe erhalten, das Land auch von schädlichen Leuthen gereiniget werde" (I Art. 22 § 1). Es handelt sich bei diesem Gegensatz nicht lediglich um die Veranlassung zur Einleitung des Verfahrens, sondern um zwei durchaus verschiedene Formen der Procedur, was sich namentlich darin äussert, dass der Angeklagte im accusatorischen Prozess ein Hecht auf Beiziehung eines Advocaten und auf schriftliche Mittheilung der gegen ihn sprechenden Indicien hat, während dem Inquisiten das erstere in der Regel, das zweite jederzeit verweigert wird ( I Art. 20 und 3 4 ) 2 S . Die Theilung der Inquisition in General- und Specialuntersuchung ist ausdrücklich anerkannt; mit ganz besonderer Sorgfalt ist in dem Gesetz die Indicienlehre behandelt, sowohl im allgemeinen als bei den einzelnen Delicten wird ausführlich erörtert, welche Indicien zur Einleitung der Inquisition, welche zur Captur und welche endlich zur Verhängimg der Folter ausreichen. Was die letztere betrifft, so sucht die Ferdinandea, das Werk der Carolina mit demselben Eifer Aktenvorlage allen Gerichten ohne Ausnahme auferlegt. — Viel weniger bestimmt tritt die Tendenz, die Strafsachen lediglich von Juristen auf Grund der Akten entscheiden zu lassen, in Oberösterreich hervor; dort sind die landesfürstlichen Städte und Märkte nur angewiesen, das von ihnen und mindestens sieben anderen verständigen Personen formirte Malefizrecht „mit beschlossener Thür zu besitzen und was allda erkent wird, nachmahlen öffentlich unter dem Himmel zu publiciren". Auf dem Lande besteht das unparteiische Geding aus dem Bannrichter und „zwei Personen, welche von Alter her in demselben Landgericht zur Besetzung des Bannrechts gebraucht worden". Die Befragung von Rechtsgelehrten ist nur da zur Pflicht gemacht, wo Zweifel vorfallen (LGO Leopolds I. Theil I I Art. 34 u. Theil III Art. 40). 22 I Art. 19: Wann „kein Kläger, hingegen die That selber und genügsame Anzeigungen vorkommen, darwider der Thäter oder Verdächtige zu seiner Entschuldigung solche Behelf fürwendet, welche, wann sie erwiesen wurden, ihne von aller Straff entledigten, oder dieselbe münderten". 23 Freilich ist anerkannt, „dass eine rechtliche Anklag und Inquisition von Amtswegen einander nicht hindern, sintemahlen der Richter neben dem Kläger jederzeit dasjenige thun kann und soll, was zur Erkundigung der Wahrheit und Bestrafung des Uebels am Nützlichsten ist" (I Art. 22 § 4, vgl. I I Art. 15 § 4). Binding, Handbuch. IX. 4. I :

G l a s e r , Strafprozess.

I.

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8 11. Die österreichische Particulargesetzgelmng üher Strafprozess

und mit derselben Erfolglosigkeit weiter führend, gegen den Missbrauch dieses sogenannten „Wahrheitserforschungsmittels" und gegen die aus seiner Anwendung für Unschuldige entspringenden Gefahren Vorkehrungen zu treffen. Namentlich ist auch die Frage erörtert, wie oft die Tortur wiederholt werden dürfe. Uebrigens ist weder von Instanzentbindung noch von blosser Verdachtsstrafe die Rede. Derjenige, welcher die Tortur überstanden hat, ist los und ledig zu sprechen 24 . Appellation findet nicht statt, wohl aber ist dem Gefangenen, welcher „wider diese Unsere Ordnung von einem Gericht beschwaeret wird, unverwehrt solche Beschwär an Unsere Regierung zur billigen Abhelffung gelangen zu lassen" (I Art. 50 § 1). III. D r i t t e P e r i o d e : 1. Die peinliche Gerichtsordnung Josephs I. für Böhmen, Mähren und Schlesien v. 16. Juli 1707 ist vor allem dadurch ausgezeichnet, dass sie in einer sehr nachdrücklichen Weise in den Händen der Prager Appellationskaminer als eines königlichen mit Juristen besetzten Gerichtes 25 die Strafrechtspflege von Böhmen concentrirt; bei ihr allein soll die Rechtsgewährung gesucht werden, und deren Einholung soll erfolgen, wenn der „UnterRichter über die vollführten Inquisitionsakten selbst zu sprechen oder nicht vermag oder nicht per expressum privilegiret ist" (Art. 14 § 1). Aber selbst in jenen Fällen, wo der Unter-Richter zu sprechen be24

Auch hierin erwies sich die Praxis härter als das Gesetz. Vgl. Β r a t s c h S 82 ff., wo die Zulässigkeit einer ausserordentlichen Strafe in solchem Fall bestritten wird. Zu beachten ist auch die interessante Erörterung S 87 — 91, wie es in jenem Fall gehalten werden soll, wo der durch keinem Zweifel Raum gebende Beweise überfülirte auf dem Leugnen beharrt. Nicht undeutlich wird hier die Anwendung der Tortur, von welcher an manchen Orten „in P>wegung, dass auch dieses Mittel entweder ohnzulänglich oder unchristlich wäre", Umgang genommen werde, daraus abgeleitet, dass man von der gesunden Regel des römischen Rechts abgewichen sei, nach welcher auch indicia ad probationem indubitata et luce clariora, „die ex certitudine morali entspringende Conviction", als zur Verhängung der ordentlichen Strafe ausreichend angesehen wurden, und mit Nachdruck wird der Widerspruch betont, in welchen man geräth, wenn man auf solche Grundlage hin zwar nicht die Todesstrafe, wohl aber die derselben zunächst kommende Strafe verhängen zu sollen meint. 25 Das von Ferdinand I. im Jahre 1548 errichtete Prager Appellationsgericht, welches auch für Mähren, Ober- und Niederschlesien und die Lausitz bestimmt war, zählte bei seiner Errichtung neben vier Mitgliedern aus dem Herren-, zweien aus dem Ritterstande und fünf Prager Bürgern auch vier „aus den Doctoren" genommene Mitglieder. (Graf A u e r s ρ erg, Geschichte des königl. böhmischen Appellationsgerichts. Prag 1805. S 14. 15.) Zur Zeit als die Josephina ins Leben trat, stand es übrigens schon längst fest, dass a l l e Mitglieder des Appellationsgerichts geprüft sein mussten (S 94).

während der Epoche des g e e i n e n deutschen Inquisitionsprozesses.

rechtigt war, ist dein Verurteilten das Recht der Appellation in solchem Umfange eingeräumt, dass es ihm durch keine Fristversäumniss, ja selbst nicht durch ausdrückliche Unterwerfung verloren gehen und dass das Rechtsmittel noch im Moment der Execution mit voller Wirkung angebracht werden kann (was allerdings auch in gleicher Weise vom Begnadigungsgesuche gilt; Art, 21). Den Unter-Gerichten ist überdies aufgetragen, der Appellationskamnier vierteljährige Berichte über die Gefangenen zu erstatten (Beschluss § 1). Den Accusationsprozess unter ausdrücklicher Verweisung auf die Regeln des Civilprozesses aufrecht erhaltend, macht sich das Gesetz nur die genaue Regelung des Inquisitionsprozesses zur Aufgabe. Von besonderer Bedeutung ist namentlich die scharfe Sonderung der Specialuntersuchung von der Generaluntersuchung, welche letztere die s u m m a r i s c h e und daher in der Regel unbeeidigte Vernehmung aller Personen, „welche etwas von der That, deren Umständen und dem Thäter wissen", umfasst (Art. 3 § 10—13). Ausführliche Regeln über die Erhebung des Thatbestandes, über die Vernehmung der Zeugen, über die Art der Vornahme der Folter, über die Anlegung und Führung der Akten sind die hervorragendsten Eigentümlichkeiten dieser kürzesten aller Halsgerichtsordnungen. 2. Die Constitutio criminalis Theresiana vom letzten December 1768 hat zunächst eine hohe Bedeutung als das erste gemeinsame Gesetz der deutschen Erblande Oesterreichs. Von den älteren Gesetzen, auf welchen sie beruht, unterscheidet sie sich überdies durch die grosse Ausführlichkeit, mit welcher sie alle Einzelheiten des Prozesses regelt, alle Zweifel zu beheben sucht. I n der Hauptsache aber kann man sie nur als eine Zusammenfassung und Darlegung des älteren Rechts, als Abschluss der alten Zeit, nicht als Eröffnung der neuen ansehen. Vor allein macht sich die Richtung der Zeit auf Ausdehnung des Inquisitionsprozesses und — was damit zusammenhängt — Steigerung der Befugnisse des Staates dem Individuum gegenüber, Beseitigung aller das letztere schützenden Formen geltend. So wird das Recht in Anspruch genommen, in einzelnen Fällen das Verfahren durch Specialordnungen zu regeln (Art. 47 § 1). Die Regierung behält sich das Recht vor, in einzelnen Fällen eine förmliche Anklage zu erheben (Art. 23 § 5 ; Art. 24 § 1), das Recht der Privatanklage dagegen wird nunmehr definitiv beseitigt (daselbst § 3). Die Privatpersonen werden jetzt auf den Weg der Denuntiation verwiesen (ein Weg, welcher übrigens nicht immer dagegen schützte, zur Cautionsleistung angehalten und selbst in Haft genommen zu werden — Art, 28 § 17), und es wird ihnen dieselbe für jene 8*

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Verbrechen, welche eine „Todes- oder schwerere Leibesstrafe auf sich tragen", zur strengen Pflicht gemacht (Art. 28 § 4). Der Purgationsprozess ist zwar beibehalten und noch bis zu dem Grade an die accusatorischen Formen gebunden, dass dem Beschuldigten ein eigens aufgestellter Impugnant entgegengesetzt wird, allein die Zulassung des Purgationsprozesses unter den vom Gesetz bestimmten Voraussetzungen ist in das Ermessen der Obergerichte gestellt (Art. 51 § § 2 und 6). Andererseits wrird das s t a n d g e r i c h t l i c h e V e r f a h r e n 2 6 zwar nicht neu aufgenommen, aber doch hier zuerst in den Rahmen der normalen Gesetzgebung eingefügt. Der eben angedeuteten Richtung entspricht auch die A r t , wie die Theresiana die Voraussetzungen der Ueberweisung und die verschiedenen Formen des Endurtheils feststellt. Während für Verbrechen, „die an Leib und Leben gehen oder eine dem Tod gleichende Bestrafung nach sich ziehen", der alte Grundsatz festgehalten wird, dass niemand auf Indicien hin und seien sie auch noch so stark, zur ordentlichen Strafe verurtheilt werden könne, und obgleich die Zulassung cler Folter nur insofern eingeschränkt ist, als jetzt ausnahnilos das Erkenntniss der obergerichtlichen Bestätigung bedarf: wird doch nicht blos die ausserordentliche Strafe in der Form der Verdachtsstrafe 27 in grosser Ausdehnung zugelassen, sondern es ist daneben auch noch für die Instanzentbindung 28 und den Reinigungseid (Art. 39 § 12) weiter Raum gelassen. — Nicht minder ist hier zu erwähnen, dass auch nach geschlossener Inquisition dem Inquisiten 26

Der leitende Gedanke für das standgerichtliche Verfahren ist Art. 49 § 6 ausgesprochen: „Ob zwar im Standrecht auf das Schleunigste und gleichsam ohne alle Formalität verfahren wird, so ist gleichwohlen dabei all dasjenige, was die natürliche Rechten zur Verteidigung erheischen und die Wesenheit des Beweisthums mit sich bringet, zu beobachten". 27 Ausserordentliche Strafe als Verdachtsstrafe findet statt: 1. wenn der Inquisit „weder geständig, weder überwiesen, weder die peinliche Frage statt haben kann, gleichwohlen aber ein halber Beweis oder sehr starke Anzeigungen der begangenen That halber gegen denselben fürwalten" (Art. 39 § 11); 2. wenn ein torquirter Uebelthäter sich nicht genugsam gereinigt hat, sei es, dass er einzelne Umstände zugegeben, sei es, dass er bereits auf der Folter das Bekenntniss abgelegt und es später widerrufen hat, „wenn seine Widerrufung ganz unwahrscheinlich und boshaft zu sein befunden wird" (Art. 38 § 29). 28 In Stellvertretung des Reinigungseides ; Art. 39 § 12. (Ueber die Bedenken, welche gegen den Reinigungseid bei der Berathung der Theresiana auftauchten, finden sich interessante Mittheilungen bei v. M a a s b u r g , Zur Entstehungsgeschichte der Theresianischen Halsgerichtsordnung. Wien 1880. S 28 if.) Noch immer übrigens tritt die Instanzentbindung nicht in der Form eines eigentlichen Endurtheils auf. Es heisst: „Wenn aber aus Abgang genügsamer Beweisgründen

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ein Rechtsverständiger zur Ausführung seiner Vertheidigung nur dann beizugeben sei, wenn er selbst daran durch Einfalt, Schrecken oder missliche Gesundheit gehindert, oder „die Malefizsache wegen mitunterlaufend-wichtigen Umständen an sich selbst gar verwickelt ist, oder wegen anderer vorkommend erheblichen Ursachen" (Art. 36 § 10). Dagegen tritt nun auch alles dasjenige immer deutlicher hervor, was, wie man meinte, den Verlust schützender Prozessformen dem Inquisiten reichlich ersetzen sollte: die immer weitergehende Concentrirung der Strafrechtspflege in den Händen der Staatsbehörden 29 , die Betonung der Pflicht des Richters, für die materielle Vertheidigung des Inquisiten 3 0 zu sorgen. Der Umstand, dass die Theresiana in vielen Punkten für die ganze spätere Entwickelung der Gesetzgebung und Praxis maassgebend blieb, rechtfertigt es wohl, wenn noch einige der wichtigeren Einzelheiten hervorgehoben werden. Wir finden in der Theresiana schon die strenge Sonderung der als Gerichtszeugen dem Inquirenten beigegebenen Beisitzer und der Urtheilsprecher. Zur Besetzung des urtheilsprechenden Gerichtes werden in erster Instanz mindestens 7 Rechtsprecher gefordert 31 . Wenn auch von allen Urtheilsprechern gefordert wird, dass sie „in dieser peinlichen Gerichtsordnung wohl erfahren" und beeidigt seien, so tritt doch schon die einflussreichere Stellung des R e f e r e n t e n darin hervor, dass er ein „im Lande angenommener" oder vom Obergericht eigens geprüfter Rechtsgelehrter sein muss (Art. 20 § 1 0 ) 3 2 . Die Stellung des Protokollführers und die Art der Aktenanlage ist zum erstenmal eingehend geregelt. Das Protokoll soll die w ö r t l i c h e entgegen den Inquisiten dermalen weder die Tortur, weder die Verurtheilung zur ordentlichen, weder zu einer ausserordentlichen Straffe Platz greiffen kann, jedennoch aber derselbe mit ziemlich-erheblichen, zur Zeit annodi nicht abgelernten Innzüchten beladen ist, und also im weiteren Verdacht des begangenen Verbrechens verbleibet, so solle er solchen Falls von der zugemutheten Uebelthat nicht blatterdings losgesprochen werden, sondern es ist indessen, bis stärkere Anzeigungen hervorkommen, die Inquisition nur lediglich einzustellen, und der Inquisii inmittelst wiederum auf freyen Fuss zu setzen; anbey ist solche Bewandniss, dass dieser Inquisit der ihme zugemutheten Missethat halber annoch im Verdacht verharre, behörigermassen gerichtlich fürzumerken, und die mit demselben verführte Inquisitions - Acten alles Fleisses aufzubehalten". 29 Vgl. namentlich Art. 21 und den von den Obergerichten handelnden Art. 22. 30 Art. 86 §§ 1—6. 31 Art. 20 § 8. Beim Obergericht müssen in Fällen, wo die erste Instanz auf die Todesstrafe erkannt hat, „9 oder wenigstens 7 Räthe", ausserdem wenigstens 5 Räthe bei der Aburtheilung der Sache mitwirken. 32 Beim „Inquisitions-Richter" wird dies noch nicht gefordert.

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Niederschrift der Aussagen enthalten, es wird daher nicht vom Inquirenten dictirt, welchem es nur obliegt, „auf das Thun und Lassen desjenigen, so das Protokoll fühlt, genaue Obsieht zu tragen, demselben den erforderlichen Unterricht" zu ertheilen und die Richtigkeit seiner Aufzeichnungen zu prüfen 3 3 . Auch des Gebärden-Protokolles geschieht schon Erwähnung 3 4 . Immerhin aber hielt man es noch für ausführbar, der e r s t e n Instanz vorzuschreiben, dass im Spruchcollegiuni die Akten „ihrer Ordnung nach Stück für Stück vorgenommen und abgelesen" wrerden, nicht „bloss Auszugsweis vorzutragen seien, weilen sol ehergestalten zu Nachtheil des Inquisiten manche Umstände unbemerkt bleiben dürften, welche dem Referenten zwar unbeträchtlich scheinen, von den übrigen Beisitzern aber . . . als sehr erheblich angesehen wrerden können". Bei den Obergerichten freilich musste man demungeachtet schon damals t r a n s i g i m i 3 5 . Wichtig ist ferner die umfassende, in alle Einzelheiten eingehende Instruction für die Führung der Untersuchung, namentlich für die Erhebung des Thatbestandes und die ausführliche Theorie des Zeugenund Indieienbeweises. Letzterer hat noch immer weniger für das Endurtheil als für die Einleitung der Specialuntersuchung und für die Verhängung der Folter Bedeutung 3 6 . Der Gang cler Untersuchung ist bezeichnet durch die E i n t e i l u n g der Inquisition in generalissima (welche eigentlich nur polizeiliche Streifungen umfasst), generalis und specialis. Die General-Inquisition oder der Informativ-Prozess findet statt, wenn man entweder der That „nicht vollkommen vergewissert ist" oder „noch keine Anzeige und gegründeter Verdacht auf eine gewisse Person" vorhanden ist (Art. 25 § 4). Das summarische Verhör der Zeugen fällt in die Generaluntersuchung. Ist die Specialuntersuchung eingeleitet, so ist, wenn nicht zur Captur genügende Indicien vorliegen oder es sonst zulässig erscheint, den Beschuldigten auf freiem Fuss zu lassen, dem Ermessen des Gerichts auch anheimgestellt, ihm e i n e s c h r i f t l i c h e V e r antwortung abzufordern (Constitutiv-Prozess)37 oder eine Amtsperson z u r E r h e b u n g d e r o r d e n t l i c h e n K l a g e aufzustellen (Art, 29 §§ 2 ff.). Ausserdem aber ist das s u m m a r i s c h e 33

Art. 20 §§ 14—22. Die äussere Form cler Akten ist durchaus die noch heute in Oesterreich übliche. 34 Art. 20 § 19. 3 * Art. 39 § 4. 3(i Der dreifachen Eintheilung in entferntere, nahe und allernächste Indicien entspricht die Eignung zur Special-Inquisition, zur Captur und zur peinlichen Frage. Art. 27 § 12. 37. 37 Art. 47; vgl. H u p k a , Lehrbegriff des peinlichen Rechts. Wien 1784. § 70 f.

während der Epoche des g e e i n e n deutschen Inquisitionsprozesses.

Yenhör vorzunehmen, und wenn nicht auf Grund desselben sofort zum Endurtheil geschritten werden kann, folgt sodann das o r d e n t l i c h e Verhör 3 8 , welches auch als a r t i c u i i r t e s bezeichnet wird (Art. 31 § 19). Eigentümlich ist die V e r h ö r s b e s t ä t i g u n g , welche auch dein gütlichen Verhör in der Weise folgen muss, dass dem Inquisiten „sogleich oder da er etwa selbigen Tages von Schrecken und Verwirrung eingenommen wäre, den dritten Tag" nach Schluss seiner Aussage dieselbe nochmals von Wort zu Wort vorgelesen und er befragt wird, ob dies seine rechte Meinung sei (Art, 31 § 13) — und die Vorschrift über die nach beendigter Inquisition dem Inquisiten einzuräumende dreitägige Bedenkzeit (Art. 36 § 7). Durchaus abweichend vom bisherigen Recht ist die Regelung des Instanzenzuges. Während nämlich einerseits der Satz festgehalten wird, „in peinlichen Sachen habe die Appellation nicht statt", ist ein Surrogat für dieselbe schon darin zu sehen, dass in allen wichtigeren oder schwierigeren Sachen 39 sowohl die Bei-(Beweis-) als die Endurtheile dem Obergericht zur Bestätigung vorgelegt werden müssen (Art. 21 § 5). Nun kommt aber noch hinzu, dass „den Verurtheilten der Recurs an Uns" gegen jedes Endurtheil, das standrechtliche ausgenommen — gewährt wird, „in welchem dieselbe nicht nur allein alle im Wege der Gnade ihnen vorträglich sein mögende Beweggründe, sondern auch all jenes, was sie allenfalls i m W e g e R e c h t e n s ihnen zugute zu kommen glauben, anführen können" (Art, 42 § 1). Ein Unterschied wird nur in Bezug auf den Suspensiv-Effect des Recurses gemacht, In Sachen, „welche einen unwiederbringlichen Schaden auf sich tragen" 4 0 , bewirkt der rechtzeitig (binnen 48 Stunden nach Ankündigung des Urtheils) angemeldete Recurs Aufschub der Vollstreckung, sonst aber nicht, Zur Ausführung des angemeldeten Recurses (wozu in der Regel die Frist 14 Tage beträgt) kann sich der 38 Der Hauptunterschied zwischen dem summarischen und dem ordentlichen Verhör wird darin gefunden, dass hei ersterein die Aufzeichnung der Fragen entbehrlich ist. Art. 81 § 2. Vgl. G l a s e r , Ueber die Specialuntersuchung, in Haimerls Vierteljahrsschrift I I 248 ff.; Ges. kleine Schriften S 655 ff. 39 Ohne Rücksicht auf die Natur des Verbrechens oder der demselben drohenden Strafe muss die Aktenvorlage erfolgen, wenn bei gleich getheilten Meinungen die Stimme des Vorsitzenden allein den Ausschlag zu geben hätte, wenn eine Verurtheilung auf blosse Indicien oder die alleinige Aussage zweier Mitschuldigen hin erfolgen soll (die Randglosse sagt: si ex certitudine morali fiat convictio), „überhaupt in all solchen Fällen, welche nicht allein den Rechtsprechern zweiffelhaftig sind, sondern auch an sich selbst nicht klar sind". 40 In solchen Fällen können den Recurs auch die nächsten Angehörigen des Verurtheilten und dessen Grundobrigkeit anmelden. Art. 42 § 8.

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§ 12.

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Inquisit eines Rechtsfreundes oder „in dessen Abgang eines anderen verständigen Mannes", ev. eines ihm beizugebenden Gerichtsbeamten bedienen, welchem „RecursVerfasser sowohl ungehinderter Zutritt und freie Unterredung mit dem Recurrenten, als auch die Einsicht in die Inquisitionsakten in jedesmaliger Gegenwart einiger Gerichtspersonen zu gestatten" i s t 4 1 . Der Recurs wird mit allen Akten dem Obergericht vorgelegt, welches zunächst das Verfahren und das Urtheil vom Rechtsstandpunkte zu prüfen und zu entscheiden hat, „ob das Urtheil im Weg Rechtens zu bestätigen oder abzuändern sei" 4 2 , sodann aber zu erwägen hat, „ob der Gnadenwerber aus den sowohl von ihm selbst beigebrachten als von dein Halsgericht von Amtswegen beigeruckten und ansonst vorkommenden Bewegursachen" einer Begnadigung würdig zu achten sei. Entscheidet sich die Mehrheit für die V e r n e i n u n g dieser Frage, so wird das Erkenntniss des Obergerichts ausgefertigt und vollstreckt. Im entgegengesetzten Falle ist die landesfürstliche Erschliessung einzuholen und abzuwarten. § 12.

D i e C o d i f i c a t i o n e n z u B e g i n n des 19. J a h r hunderts

Von den Gesetzbüchern der drei grössten deutschen Staaten, Oesterreich (1803), Preussen (1805) und Bayern (1813), ist das des 41

Noch zuletzt war von einflussreicher Seite die Frage aufgestellt worden, oh nicht Advocaten von der Verfassung der Recurse ganz auszuschliessen seien; siehe clie Gegenbemerkung der Commission bei Maas b u r g S 37—40. 42 Art. 42 § 14. Ob eine Abänderung zum Nachtheil des Recurrenten zulässig sei, ist nicht ausdrücklich entschieden, doch scheint es so, da der Oberrichter prüfen soll, ob „der Tliäter weder zu gelind, weder zu scharf sondern mit gemessener Bestrafung angesehen worden". 1 G l a s e r in HH I 7 ff". — Uebersicht der Literatur der drei Criminalprozessgesetze bei K a p p 1er S 963 ff. — Zur p r e u s s i s c h e n CrGO insbesondere P a a l z o w , Commentar zur Criminalordnung in den preussischen Staaten. Berlin 1807. R i c h t e r , Handbuch des Strafverfahrens in den königl. preussischen Staaten. 4 Bände Königsberg 1830, 1831. H a f e m a n n , Handbuch des preussischen Criminalprozesses. 1832. — O e s t e r r e i c h : Als Vorläufer des Ges von 1803 sind wichtig die Josephinische Criminalgerichtsordnung von 1788 (Jos. Leonh. B a n n i z a , Gründliche Anleitung zu der allgemeinen Criminalgerichtsordnung. Innsbruck 1790) und das w e s t g a l i z i s c h e StGB von 1796. Zum Ges von 1803 vgl. H e r b s t , Einleitung in das österreichische Strafprozessrecht 1. Hauptst. G und U l i m an η >§ 5. E g g e r , Kurze Erklärung des österreichischen G etc. 3 Bände Wien u. Triest 1816, 1817. Je n u l l , Das österreichiselie Criminalrecht. 3. Aufl. Wien 1837. Bd. 3 u. 4. V i s i n i , Beiträge zur Criminal - Rechtswissenschaft. 4 Theile Wien 1839—1843. K i t k a , Erhebung des Thatbestandes. Wien 1831. D e r s e l b e , Beweislehre im österreichischen Strafprozess. Wien 1844. — Ve s que ν. P ü t t l i n g e n , Darstellung

§ 12.

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ersteren das Ergebniss wiederholter Umarbeitung der Josephinischen Criminalgerichtsordnung von 1788, welche in beispiellos schroffem Uebergang sich an die Stelle der Theresiana und des in ihr noch verkörperten Rechts des 17. Jahrhunderts gesetzt hatte. Das ]) r e u s si s che Gesetz bewirkt in vorsichtigerer Weise, an die gemeinrechtliche Theorie sich anschliessend, deren Fortentwickelung unter Wahrung ihres Kernes. Das b a y e r i s c h e Gesetz endlich ist nicht ohne Hinblick auf das französische Recht und nicht ohne Rücksicht auf Reformideen bearbeitet worden, welche schon über den Kreis des gemeinen Prozesses hinausreichen; F eu er b a c h hatte wenigstens hierauf abzielende Versuche gemacht ; allein diese „schönsten, glänzendsten Ideen", wie er selbst sagt, „stürzten zuletzt im geheimen Rathe", sie fanden ihren Weg nicht in das Gesetz, und dieses ist daher gleich den beiden anderen nichts als der reine Ausdruck der geläuterten Auffassung des gemeinen deutschen Criminalprozesses, wie sich derselbe nach Ausstossung der Folter unter den Händen eines gewissenhaften und wohlwollenden Richters gestalten musste. Festhalten an der inquisitorischen Natur des ganzen Prozesses, Erzwingung zwar nicht des Geständnisses, aber doch der eingehenden und wahrheitsgetreuen Verantwortung über die Beschuldigung, nötigenfalls durch Ungehorsamsstrafen, Concentrirung der Aufgaben der der Urtheilsfällung vorausgehenden Procedur in der Person eines unter der Aufsicht eines Collegiums stehenden rechtsgelehrten Inquirenten, der in der Erlangung eines Geständnisses den eigentlichen Erfolg seiner Thätigkeit zu sehen hat, schrankenlose Macht dieses Inquirenten, nur wenig abgeschwächt durch wohlgemeinte Vorsorge für die Aktennlässigkeit seines Vorgehens und Verbot der ärgsten Uebergriffe (Anwendung von Gewalt, Lügen, Suggestiv - Fragen u. dergl.), Urtheilsfällung auf Grund eines aktenmässigen Referates, eingehende Regelung der an den Beweis zu stellenden Anforderungen. Gestattung der Verurtheilung auf Grund von Indicien, Zulassung einer ausserordentlichen Strafe bei nicht völlig beruhigendem Beweis der Schuld, Beschränkung der vollständigen und vorbehaltlosen Freisprechung auf jene Fälle, in welchen die Unschuld des Inquisiteli ausser Zweifel steht, Gestattung der Berufung mindestens an eine zweite Instanz, Vorlegung der wichtigeren Fälle an ein höheres Gericht zur Prüfung und Bestätigung von Amts wegen — das ist das übereinstimmende der drei Gesetzbücher. — Daneben bestehen noch der Literatur des österreichischen G über Verbrechen und schwere Polizei-Uebertretungen. Wien 1833. — C a s t e l l i , Manuale ragionato del codice penale . . . 4 voll. Milano 1833, 1834. Gius. B o c r i o , Pratica del processo dedotto dal Codice etc. Venezia 1815. C o s t a n t i n i , Sopra l'esame de' testimoni. Venezia 1827.

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sehr erhebliche Divergenzen. So zieht das ö s t e r r e i c h i s c h e Gesetz wohl die äussersten Consequenzen des Inquisitionsprincips, indem es vom Verfahren erster Instanz den Vertheidiger ganz ausschliesst ; nur zur Ausarbeitung des schon angemeldeten Recurses gegen das Urtheil wird dem Verurtheilten ein Vertheidiger zugegeben, der sich aber mit den Urtheilsniotiven und einer Unterredung in Anwesenheit einer Gerichtsperson begnügen muss. I n F r e u s s e η ist dem Vertheidiger ein viel weiterer Spielraum gewährt, da er nicht blos die Verteidigungsschrift und die weitere Vertheidigung ausarbeitet , sondern auch dem articulirten Verhör oder dessen Surrogat, der Vernehmung über die species facti, und der Vernehmung der Zeugen beiwohnen kann. Letztere Berechtigung kommt ihm in B a y e r n nicht zu; dagegen kann er sich mit dem Gefangenen ohne Beisein einer Gerichtsperson besprechen, während in F r eusse η die Unterredung zwar obligatorisch ist — wobei der Vertheidiger clen Angeschuldigten auch „über seine Behandlung während der Untersuchung zu befragen" hat , allein immer in Gegenwart des Richters oder des Protokollführers stattfindet. Unter den drei Bearbeitungen der Beweistheorie steht die preussische (lerDoctrin des vorigen Jahrhunderts am nächsten: sie lässt auf Grund der Indicien allein eine Verurtheilung zur ordentlichen Strafe überhaupt nicht, eine Verurtheilung zur Todesstrafe auch auf Grund anderer Beweise in Ermangelung des Geständnisses nur dann zu, wenn über die Vollständigkeit des Beweises zwei Drittheile des sprechenden Collegium« einig sind. Das österreichische und bayerische Gesetz dagegen lassen auf Grund des Indicienbeweises Verurtheilung zur ordentlichen Strafe zu, sofern diese nicht die Todesstrafe ist (Oesterreich § 430, Bayern Art, 330). Eben weil die preussische Criminalgerichtsordnung die ausserordentliche Strafe in ausgedehntem Maasse gebraucht, sichert sie der richterlichen Beurtheilung des einzelnen Falles einen sehr weiten Spielraum. Allein die Frage, ob ein vollständiger Beweis erbracht sei, ist in ihrem Sinne eine reine Rechtsfrage, wenngleich § 393 doch wieder einen allgemeinen Grundsatz aufstellt, der die individuelle Beurtheilung herausfordert: „wenn für die Wahrheit eines Unistandes vollkommen überzeugende Gründe vorhanden sind und nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge ein bedeutender Grund für das Gegenteil nicht wohl denkbar ist". — Noch bestimmter trägt die Beweistheorie des bayerischen Gesetzes den p o s i t i v e n Charakter; sie ist übrigens mit der grössten Klarheit und Bestimmtheit gearbeitet und darf wohl als das vollendetste Product der auf die Ausbildung der gemeinrechtlichen Beweistheorie verwendeten Arbeit angesehen werden. Die des österreichischen Gesetzes steht ihr an technischer Vollendung

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weit nach; allein in ihrer Fassung tritt überall schon jene wesentliche Modification der Bedeutung der gesetzlichen Beweisregeln hervor, die man später durch die Aufstellung der Kategorie der n e g a t i v e n Beweistheorie charakterisirt hat und in welcher man eine Zeit lang die letzte, aber sichere Zufluchtsstätte der gemeinrechtlichen Traditionen gefunden zu haben meinte. Natürlich übt die verschiedene Behandlung des Beweisrechtes auch Einfluss auf die F o r m e n des E n d u r t h e i l s . Das österreichische Gesetz unterscheidet: L o s s p r e c h u n g (Schuldloserklärung), A u f h e b u n g d e r IT η t e r s u c h u η g aus Abgang rechtlicher Beweise, V e r u r t h e i l u il g (mit der schon angeführten Beschränkung bezüglich der Todesstrafe). Die Nachtheile der Instanzentbindung bestehen darin, dass eventuell „zweckmässige politische (polizeiliche) Vorkehrungen getroffen werden", dass der Entlassene die Kosten des Strafverfahrens zu ersetzen hat; auch ist die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen neu gefundener Beweise leichter zu erreichen als bei eingetretener Lossprechung (§§ 455. 473, 474 und 537). — Die p r e u s s i s c h e Criminalgericlitsordnung unterscheidet : Verurtheilung zur o r d e n t l i c h e n Strafe, Verurtheilung zur a u s s e r o r d e n t l i c h e n Strafe ( „wenn mehrere Anzeigen in einem Falle zusammentreffen, welche mit einander übereinstimmen und durch den schlimmen Charakter des Verdächtigen und die bisherige schlechte Lebensart desselben unterstützt werden", wobei die Schwere der Strafe auch von dem Gewicht der vorhandenen Beweise abhängig gemacht wird — §§ 405, 406), die v o r l ä u f i g e L o s s p r e c h u n g oder Instanzentbindung („wenn der eigentliche Hergang der Sache gar nicht hat aufgeklärt werden können und der Verdächtige den gegen ihn streitenden Verdacht nicht hat ablehnen können" — § 409), endlich die g ä n z l i c h e F r e i s p r e c h u n g , die jedoch verschiedene Wirkungen hat, je nachdem sie sich „auf den vollen Beweis der Unschuld gründet" oder „auf den Mangel an Beweisen" — 413, 4l4. Die erste Art der Freisprechung schützt gegen jede Erneuerung der Untersuchung. Der von der Instanz entbundene hat die Kosten des Verfahrens zu tragen und verfällt eventuell der Polizeiaufsicht — §§ 410, 609, 6 1 7 . — Das b a y e r i s c h e Gesetz unterscheidet 1. das U n s c h u l d s e r k e n n t n i s s (Art, 353—358): „dass derselbe vollkommen für unschuldig erklärt werde" (auch in dem Falle, wo eine die Strafbarkeit „aufhebende" Einrede vollkommen erwiesen ist); 2. die L o s s p r e c h u n g : „nicht als schuldig befunden, daher von der Strafe freigesprochen" (wenn zwar die Unschuld nicht erwiesen ist, jedoch die Schuldbeweise so geschwächt sind, dass sie zur Einleitung der Specialinquisition nicht

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hinreichen würden, oder wenn eine die Strafbarkeit aufhebende Einrede nur bis zur Wahrscheinlichkeit gebracht ist); 3. E n t l a s s u n g v o n d e r I n s t a n z : „dass die Untersuchung wegen mangelnden Beweises einzustellen sei"; 4. V e r u r t h e i l u n g . Nur die beiden zuletzt erwähnten Urtheile ziehen die Verurtheilung des Inquisiten zum Kostenersatz nach sich (Art. 405. 407); nur die unter 1 und 2 erwähnten stellen die bürgerliche Ehre vollkommen wieder her (Art. 386) und sichern zwar nicht vollständig, aber doch in höherem Grade gegen die Wiederaufnahme der Untersuchung. Was die R e c h t s m i t t e l betrifft so kommt dem Angeschuldigten die Schriftlichkeit und der Mangel eines Organs der öffentlichen Anklage zu statten. Die eine ermöglicht den vollständigsten Devolutiveffect des Rechtsmittels, ja selbst eine Prüfung der Akten von Amts wegen durch eine höhere Behörde, die letztere bietet aber auch das Surrogat für das Berufungsrecht eines öffentlichen Anklägers. I n B a y e r n ist ausserdem der Vorstand des Criniinalgerichts. der eben darum kein Stinmirecht hat (Art, 13 Absatz 2), berufen, das Rechtsmittel der Revision zum Nachtheil des Angeschuldigten einzuwenden (Art, 368). Uebrigens ist in Bayern das System der z w e i Instanzen streng durchgeführt und die reformatio in pejus nicht ausgeschlossen (Art. 375). — Eigentümlich ist die preussische Einrichtung, nach welcher bei Verbrechen, die irgend ein Staatsinteresse unmittelbar berühren, oder wegen welcher auf Landesverweisung eines „bisherigen Untertans" oder auf eine härtere Strafe als körperliche Züchtigung oder dreijährige Einsperrung erkannt ist. die Urtheile dem Criminaldeparteinent des Justizministeriums zur Bestätigung vorzulegen sind (§§ 508—512), und zwar noch ehe sie in Rechtskraft erwachsen; in gleicher Weise sind Erkenntnisse der Untergerichte, die irgend ernstliche Strafen verhängen (mehr als „wöchentliches Gefängniss, 50 Thlr. Geldstrafe" oder „leichte Züchtigung", § 513), dem Obergerichte zur Bestätigung vorzulegen. Die „weitere Vertheidigung" ist dem Beschuldigten nur einmal gestattet; dagegen kann eine reformatio in pejus durch sie nicht herbeigeführt werden (§ 528). — Das ö s t e r r e i c h i s c h e Gesetz führt das System der drei Instanzen in dem Sinne durch, dass der Inquisit gegen zu seinem Nachtheile abgeänderte Erkenntnisse des Obergerichts den Recurs an die d r i t t e Instanz ergreifen kann (§ 462 b). Der Recurs des Beschuldigten kann zwar nicht den Anlass geben, „auf eine strengere Behandlung desselben zu erkennen" (§ 467) ; allein es findet auch hier eine sehr ausgedehnte Prüfung der unterrichterlichen Urtheile durch höhere Gerichte statt. Dem Obergerichte müssen nämlich die Urtheile wegen einer

§ 13.

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Reformbestrebuiigen bis 1848.

sehr grossen Anzahl wichtigerer Verbrechen (§§ 433, 434) mit der Wirkung vorgelegt werden, dass dasselbe sowrohl zu Gunsten als zum Nachtheil des Inquisiten sie abändern kann; ausserdem müssen ihm aber alle Urtheile vorgelegt werden, welche gegen einen „leugnenden Beschuldigten" ergehen oder auf mehr als fünfjährige Freiheitsstrafe, Landesverweisung, öffentliche Ausstellung oder körperliche Züchtigung lauten (§ 435), hier jedoch nur im Interesse des Beschuldigten. I n gewissen Fällen (Hochverrath, Missbrauch der Amtsgewalt, Creditspapierverfälschung, § 442), bei wesentlicher Verschärfung des Urtheils der ersten Instanz durch die zweite, endlich wenn auf Todes- oder lebenslange Kerkerstrafe erkannt ist, muss das Urtheil des Obergerichts der dritten Instanz zur Bestätigung vorgelegt werden (§ 443). § 13.

N o t w e n d i g k e i t und R i c h t u n g der b e s t r e b u n g e n bis 1848.

Reform-

Mit vorstehenden ι glauben wir den Zustand bezeichnet zu haben, zu welchem der Criminalprozess in Deutschland, seiner eigenen Entwickelung überlassen, gelangt ist. Hat man die Grundlagen des ganzen allein vor Augen, so kann man sich der Einsicht wohl kaum verschliessen, dass hier ein äusserstes erreicht, dass der Weg von einem äussersten zum anderen vollendet ist. Gänzliche Nichtachtung des öffentlichen Interesse, völlige Unthätigkeit des Gerichts, rückhaltloses Hingeben des Prozesses an die Parteien, starrer Formalismus, der bei Bestimmung der Beweismittel sogar mit der eigensten Natur der Dinge in Widerstreit geräth, das sehen wir am Ausgangspunkte ; am Endpunkte dominirt überall das öffentliche Interesse, die eine der beiden Parteien ist verschwunden, die andere zu fast ganz passivem Verhalten angewiesen; das Gericht leitet, sieht, erforscht, entscheidet, fast an keine Form gebunden, alles nach eigener Einsicht; beinahe jeder Weg, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, ist erlaubt, und alles muss beachtet werden, Avas für Bildung einer festen Ansicht Anhaltspunkte zu versprechen scheint. So hatte am Anfang dieses Jahrhunderts das Inquisitionsprincip sich Bahn gebrochen und alle Theile des Prozesses sich unterworfen. Was seitdem geschehen ist, lebt noch im frischen Andenken aller ; befinden wir uns ja noch inmitten des neuen Entwickelungsprozesses, der begann, als das siegende Inquisitionsprincip sich in seinen letzten Consequenzen durchgesetzt hatte und jene Gegenbewegung hervorrief, die unter solchen Umständen unvermeidlich ist. Man fing an zu bemerken, dass jenes öffentliche Interesse, welches der Theorie gemäss den ganzen Prozess durchdringt, mitunter sich

126

S 13.

N o t w e n d i g k e i t und Richtung

besser befinden würde, wenn ein lebender Mensch statt eines Princips für seine Durchsetzung thätig wäre — dass die Anforderungen, die dieses Prozessprincip an Inquirenten und urtheilende Richter stellt, über die Grenzen dessen hinausreichen, Avas gewöhnliche Menschen zu leisten vermögen — dass die Gründlichkeit der in e i n e r Hand liegenden Untersuchung, die Notwendigkeit, für jeden Schritt und jede Unterlassung die aktenmässige Verantwortung bereit zu halten, den Prozess schleppend macht und ihm jene Energie benimmt, deren er vermöge der Elemente, denen er entgegentreten soll, bedarf dass die wehrlose Stellung des Inquisiteli leicht missbraucht wird, noch öfter aber dazu dient, seinem Geständniss den Werth zu nehmen - dass der Wegfall aller Formen den Prozess seiner specifisch juristischen Natur entkleiden und seine Ergebnisse schwankend machen muss dass die gesetzliche Beweistheorie in ihrer Anwendung auf die nur aus den Akten dem urtheilenden Richter entgegentretenden Thatsachen mehr und mehr dem Leben sich entfremdet. Andererseits hatte der gemeine deutsche Criminalprozess unzweifelhaft die höchste Stufe jener Vollendung erreicht, deren er überhaupt fähig war. Ohne Zweifel konnten Reformen in der Gerichtsverfassung. Umgestaltungen einzelner Räder im Mechanismus des Prozesses erdacht werden, welche einzelne Uebelstände beheben, mancherlei Missbräuche beseitigen oder doch einschränken konnten. Eine principielle Umgestaltung von innen heraus, eine durchgreifende Veränderung ohne Verleugnung der geschichtlichen Grundform, ohne Heranziehung fremder Grundgedanken war dagegen nicht mehr möglich und zwar deshalb nicht möglich, weil alle Hauptstützen des Systems mit einander in einer solchen Verbindung standen, dass sie zwar in logischen Untersuchungen und auf dem Papier entworfenen Bauplänen, nicht aber in lebendiger Ausführung von einander getrennt werden konnten. Man braucht, um sich davon zu überzeugen, nur diejenigen Punkte ins Auge zu fassen, bezüglich welcher heute niemand mehr zweifelt, dass sie unhaltbar waren und welche von Anfang an den tiefer blickenden als Schattenseiten erscheinen mussten, die man sich nur eben gefallen liess, weil auf dem Boden, auf dem man stand, eine Abhilfe nicht zu erlangen war. Man nehme nur die a u s s e r o r d e n t l i c h e S t r a f e . Wie fadenscheinig waren zu allen Zeiten die Gründe, die dafür vorgebracht werden konnten, dass die Justiz durch einen solchen Ausspruch erniedrigt wird, und doch mit welcher Zähigkeit ist die ausserordentliche Strafe, wenigstens bei den mit Todesstrafe bedrohten Verbrechen, festgehalten worden! Und nicht ohne Grund. Setzt man aber voraus, dass Ge-

R e f o r m b e s t r e u g e n bis 1848.

127

ständnisse nicht erpresst werden und dass die Verübung todeswürdiger Verbrechen in Gegenwart von classischen Zeugen kaum anders als im höchsten Affect erfolgen kann, so bedeutet die Beschränkung der Todesstrafe auf geständige oder durch Zeugen überwiesene Verbrecher genau soviel wie die Befreiung der strafwürdigsten Verbrecher von der schwersten aller Strafen — ein Verhältniss, das allein ausreichen muss, um den entschiedensten Anhänger der Todesstrafe zu deren entschiedenstem Gegner zu machen. So wie das Urtheil, welches die ausserordentliche Strafe verhängt, enthält auch dasjenige, welches auf E n t b i n d u n g v o n d e r I n s t a n z lautet, das demüthigende Geständniss der Justiz, dass sie eine schwere Niederlage erlitten habe und dass sie, um die Haltung nicht zu verlieren, eine Sachlage schaffe, welche unter keiner Voraussetzung als eine richtige Anwendung des Strafgesetzes auf die wahren Thatsaehen angesehen werden kann. Allein wer sieht es nicht, dass praktisch genommen ausserordentliche Strafen und Instanzentbindung mit der g e m e i n r e c h t l i c h e n B e w e i s t h e o r i e zusammenhängen. Gewiss, man kann jene beiden von dieser und von einander getrennt denken, und hie und da sind auch solche Sonderungen vorgenommen worden. Allein wenn das Gesetz es auf sich nimmt, durch Aufstellung von Beweisregeln den Richter vor unrichtiger Beurtheilung des Beweisergebnisses oder doch mindestens vor der Verurtheilung eines Unschuldigen zu schützen, muss es so strenge Anforderungen an die Beweisführung stellen, dass die Freisprechung von Personen, an deren Schuld niemand zweifelt, ein nahezu alltägliches Ereigniss wird, und es ist begreiflich, dass man solche nur vermöge der gesetzlichen Fiction unschuldige doch noch auf irgend eine Weise zu erreichen suchte. Die logische und moralische Unhaltbarkeit jener beiden Auskunftsmittel brachte aber den Inquirenten in die Lage, auf das Geständniss des von ihm für schuldig gehaltenen hinarbeiten zu müssen mit der ganzen schrankenlosen Macht, die der Staatsabsolutisinus und die idealisirende Theorie gleichmässig ihm aufdrängten und die nicht gelegentlich zu missbrauchen fast über Menschenkräfte ging. Das gewohnheitsmässige Hinarbeiten auf das Geständniss hatte wieder die doppelte Wirkung, dass der Beschuldigte völlig rechtlos in die Hand des Gerichtes gegeben ward und dass doch andererseits, indem man so früh als möglich nach dem vermeintlich schuldigen griff, Uebereilung und Verabsäumung anderer Mittel der Forschung öfter vorkamen, als der öffentlichen Ordnung zuträglich war. Ohnehin war diese gegen Verabsäumungen der untersten Instanz und gegen die abgefeimten Verbrechern gar sehr zu statten kommende gesetzliche

128

§ 13.

N o t w e n d i g k e i t und Richtung

Beweistheorie nur wenig geschützt, so dass für die Sicherheit des Angeklagten und die der öffentlichen Ordnung oft gleich schlecht gesorgt war. Und doch mussten alle Versuche, diese empfindlichsten Uebelstände aus dem Organismus des bestehenden Strafprozesses zu entfernen, fehlschlagen. Denn die gesetzliche Beweistheorie war der Mittelpunkt, von dem sie alle ausstrahlten und der nicht ausgeschieden werden konnte, ohne dass man neue Elemente heranzog und dem Beschuldigten wie dem Staate neue Garantien bot, die aus dem alten Inventar des gemeinen Prozesses nicht zu beschaffen waren. Zwar ist auch an jenem Mittelpunkt gerüttelt worden. Die Theorie unterschied allmählich zwischen p o s i t i v e r und n e g a t i v e r Beweistheorie und die Gesetzgebung folgte — sehr langsam — dieser Richtung; ist doch eigentlich erst in der w ü r t t e m b e r g i s c h e n StPO von 1848 und in der b a d i s c h e n StPO von 1845 eine solche Beweistheorie vollständig ausgeprägt worden. Allein einerseits bot dieser Vorgang den Anhaltspunkt zur Reduction der an den Beweis zu stellenden gesetzlichen Anforderungen (wie sie ζ. B. in dem österreichischen Gesetz über den Indicienbeweis vom Jahre 1833 stattfand); damit aber wurden ohne einen Ersatz Hindernisse beseitigt, welche man der Verurtheilung Unschuldiger noch am Ende cles 18. Jahrhunderts entgegensetzen zu müssen glaubte. Andererseits hatte man in Ländern, wo die sog. negative Beweistheorie lange genug gehandhabt wurde, um Erfahrungen zu sammeln, reichliche Gelegenheit, das trügerische des Schutzes kennen zu lernen, der in dem hier zugelassenen Appell an die individuelle Ueberzeugung des Richters liegt. Es hängt dies zunächst mit dem inneren Widerspruche zusammen, in den der Gesetzgeber sich verwickelt, wenn er einerseits den Richter an Grundregeln bindet , die der Ausdruck unfehlbarer Wahrheiten sein sollen und andererseits doch sofort unterstellt, dass der Richter gut thun werde, diesen selben Regeln zu misstrauen; j e d e r F a l l e i n e r F r e i s p r e c h u n g u n g e a c h t e t des f o r m e l l e r b r a c h t e n B e w e i s e s i s t eine D o c u m e n t i r u n g der M a n g e l h a f t i g k e i t des G e s e t z e s . Indess tritt der Fall ausserordentlich selten ein; das Bestreben, die Mannichfaltigkeit der Gründe, welche in gegebenen Fällen eine vor dem Richterstuhl der Logik gar wohl bestehende Gewissheit schaffen können, unter vorher aufgestellte Kategorien zu bringen, insbesondere den sog. Indicienbeweis in das Bereich des inessbaren und wägbaren zu ziehen, ist ein so völlig vergebliches, dass die gesetzliche Beweistheorie in der Regel zum Vortheil des Schuldigen ausschlägt ; eben darum gewöhnt sich aber der Richter,

eformbestrebugen

bis

129

1848.

der es weiss, wie oft die Starrheit der gesetzlichen Regel die Verurtheilung des Schuldigen hindert, an die dem Grundgedanken der negativen Beweistheorie entgegengesetzte Auffassung ; es wird ihm fast unmöglich, dem Gedanken an die Unschuld Raum zu geben, wo s o g a r der gesetzliche Beweis erbracht ist. Der Gedanke aber, die gemeinrechtliche Beweistheorie auszuscheiden und im übrigen an dem Gerüste des geheimen schriftlichen Untersuchungs])iozesses festzuhalten, ist kaum hie und da aufgetaucht (im Königreich Sachsen hatte man den Muth, durch das Gesetz vom 30. März 1838, Art, 10, in dieser Richtung vorzugehen, und hat wohl hauptsächlich dadurch auch die spätere Entwickelung länger aufgehalten, als in irgend einem der bedeutenderen deutschen Staaten geschah); ernstlich durchgeführt hätte er aber wohl auch dann nicht werden können, wenn dem deutschen Strafprozess eine ruhige und methodische Entwickelung von innen heraus gegönnt gewesen wäre. Diese konnte nicht statt haben, weil die fortschreitende politische Bewegung sie verhinderte. Das politische Ideal, das dem deutschen Staatswesen in diesem Kampfe gegenübergestellt wurde, war die französische \7erfassung. Nicht mit Unrecht sah man die Gerichtscnnrichtungen und insbesondere die Gestaltung des Criminalprozesses als einen sehr wichtigen Factor des öffentlichen Lebens in Frankreich an. Darf man sich wundern, dass unter diesen Umständen die Blicke derer, die eine Umgestaltung der öffentlichen Zustände in Deutschland nach französischem Muster wollten, ganz besonders auf den Strafprozess sich lichteten? Es kam hinzu, dass in den Rheinlanden die französischen Gerichtseinrichtungen nach der Befreiung von der Fremdherrschaft stehen geblieben waren und dass alle Versuche, sie zu beseitigen, an dem beharrlichen Widerstande der gesammten Bevölkerung, insbesondere aber aller derjenigen, welche der Rechtspflege näher standen, gescheitert waren. Die f r a n z ö s i s c h e n Einrichtungen waren aber selbst nicht lediglich oder auch nur überwiegend das Ergebniss der stetigen und allmählichen Fortentwickelung auf eigenem Boden, sondern sie waren das, als was sie sich selbst darstellten, der Hauptsache nach durch rasche und kühne Thaten der die erste Epoche der grossen Revolution beherrschenden constituirenden Nationalversammlung geworden, welche aus politischen wie aus juristisch-technischen Gründen dabei die e n g l i s c h e n Einrichtungen zum Vorbild nahm, wenngleich dieses Vorbild theils nicht richtig erkannt, theils gegen andere einflussreichere Elemente zurückgesetzt wurde. Je deutlicher indess letzteres hervortrat, um so mehr musste die Notwendigkeit erkannt werden, auch Rinding, Handbuch.

I X . 4. I :

G l a s e r , Strafprozess I .

9

130

14.

Das englische

ect.

dem e n g l i s c h e n Strafprozess prüfende Aufmerksamkeit zuzuwenden. Und damit treten diese beiden Gestaltungen des Strafprozesses in die Entwickelungsgeschiehte der Grundform des deutschen Strafprozesses ein. § 14.

Das e n g l i s c h e R e c h t 1 .

I. W i r haben es hier mit dem fremden Recht nicht um seiner selbst willen, sondern wegen des Einflusses zu thun, welchen es auf 1

L i t e r a t u r : E n g l i s c h e s Recht. H. de B r a c t on, De legibus et consuetudinibus Angliae. Neueste Ausgabe von Travers Twiss. London 1881. J. S. De L o I m e , The Constitution of England. Erste engl. Ausg. 1784. Buch I Kap. 9. 12—14. Homersham C ο χ, The institutes of the English Government. London 1863. 2. Buch, bes. Kap. 10. W. Β l a c k s to ne, Commentaries on the Laws of England. Erste Ausgabe 1765 4 vol. Yon den zahlreichen Umarbeitungen zum Zweck der Fortfuhrung sind insbesondere hervorzuheben die von Κ e r r , von S . W a r r e n , von S t e w a r t (der das Strafrecht betreffende Theil ist abgesondert erschienen unter dem Titel: S t e w a r t , On Public wrongs and their remedies. London 1841), die von H. J. S t e p h e n , welche in Deutschland durch die Bearbeitung des strafrechtl. Theils durch E. M ü h l · y , Göttingen 1843, bekannt wurde — neueste Ausgabe: S t e p h e n , New Commentaries on the Laws of England, partly founded on Blackstone. 8. ed. prepared f. the press by H. S. J. Stephen. London 1880 — ; endlich Commentaries upon the Laws of England, in 4 volumes, by H. B r o o m and Edw. A. Had ley. London 1869. vol. I V : Criminal Law and Procedure. Kürzungen: R . M . K e r r , The students Blackstone. New ed. London 1880; F. S. D i c k s o n , Analysis of Bl. Commentaries. London 1880. E. II. E a s t , Pleas of the Crown. 2 vol. London 1803. H a l e , Pleas of the Crown continued to 1800. 2 vol. London 1800. W . H a w k i n s , Treatise on the Pleas of the crown. 8. ed. by Joh. Curwood. 2 vol. London 1824. W. O. Ru s s el, Treatise on crimes a. indictable misdemeanors. 4. ed. by C. S. Greaves. London 1865. A r c h b o l d ' s Pleading and Evidence in Criminal Cases. 19. ed. by W. Bruce. London 1877. Roscoe's Digest of the Lawr of Evidence in Criminal Cases. 9. ed. by Horace Smith. London 1877. B e s t , The Principles of the Law of Evi. dence. 6. ed. by Kussel. London 1875. (Deutsche Bearbeitung von M a r q u a r d s e n . Heidelberg 1851.) H. Fitzjames S t e p h e n , A general view of the Criminal Law of England. London 1863. W. L. S h i r l e y and C. M. A t k i n s o n , Sketch of the Criminal Law. London 1881. James Fitzjames S t e p h e n and Herbert Stephen, A Digest of the Criminal Law II. London 1882. L e v i s , A drak of the Criminal Law and Procedure. London 1879. P h i l l i m o r e , The History and Principles of the Law of Evidence. London 1850. W. W i l l s , On Circumstantial Evidence. 4. ed. by Alfred Wills. London 1862. P o w e l l , The Principles and Practice of the Law of Evidence. 4. ed. by Cutler and Griffin. London 1875. T a y l o r , A treatise on the Law of Evidence. 2 voll. 7. ed. London 1878. H. Fitzjames S t e p h e n , A Digest of the Law of Evidence. 4. ed. London 1881. S t a r l i n g , Indian criminal law and procedure. London 1870. P h i l l i p s , On the Powers and Duties of Juries (älteste Auflage London 1815, französische Bearbeitung von Comte Paris 1819). J e r v i s , A practical Treatise on the Office and Duties of Coroners. 3. ed. London 1866. W. R. C o l e , The Law and Practice relating to Criminal Informations. London 1845. A r c h b o l d , Practice of the Crown Office. London 1844. A r c h -

14.

Das englische

ect.

131

den deutschen Strafprozess nach dessen bisheriger Entwickelung geübt hat und ferner zu üben berufen ist. Es rechtfertigt sich daher auch, h o l d , Practice of the Court of QuarterSessions. 3. ed. by Lovesy. London 1869. G. T a y 1er, The Law of Appeals. London 1865. Ueber friedensrichterliche Jurisdiction insbesondere: B u m s , The Justice of the Peace. 30. ed. by Maule. London 1869. S t o n e , Practice of Petty Sessions. 7. ed. by Cave. London 1863. S t o n e , Justices Manual. 20. ed. London 1880. P a l e y , The Law and Practice of summary Convictions. 5. ed. London 1866. Oke, A practical guide for Magistrates. 2 vols. 10. ed. London 1870. H. S. G i f f a r d , Summary . . Jurisdiction of Magistrates. 2. ed. London 1880. Summary Jurisdiction Act 1879 and summary Jurisdiction Kules 1880; with introduction etc. 3. ed. London 1880. P r i t c h a r d , The Jurisdiction, Practice and Procedure of the Quarter Sessions in judicial Matters, Criminal, Civil and Appellate. London 1875. — Zur Anwendung der Supreme Court Judicature Acts : R. W. A η d r e w s and A. B. S t ο η e y, The supreme Court of Judicature Acts and the Appellate Jurisdiction Act 1876. London 1880. W. E. B a n t e r , The judicature Acts and Rules 1873—1880. London 1880. W i l s o n , Judicature Acts. 2. ed. London 1876. J. L. I n d e r m a n n , A Manual of the Practice of the S. C. of judicature. 2. ed. London 1881. — S c h o t t i s c h e s u n d a m e r i k a n i s c h e s R e c h t . H u m e , Comment, on the Law of Scotland respecting crimes. 2 vol. Edinburg 1819. A. A l i s o n , Practice of the Criminal Law* of Scotland. Edinburg 1833. John H. Mac don a i d , A practical Treatise on the Criminal Law of Scotland. Edinburg 1867. Arthur I). E l l i o t , Criminal Procedure in England and Scotland. London 1868. G o r d o n , Practice of the Criminal Law of Scotland. Edinburg 1870. F . W h a r t o n , A Treatise on the Criminal Law of the United States. 1. ed. Philadelphia 1846, 8. ed. 2 vols. 1880. D e r s e l b e . Precedents of Indictments and Pleas. 2 vol. New-York 1881. B i s h o p , Commentaries on the Criminal Law. 7. ed. 2 voll. Boston 1882. L i v i n g s t o n e , System of penal Law prep, for the State of Louisiana. New Orleans 1824 (spätere Aufl. Philadelphia 1833 u. 1873). G r e e n l e a f , A Treatise on the Law of Evidence. 1. ed. Boston 1846. 12. ed. 3 vols. 1866. A b b o t , Circumstantial Evidence. New York 1882. A. A. B o y ce, Manual of Practice in the Circuit Courts of the United States. Albany 1870. C o n k l i n g , A Treatise on the Organization, Jurisdiction and Practice of the Courts of the U. S. 5. ed. Albany 1871. B a s s e t , Criminal Pleading and Practice. Chicago 1871. A b b o t , A Treatise upon the U. S. Courts and their Practice. 2 vol. New-York 1871. H a r r i s , Principles of the Criminal Law,— with additions adapting it to the American Law by M. F. Force. Cincinnati 1880. — A u s w ä r t i g e B e a r b e i t u n g e n . F i s c li e 1, Die \rerfassung Englands. Berlin 1862. G η e i s t, Selfgovernment, ( îommunalverfassung und Verwaltungsgerichte in England. 3. Aufl. Berlin 1871. F r a n q u e v i l l e , Les institutions politiques, judiciaires et administratives de l'Angleterre. Paris 1863. R e y , Des Institutions judiciaires de l'Angleterre comparées avec celles de la France. Paris 1826. Deutsche Uebersetzung 2 Bände Weimar 1828. C o t t u , De l'administration de la justice criminelle en Angleterre. Paris 1822. Deutsche Bearbeitung von H o r n t h a ï . Weimar 1821. R ü t t i ni an η, Bericht über die englische Strafrechtspflege. Zürich 1837. T i t t m a n n , Ueber Gerichtsverfassung, Strafrecht und Strafprozess in den Vereinigten Staaten. Dresden 1848. D e r s e l b e , Die Stellung der Geschwornen zu den rechtsgelehrten Richtern nach Anleitung des englischen Rechtes geprüft. Dresden 1849. M i t t e r ni a i e r, Das englische, schottische und nordanierikanische Strafverfahren. Erlangen 9*

132

14.

Das englische

ect.

dass das H a u p t g e w i c h t nicht auf die geschichtliche

E n t w i c k e l u n g des

französischen

dass

u n d englischen Rechtes gelegt,

und

andererseits

hier nicht blos die Schilderung der Gestalt gegeben wird, welche das Prozessrecht dieser L ä n d e r eben i n dem Augenblicke hatte, i n welchem es anfing, auf den deutschen Strafprozess e i n z u w i r k e n , auch

die fernere

bleibt und rücksichtigt Recht, Recht

Entwickelung

sondern

zur V e r m e i d u n g von Wiederholungen gleich hier m i t wird.



Dies g i l t

dass

bis i n unsere Tage nicht unerwähnt ganz besonders v o m

das anfangs mehr aus der F e r n e ,

e i n w i r k t e als das französische,

be-

englischen

mehr m i t t e l b a r auf unser

dem es i n dessen für uns ent-

scheidender Epoche selbst als Muster gedient hat, während es später i m m e r mehr unmittelbare Bedeutung für uns erlangte. I m Gegensatz hiezu ist der englische Prozess das Ergebniss einer geschichtlichen E n t w i c k e l u n g ,

welche dem heutigen Deutschland

viel

ferner l i e g t ; clie gemeinsamen Anknüpfungspunkte gehören einer entlegenen Vergangenheit an, an cler auch Frankreich A n t h e i l h a t t e ; die Gerichtsorganisation ist, ebenso w r ie der Prozess selbst, das W e r k

der

1851. D e r s e l b e , Erfahrungen über die Wirksamkeit der Schwurgerichte. Erlangen 1865. S 46—127 und S 605—620. B i e n e r , Das englische Geschwornengericht. 3 Bände Leipzig 1852—1855. G l a s e r , Das englisch-schottische Strafverfahren. Wien 1850. D e r s e l b e , Anklage, Wahrspruch und Rechtsmittel im englischen Schwurgerichtsverfahren. Erlangen 1866. D e r s e l b e , Ueber den Grundsatz Non bis in idem. GS 1871 S 1 if. (Kleine Schriften S 603 — 615). H e i n z e, Parallelen zwischen der englischen Jury und dem französisch-deutschen Geschwornengericht. Erlangen 1864. D e r s e l b e , Der englische Gerichtsorganismus und die Jury. Haimerls Vierteljahrsschrift XV 1864 S 1 ff. T i p p e i s k i r c h , Ueber die Entstehung und den Charakter der Geschwornengerielite in England. Stettin 1858. Freili. v. G r o s s , Ueber das englische Schwurgerichtsverfahren. Leipzig 1866. Cìn ei st, Ueber die Bildung der Geschwornengerichte. Berlin 1848. H. B r u n n e r , Die Entstehung der Schwurgerichte. Berlin 1872. D e r s e l b e in HEnc 3. Aufl. S 244 ff. und in HRLex Art. „Schwurgericht geschichtlich" I I I 622 ff. G e y e r , Lehrbuch §§ 20 — 24. G l a s e r , HH I 33 ff. 46 ff. (hier zu Grande gelegt). L a gr e v o i , De la procedure criminelle de l'Angleterre et des justices sommaires. Lyon 1860. P i c o t , Notes sur l'organisation des tribunaux de police à Londres. Paris 1862. Valentin S m i t h , Du tribunal de police en Angleterre. Paris 1863. P r i n s , Etude comparative sur la procédure pénale à Londres et en Belgique. Bruxelles 1879. L e w i s , Procédure criminelle en France et en Angleterre. Paris 1882. Ueber die neuen Entw von 1878 und 1879 (Criminal Code Bill): G e y e r , Lehrbuch § 24 S 116 ff. W i n i w a r t e r im GS 1878 S 322 ff. Sam. M a y e r in GA 1878 S 385 ff. 1879 S 1 ff. und in der „Gerichtshalle" 1878 Nr 84 ff'. H. L a m m a s c h , Allgemeine österreichische Gerichtszeitung 1879 Nr 38 ff'. F a n t i , Sui progetti delle leggi penali inglesi. Fano 1879. L u c c h i n i , Rivista penale V i l i 466—468. Bulletin de la société de législation comparée. 1878 Augustheft u. 1882 ρ 470. — Ueber die Prosecution of offences act 1879 s. das. 1880 ρ 260 sq.

14.

Das englische

ect.

133

Zeiten und der besonderen englischen Verhältnisse; es hat nicht blos keine Codification stattgefunden, sondern auch niemals eine überlegte Ordnung des ganzen, überall laufen die Grenzen ineinander, überall ist das antiquirte stehen geblieben und nur durch neues in den Hintergrund gedrängt, das unbrauchbar gewordene eben gerade nur so weit geändert, als das nächstliegende Bedürfniss forderte. Dagegen aber steht diese Art der Fortbildung, die zum nicht geringen Theile in unmerklicher Weise allmählich vor sich geht, auch keinen Augenblick still, und wenn man genau die Dinge betrachtet, so sieht man, dass in England der Strafprozess der Gegenwart grössere und tiefer greifende Veränderungen erfuhr und entwickelungsfahiger war als in Frankreich mit seinem modernen Codex; es braucht zum Beleg nur darauf hingewiesen zu werden, wie sowohl in England als in Nordamerika in diesem Jahrhundert das System cler Rechtsinittel zwar verschiedenartig, aber doch organisch aus cler gleichen Grundlage heraus neu gestaltet wurde. Dazu kommt aber noch die eben angedeutete grosse Mannichfaltigkeit cler Fmtwickelungen, welche clas englische oder vielmehr das Recht des anglosächsischen Stammes in den verschiedenen Ländern, in denen es Geltung hat, zeigt. Hier steht an der Spitze die nur aus ähnlichen Grundlagen heraus, aber ganz unabhängig vor sich gegangene Ausbildung des s c h o t t i s c h e n Strafprozesses; dagegen hat eine förmliche Reception des englischen Rechts als solchen in I r l a n d , N o r d a m e r i k a und wohl auch in A u s t r a l i e n und anderen englischen Colonien stattgefunden, und es ist clas englische Recht die Grundlage freierer Nachbildungen geworden, die in M a l t a 2 und O s t i n d i e n 3 Geltung haben. — Dem Fremden ist es schon schwer, von diesen Rechtszuständen volle Kenntniss zu erlangen, an eine einfache Uebertragung ist gar nicht zu denken. Gerade darin liegt aber auch dasjenige, Avas mit cler Zeit dein englischen Prozess für Deutschland eine immer erhöhte Bedeutung geben muss ; über clie Zeit cler raschen Reception, cles einfachen Copirens sind wir nun lange hinaus; allein 2

In clen leggi criminali per l'isola di M a l t a v. 10. März 1854 (s. darüber näheres bei Ρ essi na, Progressi del diritto penale in Italia. Firenze 1868. ρ 88—94 und bei G e y e r , Lehrbuch § 24 Nr 5) findet sich eine Art von Codification des englischen Rechts, jedoch mit wesentlichen Abweichungen, so namentlich bezüglich der Zahl der Geschwornen (9) und der Beseitigung des Erfordernisses der Einstimmigkeit. 3 Für Ostindien ist, unter dem speciellen Einfluss Macaulays ( T r e v e l y a n , Life of Lord Macaulay. Leipzig 1876. I I 195. 235), ein Strafgesetzbuch ausgearbeitet , das gewissermaassen ein Vorläufer (1er Codification des englischen Rechts ist. M a y n e , Comment, on the Indian penal code. 11. ed. Madras 1882. S t a r l i n g siehe oben Anni 1.

134

14.

Das englische

ect.

bei der Arbeit der Sichtung und Aneignung des aufgenommenen fremden Rechtsstoffes muss die \'ergleichung mit den eigenartigen Elementen des englischen Rechtes gerade darum wesentliche Dienste leisten, weil nur die Erforschung des Wesens derselben, wie es sich von zufälliger Umgebung losgelöst darstellt, Erfolge gewähren kann. Namentlich bei jenen zwei Hauptaufgaben, welche der moderne französische Prozess unter dem Einfluss des freilich nur von fern erblickten englischen Vorbildes zu lösen hatte, liegt die Aufforderung nahe, am Original statt an der Copie Studien zu machen; jene Aufgaben aber waren: die \ r orsorge für die b ü r g e r l i c h e F r e i h e i t und die B e f r e i u n g des P r o z e s s e s v o n d e m B a n n e d e r S c h r i f t l i c h k e i t u n d d e r g e s e t z l i c h e n B e w e i s t h e o r i e — und als das wichtigste Mittel zu ihrer Lösung ward das G e s c h wo m e n ge r i c h t erkannt. Die folgende Darstellung des englischen Strafprozesses muss sich auf die Hauptpunkte beschränken und daher absehen von den nur selten in Thätigkeit tretenden Gliedern des strafgerichtlichen Organismus, von den complicirten Competenzbestimniungen und der damit zusammenhängenden halb antiquirten Eintheilung 4 der strafbaren Handlungen: Verrath, Verbrechen, Vergehen (treason, felony, misdemeanor). Die praktisch einflussreiche Eintheilung ist die streng an die Prozessarten sich haltende in strafbare Handlungen, über welche eine summarische Verurtheilung (summary conviction) ergeht , und in solche, über welche vor Gesehwornen zu verhandeln ist (indictable offences). Die ersteren, auf welche hier im übrigen weiter nicht Rücksicht genommen werden kann, werden bald von einzelnen Friedensoder Polizeirichtern, welche zugleich berufen sind, die Voruntersuchung wegen der schweren Delicte zu führen, bald von mehreren vereint (petty sessions) abgeurtheilt. Das Zusammentreffen der Befugniss zur summarischen Verurtheilung und zur Verweisung vor das Geschwornengericht gestattet es der Gesetzgebung, hie und da dem Ermessen des Richters die Wahl zwischen den zwei Wegen zu lassen. I I . I n der grossen Mehrzahl der Fälle wird die Anklage von Privaten, die sie freiwillig übernehmen oder wegen ihrer Beziehung zu der Sache dazu angehalten werden, vertreten; nicht selten sorgen Corporationen oder Vereine, deren Interessen durch strafbare Hand4

In den neuen Strafgesetzentwürfen; (Report of the criminal code hill commission 1879 ρ 14. 15, Draft d. i. Entw § 431) wird auf deren gänzliche Beseitigung hingearbeitet; ganz verschwinden kann sie allerdings nicht, weil sie theilweise mit den Privilegien des Oberhauses zusammenhängt.

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Das englische

ect.

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hingen geschädigt werden, für deren Verfolgung. Der Private, der die Anklage führt, prosecutor, tritt übrigens nicht in seinem Namen, sondern in dem der Krone auf; er wird von der Polizei unterstützt und es werden ihm die aufgelaufenen Kosten in der Regel aus öffentlichen Mitteln vergütet; gar oft ist auch er mehr vorgeschoben, das eigentlich prozessbetreibende Element aber ist die Polizei. Es giebt also in England keine eigentliche Privatanklage. Die Verfolgung der \'erbrechen ist Recht und Pflicht des Staates. Allein hier, wie in so vielen anderen Fällen, besorgt die Staatsverwaltung das an sich öffentliche Geschäft nur ausnahmsweise selbst, überwälzt dasselbe zumeist auf Private und Gemeinden und erwartet einerseits von zwingenden Verpflichtungen, andererseits von den indirect berührten Privatinteressen und vom Eifer einzelner für das öffentliche Wohl eine wirksame Förderung. Allein die Personen, welche in Folge dessen die Anklage betreiben, sind nicht Prozesspartei im Strafprozess. Sie sind es nicht einmal in dem Sinne, in welchem es die französische Civilpartei ist: denn das englische Recht kennt den Adhäsionsprozess nicht und hat weit eher das Streben, auf dem Civil rechts wege Abhilfe für Verletzungen von an sich strafrechtlicher Natur zu gewähren (man denke an die Civilprozesse wegen Ehebruchs, wegen eines Libells. wregen rechtswidriger Gefangennahme u. dergl.), als dass es den Beschädigten ermuntern würde, den Strafprozess als ein Mittel zur Durchsetzung seiner Civilanspriiche zu benutzen. Mit e i n e m Worte, die Krone verpflichtet Privatpersonen oder gestattet ihnen auch nur, die Strafklage zu führen; die Strafklage verliert aber dadurch nicht ihre Natur als öffentliche Klage, als Klage der Krone. Gegen den Missbrauch des Rechts der Privatanklage schützt die privatrechtliche Haftung des Anklägers für boshafte Anklage, die strafrechtliche für Erpressungen und Tergiversationen, die Aufsicht der die Voruntersuchung führenden Richter, welche nach neuester Gesetzgebung (1859 — st. 22 und 23 Vict. c. 17) bei einigen Verbrechen und Vergehen gar nicht umgangen werden dürfen, während bei anderen die Umgehung einen dem Ankläger höchst nachtheiligen Eindruck machen würde 5 ; — endlich das Recht der S t a a t s a n w a l t s c h a f t , die Einstellung des Verfahrens zu begehren (nolle prosequi) 6 . 5

Im st. 30 et 31 Vict. c. 35 und im § 505 des Entw von 1879 sind noch weitere sehr umfassende Vorsichtsmaassregeln bei Anklagen getroffen, welche ein Privater unmittelbar an die Grand Jury zu bringen beabsichtigt. 6 Demjenigen, was ich hierüber (Anklage S 32. 33) auseinandergesetzt, möchte ich hier folgendes beifügen. Das Recht, durch die schriftliche Erklärung: Nolle prosequi, dem Strafprozess ein Ende zu machen, übt der Attorney General gerade

136

14.

Das englische

ect.

Denn allerdings besteht auch in England eine eigentliche S t a a t s a n w a l t s c h a f t : der A t t o r n e y G e n e r a l und der S o l i c i t o r G e n e r a l , welche allein die Ehrenrechte der Kronanwaltschaft gemessen, auch gewisse Prozessvorrechte 7, und von denen der erste als parlamentarischer Vertreter der Regierung und als deren officieller Berather in Rechtsfragen eine um so eigenthümlichere Stellung einnimmt, als er sowohl wie der Solicitor General seine Praxis als Advocat in Angelegenheiten, wo er nicht als Gegner cler Krone auftreten muss, fortsetzt. Directes Auftreten dieser eigentlichen Staatsanwälte ist äusserst selten ; nur in Sachen von specifisch politischer Bedeutung oder in schwereren Criminalfällen, welche sonst unverfolgt bleiben würden oder wo doch ein wichtiges Interesse eine besonders sorgsame Führung der Sache fordert, erscheinen die Kronanwälte, der Attorney General und der Solicitor General selbst als Ankläger; in minder wichtigen Fällen veranlasste schon früher die Regierung die Verfolgung durch den Anwalt des Schatzamtes (solicitor to the treasury), und in neuster Zeit knüpfte h i e r a n die Gesetzgebung an, um zu veranlassen, dass wenigstens in wichtigeren Fällen ein unter der Oberleitung des Attorney General handelnder Beamter die Einleitung der Strafprozesse und die Uebergabe der Vertretung der Anklage an einen Rechtsanwalt überwacht (Prosecution of offences act v. 3. Juli 1879 st, 42 et 43 Met. c. 22) 8 . I I I . Bei weitem die meisten V o r u n t e r s u c h u n g e n werden vor Friedensrichtern geführt ; diese sind bekanntlich nur selten juristisch gebildet und werden zwar von der Krone ernannt, sind aber nichtsdestoweniger nur eine Art grafschaftlicher, oft blos städtischer Gemeindebeamten (Organe der Selbstverwaltung). In England wie in Nordamerika hat sich daher das Bedürfniss in solchen Fällen, wo die Staatsanwaltschaft selbst nicht einschreitet. Ist letzteres cler Fall, so hat diese minder auffallende Mittel, wie sie thatsächlich jedem anderen Ankläger zu Gebote stehen. Ein formelles Rücktrittsreclit hat nämlich der gewöhnliche Ankläger schon deshalb nicht, weil ihm vom Polizeirichter die Verpflichtung auferlegt ist, als solcher aufzutreten ; streng juristisch autgefasst ist er nur der erste Belastungszeuge. Allein da die Beschaffung des Beweismaterials wesentlich in seiner Hand liegt, ist es klar, dass eine Verhandlung mit einem widerwilligen Ankläger keinen Sinn hat, und umgekehrt legt der Richter, ehe er von seinem Recht, die Verhandlung wegen eines Gebrechens einzustellen, an dem die Anklage Schiffbruch leidet, Gebrauch macht, Werth darauf, sich darüber mit dem Ankläger zu verständigen. 7 G l a s e r , Anklage S 20—23; das wichtigste ist das oben angedeutete Recht der Einstellung jeder Strafverfolgung. 8 Bulletin de la société de législation comparée 1880 ρ 260 sq. Diese Organe der Anklage lieissen Crown solicitor, Entw 1879 § 427.

14.

Das englische

ect.

137

immer fühlbarer gemacht, die Voruntersuchung in zuverlässige Hände zu legen; es wurden in London, nach und nach auch in den grösseren Städten Englands und auch an manchen Orten in Amerika P o l i z e i ge r i c h t e (Police-Courts) errichtet, in welchen lebenslänglich angestellte, juristisch gebildete Magistrate die Voruntersuchung führen, unci vor welche, da sie für kleinere Vergehen die volle Strafgewalt (gleich den Friedensrichtern) haben, j e d e r Straffall kommen muss. Diese: P o l i z e i g e r i e l i t e setzen übrigens eine wohlorganisirte Polizei voraus und deshalb eben werden sie nur nach und nach die friedensrichterliche Thätigkeit gänzlich verdrängen. Die ganz anomale Thätigkeit des Coroners ausgenommen, bietet die e η g 1 i s c h - a-m e r i k a η i s c h e Voruntersuchung keine Analogie mit dem französchen Instructions- oder gar mit clem deutschen Inquisitionsprozesse. Sie ist kein wesentlicher Bestandtheil eines Strafprozesses, und es wird daher nicht blos bei manchen Vergehen (auf dem Wege cler I n f o r m a t i o n ) cler Prozess unmittelbar vor das erkennende Gericht gebracht ; sondern es ist in cler Regel (auf die Ausnahmen und Einschränkungen ist schon oben I I hingewiesen) jedem unbenommen, bei der Grancl-Jury eine Anklage anzubringen, sowie umgekehrt- der Angeschuldigte in der Voruntersuchung erklären kann, er wünsche selbst die Hauptverhandlung und werde sich erst in dieser vertheidigen. Schon hieraus ergiebt sich, class clie englische Voruntersuchung im wesentlichen mit cler Sammlung von Beweismitteln gar nichts zu thuii hat, sondern sich eigentlich d a r u m dreht, ob der Angeschuldigte und die Zeugen zum Erscheinen in der Hauptverhandlung anzuhalten, insbesondere, ob ersterer bis dahin unbedingt oder gegen Bürgschaft auf freiem Fuss, oder ob er im Gefängniss bleiben soll — wobei dann freilich in England aus dem Mangel an ö f f e n t l i c h e n Anklägern die Abnormität sich ergiebt, dass auch cler Ankläger vom Richter in Pflicht genommen wird. Sonst ist die Stellung cles Richters in cler Voruntersuchung, dem angegebenen Zwecke derselben gemäss, eine abwartende. Der Police - Magistrate verlässt nie seinen Gerichtssaal, um etwa einen Augenschein, eine Hausdurchsuchung u. dgl. vorzunehmen, sondern überlässt es dem Ankläger und cler Polizei, denen er die nöthigen Ermächtigungen ertheilt, die Resultate vor ihm zu constatiren. Er ergreift nur clie Initiative, seine Thätigkeit beginnt erst, wenn gegen eine bestimmte Person Verdacht erhoben, und entweder diese von cler Polizei vorgeführt, oder ein Verhaftsbefehl oder eine Vorladung nachgesucht wird. Das Verfahren, welches mit cler Stellung des Verdächtigen vor den Polizeirichter beginnt, ist ö f f e n t l i c h . Zwar

138

14.

Das englische l e c t .

räumt auch die neueste Gesetzgebung9 dem Richter das Recht ein, die Zuhörer zu entfernen, „wenn dies dem Zwecke der Justiz förderlich scheint", aber nur selten macht ein Richter von diesem Rechte Gebrauch — jedenfalls nur bei Vernehmungen e i n z e l n e r Zeugen. Dasselbe gilt vom Coroner, sowie von den nordamerikanischen Gerichten. Das Verfahren selbst bewegt sich in wesentlich accusatorischen Formen. Die Sammlung der Beweise geht ihm voraus. Der Ankläger, nieist unterstützt von seinem Anwalt, legt alle gegen den Angeschuldigten zusammengebrachten Beweismittel in Gegenwart des letzteren vor; dieser hat das Recht, einen Vertheidiger beizuziehen (wenigstens wird es ihm in England nie verweigert und in Amerika ist dieses Recht ein u n b e d i n g t e s ) und jeden vom Ankläger verhörten Zeugen einem Gegenverhör zu unterziehen, das oft sehr wirksam ist. Da diesem Gegenverhör auch die Polizeibeamteten, die in der Sache beschäftigt waren, unterliegen und jede an den Tag kommende Unregelmässigkeit vom Polizeirichter strenge gerügt würde, so bildet diese Verhandlung zugleich ein Correctiv gegen den etwas weiten Spielraum, welcher der detective police gelassen ist. Auch der Angeschuldigte kann Zeugen vorführen, die wieder dem Gegenverhöre durch den Ankläger unterliegen. Die Zeugenaussagen werden sofort zu Protokoll genommen und vom Richter beglaubigt. Es kommt sehr oft vor, dass der Ankläger sich vorbehält, noch weitere Beweise beizubringen und sich Frist erbittet; in solchem Falle wird die Verhandlung (auf einmal nicht über acht Tage), vertagt (to remand, § 20 des Anni 10 angefühlten Gesetzes) und der verhaftete Beschuldigte in Verwahrung behalten. Nachdem alle Beschuldigungszeugen vernommen sind, müssen alle Aussagen dem Verdächtigen vorgelesen werden ; darauf wird er gefragt, ob er wünsche, etwas zur Widerlegung der gegen ihn erhobenen Anschuldigung vorzubringen; er wird dabei darüber belehrt, dass er nicht verpflichtet sei, etwas zu sagen, dass aber Avas er sage, niedergeschrieben wird und gegen ihn als Beweismittel dienen kann ( § 1 8 das.). Die Verhandlung endet damit, dass der Richter den Beschuldigten ausser Verfolgung setzt (discharge) oder veranstaltet, dass er vor das Schwurgericht, zunächst die Anklagejury, zum Zweck der Hauptverhandlung gestellt werde (committed for trial). — 9

Ges v. 14. Aug. 1848, st. 11 et 12 Vict. c. 42, in deutscher Uebersetzung abgedruckt als Anlage 6 zu den Mot des Entw der deutschen StPO ( H a h η S 478 ff.) ; daselbst ist sect. 19 dem Baum, worin diese Verhandlung stattfindet, die Eigenschaft eines öffentlichen Sitzungszimmers abgesprochen und dem Richter gestattet, Zuhörer zu entfernen, wenn er erachtet, dass dies den Zwecken der Gerechtigkeit dienlich sei. Dabei soll es auch nach dem Entw v. 1879 § 453 d bleiben.

14.

Das englische

ect.

139

IV. Versetzung in Anklagestand und H a u p t v e r b a n d l u n g sind Sache desselben Gerichts 1 0 . Dieses besteht also aus dem Gerichtshof (Court), der Anklagejury 1 1 (Grand Jury) und der Urtheilsjury. Ohne bei der Anklagejury uns länger aufzuhalten, beschränken wir uns darauf hervorzuheben, dass in der weitaus grösseren Zahl der Fälle die Richterbank nur mit einem Manne besetzt ist, Ueber die Besetzung der Geschwornenbank sei nur bemerkt, dass die Dienstliste der Session nicht aus einer complicirten Sichtung hervorgeht, sondern vom Sheriff unmittelbar der Urliste entnommen wird, dass in England von der Speci al jury in Strafsachen ein verhältnissmässig geringer Gebrauch gemacht wird, während in Schottland die dort in jedem einzelnen Falle aus 15 Mitgliedern gebildete Jury zu einem Drittel einer Specialliste entnommen wird. Der erste Schritt nach cler Versetzung in Anklagezustand ist die Vernehmlassung des Angeklagten über die Anklage (pleading to the indictment, arraignment); hat er cler Anklage nicht technische Einreden entgegenzustellen, deren Durchsetzung die weitere Verhandlung entbehrlich macht (special pleas) und die in Schottland durch ein förmliches Interlocut (Interlocutor of Relevancy) abgeschnitten werden müssen: so muss er sich entweder cler Anklage unterwerfen (plea guilty ), in welchem Falle ohne Beweisaufnahme über die Hauptsache clas Endurtheil gefällt wird, oder er unterwirft sich durch ausdrückliche oder stillschweigende Behauptung, „nicht schuldig" zu sein (plea not guilty), dem Ausspruche cler Urtheilsjury. Nach Beeidigung der Urtheilsjury (in England petty jury, in Schottland assize) wird dieselbe von jedem Verkehr mit anderen bis 10 Das englische Recht kennt jedoch zwei Schwurgerichte mit im grossen und ganzen concurrirender Gerichtsbarkeit; das Gericht, das in der Quartal Versammlung der Friedensrichter der Grafschaft abgehalten wird (Quarter Sessions of the Peace) und das in grösseren Städten gewöhnlich ein eigens bestellter Syndikus (Recorder) leitet, und das Gericht der die Grafschaften bereisenden Reichsrichter (Justices on Circuit), das in London durch ein allmonatlich neu zusammentretendes Gericht (Central Criminal Court) ersetzt wird, in welchem städtische und königliche Gerichtsbarkeit gewissermaassen sich vereinigen (die Quartalsitzungen bestehen trotzdem daneben fort). Die Abgrenzung der Competenz ist keine vollständige; doch ist die Tendenz der Gesetzgebung (das Hauptgesetz darüber ist st. 5 et 6 Will. IV. c. 76, vgl. Entw 1879 § 434) dahin gerichtet, die schwersten Fälle den Reichsrichtern vorzubehalten. Ausserdem giebt es gewisse Fälle, wo das wichtigste Strafgericht des Reiches, die Kings- oder Queensbench, jetzt eine selbständige Abtheilung des High Court of Justice, unmittelbar vor seiner Schranke Schwurgerichtsverhandlungen abhält. 11 Der Entw des neuen Strafprozessgesetzes von 1879 hat die Grand Jury beibehalten und nur das ihr bisher zukommende Recht, Anklagen aus eigener Initiative (presentments) zu erheben, beseitigt (§ 506). S. übrigens im Law Magazine 1881 Nr 242: Κ in gli or n, Ought grand juries to be abolished?

140 zu

14.

clem Augenblick

wird.

Das englische

abgeschlossen,

wo

der

D e r Gang der Hauptverhandlung,

dem Gesetz von 1865

ect.

Wahrspruch

abgegeben

wie er n u n i n E n g l a n d seit

(st. 28 Y i c t . c. 18)

in

grösserer

Annäherung

an den Civilprozess feststeht, ist folgender: Mündliche Darlegung der Anklage den

u n d beabsichtigten Beweisführung

Ankläger,

Vorführung

K r e u z v e r h ö r erforderlichen M i t w i r k u n g darauf

der

Angeklagte

(opening the case) durch

der Belastungsbeweise

auf

unter

der für das

der Vertheidigung.

die K r i t i k

W i l l sich

des Belastungsbeweises

be-

schränken, so w i r d erst dem A n k l ä g e r gestattet, die Beweisergebnisse zu besprechen u n d sofort dem Vertheidiger —

es wäre d e n n ,

das letzte W^ort gewährt

dass der Generalstaatsanwalt

i n Person erscheint

u n d von seinem alten P r i v i l e g i u m des letzten W o r t e s Gebrauch macht. E r k l ä r t dagegen der Vertheidiger, dass er Entlastungsbeweise vorführe, so hat er dabei i n gleicher A r t vorzugehen, wie früher der Ankläger. I n diesem F a l l k o m m t aber am Schluss clem letzteren das Recht der E r w i d e r u n g (right of reply) durch V o r t r a g und Beweisvorführung zu. I n Schottland dagegen folgen i n continentaler Weise die Parteivorträge dem Beweisverfahren nach. Was

das Β e w e i s r e c h t

1 2

betrifft,

so stimmen trotz

mancher

12 Da nicht ausführlicher auf clie Einzelheiten des englischen Beweisrechts eingegangen werden kann, so dürfte es genügen, hier in f o r m e l l e r Hinsicht nur zu betonen, dass die Handhabung cler Grundsätze des Beweisrechts Sache des G e r i c h t s ist, welches dieselben zunächst durch Ausschliessung des unzulässigen Materials, aber auch durch Rechtsweisungen, die den Geschwornen sehr rückhaltlos ertheilt werden, zur Geltung bringt ( G l a s e r , Anklage S 316 ff.). In s a c h 1 i c h e r Hinsicht sind es hauptsächlich folgende Grundsätze, welche als die Grundsäulen des englischen Beweisrechts erklärt werden (s. namentlich S t e p h e n , General view ch. I I ρ 69): Die Beweisführung muss sich auf clas beschränken, was Gegenstand der Entscheidung ist. Es muss stets cler beste Beweis vorgebracht oder clocli erklärt werden, warum ein besserer nicht beigebracht werden kann. Zeugniss von Hörensagen ist unzu-

lässig.

Niemand

ist verpflichtet,

sich

seihst strafrechtlich

verfänglich

zu

machen.

Beispiele für clie eigenartige allmähliche Entwickelung cles englischen Beweisrechts bieten clie Lehren von cler beweisenden Kraft cler Aussage eines Mitschuldigen unci von der Vorführung aussergerichtlieher Geständnisse. Siehe darüber Greenl e a f I §§ 223. 231. Mit der Stellung des englischen Richters zum Beweisrecht hängt es zusammen, dass trotz cler Inappellabilität cles Spruches cler Geschwornen auf die Festhaltung cler Ergebnisse des Beweisverfahrens in cler Hauptverhandlung die grösste Sorgfalt verwendet wird; nicht irgend ein untergeordneter Beamter, cler Vorsitzende Richter selbst zeichnet sie auf, und dieser Vorgang, cler durch clie passive Rolle des Richters ermöglicht wird, gewährt sowohl beim Résumé als bei Rechtsmitteln grosse Vortheile. Denn sie bildet die eigentliche Grundlage für die Erörterung cler Fragen cles Beweisrechts vor cler höheren Instanz; und diese ist eben darum in umfassender Weise möglich, weil nicht cler Eindruck der Geschwornen. sondern die Haltung des Vorsitzenden Richters dabei zu prüfen ist.

$ 14.

Das englische Ileclit.

141

Verschiedenheiten im Detail die drei Ländergebiete doch darin überein, dass durch Gerichtsgebrauch und theilweise auch durch Gesetze genau bestimmt ist, was überhaupt als Beweismittel betrachtet und zugelassen werden darf und welchen Minimalanforderungen die Beweisführung entsprochen haben muss, wenn deren Beurtheilung der Jury soll überlassen werden können (evidence to be left to the jury). Ist diesen Anforderungen überhaupt nicht oder doch bezüglich eines wesentlichen Momentes des Thatbestandes nicht entsprochen oder zeigt sich sonst in der Verhandlung ein der Verurtheilung entgegenstehender Rechtsgrund, so wird die Jury vom Richter angewiesen, sofort einen Wahrspruch: „Nicht schuldig" abzugeben. Im entgegengesetzten Falle findet die Verhandlung ihren formellen Abschluss in dem Schlussvortrag des Richters, welcher den Gesehwornen auf Grund der während der Verhandlung gemachten Aufzeichnungen nach Bedarf die Beweisergebnisse nochmals vorführt und ihnen über deren Würdigung, sowie über die Erfordernisse des Thatbestandes, der durch ihr „Schuldig" festgestellt werden soll, die nöthige Rechtsbelehrung ertheilt, an die sie, soweit dabei die Rechtsgrundsätze aufgestellt wrerden, gebunden sind. Die Gesehwornen können sich über ihren Wahrspruch im Sitzungssaale selbst einigen oder in ein Berathungszinimer sich zurückziehen. Der Wahrspruch kommt in Schottland durch einfache Mehrheit (mindestens 8 Stimmen gegen 7) zu Stande. I n England und Nordamerika wird Einstimmigkeit sowohl zu einem bejahenden, als zu einem verneinenden Ausspruch gefordert ; ist die Einstimmigkeit nicht sofort zu erzielen, so hält der Richter die Gesehwornen nach heutiger Praxis so lange eingeschlossen, als ihm dies nöthig scheint, um die Gewissheit zu erlangen, dass eine Einigung nicht zu erzielen sei. Entlässt er dann die Gesehwornen, so kann der Angeklagte, da er nicht freigesprochen ist, neuerdings vor eine Urtheilsjury gestellt werden. Der Wahrspruch wird m ü n d l i c h abgegeben; entstehen Bedenken oder Zweifel, so verständigt sich der Richter mit den Gesehwornen in öffentlicher Sitzung darüber, und erst wenn alle Bedenken beseitigt sind und die wahre Intention der Geschwwnen klargestellt ist, wird der Wahrspruch protokollirt. Der Wahrspruch ist seinem Inhalt nach die Erklärung, dass der Angeklagte dessen, was ihm die Anklageschrift zur Last legt, „schuldig" oder „nicht schuldig" sei. Der Ausspruch „nicht schuldig" ist Definitiventscheidung ohne weitere Declaration des Gerichtes; der Ausspruch „schuldig" ist nur insofern Grundlage des richterlichen Erkenntnisses, als dieses die Strafe ausspricht. Die Entscheidung darüber, welche strafbare Handlung dem Angeklagten

142

S 14.

Das englische Recht.

zur Last fällt, erfolgt ausschliesslich durch den Wahrspruch, der somit nicht blos für die Thatfrage allein maassgebend ist. V. Die R e c h t s m i t t e l sind in jedem der drei Gebiete eigenartig ausgebildet; doch ist allen gemeinsam, dass es — von ganz verschwindenden Ausnahmen abgesehen13 — nur Rechtsmittel zu Gunsten, nicht zum Nachtheil des \ r erurtheilten giebt und dass eine positive Abänderung des thatsächlichen Spruches vor der Rechtsmittelinstanz nicht zu erzielen ist. In E n g l a n d gab es seit alten Zeiten z w e i Rechtsmittel: die N i c h t i g k e i t s b e s c h w e r d e (writ of error) und das A n s u c h e n u m e i n e n o c h m a l i g e λ 7 e r h an d l u n g (motion for a new trial). Die erstere ist zwar in neuerer Zeit dadurch wesentlich erleichtert worden, dass sie nicht mehr unmittelbar an das Oberhaus geht, sondern dass über dieselbe ein grosser, aus Mitgliedern der drei Common Law Courts gebildeter Gerichtshof (Court of Exchequer Chamber) entscheidet (st. 11 Geo. I V und 1 Will. I V c. 70). Allein die Nichtigkeitsbeschwerde kann nur aus Gründen ergriffen werden, welche aus dem Protokolle ersichtlich sind, und das Protokoll enthält eigentlich nur Anklageschrift, Zusammensetzung der Jury und Wahrspruch. Viel weiter ist der Kreis der Gebrechen, wegen welcher eine nochmalige Verhandlung bewilliget wird: allein in England ist in der grossen Mehrzahl cler Straffälle dieses Rechtsmittel ganz unzulässig, so dass es überwiegend auf dein Gebiete des Civilprozesses ausgebildet ist. In Nordamerika hat aber die fortschreitende Rechtsentwickelung die willkürlichen Beschränkungen dieses Rechtsmittels beseitigt und dasselbe so ausgebildet, dass es allen auf diesem Gebiete sich zeigenden Bedürfnissen zu entsprechen geeignet ist und recht eigentlich die vollendetste Lösung cler legislativen Aufgabe darstellt, mit Mündlichkeit des Verfahrens und freier Beweiswürdigung, zumal durch Geschworne, jene Garantien zu verbinden, welche die Möglichkeit der Anrufung einer höheren Instanz allein gewähren kann. Auch in England war die Mangelhaftigkeit des alten Systems der Rechtspflege im Strafprozess längst empfunden worden, und es hatte dies zu einem Vorgang geführt, welcher erst durch ein Gesetz v. J. 1848 (st. 11 et 12 Viet. c. 78) vollständig ausgebildet wurde. Nach diesem Gesetz steht es bei jeder vor den Assisen oder den Quarter Sessions stattfindenden Verhandlung, bei welcher ein Wahrspruch „Schuldig" ergeht, dem Gerichtshofe frei, nach seinem Er13

Amerika.

Ansätze zur Abweichung hievon zeigen sich merkwürdigerweise gerade in B i s h o p I § 664.

14.

Das englische

ect.

143

messeli jede Rechtsfrage, welche sich bei der Hauptverhandlung ergiebt, der Prüfung durch die Mitglieder der drei Common Law Courts vorzubehalten und bis zu erfolgter Entscheidung derselben entweder die Vollstreckung oder auch die Fällung des Erkenntnisses zu verschieben, auch inzwischen den Schulcliggesproehenen in Haft zu halten oder gegen Bürgschaft zu entlassen. Zu diesem Zwecke soll der Gerichtshof eine schriftliche Darstellung der vorbehaltenen Rechtsfragen und der besonderen Umstände, aus welchen sie sich ergaben, vorlegen. Der Appellhof versammelt sich in Exchequer Chaniber in einer Zahl von mindestens fünf Richtern, unter denen mindestens einer der Präsidenten der drei Gerichte sein muss, in öffentlicher Sitzung, und es findet, wenn die Parteien vertreten sind, was aber nicht nöthig ist, eine contradictorische Verhandlung statt. Der Gerichtshof ist berechtigt, die Darstellung zur Ergänzung an das untere Gericht zurückzuweisen. Erachtet'er die Sache spruchreif, so findet (wie immer) öffentliche Stimmenabgabe der Richter statt; und es kann cler Gerichtshof e n t w e d e r 1. das Urtheil bestätigen und wrenn ein solches noch nicht ergangen ist. dem unteren Gericht die Urtheilsfällung auftragen; oder 2. es abändern (amend) ; oder 3. es aufheben und vernichten und dabei zugleich e n t w e d e r Aussetzung des Urtheils aussprechen (arrest the judgment), o d e r befehlen, dass ins Protokoll eingetragen werde, dass nach der Ansicht des Gerichtshofes der Angeklagte nicht hätte schuldig gesprochen werden sollen (ought not to have beeil convicted). Obgleich in neuerer Zeit die englische Gerichtsverfassung durch die Vereinigung aller höheren Reichsgerichte (Supreme Court Judicature Acts v. 1873, st. 36 et 37 Vict. c. 66 und v. 11. Aug. 1875 st. 38 et 39 Vict, c. 77 und clas die Appellationsgerichtsbarkeit des Oberhauses wieder neu gestaltende Ergänzungsgesetz v. 11. Aug. 1876 st. 38 et 39 Vict. c. 59) eine namhafte Umgestaltung erfahren hat, so sind doch die vorstehend beschriebenen Rechtsmittel einrichtungen dadurch nicht moclificirt worden. Allenfalls ist hervorzuheben, dass das höchste Reichsgericht in zwei Abtheilungen zerfällt, deren eine die bisherigen höchsten Reichsgerichte, jetzt Divisional Courts genannt, unter dem Namen High Court of Justice in sich schliesst, die andere aber Court of Appeal heisst, deren Senate aus je 5 Mitgliedern cler anderen Abtheilung des Gerichtes zusammengesetzt werden und auf welche (nach sect. 4) all jurisdiction and power of the Court of Exchequer Chamber übergeht, und zwar so, dass der Rechtszug an das Oberhaus (durch s. 20 des (ires v. 1873) abgeschnitten wird; im übrigen aber die ganze Jurisdiction fast ganz in bisheriger Weise auszuüben ist. soweit nicht die

144

S 14.

Das englische Recht.

Richter auf clie ini Gesetz geregelte Art darüber andere Anordnungen (Rules) aufstellen (s. 23). Genaueres Eingehen auf die Einzelheiten des englischen Rechtsniittelsystems wird jedenfalls die Ueberzeugung begründen, dass unter Einmischung von eigenartigen Elementen, an deren Uebertragung gar nicht zu denken wäre, es hier gelungen ist, ohne Verletzung des Principe der Mündlichkeit des erstrichterlichen Verfahrens und cler freien Beweiswürdigung den Rechtsgrundsätzen einen weitergehenden Schutz vor höheren Gerichten zu geben, als bisher auf dem Continent erreicht wurde. Dies hängt freilich mit cler Ordnung des Verhältnisses zwischen Gericht und Jury zusammen. Beides sind Punkte, für welche aus dem freien Studium, nicht aus cler sklavischen Nachahmung des englischen Prozesses für den Continent noch Nutzen zu ziehen ist. VI. Suchen wir uns am Schlüsse noch klar zu machen, wie sich der englische Prozess zu dem Gegensatz von Accusation und Inquisition stellt, so muss man hier mehr als andersVo zwischen Theorie und Praxis unterscheiden. Soweit man für das Inquisitionsprincip wenigstens die Durchführung des Gedankens der Verfolgung der strafbaren Handlungen von Amtswegen als das entscheidende erachtet, ist dieses Princip die Grundlage auch des englischen Prozesses ; die alte Form cler Privatanklage (appeal) ist mit dem Zweikampf, durch den sie durchzuführen war, verschwunden; clie Anklage erfolgt nicht blos stets im Namen des Königs, es ist nicht nur durch Polizeieinrichtungen für die ersten Verfolgungsacte und jetzt auch durch Staatsveranstaltungen für Herbeiführung der wichtigsten gerichtlichen Schritte gesorgt, es werden nicht nur die Kosten cler Criininalverfolgungen fast stets aus öffentlichen Mitteln bestritten, sondern es wird den Bürgern von Fall zu Fall die dem Zeugnisszwang nahe verwandte Pflicht auferlegt, clie Verfolgung im Namen der Krone zu führen. Mit dieser Grundansehauung steht die ganze Terminologie des Strafprozesses (pleas of the Crown. Crown office, clerk of the Crown) im engsten Zusammenhange, insbesondere clas Formular der Anklageschriften, welches nicht clen thatsächlich einschreitenden Ankläger (prosecutor), sondern die Anklagejury selbst — bezeichnend die Jury des Königs genannt — und ihre Mitglieder, „berufen für unseren Herrn den König und für die Gesammtheit der Grafschaft Untersuchung anzustellen", als diejenigen nennt, die die anklagende Behauptung vorbringen (present), und immer mit dem Hinweise darauf schliesst, dass das Delict „gegen clen Frieden des Königs, dessen Krone und Würde" verübt sei. Es Hessen sich leicht noch andere Einzelheiten vorbringen, die sogar von einem Recht des G e r i c h t e s , den Anstoss zu Verfolgungen zu geben, zeugen. Nichtsdestoweniger

§ 15.

145

Der französische Strafprozess.

ist das Vorherrschen des a c c u s a t o r i s eh en Typus zumal in der Hauptverhandlung unverkennbar u . § 15. D e r f r a n z ö s i s c h e

Strafprozess 1.

I. Die geschichtliche Entwickelung des französischen Strafprozesses bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war der des deutschen so 14 Ein hervorragender englischer Criminalist, S t e p h e n (General view ch. V ρ 166) spricht sich über die Grundform des englischen Strafprozesses folgendermaassen aus : „Was die allgemeine Wirksamkeit unserer Art des Verfahrens betrifft, so muss bemerkt werden, dass die inquisitorische Prozesstheorie ohne alle Frage die richtige ist. Es leuchtet von selbst ein, dass eine Hauptverhandlung eine öffentliche Nachforschung nach der Wahrheit eines das öffentliche Interesse aufs tiefste berührenden Gegenstandes sein sollte; aber immerhin mag es sein, und ist wahrscheinlich der Fall, dass in unserem Lande und in unserer Zeit die beste Art, eine solche Nachforschung zu führen, darin besteht, die Verhandlung hauptsächlich als eine streitige (as a litigation) zu betrachten und jeder Partei zu erlauben, alles zu sagen, was für ihre eigene Auffassung vorgebracht werden kann, gerade so, wie es das beste Mittel, die Wahrheit in Bezug auf eine streitige Meinung herauszustellen, wäre, denjenigen, welche entgegengesetzte Ansichten behaupten, Gelegenheit zu geben, die Sache irei und öffentlich zu erörtern. Ich habe nachgewiesen, dass in vielen seiner Einzelheiten das englische Verfahren litigiös, in einigen aber inquisitorisch ist (vgl. daselbst ρ 15B). Das Hauptergebniss kann damit bezeichnet werden, dass ein englischer Criminalprozess eine öffentliche Untersuchung ist, welche auf Entdeckung der Wahrheit ausgeht, diesen Zweck aber dadurch zu erreichen sucht, dass sie die Form eines R e c h t s s t r e i t e s zwischen A n k l ä g e r und A n g e k l a g t e m annimmt". Es ist hier vielleicht der Platz, noch das nüchterne Wort desselben Schriftstellers über die wichtigste Eigentümlichkeit des englischen Prozesses, das trial by jury, anzuführen. Er sagt (eli. V I ρ 207): „It affords an incomparable guarantee to the public for the fairness, as distinguished from the truth of the decision ultimately reached to, and the political importance of this can hardly be overrated". 1 L i t e r a t u r : A y r a u l t , Ordre et instruction judiciaires. Neueste Ausgabe von V. J e a n v r o t . Paris 1881. A l l a r d , Histoire de la justice criminelle du XVI. siècle. Gand 1868. D u b o i s , Histoire du droit criminel de la France depuis le XVI. jusqu'au XIX. siècle. Paris 1874. D e t o u r b e t , La procédure criminelle au XVII. siècle. Paris 1881. A. E s m e i n , Histoire de la procédure criminelle en France et spécialement de la procédure inquisitoire depuis le XIII. siècle jusqu'à nos jours. Paris 1882. H. W a l l o n , Histoire du tribunal révolutionnaire de Paris avec le journal de ses actes. Paris bis Ende 1881 5 Bände. Die Commentare zum Code d'Instruction von C a r n o t , B o u r g u i g n o n , R o g r o n , S i r e y , R o l l a n d de V i 11 argues. L o c r é , La législation civile, criminelle et commerciale de la France, vol. XXIV. Paris 1831. Faustin H é l i e , Traité de l'instruction criminelle ou théorie du Code d'instruction criminelle. 1. éd. 9 vol. Paris 1845—1860. 2. éd. 8 vol. Paris 1866, 1867; éd. belge p. N y p e l s et H a n s s e n s 3 vol. 1863-1869. D e r selbe, Pratique criminelle des cours et tribunaux. 1. partie Paris 1877. B o i t a r d , Leçons de droit criminel. 12. éd. par Faustin H é l i e . Paris 1880. G a r r a u d , Précis

Binding, Handtuch.

IX. 4. I :

G l a 6 e r , Strafprozess.

I.

10

146

§ 15.

Der französische Strafprozess.

ähnlich, als es der geradezu entgegengesetzte Gang der Gestaltung des Verhältnisses der Reichsgewalt zu den einzelnen Gebieten gestattete. du droit criminel. Paris 1881. F. B o e u f , Résumé de répétitions écrites sur le droit pénal . . . . 9. éd. contenant les lois nouvelles jusqu'en 1880. Paris 1881. M. D. D a l l o z et Armand D a l l o z , Jurisprudence générale, répertoire méthodique et alphabétique de doctrine et de jurisprudence (insbesondere Artikel „Instruction criminelle" vol. XXVIII). M o r i n , Répertoire général et raisonné du droit criminel. 2 vol. Paris 1850, 1852. B e r r i a t - S a i η t - P r i x , Cours de droit criminel. 1. éd. Grenoble 1817. R a u t er, Traité théorique et pratique du droit criminel. 2 vol. Paris 1826 (auch Bruxelles 1837). E. T r é b u t i e n , Cours élémentaire de droit criminel. 2 vol. Paris 1854. J. J. l l a u s , Cours de droit criminel. 3. fd. Gand 1864. Nr 418 ss. ; neueste Umarbeitung auf Grund des belgischen Rechts : Principes généraux du droit pénal belge. 3. éd. 2 vol. 1879. O r t o l a n , Eléments de droit pénal. 4. éd. Paris 1874. J. M. L egra ver end, Traité de la législation criminelle. 1. éd. 2 vol. Paris 1816. 3. éd. belge 5 vol. Bruxelles 1832, 1833. M. M a n g i η , Traité de l'action publique et de l'action civile. 3. éd. Paris 1876. L e S e 11 y er, Traité . . des actions publique et privée. 2 éd. 2 vol. Paris 1874. L a c u i s i n e , De l'administration de la justice criminelle. Paris 1841. Du v e r g e r , Manuel des juges d'instruction. 1. éd. 2 vol. Paris 1840. 3. éd. 3 vol. 1862 resp. 1865. O r t o l a n et L e de au, Le ministère public en France. 2 vol. Paris 1830. Mas s al) i au, Manuel du procureur du roi. 3 vol. Paris 1844. D e r s e l b e . Manuel du ministère public près la cour d'appel, les cours d'assises et les tribunaux civils, correctionnels et de police. 4. éd. Paris 1876. C a m b u z a t , Du ministère public près les tribunaux de simple police. Paris 1879 in der Revue critique. M a n g i n , De l'instruction écrite . . ouvrage revu . . par F. Hélie. 2 vol. Paris 1844. R. C u b a i n , Traité de la procédure devant les cours d'assises. Paris 1857. B e r r i a t - S a i n t - P r i x , Le jury en matière criminelle. 5. éd. Paris 1875. A. Dey res, Des nullités en cour d'assises. 2. éd. Paris 1881. J. A n s p a c h , De la procédure devant les cours d'assises. Bruxelles et Paris 1856. J. Ρ er rè ve, Manuel des cours d'assises. Paris 1861. C o l o m b i e r , Des fonctions du président en matière pénale. Paris 1881. F^d. B o n n i e r , Traité théorique et pratique des preuves en droit civil et en droit criminel. 4. éd. 2 vol. Paris 1874. J. B. H o f f m a n n , Traité théorique et pratique des questions préjudicielles en matière répressive. 3 vol. Bruxelles et Paris 1865. Ch. B e u d a n t , De l'indication de la loi pénale dans la discussion devant le jury. Paris 1861. T. de Sé che 11 e s, La vindicte publique en France jusqu'en 1847. Freiburg im Breisgau 1860. B i g o r i e de L a s champ s, Du jury en matière criminelle. Paris 1863. B o n n e v i l l e de Marsangy, De l'amélioration de la loi criminelle. Paris 1855. D u t r u c , Code de la détention préventive. Paris 1866. Cl ο l u s , De la détention préventive. Paris 1865. Des s a l l e s, Réflexions sur la détention préventive. Paris 1863. Albert D e c o u r t e i x , La liberté individuelle et le droit d'arrestation. Paris 1879. B e r r , De la liberté individuelle et de la détention préventive. Rioni 1880. A. P r i n s et H. Ρ er gam en i , Réforme de l'instruction préparatoire. Paris et Bruxelles 1871. I). Adolphe P r i n s , Etude comparative sur la procédure pénale à Londres et en Belgique. Bruxelles 1879. A n t h e u n i s , De la publicité de l'instruction. 1875. J. M u n i e r - J o l a i n , L'instruction criminelle inquisitoriale et sécrète. Paris 1880. T e i s s i e r , Instruction criminelle et liberté individuelle. Paris 1881. C. P. D a y re, Traité de la procédure des tribunaux de simple police.

§ 15.

Der französische Strafprozess.

147

Die immer mehr erstarkende königliche Gewalt hatte in Frankreich trotz allerhand Manniehfaltigkeiten cler Strafgerichtsverfassung überall in ziemlich gleichartiger Weise dafür gesorgt, dass der Appell von der immer mehr zurückweichenden Patrimonialgerichtsbarkeit an die königlichen Gerichte ermöglicht werde; in den Parlamenten besass Paris 1882. Ο d i lo η B a r r o t , De l'organisation judiciaire en France (in den Verhandlungen der Académie des sciences morales et politiques 1871). R o n d e a u , Réforme de la procédure criminelle en France. Paris 1872. B o n n i e r - O r t o l a n , Publicité de l'instruction préparatoire. Paris 1872. P a r i n g a u l t , Des vicissitudes du jury. Paris 1872. F a i vre et C1 o u i on. Du jury en matière correctionnelle. Paris 1881. A u s w ä r t i g e A r b e i t e n : Codex des Verfahrens in peinlichen und correctionellen Sachen für das Königreich Westphalen. Kassel 1809. Bi'iiow, Bemerkungen über das Verfahren in Strafsachen nach westphälischem Recht. 1811. A. v. F eu er ha ch, Ueber die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren Frankreichs. Glessen 1825. Besonders über Voruntersuchung S 366 ff. Geib, Die Reform S 92 ff. L o m b a r d , Kurze Uebersicht der Verschiedenheiten zwischen dem in der Criminalordnung vorgeschriebenen und dem in den preussischen Rheinprovinzen stattfindenden Criminal verfahren. Hitzigs Ζ VI 391—408. (C. ν. Κ a m ρ t z ) Merkwürdige Urtheile neuerer französischer Rechtsgelehrter über Geschwornengeriehte und französische Criminaljustiz überhaupt. Berlin 1819. W a r n k ö n i g und S t e i n , Französische Staats- und Rechtsgeschichte. Basel 1846. Willi. S c h a f f n e r , Geschichte der Rechtsverfassung Frankreichs. 2. Ausgabe 4 Bände Frankfurt a. M. 1845—1850. Ludwig F r e y , Frankreichs Civil- und Criminalverfassung. 2. Aufl. Erlangen 1851. D. A. v. D a n i e l s , Grundsätze des rheinischen und französischen Strafverfahrens. Berlin 1849. Ernst Hermann H ö c h s t e r , Lehrbuch des französischen Strafprozesses. Bern 1850. ( R u p p e n t h a i ) Materialien zur Revision der rheinpreussischen StPO. Köln 1848. Ludwig L i p p e r t , Theoretisch-praktische Anweisung zur Einführung und Anwendung des öffentlichen und mündlichen Verfahrens in Deutschland. Mainz 1848. A. Oberst, Sammlung gerichtlicher Akten aus der pfälzischen Strafrechtspflege. München 1848. A. F r i e d r i c h , Bemerkungen über die Rechtsmittel im französischen Strafverfahren. Aschaffenburg 1851. L. \ T o l k m a r , Die Jurisprudenz des rheinischen Cassationshofes zu Berlin 1819—1848. Berlin 1848. I). Karl S c l i m i dt, Entscheidungen deutscher Cassationshöfe als Noten zum Code d' Instruction für Elsass-Lothringen. Kolmar 1874. M i t t e r m a i er, Gesetzgebung und Rechtsübung. 1856. S 67 ff. D e r s e l b e , Erfahrungen über die Wirksamkeit der Schwurgerichte. 1865. S 127—220. 625—629. G r o s s , Die sogenannten französischen Ideen im deutschen Strafprozess. Strafrechtspflege I I I 413—421. B ü c h n e r , Die französischen Revolutionstribunale. Erlangen 1854. v. Stema nn, Die organische Natur des französischen Strafprozesses. A NF 1852 S 69 ff. Ueber die Abschaffung der Rathskammer: M i t t e r mai er, GS 1857 I 81 ff. W a l t h e r daselbst I I 200 ff. — Glaser, Ges. kleine Schriften: S 417 ff. Vernehmung des Angeklagten und der Zeugen, S 455 ff'. Versetzung in Anklagestand, S 513 ff. Unmittelbare Ladung, S 565 ff. Vorbereitung der Hauptverhandlung im Schwurgerichtsverfahren, S 615 ff. Non bis in idem. D e r s e l b e in HH I 20 ff. 33. 46 ff. (hier zu Grunde gelegt). Geyer, Lehrbuch §§ 25—28. Caso r a t i , 11 processo penale ρ 69—80. 10*

148

§ 15.

Der französische Strafprozess.

Frankreich angesehene und nach oben wie unten hin verhältnissmässig unabhängige ständige Gerichte, welche einerseits von der Verwaltung fern blieben, andererseits in der Regel (die Pariser T o u r n e l l e machte eine Ausnahme) mit Civil- und Criminaljustiz gleichmässig befasst waren. In den Patrimonial- und in den königlichen Gerichten erstand früh ein öffentlicher Ankläger und es entwickelte sich bald das ö f f e n t l i c h e M i n i s t e r i u n i . Diese Organe traten zu einer Zeit in die Gerichtsverfassung ein, wo die Privatanklage noch in voller Wirksamkeit stand, und wreit entfernt sie zu verdrängen, trugen sie nur dazu bei, dass sie nicht wie in Deutschland durch die ausschliessliche Initiative des Richters beseitigt ward. Im wesentlichen bildete sich ein Eventualsystem : in Ermangelung der Civilpartei trat die Staatsanwaltschaft ein, in Ermangelung eines Antrages der letzteren konnte cler Richter auch von Amts wegen vorgehen ; es galt der Satz : Tout juge est officier du ministère public. Allein auch im ersten unci letzten Fall behielt die Staatsanwaltschaft Stellung im Prozess: sie musste gehört werden, wenngleich ihre Anträge nicht bindend waren. I n dem Strafprozess, den die constituirende Nationalversammlung vorfand, war die schriftliche, geheime Untersuchung in Stadien gegliedert, welche an die Eintheilung des deutschen Prozesses erinnern. Zuerst eine blosse Information, ähnlich unserer Generalinquisition, dann ein richterliches Decret, das die Einleitung der Untersuchung gegen diesen Beschuldigten verfugt und dessen Verhör, sowie eine f ö r m l i c h e Vernehmung der Zeugen (recolement) begründet. W i r finden den Angeschuldigten ebenfalls völlig schutzlos der Willkür des Richters preisgegeben ; nur wurde seine Lage noch dadurch drückender, dass er gleich zum Beginn s c h w ö r e n musste, die Wahrheit zu sagen, was freilich die Uebelstände des deutschen Reinigungseides weit überbot. Dazu kommt die Ausschliessung des Vertheidigers. während die Anklage doppelt vertreten ist. Wir finden nicht minder die gesetzliche Beweistheorie (und zwar eine p o s i t i v e ) , die Folter, in womöglich noch gehässigerer Gestalt, die ausserordentliche Strafe, etwas beschränkter, und schliesslich die Instanzentbindung unter dem Namen: plus amplement informé. Allein bei aller rücksichtslosen Härte gegen den Beschuldigten konnte doch das Strafverfahren die juristische Eigenart cles Prozesses nicht so ganz abstreifen, der Herrschaft der Form sich nicht so ganz entziehen wie in Deutschland. So trat denn an den Schluss der Untersuchung doch ein Anklang an contradictorisehes Verfahren. Die Civilpartei bringt nämlich am Schluss der Untersuchung eine Anklageschrift mit ihren auf Schuldigerklärung und Schadenersatz gehenden Conclusionen ein: nicht minder steht es

S l·*). Der französische Strafprozess.

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•dem Beschuldigten frei, eine Schutzschrift — s e l b s t zu verfassen. Die schriftlichen Conclusionen der Staatsanwaltschaft kommen ebenfalls zu den Akten, und zwar mit Ausschluss jeder schriftlichen oder mündlichen Motivirung. Nun erfolgt zwar (wie in Deutschland) ein auf die Akten gestützter Bericht an das Collegium; allein es findet doch vor demselben auch die unmittelbare Vernehmung des Angeklagten (sur la sellette) statt, und diesem ist auch jetzt noch zur Fühmng des Entlastungsbeweises Raum gegönnt. — Endlich gestattet die Gerichtsverfassung nicht blos eine geordnete Berufung an das Parlament, sondern auch die Einfühlung von Nichtigkeitsbeschwerden und Revisionsgesuchen, über welche der „König in seinem Conseil" entscheidet. Die constituirende Nationalversammlung hat, wie oft bald tadelnd, bald lobend hervorgehoben wurde, mit vollem Bewusstsein ein Werk der \ r erniittelung geschaffen. Dem e n g l i s c h e n Muster, das auch sie vor Augen hatte, fehlten die neben so vielen Schattenseiten doch noch immer anerkannten Vorzüge der amtlichen Sammlung und schriftlichen Sicherung des Beweismaterials und die organisirte Staatsanwaltschaft. Ueberdies war an die Uebertragung der englischen •Gerichtsorganisation als solcher nicht zu denken. Andererseits war man aber entschlossen, den neuen Strafprozess auf die Grundsätze der M ü n d l i c h k e i t , O e f f e n t l i c h k e i t , der contradictor i s c h e n V e r h a n d l u n g , der f r e i e n B e w e i s W ü r d i g u n g , der B e s e i t i g u n g der V e r d a c h t s s t r a f e n und der I n s t a n z e n t b i n d u n g zu bauen und England insbesondere auch die J u r y (und zwar nicht blos die Urtheils- sondern auch die Anklagejury) zu entlehnen. Die Lösung dieser schwierigen Verniittelungsaufgabe, zu welcher sich die Nationalversammlung entschloss, beruht der Hauptsache nach auf einer doppelten Dreitheilung : 1. auf der an die Eintheilung der strafbaren Handlungen in Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen (crimes, délits et contraventions) sich anschliessenden Zuweisung der Jurisdiction erster Instanz an Einzelgerichte (tribunaux de police), reine Richtercollegien (Zuchtpolizeigerichte, tribunaux de police correctionelle) und Schwurgerichte (cours d'assises), unci cler nach der Verschiedenheit dieser Gerichtsbarkeit sich richtenden, einfacheren oder entwickelteren Gestaltung der Aeusserlichkeiten des im Hauptpunkte einheitlichen Verfahrens ; 2. auf der Gliederung der entwickeltesten Form des Verfahrens in d r e i Stadien, von denen das e r s t e im wesentlichen der alten schriftlichen Information entsprach — das d r i t t e dagegen an cler Stelle cler verkrüppelten Verhandlung des Gerichtes auf Grund der Akten eine vollständige, jenen neu aufgestellten Grundsätzen entsprechende Verhandlung zeigt — während das

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Der französische Strafprozess.

dazwischen liegende z w e i t e Stadiuni (die Versetzung in Anklagestand) mit· minder sicherer Hand abgegrenzt und mehr als die anderen durch "Rücksichten der Gerichtsorganisation bedingt , das schwächste, dem Wechsel am meisten ausgesetzte Glied des neuen Prozesses wurde. Politische Rücksichten übten mannichfachen Einfluss auf die Detailausführung: namentlich bewirkte die Furcht vor der Wiederkehr der TJebergriffe der alten Parlamente und die Ueberspannung der Theorie von der Theilung der Gewalten eine Verkümmerung der Stellung des obersten Gerichtshofes. Das erste Kaiserreich beseitigte manche dieser Fehler: den schweren Missgriff gänzlicher Trennung der Criminal- und Civiljustiz. die Aufstellung einer Anzahl kleiner und unansehnlicher Gerichte, die Bestellung der Richter durch Wahl und auf Zeit, die Theilung der Functionen der Staatsanwaltschaft zwischen dem von der Regierung ernannten, aber unabsetzbaren und unabhängigen Commissar und dem gewählten öffentlichen Ankläger, die Regelung der Versetzung in Anklagestand bei Verbrechen durch das Zusammenwirken von Anklage-Geschwornen mit einem directeur du jury. Es stellte sich namentlich die Aufgabe, Civil- und Criminaljustiz mit einander in möglichst enge Verbindung zu bringen -— es schuf in den Appellhöfen (cours impériales) ansehnliche Körperschaften und verlegte in dieselben den Schwerpunkt der Justiz es verstand, durch die Ernennung der Richter und durch die Stellung der Staatsanwaltschaft der Regierung einen weitgehenden Einfluss zu sichern, und es schuf (hauptsächlich aus Gründen der Gerichtsorganisation) eine neue Form der Versetzung in Anklagestand mit Beseitigung der Anklagejury. II. So entstand der noch heute geltende Code d'Instruction criminelle (publicirt 27. November bis 26. December 1808). Die wichtigsten Eigentümlichkeiten des hier geregelten Verfahrens sind: Die I n i t i a t i v e der Strafverfolgung, welche der Regel nach dem Gericht entzogen ist, und an welcher neben der Staatsanwaltschaft der Beschädigte (als C i v i l p a r t e i ) Antheil hat. in dem Sinne, dass dem Recht der Staatsanwaltschaft, die Einleitung des Strafverfahrens zu veranlassen, das Recht der einmal mit einer Sache befassten Gerichte gegenübersteht, dieselbe auch gegen den Willen der Staatsanwaltschaft festzuhalten - die Einrichtung eines raschen, einfachen, jede Voruntersuchung abschliessenden, aber unter die Controle des Zuchtpolizeigerichts und des Cassationshofes gestellten P o l i z e i - S t r a f v e r f a h r e n s — das Verfahren in Zuchtpolizeisachen, welches je nach der Eigenart des Falles nach Art des Polizei Verfahrens auf Grund unmittelbarer Ladung ohne Voruntersuchung oder nach Art der wiegen Verbrechen einzuhaltenden Procedili* auf Grund einer Voruntersuchung

S

.

Der französische Strafprozess.

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und richterlichen Verweisung stattfindet —- die Berufung mit vollem Devolutiveffect gegen Urtheile der Polizei- und Zuchtpolizeigerichte an eine zweite und letzte Instanz, deren Entscheidung nur noch durch Nichtigkeitsbeschwerde angefochten ^werden kann. Das Verfahren wegen \7erbrec-hen hat folgende hervorragende Eigenthünilichkeiten : die Voruntersuchung und die richterliche Entscheidung über die Versetzung in Anklagestand ist obligatorisch, die Namen: A n k l a g e und Λ η g e k l a g t e r ( accusation, accusé im Gegensatz zu prévention, prévenu) gelten nur für den Fall der Verweisung vor das Geschwornengericht, Die Schwurgerichtssitzungen (Assisen) finden periodisch statt. Die Richterbank wird von Fall zu Fall mit Mitgliedern des Appellhofes und des Gerichtes erster Instanz am Hauptort des Departements besetzt. Der Präsident hat eine Reihe von Befugnissen und Pflichten, welche ihm eine selbständige Stellung, unabhängig von den Entschlüssen des Collegiums, lassen (pouvoir discrétionnaire) ; er hat insbesondere den Angeklagten noch vor der Hauptverhandlung zu vernehmen ( Präsidenten verhör), eine etwa nöthige Zwischenuntersuchung zu führen; er führt in der Hauptverhandlung die Beweise unter nur ergänzender Mitwirkung der Parteien vor und nimmt das in der Gestalt, in der es gewöhnlich vorkommt, allerdings mehr auf Gerichtsgebrauch als auf gesetzlicher Anordnung beruhende Verhör des Angeklagten vor; er stellt die Fragen an die Geschwornen und giebt ihnen im Résumé die Anleitung zur Ausübung ihrer Pflichten; er erlässt, wenn der Wahrspmch auf N i c h t s c h u l d i g lautet, die ordonnance (Γ acquittement. Die Grundlage des Schwurgerichtsverfahrens ist eine doppelte: das λ7 e r w ei su n g s e r k e n n t i l i ss der Anklagekannner und die in der Hauptsache an dasselbe gebundene A n k l a g e s c h r i f t der Staatsanwaltschaft. Der Gang des Verfahrens ist wesentlich verschieden von dem der altrömischen und der englischen mündlichen Verhandlung: Vortrag der Anklage, Verhör des Angeklagten, Beweisverfahren, zusammenhängende Parteienvorträge, Schlussvortrag des Vorsitzenden Feststellung schriftlicher Fragen an die Geschwornen — obligatorisches Zurückziehen der Geschwornen in ein Berathungsziinmer — mündliche Verkündigung der schriftlich fixirten Antwort der Geschwornen auf die Fragen — Prüfung und Entgegennahme der Antwort durch das Gericht und nochmalige Verlesung des angenommenen Wahrspruches in Gegenwart des Angeklagten. Sofern das Gericht nicht die Sache wegen Irrthums der Geschwornen in der Hauptsache auf die nächste Session verschiebt, folgt dann eine neue Parteienverhandlung über die auf Grund des Wahrspruches zu fällende Entscheidung und endlich dieser Ausspruch selbst

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(arrêt). Der einmal freigesprochene kann nicht abermals wegen derselben That verfolgt, der Wahrspruch „nicht schuldig" von der Staatsanwaltschaft selbst auf Grund von Formgebrechen nur „im Interesse des Gesetzes", d. h. ohne praktisches Resultat zum Nachtheil des Angeklagten, angefochten werden. Allein auch der p o s i t i v e I n h a l t des Wahrspruchs entzieht sich jeder Ueberprüfung; der Cassationshof kann nur das Verfahren und mit ihm den Wahrspruch vernichten. Auch den auf den Wahrspruch gebauten Spruch des Gerichtshofes kann übrigens der Cassationshof zwar vernichten, allein er kann keinen positiven Ausspruch an die Stelle setzen, sondern muss die Herbeiführung eines solchen einem Assisenhofe überweisen. IH. Oft sind die Mängel des Code d'Instruction criminelle und der durch ihn geregelten Procedur gerügt worden. Trotz alledem ist ein ernstlicher Versuch, eine durchgreifende Unigestaltung des französischen Strafprozesses, ja nur eine vollständige Umarbeitung des Code d'Instruction criminelle vorzunehmen, erst im Jahre 1870 gemacht worden und hat auch da noch zu keinem Resultat geführt 2 . Wohl aber sind einzelne Bestimmungen desselben durch dem Hauptwerk nachfolgende Gesetze abgeändert worden, und auf gewissen Gebieten, die durch die wechselnden politischen Verhältnisse berührt werden, haben Revolution und Reaction einen raschen und zum Theil verwirrenden Wechsel der gesetzlichen Bestimmungen herbeigeführt 3 . 2 Auf den Vortrag des Ministers Ol I i v i er vom 12. Mai 1870 (abgedruckt im Journal officiel vom 14. Mai 1870 — vgl. darüber Cas or a t i , Processo penale ρ 73: Mot zum Entw der deutschen StPO S 93) ward eine Commission zur Beratliung einer neuen Strafprozessordnung eingesetzt, der durch den Vortrag die Aufgabe zugewiesen war, fundamentale Aenderungen vorzunehmen (de rechercher, si l'on ne pourrait pas sans danger pour la société réduire la part laissée au système inquisitorial). 3 Eine Uebersicht derselben giebt G l a s e r in HH 1 26—33. Die neuesten Veränderungen betreifen: die Bildung der Geschwornenlisten (Ges v. 21. Nov. 1872), die Competenz in Presssachen (Ges v. 29. Dec. 1875 und 20. Juni 1881, s. darüber Geyer § 28 Anni 22. Rivista penale I I I 592. Doc how und L i s z t ' s Zeitschrift 1881 Beirage 2; Rivista penale XV 266 seq. 281 seq.), endlich die Abschaffung des Résumé des Schwurgerichtsvorsitzenden (GS 1881 S 304 — 306). Do chow und L i s z t ' s Zeitschrift 1882 S 179. Rivista penale XV 147—151, das. ρ 281 seq. (Brief von Molinier). Das belgische Decret vom 19. Juli 1831, welches die durch die niederländische Gesetzgebung abgeschaffte Jury wieder herstellte, erklärte die §§ 1 und 2 des Art. 336 (Le président résumera l'affaire. Il fera remarquer les principales preuves pour ou contre l'accusé) fur aufgehoben. Ueber das belgische Gesetz hinausgehend sagt das französische: Le président, après la clôture des débats, ne pourra, à peine de nullité, résumer les moyens de l'accusation et de la défense. Dass zu dieser Aufhebung des Résumé der fast durchgehende bei den französischen

.

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Erst in neuester Zeit tritt das Bestreben in den Vordergrund, den Code d'Instruction criminelle einer gründlichen und vollständigen Umarbeitung zu unterziehen und ein neues einheitliches Gesetzbuch an dessen Stelle zu setzen. Es ist eben ciarauf hingewiesen worden, dass diese Bestrebungen im letzten Regierungsjahre Napoleons I I I . zu einem ersten Anlauf führten. Nachdem sodann die politischen Ereignisse auch über diesen hinweggeschritten, war es D u f a u r e , welcher clas Werk wieder aufnahm und selbständig betrieb (1878); das Ergebniss der von ihm eingeleiteten Berathungen ward in der ausserordentlichen Sitzung cles Senates von 1879 diesem vorgelegt als Projet de loi tendant à réformer le Code d'Instruction criminelle, présenté au nom de M. Jules Grévy, Président cle la république française, par M. E. Le Royer etc. (Annexe au procès verbal de la séance du 27 îiov. 1879) 4 . Ueber die äusseren Schicksale dieses Entwurfes ist zu berichten, dass nach den neuesten Nachrichten 5 der Senat die erste Lesung desselben beendet und sich vorbehalten hat, ihn einer zweiten Berathung zu unterziehen. Der Gesetzentwurf, wie er saninit einem ausführlichen Motivenelaborat vorliegt, ist bestimmt, an die Stelle cler Art. 8—136 und 217—250 des Code d'Instruction criminelle zu treten und umfasst das erste Buch der künftigen Strafprozessordnung: De la police judiciaire et cle l'instruction ; welches in vier Titel zerfällt : 1. De la police judiciaire (Α. 8—31), 2. De l'instruction (Α. 32—155), 3. Du crime et du délit flagrant (A. 156—185), 4. De la Cour d'appel statuant comme juridiction d'instruction (A. 186—221). Die Abgrenzung des Stoifes entspricht nicht genau der Aufschrift des Buches; denn dasselbe umfasst neben cler Voruntersuchung auch die Versetzung in Anklagestand durch richterliche Verfügungen oder Beschlüsse (wie die Citation directe künftig gestellt werden soll, ist nicht ersichtlich) und behandelt durch Herübernahme der Bestimmungen \^orsitzenden sich zeigende Mangel an Objectivität clen Anlass gab, ist nicht zu leugnen; das kann aber nichts daran ändern, dass damit das Wesen des Juryverfahrens, wie es sich in England gebildet hat, beeinträchtigt wird. Gleicher Ansicht ist offenbar J ο li η, wie aus dessen Bemerkungen (StPO S 42 Anni 18) über § 300 der StPO hervorgeht. 4 E s m e i n , Histoire de la procédure criminelle en France ρ 580 ss. C asol a t i , Processo penale ρ 69—80. GS 1879 S 630. U l i m an η das. 1880 S 241 ff. S. M a y e r in GA 1880 S 101 ff., 1881 S 261—265. Α. Z u c k e r in Grünhut V I I I 1881 S 540 ff. Ausser der in Anm 1 angeführten Literatur s. noch: P e r i e r , Des réformes du code d'instr. crini. Révue critique de législ. Χ 12. L e v e i l l é , De la réforme du code cl'instr. crini. Paris 1882. 5 Bulletin de la société de législation comparée, juin 1882 ρ 628. G a r r a u d in Liszts Ζ 1882 S 161 ff. Documents parlementaires, Sénat, 1882 p 113 ss.

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15.

Der französische Strafprozess.

des Gesetzes vom 2. Mai 1863 über die summarische Aburtheilung der auf frischer That betretenen wegen Vergehen, auch bereits einen Theil des Verfahrens in der Hauptverhandlung. Im übrigen erleichtert der enge Anschluss an das bisherige Recht die Uebersicht und die Vergleichung sehr 0 ; es tritt deutlich hervor, dass die Absicht besteht , möglichst wenig vom bisherigen Recht sich zu entfernen ; so findet man ζ. B. die allzu zahlreichen Unterscheidungen der verschiedenen Formen, in denen die Verhaftung des Beschuldigten vor sich geht, ebenso wieder, wie das bisherige Verhältniss zwischen Verweisungserkenntniss und Anklageschrift der Staatsanwaltschaft 7. und die Veitheilung der Entscheidung über die Versetzung in Anklagestand zwischen Untersuchungsrichter und Appellhof. Mit aller Bestimmtheit erklären sich die Motive gegen die englische Organisation der Voruntersuchung und namentlich gegen die Oeffentliehkeit derselben. Dagegen ist im Entwurf der Versuch gemacht, die Voruntersuchung durch frühzeitige Mitwirkung des Vertheidigers. durch weitgehende Parteienöffentlichkeit und durch contradictorische, mündliche Verhandlung über Beschwerden an die Raths- und an die Anklagekammer, sowie über die Versetzung- in Anklagestand zu reformiren. Nur ein erstes, mehr formelles Verhör wird mit dem Beschuldigten in Abwesenheit des Vertheidigers vorgenommen 8 , wobei ihm erklärt G

Mitunter, findet sich am Schluss der Artikel des Entwurfes statt der Verweisung auf den entsprechenden Artikel des bisherigen Rechtes dio Anführung einer Bestimmung der ö s t e r r e i c h i s c h e n StPO von 1873, der der Entwurf sich anschliesst. So ist der die Stellung und Aufgabe des Untersuchungsrichters präcisirende Art. 36 dem § 96 der österr. StPO, Art. 67 u. 75 den 164 u. 174, so ist der den Gang des Verhörs des Beschuldigten regelnde Art. 120 zum Theil wörtlich den §§ 199 u. 200 der österr. StPO entnommen (über dit4 das Verhör eröffnende Ermahnung an den Beschuldigten heisst es: l'engage à répondre avec précision et en vue de faciliter la découverte de la vérité): ebenso ist bei den Artikeln 121 (L'aveu de l'inculpé ne dispense pas le juge d'instruction de rechercher d'autres éléments de preuves) und 122 über die Vorzeigung anzuerkennender Gegenstände auf die österr. StPO verwiesen. 7 Nach den Motiven' S 65 ist die Frage der Abschaffung der Anklageschrift in Erwägung gezogen worden; man konnte sich dazu nicht entschliessen. behielt sich aber vor, noch in Erwägung zu ziehen, ob deren Vorlesung in der Hauptverhandlung beizubehalten sei. Dem Schwanken der Procedur zwischen zwei Aktenstücken gleichen Inhalts soll dadurch ein Ende gemacht werden, dass die Schlussformel der Anklageschrift, deren Inhalt Art. 203 des Entw fast in wörtlicher Übereinstimmung mit Art. 241 Cd'I regelt, nicht die Anklage formuliren, sondern auf das Verweisungserkenntniss sich beziehen soll: En conséquence Ν . . . est accusé d'avoir commis les crimes relevés et qualifiés en l'arrêt rendu etc. 8 So sieht es wenigstens E s m e i n an, obgleich die Worte des Art. 85: . . . lui fait connaître les faits qui lui sont imputés et reçoit ses déclarations — doch

.

Der französische Strafprozess.

155

werden muss, dass er das Recht h a t , ' d i e an ihn gerichteten Fragen unbeantwortet zu lassen. Dringende Fälle ausgenommen muss dann das weitere \ T erfahren auf sich beruhen, bis dem Beschuldigten Gelegenheit gegeben ist, einen Vertheidiger zu ernennen oder bestellen zu lassen. Von da an muss der Vertheidiger zu jeder Vernehmung des Beschuldigten geladen werden; er kann jeder Vernehmung desselben beiwohnen, das Wort aber nur mit Bewilligung des Untersuchungsrichters ergreifen (gleiches gilt vom Staatsanwalt)·, er kann mit dem verhafteten Beschuldigten frei verkehren (Beschränkungen dürfen 20, in der Regel 10 Tage nicht überdauern). Es hängt vom Ermessen des Untersuchungsrichters ab, die Zeugen in Anwesenheit oder in Abwesenheit des Staatsanwalts und des \ T ertheidigers zu vernehmen-, jedenfalls aber sind die Protokolle darüber dem Beschuldigten oder seinem Vertheidiger niitzutheilen, während diesem die Einsicht in den ganzen Untersuchungsakt je nach Ermessen des Untersuchungsrichters gewährt oder versagt werden kann (A. 64. 133). Von Augenscheinsaufnahmen (constat) ist der Vertheidiger zu benachrichtigen, um denselben beiwohnen zu können (A. 47). — Der allgemeine Werth dieser Einrichtungen wird jedenfalls wesentlich davon abhängen, ob den mittellosen Beschuldigten, die ja die überwiegende Mehrzahl bilden, ein Vertheidiger schon in diesem Stadium beigegeben wird. Bezüglich der contradictorisehen Verhandlung über die Versetzung in Anklagestand wegen Verbrechen dagegen ist ausdrücklich angeordnet, dass ein \>rtheidiger nöthigenfalls von Amts wegen bestellt werden müsse (A. 190) — eine Belästigung des Vertheidigerstandes, die schwerlich in den zahlreichen Fällen sich rechtfertigen lässt, wo der Beschuldigte selbst nichts anderes will und erwartet als die Anordnung der Hauptverhandlung. Diese ganze mündliche Verhandlung droht eine oder die andere schlimme Eventualität herbeizuführen. Entweder wird die Prüfung und Erörterung der Anklage eine oberflächliche, wie sie es vermöge des in den meisten Fällen vorauszusehenden Ausganges dieser Prüfung leicht werden kann ; dann steht der Aufwand von Zeit und Arbeit kaum im richtigen Verhältniss zum Zweck. Oder die Prüfung ist eine eingehende und gründliche, dann muss die Aufrechthaltung der Anklage ein dem Angeklagten nachtheiliges Vorurtheil in die Haupt-Verhandlung tragen. beträchtlich darüber hinausgehen, zumal da nach Art. 87 von dem Ergebniss dieser Vernehmung die Beendigung oder Fortdauer der Freiheitsentziehung abhängt.

156

§ 15.

Der französische Strafprozess.

IV. So wie das e n g l i s c h e , so erlangte auch das f r a n z o s i s c h e Strafprozessrecht Geltung weit über das Gebiet hinaus, welchem die französische constituirende Nationalversammlung im J. 1791 ihren reformirten Strafprozess gab. Zunächst breitete sich derselbe auf die in den folgenden Kriegen unmittelbar und mittelbar der französischen Herrschaft unterworfenen Gebiete in den ehemals österreichischen Niederlanden, in Holland, in Deutschland und in Italien aus. Während im Königreich W e s t f a l e n das Strafverfahren unter dem Einfluss des französischen Strafprozessgesetzes vom J. I V der Republik ausgebildet wurde 9 , erhielt das napoleonische I t a l i e n eine unter dem Einfluss von R o m a g n o s i entstandene Strafprozessordnung, welche das französische Vorbild mit grosser Freiheit behandelte und eben darum sehr grosse Beachtung verdient 1 0 . Dieses Gesetz war zugleich das erste, das die französische Grundform des Strafprozesses u n t e r A u s s c h l u s s cler J u r y einführte, ein Vorgang, dem die nach dem Sturz des ersten Kaiserreiches hervorgetretenen Strafprozessgesetze des Königreichs S a r d i n i e n , T o s c a n a s , P a r m a s und N e a p e l s folgten. Namentlich letzteres Gesetz erfreute sich unter dem Einfluss von N i c c o l i n i einer von wissenschaftlichem Geiste getragenen Bearbeitung und Anwendung 1 1 . Aehnlich war der Strafprozess in mehreren 9

Die oben Anni 1 angeführte amtliche Ausgabe des „Code de procedure criminelle et eorrectionelle du Royaume de Westphalie" (deutsch und französisch) enthält auch einen bemerkenswerthen Vortrag des Staatsrath L e i s t über die Grundsätze des Gesetzes und ein Oircularschreiben Simeons, des Ministers „des Justizwesens und der inneren Angelegenheiten", sur la police judiciaire et l'instruction criminelle. 10 Ueber die Entstehung des Gesetzeswerkes und die inneren Beziehungen Romagnosis zu demselben s. Opere del Professore C. D. R o m a g n o s i , ediz. 5. t. 15 (Firenze 1835) die dem Abdruck des Textes und des officiellen Vortrages an den Vicekönig Eugen vorangeschickte Vorrede. Neben einer gleichzeitigen Aeusserung, in welcher das Ges bezeichnet wird als l'unico codice italiano che abbiamo e sul quale l'esperienza ha corrisposto felicemente ai concepimenti del Legislatore, wird das Wort von Cambacérès angeführt , die Italiener hätten das erstemal ein Gesetzbuch gemacht, aber es sei gleich ein vollkommenes geworden. R o m a g n o s i selbst ist nach einem dort abgedruckten Brief aus dem J. 1832 weit entfernt, das Werk als ein vollkommenes zu betrachten ; was ihm daran am besten gefällt, ist — das non liquet als dritte Urtheilsformel. 11 Ueber diese Epoche der Gesetzgebung Italiens s. Federico Sc lo pi s, Storia della legislazione italiana, Torino 1840—1864 (bis 1848 reichend), und die Einleitung von Ρ essi na, Dei Progressi del diritto penale in Italia. Dieser bezeichnet mit Recht schon das neapolitanische Strafprozessrecht als sehr hervorragend (Codice per il Regno delle due Sicilie. Parte IV. Leggi di procedura penale. Napoli 1819); s. N i e co l i n i , Della procedura penale nel Regno delle due Sicilie. Napoli 1827—1831 (9 vol.); d e s s e l b e n Quistioni di diritto. Napoli 1835—1841 6 vol., auch in einem Bande Livorno 1844. — Auf Neapel folgte Parma (1820) und

.

Cantonen der S c h w e i z

i n der

Zeit nach 1815 geordnet

so namentlich i n G e n f (1832) u n d W a a d t l a n d noch heute i m Königreich

157

Der französische Strafprozess.

der N i e d e r l a n d e

1 3

worden12,

(1836); so ist er es ,

das beharrlich

an

der französischen Grundform m i t Ausschluss der J u r y festhielt, dessen Gesetzgebung aber auch fortwährende

Schwankungen durchzumachen

hatte, welche durch das Bemühen verursacht wurden, einen Ersatz für die Jury bald i n einer gesetzlichen Beweistheorie, bald i n der Berufung zu finden, u n d durch die Schwierigkeiten, welche erstere selbst i n der geläuterten F o r m des niederländischen Gesetzes von 1836

14

,

letztere

das p ä p s t l i c h e Regolamento di procedura ν. 10. Nov. 1831. T o s c a n a , das zunächst zu seinen alten leopoldinischen Einrichtungen von 1786 zurückgekehrt war, schloss sich clem hier charakterisirten Typus durch das Motu proprio von 1838 an. Langsam geschah letzteres in Sardinien (Codice di procedura per gli Stati di S. M. il Rè di Sardegna. Torino 1840). P e s s i n a (1. e. ρ 29) sagt von dieser Gruppe von Gesetzen, sie ruhten alle auf dem französischen Fundament, sie hätten aber mehrfache und wichtige Neuerungen den französischen Institutionen, die sie annahmen, beigefügt. S. übrigens auch M i 11 e r m a i e r , Mündlichkeit S 82 ff. G e y e r , Lehrbuch § 44 Anm 3. B rusa, Appunti per una introduzione al corso di diritto e procedura penale. Torino 1881 (die Zahl 1880 auf clem Titelblatt ist Druckfehler). S§ H l · 122. 12 M i t t e r m a i er, Mündlichkeit S 79 ff. Geyer g 44 C. Ueber Genf siehe noch A. F l a mm er, Lois pénales d'instruction criminelle et de police . . . du Ganton (le Genève. Genève 1862. 13 Nachrichten über die früheren Gestaltungen des niederländischen Strafprozessrechtes s. bei F e u e r b a c h , Betrachtungen über die Oeffentlichkeit I I 416 ff., bei M i 11 e r m a i e r , Mündlichkeit S 67 — 70 und bei Ν y ρ e 1 s, Commentaire du Code de procédure penale ρ XIV. XV. Schon am 15. Januar 1815 ward, nachdem ein Decret v. 6. Nov. 1814 die Jury abgeschafft und die Oeffentlichkeit beschränkt hatte, ein Entwurf dem König vorgelegt, der die Reproduction einer unter Louis Bonaparte begonnenen Arbeit war; die Arbeiten schleppten sich bis ins Jahr 1830 fort, weil die Verständigung mit Belgien nicht gelang. Am 5. Juni 1880 ward eine StPO für das ganze Königreich publicirt, die in Belgien nicht mehr ins Leben trat, in Holland moditìcirt wurde. Wie H a u s und N y p e l s versichern, befriedigte dieses Gesetz niemanden; die Erfahrung sei ihm nicht günstig gewesen; die im Jahre 1862 und 1863 vergebens unternommenen Revisionsversuche, sagt N y p e l s a. a. O., beweisen, combien il est difficile de régler convenablement, sans le jury, la procédure du grand criminel. — Die Grundlage des heutigen Rechtes bildet noch immer das Gesetzbuch über Strafverfahren (Wetboek van Strafvordering) v. 21. April 1836, das nur durch Nachtragsgesetze und Aenderungen der Gerichtsorganisation geändert wurde. Aelterer Commentar B o s c h - K e m p e r , Wetboek van Strafvordering. Amsterdam 1838-1860. 3 vol. Neueste Darstellung: A . A . de P i n t o , Handleiding to liet Wetboek van Strafvordering. 2. Aufl. Zwrolle 1881. Repertorium der Rechtsprechung: D. L e o n , De regtsprake van den Η ο ο g en Raa dt, supplement of den 2. verm, druk van Dl. I I Aufl. 6 door A. Teixeira de Mat-toss. Gravenhage 1880. 14 S. darüber M i t t e r m a i e r , Mündlichkeit S 404. 405; B r a u n , Hauptstücke des öffentlich-mündlichen Strafverfahrens. Leipzig 1845. S 154. 155; letzterer

158

§ 15.

Der französische Strafprozess.

namentlich bei den schwereren Straffällen bietet, während der Zustand, der fast in allen vorstehend erwähnten Ländern bestand, vermöge dessen die Berufung in den schwersten Fällen allein ausgeschlossen war, mit Recht unerträglich gefunden wurde. Dagegen schlossen sich B r a s i l i e n (1832), G r i e c h e n l a n d (1884), P o r t u g a l (1832, 1887), G e n f (1844) den französischen Einrichtungen durchweg a n 1 5 , und B e l g i e n 1 6 hat gleich nach der Losreissung bezeichnet die Beweistheorie des holländischen Gesetzes als „negative" Beweistheorie. Avas sie allerdings ist, aber doch in einem anderen Sinne, als dies in Deutschland gemeint war. P o l s , De wettelijke bewijsleer in Strafzaken. Themis 1882. 15 S. hierüber hauptsächlich M i t t e m i a i er, Mündlichkeit S 71—82. 16 Die belgische Literatur schliesst sich eben darum meist ganz eng an die französische an, sei es dass besondere Bearbeitungen französischer Werke auch auf die belgischen Bedürfnisse Rücksicht nehmen, wie z. B. die brüsseler Ausgaben von H é l i e , M a n g i l i , R o g r o n , oder dass belgische Schriftsteller zugleich das französische und belgische Recht bearbeiten, wie z. B. H a u s , A n s p a c h und Η ο f f m a η η, s. oben Anni 1. — Die b e 1 g i s c li e li Abänderungen des Code, welche in der Gestalt von Abänderungsgesetzen hervortraten, betreffen insbesondere die Abschaffung des Résumé des Vorsitzenden, die sog. C o r r e c t i o n a l i s i r u n g d e r V e r b r e c h e n (Ges v. 14. October 1867), ganz besonders aber die U n t e r s u c h u n g s h a f t (Ges v. 18. Febr. 1852 u. 20. April 1874), endlich ein Ges v. 15. April 1878, die Bildung von Schwurgerichten bei Verhandlungen von grösserem Umfange betr. Annuaire de législation étrangère V I I I ρ 483 sq. Ueber diese Ges s. C a s o r a t i , Processo penale ρ 84; M a y e r in GA 1881 S 266 und Geyer § 44 H. Eine die b e l g i s c h e Gesetzgebung speciell darstellende Ausgabe des (/ode d ' I n s t r u c t i o n ist die von Dele be eque et H o f f m a n n . Bruxelles et Liège 4. éd. 1882. Wichtigste Zeitschrift: La Belgique judiciaire . . . Gazette des tribunaux belges et étrangers, seit 1843. Encyclopädie: Pandeetes belges. Encyclopédie de législation, de doctrine et de jurisprudence belges. Par E. P i c a r d et d ' I i o f f s c l i m i dt — bis jetzt 7 Bände. Zur Literatur der speciell belgischen Abänderungsgesetze gehören ferner: B r i t z , Commentaire législatif des deux lois nouvelles sinla compétence criminelle des 1. et 15 mai 1848. N y p e l s , Loi du 20 avril 1874 rélative à la détention préventive, annotée des rapports etc. 1874. P o u x - F r a n k l i n . Correctionalisation des crimes en Belgique. Dijon 1875. Ueber denselben Gegenstand Ρ erga me n i in der Rivista penale V 438 ff. Γ) e so e r , Code pratique de police judiciaire et administrative. 2. éd. Bruxelles 1880. (i. T i mm erma η s, Commentaire de la loi du 4 oct. 1867 sur l'appréciation des circonstances atténuantes par les cours et tribunaux. Bruxelles 1880. D e r s e l b e , Etudes sur la détention préventive. 2. vol. Bruxelles 1878. Indess gingen in Belgien parallel mit den Bemühungen für die Bearbeitung eines selbständigen Strafgesetzbuches die für die Herstellung einer neuen StPO. Erstere hatten den Vortritt, und erst seitdem sie durch das Ges von 1867 abgeschlossen sind, ward auch an die Ausarbeitung (1er neuen StPO nach (1er beim Strafgesetzbuch und bei den Gesetzeswerken des ersten Kaiserreiches eingehaltenen Methode geschritten, nach welcher die einzelnen Bestandteile des Gesetzbuches einzeln von den Kammern votirt und sogar publicirt wurden. Aus den hierauf abzielenden Arbeiten (zu den literarischen Studien hiefür gehören auch die unter Anni 1 angeführten Schriften von P r i n s und Ρ er gam e ni) ist bereits die Loi

.

Der französische Strafprozess.

159

von dem Königreich der Niederlande wieder die französische Gesetzgehung, wenn auch nicht vorbehaltlos, angenommen. Seither ist das gleiche in R u m ä n i e n 1 7 (StPO v. 2. Dec. 1864) und theilweise auch in K u s s l a n d 1 8 geschehen. Auch in S p a n i e n 1 9 war vorübergehend du 17 avril 1878 contenant le t i t r e p r é l i m i n a i r e du Code de procédure pénale hervorgegangen. Dieses Gesetz umfasst 28 Artikel und behandelt l'action publique et l'action civile, ihre Erlöschung, den Einfluss des Territoriums, die questions préjudicielles. S. darüber Annuaire de législation V I I I 447 ss.; Rivista penale VII 302; Cas o r a t i , Processo penale ρ 89 ss.; womit jedoch das oben erwähnte, fast gleichzeitig erlassene G ν. lo. April 1878 (qui apporte des modifications aux lois relatives à l'organisation des cours d'assises et au code (l'instr. criminelle) nicht in Verbindung zu bringen ist. Am 5. März 1879 legte Justizminister B a r a die Bücher I und II des code de procédure pénale der Repräsentantenkanimer vor. S. N y p e l s , Commentaire du c. de procédure pénale. 1. livrais. 1878. U . M i g he ni, De hi révision du code d'instr. criminelle. Bruxelles 1880. 17 A. F a n t i , Mouvement législatif en Italie sous le premier roi Victor Emmanuel. Imola 1880. p 192. 18 Gerichtsordnungen v. 26. Nov. 1864: J i c i n s k y , Ueber die Justizreform in Russland. Haimerls Vierteljahrsschrift XVI 1865 S 295 ff. L. V I a d i m i r o w , Etudes sur l'institution du jury en Russie. Revue de droit international I I I (1871), IV (1872), bes. IV 101 if. 439 ff. E. L e h r , La nouvelle organisation judiciaire de la Russie. Paris 1875. Bulletin de la société de législation comparée 1876 p 506 bis 519; 1878 p 422—435. Die Friedensrichtergesetze in Russland nebst den Justizreglements v. 20. Nov. 1864 . . . von V. H u b er. Petersburg 1867. B r usa, Appunti §111. Ο e 11 i η g e η und Ζ w i η gm a η η, Die Friedensrichtergesetze. Heft III. Strafprozessordnung. Riga 1880. 19 S. darüber namentlich Cas ora t i . Processo penale ρ 100 ss. und M a y e r in G A 1881 S 272 ff. Zur Orientirung über das neueste s p a n i s c h e Strafprozessrecht dienen folgende Werke : L a s t r e s , Procedimientos civiles y criminates. Madrid 1879. Herrn. M. R u i z y R o d r i g u e z (gew. Secretar des obersten Gerichthofs), Tratado general de Procedimientos criminales. 2 voll. Madrid 1879. 1855. Enjuiciamiento criminal, Conipilacion general de las disposiciones vigentes sobre el enjuiciamiento criminal con la reforma lieclia por Real decreto de 6. de Mayo de 1880. Publicada y annotada por la redaccion de la Rivista de los Tribunales. 2. ed. Madrid 1880. Gleichbetiteltes Werk Madrid 1880 herausgegeben von der Redaccion de el consultor de los Ayuntamientos. J. V. M o r a , Procedimiento criminal, compilacion general de las disposiciones vigentes sobre el enjuiciamiento criminal aprobada y mandada observai· . . . por Decreto de 14. de octobra de 1879. Madrid 1880. 1). José Maria P a n t o j a , Repertorio de la Jurisprudencia criminal de Espana, ο compilacion completa, metodica y ordenada por órden alfabetico de la contiguada eil los fallos pronunciados por las Salas segunda y tercera del Tribunal Supremo desde la creacion en 1870 de la casacion criminal, basta fin (le 1874. Madrid 1875. Appendice segundo 1877—1878. Madrid 1880. Jurisprudencia criminal. Coleccion completa de las sentencias dictadas por el tribunal supremo ed. Ρ an toy a, bis 1881 21 Bände. Unter den juristischen Zeitschriften steht voran Rivista general de legislacion y jurisprudencia, die schon 58 Bände zählt. Die auch in Spanien sehr lebhafte Controverse über die J u r y hat (nach

160

§ 15.

Der französische Strafprozess.

durch die Gesetze v. 18. Juni 1870 und v. 22. Dec. 1872 ein Strafprozess eingeführt, der die modernen Grundsätze vollständig, mit Einschluss der Jury umfasste ; durch Decret v. 3. Jänner 1875 wurde indess zwar nicht der frühere Zustand wiederhergestellt, aber nicht blos die Jury, sondern auch das öffentlich-mündliche Verfahren wurde beseitigt. Doch wurde durch kön. Decret v. 6. Mai 1880 eine neuerliche Revision des Strafprozessrechts angeordnet. Trotz grosser Mannichfaltigkeit, welche auch hierin die Gesetzgebung der einzelnen S c h w e i z e r Cantone zeigt 2 0 , beruht das Strafverfahren der meisten derselben jetzt auf f r a n z ö s i s c h e r Grundlage; ganz besonders gilt dies von G e n f , N e u e n b u r g , F r e i b ü r g , W a a d t l a n d , Τ e s s i n und Β e r η — letztere beide mit der Eigenart, dass sie für nichtschwurgerichtliche Fälle eine gesetzliche Beweistheorie aufstellen, die auch in G r a u b ü n d t e n gewissermaassen das Schwurgericht ersetzt. Das selbständigste und eigenartigste Prozessgesetz verdankt Zürich R ü t t i m a n n , dessen genaue Kenntniss des englischen Rechtes dem z ü r i c h e r i s c h e n Strafprozessgesetz v. 2. Oct, 1852 ein eigentümliches Gepräge g a b 2 1 , das auch in dem, einen Theil des Gesetzes betreffend clie züricherische Rechtspflege v. 30. Oct. 1866 bildenden Gesetz über das Strafverfahren sich noch erhalten hat. Auch D ä n e m a r k 2 2 geht jetzt selbständig auf französischer Grundlage vor. Das bedeutendste Gebiet jedoch, in welchem das französische Strafverfahren mittelbare Geltung hat, ist das K ö n i g r e i c h I t a l i e n , wo das aus dem sardinischen Strafprozesse von 1847 und Cas o r a t i ) Arbeiten von E s c r i che (1844), Gonzales Ν and i n (1863), F. Salin ero η (1874), F. Rodriguez P i n i I l a (1872) hervorgerufen. Ueber die Aufhebung des neuen Verfahrens und insbesondere (1er Jury und die im königlichen Decrete dafür vorgebrachten rein äusserlichen Gründe berichtet De F o r e s t a , Generalprocurator am Appellhof zu Bologna in seinem Jahresbericht für 1877. 20 Eine Uebersicht giebt G e y e r § 44 C. — Eine auszugsweise Uebersetzung eines (1er neuesten schweizerischen Strafprozessgesetze, des von der Landesgemeinde von Appenzell-Ausserrhoden am 25. April 1880 angenommenen Gesetzes, findet sich im Annuaire de législation X 447 ss. Zeitschriften: Ζ für schweizerische Gesetzgebung und Rechtspflege. Herausgeg. von S c h n e i d e r , H a f n e r u. U l r i c h . Zürich seit 1876. Ζ des bernischen Juristenvereins. Herausg. von K. G. K ö n i g . Bern seit 1864. 21 R ü t t i m a n n , Die züricherischen Ges. betr. die Organisation der Rechtspflege und des Strafverfahrens. Zürich 1853. 22 Udkast til Lov om Strafferetsplejen. Marts 1875 Kjöbenhavn. Motiver til (let af den veci allerh. Reskr. af 28. Febr. 1868 nedsat Proceskommission udarbejdede Udkast til Lov om Strafferetspleje. Kjöbenhavn 1875. Siehe auch C. Goos, Strafferetsplejens alminclelige Grunclsätninger. Inladig til en Foreläsning over den danske Straffproces. Kjöbnhavn 1878.

S

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161

Der französische Strafprozess.

dessen seit 1848 vorgenommenen Abänderungen hervorgegangene Strafprozessgesetz v. 20. November 1859 durch königl. Decret v. 26. November 1865 auf alle Provinzen des Reiches ausgedehnt wurde und, obgleich durch wichtige Nachtragsgesetze, namentlich durch die Gesetze v. 8. Juni 1874, v. 30. Juni 1876 und 6. Mai 1877, modifient und von verschiedenen Cassationshöfen gehandhabt, die einheitliche Rechtsquelle für clas ganze Königreich bildet und in einer mehr und mehr an Bedeutung gewinnenden Literatur erörtert w i r d 2 3 . 23 Pes s i n a 1. c. ρ 45 ss. Emilio B rus a, Appunti per una introduzione al eurso di diritto e procedure penale. Torino 1880. §§ 113 ss. 123. 124. F a n t i , Mouv. législatif ρ 40. 41. Unter einer grossen Zahl juristischer Zeitschriften ist namentlich die Rivista penale von L u c c h i n i hervorzuheben, die sowohl das italienische Strafrecht, als die gesammte wissenschaftliche Bewegung auf dem Gebiete des Strafrechts und Strafprozesses getreulich wiederspiegelt ; ferner die Turiner Zeitschrift „II Filangieri", der Mailänder Monitore de' Tribunali. Die in Genua erscheinende Legge ist zu erwähnen, weil ihr Carrara zahlreiche Beiträge liefert u. s. w. — Die bequemste Uebersicht über die Praxis der italienischen Gerichte bietet Js. M e i , Il Regolamento di procedura penale. 3. ed. Napoli 1879. Die umfassendsten Commentare sind der von S a l u t o , Commenti al codice di procedura penale (8 Bände 2. Aufl. Turin 1879), und der von B or s a n i und Cas ο r a t i , Il codice di procedura penale italiano commentato (Milano), welcher 1879 bis zum 4. Bande (abschliessend mit der Hauptverhandlung in erster Instanz) vorgeschritten war. Aus der sehr reichen Literatur des neuesten italienischen Strafprozesses ist hervorzuheben: (Jar rara, Programma del corso di diritto criminale, parte generale (5. ed. Lucca 1877), wo die §§ 779—1078 (vol. I I 275 ss.) dem Strafprozess gewidmet sind. D e r s e l b e , Progresso e regresso del giure penale, opuscoli voi. 6. Prato 1879. D e r s e l b e , Lineamenti di pratica legislativa penale. Torino 1874. Ρ ess i n a, Sommario di lezioni sul procedimento penale, edit. M a n d a i a r i . Napoli 1879. A I b e r t i η e I l i , Di alcune riforme dei codici penali italiani. Napoli 1865. Luigi Cos ο r a t i , Di alcune principali riforme introdotte dalla vigente procedura penale italiana. Bologna 1870. Cas o r a t i , Sunto di studi sulla procedura penale. Milano 1873. D e r s e l b e , Il processo penale e le riforme. Milano 1881 (beide letztere Schriften Abdrücke aus dem Mailänder Monitore de' Tribunali). D e r s e l b e , La nuova legge sul giuri. Prato 1874. Ueber denselben Gegenstand: L. F r a n c e s c h i , I giurati secondo la nuova legge 8. giulio 1874. Roma 1874. — Luigi L u c c h i n i , Processo penale . . . Appunti critici. Verona 1873. D e r s e l b e , I l carcere preventivo. 2. ed. \Tenezia 1873. Raimondo P e r o t t o , Il processo penale. Parma bis 1876 3 Bände. Ν ο ci t o , La Corte d'Assise, parte I. Roma 1874. Pietro E l l e r o , Opuscoli criminali. Bologna 1874. D e r s e l b e , Trattati criminali. Bologna 1875. Luigi B o r s a r i , Della azione penale. Torino 1866. Francesco O o c i t o , La parte civile in materia penale. Torino 1881. (Ueber die sehr umfassende Specialliteratur des S c h w u r g e r i c h t e s später, s. G1 a s e r in HRLex Art. „Schwurgericht".) Cosimo R a t t i , presici, della Corte d'Appello, Storia delle giurisdizioni penali in Italia. Catania 1878. ρ 128. L a F r a n c e s c a , Del publico Ministerio nelF ordine giudiziario. Napoli 1880. E. F e r r i , I nuovi orizzonti del diritto e della procedura penale. Bologna 1881. B u c e l i a t i , Recenti riforme del processo

Binding. Handbuch. IX. 4. ι : G l a s e r , Strafprozess. 1.

11

162 § 16.

D i e R e f o r m be w e g u n g .

I. Es sind nun clie Verhältnisse dargestellt, welche eine durchgreifende Reform des deutschen Strafprozesses unvermeidlich machten und welche dabei clen fertigen Gestaltungen cles französischen und englischen Rechtes einen wesentlichen Einfluss verschafften. Von der Zeit an, wo zuerst eine Reform in diesem Sinne angeregt wurde, bis zu dem vorläufigen Abschluss derselben durch das Zustandekommen der deutschen Strafprozessordnung von 1877 und cler österreichischen von 1873 wird eine literarische und legislative Arbeit verrichtet von solchem Umfang, solchen weehselvollen Wandlungen unterworfen, dass es schwer ist, nicht in die Details sich zu verlieren, sondern die wirklich lnaassgebenclen Gesichtspunkte festzuhalten. Im allgemeinen kann zunächst eine Epoche unterschieden werden, in welcher die Reforrnbewegung einen überwiegend l i t e r a r i s c h e n Charakter hat; die Gesetzgebung hielt sich, obgleich sie vielfach angerufen und selbst in Bewegung gesetzt ward, im Hintergründe. Mit dem Jahre 1848 tritt ein plötzlicher Umschwung ein, welcher.im Gegentheil die Gesetzgebung in Bewegung setzt und für lange Zeit hinaus die Literatur wesentlich in clen Dienst der so vollzogenen Thatsaehen stellt. Ohne class die Gesetzgebung stille steht, ändert sich allmählich etwa vom Beginn cler sechziger Jahre an dieses Verhältniss wieder, indem die E r ö r t e r u n g cler Ρ r i n e i p i e n f r a g e n mehr in clen Vordergrund tritt und in dem Maasse lebhafter und bedeutender wird, als deutlicher hervortritt, dass es sich darum handelt, ein einheitliches Strafprozessrecht für Deutschland zu schaffen. Uebersieht man die Ergebnisse vielfacher Erörterungen, wie sie in clen hervorragendsten legislativen und literarischen Arbeiten der dem Wendepunkt von 1848 vorausgehenden Jahre sich darstellen penale in Europa in confronto al cod. di proc. p. pel Regno d'Italia, in t ' e r r i . Annuario delle scienze giuridiche. Milano 1882. De M a u r o , Il codice di procedura penale e la scienza. Catania 1882. Verbesserungen und Vereinfachungen des Verfahrens in Zuchtpolizeisachen schlagen vor die im Bulletin de la société de législ. comp. 1882 ρ 596 besprochene Schrift von A l i a n e l l i , Economie nell' amministrazione della giustizia correzionale, ferner in einer Reihe von Aufsätzen in der Rivista penale 1878 u. 1879 Ces a r i n i unter dem Titel: Dell' appello in penale e dell' ordinamento della giustizia correzionale, und C. Ρ a ο l e t t i unter der Aufschrift: Riforma della giustizia correzionale. (Vgl. allg. österr. GZ 1879 Nr 82.) — Endlich ist noch anzuführen: II. M a r c y , Code de procédure pénale du Royaume d'Italie . . . traduit, annoté, commenté. Paris 1881. 1 L i t e r a t u r der R e f o r r n b e w e g u n g auf (lem Gebiete des d e u t schen S t r a f p r o z e s s e s bis 1848 (Uebersicht in K a p p l e r s Handbuch S 1003

$16.

163

Die Reformbewegung.

so muss man zunächst bekennen, class zweierlei i n clem langen Streite nicht erreicht worden war. genaue Kenntniss prozess e r l a n g t ,

M a n hatte zwar allmählich eine ziemlich

cler äusserlichen Vorgänge

i m französischen Straf-

man war aber, von dem Streit über die oben ange-

führten Schlagworte abgehalten, nicht dazu gekommen, das praktische Verhalten

des französischen

Strafprozesses

zeichneten Principien zu prüfen,

aller Gründlichkeit jedes einzelne nischen

Zusammenhang

Augen verloren.

zu

den

durch jene

be-

u n d man hatte andererseits zwar i n derselben

aber

in

analysiit,

bedenklicher

den

Weise

orgaaus den

M a n war i n Folge dessen so ziemlich einig darüber,

dass cler Strafprozess

der Z u k u n f t

ein m ü n d l i c h e r

sein u n d

sich

demgemäss i n ähnlicher A r t wie der französische gliedern müsse, m a n ging auf clie S t a a t s a n w a l t s c h a f t ziemlich

unbedenklich

ein.

acceptirte man damals m i t

ja

u n d derren

selbst

den

Aggravationsrecurs

Anklagegrundsatz

weniger Reserve als später cler F a l l w a r ;

nicht ohne Zögern w a r d die Ο Ö f f e n t l i c h k e i t ward nicht mehr ernstlich bestritten,

sollte n u r

zugegeben, allein sie beschränkt

werden;

bis 1042): Gutachten der k. preuss. Immediat-Justiz-Conimission „über das öffentliche und mündliche Verfahren in Untersuchungssachen" und „über das Geschwornengericht". Berlin 1818. F eu erb ach, Betrachtungen über die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege. 2 Bände Glessen 1821—1825. F. G. L e u e , Der mündliche öffentliche Anklageprozess und der geheime schriftliche Untersuchungsprozess in Deutschland. Aachen und Leipzig 1840. Ferd. 0. Th. H e ρ ρ , Anklageschaft, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit· des Strafverfahrens. Tübingen 1842. F ö 1 i χ, Die Mündlichkeit und Oeffentlichkeit des Gerichtsverfahrens und über das Geschwornengericht. Karlsruhe 1843. Karl K r a u s e , Entgegnung auf des Herrn Dr. F o l ix Angriff auf die Oeffentlichkeit der Gerichte und Gescliworne. Dresden und Leipzig 1843. Wolfg. Heinr. P u c h ta, Der Inquisitionsprozess. Erlangen 1844. J. H o e p f n e r , Ueber den Anklageprozess und das Geschwornengericht. Hamburg 1844. Fr. Aug. B i e n e r , Ueber die neueren Abschläge zur Verbesserung des Criminalverfahrens in Deutschland. Berlin 1844 (Abdruck aus dem XII. Bande der Ζ f. gesell. RAV). C. J. M i t t e m i a i er, Die Mündlichkeit, das Anklageprincip u. s. w. Stuttgart und Tübingen 1845. A. C. II. B r a u n , Hauptstücke des öffentlichen mündlichen Strafverfahrens. Leipzig (Fleischer) 1845. Η. A. Z a c l i a r i ä , Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens. Göttingen 1846. (v. S a v i g n y ) Die Principienfragen in Beziehung auf eine neue StPO. Berlin 1846. Kritische Bemerkungen über das (preussische) Gesetz vom 17. Juli 1846, von einem praktischen Richter. Berlin 1847. Die strafrechtlichen Fragen (1er Gegenwart, von einem süddeutschen Juristen. Heidelberg 1847. Fr. Aug. B i e n e r , Abhandlungen aus dem Gebiete der Rechtsgeschichte. 2 Hefte in 1 Band Leipzig 1846—1848. (Ruppe η t h a i ) Materialien zur Revision der rheinpreussischen StPO. Köln 1848. Gustav G e i b , Die Reform des deutschen Rechtslebens. Leipzig 1848. P r o b s t , Für Wiederbelebung der Strafrechtspflege. Esslingen 1848. Ζ für deutsches Strafverfahren, herausgegeben von J a g e m a n n und N ö l i n e r . Band 1—3. NF von J a g e m a η η, Ν ö 11 η e r und T e m m e. Band 1—5 (1841—49).

11*

164

16.

Die Reformbewegung.

schwerer schon trennte man sich von den Varianten der I n s t a n z e n t b i n dung. Allein den eigentlichen Mittelpunkt des Kampfes bildete einerseits die Beibehaltung einer η e g a t i ν e η Β e w e i s t h e ο r i e, andererseits die Einführung der J u r y 2 . Die J u r y f r age ward verhältnissmässig spät in den Vordergrund gestellt; der Widerstand gegen die Jury war ein um so grösserer, als in der ersten Zeit cler hier geschilderten Bewegungen cler heftige Widerstand, auf clen die Restauration in Frankreich stiess, eine alle Richtungen des Lebens umfassende Oppositionsliteratur hervorrief, welche zwar nicht die Jury, aber clie Gestalt, die ihr namentlich Napoleon I. gegeben hatte, scharf angriff und berechtigten und unberechtigten — jedenfalls später ganz verstummten — Taclel leidenschaftlich mischend, insbesondere auf Feuerbachs Werk über clie Gerichtsverfassung Frankreichs und damit auf die polemische Literatur in Deutschland grossen Einfluss übte. Aber gerade cler Rückschlag gegen die einseitige Vergötterung französischer Einrichtungen, welchen der falsche Kriegslärm von 1840 und die dadurch hervorgerufene Erstarkung cles deutschen Nationalgefühles bewirkte, kam cler J u r y zu statten. Hier früher .als bei anderen Fragen cler Organisation der Strafrechtspflege -ward die Möglichkeit, ja Notwendigkeit erkannt, sich von dem französischen Vorbilde zu emaneipiren. So ward denn der Frage, ob die Jury als eine f r a n z ö s i s c h e oder g e r m a n i s c h e 2 L i t e r a t u r zum S t r e i t ü b e r AVerth u n d B e d e u t u n g der J u r y . F e u e r b a c h , Betrachtungen über das Geschwornengericht. Landshut 1813 (1812). Ueber Geschwornengerichte und einige andere Gegenstände des französischen Criminalverfahrens. J für preussische Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung X X I I I 89—216. ( K a m p t z ) Merkwürdige Urtheile neuerer französischer Rechtsgelehrten über Geschwornengerichte und französische Criminaljustiz überhaupt, gesammelt von einem deutschen Rechtsgelehrten. Berlin 1819. J. Z e n t n e r , Das Geschwornengericht. Freiburg 1830. M ö h l , Ueber Geschwornengerichte. Heidelberg 1843. F a z y - P a s t e u r , Avantages du Jury. Genève 1838. W e l c k e r , Art. „Jury" in dessen Rechts- und Staatslexikon. Separatabdruck 2. Aufl. Altona 1840. H. W. H a g e n unci C. D. G. B u t t e l , Der Richter als Geschworner oder Geschwornengerichte? Oldenburg 1843. K r a u s e , Die deutschen Geschwornengerichte. 1843. G. R i η t e l , Von der Jury. Münster 1844. D e r s e l b e , Beiträge zur Würdigung der französischen Jury. Münster 1845. S t e m a n n , Die Jury in Strafsachen. Hamburg 1847. L e n e , Das deutsche Schöffengericht. Leipzig 1847; Strafrechtliche Fragen der Gegenwart S 95 if. H a g en s, Ueber die Einführung der Geschwornengerichte für Civil- unci Criminalsachen in Deutschland. Paderborn 1848. D e r n b u r g , Werth und Bedeutung der Schwurgerichte. Frankfurt a. M. 1848. v. W o r i n g e n , Fragmentarische Betrachtungen über die Einführung der Schwurgerichte. Freiburg 1848. (Der Zusammenhang der Erörterungen über B e w e i s t h e o r i e und J u r y wird in dem dem Beweise gewidmeten Buche eingehend zu besprechen sein.) Spätere Literatur s. unten Anm 9.

S 16.

Die Reformbewegung.

165

Einrichtung zu behandeln sei, jene erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet, welche zunächst bewirkte, dass der Kampf um die Jury in die Germanistenversainmlungen zu F r a n k f u r t (1847) und L ü b e c k (1848) verlegt ward. Inzwischen brach das Jahr 1848 heran, unci mit e i n e m Schlage trat clas politische Moment des ganzen Streites wieder in den Vordergrund. Der politische Sieg derjenigen, die beharrlich clie constitutionelle Monarchie nach französischem Muster gefordert hatten, ward zum selbstverständlichen Siege cler französischen Justizeinrichtung, namentlich cles Strafprozesses. Nachdem man lange um die obersten Ρ r i η ci p i eil gestritten, wurden jetzt unbesehen die f r a n z ö s i s c h e n F o r m e n en bloc angenommen. Erst als dies geschehen war,, begann clas Werk der Aneignung des angenommenen. Der Umschwung brachte, zumal in Ländern, welche in einzelnen Lanclestheilen clas französische Recht behalten hatten, Männer in einflussreiche Stellungen, welche aus Gewohnheit an jeder französischen Gepflogenheit festhielten und dies um so ruhiger thun zu können glaubten, als sie ja bisher vom günstigsten Winde cler Popularität getragen worden waren. Andererseits war es überraschend, mit welcher Schnelligkeit auch andere, die den französischen Strafprozess weit von sich gewiesen hatten, in eifrige und unnachgiebige Vertheidiger jedes französischen Elementes umgewandelt waren. II. Nun beginnt die Thätigkeit der Gesetzgebung und zwar einer das gemeine Recht verdrängenden Particulargesetzgebung 3. Sie ist 3 II e b e r s i clit über d i e S t r a f p r o z e s s - G e s e t z g e b u n g D e u t s c h l a n d s u n d d e r e n A n w e n d u n g gewähren: H ä b e r l i n , Sammlung der neuen deutschen StPOen mit Einschluss der französischen und belgischen sowie der Ge über die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Schwurgerichten. Greifswald 1852. P. Su η de l i n , Sammlung der neueren deutschen Ge über Gerichtsverfassung und Strafverfahren. Berlin 1861. Ed. B r a u e r , Die deutschen Schwurgerichtsgesetze. Erlangen 1856. M i t t e r m a i er, Die Gesetzgebung und Rechtsübung über Strafverfahren nach ihrer neuesten Fortbildung. Erlangen 1856. J. W. P l a n c k , Systematische Darstellung des deutschen Strafverfahrens auf Grundlage der neuen StPOen seit 1848. Göttingen 1857. H. A. Z a c h a r i ä , Handbuch des deutschen Strafprozesses. 2 Bände Göttingen 1861, 1868. S a m m e l w e r k e u n d Z e i t s c h r i f t e n : J a g e m a n n , Criminallexikon, fortgesetzt von Brauer. Erlangen 1854. Τ emme, Archiv für die strafrechtlichen Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe Deutschlands. 6 Bände Erlangen 1854—1859. — Archiv des Criminalrechts. Halle bis 1857. M i t t e r m a i er s Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes. Heidelberg bis 1856. H i t z i g s Annalen der deutschen unci ausländischen Criminalrechtspflege, fortgesetzt von Demme, Κ l u n g e und S c h i e t t er. Leipzig bis 1855. Der Gerichtssaal. Erlangen seit 1849. G o l d tarn mers Archiv für preussisches Strafrecht. Berlin seit 185ο. ν. Η ο 11 z e η d ο r f f s Allgemeine deutsche Strafrechtszeitung. Leipzig 1861—74.

166

16.

Die R e f o r b e w e g u n g .

zuerst wesentlich auf die Aneignung des f r a n z ö s i s c h e n Typus gerichtet; dieser selbst wurde kaum in Frage gestellt, dennoch war die Aneignung des französischen Rechtes keine so unbedingte, wie es auf den ersten Blick scheint. Wo die legislative Arbeit nicht allzusehr überhastet ward und der eben angedeutete Einfluss orthodoxer Anhänger der französischen Einrichtungen es nicht hinderte, wurden immerhin im einzelnen die Stimmen der wenigen Schriftsteller (meist Praktiker aus den Rheinlanden, wie R u p p e η t h a i ) beachtet, welche auf Controversen oder praktische Uebelstände des französischen Rechtes aufmerksam machten. Ferner begünstigte der technische Vorgang der Gesetzgebung die Fortwirkung eines guten Theiles der Traditionen des älteren Rechtes. Diejenigen deutscher? Staaten, welche Gebiete einschlossen, die schon früher unter französischem Recht gestanden hatten, und die nächsten Nachbarn solcher Gebiete waren natürlich am raschesten mit der möglichst ungeschmälerten Ausdehnung desselben bei der Hand; allein diese Raschheit des Vorgehens brachte es mit sich, dass man sich mit Uebergangs- und Partialgesetzen begnügte, welche den Grundstock der gemeinrechtlichen Untersuchung stehen liessen und die mündlich - öffentlich - contradictorische Hauptverhandlung nur damit in Verbindung brachten, etwa wie man einem alten Gebäude ein neues Stockwerk aufsetzt. Das war der in den Jahren 1848 und 1849 eingehaltene Vorgang in B a y e m , in P r e u s s e n , in beiden H e s s e n , in N a s s a u und W ü r t t e m b e r g ; B a d e n folgte noch 1851 nach. Allerdings konnten die neuen Gesetze in W ü r t t e m b e r g und B a d e n sich auf Strafprozessordnungen stützen, die den eingetretenen Unischwung bis auf einen gewissen Grad anticipili hatten, die aber nichtsdestoweniger in ihren wichtigsten Theilen beseitigt werden mussten. Aber gerade diese Strafprozessordnungen wurden zum Theil wieder denjenigen Gesetzen zu Grunde gelegt, welche zuerst die Aufgabe lösten, das Ganze des Strafprozesses in seiner neuen Gestalt zu Frh. v. G r o s s , Die Strafrechtspflege in Deutschland. 4 Bände Leipzig 1857—1867Kritische Überschau der deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung (später Krit. Vierteljahrsschrift). München seit 1853. H ai m e r i s Magazin (später Vierteljahrsschrift) tur Rechts- und Staatswissenschaft. Wien 1850—1866. Dem me, Schwurgerichtszeitung. 6 Bände Koburg und Nürnberg 1857— 1860. G r ü n h u t , Zeitschrift für das Privat- und öff. Recht der Gegenwart, Wien seit 1874. S t e n g l e i n , Zeitschrift für Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft in Deutschland. München von 1872 bis 1875. Seh l e t t e r s Jahrbücher der deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung. Band 1—14 Erlangen 1855 —1873. ν. Η ο I t z e n d o r f ! ' , Rechtslexikon 1 - 3 . Auflage. E i n e U e b e r s i c h t der G e s e t z g e b u n g der e i n z e l n e n L ä n d e r u n d der L i t e r a t u r d e r s e l b e n giebt G l a s e r in HH I 66—72.

1.

Di

Reformbewegung.

167

codificiren. So übte die badische StPO von 1845 unverkennbaren Einfluss auf den Entwurf der t h ü r i n g i s c h e n StPO und durch diesen auf die der thüringischen StPO voraneilende österreichische StPO von 1850. Ρ r e u ss en ging bald daran, sein neues Strafprozessrecht zu eodificiren, und das Streben', auf diesem Gebiete wenigstens die Einheit des im Staate geltenden Rechtes herzustellen, übte auf den so zu Stande gekommenen Entw von 1851 einen wesentlichen Einfluss zu Gunsten der französischen Formen. In Preussen selbst durch ein neues Ergänzungs- und Abänderungsgesetz (vom 3. Mai 1852) in den Hintergrund gedrängt, ward dieser Entwurf doch die Grundlage nicht blos des späteren preussischen Entw von 1865 und der wieder auf diesen gestützten StPO für die neupreussischen Provinzen von 1867, sondern mittelbar oder unmittelbar gingen aus ihm hervor die StIO für Oldenburg (1857), Lübeck (1862), Bremen (1870). Hessen-Darmstadt (1865), Baden (1864) und Württemberg (1868). Eine in höherem Grade selbständige, trotzdem aber der französischen Grundform sich eng anschliessende StPO war die von H a n n o v e r (1850, revidirt 1859). Ganz eigenthümlich, mit verhältnissmässig am weitesten gehender Berücksichtigung des englischen Hechtes und unter rückhaltlosem Verlassen aller Traditionen des gemeinrechtlichen Prozesses gestaltete sich die StPO B r a u n s c h w e i g s von 1849. In dem entgegengesetzten Sinne selbständig und eigenartig war die königl. s ä c h s i s c h e StPO von 1855. Sie bezeichnet neben der ö s t e r r e i c h i s c h e η StPO von 1853 gewissermaassen den Wendepunkt in den seit den Jahren 1848 ff. eingetretenen Vorgängen. Sie bietet zunächst die bewusste Durchführung des theoretischen Gegensatzes zwischen Anklagegrundsatz und Untersuchungsprincip mit Anklageform ; sie stellt sich bewusst die Aufgabe, die alte gemeinrechtliche Untersuchung beizubehalten und sie nur dadurch zu modificiren, dass einerseits die Initiative der Staatsanwaltschaft vorbehalten, andererseits eine wirklich mündliche und contradictorische Hauptverhandlung hinzugefügt wird. Ihr Widerstand gegen die B e s e i t i g u n g d e r I n s t a n z e n t b i n d u n g und gegen die E i n f ü h r u n g des G e s c h w o r n e n g e r i c h t s charakterisirt sie als das möglichst auf Erhaltung des Zusammenhanges mit dem älteren Recht bedachte Gesetz, während sie allerdings andererseits in der Gestaltung cler Rechtsmittel, zumal wie sie im Entwurf beabsichtigt war, der Entwickelung voraneilte und durch ihr conséquentes Gefüge, sowie durch manche wohl durchdachte und aus sorgsamer Beachtung der praktischen Erfahrungen hervorgegangene Einzelbestimmung sich einen eigenartigen, ehrenvollen Platz unter den deutschen Strafprozessordnungen sichert. Aehnliches kann dann trotz

168

16.

Die Reformbewegung.

durchgreifender Verschiedenheit von der h a n i b u r g i s c h e η StPO von 1869 gesagt werden. III.

I n diesen späteren Strafprozessordnungen kommen schon viel-

fach die Ergebnisse der selbständigeren Erörterungen de lege ferenda zum Ausdruck,

welche eine Zeit lang unter

deutschen Inquisitionsprozesses u n d unter

dem Schutt des

alten

der Ueberschwemmung der

französischen Ideen erstickt schienen, bald aber neues Leben und erhöhte Bedeutung g e w a n n e n 4 . Das Hauptergebniss

der B e w e g u n g ,

welche sich i n den Jahren

1848 ff. vollzogen hatte, ist leicht zu bezeichnen: es war die Annahme des Grundtypus des französischen Strafprozesses, Details u n d Aeusserlichkeiten aber solche, theils

die

unmöglich

desselben. blindlings

w e i l ihre innere Berechtigung

beinahe sogar aller

U n t e r den Details gab es übertragen

werden

zu zweifelhaft w a r ,

konnten,

theils weil

sie m i t nicht sofort übertragbaren T h e i l e n der französischen Gerichtsorganisation zusammenhingen, theils endlich weil die französische Gesetzgebung selbst h i e r i n öfter gewechselt

hatte

und

noch

wechselte.

So k o m m t es, dass, wie schon angedeutet, selbst i n die ersten Zeiten, 4

Die Literatur ist hauptsächlich in den oben Anmerkung 3 angeführten, sowie in den dem Rechte cler einzelnen Länder gewidmeten Zeitschriften und in den „Verhandlungen des deutschen Juristentags" niedergelegt. Siehe insbesondere W a l t h e r , Ueber die Entwickelung des neueren deutschen Prozessrechtes, in der KrÜ IV 1856 S 190 ff. 311 ff. S c h w a r z e , Die Entwickelung des neueren deutschen Strafprozessrechtes. in Schletters J IV 1858 S 33 ff., s. auch dessen Aufsätze daselbst I 1855 S 38 ff. V I 1860 S 165 ff. — (Vgl. die Literatur über Anklage- und Untersuchungsprincip oben bei § 4 Anm 1.) I v ö s t l i n , Wendepunkt. 1849. L e u e , Motivirter Entw einer Criniinalprozessordnung. Aachen und Leipzig 1850. — Τ emme, Grundzüge eines deutschen Strafverfahrens. Marburg und Hannover 1850. M i t t er m ai er, Gesetzgebung und Rechtsübung. 1856. T i p p e i s k i r c h , Beiträge zur künftigen StPO in GA 1853 S 23—29. 1854 S 23 ff. 313 ff. 1854 S 348ff. 447 ff. Frli. v. Gross, Die sogenannten französischen Ideen im deutschen Strafprozess, Deutsche Strafrechtspflege I I I 313 ff. H. O r t i ο ff. Das Strafverfahren in seinen leitenden Grundsätzen und Hauptformen. Jena 1858. B u c h n e r , Ueber das Erkennen eines deutschen Strafverfahrens in den neueren deutschen Einzelgesetzgebungen über Strafverfahren. GS 1858 S 144 ff. S u n d e l i n , Die gegenwärtigen Reformwünsche für das deutsche Strafverfahren . . und die Bedingungen einer Einigung. GS 1860 S 19 ff. D e r s e l b e , Die Einigung des deutschen Strafprozessrechtes a. Grund d. Particulargesetze. StRZ 1861 S 545 ff. v. Ho I t z e n d o r f ^ Die Einheit des deutschen Strafprozessrechtes, daselbst 1861 S 202 ff. R u b o , Ein Beitrag zur Abfassung einer deutschen StPO. GS 1866 S 321 ff. 453 ff. S eli a p e r , Zur Vereinfachimg des deutschen Strafverfahrens, daselbst 1871 S 1 ff. S. M a y e r , Zur Reform des Strafverfahrens. 4. Abtli. Frankfurt a. M. 1870/1871. Vas al l i , Allg. rechtsphilosoph. Betrachtungen über das Strafverfahren. Erlangen 1869. H e i n z e , Zur Physiologie des Strafprozesses. GS 1876 S 561 ff.

S 16.

Die Reformbewegung.

169

welche der raschen und als selbstverständlich behandelten Uebertragung des französischen Rechtes und der consequent-en Einbürgerung desselben gewidmet waren, immerhin schon einige Punkte hervortraten, welche selbständiges Vorgehen und selbständige Prüfung forderten. Von Anfang an zeigen sich Abweichungen vor allem in Bezug auf das Verhältniss der S t a a t s a n w a l t s c h a f t zu den Gerichten überhaupt; die thatsächlich überragende und beaufsichtigende Stellung des französischen Generalprocurators, seine Obergewalt insbesondere über den Untersuchungsrichter, — die weitgehenden und nicht sorgfältig abgegrenzten Befugnisse der Staatsanwaltschaft in Bezug auf selbständige Vornahme von Verhaftungen und Untersuchungshandlungen stiessen gleich anfangs eben so sehr auf Widerspruch, wie andererseits das Bestreben, der Staatsanwaltschaft auch über die Polizei die Autorität zu verschaffen, die der französischen Staatsanwaltschaft gegenüber oder vielmehr an der Spitze der police judiciaire zukommt, mit der traditionellen Stellung der deutschen Verwaltungs- und Sicherheitsbehörden nicht leicht in Einklang zu bringen war. Andere französische Einrichtungen. denen gegenüber Abweichungen schon früh zur Sprache kamen und bald da, bald dort Eingang fanden, sind folgende: 1. Die V ο r u il t e r s u c h u η g Avar der bisherigen deutschen Untersuchung viel zu ähnlich und letztere der ersteren in Bezug auf Gründlichkeit und richterliche Führung viel zu sehr überlegen, als dass nicht im wesentlichen die letztere, allerdings eingeschränkt auf den Raum, den die französische Voruntersuchung einnahm, hätte einfach beibehalten werden sollen: von den mannichfachen Einzelheiten, in denen sich dies zeigt, sei nur die Behandlung des Augenscheins und der Sachverständigen erwähnt, Noch mehr aber zeigte sich das Festhalten an der bisherigen Einrichtung in der geringen Neigung, die Voruntersuchung da fallen zu lassen, AVO sie in Frankreich mit grossem Vortheil für die Beschleunigung des Verfahrens und für die Belebung der Hauptverhandlung durch die u n m i t t e l b a r e L a d u n g ersetzt war. 2. Ward diese mit Unrecht vernachlässigt, so waren die übrigen französischen Formen der V e r s e t z u n g i n A n k l a g e s t a n d und der B e e n d i g u n g d e r V ο r u n t e r s u c h u n g r > sofort Gegenstand bedenklicher Beurtheilung, insbesondere die Versetzung in Anklagestand mit der doppelten Prüfung durch die Rathskammer, deren dem Beschuldigten günstige Beschlüsse praktisch werthlos waren, und durch die 5 G l a s e r im ANF 1852 S 59 ff. 252 ff. und im GS 1867 S 118 ff. 212 ff. (Kleine Schriften S 435 ff.).

170

^ 16.

Die Reforrnbewegung.

Anklagekaninier des Appellhofs, und den daraus hervorgehenden Verwickelungen bei der Incompetenzerklärung des Zuchtpolizeigerichtes. Die verschiedensten Auswege wurden vorgeschlagen und fanden theilweise Eingang ; unter den frühesten ist der Vorgang der österreichischen StFO von 1850 zu erwähnen, wonach die Voruntersuchung bei Uebereinstinnnung des Staatsanwaltes und des Untersuchungsrichters lediglich durch Verfügung des letzteren eingestellt wurde, dagegen mit der Anklage wegen an das Schwurgericht gehöriger Verbrechen die Anklagekaninier des Appellhofes mit Uebergehung des Untersuchungsgerichts (Rathskanliner) befasst wurde (ebenso thüringische StPO Art, 194); ausserdem treten Varianten nur hervor bezüglich der Abfassung der Anklageschrift, v o r statt n a c h Fällung des Verweisungserkenntnisses und bezüglich der Abschneidung oder Beschränkung der Rechtsmittel des Beschuldigten gegen die Versetzung in Anklagestand. 8. Anfechtungen und mancherlei Modificationen erfuhr auch schon früh die sog. d i s c r e t i o n ä r e G e w a l t des V o r s i t z e n d e n in der Hauptverhandlung. 4. Gross waren die Bedenken und Schwierigkeiten, welche sehr bald die Details der französischen S c h w u r g e r i c h t s e i n r i c h t u n g hervorriefen: die wechselnden Bestimmungen über die Bildung der Geschwornenlisten, die Zusammensetzung des Schwurgerichtshofes, die schriftliche Abstimmung der Geschwornen, die zur Verurtheilung erforderliche Stimmenzahl und die eventuelle Xachabstinmiung des Sehwurgerichtshofes, die Freisprechung des von den Geschwornen für „nicht schuldig" erklärten durch Ordonnanz des Präsidenten statt durch Urtheil des Schwurgerichtshofes. 5. Nicht minder beachtenswerth waren die Bedenken, die sich theils bei der Erörterung der Einführung, theils bei der Durchführung des R e c h t s m i t t e l s y s t e m s 6 ergaben, insbesondere bezüglich der 6

Siehe namentlich W a l t h e r , Die Rechtsmittel im Strafverfahren. München 1855. M i t t e rm ai er, Gesetzgebung und Rechtsübung. S 622 ff. D e r s e l b e im ANF 1843 S 69 ff. (Verb, der Oeffentlichkeit u. Mündlichkeit zur . . Berufung), im GS 1850 I S 291 ff. 475 ff.; daselbst 1857 I I 3—38 (Berufung gegen Urtheile der Staatsrichter) und in GA 1862 S 297 ff. 505 ff. 585 ff. (Notwendigkeit der Berufung). S c h w a r z e , Die zweite Instanz im mündlichen Strafverfahren. Wien 1862. D e r s e l b e über die Frage der Berufung und die Stellung des Appellationsrichters im GS 1855 S 3 ff. 82 ff.; 1857 S 447—478; 1861 S 102—145. 1862 S 279 ff.; 1866 S 380 ff.; in GA 1862 S 11—21. 7 3 - 8 3 ; in Gross, Strafrechtspflege I I 289—309. D e r s e l b e , Ueber . . . cassatorische Entscheidungen, GS 1863 S 1—18. — W u r t h S 613 ff'. — C. v. B., Die Cassationsinstanz. Koblenz 1828. ANF 1851 S 40—52 (Gross, Ueber die Folgen der Verletzung formeller Vorschriften); 1854 S 255—290 (Gerau, Ueber Appellation — vgl. auch Schleuers

16.

Beschränkung

Die R e f o r b e w e g u n g .

des Cassationshoies

und bezüglich des Verhältnisses lichen

Feststellungen

der

auf einen n e g a t i v e n

Ausspruch

des Appellgerichtes zu den thatsäch-

ersten Instanz

angesichts

des Verlangens

nach Wiederholung oder Ergänzung der Beweisaufnahme; die p r e u s s i s c h e Gesetzgebung z e i g t , fahrung diese

das Bedürfniss

nach

legislativer

aber von dem eingenommenen Standpunkte

währen wurf

heraus

wie u n m i t t e l b a r

war,

ohne dass man Bestimmungen

der W i l l k ü r l i c h k e i t

aussetzten, Zweifel

namentlich aus der E r -

Nachhilfe aus nicht

erwuchs, zu ge-

g a b , welche dem V o r und Schwankungen der

Praxis hervorriefen. IV.

Während

gewissermaassen

auf der Oberfläche mungen.

diese A r b e i t der

Sichtung u n d Specification

en bloc angenommenen französischen vor sich g i n g ,

fehlte

der

Einrichtungen

es nicht an tieferen Strö-

Es musste das Bestreben sich geltend machen, den geistigen

Gehalt des neuen Verfahrens zu prüfen, den durch das Jahr 1848 u n d die W u c h t der Thatsachen abgebrochenen Principienstreit unter allerdings wesentlich geänderten

Verhältnissen

wieder

aufzunehmen, u m

.J 1855 S 278). Haimerls Mag IV S 77 ff. 349 ff. ( K l i e r , Rechtsmittel). Ζ für deutsches Strafverfahren I I I 39 ff. ( M o l i tor); NF I I 225 ff. ( N o l l η er); das. S 313 ff. ( B r a u e r , Ausführbarkeit eines Recurses über die Thatfrage im mündlichen Strafverfahren). GS 1855 I I 155 ff. (Pur g o l d , Schwurgericht und zweite Instanz); das. 1856 I 179 ff. (Rehm, Berufung); S 195 ff. ( A r n o l d , Anhang hiezu); 1866 S 135 ff. (Haager, Berufung); 1869 S 161 ff. ( H u l l m a n n , Oldenburgs Gesetze betr. Aufhebung der Berufungsinstanz); 1871 S 184 ff. 299 ff. 321 ff. (II. O r t i off, Die Rechtsmittel im Strafprozess). G A 1854 S 621—638 ( \ r o i t u s , Unvereinbarkeit der Appellation . . . mit dem Pr. der Mündlichkeit); 1856 S 31—46 (Stellung des Appellationsrichters zur Thatfrage); 1857 S 189—200 ( B e r i r a b ) ; 1862 S 315—325 (Die zweite Instanz im mündlichen Strafverf.); 1867 S 155—160 (Od ehr e c h t , Thatfrage in der Appellationsinstanz); 1871 S 209 ff. ( Z a c h a r i ä , Aufhebung der Berufungsinstanz als Consequenz des Mündlichkeitsprincips) ; das. S 281 ff. 358 ff. (v. Steinann, Die Rechtsmittel in der künft. deutschen StPO). Schwurgerichtszeitung I 61-65 (v. Buttel), v. Holtzendorffs StRZ 1866 S 438 ff. (v. G r o s s , Berufung; 1871 S 199 ff. 225 ff. ( L o o s , Appellation nach preussischem Recht).— G l a s e r , Denkschrift über das Rechtsmittel der Berufung. Wien 1862, Kleine Schriften S 743 ff. s. auch das. S 775 ff. 781 ff. V d. deutsch. JT V I Β 1 S 72 ff. 272—317. 362-394 ( W i r k ) ; Β 2 S 193 ff. 223—246. 352—366. V I I Β 2 S 155 ff. 230 ff. V I I I Β 1 S 10 ff. (Stenglein). IX Β 3 S 128 ff. (Gewährung eines Rechtsmittels gegen nur straffrei sprechende Urtheile). Mot zum Entw der Österreich. StPO von 1873 Abschn. F u. G S 58 ff. (Vgl. G l a s e r , Ges. kl. Schriften, erste Aufl. II 189 ff.) Anlage 1 zu den Mot des Entw der deutschen StPO. AVahlberg, Kritik dieses Entw. Wien 1873. S 86 ff. N i s s e n , Bemerkungen zu dem Entw. Leipzig 1874. S 61 ff. — In Betreff der neuesten auswärtigen Literatur s. noch Cesar i n i in der Rivista penale IX 109 ss. 409. Χ 105. 277. 381 ss. C a s o r a t i , Processo penale, ρ 390 ss.

172

16. Die R e f o r b e w e g u n g .

einerseits Geist und Tendenz des neuen Verfahrens, die Anwendnng der neuen Gesetze dadurch zu bestimmen, andererseits auch erforderliche Aenderungen der Gesetzgebung vorzubereiten. Naturgemäss machten sich dabei zwei entgegengesetzte Richtungen bemerkbar. Die eine ging davon aus, dass die stattgefundene Reform nicht halte, was die Schlagworte versprochen, unter deren Verkündung sie eingeführt worden, oder doch, dass die Principien, welche durch sie den Sieg errungen haben sollten, nicht richtig aufgefasst, nicht in ihrer Wahrheit verwirklicht seien, dass insbesondere gegen die ausschliessliche Berücksichtigung des f r a n z ö s i s c h e n Vorbildes das Studium der e n g l i s c h e n Einrichtungen ein Gegengewicht bilden müsse 7 . Die z w e i t e war die naturgemässe Reaction gegen die Hast und gegen das tuniultuarische Eingreifen der Politik, denen der refomiirte Strafprozess seine so sichtlich improvisirte Einführung verdankte; es ward reagirt gegen das fremde, gegen das „französische Wesen", aber freilich noch heftiger gegen die mehr stammverwandten englischen Elemente: es ward die Schroffheit cles Bruches mit der Grundform des traditionellen deutschen Strafprozesses beklagt und der Versuch gemacht, seine principielle Bedeutung durch Hervorhebung des clem alten wie dem neuen Prozess unleugbar zu Grunde liegenden Doppelgedankens der Verfolgung der Verbrechen vom Amtswegen und des Strebens nach materieller Wahrheit so herabzudrücken, dass man manchmal beim Lesen solcher Ausführungen an das Wort erinnert wird: rien n'est changé, i l n'y a qu'un Français de plus! (s. die Literaturangaben bei § 4 Anni 1). — So schlimm war es indess nicht gemeint: auch auf dieser Seite hatte man sehr concrete Dinge vor Augen, die man praktisch festhielt oder zu denen man sich definitiv bekehrt hatte, und umgekehrt andere, die definitiv beseitigt waren. Gleichviel ob man die letzteren als zufällige Auswüchse, die ersteren als mit dem alten Prozessprincip vereinbarliche, das Wesen nicht ändernde „Formen" erklärte, es blieb ein fester Kern, cler praktisch nicht mehr in Frage gestellt wurde : die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft, die Steigerung cler Wirksamkeit der Vertheidigung, die dadurch ermöglichte contradictorische Vorführung und Erörterung des Beweisniaterials in einer die unmittelbare Grundlage cler Entscheidung mindestens des in erster Instanz erkennenden Gerichtes bildenden mündlich-öffent7 Vielleicht die erste Stimme, welche nach dem Umschlag des Jahres 1848, oder vielmehr als er eben begonnen hatte, sich erhob, um diese Richtung anzugeben, war die von G e i b : S 90 if. seiner Schrift ..Die Reform des deutschen Rechtslebens" (Vorrede v. 5. August 1848).

S 16.

Die Reformbewegimg.

173

liehen Hauptverhandlung einerseits, andererseits die Beibehaltung der alten deutsehen Untersuchung in der Weise, dass sie ein — allerdings bald mehr bald weniger ausschlaggebender — Theil des Gesammtverfahrens wrerde. Das war ein C o m p r o m i s s , das schon in den letzten' Kämpfen vor 1848 maassvolle Denker, Gegner der blinden Hingabe an Schlagworte , trotz sichtlicher Vorliebe für den gemeinen Inquisitionsprozess, vorgeschlagen hatten 8 . Zwei andere einst zähe vertheidigte Positionen wairden nach dem eingetretenen Umschwung ebenfalls fast allgemein als solche erkannt, die unwiederbringlich verloren seien : die I n s t a n z e n t b i n d u n g und die ge s e t ζ l i e h e B e w e i s t h e o r i e . — Aber es ist klar, dass noch immer mancherlei den Schwerpunkt des Verfahrens je nach der Grundrichtung, die man einschlug, in die inquisitorische und geheime schriftliche Voruntersuchung oder in die contradictorisch - mündlich-öffentliche Hauptverhandlung verlegen konnte. Fragen, die sich hierauf beziehen, waren namentlich die grössere oder geringere Gründlichkeit der Voruntersuchung, der Umfang, in welchem die mündliche Vernehmung in der Hauptverhandlung durch Verlesung von Akten des Vorverfahrens ersetzt werden könne, der Einfluss, den diese Akten in der zweiten Instanz unter Verdrängung der Ergebnisse der mündlichen Hauptverhandlung üben können, der Einfluss der Parteien auf die Beschaffung des Beweismaterials für die Hauptverhandlung, die Stellung, die in derselben der Angeklagte gegenüber dem Vorsitzenden und dem Gericht einzunehmen hat, und (namentlich bei der praktischen Gestaltung des Rechtsmittels der NichtigkeitsbeschwTerde, die B e d e u t u n g d e r F o r m im reformirten Strafprozess. — Am lebhaftesten wogte aber der Streit auf dem Gebiete des S c h w u r g e r i c h t e s 9 . Dasselbe 8

Im Grunde ist dies schon die Richtung F e u e r b a c h s , dessen Ansichten allerdings in manchen Punkten wiederholt gewechselt hatten. Später sagt Z a c h a r i ä (Gebrechen und Reform S 25. 36) im Anschluss an die oben (§ 4 Anm 11) erwähnte Polemik gegen I v ö s t l i n , man würde durch den Satz: „im Strafprozess muss von Amtswegen verfahren werden und der accusatorische Prozess herrschen", s e i n Bekenntniss „unter der Voraussetzung einer gehörigen Scheidung der V o r u n t e r s u c h u n g und des H a u p t ν e r f a h r en s aussprechen, ein Bekenntniss, welches sich, die spätere Ausführung vorbehaltlich, dahin zusammenfassen lässt: »Im vorbereitenden Verfahren kann und muss das Untersuchungsprincip, im Hauptverfahren aber das Anklageprincip das herrschende sein«". Nicht so weit zwar ging A h e g g (Beiträge zur Strafprozessgesetzgebung S 48 if.), da er noch die Staatsanwaltschaft vom Vorverfahren fernhalten wollte und den Einfluss der H a u p t Verhandlung auf das Ganze des Prozesses nicht beachtete ; jedoch, Gewicht auf die Sonderung der Stadien des Verfahrens legend, lenkt er in die gleiche Richtung ein. 9 Vgl. oben Anm 2, ferner zur Uebersicht H. A. Z a c h a r i ä , Handbuch cles deutschen Strafprozesses I 68—84. G l a s e r in HH 1 11. 12. 20. 21. K ö s t l i n ,

174 war

§ 16.

von vielen unter

dem

Die Reforrnbewegung.

E i n d r u c k , dass es ein untrennbarer

Be-

s t a n d t e i l der französischen Einrichtungen sei, m i t allem anderen verfochten worden.

Das

w a r d nun gegen die Jury von mancher Seite

geltend gemacht ; Vortheile, die das französische Verfahren durch seine andern Grundelemente gewähre,

habe man unnöthigerweise der Jury

zu gute gerechnet; unzulässige politische M o t i v e seien hinzugekommen: die Mängel des französischen Verfahrens, i n Frankreich selbst empfunden, seien ganz unbeachtet geblieben, u n d insbesondere die völlige XlnDas Geschwornengericht, für Nichtjuristen. Tübingen 1849. W i ' i r t h S 18 ff. O r e l l i , Die Jury-in Frankreich und England. Zürich 1852. B i e n er, Das englische Geschwornengericht. 8 Bände Leipzig 1852—1855. N o l l η er, Die deutschen Juristen und die deutsche Gesetzgebung seit 1848. Kassel 1854. T i p p e l s k i r c h in GA 1855 8 348 — 379. 442-471. v. S t e m an η das. S 335—347. B r a c k e n h ö f t im GS 1855 I 81 ff. 171 ff. 250 ff. H i l g a r d , ANF 1855 S 216 ff. R e h m , GS 1857 I 38 ff'. Ein mit rechtsgelehrten Richtern besetzter Schwurgerichtshof ist dem Geschwornengerichte vorzuziehen. Gotha 1856. Reichmann im GS 1857 I 3 ff. P o l a n d , Rechtsgelehrte Richter oder Geschworne? Leipzig 1858. V o l l er t , Die französischen Institute im neuen deutschen Strafprozess. Jena 1860. W i a r d a , Bedenken gegen das Schwurgericht. Hannover 1862. S c h w a r z , Für das Schwurgericht. Hannover 1862. M e j e r , Zwölf Briefe über den Werth oder Unwerth des schwurgerichtlichen Verfahrens. Hannover 1862. O r t i o f f in der KrÜ V I 385 ff W a l t h e r , KrÜ IV 311 ff. IvrV I I I 476 ff. H y e , Ueber das Schwurgericht. Wien 1864. G l a s e r , Zur Juryfrage. Wien 1864. (2. Aufl.: Schwurgerichtl. Erörterungen S 69 ff. 105 ff.). H e i n z e , Parallelen zwischen der englischen Jury und dem französisch-deutschen Geschwornengericht. Erlangen 1864. D e r s e l b e , Ein deutsches Geschwornengericht Leipzig 1865. S c h w a r z e , Geschwornengericht und Schöffengericht. 1864. D e r s e l b e , Das deutsche Schwurgericht und dessen Reform. Erlangen 1865. D e r s e l b e in WRLex X 1 ff. GS 1865 S 129—160. H a a g e r , GS 1864 S 53 ff. M i t t e r m a i e r , Erfahrungen über die Wirksamkeit der Schwurgerichte in Europa und Amerika. Erlangen 1865. D e r s e l b e , Das Volksgericht in Gestalt der Schwur-und Schöffengerichte. Berlin 1866. W a h l b e r g in Haimerls Vierteljahrsschr. XIV Lit. Anz. S 64 ff. B i n d i n g , Die drei Grundfrage]? der Organisation des Strafgerichts. Leipzig 1876. J li e r i n g . Der Zweck im Recht I 401—413. M i t R ü c k s i c h t auf e i n z e l n e G e b i e t e : G ö t z e , Ueber die preussischen Schwurgerichte und deren Reform. Berlin 1851. H a c h t m a n n , Die Einführung der Sclrwurgerichte in Preussen, ihre Entwickelung und ihre Zukunft. Schwurgerichts/. I I I 126 ff. K r ä w e l , Die Entwickelung des Schwurgerichtes in Preussen. GS 1855 I I 35 ff. K ä m m e r e r , Ueber Schwurgerichte in Bayern. München 1858. G e o r g i , Schwurgerichtsgesetz und Schwurgerichtsverfassung in Württemberg. Schwurgerichtsz. I I I 75 ff. H e i n z e , Zur Einführung der Geschwornengerichte in Sachsen. Wiss. Beil. der Leipz. Z. 1867 Nr 54—59. ( L i e n b a c h e r ) Sollen in Oesterreich Schwurgerichte eingeführt werden? Wien 1861. G l a s e r , Die Schwurgerichtsfrage in Oesterreich. Schwurgerichtliche Erörterungen S 69 ff. U l i mann, Ueber den Fortschritt in der Strafrechtspflege seit dem Ende des 18. Jahrli. Innsbruck 1873. S 19 ff'. D e r s e l b e , Lehrbuch d. ö. StP 21. 22.

16.

Die R e f o r b e w e g u n g .

ausführbarkeit der Trennung der Thatfrage von der Rechtsfrage, welche doch für das Wesen der Jury oder wenigstens für die Abgrenzung ihrer Aufgabe von der des Gerichts entscheidend sei. So entwickelte sich eine Gegnerschaft, die nicht sowohl in schlechten Erfahrungen, die man mit den deutschen Gesehwornen gemacht hätte (ausgenommen sind allerdings politische und Press-Prozesse), als vielmehr in den technischen Schwierigkeiten, die bei der Anwendung des Verfahrens vor Gesehwornen sich ergeben, neue Waffen gewann. Die Zurückhaltung einzelner Gesetzgebungen gegenüber der Jury (Sachsen, Altenburg, Lübeck), die Bestrebungen anderer Gesetze, die Competenz der Schwurgerichte einzuengen, waren das nächste Ergebniss. Aber die literarische Bewegung erneuerte auch den Kampf um die Gebiete, welche die Jury sich bereits erobert hatte, und zwar theilweise in dem Bestreben, den ständigen Gerichten allein die inappellable Entscheidung cler Thatfrage in den schwersten Strafsachen, unter den durch das reformirte \ r erfahren gebotenen Garantien, zuzuweisen, theilweise aber mit dem Versuche, das Laienelement zwar an der Entscheidung der Strafsachen theilnehmen zu lassen, aber in einer Form, welche die Schwierigkeiten der Theilung der Functionen vermeidet, andererseits aber dem juristischen Elemente unvermeidlich einen höheren Einfluss auf die Entscheidung, bei wesentlich geminderter Verantwortlichkeit, sichert ( S c h ö f f e n g e r i c h t ) 1 0 . Auf der anderen Seite ward die J u r y vertheidigt, indem nachgewiesen wurde, dass cler Zusammenhang des Institutes mit den übrigen Elementen des reformirten Strafprozesses doch ein so enger sei, dass die Loslösung zwar nicht undenkbar, aber 10 L i t e r a t u r : F ü r S c h ö f f e n g e r i c h t e , oder vielmehr eher noch für Schöffengerichte als für das Geschwornengericht: (Die erste Anregung dürfte bei B i e n e r , Abhandlungen Heft I S 57, Heft I I S V I I I zu finden sein.) H y e , Schwurgericht. Wien 1864. S 37—39. 76—80. ν. S c h w a r z e , Geschwornengericht und Schöffengericht. 1864. D e r s e l b e , Das deutsche Schwurgericht und dessen Reform. Erlangen 1865. S 165 ff. D e r s e l b e , Strafprozessgesetze im Königreich Sachsen Bd. I I Heft 3. D e r s e l b e , Allg. österr. Gerichtsz. 1872 Nr 36. 42. D e r s e l b e , Das Schöffengericht. Leipzig 1873. D e r s e l b e in HH I I 567—578. Z a c h a r i ä , Das moderne Schöffengericht. Berlin 1873. H. M e y e r , Die Frage der Schöffengerichte, geprüft an der Aufgabe der Geschworenen. Erlangen 1873. D e r s e l b e , Die Gegner des Schöffengerichts (an der Spitze eine Aufzählung derselben), in GA 1873 S 369 ff. S p i n o l a , Schwurgerichte und Schöffengerichte, das. 1872 S 225 ff. B i n d i n g , Der Kampf um die Besetzung der deutschen Strafgerichtsbank, im XIII. Bande der preussischen J. D e r s e l b e , Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts. Leipzig 1876. S c h ü t z e , Laien in den Strafgerichten? Leipzig 1873. K u r t z , Schwurgerichte oder Schöffengerichte? Allgem. deutsche Strafrechtszeitung X I I 177 ff. Director ν. S c h o t t in der Augsburger Allgem. Ztg. 1872 und 1873. V o l l o r t , Schwurgericht oder Schöffengericht? Jena 1873. — G e g e n d a s

176

16.

Die R e f o r b e w e g u n g .

keineswegs leicht ausführbar wäre; — vor allem aber ward daran gearbeitet, Mängel der französischen Juryeinrichtung und Gebrechen in der Handhabung des Instituts zu beseitigen durch Klarlegung der geschichtlichen Entwickelung der Jury auf englischem Boden, durch genauere Feststellung der Beziehungen des Gerichts zur Jury, durch Schaffung von Formen, welche die gegenseitige Verständigung und das natürliche |Zusannnenwirken der [Richter- [und Geschwornenbank erleichtern, dem Schwurgerichtshof und der Cassationsinstanz den ihnen zukommenden Einfluss auf die Lösung der Rechtsfrage sichern sollen, — endlich darauf hinzuwirken, dass das schwurgerichtliche Verfahren in den Organismus des ganzen Strafprozesses eingefügt werde, indem alles beseitigt wird, was ihm einen durch seine Eigenart nicht unbedingt gebotenen Ausnahmecharakter giebt 1 1 . \ r . Wenn auch diese Erörterungen sich von denen, welche dem Jahre 1848 vorhergegangen waren, durch ihren sachlichen, juristischen Charakter vorteilhaft unterscheiden, so lässt sich doch nicht leugnen, dass das politische Element, der ewige Gegensatz zwischen Freiheit und Ordnung, Regelung der Grenzen zwischen den Bedürfnissen des Staates und der individuellen Berechtigung, Regierung mit starker Hand und concentri rte Macht auf der einen Seite, und auf der anderen Betheiligung des Volkes an der Ueberwachung und selbst an cler Vornahme staatlicher Actionen, welche sein Wohl und Webe bedingen, m o d e r n e S c h ö f f e n g e r i c h t : M i t t e r m a i er, Das Volksgericht in (lestait der Schwur- und Schöffengerichte. Berlin 1866. G l a s e r , Zur Juryfrage. Wien 1864. S 60—70. (Schwurgerichtl. Erörterungen S 138 ff.) v. B a r , Recht und Beweis im Geschworenengericht. 1865. S. 53 ff. D e r s e l b e , Zur Frage der Geschworenen- und Schöffengerichte. Berlin 1873. J o h n , Ueber Geschworenengerichte und Schöffengerichte. Frankfurt a. M. 1872. S. M a y e r , Geschworenengerichte und Schöffengerichte. Berlin 1872. Gottheit", Schwurgerichte und Schöffengerichte. München 1873. S e u f f e r t , Geschworene oder Schöffen? München 1873. W e l l m a n n , Geschworene oder Schöffen? Berlin 1873. AVahlberg, Kritik des Entw einer deutschen StPO. Wien 1873. S 10 ff., und Allgem. österr. Gerichtszeitung 1872 Nr 1. 43. 44. (Ges. kl. Schriften I I I S 311 ff.) D e r s e l b e , StRZ X I I I 1873 S 40 ff. G n e i s t , Vier Fragen. Berlin 1874. S 142 ff. P e t s c h , StRZ X I I 321 ff. Fr. Z i m m e r m a n n , Ueber das projectirte Schöffengericht. GS 1873 S 223 ff. v. R ö n n e , Die Aufgaben des Bürgerelementes im Strafprozess. Leipzig 1876. L a u l i n , Von der Einführung der Schöffengerichte ist für die Oriniinalrechtspflege kein Gewinn zu hoffen. Köln 1873. W a l t h e r in der Augsb. Allgem. Zeitung 1872 und 1873, insbes. Nr 334 u. 335 Jahrg. 1872. Darstellungen gegebener Schöffengerichtseinrichtungen im GS 1865 S 53 ff. (Haager); GA 1868 S 612. 673 ff'. (Heinze); 1870 S 719. 793 ff. (Zimm ermann); 1869 S 257; 1870 S 565 (ν. Schwarze). — Ueber den gesammten Streit: V d. 9., 10. und 11. deutsch. JT und J o h n , StPO S 37 ff. 11 G l a s e r in HR Lex Art. „Schwurgericht" I I I 634 ff.

§ 16.

Die

Reforbewegung.

auf die theoretische Erörterung und praktische Lösung dieser Fragen einwirkte. Die grossen politischen Strömungen, die Deutschland seit dem Jahre 1848 durchzogen, übten einen deutlich nachweisbaren Einfluss auf die literarische und legislative Bewegimg, welche die Fortbildung des Strafprozesses bestimmte. Zuerst machte sich der Bückschlag gegen die Uebertreibungen der Jahre 1848 und 1849, dann wieder die Gegenströmung fühlbar, welche durch die bei jenem vorgekommenen Uebergriffe und Maasslosigkeiten gekräftigt wurde und welche, etwa seit der zweiten Hälfte des Jahres 1859 fortwährend an Macht gewinnend, durch die deutschen Einheitsbestrebungen und das mit ihnen zusammenhängende Bemühen um die Herstellung einer einheitlichen deutschen Rechtsgesetzgebung unterstützt, auf die Ansichten von Juristen und Laien, insbesondere auf die Berathungen und Beschlüsse des deutschen Juristentages und der verschiedenen gesetzgebenden Körper zunächst der deutschen Länder, später auch des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches (wenigstens in den ersten Jahren des Bestandes des letzteren) Richtung gebend einwirkte. Es handelt sich dabei keineswegs abschliessend oder auch nur überwiegend um die "Mitwirkung des Laienelementes bei der Urtheilsfällung in Strafsachen, sondern um die verschiedensten anderen Beziehungen. Vor allem hatten die französischen Einrichtungen, die gerade in den grossen Gebieten von Preussen und Bayern nicht völlig fremd und darum doppelt einflussreich waren, das mit sich gebracht, dass fast ohne Aufsehen die Formen des Strafprozesses und die Thätigkeit der ordentlichen Strafgerichte für das so wichtige Gebiet des P o l i z e i s t r a f r e c h t s Geltung erlangten. Andererseits war der S t a a t s a n w a l t s c h a f t fast unmittelbar nach ihrer Einführung die Aufgabe erwachsen, gegenüber dei· ebenfalls neu begründeten Unterstellung der Presse unter das Repressivsystem und in politischen Prozessen in den Kämpfen, welche die rückläufige Bewegung der Jahre 1852—1859 mit sich brachte, eine Stellung einzunehmen, welche ihrer Popularität nicht förderlich sein konnte. Aber auch abgesehen davon musste das Gegenübertreten der Staatsanwaltschaft und des Vertheidigerstandes eine gewisse Eifersucht, ein Bestreben erzeugen, Vorrechte der Staatsanwaltschaft zu beseitigen, welche die durch die contradictorische Verhandlung gebotene Gleichstellung der Parteien beeinträchtigen konnten, und bezüglich welcher nun untersucht werden sollte, ob sie durch die Stellung der Staatsanwaltschaft unabweisbar gefordert seien. Nicht minder wendete sich die Aufmerksamkeit in erhöhtem Maasse all den oben (§ 5 II) besprochenen Elementen zu, welche durch das jeweilig herrschende Maass der b ü r g e r 1 i c h e η F r e i h e i t überwiegend Binding, Handbuch. IX. 4. I :

G l a s e r , Strafprozess. I.

12

178

§ 16.

bestimmt werden. wahl

der

War

Die Reforbewegung.

indess die politische Strömung bei der Aus-

zu besprechenden Fragen niaassgebend u n d bestimmte sie

vielfach auch die herrschende E i c h t l i n g , so war doch der G r u n d t o n der

sachgemässer

Erörterung,

der Untersuchungen führte. u m die alten Schlagworte

welche

eben

darum

zur

Vertiefung

Erfreulicherweise t r a t nämlich der Streit mehr

u n d mehr i n den H i n t e r g r u n d

und

machte E r ö r t e r u n g e n Platz, welche mehr die conséquente Durchführung bereits angenommener Grundsätze einerseits, andererseits die Grenzen, welche m a n denselben, vom Standpunkte der E r f a h r u n g u n d der Zweckmässigkeit ausgehend, ziehen müsse, vor Augen hatten. als die zur

Gegenstände,

deren Besprechung

So k a n n man

die Epoche von 1860 bis

G r ü n d u n g der deutschen Pieichsstrafprozessordnung

von 1877 er-

füllt u n d auf die letztere naturgemäss Einfluss üben musste, folgende bezeichnen : das P r i n c i p der S t r a f v e r f o l g u n g u n d i m Zusammenhange damit 12

die

innere E i n r i c h t u n g

der

Staatsanwaltschaft

12

.

Weder die Sonderung nach den oben aus einander gehaltenen Stoffen, noch nach Epochen lässt sich bei der Anführung der Literatur vollständig durchfülu'en ; es schien daher rathsam, sie zu vereinigen und bezüglich einiger Hauptwerke selbst auf die Zeit vor 1848 zurückzugehen (s. auch oben § 4 Anm 1): F e u e r bach, Oeffentlichkeit u. s. w. I I 132 ff. Al. M ü l l e r . Das Institut der Staatsanwaltschaft nach seinen Hauptmomenten. Leipzig 1825. T h e s m a r , Die Staatsanwaltschaft, ihr Werth im Civil- und Criniinalrecht. Bonn 1844. (Weismann) Das öffentliche Ministerium. Wien 1849. L. F r e y , Die Staatsanwaltschaft in Deutschland und Frankreich. Erlangen 1850. T w e l e , Die Staatsanwaltschaft. (Zusammenstellung von Vorschriften etc.) Hannover 1853. M i t t e m i a i er, Art. „Staatsanwaltschaft" in Bluntschìis Staatswörterbuch X I I I 541 ff. S c h w a r z e , Artikel „Staatsanwaltschaft" in WRLex X 1856 S 508 ff. S u n d el in, Die Staatsanwaltschaft in Deutschland. Anklarn 1860. H a u s c l i t e k , Die Organe für die Rechtspflege in ihrer gegenseitigen Ergänzung. Berlin 1862. F. v. H o l t z e n d o r f f , Die Reform der Staatsanwaltschaft in Deutschland. Berlin 1864. D e r s e l b e in seinem RLex Art. „Opportunitätsprincip" und „Staatsanwaltschaft" I I 953. I I I 739 ff. I) e r s e 1 b e, Die Umgestaltung der Staatsanwaltschaft vom Standpunkt unabhängiger Strafjustiz. Berlin 1865. S e e l i g , Die Staatsbehörde bei den Strafgerichten. Kassel 1864. G. K e l l e r , Die Staatsanwaltschaft. Wien 1865. (v. S a v i g n y ) Principi enfragen S 35—47. M i t t er m a i er, Gesetzgebung und Rechtsübung S 144 ff. P l a n c k S 26 ff. Z a c h a r i ä , Handb. I 409 ff. W u r t h S 139 ff. G l a s e r . Das Princip der Strafverfolgung, Kleine Schriften S 521 ff. Degen er, Justizorganisationsgesetze für Braunschweig. 1850. I I 38 ff. Mot zur österr. StPO von 1873 S 7 ff. S. M a y e r , Oesterr. StPO I I 97 ff.i U l i m a n n §§ 54—58. Mot zum Entw des deutschen GVG, zum 9. Titel (Ausg. Kortkampf 1874 S 676 ff.). G η e i s t , Vier Fragen zu der StPO. Berlin 1874. S 16 ff. H. M e y e r , Die Mitwirkung der Parteien im Strafprozess 1873. L. v. B a r , Kritik der Principien des ßntw der d. StPO 1873 S 6 ff. H e i n z e , Erörterungen S 3 ff. G e y e r , Lehrbuch §§ 95-98. Κ ay s er S 95 ff. ANF 1845 S 595—613 ( H e f f t e r , "l>as . . . Fiscalat); 1852 S 289—320 ( H e r r m a n n , Begriff der Staatsanwaltschaft). Ζ f. deutsches Strafverf.

16.

Die R e f o r b e w e g u n g .

ihre Beziehung zum Gericht, zur obersten Justizverwaltung und zur Verteidigung — die Frage der Einführung der subsidiären P r i v a t a n k l a g e und, wofür sich allmählich auch Wortführer fanden, der concurrirenden P o p u l a r k l a g e 1 3 , der Adhäsionsprozess 14 — die R e f o r m I I 94 ff. (L e u e). Haimerls Mag I I I 305 ff. ( G s e li w e i d 1 e r ) ; IV 163 ff. (S c h η a bel). — Preussische J IV 22 ff. (Juli 1859). Deutsche Vierteljahrsschrift X X I I 71 ff. X X I I I 250 ff. (Das Princip der Strafverfolgung). Mag für badische Rechtspflege I I 214 (Ro s s h i r t , vgl. Schletters J 1857 S 159, 1858 S 240). Schwurgerichtszeitung I 14 ff. ( B u t t e l ) , 113 ff. (v. Gross), 274 ff. (v. T i p p e i s k i r c h ) . — Strafrechtspflege I I I 133-148. 385—410 (v. G r o s s , Das Princip der Strafverfolgung); IV 29—47 ( G l a s e r , Replik auf Vorstehendes); S 48—55 ( R u m p e l t , Frage über Beseitigung des sog. Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft); S 510 ff. ( H a a g e r , Initiative der strafgeri eliti. Verfolgung); S 534 ff. (v. G r o s s , Bemerkungen liiezu). — — GS 1849 I 136 ff. ( B o m b a r d , Weiterverfolgung einer zweifelhaften Anklage); S 278 ff. ( S c h m i t t ) ; I I 60ff. ( L i p p e r t , Französische Staatsanwaltschaft); S 214 ff. ( J a g e m a n n , Sechs Gebote für den öffentl. Ankläger); S 416 ff. (\rerhältniss des Staatsanw. zum Justizminister); 1858 S 161. 196. 267—306 (M i 11 e r m a i er); 1859 S 3—31 (Schwarze); S 350—373 (H a age r); 1860 S 5 0 - 5 5 (Schwarze); S 357—368 ( T a u f f k i r c h e n ) ; 1862 S 355-379 (Sunde! i n , Die praktischen Fälle, wo das . . Einschreiten dzs Staatsanwaltes aus Nützlichkeitsgründen unterbleiben kann); 1864 S 401—458 (Schwarze speciell über Holtzendorffs „Reform"); 1865 S 125—153 (ν. Gross über vorstehenden Aufsatz Schwarzes). — StRZ 1861 S 20—26. 37—42 ( M i t t er m a i er über die Schrift: Le ministère public et le barreau); S 297—300. 305-307 (S un d e l in); 1862 S 45 ff. (Aus Oesterreich); S 193 ff. 209 ff. (Sun d e l i η , Ministerwillkür und Staatsanwaltschaft); S 273 ff. ( M i t t e r m a i er, Der Kampf der Staatsanwaltschaft mit der richterlichen Gewalt); S 685 ff. (Staatsanwaltschaft und Polizei-Uebertretungssachen); S 701 ff. ( S u n d e l i n , Aberzieht . . . auf eine bereits eingeleitete Anklage); 1863 S 378 ff. ( H a u s c h t e k ) ; 1866 S 177 ff. ( S c h w a r z e , Die Reform der Staatsanwaltschaft, Replik gegen Holtzendorff). — GA 1853 S 23 ff. ( T i p p e i s k i r c h ) ; S 315—321 ( D e r s e l b e über Zugeständniss und Zeugenvernehmung des Staatsanwaltes); S 663—668 ( S c h w a r c k ) ; 1854 S 26 ff. ( T i p p e i s k i r c h ) ; 1856 S 189—202 ( D i e t e r i c i , Die Gewaltendes Strafprozesses); 1860 S 41—53 (v. S te m an η, Fortbildung der Staatsanwaltschaft); 1859 S 577-587; S 734—745, dann 1860 S 145—155 und 1861 S 155 — 164 ( D a l c k e ) ; 1863 S 533 — 540 (v. Stemann, Die ausschliessliche Anklagebefugniss der Staatsanwaltschaft); 1864 S 588 — 601 (Befugniss, Rechtsmittel zurückzunehmen); 1876 S 265 ff., bes. aber S 294 ff. ( H e i n z e , Dispositionsprincip). (Die unten Anm 13 angeführten V d. deutsch. JT.) 13 Vd. deutsch. JT I S 70. 71. 246 ff.; I I Β 1 S 131 ff. (ν. Gross); S 174 ff. (v. S e c k e n d o r f f ) ; S 241 ff. (Schwarze); Β 2 S 289-368. 373—429; X I I Β 1 S 64 ff. (v. H o l t z e n d o r f f ) ; S 193 ff. (Thomsen); S 233 ff. (John); Β 3 S 191 ff. 212 ff. 318 ff. 323 ff. — v. Gross, Strafrechtspflege I I I 385 — 412; IV 29—55. 232 - 240. G l a s e r , Kleine Schriften S. 251 ff. H. M e y e r , Die Mitwirkung der Parteien im Strafprozess. Erlangen 1873. S. M a y e r , Zur Reform des Strafprozesses. Absclin. Frankfurt 1871. D e r s e l b e , Entw der deutschen StPO. 1874. S 308—420. H e r gen b a h n , Das Antragsrecht im deutschen Strafrecht. Heft 105 der Deutschen Zeit- und Streitfragen. Berlin 1878. StRZ I S 27 ff. 12*

180

§16.

Die Reforrnbewegung.

d e r V o r u n t e r s u c h u n g 1 5 , namentlich in der Richtung der Einführung der Oeffentlichkeit, mindestens der Parteienölfentlichkeit, und des Schutzes cler persönlichen Freiheit — die Vermehrung der Gelegenheit zur M i t w i r k u n g d e r P a r t e i e n in dein Vorverfahren und bei Bestimmung des Materials für die Hauptverhandlung — Ersatz für unverdient erduldete U n t e r s u c h u n g s h a f t 1 6 — die Vereinfachung (v. Gross); 8 85 ff. (v. S c h w a r z e ) ; S 392if. ; S 494 ff. ( S u n d e l i n ) ; I I S 49 ff. ( M i t t e l s t a d t ) . F u c h s , Anklage und Antragsdelicte. Breslau 1872. Re her, Die Antragsdelicte des deutschen Strafrechtes. München 1873. N e s s e l , Die Antragsberechtigungen der deutschen RStPO. Berlin 1873. G n e i st, \ 7 ier Fragen. S 16 ff. B i n d i n g , Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts. S 41 ff. W a h l b e r g , Kritik des Entw der deutschen StPO. S 29—34. L. v. B a r , Kritik der Principien des Entw einer deutschen StPO. Berlin 1873. S 9 —12, N i s s e n , Entwickelung S 7. 64 ff. H e i n z e , Erört. S 11 ff. S c h ü t z e , Das staatsbürgerliche Anklagerecht in Strafsachen. Graz 1875. J a n k a , Staatliches Klagemonopol oder subsidiäres Straf klagerecht ? Erlangen 1879. D o c h o w in v. Holtzendorffs J für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des Deutschen Reiches I I I 462. D e r s e l b e in HH IV 236 ff. Vgl. E. M e n z e l , Die Privatklage nach dem Reichsstrafprozessrecht. Erlangen 1880. G l a s e r in HRLex Art. „Privatklage" I I I 175 ff. Cas ο r a t i , Processo penale ρ 123 ss. 14 O r t lo ff, Der Adhäsionsprozess. Leipzig 1864. Vgl. G l a s e r , Kleine Schriften S 555. 15 G e i b , Die Reform des deutschen Rechtslebens S 104 ff'. ( R u p p e n t l i a l ) Materialien zur Rev. der rlieinpr. StPO S 115 ff. S u n d e l i n , Die Staatsanwaltschaft in Deutschland (1860) S 92 ff. G. K e l l e r , Die Staatsanwaltschaft in Deutschland (1866) S 242 ff. M i t t e r m a i e r , Die Gesetzgebung über Voruntersuchung, ANF 1848 S 599 ff. 1849 S 177 ff. ;317 ff. \Y. B r a u e r , Die Voruntersuchung auf der Grundlage des Anklageprincips, GS 1849 I I 321 ff. A h e g g , Ueb. die Nothw. u. den Werth gründlicher λ τ . in Strafsachen, Haimerls Vierteljahrsschrift XIV I f f . D a l c k e , Ueber das strafg. Vorverfahren, GA 1866 S 15 ff. Verhandlungen cler schweizer jurist. Gesellschaft in d. Ζ für schweizerisches Recht X I I 8 ff. ( C h e r b u l i e z über die Notwendigkeit der Gliederung in information préalable u. inf. definitive); S. 13ff. ( R ü t t i m a n n über das Verhältniss von Polizei und Gericht in der Vorunters.). G l a s e r , Ueber Specialuntersuchung. Kleine Schriften S 655 ff. O r t l o f f , Beiträge ζ. Kritik der Organisation des \7orverfahrens, KrV XIV 54 ff. S u n d e l i n , Das Vorverf. im deutschen StP (1861) S 49 ff. 65 ff. 81 ff. V d. 3. deutsch. JT Β 1 S 28; Β 2 S 72. 73. 293—352. W a l l lb erg, Kritik cles Entw einer StPO. Wien 1873. S 58 ff. H. M e y e r , Die Mitwirkung (1er Parteien im Strafprozess. S 9 ff. L. v. B a r , Kritik S 13 ff. G n e i s t , Vier Fragen. S 49 ff. S. M a y e r , Der Entw einer deutschen StPO. Frankfurt 1874. S 92 ff. — N e u e s t e s d e u t s c h e s u n d ö s t e r r e i c h i s c h e s R e c h t : U11 m a η η 96—100. F u c h s in HH I 458 ff. D o c h o w , Der Reichsstrafprozess. 3. Aufl. Berlin 1880. S 196 ff. M eves, Das Strafverfahren. 3. Aufl. Berlin 1880. S 116 ff. G e y e r §§ 175 ff. 16 H e i n z e , Das Recht der Untersuchungshaft. Leipzig 1865. Y d. deutsch. JT X I Β 1 S 42 ff. ( A V a h l b e r g ) ; S 87 ff. ( U l i m a n n ) ; S 95 ff. ( V o l l e r t ) ;

§16.

des

Vorganges

lebhaftere

bei

der

Die R e f o b e w e g u n g .

Versetzung

Betheiligung der Parteien

Hauptverhandlung

und,

in

Anklagestand

1 7

unter A n e i g n u n g der F o r m e n des

englischen

Verfahrens, B e s e i t i g u n g d e s i n q u i s i t o r i s c h e n V e r h ö r e s Angeklagten

i n cler H a u p t v e r h a n d l u n g 1 8

sätze der M ü n d l i c h k e i t schaffung

der



Sicherung

der

des

Grund-

u n d der freien Beweiswürdigung durch

Berufung



an der Beweisaufnahme i n der

Ab-

gegen den Ausspruch über die T h a t -

frage, zum mindesten gegen den dein Angeklagten günstigen, u n d Befreiung des C a s s a t i o n s s y s t e m s von den M ä n g e l n des französischen R e c h t s 1 9 — Verbesserung der B e s t i m m u n g über das

Contumacial-

X I I R 1 S 46 ff. ( N i s s e n ) ; S 329 ff. ( K ö s t l i n ) ; X I I I Β 2 S 259 ff. — W a h l b e r g , Gesammelte kleinere Schriften I (1875) 213—215. U l i m a n n im GS 1875 S 81 ff. 386 ff. Vgl auch: F i l a n g i e r i c. 22 (vol. I I ρ 547 ss.). Pas t o r e t , Des lois pénales. Paris 1790. IV. partie ch. 20 ρ 116 — 128. Edict Leopolds I. von Toscana v. 30. Nov. 1786 Art. 46. C a r r a r a § 858 ρ 376—378. P r i n s et P e r g a m e n i , Réforme de l'instruction préparatoire ρ 218 — 230. Lucchini, 11 carcere preventivo. Venezia 1873. ρ 258—271. M. P. B e r n a r d , Réparation des erreurs judiciaires. Paris 1871. A. B o n n e v i l l e , De l'amélioration de la loi criminelle. Paris 1855. ch. 20. 21 ρ 485—528. — Ferner an späteren Arbeiten: Z u c k e r , Die Untersuchungshaft. Prag 1879. I I I 134 ff. Ci e y er in „Nord und Süd" XVIII. August 1881. S 167 ff. D e r s e l b e , Deutsche Zeit- und Streitfragen Heft 169. Berlin 1882. D e r s e l b e im GS 1882 S 321 ff. H o l tz end or f f in s. RLex I I I 946. S c h w a r z e im GS 1882 S 100 ff. J a q u e s in der Augsb. Allg. Ztg. 1882 Nr 121. 122. v. L i s z t in der Politischen Wochenschrift Nr 29 1882 S 235—237. Vgl. d e s s e l b e n Ζ 1882 S 196. 17 M i t t e r m a i er, Gesetzgebung und Rechtsübung S 381—413. Z a c h a r i ä , Handb. I I 337 ff. O r t i o f f in der KrV XIV 86 ff. 190 ff. H. M e y e r , Die Mitwirkung der Parteien im Strafprozess. S 25 ff. V d. deutsch. JT V I I Β 1 S 54—62 ( T i p p e i s k i r c h ) ; S 63—79 ( G e y e r ) ; Β 2 S 122—156. H e i n z e , Strafprozessual. Erörterungen. Stuttgart 1875. S. 46—59. W a h l ber g, Kritik des Entw einer d. StPO. Wien 1873. S 44 ff. S. M a y e r , Entw einer d. StPO. Frankfurt 1874. S. 155 ff. Gn ei st, Vier Fragen S 63 ff. U l i m a η η in StRZ 1873 S 302 ff. und im GS 1880 S 310 ff.; D e r s e l b e , Oesterr. Strafprozessrecht §rl04. Mot zum Entw der österr. StPO von 1873. Abschn. D S 35 ff. G l a s e r , Art. „Eröffnung des Hauptverfahrens" in HRLex I 729 ff., s. auch oben Anm 5. S. M a y e r , Handb. I 156-159. L. v. B a r in Grünhut I 304 ff. ™ G l a s e r , ANF 1851 S 200 ff. (Kleine Schriften S 405 ff.). M i t t e r m a i e r , Gesetzgebung und Rechtsübung S 462 ff. S u n d e l i n , Die Staatsanwaltschaft S 119 ff.; ders. in GA 1858 S 624 ff., im GS 1858 S 401 ff., 1859 S 161 ff. R e l i m im GS 1860 S 1 ff. v. S t e m a n n in GA 1860 S 49 ff. K r a e l in StRZ 1868 S 655 ff. G n e i s t , Vier Fragen S 99 ff. S c h ü t z e in GA 1874 S 17 ff. V d. deutsch. JT V I I Β 1 S 86 ff. ( G l a s e r ) ; Β 2 S 109—122; X I Β 1 S 3 ff (ν. Stemann). HRLex Art. „Geständniss" I I 150, 151 ( W i e d i n g ) ; Art. Beweisverfähren I 375 ff.; Art. „Hauptverhandlung VI" Β I I 282 ff. (Glaser). 19 S. oben Anm 6.

182

§16.

Die R e f o r b e w e g u n g .

v e r f a h r e n 2 0 und über die W i e d e r a u f n a h m e des S t r a f v e r f a h r e n s 2 1 — Regelung des V e r f a h r e n s v o r E i n z e l r i c h t e r η 2 2 und vor den Gerichten unterster Ordnung durch Vereinfachungen der Procedur ( S t r a f v e r f ü g u n g ) und Mitwirkung des Laienelementes u. s. w. VI. In O e s t e r r e i c h ist diese Epoche von den verschiedenartigsten Strömungen beherrscht. Die w i s s e n s c h a f t l i c h e Bewegung nimmt· hier noch mehr als auf anderen Gebieten Theil an der Strömung des deutschen Lebens, welche auch auf die Gesetzgebung wesentlich einwirkt. Daneben geht ein doppeltes, der Hauptsache nach vergebliches Ringen nach E i n h e i t : Theilnahme an den Bestrebungen nach Herstellung eines einheitlichen deutschen Strafprozessrechts und nach Herstellung einer einheitlichen Rechtsgesetzgebung innerhalb der österreichischen Monarchie selbst. Auf Kosten selbst der theilweise errungenen österreichischen Rechtseinheit gab man in den Jahren 1848 — 1850 sich der Einwirkung der deutschen Bewegung hin. Nachdem in kurzer Aufeinanderfolge (April und Mai 1848, März 1849) für Presssachen ein Specialstrafverfahren und zwar in den zwei letzterwähnten Gesetzen unter Einführung der Jury hergestellt worden war, wurde am 17. Januar 1850 eine Strafprozessordnung veröffentlicht, welche, auf den t h ü r i n g i s c h e n Entwurf von 1849 sich stützend, eine vortreffliche Verkörperung der Strafprozessgesetzgebung Deutschlands während der ersten Jahre nach 1848 2 8 war. Dieses Gesetz, in welchem auch die Jury. den Zusicherungen der Verfassung v. 4. März 1849 gemäss, Raum gefunden hatte, ward jedoch nur in den Ländern eingeführt , welche dem Deutschen Bunde angehörten, aber weder in den Ländern, in welchen ausserdem das Gesetz von 1803 galt (Galizien, Lombardei und Venetien), noch in den 20

H. M e y e r , Strafverf. gegen Abwesende. Berlin 1869. Z a c l i a r i ä , Handbuch I I § 135/ G e r a u im ANF 1855 S 555 ff. B u c h n e r im GS 1857 I I 51 ff'. 81 ff. G A 1863 S 231 ff. 450 ff. W i e d i n g in HR Lex I 33 ff. V (1. deutsch. M XI Β 1 S 38 ff. (v. Stemann). 21 V d. deutsch. JT V I I Β 1 S 80 ff. (Gar e i s); Β 2 S 179 ff. Κ e 111 e i s , Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens. Erlangen 1864. S. Mayer, Reform des Strafprozesses (1871) 3. Abtheil. Vgl. D o c h o w in URL ex I I I 1328. 22 V d. deutsch. JT IX Β 2 S 377 ff. (Roos). 23 Joseph v. W u r t h (Verfasser des Entw), Die österr. StPO v. 17. .Januar 1850. Wien 1850. Vgl. GS 1850 I I 209 ff u. 289 ff; 1851 I 13 ff: I I 77 ff. 373 ff'. (Waser); 343 ff. (Wahlberg). Allg. österr. Gerichts/, und Ilaimerls Mag in den Jahren 1850—1854, s. namentlich das. I I I 97. 229. 297 ff; IV 217. 398 ff. (Herbst); IV 118. 309 ff'. (Rulf). Siehe noch H e r b s t , Einleitung in d. 5. StPR 1. Hauptst. II.

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Die R e f o r b e w e g u n g .

Ländern der ungarischen Krone. Inzwischen ward sogar das Gesetz von 1803 in Siebenbürgen neu eingeführt (13. März 1850), während für U n g a r n provisorische Einrichtungen getroffen wurden, welche sich der Strafprozessordnung v. 17. e Januar 1850 (mit Ausnahme des Schwurgerichts) näherten (29. Juli 1850), und die bestimmt waren, durch ein vielfach als Revision der Strafprozessordnung vom 17. Januar 1850 anzusehendes Gesetzbuch, dessen Entwurf bereits vollendet war, ersetzt zu werden. — Am 31. December 1851 wurden jedoch Grundsätze für organische Einrichtungen in den Kronländern cles österr. Kaiserstaates" veröffentlicht, welche wesentliche Umgestaltungen des Strafprozesses, zum Theil eben um cler gewünschten Unificirung willen, vorzeichneten: Wiederherstellung des „inquisitorischen Verfahrens in möglichst einfacher Form" bei den Einzelgerichten, Schmälerung der Oeffentlichkeit, Beseitigung der Schwurgerichte, Wiederherstellung cler „Freisprechung von cler Anklage", ein lediglich auf Schriftlichkeit basirtes Rechtsmittelsystem. Die Verordnung vom 11. Januar 1852, welche clie Schwurgerichte aufhob und durch die inappellable Entscheidung eines Seehsrichter-Collegiums ersetzte, eilte der Ausführung dieser Grundsätze voran, welcher die für clie ganze Monarchie in Wirksamkeit gesetzte Strafprozessordnung v. 29. Juli 1853 2 4 gewidmet war. In der That verkörperte diese clie oben bezeichneten Grundsätze — mit möglichster Rettung der Oeffentlichkeit der sog. mündlichen „Schlussverhandlung" — unter Wiedereinführung der früheren gesetzlichen Beweistheorie, die sich nunmehr ausdrücklich als „negative" darstellte, wobei sie selbstverständlich schon wegen des ganz auf die Akten verwiesenen Reehtsniittelsystenis (Berufung an eine z w e i t e Instanz, und nur bei von einander abweichenden 24 Ergänzungen und Abänderungen der StPO von 1853 brachten die λΓ ν. 16. Juni u. 3. Aug. 1854 über die innere Amtswirksamkeit und Geschäftsordnung der Strafgerichte und der Staatsanwaltschaft. Kais. V v. 3. Mai 1858 betr. Abänderungen der StPO und die Ges v. 27. Oct. 1862 zum Schutz (1er persönlichen Freiheit und des Hausrechtes; v. 17. Dec. 1862 über das Strafverf. in Presssachen ; v. 9. März 1869 über Einführung von Schwurgerichten für Presssachen; v. 25. Juli 1867 über die Verantwortlichkeit der Minister; v. 15. Nov. 1867 über Abschaffung der Instanzentbindung; v. 6. April 1870 zum Schutz des Briefgeheimnisses; v. 23. Juli 1871 über die ausserordentliche Berufung u. s.w. — L i t e r a t u r : v. H y e G l u n e k (Verf. des Entw), Die leitenden Grundsätze der österr. StPO. Wien 1854. F r ü h w a l d , Handbuch des allgem. österr. Strafprozessrechtes. 2. Aufl. Wien 1856. Rulf, Commentar zur StPO. 2 Bände Wien 1857. D e r s e l b e , Erläuterung der V v. 3. Mai 1858. Wien 1858. H e r b s t , Einleitung in das österr. Strafprozessrecht. Wien 1860 (2. Aufl. 1870), s. insb. 1. Ilptst. J. K. — B e s p r e c h u n g e n : W u r t h in der allgem. österr. Gerichtsz. 1853 Nr 97 ff. M i t t e r m a i e r im ANF 1853 S 539 ff. Schwarze das. S 563—581. A r n o l d im GS 1854 I 77 ff. 144 ff.

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Die Reforrnbewegung.

Urtheilen der beiden Untergerichte an den obersten Gerichtshof) dein schriftlichen Vorverfahren ein entschiedeneres Uebergewicht und eine mehr dem älteren Verfahren sich nähernde Einrichtung gal); letztere charakterisirte sich durch die Rückgabe der Initiative der Strafverfolgung an die Gerichte trotz Beibehaltung der Staatsanwaltschaft, durch die Benennung des Vorverfahrens als „Untersuchung" mit der Gliederung in „Voruntersuchung" und „Specialuntersuchung", durch die Uebertragung des „Anklagebeschlusses" an das Collegium erster Instanz, das die nächste Aufsicht über die „Untersuchung" führte. Unmittelbar nach der Wiederherstellung einer parlamentarischen Verfassung begannen auch die Bestrebungen nach Umgestaltung des Strafprozesses. Auf der Seite der Regierung bestand die Absicht, zu den Einrichtungen, welche in den Jahren 1850—1854 bestanden hatten, wieder zurückzukehren, und man hätte insbesondere gewünscht, die Strafprozessordnung von 1850 einfach wiederherstellen zu können. Daran war aber schon deshalb nicht zu denken, weil dieselbe1 während ihrer kurzen Wirksamkeit allerhand Modificationen erfahren hatte, vor allem aber weil man Bedenken trug, in den Ländern, wo sie nicht (reitung erlangt hatte, die Jury einzuführen, und geneigt war. hierin — aber auch nur hierin — eine Verschiedenheit in den im sog. engeren Reichsrathe vertretenen Ländern (d. i. in den zum Deutschen Bunde gehörigen Ländern einerseits und in Dalmatien, Galizien und der Bukowina andrerseits) eintreten zu lassen. Damit aber trat bereits die Frage der B e r u f u n g gegen die Entscheidung über die Thatfrage in den Vordergrund. Und nachdem so die Notwendigkeit erkannt war, die StPO von 1850 einer Revision zu unterziehen, konnte es nicht fehlen, dass noch andere Fragen auftauchten, welche sich aus der Vergi ei chung der StPO von 1850 mit den inzwischen in Deutschland gemachten Erfahrungen und den daran geknüpften legislativen Erörterungen ergaben. Eine Reihe von Entwürfen, unter dem Einfluss wechselnder politischer Strömungen und Persönlichkeiten, ferner des Gegensatzes zwischen dem jeweiligen Minister und dem Staats204 ff. 282 ff. G l a s e r in Schleuers J I 1855 S 363 ff. und in der Allgeni. österr. Gerichts/. 1857 Nr 8. 9, 1858 Nr 66. 67, 1859 Nr 31. 32 (Kleine Schriften S 701 ff.). W a h l b e r g in der KrÜ VI 14 ff. J i c i n s k y , Ueber die V v. 20. Juni 1858, in Haimerls Vierteljahrsschrift I I I 39—63. — J u d i cat en s a m ml un g en: P e i t i e r 1854, H e r b s t 2 Hefte 1857 u. 1860, ferner herausg. vom Vorstand des Vereins zur Uebung gerichtlicher Beredsamkeit. Wien 1867. — Zeitschriften: Allgeni. Österreich. Gerichtsz. seit 1850 (v. S t u b e η r a u c h , Glaser und N o w a k ) ; Haimerls Mag (später Vierteljahrsschrift) für Rechts- und Staatswissenschaft. Wien 1850—1866. Gazetta de' Tribunali. Milano bis 1859, Triest seit 1867. Eco de' Tribunali. Venedig bis 1866.

§16.

Die R e f o r b e w e g u n g .

rath, später auch unter dem des Ausschusses des Abgeordnetenhauses entstanden, trat in den Jahren 1862—1872 hervor. Die Fragen, welche bei diesen Erörterungen im Vordergrunde standen, waren: conséquente Durchführung des Anklageverfahrens und des Fundamentalsatzes : wo kein Kläger, kein Richter — dem entsprechende Stellung des Staatsanwaltes (insbesondere R ü c k t r i t t s r e c h t desselben) und des durch die strafbare Handlung verletzten ( s u b s i d i ä r e P r i v a t a n k l a g e ) — Vereinfachung des Vorverfahrens und Emiögliehung des Wegfalles der gerichtlichen Voruntersuchung — Erweiterung der Vertheidigungsrechte des Beschuldigten im Vorverfahren — Vereinfachung des Verfahrens bei Versetzung in den Anklagestand unter Erhöhung der Garantien gegen ungerechtfertigte Anklagen — Sicherung des Grundsatzes der Mündlichkeit in der Hauptverhandlung und des ITebergewichtes der letzteren über das Vorverfahren — Regelung der Beziehungen des Gerichtes zur Geschwornenbank unter Aufgeben der älteren Theorie, nach welcher die Gesehwornen nur die nackte Thatfrage zu beantworten haben, und unter dem Einfluss des Gedankens, dass es sich um das Zusammenwirken der Richter- und Geschwornenbank zu einem gemeinsamen Ausspruch und daher um möglichste Erleichterung gegenseitiger Verständigimg, aber unter Wahrung der beiderseitigen Selbständigkeit, handelt endlich Verbesserung des Systems der Nichtigkeitsbeschwerden und der Wiederaufnahme des Strafverfahrens. Die aus diesen Bewegungen entstandene Regierungsvorlage von 1872 ward die Grundlage der österreichischen StPO vom 23. Mai 1873 2 Ä . VII. Die oben (V) geschilderte Bewegimg der Geister, welche die Erörterung der für die Fortbildung des deutschen Strafprozesses maassgebenden Fragen hervorrief, ward hauptsächlich belebt und getragen von der Erkenntniss, dass trotz der bunten Mannichfaltigkeit der Gesetze auf dem Gebiet des Strafprozesses doch ein weit höherer Grad der R e c h t s e i n h e i t f ü r D e u t s c h l a n d erlangt sei als auf irgend einem anderen Gebiete. Immer mehr aber steigerte sich das Streben nach Sicherung auch der f o r m e l l e n 25

Leber die Aufeinanderfolge der Entwürfe der StPO (das nähere hierüber unten bei der Entstehungsgeschichte des Textes der StPO von 1873) und die in denselben sich ausdrückende geistige Bewegung siehe: S. M a y e r , Handbuch des österr. Strafprozessrechts. Band I : Entstehungsgeschichte der . . . StPO . . . nach amtlichen Quellen. Wien 1876. E. U l i m a n n , Lehrbuch des österr. Strafprozessrechts § 7. D e r s e l b e in HRLex I 77 ff. G l a s e r , Der Entw der StPO. Wien 1867. Glaser, Kleine Schriften S 741 ff., in der 1. Aufl. I I 81 ff. die in der 2. Aufl. weggebliebenen, auf den Entw von 1863 sich beziehenden Elaborate.

186

16.

Die R e f o r b e w e g u n g .

E i n h e i t (vgl. die oben Anm 4 angeführte Literatur). König Wilhelm I. von Preussen hatte in einem vom 25. Februar 1861 datirten Erlasse den Auftrag ertheilt, auf Herbeiführung einer gemeinsamen deutschen Gesetzgebung über Strafprozess, wenn möglieh, hinzuwirken. Die Bestimmung des Art. 4 Z. 13 der Verfassung des Norddeutsehen Bundes, der Beitritt der süddeutschen Staaten zu dieser Verfassung sicherten diesem Gedanken die Durchführung unisoniehr, als die Einheit des materiellen Strafrechtes, welche nicht mit Schwierigkeiten der Gerichtsverfassung zu kämpfen hatte, rasch erreicht war und es scheinen konnte, dass die Einigung über die Grundlagen der neuen deutschen Strafprozessordnung nach dem dargelegten Gange der bisherigen Entwickelung kaum grosse Schwierigkeiten bieten werde. Dennoch traten diese in höherem Grade hervor, als anfangs erwartet wurde. Sie hatten ihren Grund fast durchaus in Fragen der Ger i c h t s v e r f a s s u n g ; der einheitlichen Regelung der letzteren standen sachliche und formelle Bedenken entgegen: ihre Ueberwindung forderte, dass das Actionsgebiet erweitert : dass gleichzeitig auch das Civilprozessrecht und die damit zusammenhängende Regelung der Stellung eines obersten Reichsgerichtes und des Anwaltstandes in Angriff genommen werde. Es wird noch berücksichtigt werden müssen, welch' grossen Einfluss namentlich die gleichzeitige Vorbereitung der Civilprozessordnung auf die Grundanlage und selbst auf die Fassung vieler Detailbestiimnungen der deutsehen Strafprozessordnung geübt hat 2 6 . Die grösste Bewegung aber rief es hervor, als bekannt wurde, dass die Absicht bestehe, die H e r a n z i e h u n g des L a i e n e l e n i e n t e s zur Mitwirkung bei der Strafrechtspflege zwar aufrechtzuerhalten, ja selbst auszudehnen, allein dafür nicht die Form des G es eh wo mengen cht es beizubehalten, sondern dieselbe durch Zusammensetzung von Fachrichtern und Laien in einein einheitlichen Collegium, in der Form der (willkürlich sog.) S c h ö f f e n g e r i c h t e eintreten zu lassen. I)ieser Gedanke fand eine durch Einheitlichkeit imponirende Verkörperung in dem ersten, 1873 erschienenen E n t w w f der deutschen Strafprozessordnung und in der amtlichen „Denkschrift über die Schöffengerichte" 27. Obgleich die auf dem Gebiete des materiellen Rechtes vielfach als willkürlich angefochtene D r ei t h e i l u n g der strafbaren Handlungen. 26

S. über diese Wechselwirkungen insbesondere D o c h ο w in RH I 1 S 115: . l o h n , StPO S 5 ff. 27 B e r l i n 1873 (königl. Oberliofbuchdruckerei) ; zum grösseren Tlieile abgedruckt in GA 1873 S 40 ff. Der „Nachtrag zu den Mot einer deutschen StPO etc." Berlin 1874 enthält die Ergebnisse einer vom königl. sächsischen Justizminister veranstalteten Enquete über Schöffengerichte.

1.

Die

eforbewegung.

welche ihren a n a l o g e n (mehr Avar nie möglich) Ausdruck in der dreifachen Abstufung der Strafgerichtsbarkeit erster Instanz fand, nicht beseitigt wurde und also Strafgerichte höchster, mittlerer und unterster Ordnung in erster Instanz erkennen sollten, gab ihnen der Entwurf doch eine gleichartige Organisation, ein gleichartiges Verfahren und unterstellte sie einem gleichartigen, durch die Ausschliessung cler Berufung gegen den Ausspruch über die Thatfrage und gegen die Strafbeniessung charakterisirten Rechtsinittelsystem. Damit war der Anstoss dazu gegeben, dass in den Vordergrund der Erörterungen über die künftige Strafprozessordnung neben die Frage: „Schwurgericht oder Schöffengericht" V 2 8 die nach der Abschaffung oder Beibehaltung der B e r u f u n g 2 9 trat. Welche Fragen sonst bei der Vorbereitung und Prüfung der Entwürfe der Strafprozessordnung im Vordergrund standen 30 , ergiebt sich am deutlichsten aus den Gutachten, um welche die deutschen Regierungen angegangen wurden, und aus den selbstständigen „Anlagen" der Motive. Abgesehen von den schon hervorgehobenen Fragen handelt es sich dabei um die Art der „Rechtsfindung im Geschwornengericht" und die Einstimmigkeit der Geschwornen, die Parteienöffentlichkeit in der Voruntersuchung und clen der englischen Form der letzteren eingeräuniteu Einfluss, clie Untersuchungshaft, die Wiederaufnahme cles Strafverfahrens, die Privatklage. Neben diesen Fragen spielten in clen bewegten und nur durch Compromisse abgeschlossenen Verhandlungen zwischen Reichstag und Bundesregierung, aus welchen schliesslich die Strafprozessordnung für das Deutsche Reich v. 1. Februar 1877 hervorging, diejenigen Fragen die grösste Rolle, welche die entschiedenere Ausbildung des a c c u s a t o r i s c h e n Typus des Prozesses 31 (Einfluss cler Parteien auf die Beweisaufnahme im Vorverfahren und in cler Hauptverhandlung) und die Sicherung der individuellen Freiheit gegen Ansprüche cler Staatsgewalt berühren: Schutz cler P r e s s e , Beschränkung des Z e u g e n z w a n g e s , des sog. Anklageinonopols cler Staatsanwaltschaft, clie P r i v a t k l a g e und die Stellung des durch die strafbare Handlung verletzten, Mittel gegen irrige den Geschwornen vom Vorsitzenden ertheilte Rechtsbelehrung, Erleichterung der Lage des Angeklagten in Bezug auf die ihm durch seine Vertheidigung erwachsenen Kosten u. s. w. 28

S. die Literaturaiigaben oben Anm 2. 9 und 10. Vgl. oben Anm 6. 30 Die Literatur s. unten bei der Darst. der Entstehungsgeschichte des Textes. Gewissermaassenden Grundtext und das Bindeglied zwischen der literarischen und der parlamentarischen Erörterung bilden G η e i s t s „Vier Fragen". 29

188

Drittes Kapitel. Die Entstehung cler Strafprozessordnungen Deutschlands und Oesterreichs und die Lösung der Principienfragen in denselben. § 17.

E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e der deutschen Strafp r o z e s s o r d η u 11 g

I. Am 18. April 1868 beschloss der Reichstag und am 5. Juni 1868 der Bundesrath, den Bundeskanzler zur baldmöglichen Vorlage von Entwürfen „eines gemeinsamen Strafrechts und eines gemeinsamen Strafprozesses sowie der dadurch bedingten Vorschriften der Gerichtsorganisation" zu ersuchen. Zunächst und mit raschem Erfolg ward dieser Aufforderung bezüglich des S t r a f r e c h t s entsprochen. Am 12. Juli 1869 ersuchte der Reichskanzler den preussischen Justizminister, den Entwurf einer gemeinsamen Strafprozessordnung für den Norddeutschen Bund ausarbeiten zu lassen. Der Auftrag hiezu ward dem Präsidenten Dr. F r i e d b e r g ertheilt. Zunächst war dabei zu berücksichtigen, dass es sich auch um die Herstellung einer gemeinsamen Civilprozessordnung handelte, dass weder die eine noch die andere ausführbar war, ohne dass die Gerichtsverfassung mit ihnen in Einklang gebracht wurde. Letztere war aber in der Bundesverfassung nicht ausdrücklich der gemeinsamen Gesetzgebung überwiesen (Art. 4 Nr 13), ja ein vom Reichstag des Jahres 1869 angenommener Gesetzentwurf, welcher die angeführte Bestimmung durch die Worte: „einschliesslich der Gerichtsorganisation" erweitern sollte, ward vom Bundesrath abgelehnt. Liess 1

Die gesammten Materialien zu den Reichsgesetzen. Auf Veranlassung des kaiserlichen Reichsjustizamtes herausgegeben von C. H a h n , Geh. Oberjustizrath etc. III. Band: Materialien zur StPO. (Diese Publication umfasst die gesammten Materialien zur StPO und zu dem EG zu derselben, beginnend mit dem in der 2. Legislaturperiode des deutschen Reichstages II. Session 1874 unter Nr 5 gedruckten Schreiben des Reichskanzlers v. 29. Oct. 1774, womit die Entw dieser Geb nebst Mot dem Reichstage vorgelegt wurden. Da die Seitenzahlen der Originaldrucksachen am Rande bemerkt sind, citire ich dieselben regelmässig nach diesen Publicationen.) — Vgl. Do elio w in HH I 105 ff. J o h n , StPO S 1—72. Schwarze S IX—XXIV. P i c h e l t , Einleitung § 3 (bearbeitet von Dreyer). Thilo S XVII—XXIII. B i n d i n g , Grundriss § 11. G e y e r , Lehrbuch §§ 32-36. K a y s er S 4—7. L ö w e , Einleitung § 2 S XIV ff. V o i t u s , Commentar S IX ft'. S c h w a r z e S IX ff.

§ 1.

Entstehungsgeschichte der

e s c h e n StPO.

sich trotzdem der Justizminister I)r. Leonhard nicht abhalten, ein umfassendes Gerichtsverfassungsgesetz vorzubereiten, so stiess er zwar dabei auf den Widerspruch der Mehrheit der Regierungen, welcher beAvirkte, dass sehr umfassende Materien (Anwaltsordnung, Gebührenordnung, Notariatsordnung, Formen der öffentlichen Beurkundung) ausgeschieden wurden; allein es schwand doch jeder Zweifel an der N o t wendigkeit eines Gerichtsverfassungsgesetzes, dessen Anlage darauf berechnet war, den künftigen deutschen Civil- und Strafprozess mit einander in Einklang zu bringen, clen Behördenorganismus beiden gleichzeitig anzupassen und zugleich das, was für beide gleichmässig gelten sollte, nur einmal in dem Gerichtsverfassungsgesetz zu sagen, welchem so Bestimmungen einverleibt wurden, die eigentlich in die Prozessordnungen gehörten und welches eben darum als ein beide Prozessordnungen ergänzendes und zusammenschliessendes Gesetz angesehen werden muss 2 . Eine fernere Schwierigkeit lag in folgendem Verhältniss, das die Motive zum ersten Entwurf hervorheben : „Freilich konnte man auch für clen Strafprozess nicht daran denken, etwas absolut neues schaffen und dabei die Grundlagen verlassen zu wollen, auf denen die deutschen Strafprozessgesetzgebungen der letzten Jahrzehnte beruhen. Aber andererseits fiel entscheidend in das Gewicht, dass die Reformen, welche von einer neuen Strafprozessordnung erwartet werden, noch viel durchgreifender und einschneidender sind, als diejenigen, welche sich auf dem Gebiete des materiellen Strafrechts durch das deutsche Strafgesetzbuch vollzogen haben, und ferner, dass es im Gebiete des Deutschen Reiches an einer Strafprozessordnung fehlt, welche, wie das preussische Strafgesetzbuch von 1851 dem Entwürfe des Norddeutschen Strafgesetzbuchs, so dem einer deutschen Strafprozessordnung hätte zu Grunde gelegt werden können". Man musste also daran gehen, „einen neuen, von clen bestehenden Gesetzgebungen unabhängigen Entwurf" aufzustellen, und man hatte dabei die Aufgabe, das wirklich gemeinsame möglichst festzuhalten, - Die Mot zum Entw der StPO sagen darüber (S 7): „Demzufolge kann eine sachgemässe Würdigung des betreifenden Entw nur im Zusammenhange mit dem gleichzeitig vorgelegten Entw eines G\ T G gewonnen werden. Dieser letztere Entw ist das vorausgesetzte Correlai des Strafprozessentwurfes ; in ihm sind namentlich alle diejenigen Bestimmungen enthalten, die sich auf die Organisation cler Gerichte und der Staatsanwaltschaft, auf die Heranziehung des Laienelementes zu der Rechtsprechung, auf die sachliche Zuständigkeit der Gerichte, auf die Oeffentlichkeit der Gerichtssitzungen, auf die Aufrechthaltung der Ordnung in den letzteren, auf die Gerichtssprache und die Zuziehung von Dolmetschern, sowie auf die zu gewährende Rechtshilfe beziehen".

190

1.

Entstehungsgeschichte der

e s c h e n StPO.

die Differenzen sieh klar zu machen, die bei abweichenden Einrichtungen gemachten Erfahrungen zu beachten, um sich dann für eine derselben entscheiden oder etwas ganz neues an die Stelle setzen zu können. Zu diesem Zweck war es nothwendig, amtliche Auskünfte und Gutachten von den Regierungen einzuholen 3 . Nichtsdestoweniger wurde von Dr. F r i ed b e r g und dessen Hilfsarbeitern 4 das Werk so gefördert, dass im November 1870 der Entwurf der StPO. Mai 1871 die Motive dazu dem Justizminister vorgelegt wrerclen konnten. Es folgte nun eine vorläufige Prüfung und Umarbeitung im preussischen Justizministerium unter Benutzung vertraulicher Begutachtungen seitens preussischer Juristen. Der so festgestellte e r s t e Entwurf ward Anfang 1873 dem Bundesrath vorgelegt und, begleitet von Motiven und den schon erwähnten „Anlagen" zu letzteren, welche Gegenstände behandeln, „bei denen es der Beibringung eines umfassenden Materials bedurfte", veröffentlicht. Als Ergänzung hiezu ist anzusehen die im preussischen Justizministerium verfasste „Denkschrift über die Schöffengerichte", welche 1873 in Berlin erschien (auch abgedruckt in Goltd. Arch. 1873 S 40 ff.), und der 1874 erschienene „Nachtrag" (bezüglich der sächsischen Schöffengerichte). Dieser Entwurf wird in der Literatur jetzt regelmässig als der e r s t e bezeichnet. II. Nachdem die verbündeten Regierungen von dem Entwurf' Kenntniss genommen und die Veröffentlichung des Entwurfes auch mannichfaehe Besprechungen 5 desselben hervorgerufen hatte, beschloss 3

Siehe über die Gegenstände, um die es sich dabei handelt, oben § 16 am Schluss; ferner I) oc how in HH I S 107. 108. Die erlangten Auskünfte wurden zumeist in den Anlagen der Mot verwerthet. S. auch das Gutachten des Appellationsgerichts zu Eisenach in den Blättern für Rechtspflege in Thüringen 1870 X V I I 371 ff. — Die Principien des braunschweigischen Strafprozesses. Drei gutachtliche Berichte. 1872. 4 Appellationsgerichtsrath L ö w e , Obergerichtsrath v o n L e n t h e und Assessor E r l e r. 5 W a h l b e r g , Kritik des Entw einer StPO für das Deutsche Reich. Wien 1873 (Sep.-Abdr. aus der Allg. österr. Gerichts/.). H. M e y e r , Die Mitwirkung der Parteien im Strafprozess. Erlangen 1873. L. v. B a r , Kritik der Principien des Entw u. s. w. Berlin 1873. D e r s e l b e in Grünhut 1874 I 303 ff. H e f f t e r . Non bis in idem. Berlin 1873. Seel im GS 1874 S 49 ff. im Hinblick auf den gedruckten Entw etc. 1873.— (A. V o l l e rt) Gutachten des Appellationsgerichtes zu Eisenach, im Beilageheft zu Β XX (1873) der Blätter für Rechtspflege in Thüringen etc. Geyer in der KrV 1873 XV 481 ff. StRZ 1873 S 35 ff. (v. I v r ä w e l ) . S 40 ff. ( W a h l b e r g ) , S 193 ff. (John), S 289 ff. (Ullmann). — GS 1873 S 188 ff. (v. Stemann). B e z o l d in der Ζ für deutsche Gesetzgebung . . von Behrend und Dochow VII 304 f. 628 ff. Der erste Entwurf ist auch abgedruckt in GA 1873 S 5 ff. — Die Motive erwähnen noch folgende eingegangene und der

1.

Entstehungsgeschichte der

e s c h e n StPO.

der Bundesnith am 13. März 18Î8: „den Entwurf einer aus elf angesehenen Juristen des Deutschen Reiches zu bildenden Commission zur Yorberathung zu überweisen". Die Commission 6 war vom 17. April bis zum 3. Juli 1873 in Thätigkeit und berieth in 39 Sitzungen den Entwurf in drei Lesungen. Der Commission waren auch „Auszüge aus dem Gesetzentwurf über die Verfassung der Gerichte im Deutschen Reich für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen" m i t g e t e i l t worden. — Die Commission unterzog den Entwurf hauptsächlich einer t e c h n i s c h e n Ueberprüfung, und entsprechenden Charakter trug die Mehrzahl der von ihr beschlossenen Abänderungen. Die principielle Haltung derselben war eine dem Entwurf zustimmende. Dies gilt vor allem von den zwei den letzteren hauptsächlich charakterisirenden Eigentümlichkeiten 7 , welche auch unter einander in Verbindung stehen: Die Strafurtheile sollen in erster Instanz nur von Schöffengerichten (aus rechtsgelehrten Richtern und Laien gebildeten, das Richteramt in seinem vollen Umfange unter gleichberechtigter Betheiligung der Schöffen und Richter ausübenden Collégien) gefällt werden, wobei zum Ausspruch des „Schuldig" eine Mehrheit von zwei Drittheilen der Stimmenden erforderlich sein sollte — und diese Urtheile sollen der Berufung (Appellation) nicht unterliegen (I—Y und VII). Nicht minder stimmte die Commission den Vorschlägen zu. dem Antragsberechtigten und dem zum Verlangen einer Busse Beratlmng der Commission unterstellte Gutachten: „Von dem Oberstaatsanwalt Berninger zu Eisenach, dem Oberstaatsanwalt Dielil zu Wiesbaden, dem Appellationsgericht zu Eisenach, dem Professor der llechte Dr. Fuchs zu Marburg, dem OTrVicepräsidenten, Wirkl. Geh. Oberjustizrath Dr. Grimm zu Berlin, dem Zollvereinsbevollmächtigten Geh. Regierungsrath v. Lessing zu Karlsruhe, dem Staatsanwalt Tessendorf zu Magdeburg, dem Obertribunalsrath Voitus zu Berlin". ϋ Ihre Mitglieder waren : Präs. Dr. Friedberg, Geh. OJRath Dr. Förster, JRatli und Rechtsanw. Wiener von Berlin, Geh. OJRath und AGVice-Präs. Mager von Insterburg, Prof. und Staatsrath Dr. Zachariä von Göttingen, AGR und Minist.Refer. l)r. Staudinger von München, GenStAnw. Dr. Schwarze von Dresden, OTribR. v. Binder von Stuttgart, MinR. Dr. Bingner von Karlsruhe, OAppGerR Dr. Zentgraf von Darmstadt und OStAnw. Dr. Mittelstadt- von Haniburg. Den Vorsitz führte Dr. Friedberg; als Schriftführer fungirten der AppGR Löwe von Frankfurt a. d. (). und der Kreisrichter Polenz von Sprottau. 7 Eine Uebersicht ist an der Spitze der jedem der aufeinanderfolgenden Entwürfe beigegebenen Motive gegeben; eine tabellarische Zusammenfassung und Gegenüberstellung dieser Uebersichten findet sich bei J o h n S 30—33. Die irrige Aufnahme des das Stimmenverhältniss betreffenden Punktes X V I I in die Motive zum d r i t t e n Entwurf verdeckt eine nach Berichtigung dieses Versehens sich ergebende Differenz in (1er Zählung der Punkte XVI11 . . XIX. (Vgl. H a h n S 7-r) Anm *.)

192

§ 1.

Entstehungsgeschichte der

e s c h e n StPO.

berechtigten das Recht der s u b s i d i ä r e n Privatanklage und der N e b e n k l a g e (hier jedoch mit einer Einschränkung) einzuräumen und den A d h ä s i o n s p r o z e s s einzuführen (VI—VIII), ferner den Vorschlägen über die Abwendung der Untersuchungshaft durch Sicherheitsleistung (XI), über das Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten (XII. XIII), über die Rechte der Parteien bei Ladung, Vernehmung der Zeugen und Sachverständigen in der Hauptverhandlung und die Modalitäten der Beeidigung derselben ( X I V — X V I ) sowie über die Zuweisung der Strafvollstreckung an die Staatsanwaltschaft (XVIII). Erweitert wurden die Befugnisse des Vertheidigers bezüglich der Mitwirkung bei Beweiserhebungen im Vorverfahren (X) und die Ansprüche des Verurtheilten auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens (XIX). Die Voruntersuchung sollte nicht, wrie der erste Entwurf vorgeschlagen, auch bei den vor die „grossen Schöffengerichte", nur bei den zur Zuständigkeit des Reichsgerichtes gehörigen Sachen obligatorisch sein (ΛΉ). Der so festgestellte Entwurf wurde dem Bundesrath vorgelegt und mit einer Umarbeitung der Motive ohne Wiederabdruck der „Anlagen" veröffentlicht 8 . Er wird als der z w e i t e (auch r e v i d i r t e) Entwurf bezeichnet. Mit diesem zweiten Entwurf geht parallel cler vom Reichskanzler mittels Schreibens vom 12. November 1873 vorgelegte Entwurf eines Gerichtsverfassungsgesetzes 9. I I I . Die Fragen der Gerichtsverfassung, insbesondere die beabsichtigte Beseitigung der Schwurgerichte, der dagegen sich erhebende laute Widerspruch und die materiellen Hindernisse, auf welche die massenhafte Heranziehung des Laienelementes zur Strafrechtspflege stiess, nöthigten zu einer eingehenderen Prüfung des Entwurfes im Justizausschuss des Bundesrathes und später im Plenum des letzteren (wobei der w ü r t t e m b e r g i s c h e Justizminister v. M i t t n a c h t das Referat führte). Da der Beschluss dahin ging, die „grossen" und s

Auch abgedruckt in GA 1873 S 304 ff. L i t e r a t u r des z w e i t e n E n t w u r f s (s. D o c h o w HH I 111 u. 112. G e y e r , Lehrbuch § 33 Anm 2 u. 3): G n e i s t , Vier Fragen zur deutschen StPO. Berlin 1874. S. M a y e r , Der Entw einer deutschen StPO. Frankfurt a. M. 1874 (darüber Z a c h a r i ä in der Jenaer Literaturzeitung 1874 S 243 ff.). A. N i s s e n , Bemerkungen zu dem Entwürfe . . . nach den Beschlüssen der vom Bundesrathe eingesetzten Commission. Leipzig 1874. Geyer in der KrV X V I 1874 S 321 ff. D o c h o w in Holtzendorffs J für Gesetzgebung u. s. w. I I I 1874 S 453 ff. — O r t i ο f f in GA 1874 S 471 ff. (über Adhäsionsprozess) und im GS 1874 S 369 ff. (Gerichtsstand des Zusammenhanges). S c h w a r z e das. 1873 S 425 ff. (Wiederaufnahme). Seel im GS 1874 S 613 ff. 9 S. darüber B i n d i n g , Grundriss § 11 I I Nr 1. Β eli rend und Dab η ' s Ζ tur die deutsche Gesetzgebung V I I 1874 S 643 ff.

§1.

Entstehungsgeschichte der

e s c h e n StPO.

„mittleren" Schöffengerichte fallen zu lassen, erstere durch das Geschwornengericht, letztere durch reine Richtercollegien zu ersetzen, war eine Umarbeitung des Entwurfes unvermeidlich. Zu diesem Zwecke bestellte der Bundesrath eine Commission von 4 Mitgliedern 1 0 , welche ihre Bearbeitung des Entwurfes ani 12. Mai 1874 dem Bundesrathe vorlegte, der daran nur zwei unwesentliche Aenderungen 11 vornahm (Juni 1874). Natürlich musste sofort auch der Entwurf des Geriehtsverfassungsgesetzes entsprechend umgearbeitet werden. So entstanden die definitiven Entwürfe der beiden Gesetze, welche am 29. October 1874 dem Reichstage vorgelegt wurden; der so vorgelegte Entwurf der Strafprozessordnung wird als der d r i t t e bezeichnet 1 2 . IV. Am 24. November 1874 begann im Reichstag die e r s t e Berathung der drei sog. Justizgesetze (Gerichtsverfassung, Civil- und Strafprozess), am 26. November fand die der Strafprozessordnung statt. Es ward auf Antrag von G n e i s t beschlossen, die drei Gesetze einer Commission von 28 Mitgliedern zur Vorberathung zu überweisen, und sofort auch angeregt, dieser Commission es möglich zu machen, ihre Berathungen zu der Zeit fortzusetzen, wo der Reichstag nicht versammelt sei, Avas durch die Gesetze v. 23. Dec. 1874 und v. 1. Febr. 1876 bewirkt wurde. Die Commission 13 beschloss ani 26. April 1875 10 S t a u d i n g e r S XIV. — Eine Zusammenstellung der Beschlüsse des Justizausschusses und des Bundesrathes findet· sich in GA 1874 S 370 ff. 11 Die eine betrifft die Einschaltung des 3. Absatzes des S 262 der StPO; die andere Abs. 2 § 76 StPO. 12 Die Entwürfe sind ausser in den Anlagen der Reichstagsverhandlungen und der besonderen, Κ o r t k a m p f ' s e h e n Ausgabe der die Justizgesetze betreffenden Vorlagen („Entwürfe nebst Motiven und Anlagen für die Justizgesetzgebung des Deutschen Reiches") und bei H a h n auch abgedruckt in GA 1874 S 305 ff. und 326 ff. Dem Entwurf der StPO sind nebst den Motiven auch wieder die „Anlagen" beigegeben. — Besprechungen der Entwürfe in diesem Stadium bieten: H e i n z e , Strafprozessuale Erörterungen, ein Beitrag zur Kritik der dem Reichstage vorliegenden Entwürfe etc. Stuttgart 1877 (Beilageheft zum GS); D e r s e l b e in GA 1875 S 241 ff. D o c h o w , Die Busse im Strafrecht und Strafprozess. Jena 1875. M e de m im GS 1876 S 241 ff. (Kosten des Entlastungsbeweises), v. B a r , Das deutsche Reichsgericht. Deutsche Zeit- und Streitfragen Heft 60. Berlin 1875. S eel im GS 1876 S 618 ff. 13 Sie war folgendermaassen zusammengesetzt: Miquél (Vorsitzender), Dr. v. Schwarze und Klotz (Berichterstatter), Becker, v. Forcade de Biaix, Bernards, Dr. Bahr (Kassel), Eysoldt, Grupp, Dr. Gneist, Dr. Grimm, Hauck, Herz, v. Jagow, Dr. Krätzer, Dr. Lasker, Dr. Lieber, Dr. Marquardsen, Dr. Mayer, v. Puttkamer (Fraustadt), Pfafferott, Reichensperger (Olpe), v. Schöning, Struckmann (Diepholz), Thilo, Dr. Volk, Dr. Wolffson, Dr. Zinn. Letzterer ist Arzt, alle anderen sind

Binding, Handbuch. I X . 4. I : G l a s e r , Strafprozess. I .

13

194

§ 1.

Entstehungsgeschichte der

e s c h e n StPO.

eine Redactionscommission 14 einzusetzen, welche namentlich für die Gleichmässigkeit der Sprachweise der drei Entwürfe, sowie für die Uebereinstimmung der Sprachweise der Anträge mit der der Entwürfe Sorge tragen und Inconsequenzen des Inhaltes verschiedener Beschlüsse aufdecken sollte. Begonnen ward mit der Berathung der Civilprozessordnung. Hierauf schritt die Commission zur ersten Lesung der Strafprozessordnung (11. Juni bis 24. September 1875). Zwischen der ersten und zweiten Lesung der Strafprozessordnung verstrich eine längere Zeit, welche die Commission nicht blos mit der ersten Berathung eines Theils des Gerichtsverfassungsgesetzes, mit der zweiten Lesung dieses Gesetzes und der Civilprozessordnung ausfüllte, sondern auch zur Herbeiführung und Entgegennahme der Beschlüsse des Bundesrathes (27. April 1876) über die Ergebnisse cler ersten Lesung benutzte. Die z w e i t e Lesung der Strafprozessordnung in der Commission (28. Mai bis 1. Juli 1876) hatte daher auch diese Beschlüsse zum Gegenstande. Zwischen dem 17. und 20. October 1876 erfolgte sodann die Beschlussfassung über einige redactionelle Aenderungen und über die Feststellung des Berichtes der Commission 15 . Das Ergebniss dieser Verhandlungen zog der Justizausschuss des Bundesrathes in der Juristen. Die verbündeten Regierungen waren bei Berathung der StPO vertreten durch den Dir. im Reichskanzleramt v. Arnsberg, Geh. ORegRath Hanauer, kais. Geh. RegRath Hägens, k. preuss. Geh. JRäthe Oehlschläger und Schmidt, den k. bayer. MinRath v. Loë und AGRath Dr. Hauser, k. sächs. Geh. JRath Held, k. wiirtt. MinRath Hess und OTrDir. v. Beyerle. 14 Dieselbe bestand aus den Abgeordneten Dr. B a h r . B e c k e r und Dr. v. S c h w a r z e ; später kamen hinzu: v. F ore ad e de B i a i x und K l o t z . Als Berichterstatter für die StPO und das dazu gehörige Einführungsgesetz ward Dr. v. S c h w a r z e , als dessen Stellvertreter und Oorreferent Abg. K l o t z bestellt. 15 Ueber die Berathungen der Commission wurden Protokolle geführt, welche gedruckt und schon während des Fortganges der Verhandlungen weiten Kreisen zugänglich gemacht wurden. Ebenso wurden sowohl die in erster als die in zweiter Lesung gefassten Beschlüsse gedruckt und durch Zusammenstellung der letzteren mit dem Entwürfe übersichtlich gemacht. Die Beschlüsse und Zusammenstellungen finden sich in den parlamentarischen Aktenstücken (s. die genauen Angaben bei Bochow

a. a. 0. S 121 ff.);

die Pivtokolle

wurden

auch auszugsweise

in der

Nationalzeitung veröffentlicht, und diese Berichte erschienen als Sonderabdruck 1876 in Berlin bei F. Κ o r t k a m p f . (S. jetzt die in diesem Verlage erschienenen: Verhandl. der RJC und des Reichstages über die Entw der RJGesetze. I. Band: Verhandl. über den Entw einer StPO . . . . Neue vollst. Ausg. XXII, 130 und 388 S. Ueber die Beschlüsse erster Lesung s. auch D r e ν er, Bemerkungen zu den Beschlüssen der Reichstagscommission betr. die Berathung des Entw einer StPO. Leipzig 1875.) Am besten zugänglich sind alle diese Materialien jetzt durch die Η ahn'sehe Publication. Diese giebt S 497—550 den stenographischen Bericht über die Sitzungen des Reichstages v. 24. u. 26. Nov. 1874 (Einsetzung der Commission),

g 17. Entstehungsgeschichte der deutschen StPO.

195

Zeit vom 19. bis 24. October, dessen Plenum am 31. October 1876 in Berathung. Vergleicht man das Ergebniss der Berathungen der Commission mit dem d r i t t e n E n t w u r f 1 6 , so zeigen sich bezüglich der in den Motiven als hauptsächlich vorangestellten „Neuerungen" folgende in das Gesetz selbst übergegangene Unterschiede : die subsidiäre Privatanklage ist ganz beseitigt, das sog. Monopol der Staatsanwaltschaft andererseits dadurch gebrochen, dass jedermann an die Staatsanwaltschaft den Antrag auf Einleitung eines Strafverfahrens richten kann und darüber beschieden werden muss und dass der Beschädigte einen Gerichtsbeschluss erwirken kann, worin der Staatsanwaltschaft die Erhebung der öifentlichen Klage aufgetragen wird. — Die Voruntersuchung ist obligatorisch in Schwurgerichtsfällen, in anderen kann der Beschädigte deren Eröffnung erwirken, wenn er erhebliche Gründe dafür geltend macht. Für geringfügige Fälle ist die Möglichkeit der Abhaltung einer Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten eröffnet, Den Geschwornen ist die Entscheidung über das Vorhandensein „mildernder Unistände" eingeräumt. Die Urtheile der Schöffengerichte unterliegen der Berufung. Von sonstigen durch die Commission herbeigeführten, im Gesetz aufrecht erhaltenen Aenderungen des dritten Entwurfes sind hervorzuheben : Die Beschränkung (statt der beabsichtigten Ausschliessung) der Mitwirkung der Richter, welche an der Berathung über die Eröffnung des Haupt Verfahrens Theil nahmen, an der Hauptverhandlung (§ 23 Abs. 3).· Mehrfache Einschränkungen der Zeugnisspflicht, des Zeugnisszwanges, des Rechtes des Durchsuchung von Papieren, der Haft. Schärfere Präcisirung der Bedeutung der Vernehmung des Beschuldigten und des Angeklagten (§ 137). Erweiterung der Befugnisse des während des Strafverfahrens beigezogenen S 551—1180 die Prot über die erste Lesung der StPO in der Commission), S 1181 bis 1490 die Prot und Zusammenstellungen über die im Text erwähnten, in die Zeit v. 17—28. October 1876 fallenden Vorgänge; unter diesen Schriftstücken, welche wegen ihrer complicirten Bezeichnung und besonderen Paginirung schwer anders als durch Berufung auf die Seitenzahlen bei H a h n zu citiren sind, sind namentlich die Zusammenstellungen der von der Commission beschlossenen „authentischen Interpretationen ihrer Beschlüsse" (Anlagen I u. L, H a h n S 1503—1506) hervorzuheben. — Der Bericht der Commission (Berichterstatter Dr. v. S c h w a r z e und K l o t z ) im Originaldruck 108 S umfassend steht bei H a h n S 1509—1595. S 2115 bis 2375 findet sich eine tabellarische Zusammenstellung der Fassungen des Entwurfes nach den verschiedenen Stadien der Berathung (Entw IH, erste Lesung der Commission, zweite Lesung der Commission, Abänderungen, zweite und dritte Berathung des Reichstages). 10 S. namentlich J o h n S 58 ff. 13*

196

§ 1.

Entstehungsgeschichte der

e s c h e n StPO.

Vertheidigers und des Rechtes der Richters, die Zulässigkeit der im Vorverfahren gestellten Anträge der Staatsanwaltschaft zu prüfen (s. namentlich § 161). Anerkennung des Rechtes des Angeschuldigten auf Beiziehung der von ihm bezeichneten Sachverständigen zur Einnahme eines Augenscheines (§ 194). Vernehmung des Angeschuldigten über die von der Staatsanwaltschaft eingebrachte Anklageschrift (§ 199). Schärfere Bezeichnung der Stellung des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung gegenüber dem Gerichte, beziehungsweise Ausdehnung der Rechte des letzteren. Die Beseitigung der Vorlesung der Anklageschrift in der Hauptverhandlung. Die im S 244 hervortretende Beschränkung der Befugniss des Gerichtes, den Umfang der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung zu bestimmen, auf Verhandlungen vor dem Schöffengerichte. Dem Vorsitzenden im Schwurgericht ist ausdrücklich verboten, „in eine Würdigung der Beweise einzugehen". Mehrfache Begünstigungen des Angeklagten gegenüber der Staatsanwaltschaft im Revisionsverfahren. V. Bei Beginn der IV. Session der zweiten Legislaturperiode des Reichstages (30. October 1876) lagen dem Reichstage die oben erwähnten Elaborate der Commission vor. Mit Schreiben vom 3. November 1876 theilte der Reichskanzler die Zusammenstellung der über letztere gefassten Beschlüsse des Bundesrathes m i t 1 7 . Diese ward vom Reichstag zur Vorberathung an die Commission verwiesen, welcher überlassen wurde, unter den einzelnen Punkten diejenigen auszuwählen, die ohne weitere Vorberathung direct vom Plenum zu behandeln seien, die übrigen selbst zu prüfen. Die Commission hielt nun (6. bis 14. November 1876) eine Reihe von Sitzungen ab, in welchen zahlreiche Aenderungen der Fassung der Entwürfe beschlossen, die vom Bundesrath beanstandeten Beschlüsse aber im grossen und ganzen aufrecht erhalten wairden 18 . Nunmehr fand vom 27. November bis 2. December 1876 die zweite Berathung der Strafprozessordnung im Plenum des Reichstages s t a t t 1 9 . Da die hier gefassten Beschlüsse den Anforderungen des Bundesrathes nicht entsprachen, ging dem Reichstag ein Schreiben des Reichskanzlers vom 12. December 1876 z u 2 0 . worin dem Reichstage eine Zusammenstellung der nach der zweiten Lesung vom Bundesrath gefassten Beschlüsse vorgelegt wurde. 17

H a h n S 1596—1600. Die bezüglichen Prot bei H a h n S 1601 if.; Mündlicher Bericht der Commission sammt Zusammenstellung der Beschlüsse der Commission das. S 1661—1669. 19 Stenographische Berichte S 392 if. H a h n S 1670—1990. 20 Drucksache Nr I l o , H a h n S 1991—1994. Vgl. Schwarze im GS 1877 S 92 ff. D o c h o w HH I 126 ff. J o h n S 60 ff. Geyer § 36. 1S

§ 1.

Entstehungsgeschichte der

e s c h e n StPO.

Danach waren in 10 Punkten die bisher zur Strafprozessordnung gefassten Beschlüsse für unannehmbar erklärt, während bei 22 anderen der frühere Widerspruch aufgegeben wurde. — Aus vertraulichen Berathungen zwischen Mitgliedern des Reichstages und der Regierung gingen nun die Anträge der Abgeordneten Miquél und Genossen (als sog. C ο m ρ r ο ni i s s a η t r ä g e bekannt) hervor 2 Sie betrafen folgende Punkte: „Die bestehenden landesgesetzlichen Vorschriften über die Zuständigkeit der Schwurgerichte für die durch die Presse begangenen strafbaren Handlungen" blieben „unberührt" ; d. h. die vorzugsweise Zuweisung von Presssachen an Geschworne blieb auf die Gebiete beschränkt, wo sie bereits bestand. Aufgegeben wurden die Beschlüsse, welche die örtliche Conipetenz in Presssachen (sie hätten in § 7 StPO den Abs. 3 gebildet) und die Befreiung der am Zustandekommen einer periodischen Druckschrift betheiligten Personen von der Zeugenpflicht (hätte § 54 StPO gebildet) betrafen, sodann die über die Fixirung der Rechtsbelehrung des Vorsitzenden im Schwurgericht unci die Anfechtung derselben durch Revision. Ein Mittelweg wurde eingeschlagen bezüglich der Beschlagnahme von Briefen u. s. w. 112 StPO), bezüglich cler Unterredungen des Vertheidigers mit dem Beschuldigten im Vorverfahren 149 Abs. 3), bezüglich der Einschränkung des Rechtes, den die Erhebung der öffentlichen Klage anordnenden Gerichtsbeschluss zu erwirken, auf den „Verletzten" (§ 171), bezüglich der Gerichtsbeschlüsse über Fragen der Strafvollstreckung (55 492 Abs. 2) und der Kosten der Vertheidigung und der Rechtsmittel des Beschuldigten (§ 501 Abs. 2, § 507). Bei der d r i t t e n Berathung im Plenuni des Reichstages 22 (18. bis 21. December 1876) wurden diese Anträge angenommen und dadurch die Einigung zwischen den Regierungen und eleni Reichstage und das Zustandekommen der drei sog. Justizgesetze gesichert. * § 18.

Entstehungsgeschichte

der

Strafprozessordnung

österreichischen 1

.

I. Von der Criminalgerichtsordnung Josephs II. von 1788 her folgen einander die Texte des westgalizischen Strafgesetzes von 1796 und 21

Drucksache Nr 138, H a h n S 1995. 1996; s. insbes. J o h n a. a. 0. Stenographische Berichte S 936 ff. H a h n S 1997—2114. 1 S. M a y e r , Handbuch des österr. Strafprozessrechts I. Entstehungsgeschichte der . . . StPO . . und der damit zusammenhängenden Gesetze: nach amtlichen Quellen. Wien 1876. Κ a serer, Die StPO v. 23. Mai 1873 und deren Einfuhrungsgesetz, mit Materialien. 2 Bände Wien 1873. (Einen Abdruck des Textes 22

198

§ 18. Entstehungsgeschichte der österreichischen StPO.

der das Verfahren regelnden zweiten Abschnitte der beiden den Verbrechen und den sogenannten schweren Polizei-Uebertretungen gewidmeten Theile des Strafgesetzbuches von 1808. Selbst die Strafprozessordnung von 1850, obgleich nicht blos principiell einen anderen Standpunkt einnehmend, sondern auch auf den Text der badischen Strafprozessordnung von 1845 und des thüringischen Entwurfes von 1849 gegründet, enthält zahlreiche Stellen, welche dem Gesetze von 1803 entnommen sind. Sie selbst erfuhr zunächst eine Art von Textesrevision im Jahre 1851 bei den schon ( § 1 6 VI) erwähnten Berathungen, welche bezweckten, eine Strafprozessordnung für die Länder der ungarischen Krone festzustellen. Obgleich niemals veröffentlicht, hat dieser, aus Berichten über die praktische Anwendung der Strafprozessordnung von 1850 und gründlicher Berathung hervorgegangene Entwurf doch einen nicht unbedeutenden Einfluss geübt, da er nicht blos für die Vorarbeiten zur heutigen Strafprozessordnung benutzt wurde, sondern auch einen Theil des Textes der Strafprozessordnung von 1853 beeinflusste. Dieses Gesetz nämlich stützte sich in denjenigen Partien, in welchen es zu den principiellen Grundlagen des Gesetzes von 1803 zurückkehrte, wie ζ. B. bezüglich der Beweistheorie, auf dessen Text, in anderen Pallien dagegen nahm es den der Strafprozessordnung von 1850 als Ausgangspunkt an 2 . und der Materialien der StPO bietet auch die zweibändige Octavausgabe der Hofund Staatsdruckerei in Wien.) U l i m a n n in HH I 77 ff. u. in s. Lehrbuch § 7. G e y e r §31. G l a s e r , Der Entw der StPO. Wien 1867, Separ.-Abdr. aus der Allg. österr. Gerichtszeitung. D e r s e l b e , Kleine Schriften S 741 ff. Aus der hier angeführten 2. Aufl. sind die umfassenderen Mittheilungen, welche die 1. Aufl. Β I I S 81—291 enthalten hatte, fast vollständig weggeblieben, weil ihr Hauptbestandtheil : die allgemeinen Mot zum Entw einer StPO von 1863, in die amtlichen Motive zur Regierungsvorlage von 1872 übergegangen ist. — S u n d e l i η in StRZ 1862 S 401 ff. 417 ff. 433 ff. 449 ff. D e r s e l b e in Haimerls Vierteljahrsschrift X I 51—107. S c h w a r z e in Schletters J V I I I 1862 S 161 ff. — Die Einführung der Schwurgerichte in Oesterreich, StRZ 1864 S 439 ff. v. W a s e r in der Allg. österr. Gerichtsz. 1872 Nr 53 ff. Dr. C. K r a l l das. Nr 68 ff. G c r n e r t h das. 1873 Nr 103-105. 2 Diese Continuität der Texte, welche auch, wie sofort sich zeigen wird, bei der Abfassung der StPO von 1873 fest zu halten war, und die Pflicht, sich in Folge dessen zu fragen, ob die Auslassung einer bisher ausdrücklich ertheilten Vorschrift nicht auf die Absicht, sie für die Zukunft ausser Geltung zu setzen, werde schliessen lassen, genügt wohl für sich allein, um es erklärlich zu machen, dass, wie G e y e r § 31 Nr 3 rügt, „in manchen Bestimmungen" der letzteren „die Sprache des Gesetzgebers einem belehrenden und anweisenden Ton Platz macht, welcher uns daran erinnert, dass in einigen Theilen Oesterreichs die Richter bei weitem nicht auf der Bildungsstufe unserer deutschen Richter stehen".

§ 18.

Entstehungsgeschichte der österreichischen StPO.

So gross war jedoch der Gegensatz der beiden Strafprozessordnungen von 1850 und 1853, dass man bei dem im Jahre 1861 eingetretenen Umschwung zunächst geneigt war, das eben dargelegte Verhältniss der Texte zu ignoriren und einfach zu jenem der Strafprozessordnung von 1850, dessen vollem Wortlaut nach, zurückzukehren. Dieser Gedanke musste aber sofort wieder aufgegeben werden, wenn man erwog, dass jene Strafprozessordnung immerhin schon während ihrer kurzen Wirksamkeit durch manche Nachtragsanordnung modificirt worden war, dass es nicht zulässig gewesen wäre, auf Verbesserungen, welche zu jener Zeit bereits als nothwendig erkannt worden und sogar auch in die Strafprozessordnung von 1853 übergegangen oder in letzterer neu eingeführt waren (wie z. B. das directe Fragerecht der Parteien), zu verzichten, dass ferner die Strafprozessordnung von 1850 ihr Entstehen jener ersten Bewegung verdankte, welche die französischen Procedurformen nach Deutschland übertrug, während erst später eine gründliche Sichtung und Prüfung des übernommenen von der deutschen Wissenschaft, unterstützt durch die Erfahrungen einer mehrjährigen Anwendung, vorgenommen werden konnte, dass endlich die Strafprozessordnung von 1850 nicht auf dem ganzen Gebiete der im engeren Reichsrathe vertretenen Länder in Wirksamkeit getreten war. Dazu kam dann die bereits oben (§ 16 VI) hervorgehobene N o t wendigkeit, für die Erhaltung der Einheit des Strafprozessrechtes vorzusorgen, obgleich nicht die Absicht bestand, in allen Ländern der westlichen Reichshälfte die Jury einzuführen. Die hievon ausgehende amtliche Denkschrift, welche die sonach als unerlässlich erscheinenden Abweichungen von der Strafprozessordnung von 1850 im allgemeinen andeutete, bildete die Basis des ihrem Verfasser, Professor G l a s e r , ertheilten weiteren Auftrages, zunächst diejenigen Kapitel der Strafprozessordnung von 1850, welche davon berührt wurden, einer Umarbeitung zu unterziehen. Diese Einzelausarbeitungen, welche an dem Text der Strafprozessordnung von 1850 nach Möglichkeit, an der letzterer zu Grunde gelegten Gerichtsverfassung unbedingt festhalten mussten, schlossen sich an den Wortlaut und selbst an die Paragraphenzahl derselben auf das engste an. Einige Partien wurden zunächst in einem engeren Comité 3 geprüft ; 3

Es betheiligten sich neben dem Referenten und Staatsanwalt L i en bach er daran der Chef der legislativen Section des Justizministeriums J)r. R i ζ y und der MinRath Quesar.

200

§ 18.

Entstehungsgeschichte der österreichischen StPO.

dann ward eine grössere Commission 4 zusammengesetzt, welche bis Mitte August 1861 die Hauptverhandlung in den ohne Zuziehung von Gesehwornen von Collegialgerichten abzuurteilenden Strafsachen und die Rechtsmittel dagegen wiederholt eingehender Berathung unterzog. Die auf diese Weise erörterten und die unberathen gebliebenen Einzelentwürfe wurden gedruckt; sie bilden zusammen das, was nach dem Vorgange S. Mayers als Entwurf I angeführt zu werden pflegt. Sie wurden jedoch rasch dem inzwischen bearbeiteten, die ganze Strafprozessordnung unifassenden Entwurf, welcher bereits von der Paragraphirung der Strafprozessordnung von 1850 sich befreite (dieselbe aber zur Erleichterung der Vergleiehung noch ersichtlich machte), einverleibt, Dieser Anfang October 1861 gedruckt vorliegende Entwurf wird als Entwurf I I citirt. Der Entwurf I I wurde im Justizministerium sofort in Berathung gezogen5, und diese Berathungen, von welchen allerdings vorläufig die Partien ausgenommen blieben, deren definitive Fassung von den gleichzeitig im Reichsrathe berathenen Gesetzen zum Schutz der persönlichen Freiheit und des Hausrechtes abhängen musste, wurden so eifrig fortgesetzt, dass sie vor Weihnachten 1861 abgeschlossen werden konnten, so weit dies bei dem Umstände möglich war, dass die definitive Entscheidung über die Gestaltung der Rechtsmittel dem neu eintretenden Justizniinister vorbehalten werden musste. Es war nämlich schon in der oben erwähnten Denkschrift die Frage der Berufung zur Sprache gebracht worden, und die im Sonnner 1861 abgehaltenen Berathungen waren hauptsächlich der Prüfung (Miies Vorschlages gewidmet, welcher darauf abzielte, die Berufung gegen die Aussprüche über die Thatfrage so zu gestalten, dass sie mit den Anforderungen der Mündlichkeit und freien Beweiswürdigung im Einklang bliebe. Die Meinungen waren weit aus einander gegangen, und wie es dabei zu geschehen pflegt, hatten die einzelnen Abstimmungen ein Gesainnitresultat geliefert, mit welchem eigentlich niemand zufrieden war. Der Referent hatte infolge dessen in den Entwurf I I nicht das Ergebniss der Berathung vom August 1861, sondern eine neue Fassung des Abschnittes von der Berufung einverleibt, welche im wesentlichen den 4 Die Commission bestand aus den Herren Sectionschef R i z y , MinRath v. H e n o n i , OLGR K a g e r b a u e r und K r e η η, Sectionsrath v. Κ li ο s s, Staatsanwalt L i e n b a c h e r und Prof. G l a s e r als Referent, 5 Die Commission bestand aus den früher genannten mit Ausnahme des MinRathes ν. B en ο n i ; über die die Bildung der Geschwomenlisten betreffenden Bestimmungen referirte Staatsanwalt L i e η b ache r.

§ 18.

Entstehungsgeschichte der österreichischen StPO.

Text der Strafprozessordnung von 1850 mit den im Jahre 1851 beschlossenen Verbesserungen derselben darstellt; zugleich hatte er aber eine „Denkschrift über das Rechtsmittel der Berufung" vorgelegt , welche nach Berathung der anderen Partien des Entwurfes in der Commission in Erwägung gezogen wurde. Da eine Einzelberathung der bezüglichen Partie vor der Entscheidung der Prineipienfrage keinen Zweck gehabt hätte, andererseits aber das Ergebniss der bisherigen Berathungen fixirt werden sollte, ward der Referent beauftragt, den Entwurf nach clen Beschlüssen der Commission, soweit solche vorlagen, umzuarbeiten, während zugleich die Drucklegung der „Denkschrift über das Rechtsmittel der Berufung" angeordnet wurde 6 . Der so vorläufig abgeschlossene Entwurf (III) ward vom Chef cler legislativen Section mit dem Referenten nochmals durchgegangen, einer Anzahl neuer Aenderungen unterzogen und im Januar 1862 in den Druck gegeben (Entw. IV). II. Erst gegen Ende des Jahres 1862 ward das Justizministerium der Leitung des Dr. H e i n übertragen. Dieser nahm bald nach seinem Amtsantritt die Berathungen da auf, wo sie früher still gestanden hatten. Unter seinem Vorsitz ward am 17. Januar 1863 7 eine Reihe von Berathungen begonnen, bei welchen man zunächst die Frage der Berufung mit der Frage cler sogenannten B e z i r k s c o l l e g i a l g e r i c h t e in Verbindung brachte, welche einen Bestandteil der Gerichtsverfassung von 1850 und eine \Toraussetzung cler Strafprozessordnung von 1850 und namentlich der in dieser geregelten Berufung bildeten, aber wie sich inzwischen in den Berathungen des Reichsrathes gezeigt hatte, dort auf den entschiedensten Widerspruch stiessen 8 . Die Bezirkscollegialgerichte waren nun aber weit leichter in ihrer Eigenschaft G

Diese Denkschrift wurde als Separatvotum des Referenten Dr. G l a s e r AVien 1862 gedruckt; sie ist auch in der Allg. österr. Gerichtsz. 1862 Nr 113 if. und in G l a s e r , Kleine Schriften S 743 ff. wiederholt. Der Abschnitt I I enthält die Darstellung und Besprechung des im August 1861 berathenen Yermittelungsvorschlages. — Nach Vollendung des Entw wurden allgemeine und specielle Mot ausgearbeitet, erstere auch in der Allg. österr. Gerichtsz. 1862 Nr 102 ff. veröffentlicht. 7 Dass M a y e r , Handbuch I S 77, und nach ihm U l i m a n n ein späteres Datum angeben, beruht darauf, dass ersterer sich an die Protokolle halten musste, über die ersten Berathungen der Commission aber keine Protokolle geführt wurden. An den Berathungen betheiligten sich: Sectionsehef v. M i t i s , die Abgeordneten v. M ü h l f e l d und v. M e n d e , MinRath v. Be η ο n i , Oberlandesgerichtsrath Freih. v. S a e k e η, Staatsanwalt L i e η b a c li e r und Prof. G l a s e r , der das früher niedergelegte Referat wieder übernahm. 8 Ueber den Zusammenhang dieser Fragen siehe die Mot zum Entw Y bei Glaser, Kleine Schriften 1. Aufl. I I S 90 ff.

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§ 18.

Entstehungsgeschichte der österreichischen StPO.

als Spruch- und Berufungsgerichte zu ersetzen als in der als Untersuchungsgerichte 9, und es war daher nothwendig, die Aufmerksamkeit gleichzeitig der Gestaltung des Vorverfahrens (der Ausbildung der sog. gerichtlichen Vorerhebungen, s. das 9. Hauptstück der StPO von 1873. speciell die §§ 87—90) zuzuwenden. So betrat die Commission den Weg der Berathung von scharf fonnulirten, aber noch nicht als Gesetzestext redigirten schriftlichen Vorschlägen des Referenten, und blieb, da sich die Methode bewährte, bei derselben auch nach Erledigung der den Ausgangspunkt der Berathung bildenden organisatorischen Fragen 1 0 . Es lag, als diese Berathungen am 28. Februar 1863 abgeschlossen wurden, ein Gesaninitcomplex von Beschlüssen vor, deren Ausführung der Minister dein Referenten unter seiner persönlichen Ueberwachung überliess. Das Ergebniss war in kurzer Zeit in einem Entwürfe verkörpert, dem sofort ein die allgemeinen Motive umfassendes Motivenelaborat beigegeben wurde 1 1 . Dieser Entwurf (V — Ministerialentwurf von 1863) ist kurz so zu charakterisiren, dass er auf die Bezirkscollegialgerichte verzichtet, eben dadurch es ermöglicht, dass auf der Basis der i. J. 1853 eingeführten Gerichtsorganisation ohne Einschiebung eines Mittelgliedes zwischen die Einzel- (Bezirks-)Gerichte und die Collégien erster Instanz (Landes-und Kreisgerichte) oder zwischen diese und die bisherigen Gerichtshöfe zweiter Instanz, ein mündlichöffentliches, wesentlich accusatorisehes, von dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung beherrschtes Verfahren hergestellt wird, — dass über die Versetzung in den Anklagestand nur das Oberlandesgericht, dieses aber nur dann entscheidet, wenn es dazu durch einen Einspruch des Angeklagten gegen die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage aufgefordert wird. — Dieses Gericht ist überhaupt als die Aufsicht über alle Strafsachen seines Sprengeis führend hingestellt. Als Gerichte erster Instanz entscheiden über Strafsachen höchster Ordnung Schwurgerichte (und AVO diese nicht eingeführt werden, Richtercollegien 9 Die StPO von 1853 war durch die gleiche Schwierigkeit bestimmt worden, einzelne Bezirksgerichte (Einzelgerichte) als „Untersuchungsgerichte" für weitere Sprengel zu bestellen, ohne an ihrer Organisation etwas zu ändern oder daselbst einen Vertreter der Staatsanwaltschaft aufzustellen. 10 Diese im allgemeinen der Anlage des Motivenelaborates sich anschliessenden Sätze sind abgedruckt in der e r s t e n Auflage von G l a s e r , Kleine Schriften I I 255 ff.; s. dieselbe auch bei M a y e r I 79 ff. 11 Elie auch die speciellen Motive dem neuen Text angepasst waren, ward letzterer wieder umgearbeitet, und wurden daher die speciellen Motive auf den Entwurf V I berechnet ; doch wurde dieser nicht amtlich verwendet und nur später M a y e r für dessen Handbuch überlassen.

§ 18.

Entstehungsgeschichte der österreichischen StPO.

in der Zusammensetzung von 6 Mitgliedern), über Strafsachen mittlerer Ordnung Vierriehtercollegien, über die unterster Ordnung ein aus dem Bezirksrichter und d r e i Laien gebildetes Schöffengericht. In keinem dieser Fälle unterliegt der Ausspruch über die Thatfrage der Anfechtung durch Berufung ; dagegen ist letztere in beschränktem Maasse gegen die Aussprüche aller Gerichte erster Instanz über die Strafe zuzulassen. In den Bestimmungen über das Schwurgerichtsverfahren sind tiefgreifende, den früheren Entwürfen noch fremde Neuerungen eingeführt. Dagegen ist die in den früheren Entwürfen enthaltene s u b s i d i ä r e P r i v a t a n k l a g e wieder beseitigt. Dieser Entwurf gelangte an den Staatsrath, dessen Gutachten, vom Ministerrath angenommen, bewirkte, dass eine Anzahl tiefgreifender, aber nur in den allgemeinsten Ausdrücken formulirter Aenderungen aufgetragen wurde; dahin gehört namentlich die Modification des Systems der Versetzung in Anklagestand, die Beschränkung des Rechtes der Staatsanwaltschaft , von der Verfolgung nach eingetretener Versetzung in Anklagestand zurückzutreten, die Einführung eines neuen, complicirten Systems der Berufung 1 2 , welches auch die Einschaltung einer neuen Classe von Berufungsgerichten zwischen den Gerichten erster und zweiter Instanz nöthig machte, die Beseitigung der Schöffen. Auf diesen Grundlagen beruhen zwei Umarbeitungen des Entwurfes, welche in die Jahre 1863 und 1864 fallen, die Entwürfe V I und V I I . Der letztere (von Entw V I nicht wesentlich unterschieden) sollte auf Grund kaiserlicher Erschliessung vom 10. Juni 1864 dem Reichsrathe vorgelegt werden. Allein ehe dies möglich war , erfolgte die „Sistirung" der Verfassung, und erst am 28. October 1867 legte Justizminister v. H y e einen auf dem Entwurf V I I beruhenden, aber doch vielfach veränderten Entwurf (VIII) saninit Motiven dem Reichsrathe vor. I I I . Der Entwurf M i l unterschied sich von seinen Vorgängern hauptsächlich dadurch, dass er die Zuständigkeit der Geschwornengerichte wesentlich erweiterte (speciell auf alle Press- und politischen Delicte) und die früher gehegten Bedenken gegen die Einführung der Jury in Dalmatien und Galizien fallen liess, und dass er andererseits mit dem etwas früher dem Reichsrathe vorgelegten Entwurf eines neuen Strafgesetzes nicht blos in Einklang, sondern in untrennbare Verbindung gebracht war, so dass er nun gleichzeitig mit demselben hätte Gesetz werden können. Im übrigen charakterisirt den E n t w u r f 1 3 12 13

S. darüber G l a s e r , Kleine Schriften S 775 ff. S. über den Entwurf G l a s e r , Der Entw der StPO. Wien 1867.

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Entstehungsgeschichte der österreichischen StPO.

die Behandlung der Versetzung in den Anklagestand und der Berufung, die Wiedereinführung der subsidiären Privatanklage in weiterem Umfange, als in welchem sie in den Entwürfen I — I V Platz gefunden hatte, und ein Anklang an die Instanzentbindung in der Fassung des Endurtheils. An eine rasche Entscheidung über den Entwurf war schon wegen der Notwendigkeit, der daneben gehenden Berathung des Entwurfes des Strafgesetzbuches zu folgen, nicht zu denken. Zudem war das Parlament in der ersten Zeit nicht blos durch politische Aufgaben wichtigster Art, sondern auch durch \Terfassungsarbeiten in Anspruch genommen, welche für die Strafprozessordnung präjudiciell waren. Hier ist nur das Staatsgrundgesetz über die richterliehe Gewalt vom 21. December 1867, Nr 144 RGBl, zu erwähnen, speciell die Artikel 2—4, 10—13 dieses Gesetzes. Eine gewisse Wichtigkeit für den weiteren Verlauf der Arbeiten hatte auch clas zur Erleichterung der parlamentarischen Verhandlung grösserer Gesetzeswerke bestimmte Gesetz v. 30. Juli 1867, Nr 104 RGBl. Trotzdem indess dieses Gesetz auf den Entwurf der Strafprozessordnung angewendet wurde, bestand das Ergebniss der Legislaturperiode nur darin, dass die Commission des Abgeordnetenhauses 14 am 26. November 1869 ihren Bericht erstattete und den von ihr bearbeiteten Entwurf vorlegte. Dieser Entwurf kann im allgemeinen so charakterisirt werden, dass der Ausschuss des Abgeordnetenhauses sich fast durchgehende an den oben erwähnten Entwurf V hielt, der eben darum, wie U l i m a n n 1 5 sagt, „als der wichtigste und entscheidendste aller dem neuen Gesetze vorangehenden Entwürfe betrachtet werden kann, da er die vorbereitende Grundlage des neuen Gesetzes geworden ist". Diejenigen Hauptpunkte, in welchen der Ausschuss-Entwurf von 1869 (gewöhnlich als Entwurf I X angeführt) 16 von dein Entwurf V differii!, sind: die Wiederherstellung der subsidiären Privatanklage, die Nichtaufnahme der Schöffen in das Gericht unterster Ordnung und Ersatz derselben durch die Berufung gegen den Ausspruch des Einzelrichters, 14

Obmann war Ritter v. Ts chah use l i n i gg. Berichterstatter Dr. van d e r

S trass. 15

HH I 83. Der Ausschussbericht samnit Entwurf ist nur in der Sammlung der parlamentarischen Aktenstücke vorhanden; regelmässig angeführt sind beide bei M a y e r ; ein Abdruck des a l l g e m e i n e n Theils .des Berichtes ward dem unten zu erwähnenden Bericht des Abgeordnetenhaus-Ausschusses von 1872 beigefügt und findet sich daher auch bei den Materialien der Berathung der StPO von 1873, insbesondere bei K a s e r e r I I 133 ff. 16

18.

Entstehungsgeschichte der österreichischen StPO.

die Regelung der Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung nach dem Wortlaut der von dem deutschen Juristentage auf Grund des Glaser'sehen Gutachtens dafür aufgestellten Formel 1 7 , die Ausschliessung von Rechtsmitteln der Staatsanwaltschaft zu Gunsten des Angeklagten, die Beseitigung des Contumacialverfahrens. IV. Formell hinfällig geworden durch die Auflösung des Abgeordnetenhauses, war doch die Arbeit des Ausschusses eine erfolgreiche ; denn sie wurde von den aufeinanderfolgenden Justizministern v. Tschabuschnigg und Habietinek als Grundlage für die Neubearbeitung einer Regierungsvorlage gewählt, welche zwar nicht aus den inneren Kreisen der Regierung heraustrat l ö , aber es dem auch mit diesen Umarbeitungen in Contact gesetzten früheren Referenten unisoinehr erleichterte, sogleich nachdem er selbst Justizminister geworden war, einen neuen Entwurf (X) festzustellen, den er am 16. Februar 1872 gleichzeitig mit dem Entwurf des Einführungsgesetzes und einem Gesetzentwurf betreffend die zeitweise Einstellung der Wirksamkeit der Geschwornengerichte und unter Ankündigung der (ani 14. Mai 1872 erfolgten) Vorlage eines Gesetzentwurfs über die Bildung der Geschwornenlisten) im Abgeordnetenhause des Reiehsrathes einbrachte. Wie der Justizminister hiebei sofort e r k l ä r t e 1 9 , schloss sich die Vorlage an den Entwurf des früheren Ausschusses so eng an, dass „von einer principiellen Verschiedenheit fast in keinem Punkte mehr wird gesprochen werden können". Der Hauptunterschied bestand darin, dass der Zusammenhang der Entwürfe der Strafprozessordnung und des Strafgesetzbuches gelöst und dass ein Versuch gemacht wurde, die Frage offen zu halten, ob die Strafprozessordnung mit Einschluss der Jury auch in Dalmatien. Galizien und cler Bukowina einzuführen sei. Die übrigen Abweichungen waren wesentlich technischer N a t u r 2 0 ; 17

V d. deutsch. JT V I I Β 1 S 86 ff. Inzwischen hatte sich aher die Gesetzgebung mit dem Strafprozess vielfach beschäftigt. Ein G ν. 15. Nov. 1867, RGBl Nr 132, schaffte die Instanzentbindung und die damit zusammenhängende Verschiedenheit der Formen, in welchen die Beendigung des Strafverfahrens erfolgt , ab. Das G ν. 9. März 1869 führte die Jury für Presssachen ein. Ein G ν. 23. Juli 1871, das Ergebniss langer parlamentarischer Berathungen, regelte das bis dahin nur auf einer nicht publicirten kaiserlichen Erschliessung beruhende Recht des obersten Gerichtshofes, über die aussero r d e n t l i c h e (d. h. die gegen übereinstimmende Urtheile der ersten und zweiten Instanz gerichtete) Berufung zu entscheiden. 19 Abdruck der Rede aus dem stenographischen Bericht bei K ä s e r er I I 129 ff. 20 Die Uebersicht über die Differenzen, die im Detail am vollständigsten bei M a y e r angegeben sind, bietet der Ausschussbericht v. 16. März 1872. K ä s e r er I I 133 ff. 18

206

§

.

Entstehungsgeschichte der österreichischen StPO.

sie betrafen hauptsächlich: die Wiederherstellung der Befugniss der Staatsanwaltschaft, Rechtsmittel zu Gunsten des Beschuldigten zu ergreifen — Regelung der Details der Schwurgerichtsverhandlung — Erweiterung der Befugnisse des Cassationshofes bei Prüfung des Verhältnisses der Entscheidungsgründe zum Urtheil (§ 281 Z. 5) — das Recht des Cassationshofes, beim Zusammentreffen einer Berufung (gegen die Strafzumessung) mit einer Nichtigkeitsbeschwerde auch über erstere zu entscheiden — endlich Ermöglichung einer Hauptverhandlung bei cler Mittelclasse der Delicte trotz des Ausbleibens des zu derselben noch persönlich geladenen Angeklagten. Der vom Abgeordnetenhause eingesetzte Ausschuss 21 erkannte die principielle Uebereinstimmung cler Regierungsvorlage mit dem Elaborate des früheren Ausschusses an und identificirte sich mit letzterem so, dass er sich dessen Beschlüsse im ganzen aneignete und nur die Abweichungen der neuen Regierungsvorlage von denselben eingehend prüfte. So war es möglich, dass er seinen Bericht schon am 16. März 1872 erstattete**. Auf Grund dieses Berichtes trat das Abgeordnetenhaus am 22. Mai 1872 in die „zweite Lesung" der Strafprozessordnung und des Einführungsgesetzes zu derselben ein. Dieselbe war am 4. Juni beendigt, an welchem Tage die beiden Gesetze auch in dritter Lesung angenommen wurden. Den Hauptgegenstand der Debatte 2 3 bildete die Frage der „Berufung" gegen den Ausspruch der reinen Richtercollegien über die Thatfrage und die Art, wie im Einführungsgesetz die Bestimmung des Art. 11 des Staatsgrundgesetzes über die richterliche Gewalt hinsichtlich der Competenz des Schwurgerichtes für politische Delicte ausgeführt war. — Der oben erwähnte Entwurf eines Gesetzes über die zeitweise Einstellung der Wirksamkeit cler Schwurgerichte war an den Verfassungsausschuss gewiesen worden, dessen Bericht erst im Jahre 1873 erstattet wurde. 21

v. M e n d e (Obmann), van der Strass (Berichterstatter), B l i t z f e l d , J a s i η s k i , Franz M ü l l e r , Τ ο m a s c z u k , ν. V ο i η ο v i c, W e e b e r , Z a i 11 η e r. 22 S. oben Anm 20. Die Berathung der StPO im Ausschuss des Abgeordnetenhauses ging so rasch vor sich, dass die Bearbeitung der Motive zur Regierungsvorlage ihr nicht folgen konnte; dieselbe hatte übrigens nur eine formelle Bedeutung, da das Motivenelaborat zum Entw V , auf den der Entw IX und somit auch die Regierungsvorlage sich stützte, vorhanden war. Es fand in der That nur eine Umarbeitung derselben statt, deren Ergebniss vor Beginn der Berathung des Entwurfes in der Commission des Herrenhauses amtlich vorgelegt wurde. „Mot zu dem Entw einer StPO. Wien, k. k. Hof- und Staatsdruckerei 1872". Abdruck hievon in der zweibändigen Staatsdruckerei-Ausgabe der StPO von 1873 und bei K as er er I I 1—128. 23 Käserei· I I 163—309. S. auch G l a s e r , Kleine Schriften S 780 ff.

§ 18.

Entstehungsgeschichte der österreichischen StPO.

V. Die vom Abgeordnetenhause angenommenen Entwürfe gelangten an das Herrenhaus, das die Anwendung des oben erwähnten Gesetzes vom Jahre 1867 in Anspruch nahm und dadurch seine Commission 2 4 in clen Stand setzte, während cler Vertagung des Reichsrathes die Vorlagen in Berathung zu ziehen. I n der That war diese in der Lage, schon am 27. Januar 1873 einen B e r i c h t 2 5 erstatten zu können, der von eingehender, selbständiger Prüfung der Vorlagen Zeugniss gab. Die Abänderungen, welche cler dem Bericht angeschlossene Entwurf der Commission zeigt, sind zumeist technischer Natur, auf Herstellung einer gleichförmigen Terminologie und Beseitigung von Unklarheiten berechnet; namentlich die Fassung cler Bestimmungen über die subsidiäre Privatanklage ist umgestaltet·. Sachlich wichtige Aenderungen sind folgende. Den Beschlüssen des Abgeordnetenhauses bezüglich cles die obligatorische Verhaftung begründenden Strafsatzes trat die Commission nicht bei, indem sie sich der Regierungsvorlage anschlos§; aus der Fassung, welche clie Bestimmung über die Vernehmung cles Angeklagten in cler Hauptverhandlung im Abgeordnetenhause erhalten hatte, ward die Stelle beseitigt, welche die ausdrückliche Belehrung über das Recht des Angeklagten, sich der Aussage zu enthalten, vorschrieb; die oben erwähnte Bestimmung über den aus cler Fassung der Entscheidungsgründe abgeleiteten Nichtigkeitsgrund wurde etwas eingeschränkt; der schon in der oben Anm 6 erwähnten Denkschrift über das Rechtsmittel der Berufung enthaltene, in Entwurf \ r formuli rte Vorschlag, clem Cassationshof eine ausserordentliche Befugniss zur Anordnung der Wiederaufnahme des Strafverfahrens (wegen erheblicher Zweifel gegen die Richtigkeit cler thatsächlichen Feststellung) einzuräumen, ward von der Commission aufgenommen (§ 362 des Ges) ; ausserdem gab sie durch Einschaltung der Regierungsvorlage über die zeitweise Einstellung der Wirksamkeit der Schwurgerichte den Entschluss zu erkennen, von dem Schicksal der letzteren das der Strafprozessordnung abhängig zu machen. — In cler Berathung im Plenum des Herrenhauses 26 (am 18., 19. und 24

Sie bestand aus Dr. Anton R. v. S c h m e r l i n g (Obmann), Dr. Freih. v. H e i n (Obmann-Stellvertreter), R. v. T s c h a b u s c h n i g g (Berichterstatter), Freih. v. A p f a l t e r n , Dr. Freih. v. H a r d t 1, Dr. Freih. v. H y e , Freih. v. P r a t h e v e r a , Dr. Freih. v. R i z y und Graf Eugen W r b n a j u n . Die Commission schloss somit fünf ehemalige Justizminister und einen gewesenen Chef der legislativen Section des Justizministeriums ein. 25 Abgedruckt bei M a y e r an den betreffenden Stellen des Gesetzes, bei K a s e r e r I I 310 ff. 26 Raserei- I I 339—452. G l a s e r , Kleine Schriften S 810 ff.

208

§ 19.

Hauptergebniss

20. Februar 1873) Durchführung

er geschichtlichen Entwickelung.

wurde hauptsächlich das Geschwornengericht,

des Anklagegrundsatzes,

die Frage

der

die

ausserordent-

lichen Wiederaufnahme des Verfahrens besprochen. — Die Differenzen, welche zwischen den Beschlüssen der beiden Häuser bestanden, w u r den i n den Sitzungen des Abgeordnetenhauses

v. 4. A p r i l 1873 u n d

des Herrenhauses v. 18. A p r i l 1873 a u s g e g l i c h e n 2 7 , u n d am 23. M a i 1873 erhielt der Gesanmitcomplex der Gesetze die kaiserliche Sanction. § 19.

Hauptergebniss

der

geschichtlichen

wickelung Der heutige Rechtszustand i s t ,

trotz

1

Ent-

. der Beweglichkeit der mo-

dernen Gesetzgebung, trotz der durch clas System der Codificationen gebotenen M ö g l i c h k e i t , i n voller K l a r h e i t aufgefasste streng einheitlich

durchzuführen,

licher E n t w i c k e l u n g . sächliche Einfluss Verhältniss

Das b r i n g t

Grundgedanken

wesentlich das Ergebniss geschichtz w e i e r l e i m i t sich:

1. D e r that-

eines Grundgedankens steht fast nie i m

zu seiner logischen Bedeutung.

Bei der

richtigen

thatsächlichen

27 Zweiter Bericht des Auschusses des Abgeordnetenhauses v. 1. April 1873, Zweiter Bericht des Herrenhauses v. 10. April 1873; das Material dieser ganzen Phase der \Terhandlungen bei K as er er I I 453 ff. 1 D o c h o w in HH I 130 ff. L ö w e § 3 der Einleitung 8 XIX ff. v. B a r , Systematik des d. StPR. Berlin 1878. §§ 17 ff. J o h n , Strafprozessrecht §§ 2—7. G nei st in der Einleitung zu seiner (bei Κ o r t k ä m p f erschienenen) Ausgabe der StPO. S c h w a r z e , Commentar zu der deutschen StPO. Leipzig 1878. Einleitung S XYll ff. G e y e r , Lehrbuch des gemeinen deutschen StPR. Leipzig 1880. § 37. D e r s e l b e in der Rivista penale V I I 457 sq. V I I I 5 sq. V o i t u s, Commentar S X V I I ff'. K a y s er, Strafgerichtsverfassung und Strafverfahren S 25. L u e der, Grundriss zu Vorlesungen über das StPR, Erlangen 1879. §§10—13. F. D a g u i n , Des garanties accordées à l'inculpé par le c. d'inst. cr. allemand. Paris 1879. (Bull, de la soc. de législ. comparée 1879 juin ρ 303 sq.) B r usa, Appunti ρ 131 sq. (Jas ο r a t i , Processo penale p. 38 sq. Vgl. noch G l a s e r in HH I 46—65. Bezüglich der ö s t e r r e i c h i s c h e n StPO : U11 m a η η in HH I 85 ff. D e r s e l b e , Lehrbuch §§ 10—22. S. M a y e r , Handbuch I 322 ff. Geyer § 31 Ν 3. D e r selbe in der Revue de droit international 1874. v. B a r , Die Principien der österreichischen StPO v. 23. Mai 1873, verglichen mit den Grundsätzen der neuen deutschen Gesetzgebung und insbes. des Entw einer StPO für das Deutsche Reich v. Jänner 1873, in Grünhut I 1874 S 303 ff'. L y o n - C a e n in der Vorrede zur französischen Uebersetzung der österreichischen StPO von 1873 (Paris 1874). S. V a i m b e r g , De l'organisation et du fonctionnement du jury en Autriche. Paris 1875. C a r r a r a in der Einleitung zu der von ihm herausgegebenen italienischen Uebersetzung derselben in W e i s k e , Manuale etc. Firenze 1874. D e r s e l b e , Progresso e regresso del giure penale. Prato 1879. p. 410 sq. 452 sq. F o r i a n i in der Rivista penale I 169 sq. 469 sq. Ca s o r a t i , Processo penale ρ 53 sq. 297 sq. 330 sq. B r u sa 1. c. ρ 131.

§ 19.

Hauptergebniss cler geschichtlichen Entwickelung.

209

Entwickelung des neuesten deutschen Strafprozesses waren vier Schlagworte maassgebend geworden: A n k l a g e p r o z e s s , M ü n d l i c h k e i t , Oeffentlichkeit, Geschwornengericht. Unter diesen berührt eigentlich nur das erste eine Frage, welche für das Wesen der Sache, für den Kern der Aufgabe des Strafprozesses, für die Construction des letzteren entscheidend ist; die drei anderen betreffen verhältnissmässig äusserliches. Dennoch kann man sagen, dass die Umgestaltung des Strafprozesses thatsächlich das Ergebniss grosser populärer Bewegungen ist, für welche gerade jenes äusserliche der Ausgangspunkt war und so unverkennbar im Vordergründe stand, dass selbst die bedeutendsten und ernstesten wissenschaftlichen und legislativen Arbeiten, welche sich mit der Klärung dieser Fragen beschäftigen, davon Zeugniss geben 2 . Am wenigsten Bedeutung für das Wesen der Sache hat die O e f f e n t l i c h k e i t , soweit sie mehr als Parteienöffentlichkeit ist: sie bedeutet die Anwesenheit von Zuhörern, die als solche behandelt werden müssen, die auf den Gang der Dinge keinen Einfluss üben dürfen; ja sie bedeutet eigentlich nur die M ö g l i c h k e i t der Anwesenheit von Zuhörern und man könnte sich kaum eine geringere Meinung von einer Gerichtseinrichtung bilden, als diejenige, welche auf der Annahme beruhte, dass in einem gegebenen Fall Verhandlung und Entscheidung anders ausfallen könnten, je nachdem Zuhörer anwesend sind oder nicht. Dennoch ist sicherlich für die volksthümliche Auffassung die Oeffentlichkeit das in erster Linie fesselnde gewesen. Wie gross der sachliche Werth sein mag, den der denkende Jurist der M ü n d l i c h k e i t beilegt und je länger sie erprobt wird, desto zuversichtlicher beilegt, in erster Linie kommt sie doch als die unerlässliche Voraussetzung der Oeffentlichkeit in Betracht, und so ging es weiter. Die Oeffentlichkeit verlangt das gesprochene Wort; die Mündlichkeit bringt mit sich, dass der Beschuldigte zu Wort kommt, dass er v e r h a n d e l t , und die Verhandlung ist nicht denkbar ohne eine Gegnerschaft; so fand die S t a a t s a n w a l t s c h a f t Eingang in das Programm der liberalen Bewegung, einer Bewegung, welche sonst keineswegs auf Verstärkung der Vertretung des allgemeinen Interesse gegenüber dem einzelnen Bürger abzielte. Sache der tiefer eindringenden, Sache der Fachmänner war es dann erst, dafür zu sorgen, dass die äussere Erscheinung mit dem 2

Es genügt wohl darauf hinzuweisen, dass in F e u e r bacìi s Betrachtungen über Oeffentlichkeit und Mündlichkeit die Frage der Anklageschaft kaum gestreift wird und dass sie ebensowenig in S a v i g η y s amtlicher Schrift: „Die Principienfragen in Bezug auf eine neue Strafprozessordnung" hervorgehoben ist. Binding, Handbuch. IX. 4. i:

G l a s e r , Strafprozess. I.

14

§ 19

Hauptergebniss

er geschichtlichen Entwickelung.

Wesen in Einklang gebracht, dass verhindert werde, dass dieselben in principiellein Gegensatz zu einander verharren, dass die Rechtspflege ein Schauspiel werde, welches die Rollen anders vertheilt zeigt, als es die wirklichen Interessen und Einflüsse bei den entscheidenden Vorgängen sind. Erst diese Bestrebung führt zur Erfassung und scharfen Betonung der Grundsätze, zur Kritik einer inzwischen schon gewordenen Gestaltung, deren Details aber nicht mehr unbedingt der Forderung der logischen Folgerichtigkeit sich unterordnen lassen. 2. Es ist jede Neugestaltung theilweise abhängig von demjenigen, an dessen Stelle sie treten soll; denn dieses kann nicht spurlos zum Verschwinden gebracht werden; r e i n e Rückkehr zu den Zuständen einer vergangenen, zumal einer entlegenen Epoche ist, wie sehr man grundsätzlich missbilligt, Avas ihr nachfolgte, nicht möglich ohne nachtheiligen Rückschritt, ohne Verzicht auf Gutes, was inzwischen sich oft auf dem ungünstigsten Boden thatsächlich entwickelt hat, und ohne dass ein unerträglicher Gegensatz zwischen der wiederhergestellten Institution und den Zuständen, die sich nach ihrer Beseitigung gebildet haben, entsteht. Daher erklärt es sich, dass unter den Händen der französischen constituirenden Nationalversammlung ein C ο m p r o m i s s entstand 3 , das 3

H é l i e , Instruction § 93 I 676ff., sagt darüber: „Die constituirende Nationalversammlung sah, als sie beschloss, einen neuen Criminalprozess zu gründen, rückwärts blickend zwei Systeme: das eine . . . hatte (im grossen) Frankreich seit dem Eindringen der Germanen bis zum 15. Jahrhundert beherrscht; es beruhte auf den grossen Grundsätzen der öffentlichen Anklage, des Urtheils durch Laien (Jurés), der mündlichen Beweisführung, der Oeffentlichkeit der Verhandlung, des Vertheidigungsrechts ; das zweite, das ihm in den letzten drei Jahrhunderten nachgefolgt war, und dessen Elemente waren: das öffentliche Ministerium, die Inquisition (la procédure par enquête), die schriftliche und geheime Instruction des Prozesses, gesetzlich geregelte Beweise, die Unterdrückung des Rechts der Vertheidigung . . . . Das Gesetzgebungscomité der Nationalversammlung wählte . . . aus den Ruinen dieser zwei Systeme die Materialien für ein neues Gebäude aus. Der Gesetzgebung der Zeit vor dem 15. Jahrhundert entlehnte sie das Princip der Urtheilsfällung durch Laien, die Oeffentlichkeit der Gerichtssitzungen, die Mündlichkeit der Beweisführung, die Berufung; der späteren Gesetzgebung das öffentliche Ministerium, die permanenten Richter, die erste Untersuchung und deren Heimlichkeit, die Schriftlichkeit des Verfahrens bis zur Hauptverhandlung . . . Der Einfluss . . . des englischen Rechts war entscheidend nur in zwei Punkten: bezüglich der Annahme der Jury und der mündlichen Vorführung der Beweise". An einer anderen Stelle (§ 307 IV, vol. V ρ 46. 47) sagt H é l i e unter Verweisung auf diese doppelte Quelle des neuen Prozessrechts : „Dieses neue System combinirt also zwei verschiedene Principien, zwei verschiedene Formen ; die inquisitorische Form beherrscht das ganze Vorverfahren, die accusatorische die endgiltige Untersuchung. Diese g e m i s c h t e P r o c e d u r , die sich schon im römischen Prozess der Kaiserzeit und bei uns im 16. Jahrhundert

§19.

Hauptergebniss cler geschichtlichen Entwickelung.

211

als solches gewusst und gewollt war und das cler Hauptsache nach die G l i e d e r u n g des Prozesses zur Grundlage hat: der alte Untersuchungsprozess ward nicht abgeschafft, sondern als Glied eines Prozesses beibehalten, cler in einem anderen seiner Bestancltheile unter die Formen des alten mündlich - öffentlichen Anklageprozesses sich unterordnet. Dieser g e m i s c h t e Prozess gestaltet sich wieder verschieden je nach cler Bedeutung der strafbaren Handlungen, welche den Gegenstand cles Verfahrens bilden, und eben dämm ist die hierauf beruhende D r e i t h e i l u n g der Gerichtsbarkeit, die Vertheilung derselben an Strafgerichte unterster, mittlerer und höchster Ordnung und die cler Stellung und Einrichtung dieser Gerichte entsprechende, aber principiell doch wieder einheitliche Regelung ihres Verfahrens das zweite charakteristische Merkmal des Strafprozesses, welcher von Frankreich ausgehend sich allmählich über clen ganzen Continent verbreitet hat. Im grossen und ganzen beruhen hierauf die heutigen strafgerichtlichen Institutionen Deutschlands und Oesterreichs. Vor allem besteht in beiden Gebieten die dreifache Abstufung der Strafgerichtsbarkeit: in engerem Anschluss an Frankreich überträgt Oesterreich die Gerichtsbarkeit über die strafbaren Handlungen unterster Ordnung dem Einzelrichter (Bezirksrichter), über die mittlerer Ordnung einem s t ä n d i g e n R i e h t e r c o l l e g i u m (Abtheilungen cler Kreis- oder Landesgerichte, bestehend aus v i e r Richtern), über clie höchster Ordnung dem S c h w u r g e r i c h t (3 Richter, 12 Geschworne) ; in D e u t s c h l a n d ist das Strafgericht unterster Ordnung das dem Amtsgericht angefügte Schöffengericht (bestehend aus dem Amtsrichter und zwei Schöffen): die Gerichte mittlerer Ordnung sind aus fünf Richtern bestehende Kammern der Landgerichte ; die strafbaren Handlungen höchster Ordnung sind (mit Ausnahme der Fälle des Hochverrathes gegen clen Kaiser oder das Reich, welche vor das R e i c h s g e r i c h t gehören) ebenfalls clen Schwurgerichten zugewiesen. Der Grundsatz, dass clie strafbaren Handlungen regelmässig im öffentlichen Interesse zu verfolgen sind, findet seinen prägnantesten Ausdruck in cler Aufstellung cler S t a a t s a n w a l t s c h a f t , als des staatlichen Organs der Strafverfolgung, fand, hat in unserem Gesetzbuch ganz eigenartige Gestaltungen angenommen, die in dieser Weise keine andere Gesetzgebung gezeigt hatte". In gleichem Sinne sagt C a r r a r a § 854 (II 372): „Die Mischung des modernen Strafprozesses besteht darin, dass zwei Prozesse gebildet werden, deren erster bei Beginn der Bildung dieser Prozessart ganz inquisitorisch war". Ganz im selben Sinne Cas o r a t i , I l processo penale ρ 227. Dagegen urtheilen freilich P r i n s und Ρ er g am e n i ρ 69: L'assemblée Constituante au lieu d'opter entre deux systèmes . . . eut peur et fit un compromis. 14*

212

§ 19.

Hauptergebniss

er geschichtlichen Entwickelung.

und in dem Einschreiten derselben in allen Formen und allen Stadien des Verfahrens mit Einschluss der Rechtsmittelinstanz. Das Gegengewicht bildet die Anerkennung des Beschuldigten als Prozesspartei, statt als eines blossen Objectes der Untersuchung, und seines Rechtes auf formelle V e r t e i d i g u n g und B e i z i e h u n g e i n e s s a c h k u η d i g e η V e r t h e i d i g e r s. Durchgreifend gilt ferner der Grundsatz^ dass eine Verurtheilung des Angeklagten nur auf Grund einer öffentlichmündlichen Verhandlung vor dem auf Grund f r e i e r W ü r d i g u n g der ihm unmittelbar vorgeführten Beweise urtheilenden Gerichte erfolgen kann. Diese Verhandlung, welcher unser Recht den Namen H a u ρ t v e r h a n d l u n g beilegt, der ihre Stellung besser kennzeichnet,, als der französische Ausdruck (débats), und der insbesondere den Gegensatz gegen eine blos recapitulirende S c h l u s s V e r h a n d l u n g betont, ist das wesentliche, nirgend fehlende Element eines zu Ende geführten Strafprozesses; alle anderen Prozessakte sind nur zur Hauptverhandlung führende, sie vorbereitende, oder ihr Ergebniss überprüfende, nicht aber ersetzende Schritte. Unter den ersteren nimmt die V o r u n t e r s u c h u n g , unter den letzteren das Rechtsmittel der R e v i s i o n (in Oesterreich N i c h t i g k e i t s b e s c h w e r d e ) den wichtigsten Platz ein, welches letztere nur eine beschränkte, die tatsächliche Feststellung des auf Grund der Hauptverhandlung urtheilenden Gerichtes nicht umfassende Ueberprüfung gewährt. Die V o r u n t e r s u c h u n g ist die Fortsetzung der alten, den gemeinen deutschen Prozess vollständig ausfüllenden Untersuchung, deren Eigenthümlichkeit darin besteht, dass cler mit derselben einmal befasste Einzelrichter kraft seines richterlichen Amtes selbständig und unparteiisch, die Interessen cler Anklage und Verteidigung gleichmässig berücksichtigend, nach eigener Ueberzeugung für die Aufklärung des Sachverhaltes thätig ist, class diese Thätigkeit eine n i c h t ö f f e n t l i c h e ist, deren Ergebniss s c h r i f t l i c h niederzulegen ist in Akten, welche allein die Grundlage der Entscheidung über clie Notwendigkeit oder Entbehrlichkeit der Hauptverhandlung bilden und welche die Beweisaufnahme in cler letzteren vorbereiten sollen, sie ausnahmsweise auch ersetzen können. Diese inquisitorische, geheime und schriftliche Procedur soll aber nur ein untergeordneter Bestandteil des Prozesses sein; sie entfällt als solche ganz bei den vor den Strafgerichten unterster Ordnung zu führenden Prozessen und k a n n bei clen Strafgerichten mittlerer Ordnung, nicht aber in den vor die Strafgerichte höherer Ordnung gehörigen Sachen, hinwegfallen, worüber jedoch im Gegensatz zum französischen Prozess nicht b l o s das Ermessen des Anklägers entscheidet, da auch dem Beschuldigten

§19.

Hauptergebniss

er geschichtlichen Entwickelung.

213

die Möglichkeit geboten ist, die Fühlung einer gerichtlichen Voruntersuchung zu erwirken. Ersetzt oder vorbereitet kann die Voruntersuchung werden durch ein (in dieser Form clem französischen Rechte fremdes) V o r b e r e i t u n g s v e r f a h r e n (in Oesterreich: Vorerhebungen), welches wesentlich in cler Hand cler Staatsanwaltschaft liegt, von cler es abhängt , ob sie dazu richterliche Hilfe in Anspruch nehmen zu sollen erachtet. Den Uebergang zur Hauptverhandlung bildet bei clen Strafgerichten mittlerer und höherer Ordnung stets eine gerichtliche Verhandlung, und hierin unterscheiden sich beide Gesetze vom französischen Recht, welches bei Strafsachen mittlerer Ordnung eleni Ankläger, und zwar auch dem Beschädigten (der Civilpartei), anheimstellt, clen Beschuldigten unmittelbar in clie Hauptverhandlung laden zu lassen. Nach deutschem Recht hat bei Delicten mittlerer und höherer Ordnung stets clas Gericht erster Instanz (Landgericht) über die Frage der „Eröffnung des Hauptverfahrens" Beschluss zu fassen; während nach österreichischem Recht dies nur (und zwar durch das Gericht zweiter Instanz) geschieht, wenn einerseits eine Anklage vorliegt und andererseits der Beschuldigte deren vorläufige (richterliche) Prüfung forciert. Das Ergebniss der Hauptverhandlung vor den (ierieilten unterster Ordnung kann durch B e r u f u n g angefochten werden, welche auch die Ueberprüfung cler thatsächlichen Feststellung erwirken kann; bei den Strafgerichten mittlerer Ordnung lassen (im Gegensatz zu Frankreich) weder Deutschland noch Oesterreich eine solche Berufung zu; das einzige Rechtsmittel gegen diese Urtheile, wie gegen die cler Schwurgerichte ist die Anrufung des höchsten Gerichtes (Reichsgericht in Deutschland, Cassationshof in Oesterreich) mit Beschwerden wegen stattgefundener Verletzung des formellen oder materiellen Rechtes. Abweichungen von diesen Hauptfornien cler Procedur sind nach beiden Gesetzen nur in geringem Maasse zulässig; sie betreffen clas Verfahren wider Abwesende, Pressstrafsachen und clen Ersatz cler Hauptverhandlung bei Delicten unterster Ordnung durch freiwillige Unterwerfung unter eine (vorläufige) S t r a f V e r f ü g u n g (Strafbefehl), in Deutschland auch noch: das Verfahren bei Privatanklagen, bei Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften über die Erhebung öffentlicher Abgaben und Gefälle, bei Vermögensbeschlagnahmen, wider Personen, welche sich der Wehrpflicht entzogen haben. Ausserdem ist in O e s t e r r e i c h clas standrechtliche Verfahren in cler Strafprozessordnung selbst (25. Hauptst. §§ 429—446) und die vorübergehende und örtliche Einstellung der Geschwornengerichte in einem gleichzeitig mit cler Strafprozessordnung ergangenen Specialgesetze (vom 23. Mai 1873, RGBl

214

§ 20.

Das Princip

er Staats-Anklage.

Nr 120) behandelt ; die deutsche Strafprozessordnung· (§ 16) fügt nur dem Verbote von Ausnahmegerichten, welches auch die österreichische Gesetzgebung (Staatsgrundgesetz v. 21.1)ec. 1867, RGBl Nr 144, über die richterliche Gewalt § 2. 3) statuirt, die Beschränkung bei: „Die gesetzlichen Bestimmungen über Kriegsgerichte und Standrechte werden hiervon nicht berührt". Schon diese Skizze zeigt, dass der heutige Strafprozess Deutschlands und Oesterreichs im wesentlichen auf dem Boden geblieben ist, den die Reformbewegung der Jahre 1848 ff. betreten hatte, aber auch dass er im einzelnen eine Einrichtung erhalten hat, welche eine grosse Selbständigkeit dem einstigen französischen \ T orbilde gegenüber bekundet, und welche zeigt, dass die im § 16 dargestellten Erörterungen einen wesentlichen Einfluss geübt haben. Es wird dies nun unter Besprechung der für die Grundform des Strafprozesses wichtigsten Punkte näher zu untersuchen sein. § 20.

Das P r i n c i p der

Staats-Anklage.

I. Bei der Beurtheilung des Einflusses, welchen der a c c u s a t o r i s c h e und i n q u i s i t o r i s c h e Typus 1 auf unsere Strafprozessordnungen geübt haben, muss man vor allem sich klar machen, dass das oben erwähnte Compromise nicht etwa so zu verstehen sei, als wäre dadurch ein Theil des Prozesses unter die ausschliessliche Herrschaft des einen, ein anderer unter die des entgegengesetzten Grundsatzes gestellt worden; vielmehr ist es selbstverständlich, dass jeder Theil des Prozesses auf den anderen bestimmend und einschränkend wirkt. Ueberdies ist schon gezeigt worden, dass hier überhaupt nicht von einem Grundsatz gesprochen Averden darf, der alleinige Geltung für alle aus ihm abzuleitenden Consequenzen beanspruchen könnte. W i r wissen (siehe oben § 4 Anm 4—11), dass diese Ableitungen erheblichen Meinungsverschiedenheiten unterliegen; aber auch abgesehen davon kann der Umstand, dass eine bestimmte Prozessgestaltung besser mit dem einen als mit dem anderen Typus in Einklang zu bringen ist, nicht immer de lege ferenda für allein entscheidend erachtet werden und noch weniger de lege lata bei der Gewinnung der Grundsätze für die Anwendung der Strafprozessordnung den Ausschlag geben. Wie heute die Dinge stehen, war ein weitgehender Eklekticismus unvermeidlich, und eben weil die Gesetzgebung sich ihm hingab, darf man nicht von der Annahme ihrer Hinneigimg zu dem einen oder dem anderen 1

Siehe oben § 4 und § 16 IV.

§ 20.

Das Princip cler Staats-Anklage.

215

Typus ausgehen und daraus folgern, dass sie alles sieh angeeignet habe, was diesem entspricht und Avas sie nicht ausdrücklich ausschloss. Vielmehr muss man sich die legislativen Erwägungen klar machen, Avelche nach der Natur der Sache und nach der geschilderten geschichtlichen Entwickelung die Schritte der neuesten Gesetzgebung auf diesem entscheidenden Gebiete geleitet haben. Man darf dabei nicht übersehen, dass die Strafprozessreforni nur ein Glied in der Kette von auf Herstellung einer neuen Gerichtseinrichtung und namentlich auch eines neuen Civilprozesses gerichteten Bestrebungen ist, Bestrebungen, welche in Deutschland bereits zum Abschluss geführt haben, in Oesterreich neben den Arbeiten an der Strafprozessreforni stets festgehalten wurden. Als treibende Motive der Reformbewegung, an deren Endpunkt sie stand, hatte die neueste Gesetzgebung zu berücksichtigen: die Unnatur der vom inquisitorischen Typus geforderten Vereinigung der Aufgabe von Anklage und Vertheidigung mit der des Richters, die hieraus erwachsende Gefährdung des unschuldig verdächtigten und die Beeinträchtigung der Verlässlichkeit der Ergebnisse des Verfahrens, welche entstehen muss, wenn der Beschuldigte nur einem R i c h t e r und der Richter nur e i n e m Betheiligten gegenübersteht, den er dann nur als Untersuchungsobject, nicht als Prozesssubject gelten lässt, und der die letzten Zwecke der Strafrechtspflege gefährdende Eindruck der Willkür, der zurückbleiben muss, wenn der Mangel schützender Formen oder die Möglichkeit, dieselben nach Ermessen derjenigen, welche sie einengen sollten, bei Seite zu setzen, sich geltend macht. Auf der entgegengesetzten Seite war zu erwägen, dass die allzuschroffe Ausbildung des accusatorischen Typus leicht zu einer Täuschung führen kann, weil die formell und nominell anerkannte Gleichheit der Parteien der Sache nach nicht vorhanden ist. Der Angeklagte, auf seine eigenen Kräfte verwiesen, ist seinem Gegner nicht gewachsen2, wenn ihm nur die gleichen Rechte, nicht die gleichen Mittel zur Verfügung stehen, 2 Die mangelhafte Vorsorge tur clie m a t e r i e l l e Vertheidigung ist daher auch die Schattenseite des englischen Prozesses, und ich habe dies schon früher (HH I 59) hervorgehoben. Aber auch ein Schriftsteller, der mitten in cler englischen Praxis steht und sonst eher geneigt ist, diejenigen Seiten cler englischen Einrichtungen zu bemerken, welche den Erfolg der Anklage gefährden, sagt : „Die Vorstellung, dass cler Strafprozess eine Streitverhandlung (litigation) bildet, bei welcher die Gesellschaft (the public at large) als Kläger auftritt, legt dem Angeklagten eine Last auf, die er sehr oft wegen seiner Unwissenheit und Armuth nicht ertragen kann. AVenn es auf beiden Seiten aufs Geld nicht weiter ankommt, dann allerdings ist das englische System cler Wahrheitserforschung nahezu vollkommen".

216

§ 20.

Das Princip

er Staats-Anklage.

u n d eine Prozessform, welche den Richter zwingen würde, i m der

Unparteilichkeit

kommen

könnten,

zugeben oder in

gar

Beweismittel,

die

unbenutzt zu lassen,

Rechtsgefühl

w e i l letzterer

sie nicht an-

von Zweck

verletzen,

u n d Mittel

Formen-

wo die V e r k e h r u n g des richtioffenbar w i r d ;

wenn es unzweifelhaft w i r d ,

gelegentlich u n d unter Umständen, sie leicht vorhergesehen

w T ürde

gegen den inquisitorischen

A b e r auch die U e b e r s p a 11 η u η g d e s

w es e n s k a n n einen P u n k t erreichen, gen Verhältnisses

dem Angeklagten zu statten

herbeizuschaffen verstand oder vermochte,

einem H a u p t p u n k t e einen Rückschritt

Prozess bewirken.

Namen

es muss das dass nicht blos

clie sich so wenig wiederholen als

oder gar herbeigeführt werden k ö n n e n ,

clie

Zwecke des Prozesses durch die F o r m e n beeinträchtigt werden, welche deren E r r e i c h u n g sichern s o l l e n 3 . 3 Es ist dies eine der widerspruchvollsten Fragen des modernen Strafprozesses (s. schon H e n k e , Handbuch IV §§ 16. 17; M i t t e r m a i e r , Strafverfahren I §35); sie ist namentlich für die Gestaltung des Systems der Rechtsmittel von entscheidender Bedeutung und daher erst im Zusammenhange mit demselben zu behandeln. Es war sicherlich das charakteristische Merkmal (1er äussersten Entwickelung des inquisitorischen Prozesses, dass die Codificationen am Beginn des Jahrhunderts (mit Ausnahme des bayerischen Strafgesetzes Th. I I Art. 374) der Verletzung selbst wesentlicher Formen keine selbständige Bedeutung beilegten (vgl. Z a c h a r i ä , Gebrechen und Reform S 203 if. ; M i t t e r m a i e r , Strafverfahren I § 35); speciell von der preussischen CGO von 1805 (welche auch hier mit der ausserordentlichen Strafe abzugleichen sucht) sagt T i p p e i s k i r c l i (GA 1855 S 775), dass in ihr, wie in der allgemeinen GO von 1794, „das Bestreben, auf inquisitorischem Wege die volle, ungeschminkte Wahrheit zu entdecken, mit der gänzlichen Vernachlässigung der äusseren l'orni dergestalt Hand ίμ Hand geht, dass es fast scheint, als habe man 111 der äusseren Form nichts weiter als einen möglichen Schlupfwinkel der Lüge zu sehen geglaubt". Mit dem in späteren Gesetzen, ζ. B. im § 9 des sächsischen Ges v. 30. März 1838 und in der österreichischen StPO von 1853 § 303, .ergriffenen Auskunftsmittel, nachträglich zu untersuchen, ob ein unterlaufenes Formgebrechen auf den Prozessakt selbst und auf das Urtheil Einfluss geübt habe, bewegt man sich im Kreise. Die Form soll die Vollständigkeit und die Sicherheit des Ganges des Verfahrens verbürgen, die Gewissheit verschaffen, dass keine unzulässige Einwirkung stattfand, keine berechtigte ausgeschlossen war, und eben dadurch die Vertrauenswürdigkeit der Procedur begründen; ist sie verletzt, so fehlt diese (clie „Glaubwürdigkeit der Handlung"), und nur ausnahmsweise wird sich deutlich erkennen lassen, dass die Sache unter der Verletzung der Form nicht gelitten habe. Erhöhte Bedeutung erlangt diese Erwägung unter der Herrschaft der M ü n d l i c h k e i t , welche eine vollständige Ueberprüfung des Vorganges des ersten Richters unmöglich macht und dazu drängen muss, den höheren Richter zu nöthigen, dessen thatsächliche Feststellung unberührt zu lassen, so lange kein Zweifel gegen das Regelrechte seines Vorganges auftaucht. Es war daher unvermeidlich, dass der reformirte Strafprozess die Bedeutung der Form zu erhöhter Anerkennung brachte, schon weil ihre Einhaltung jetzt Gegenstand des Prozessrechtes der Parteien ge-

§ 20.

Das Princip

er Staats-Anklage.

217

Insofern war es Aufgabe der Gesetze, zwischen den äussersten Consequenzen der beiden Typen hindurch ihren Weg zu suchen und dafür zu sorgen, dass so viel wie möglich die Vortheile beider gesichert, die beiderseitigen Gefahren vermieden oder abgeschwächt würden. In erster Linie musste aber das Strafverfahren auf dem Boden des juristischen Prozesses festgehalten werden: der Charakter einer Streitverhandlung zwischen zwei Parteien mit selbständiger Berechtigung unter den Augen eines Richters, dessen Unbefangenheit möglichst zu sichern ist, ist dem Strafprozess gewahrt, und darin liegt der Kern dessen, was die Worte A n k l a g e g r u n d s a t z , A n k l a g e s c h a f t , A n k l a g e r e c h t ausdrücken. Auf clen offiziellen Gebrauch des Wortes (in Oesterreich ist durch Art. 10 des Staatsgrunclgesetzes über die richterlichen Gewalten v. 21. Dec. 1867, Nr 144 cles RGBl, clie Geltung des „Anklageprozesses" ausgesprochen) kommt es dabei nicht an. Die zweifellose \ T erkörperung des Gedankens stellt vielmehr die S t a a t s a n w a l t s c h a f t dar, die nach cler ganzen geschichtlichen Entwickelung wahrlich nicht eingeführt wurde, weil es für clie in der Verfolgung cler Verbrechen liegende „Staatsfunction nicht an e i n e m Organ genügt" 4 . Die Strafprozessordnungen geben aber cler Anerkennung des Grundsatzes auch noch bestimmten Ausdruck: „Die gerichtliche Verfolgung cler strafbaren Handlungen tritt nur auf Antrag eines Anklägers ein" (Abs. 1 des § 2 Österreich. StPO). „Die Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung ist durch Erhebung einer Klage bedingt" (§ 151 RStPO) 5 . Inwiefern aber die Einzelausführung Abweichungen vom accusatorischen Typus in sich trägt, wird sich aus clen folgenden Erörterungen ergeben. worden und die unerlässliche Voraussetzung wirksamer Wahrnehmung ihres Rechts in der Sache war. Auf der anderen Seite hatte S c h w a r z e Recht (Schletters Annalen IV 1858 S 47), vor dem Verfallen von einem Extrem ins andere zu warnen. 4 K ö s t l i n in Schweglers J der Gegenwart 1845 S 927 (s. oben § 4 Anm 6). 5 Diese Fassung, sagen die amtlichen Motive (S 86), „giebt dem allgemeinen Gedanken Ausdruck, dass das Wesen des Anklageprozesses sich in der Form des Rechtsstreites bewege, dessen Eröffnung durch das Auftreten eines Anklägers bedingt sei". Namentlich die Formen, welche die deutsche Strafprozessordnung der „Erhebung der Klage" vorzeichnet, lassen übrigens keinen Zweifel daran, dass die „gerichtliche Untersuchung" erst beginnen könne, wenn die Klage sich gegen eine bestimmte Person richtet, also auch die zweite Partei bereits gegeben ist. §§ 153. 177. 198 StPO; L ö w e , Bern 4 zu der Einleitung des 2—6. Abschn. des 2. Buches der StPO. Eine Ausnahme macht gewissermaassen das „Verfahren bei Einziehungen und Vermögensbeschlagnahmen" (§§ 477—480), und in O e s t e r r e i c h , wo der gleiche Grundsatz gilt (§§ 92 u. 207), das sog. objective Verfahren in Presssachen (§ 493) und der erste Angriff der Untersuchungs- oder Einzelrichter (§ 89).

218

§ 20.

II. bemerkt,

Das

Das Princip

„Princip

der

er Staats-Anklage.

Strafverfolgung"

war, wie schon

i n den der Entstehung der Strafprozessordnungen

gehenden Jahren Gegenstand lebhafter E r ö r t e r u n g e n 6 . sein,

die theoretischen E r ö r t e r u n g e n ,

das Ergebniss

vorher-

Es w i r d

gut

naturgemässen

Strebens nach Vertiefung der F r a g e n , von letzteren, so weit sie eine Lösung i n den Gesetzen finden mussten, zu trennen. seits a n e r k a n n t ,

dass clas moderne Strafrecht

D a ist n u n aller-

auf dem Gedanken be-

r u h t , dass die Verfolgung der strafbaren Handlungen Recht u n d Pflicht der Staatsgewalt sei, u n d andererseits, auf der

Sonderung

dass der heutige Strafprozess

cler s t a a t l i c h e n

Aufgabe

der

Strafver-

f o l g u n g von clem R i c h t e r a m t beruht, welches letztere zwar ebenfalls

eine staatliche Aufgabe

erfüllt,

aber n u r mehr

ein

mittelbares

A t t r i b u t cler Staatsgewalt darstellt, cla sich letztere auf die Herstellung eines nach allen Seiten, auch i h r selbst gegenüber unabhängigen Gerichtes beschränkt. Wenn nun gleich,

insbesondere

angesichts der sachlichen

dehnung des heutigen Strafprozesses, es w o h l gestattet sein m a g , fragen 7, 6

ob

die

Pflicht

der

Staatsgewalt, für

die

Verfolgung

Auszu cler

Siehe die Literaturangabe oben § 16 Anm 12 u. 13, dann bei Ζ ach a r i ä, Handbuch I 424 Anm 3, bei U l i m an η § 54 S 260 Anm 2 und bei S c h w a r z e Bern 3 zu § 152 Anm 2. Insbesondere sind hier die Verhandlungen des e r s t e n und z w e i t e n deutschen Juristentages (1860 u. 1861) im Anschluss an den L e w a i d ' sehen Antrag, welcher auf meine Abhandlung: „Das Princip der Strafverfolgung" gestützt war, und die hieran anknüpfende Literatur zu berücksichtigen; insbesondere die oben § 16 Anm 13 angeführten Arbeiten von S c h w a r z e (siehe V d. deutsch. JT I I Β 2 S 319 ff. ; GS 1864 S 401 ff), G r o s s , H o l t z e n d o r f f , S u n d e l i n , T i p p e i s k i r c h . Siehe ausserdem noch M i t t e r m ai er, Gesetzgebung und Rechtsübung S 144 ff. und im GS 1858 S 161 ff 267 ff.; S c h w a r z e in Schletters J IV 1858 S 56 ff. ; S te m a n n , Preussisches Strafverfahren § 6; L ö w e , Preussischer Strafprozess § 29; C a s o r a t i , Processo penale ρ 110 sq. 7 Diese Frage habe ich (Kl. Schriften S 521 ff.) vor Jahren (1860) aufgeworfen und den Versuch gemacht, durch ihre Beantwortung einen festen Punkt zu gewinnen, von clem aus die Sonderung cler Strafverfolgung von cler Strafgerichtsbarkeit, die Unabhängigkeit beider von einander auf ihren scharf abzugrenzenden Gebieten sich als berechtigte Folgerungen ergeben. Ich ging davon aus, dass die Strafverfolgung ein Attribut der vollziehenden Gewalt ist, eine aus ihrer Aufgabe und Pflicht, fur die Vollziehung der Gesetze zu sorgen, erwachsende, aber von dieser nicht specifisch verschiedene Aufgabe. Hier, wrie bei allen Befugnissen der Staatsgewalt, fallen, da sie clen Trägem cler letzteren nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen ihrer Unentbehrlichkeit für das Wohl des Staats eingeräumt sind, Recht und Pflicht im grossen und ganzen zusammen. Die Unterlassung der Ausübung des Rechtes ist daher eine Pflichtverletzung, wenn sie auf Indolenz, Zaghaftigkeit, Parteilichkeit oder anderen verwerflichen Motiven beruht, und um so ernster zu nehmen, weil es sich um eine Pflicht handelt, deren Erfüllung mit der Rechtspflege zusammenhängt.

§ 20.

Das Princip

er Staats-Anklage.

219

strafbaren Handlungen zu sorgen, eine dermaassen unbedingte seiy dass für Erwägungen cler Billigkeit, cler Zweckmässigkeit, cler Ich meine aber auch, dass allerdings Fälle denkbar sind, wo es sich vollkommen rechtfertigen kann, dass die Staatsgewalt von ihrem Recht der Strafverfolgung keinen Gebrauch macht. Es giebt Strafandrohungen, welchen gegenüber, sie seien nun gegen politische Delicte im eigentlichen Sinne gerichtet oder polizeistrafrechtlicher Natur, die Staatsgewalt notliwendig eine andere Stellung einnimmt als gegenüber denjenigen, welche bestimmt sind, die Rechte des einzelnen, die Grundlagen der sittlichen oder wirthschaftliclien Ordnung der Gesellschaft zu schützen (und auch hier kann es sich treffen, dass die Strafverfolgung in einem gegebenen Falle nicht das beste Mittel ist, den dem Rechte entsprechenden Zustand herzustellen und dem Privaten den wirksamen Schutz zu gewähren, auf den er vor allem Anspruch hat). Es verstösst nun gegen die Wahrheit und kann nur zur Heuchelei führen, wenn man erwartet, sie werde oder könne all diesen so verschiedenen Strafbestimmungen gegenüber die gleiche Stellung einnehmen. Es kann die Führung oder Unterlassung eines politischen Prozesses für das Schicksal des Staates entscheidend sein, die unkluge oder pedantische Anwendung einer polizeistrafrechtlichen Bestimmung, wo Dulden oder Uebersehen durch Klugheit oder Billigkeit geboten war, die Quelle der peinlichsten und für das öffentliche Wohl nachtheiligsten Verwickelungen sein. In anderen Fällen kann die Führung eines bestimmten Strafprozesses Opfer fordern, Gefahren mit sich bringen (ζ. B. die eines Krieges, der Bloslegung wichtiger Staatsgeheimnisse), welche doch wohl gegen die Wichtigkeit der zu gewärtigenden Bestrafung für die öffentliche Rechtsordnung müssen abgewogen werden können, sofern man nicht etwa behauptet, dass diese Wichtigkeit immer gleich gross ist. Endlich können die Gründe, welche eine Begnadigung nach erfolgter Verurtheilung rechtfertigen, schon vor derselben deutlich erkennbar sein, und es können dabei Umstände obwalten, welclic verhindern, dass die nachfolgende Begnadigung noch den Zweck erreicht, um dessentwillen sie überhaupt als gerechtfertigt angesehen wird, den Zweck, die aus der Anwendung der abstracten Bestimmungen des Strafgesetzes und der Strafprozessordnung sich mitunter unvermeidlich ergebenden Widersprüche zwischen den Intentionen und den Wirkungen der Gesetze abzugleichen und vom höchsten irdischen Standpunkt aus darüber zu wachen, dass nicht Sitte, Menschlichkeit und Recht durch die mechanische Anwendung fehlbarer menschlicher Anordnungen, durch das unvermeidliche Fehlgehen menschlicher Einrichtungen geschädigt werden und so unter demjenigen leiden, was sie schützen und fördern sollte. Die Rechtfertigung (1er Existenz der Staatsanwaltschaft liegt eben darin, dass es im Strafprozess auch staatliche Aufgaben nicht - richterlicher Natur giebt. „Der Staatsanwalt ist kein Richter; er darf sich die Wahrscheinlichkeit genügen lassen, er muss die blosse Möglichkeit betonen können, wo der Richter Gewissheit fordern muss. Andererseits ist er zwar P a r t e i vor dem Richter, wenn er einmal beschlossen hat, vor ihn zu treten; allein es darf und soll eben nicht P a r t e i l i c h k e i t sein, was ihn vor denselben führt; das Interesse, welches er trägt, geht über das Partei-Interesse hinaus, weil es vor allen Dingen auf der Wahrheit und Gerechtigkeit beruht, dann aber freilich noch auf anderen Rücksichten, welche der r i c h t e r l i c h e n Cognition entzogen sind. Er ist B e h ö r d e (Staatsbehörde), sofern er entscheidet, ob das öffentliche Recht der Anklage ruhen oder ausgeübt werden soll; er ist P a r t e i , sowie er einmal durch die Erhebung dieser Anklage einen

220

§ 20.

Rückwirkung

auf

Das Princip cler Staats-Anklage.

andere

Gegenstände

pflichtmässiger

Fürsorge

der

Staatsgewalt, unbedingt k e i n R a u m offen b l e i b t , so ist doch nicht zu verkennen, dass diese Frage eine wesentlich staatsrechtliche ist. aus ergiebt sich ein doppeltes: Verhältnisse müssen, und

einen wesentlichen Einfluss

welche die

auf

positive Gesetzgebung

2. class die Beantwortung

Dar-

1. dass die sonstigen staatsrechtlichen

cler Frage

die Entscheidung über in

üben

diese Punkte fällt, clem Sinne cler B e -

schränkung der Staatsgewalt noch nicht nothwendig die weitere Folge nach sich ziehen muss,

class die Staatsgewalt

f ü l l u n g i h r e r so festgestellten Pflicht unter

i n Bezug auf die E r -

die Controle cler Gerichte

gestellt w i r d , u n d class gerade dasjenige Gericht, clas nach dem Grundsatz der Anklageschaft selbst erst durch clas Einschreiten der Organe der

staatlichen Strafverfolgung

m i t einer

bestimmten

Sache

werden soll, berufen sein muss, diese Controle zu handhaben.

befasst —

gerichtlichen Conflict zwischen clem öffentlichen Interesse und dem Angeklagten herbeigeführt hat". Dieser Auffassung der Sache dürfte die Anerkennung nicht zu versagen sein, dass sie unter dem Namen des allerdings leicht zu missdeutenden „ O p p o r t u n i t ä t s p r i n c i p s " die theoretische Rechtfertigung und die geordnete Form für die Berücksichtigung der Opportunitätsfragen bietet, welche, wie unten noch nachgewiesen werden wrird, im Prozess nicht ignorirt werden können. Sie ist allerdings nicht allein geblieben; sie findet ihre Unterstützung bezüglich einzelner Opportunitätsfragen vielfach in französischen Schriftsteilem (vgl. z. B. H é l i e , Instr. §§ 111. 118, I I 255. 385; T r é b u t i e n I I 51), welche die Frage voranstellen, ob clas Delict die öffentliche Ordnung wesentlich berühre und letztere dessen Bestrafung fordere. Im Hauptpunkt scheint sie auch P l a n c k für sich zu haben (Systematische Darstellung S 121). Auch G n e i s t steht auf diesem Boden, wenn er (Vier Fragen S 19) als das richtige Ziel „die Einreihung der Strafverfolgung in clas deutsche Verwaltungsrecht" bezeichnet. Auch U l i m a n n § 54 S 259 ff. und S. M a y e r , Handbuch I I 106 ff. stehen diesem Standpunkt nahe. Allein es wäre nicht möglich, sich cler Täuschung hinzugeben, dass sich diese Ansicht gegenüber dem Widerspruch, den sie (s. die Anführ, in § 16 Anm 13) im deutschen Juristentage und in der Literatur, in letzterer namentlich bei Ho l t z end or ff, S c h w a r z e und H e i n z e gefunden hat, durchzusetzen vermocht hätte. Die Sache ist aber insofern nur von t h e o r e t i s c h e r Bedeutung, als niemand sich der Einsicht verschliesst, class das sog. L e g a l i t ä t s p r i n c i p wichtigen Einschränkungen unterliegen muss (s. unten 223 ff.). Dies ergab sich schon früher aus der Polemik zwischen Freih. v. Gross und mir (s. Kleine Schriften S 539 ff., insbesondere S 544. 545), namentlich aber wird es durch folgende, ausdrücklich gegen mich gerichtete Worte H e i n z e s (GA 1876 S 295) klar: „Sobald man clem Officialprincip diejenigen Erwägungen und Ermässigungen zufügt, ohne welche dasselbe ausarten müsste in eine unpraktische Consequenzmacherei, so zeigt sich, dass kein unversöhnlicher Widerspruch herrscht zwischen dem Strafamt des Staats und der Opportunität. N u r d a r f man die l e t z t e r e n i c h t zur G e l t u n g eines w i r k l i c h e n P r i n c i p s erheben wollen".

§ 20.

Das Princip

er Staats-Anklage.

221

Die deutsche Reichsgesetzgebung hat nun die e r s t e dieser beiden Fragen bestimmt im Sinne des sog. L e g a l i t ä t s p r i n c i p s gelöst, und sie hatte dazu, auch ganz abgesehen von der in der Literatur und in parlamentarischen Körperschaften hervorgetretenen Besorgniss, es könnte die Verwaltung die ihr zuerkannte Berechtigung zur Würdigung der besonderen Umstände einzelner Fälle nicht richtig gebrauchen, noch ganz speciellen Anlass in den Schwierigkeiten, wrelche das Verhältniss der R e i c h s g e s e t z g e b u η g zu der Handhabung des grösseren Theiles der Strafrechtspflege durch die L a n d e s r e g i e r u n g e n und die von diesen bestellten Gerichte und der Umstand mit sich bringt, dass schon früher namentlich in Preussen das A b o l i t i o n s r e c h t in einer Weise geregelt war, welche dasselbe von dem Begnadigungsrecht praktisch loslöste. Die Entscheidung ist in § 152 der StPO in dem Satz gegeben : Die Staatsanwaltschaft „ist, soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlungen einzuschreiten, sofern zureichende thatsächliche Anhaltspunkte vorliegen". Wenn es auch richtig ist, Avas S c h w a r z e 8 sagt, dass auch früher „nicht e i n e Gesetzgebung eine das Opportunitätsprincip direct oder indirect billigende Vorschrift aufgenommen hat", so erkennt er doch selbst an, dass „vielleicht in der Praxis einzelner Länder eine gegentheilige Ansicht nach und nach Raum gewonnen hatte", K e l l e r 9 aber sagt, dass mit Abs. 2 des § 152 „für einen grossen Theil Deutschlands eine Umwälzung in der Stellung der Staatsanwaltschaft dadurch verursacht wurde, dass letzterer die unbedingte Verfolgung aller thatsäehlich genügend klar gestellten straibaren Handlungen zur Pflicht gemacht und die Berücksichtigung von Zweckmässigkeitsgründen für die Strafverfolgung ausgeschlossen ist". — I n Wahrheit liegt der Umschwung in dem scharfen Aussprechen des theoretischen Satzes und in der aus der Entstehungsgeschichte des Textes sowie aus den Motiven hervorgehenden Absieht, clas sog. Legalitätsprincip nicht blos a n z u e r k e n n e n , sondern zu c o d i f i c i r e n 1 0 . Es ist damit ein 8

Bern 3 zu § 152. Bern 5 zu § 152. 10 Die ersten Entwürfe der deutschen Strafprozessordnung hatten die Frage nicht berührt; erst der III. Entwurf brachte den jetzt in Abs. 2 des § 152 enthaltenen Satz, von welchem über dessen Wortlaut hinausgehend die Motive erklären, er stelle die „allgemeine und nur bei den sog. Antragsdelicten eingeschränkte Pflicht des S t a a t e s (das Gesetz spricht von der Staatsanwaltschaft) aus, bei strafbaren Handlungen die Bestrafung des Schuldigen herbeizuführen . . . Es ist dadurch das sog. Legalitätsprincip zur ausdrücklichen Anerkennung gelangt". Dieser theoretische Ausspruch wurde, um S c h w a r z e zu genügen, der nach einer noch 9

222

§ 20.

Das Princip

er Staats-Anklage.

Grundsatz ausgesprochen, der nicht blos das untergeordnete staatsanwaltschaftliche Organ, sondern die Regierung bindet, welche dem Staatsanwalt nicht Verletzung seiner Pflicht auferlegen kann, ohne sich selbst verantwortlich zu machen 11 . Klar ist auch, dass die Absicht bestand, das bis dahin der Staatsanwaltschaft ziemlich allgemein zugesprochene Recht, Handlungen um ihrer Geringfügigkeit oder Unerheblichkeit willen un verfolgt zu lassen, aus der Welt zu schaffen 12 . schärferen Fassung suchte, in der Commission des Reichstags durch die Erklärung der Regierungscommissare verstärkt : dass das Legalitäts- und nicht wie im früheren Entwurf das Opportunitätsprincip gelten solle. Die Bestimmung ward ohne eigentliche Abstimmung angenommen; aber scharfen Widerspruch erhoben G n e i s t und M a r q u a r d s e n ; ersterer warnte, es würde ein grosser Theil des Nutzens der Staatsanwaltschaft dem wohlklingenden Worte „Legalitätsprincip" geopfert, wenn man den Staatsanwalt zwingen wolle, auch in den geringfügigsten Fällen einzuschreiten, wo niemand ein Interesse an der Verfolgung habe. R e i c h e n s ρ erg er erklärte sich für das Legalitätsprincip, warnte aber davor, es auf die Spitze zu treiben ; „solchenfalls würde bei jeder Unterlassung der Verfolgung der Staatsanwalt einer Disciplinaruntersuchung ausgesetzt sein" (Prot S 195—198). Man ist aber schon weiter gegangen und hat auch auf § 346 RStG hingewiesen. — Die theoretische Zuspitzung des Grundsatzes in § 152, welcher beansprucht, a l l e Gründe legislativ aufzuzählen, welche Unterlassung der Verfolgung rechtfertigen, tritt am besten durch den Vergleich mit der österreichischen Strafprozessordnung hervor, welche ebenfalls das Opportunitätsprincip nicht proclamirt, vielmehr im § 34 den Staatsanwälten die Pflicht auferlegt, „alle strafbaren Handlungen, welche zu ihrer Kenntniss kommen . . . zu verfolgen", eine Bestimmung, auf welche von Seiten der Regierung im Herrenhause (Sitz. v. 19. Febr. 1873, K as er er S 410) mit den Worten hingewiesen wurde, es sei nicht beabsichtigt, „Schulfragen in Gesetzen auszutragen", aber beim Bestände dieser Bestimmung könne „von einem freien Ermessen des einzelnen Staatsanwalts, vermöge dessen er aus Opportunitätsgründen eine Verfolgung zu unterlassen vermöchte", nicht gesprochen werden. 11 P u c h e l t Bern 4 Abs. 5 zu § 152 sagt, die Staatsanwaltschaft sei „hierin von Weisungen der Regierungsbehörden unabhängig", nimmt aber sofort die nach dem Gerichtsverfassungsgesetz (§ 148 Ν 1 u. 2) zur Leitung der Staatsanwaltschaft berufenen Behörden (den Reichskanzler und die Landesjustizverwaltung) aus, doch wohl die einzigen „Regierungsbehörden", welche überhaupt der Staatsanwaltschaft Weisungen ertheilen können. Andererseits schweigt P u c h e l t über die \rorgesetzten innerhalb des Organismus der Staatsanwaltschaft, während G e y e r , Lehrbuch § 95 II, gerade das Leitungsrecht der Ministerien „mit dem Legalitätsprincip unvereinbar" findet. Siehe dagegen L ö w e Bern 8 zu § 152, der mit Recht sagt, die Beamten der Staatsanwaltschaft seien an die Weisungen ihrer Vorgesetzten in allem gebunden, was nicht gegen Aufträge der Gerichte verstösst, denen sie Folge zu leisten haben. Die \rorgesetzten seien zu derselben B e u r t h e i l u n g berechtigt, wie die Untergebenen, aber auch an die gleichen Normen gebunden, wie diese ; und ihr Auftrag zur Nichterhebung der Anklage befreie den Staatsanwalt von der Verantwortung, welche auf sie selbst übergeht. Vgl. auch P l a n c k , Syst. Darstellung S 32. 12 Dies ist der Punkt, der in der Commission beiderseits ausdrücklich besprochen wurde ; auch L ö w e Bern 4 a sagt, dass es sich insbesondere darum handle. —

§ 20.

223

Das Princip cler Staats-Anklage.

Als p o s i t i v e r I n h a l t des § 152 Abs. 2 stellt sich also der Satz dar, dass die Staatsanwaltschaft einzuschreiten hat, sobald „zureichende thatsächliche Anhaltspunkte vorliegen"

für die A n n a h m e ,

es sei eine

strafbare Handlung, die verfolgbar ist, d. h. deren Verfolgbarkeit

nicht

ausgeschlossen oder einem gesetzlichen Hinderniss unterworfen ist, begangen.

Das Gesetz selbst weist übrigens schon auf Ausnahmen hin,

und es ergiebt sich aus dem W o r t l a u t desselben, wie aus clen bei cler Berathung abgegebenen E r k l ä r u n g e n ,

dass

nicht blos Reichsgesetze

solche Ausnahme statuiren können, sondern auch Landesgesetze bezüglich cler Verfahrensarten, die sie überhaupt regeln dürfen.

D i e wichtigste

reichsgesetzliche Ausnahme betrifft clie n u r auf A n t r a g zu verfolgenden Körperverletzungen u n d Beleidigungen (§ 416 RStPO) u n d diejenigen D e l i c t e , welche i m Auslände begangen s i n d , soweit deren Verfolgung i m Inlande nicht obligatorisch angeordnet i s t 1 3 .

D i e wichtigste oder

doch umfassendste Ausnahme von cler objectiven G e l t u n g des Legalitätsprincips begründet clie Beschränkung der Regel des § 152 Abs. 2 auf Die Geringfügigkeit eines Straffalles, namentlich cler Umstand, dass derselbe voraussichtlich auf die Bestrafung des Beschuldigten keinen erheblichen Einfluss üben dürfte, berechtigt übrigens das G e r i c h t , unter den im § 208 StPO gemachten Voraussetzungen, das Strafverfahren in Ansehung eines solchen vorläufig einzustellen ; der Antrag hierauf ist in das Ermessen der Staatsanwaltschaft gestellt, ebenso wie diese die Aufhebung dieser Einstellung nach ihrem Ermessen — binnen der nächsten drei Monate — zu beantragen berechtigt ist. Das gilt von wider dieselbe Person zusammentreffenden Anschuldigungen, welche den Gegenstand desselben Vorverfahrens gebildet haben; und es liegt daher die Frage wenigstens nahe, ob die Staatsanwaltschaft solche Handlungen, bezüglich welcher sie einen so beschaffenen Einstellungsbeschluss zu gewärtigen hat, zum Gegenstand cles \rorverfahrens machen müsse oder sie unverfolgt lassen dürfe? Eine Frage, die man trotz des § 152 zu bejahen geneigt wäre, wäre nicht gerade bei Berathung des § 208 ausdrücklich betont worden, dass auch im Scrutinialverfahren der Staatsanwalt die Verfolgung nicht aus Xützlichkeitsgründen aufgeben dürfe ( T h i l o ) , und hätte nicht auch der Regierungsvertreter gesagt, es handle sich nur darum, das „erkennende Gericht" mit unwesentlichem nicht zu belasten (Prot S 328). Es wird daher auch namentlich von L ö w e Bern 2 zu § 208 nachgewiesen, dass die Staatsanwaltschaft nichts anderes thun könne, als die Handlungen, bezüglich welcher die Einstellung wünschenswerth scheint, in die Anklageschrift aufzunehmen, auch wenn sie nur Gegenstand des Vorbereitungsverfahrens waren, bezw. sie in dieses einzubeziehen. Die Art und Weise, wie eine analoge Vorsorge in der österreichischen Strafprozessordnung (§§ 56. 57 u. 263) getroffen ist, lässt keinen Zweifel daran, dass hier die Beantwortung d i e s e r Opportunitätsfrage der Staatsanwaltschaft anheimgestellt ist. 13 Siehe darüber L ö w e Bern 5 b zu § 152. — Die nur scheinbare Ausnahme, welche § 208 StPO bewirkt, ist bereits erwähnt. Die Vorschrift des § 464 giebt der Staatsanwaltschaft nicht das Recht, das Einschreiten aus Opportunitätsgründen abzulehnen (Löwe Bern 3 a daselbst). Eben so wenig kommen hier die Bestimmungen über clas Verfahren gegen Abwesende in Betracht.

224

§ 20.

Das Princip

die S t a a t s a n w a l t s c h a f t Handlungen;

u n d auf

denn daraus ergiebt

B e s t i m m u n g auf H a n d l u n g e n , polizeilicher Strafverfügimg"

er Staats-Anklage.

gerichtlich

sich

zu

verfolgende

die Unanwendbarkeit

welche erst

nach

jener

„vorausgegangener

an die Gerichte u n d Staatsanwaltschaften

herantreten. D i e B e s t i m m u n g des § 152 Abs. 2 erfährt

aber

auch eine ein-

schränkende Auslegung insofern, als der Staatsanwaltschaft das Recht gewahrt w i r d , sich von Rücksichten p r o z e s s u a l e r l e i t e n zu lassen.

Zweckmässigkeit

Sieht m a n nämlich ab von dem Versuche,

grenzung der Aufgabe

die A b -

des Gerichts u n d der Staatsanwaltschaft

aus

dem Recht der Staatsverwaltung abzuleiten, nach ihrem pflichtmässigen aber nicht vom Gericht zu controlirenden Ermessen über

die Straf-

verfolgung zu verfügen, so muss auf die verschiedenen Gründe, welche dafür sprechen, einen Strafprozess zu unterlassen oder i h n nicht weiter gehen zu l a s s e n 1 4 , 14

näher

eingegangen werden.

1. E i n T h e i l

dieser

Neben den strict richterlichen Erwägungen, welche dahin führen müssen, dass die Strafverfolgung überall eintreten muss, wo sie rechtlich eintreten k a n n , dass sie also nur unterbleiben darf, wo bereits feststeht, dass sie unterbleiben müsse, hat man stets auch Erwägungen der Zweckmässigkeit gelten lassen, welche auf der Vergleichung der sicheren Nachtheile eines zu unternehmenden Schrittes mit der Wahrscheinlichkeit und Bedeutung der davon zu erwartenden Förderung der Zwecke der Strafrechtspflege beruhen. Eine Zusammenstellung solcher von Verfechtern des Legalitätsprincips anerkannter Erwägungen habe ich (mit den Worten und den einschränkenden Gegenbemerkungen des Freih. v. Gross) unternommen i. d. Strafrechtspflege IV 29 ft'., auch Kleine Schriften S 542 ff. Später hat S u n d e l i n , GS 1852 S 355 ff., die „praktischen Fälle, avo das . . . Einschreiten der Staatsanwaltschaft aus Nützlichkeitsgründen unterbleiben kann", zu sammeln unternommen, ein Versuch, den S. M a y e r (Handbuch I I Bern 11 u. 12 zu § 30) ergänzend und kritisirend reproducirt. Unerwähnt sollen hier diejenigen Erwägungen bleiben, welche § 152 Abs. 2 StPO unzweifelhaft beseitigt, also namentlich auch die Berücksichtigung der „Unerheblichkeit" des Delictes unter den Umständen, unter denen es begangen ist. Ausserdem werden folgende Fälle erwähnt: 1. dass die Anzeige „unglaubwürdig oder durch Beweismittel nicht gehörig unterstützt" erscheint, wobei natürlich angenommen werden muss, dass der Staatsanwalt „von vornherein guten Grund hat, die Anzeige für unglaubwürdig zu halten" ( G r o s s ) ; allerdings meint M a y e r S 108 f., das sei gerade eine Folgerung aus dem Legalitätsprincip ; in seiner Strictheit aufgefasst, ermächtigt dieses aber nicht, auf blosse subjective Ansichten hin eine Anzeige bei Seite zu legen, ohne dass Schritte geschehen sind, die Grundlosigkeit der Anzeige zu erproben. 2. Rücksicht auf Festhaltung des richtigen Verhältnisses zwischen den „aufzuwendenden Mühen und Kosten und dem zu erzielenden Resultat" ( G r o s s ) ; S u n d e l i n führt das Beispiel an, dass ein sehr geringfügiges Delict nur durch ein mühsames und kostspieliges Experiment zu erproben ist. 3. Die „Taktik der Prozessführung" nöthigt den Staatsanwalt, „über Art und Zeit seines Angriffs nach prozessualischen Zweckmässigkeitsrücksichten Beschluss zu fassen" ( G r o s s ) ; sicher kann man auch den Wegfall geringfügiger Anklagen und solcher Er-

§ 20.

Das Princip

225

er Staats-Anklage.

Gründe liegt i n cler Meinung, die sieh die Staatsverwaltung oder ihre Organe bilden k ö n n e n : einer V e r u r t h e i l u n g

es seien zwar alle gesetzlichen Bedingungen

einer bestimmten Person wegen einer strafbaren

Handlung e r f ü l l t , es sei aber u n b i l l i g ,

unzweckmässig oder doch u n -

nöthig, diese Bestrafung i m gegebenen F a l l e eintreten zu lassen. wägungen

dieser

Art

hat

§

152

sichtigung ausgeschlossen. gegen unzweifelhaft werden muss;

wo clie

deutlich v o r l i e g t , dürfen.

solcher A r t , wird

Abs.

2

von

jeder

Er-

Berück-

2. E i n T h e i l j e n e r Gründe ist dadass er v o m Richter berücksichtigt

rechtliche

Unzulässigkeit

cler Staatsanwalt

cler

Verurtheilung

auf diese nicht

3. A l l e i n cler Richter soll u n d k a n n sich

hinwirken

eine M e i n u n g

erst

auf Gruncl u n d am Schluss cler V e r h a n d l u n g bilden u n d k a n n namentlich einen endgiltigen Ausspruch

nicht

auf G r u n d blosser Muthmaassung

über die zu gewärtigenden Ergebnisse einer V e r h a n d l u n g fällen; dies zumuthen b r i n g t i h n i m m e r

i n eine schiefe Lage.

ihm

Dagegen ist

schwerungsumstände hielier rechnen, die voraussichtlich keinen Einfluss auf die Strafe üben (s. Anm 12) ; hieher gehören ferner collidirende P r ο ζ e s s i η t e r e s s e η , wie sie sich ζ. B. in England bei der Auswahl der sog. Königszeugen geltend machen. 4. Persönliche Verhältnisse des \7erdäclitigen, wrelche schon mit der Einleitung des Strafprozesses ungewöhnlich schwere Nachtheile verbinden (ζ. B. schwere Krankheit, Gefahr einer Geisteskrankheit, hohes Greisenalter, Erschütterung einer öffentlichen Stellung, wie der eines Parlamentsmitgliedes, bezüglich dessen die Ermächtigung zur Verfolgung einzuholen ist), wobei sicher die Pflicht zu erhöhter Strenge bei Prüfung des schon vorliegenden und des ohne Aufsehen zu beschaffenden Beweismaterials begründet ist. 5. Nachtheilige Rückwirkung des Strafprozesses auf die durch denselben zu schützenden Verhältnisse, ζ. B. wenn der durch ein Delict verletzte Friede der Familie durch dessen Verfolgung unwiederbringlich verloren ginge, u. (lgl. 6. Voraussichtliche Unmöglichkeit des Strafvollzuges. — Vielleicht tritt aber der Umfang der von Gegnern des sog. Opportunitätsprineips für nothwendig erkannten Einschränkungen am besten bei I l e i n z e hervor. Dieser betont die Kegel gewiss scharf genug, wenn er GA 1876 S 276 sagt: „Die Initiative des Staates bei der Strafverfolgung bedeutet 1. Verpflichtung, alles aufzubieten, um alle der Strafgewalt des Staates unterworfenen Verbrechen unci deren Thäter zu ermitteln. 2. Verpflichtung, alles daran zu setzen, um alle Erkenntnissmittel, durch deren Benutzung Aufschluss über erhebliche Thatsaehen erlangt werden kann, ausfindig zu machen. 3. Verpflichtung, in jedem Fall, in welchem hiernach clas Strafrecht des Staates begründet erscheint, Verfolgung eintreten zu lassen" . . . Dagegen kann man aber doch auch bei ihm den Vorbehalt lesen (S 292 ff.), „dass nicht blos um des Princips willen ein \^erfahren eingeleitet oder fortgesetzt wird oder Maassregeln ergriffen werden, welche den Zwecken der Strafrechtspflege eine Förderung überhaupt nicht versprechen", wobei er allerdings zunächst die voraussichtlich erfolglosen Schritte vor Augen hat, aber auch erkennt, dass praktisch genommen hiemit auch solche zusammenfallen, wo „ein positiver Erfolg nicht schlechthin ausgeschlossen erscheint, sondern nur mehr oder weniger unwahrscheinlich ist". Binding, Handbuch. IX. 4. I : G l a s e r , Strafprozess. I .

lo

226

§ 20.

Das Princip

er Staats-Anklage.

die Anstellung eines solchen Probabilitätscalciils gewöhnlich im Interesse der Partei gelegen, und eben deshalb hat man das Vorhandensein eines Vertreters des öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung stets dazu benutzt, diesem jene vorläufige Beurtheilung zur Pflicht zu machen, um zu verhindern, dass mit zwar nicht grund- aber aussichtslosen Verfolgungen die Privaten belästigt, die Gerichte nutzlos angestrengt werden. Indessen die Abgrenzung dieser d r i t t e n Gruppe von Gründen der Unterlassung der Strafverfolgung von der z w e i t e n ist nicht leicht, weil eben die Linie nicht bezeichnet werden kann, bei welcher die Wahrscheinlichkeit in Gewissheit übergeht; und die Erkenntniss dieses Unistandes brachte den Ausdruck „zureichende thatsächliche Anhaltspunkte" in den § 152 Abs. 2, einen Ausdruck, der um so unbestimmter klingt, weil er nicht sagt, wozu die „Anhaltspunkte" zureichen sollen. Hieraus ergiebt sich, dass es Sache der Staatsanwaltschaft ist, von Fall zu Fall pflichtmässig in Erwägung zu ziehen, ob ausreichende positive Gründe vorhanden sind, um anzunehmen, dass die im gegebenen Augenblick ihr bereits „vorliegenden Anhaltspunkte", zweckmässig weiter verfolgt, ein Ergebniss erwarten lassen, welches eine Verurtheilung wahrscheinlich machen würde 1 5 . Ferner wird an die „zureichenden thatsächlichen Anhaltspunkte" ein relativer Maassstab anzulegen sein, wenn das gegenseitige Verhältniss mit einander collidirender Anklagen zu würdigen ist. Die Staatsanwaltschaft mag später mit früheren Anträgen in Widerspruch gerathen; sie darf aber nicht neben einander Beschuldigungen erheben, die mit einander nicht in Einklang stehen, und sie darf es um so weniger, wenn das Gesetz ihr es möglich macht, der Erhebung der öffentlichen Klage Ermitte1Γ)

Hieran denkt wohl G e y e r , wenn er Lehrbuch § 95 I I I sagt, die im Gesetz ausdrücklich gemachten Ausnahmen „mögen unbedeutend erscheinen gegenüber der Erwägung, dass das Legalitätsprincip in der Ausführung doch sich dem Opportunitätsprincip nähert". Besonders scharf aber betont L ö w e Bern 6 zu § 152 die \Terscliiedenheit der Frage, „ob die Erhebung einer begründeten Klage unterbleiben dürfe", welche Frage durch § 152 Abs. 2 ausgeschlossen sei, von der andern, „ob sie sich mit Aussicht auf Erfolg erheben lasse". Von letzterer meint L ö w e , sie stehe mit dem Gegensatz des Legalitäts- und Opportunitätsprincips in gar keiner Beziehung; dennoch muss er beifügen, sie werde „in vielen Fällen zweifelhaft sein, und es versteht sich, dass bei ilu-er Beantwortung das E r m e s s e n der Staatsanwaltschaft Platz greifen muss, da es nicht die Aufgabe der letzteren sein kann, unbegründete oder doch voraussichtlich erfolglose Klagen zu erheben. Auch bei dieser Frage kann es sich um Zweckmässigkeitsrücksichten handeln; es kann ζ. B. unter Umständen zweckmässig sein, trotz der bei der Staatsanwaltschaft vorhandenen Ueberzeugung von der Schuld des Verdächtigen wegen der Schwäche des Beweises und der voraussichtlichen Erfolglosigkeit der Klage die Erhebung der letzteren einstweilen zu unterlassen und das Auffinden weiterer Beweise abzuwarten" . . . .

20.

Das Princip

er Staats-Ankage.

227

lungen vorausgehen zu lassen. Mag also der Verdacht einer strafbaren Handlung sich zwischen A und Β theilen, so wird doch die Staatsanwaltschaft sich durch das Vorhandensein „zureichender thatsächlicher Anhaltspunkte" nicht bestimmen lassen dürfen, neben demjenigen, den sie für schuldig hält, auch denjenigen, dessen Schuld hiemit unvereinbar wäre und den sie eben deshalb für unschuldig hält, zu verfolgen. I I I . Auch wenn die unzweifelhafte P f l i c h t der Staatsgewalt zur Handhabung des Strafgesetzes im Sinne des Legalitätsprincips als eine solche bezeichnet wird, die keine im Gesetze nicht ausdrücklich zugelassene Ausnahme gestattet , entsteht noch die zweite, oben aufgeworfene Frage nach der A r t d e r S i c h e r u n g i h r e r E r f ü l l u n g . Sucht man nach einer nicht blos administrativen und staatsrechtlichen, sondern p r o z e s s u a l e n Gewähr dafür, so erscheint als das consequenteste, dass man der staatlichen I n i t i a t i v e jede n e g a t i v e Bedeutung gegenüber dem Gericht abspricht. An sich hat nämlich dieses Recht zwei Seiten : die Staatsgewalt kann durch ihr Organ, die Staatsanwaltschaft, das Strafgericht in Bewegung setzen (positive Seite 4er Initiative); das Gericht kann n u r durch dieses Begehren in Bewegung gesetzt werden (negative Seite). Lässt man letztere nicht gelten, so legt man die (positive) Initiative der Staatsanwaltschaft u n d dem Gericht in die Hände, wie dies durchgreifend die österreichische StPO von 1853 gethan hatte, und wenigstens dem Princip nach, für Ausnahmefälle, das französische Recht insofern thut, als es dem Appellhof das Recht giebt, die Einleitung eines Strafprozesses anzuordnen 16 . Die d e u t s c h e StPO §§ 151, 152 Abs. 1 wie die ö s t e r r e i c h i s c h e §§ 2, 92, 267 halten jedoch auch an der n e g a t i v e n Seite der Initiative der Staatsanwaltschaft fest. Das hierin liegende sog. Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft erleidet jedoch eine Einschränkung durch die Zulassung einer Einflussnahme des durch die strafbare Handlung verletzten auf die Eröffnung des Strafverfahrens 17 . 16 Art. 11 des Decrets v. 20. April 1810; eine analoge Bestimmung war in den Entwurf der deutschen StPO durch Beschluss der Commission (Prot S 198 ff.) aufgenommen, ist aber später wieder fallen gelassen worden. 17 Siehe die Literaturangaben oben § 16 Anm 13, s. ferner Mot zum Entw der deutschen StPO S 222 if. und die Anlage 4 zu ebendemselben ( H a h n S 422 if.); b a d i s c h e StPO von 1864 § 61 ( A m m a n n S 90. 91); b a i r i s c h e r Entw von 1870 § 98. Die b r a u n s c h w e i g i s c h e StPO § 4, die w ü r t t e m b e r g i s c h e StPO von 1868 Art. 75 (s. B i e r e r , StPO v. 17. April 1868 S 64 if.) lassen das Gericht einen (richterlichen) Beamten mit den Functionen des die Verfolgung ablehnenden Staatsanwalts betrauen; die h a m b u r g i s c h e StPO von 1869 § 14 überträgt die Bestellung eines Staatsanwalts ad hoc dem Senat, 15*

228

§ 20.

Das Princip

er Staats-Anklage.

I m Princip auch hierin mit einander übereinstimmend, schlagen aber die beiden Strafprozessordnungen bei der Durchführung cles Gedankens zwei ganz verschiedene Wege ein. Die ö s t e r r e i c h i s c h e Strafprozessordnung, welche, da sie den Adhäsionsprozess zulässt, dein Beschädigten ohnehin eine geregelte Stellung im Strafprozess gewährt, erweitert die hieraus folgenden Rechte dadurch, dass sie ihm gestattet (§§ 48, 49), „statt des Staatsanwaltes die öffentliche Anklage zu erheben und durchzuführen" ( s u b s i d i ä r e P r i v a t a n k l a g e ) , im Fall die Staatsanwaltschaft die Verfolgung ablehnt oder aufgiebt : wobei er im wesentlichen nur insofern dem Staatsanwalt gegenüber beschränkt ist, als es zur Einleitung der Voruntersuchung auf seinen Antrag eines Beschlusses cler Rathskammer bedarf, eine unmittelbare Erhebung der Anklage nicht zulässig ist, und als ihm gegen freisprechende oder die Haft aufhebende Beschlüsse oder Entscheidungen kein Rechtsmittel offen steht. Dagegen hatte schon cler Entwurf der deutschen Strafprozessordnung clie subsidiäre Privatklage nur in sehr beschränktem Umfange aufgenommen, nämlich nur bei Antragsdelicten und nur zu Gunsten cles Verletzten. Die Justizconnnission des Reichstages beschloss aber die völlige Beseitigung cler subsidiären Privatklage und suchte clas Gegengewicht gegen clas sog. Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft in cler Unterstellung der Staatsanwaltschaft unter die clie Erhebung der öffentlichen Klage anordnenden Weisungen der Gerichte. Nach lebhaftem Widerspruch cler Regierung gegen solche Verleugnung des Grundgedankens des modernen Strafprozesses gingen aus einem Compromise clie §§ 169—175 cler StPO hervor. Hienach hat die Staatsanwaltschaft, wenn sie dem Antrag auf Erhebung cler öffentlichen Klage keine Folge giebt, „den Antragsteller unter Angabe der Gründe zu bescheiden". „ I s t cler A n t r a g s t e l l e r z u g l e i c h d e r V e r l e t z t e " , so kann er, nachdem cler Weg der Beschwerde an den vorgesetzten Beamten vergebens betreten ist, binnen einem Monat auf gerichtliche Entscheidung antragen. Diese Entscheidung kommt dem Oberlandesgericht, soweit nicht ohnehin clas Reichsgericht zuständig ist, zu. Das Gericht „kann" von cler Staatsanwaltschaft Mittheilung der „bisher von ihr geführten Verhandlungen" verlangen, dem Beschuldigten Gelegenheit zur Erklärung geben, endlich selbst zur Vorbereitung seiner Entscheidung Ermittelungen anordnen, und beschliesst dann entweder „die Erhebung cler öffentlichen Klage", deren Durehwährend § 111 der b r e m i s c h e n StPO von 1870 es dem Staatsanwalt überlässt, bei seiner vorgesetzten Behörde die Bestellung eines Stellvertreters für diese Strafsache zu veranlassen. — U l i m a n n § 54 S 263 ff. S. M a y e r , Handbuch I 400 ff. I I bei § 47. F. v. L i s z t im GS 1876 S 187 ff.

§ 20.

Das Princip

er Staats-Anklage.

229

führung der Staatsanwaltschaft obliegt, oder falls sich hiezu „kein genügender Anlass" ergiebt, die Verwerfung des Antrages. Letztere hat zur Folge, dass die öffentliche Klage nur auf Grund neuer Thatsaehen oder Beweismittel erhoben werden kann. Zum Schutz gegen Missbrauch sollen dienen : 1. Der dem Antragsteller auferlegte Anwaltszwang; 2. die Versagung des Armenrechts (ergiebt sich aus den Verhandlungen des Reichstages); 3. die schon angeführten Fristbegrenzungen, wobei aber wohl beachtet werden muss, dass clen ersten Antrag an die Staatsanwaltschaft jedermann stellen, cler Verletzte sich also die Frist beliebig offen halten kann ; 4. die Sicherheitsleistung „für die durch clas Verfahren über clen Antrag unci durch die Untersuchung cler Staatskasse und dem Beschuldigten voraussichtlich erwachsenden Kosten", welche dem Antragsteller auferlegt werden können. Wird die Sicherheit binnen der bestimmten Frist nicht geleistet, so ist der Antrag für zurückgenommen zu erklären, woraus folgt, class diese Zurücknahme überhaupt (bis zur Entscheidung) zulässig ist. Die Verschiedenheit der beiden Einrichtungen ist allerdings gross. Das d e u t s c h e Recht hält das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft formell aufrecht, und die öffentliche Anklage ruht hier immer nur in cler Hand der Staatsanwaltschaft; die Abweichung von cler Regel, welche hier eintritt, beschränkt sich darauf, dass einerseits dem Beschädigten das Recht, in den Strafprozess einzugreifen, ausnahmsweise gewährt wird, andererseits der Staatsanwaltschaft die Ergreifung cler Initiative von einem Gericht aufgetragen werden kann, eine Anomalie, die dadurch vermindert wird, dass dies nicht cler einzige Fall ist, wo die Staatsanwaltschaft eine Verfolgung durchzuführen hat, die nicht von ihr ausgeht (siehe § 206 RStPO), und class hier wenigstens nicht d a s s e l b e Gericht, vor welchem clie Anklage erhoben werden soll, diese Erhebung anordnet. — Die ö s t e r r e i c h i s c h e Strafprozessordnung k o n n t e diesen Weg nicht gehen, weil in ihr clie Ausübung des Rechts cler Strafverfolgung sich nicht blos in cler Initiative, sondern in der ganzen Führung des Prozesses äussern muss, cler sofort ein Elicle erreicht, wenn kein Ankläger activ einschreitet, und sie b r a u c h t e ihn nicht einzuschlagen, weil sie, die Stellung der „partie civile" im französischen Strafprozess vor Augen, dem Beschädigten, welcher sich dem Strafverfahren als „Privatbetheiligter" anschliesst, auch neben cler einschreitenden Staatsanwaltschaft eine Reihe von Prozessrechten zuerkennt 1S . Beide Einrichtungen, wie verschieden sie auch sonst 18 § 27 das. Dort lieisst es: „Dem Privatbeteiligten stehen folgende Rechte zu: 1. Er kann dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter alles an die Hand

230

§ 20.

sein m ö g e n ,

treffen

Das Princip

aber doch

er Staats-Anklage.

darin zusammen,

dass sie auf

der

A n e r k e n n u n g eines besonderen rechtlichen Interesse des durch ein D e l i c t verletzten an der Strafverfolgung beruhen, Strafprozessordnung,

indem sie jedem Denuncianten

Bescheidung durch Vorberathung klage

während die deutsche

die Staatsanwaltschaft g i e b t ,

schon so stark hervorgetretenen

ein k l e i n e s ,

aber principiell

das Recht

der während

Iclee der

bedeutungsvolles

auf ihrer

Popular-

Zugeständniss

macht. IV.

D i e Kehrseite des

geleiteten Rechtes

aus dem Recht

der I n i t i a t i v e

Strafverfolgung, des R ü c k t r i t t e s hat

der Strafverfolgung

ist das Recht

der xVufgebung

v o n cler V e r f o l g u n g .

m a n sich dem naheliegenden Gedanken hingegeben,

Schritte n u r Manifestationen desselben Rechtes seien. und

die Pflicht h a t ,

Gründe

dafür

kommen, Gründe

die Verfolgung

sprechen,

W e r das Recht wenn

ferneren T h ä t i g k e i t 1 9 .

u n d k a n n clas Gericht n u r

cler letzteren

gewisse zuzu-

sobald i h m nachträglich solche durch eine v o n

aussen kommende I n i t i a t i v e i n Bewegung gesetzt w e r d e n , m i t cler Zurücknahme

Vielfach dass beide

dem scheint auch Recht u n d Pflicht

dieselbe nicht fortzusetzen,

entgegentreten,

zu unterlassen,

abder

so entfällt

clie rechtliche Grundlage

seiner

D i e Frage hat m i t dem Legalitätsprincip inso-

geben, was zur Ueberweisung des Beschuldigten oder zur Begründung des Entschädigungsanspruches dienlich ist. 2. Er kann von den Akten, und zwar, falls nicht besondere Gründe entgegenstehen, schon während der Vorerhebungen und der Voruntersuchung, Einsicht nehmen. 3. Zur Hauptverhandlung wird der Privatbetheiligte mit dem Beisatze geladen, dass im Falle seines Nichterscheinens die Verhandlung dennoch vor sich gehen werde, und dass seine Anträge aus den Akten vorgelesen werden würden. Er kann an den Angeklagten, an Zeugen und Sachverständige Fragen stellen oder, um andere Bemerkungen zu machen, schon während der Verhandlung das Wort erhalten. Am Schlüsse der Verhandlung erhält er unmittelbar, nachdem der Staatsanwalt seinen Schlussantrag gestellt und begründet hat, das Wort, um seine Ansprüche auszuführen und zu begründen und diejenigen Anträge zu stellen, über die er im Haupterkenntnisse mitentschieden haben will". 19 Siehe namentlich die umfassende Besprechung des Standes der Gesetzgebung in dieser Frage bei Ca s o r a t i , Processo penale c. IV ρ 189—224. Casorati bekämpft mit warmen Worten die französische Theorie, welche dem Staatsanwalt den Rücktritt von der Anklage verwehrt; doch macht er selbst Halt, sobald die Hauptverhandlung begonnen hat. Sein Hauptmotiv scheint zu sein, dass dem Angeklagten die blos formell begründete Freisprechung nicht gleich viel wiegen könne, wie die sachlich begründete (vgl. unten Anm 22 die bezüglichen Erörterungen in der deutschen Literatur), und deshalb sieht er darin eine Ueberspannung des Anklageprincips. Wenn aber auch in dieser Frage das Princip, wie siclis gebührt, voranstellt, so handelt es sich doch um eine eminent praktische Frage, für deren Lösung im Sinne des freien Rücktritts, wenn nur nicht principielle Gründe dagegen sprechen, sich manches vorbringen lässt. Zunächst geräth derjenige, welcher den:

§ 20.

Das Princip

er Staats-Anklage.

231

fern nichts zu t h u n 2 0 , als selbstverständlich nur d i e s e l b e n Gründe, welche die Nichtergreifung der Initiative seitens der Staatsanwaltschaft rechtfertigen, zu ihrer Zurücknahme berechtigen können; wohl aber hängt sie mit dem Fundainentaleleniente des Anklagegrundsatzes zusammen, class der Richter nicht der thatsächliche Träger cler Anklage sein soll. Es muss anerkannt werden, dass selbst in E n g l a n d — Rücktritt bis zur Hauptverhandlung zulässt, aber nicht mehr nach Beginn derselben, mit sich selbst in Widerspruch und es entstehen schwierige Differenzen für den Fall, wo die Hauptverhandlung aus irgend einem Grunde abgebrochen werden musste (s. P l a n c k , Systematische Darstellung S 128). In der Hauptverhandlung können sehr leicht Fälle eintreten, wo die Möglichkeit des Rücktritts von der Anklage sich als eine wahre Wohlthat für alle, besonders für den Angeklagten erweist. Man muss auch hier von der Betrachtung ausgehen, dass der Richter mit seinem Urtheil erst am Schluss der Verhandlung hervortreten darf; nur der englische Richter hält sich für berechtigt, sowie er erkennt, dass die Anklage nicht haltbar ist, s o f o r t die Jury zur Freisprechung anzuweisen ( G l a s e r , Anklage u. s. w. S 313 if.). Dieses Zusammenbrechen kann aber auch auf dem Continent zu einer Zeit klar werden, wo trotzdem noch eine zeitraubende Verhandlung bevorsteht; man denke ζ. B. an eine Anklage wegen Giftmordes oder wegen Fälschung, wobei die Thäterscliaft durch einen sehr complicirten Indicienheweis hergestellt werden soll; wenn da die Sachverständigen bezüglich der Tliatsache der Vergiftung oder der Verfälschung zu Ungunsten der Anklage aussagen, erweist sich alles übrige als überflüssig. Dasselbe kann eintreten, wenn in der Hauptverhandlung ein früher gar nicht angedeutetes Alibi unzweifelhaft festgestellt wurde; wenn bei einer Anklage wegen Diebstahls sich zeigt, dass die Sache nur irrig vermisst wurde; wenn ein Zeuge sichtlich von Reue ergriffen, sich als Thäter des Delictes bekennt, dessen ein anderer angeklagt ist u. dgl. m. Nichts kann in solchen Fällen eine glänzendere Genugthuung dem Angeklagten gewähren, als die offene Erklärung des Anklägers, dass die Anklage eine irrige war und unhaltbar sei. In minder scharf hervortretenden Fällen kann es, wenn der Ankläger erkennt, dass eine Tliatsache festgestellt sei, welche die Strafbarkeit oder Strafverfolgung unzweifelhaft ausschliesst, nicht blos zur Vermeidung unnöthiger Belästigung für Gericht, Parteien und Zeugen führen, dass der Ankläger sofort die Anklage aufgiebt, sondern eine wahre Wohlthat für den Angeklagten werden. Besonders tritt dies bei Verhandlungen hervor, welche viele Angeklagte und viele Anklagepunkte umfassen; hier ist es eine furchtbare Härte, wenn der schliesslich freizusprechende etwa noch durch eine Woche und länger über sein Schicksal im ungewissen bleibt, die Aufregungen, Mühen und Kosten der Verhandlung noch weiter zu tragen hat, die ihm erspart werden können. In solchen Fällen sichert auch die definitive Ausscheidung einzelner Anklagepunkte in wünschenswerther Weise die sorgsame Prüfung und Beurtheilung der übrigen. 20 Dies erkennt auch H e i n z e an, der dem Staate clas Recht der Disposition über die Anklage so entschieden abspricht, selbst wegen der Geringfügigkeit der bevorstehenden Strafe einen Verzicht auf die Strafverfolgung nicht zulässt, dennoch aber hinzufügt, GA 1876 S 296: „Dagegen ist es nur consequent, aus clen gleichen Gründen, aus denen die Initiative des gerichtlichen Strafverfahrens unterbleiben darf, auch die Einstellung dieses Verfahrens anstatt der vollständigen formellen Durchführung zu gestatten" . . . .

232

§ 20.

Das Princip

er Staats-Anklage.

i m Gegensatz zu S c h o t t l a n d — diese Consequenz nicht m i t voller Schärfe gezogen i s t 2 1 . — Dagegen

ist

im

französischen

Rechte

der Grundsatz zur G e l t u n g gebracht, dass die einmal von der Staatsanwaltschaft

(durch A n t r a g auf E i n l e i t u n g

unmittelbare Ladung)

ergriffene I n i t i a t i v e

der Voruntersuchung oder die Strafsache

die Hancl des Gerichtes legt (le t r i b u n a l wieder

entzogen

refonnirten

werden

deutschen

kann.

Dieses

Strafprozess

est saisi), System

Eingang

waren vereinzelt u n d nicht d u r c h g r e i f e n d 2 2 .

endgiltig

dem sie

hatte auch i n

gefunden ;

in

nicht den

Ausnahmen

D i e österreichische StPO

21 S. oben § 14 II. Nichtsdestoweniger kann man sich bei der Construction des englischen Strafprozesses eine Hauptverhandlung unter Intervention eines pass i v e n Anklägers so wenig denken, als es möglich wäre, dass der Richter die Unterlassungen des Anklägers gut macht. Bringt dieser keine Beweise vor, so muss der Angeklagte freigesprochen werden. Mit Recht sagt daher S t e p h e n , General view ch. Υ ρ 159, der die Anklage vertretende Anwalt habe vermöge der Procedurform fast eine freiere Verfügung über den Fall als im Civilprozess ; unter den Gegenständen, über die er völlig frei verfügt (absolute discretion), hebt Stephen ausser der Beschaffung des Beweismaterials hervor: die Auswahl unter mehreren gegen dieselbe Person zu erhebenden Anschuldigungen. In anderen Fällen halte sich der Richter regelmässig an dessen Ansicht; „z. B. wenn der Advocat der Anklage die Zulassung eines Beschuldigten (prisoner) als Königszeugen beantragt oder erklärt, dass er es angemessen finde, für eine bestimmte Anklage keinen Beweis vorzubringen, wird ihm in der Regel gestattet, nach seinem Ermessen zu handeln. In these and other important particulars lie is practically d o m i n u s l i t i s " . 22 Nach der braunscliweigischen StPO §§ 49 u. 99 konnte der Ankläger die Anklage erst dann nicht mehr zurücknehmen oder fallen lassen, wenn die Eröffnung des Hauptverfahrens (Versetzung in den Anklagestand) erfolgt war. Die h a m b u r g i s c h e StPO von 1869 (§§ 126. 127. 130. 131) giebt dem Rücktritt des Staatsanwaltes bis zum Schluss der Voruntersuchung, mit Vorbehalt einer Anzeige an den Senat, die Wirkung der Beendigung des Verfahrens. Die t h ü r i n g i s c h e StPO hatte Art. 271 die Frage des Rücktrittes in der Hauptverhandlung wenigstens berührt unci die ö s t e r r e i c h i s c h e StPO von 1850 in § 303 den Grundsatz ausgesprochen, dass „eine Einstellung der Hauptverhandlung auf Antrag des Staatsanwalts nur mit Genehmigung des Angeklagten stattfinde" (letztere Beschränkung war sehr berechtigt, da diese Einstellung der Freisprechung nicht völlig gleichkam). W ü r t l i (S 498) sieht hierin die „conséquente Ausbildung des Anklageprincips" und ist der Ansicht, dass der Antrag auf Einstellung schon vor der Hauptverhandlung in was immer für einem Stadium nach Fällung des Verweisungserkenntnisses mit gleicher Wirkung gestellt werden könne, während er allerdings die Bestimmung des § 111 der erwähnten Strafprozessordnung, nach welcher zur Einstellung der Voruntersuchung die Uebereinstimmung des Staatsanwalts und des Untersuchungsrichters erforderlich war, damit motivirt, dass „wenn einmal die Voruntersuchung eingeleitet ist, die Einstellung derselben nicht mehr von der Laune eines einzelnen . . . abhängig gemacht werden könne" (S 215). Den in der österreichischen StPO von 1850 betonten Standpunkt des Rechtes des Angeklagten auf ein Endurtheil nimmt auch II. A. Z a c h a r i ä , Handbuch I § 10 Anm 7, ein, wrogegen

§ 20.

Das Princip

er Staats-Anklage.

233

von 1873 hat nun, an eine solche Bestimmung der StPO von 1850 (s. oben Anni 34) anknüpfend, den Grundsatz scharf durchgefühlt, dass in jedem Stadium cles Verfahrens bis zu dem Augenblick, wo der Gerichtshof sich zur Urtheilsfällung zurückzieht (bis zur Feststellung cler Fragen an die Geschwornen), cler Ankläger von cler Verfolgung zurücktreten könne und dass dies sofort je nach clem Stadium des Verfahrens dessen Einstellung (§§ 109, 227) oder die Freisprechung durch Urtheil zur Folge habe (§ 259 Z. 2 ) 2 3 . Im Gegensatz hiezu spricht § 154 RStPO clie Regel aus, dass die öffentliche Klage nach Eröffnung der Untersuchung (d. h. entweder der Voruntersuchung oder des „Hauptverfahrens") nicht zurückgenommen werden kann. Zur Begründung dieser Regel, von welcher eine Ausnahme insofern gemacht ist, als nach § 431 die Staatsanwaltschaft die Klage fallen lassen kann, wenn der Angeklagte gegen clen vom Amtsrichter erhobenen Strafbefehl Einspruch erhebt, sagen die Motive (S. 88): dies entspreche „dem in Deutschland schon jetzt geltenden und wohlbegründeten Rechte. Denn die Staatsanwaltschaft, obwohl sie im Strafverfahren in gewissem Sinne als Partei aufgefasst werden kann, ist dies doch nicht in d e m Sinne, dass ihr auch noch nach eröffneter Untersuchung eine Verfügung über die Klage eingeräumt werden könnte". § 21.

Privat-Anklage.

Das Recht des Staates auf Verfolgung aller strafbaren Handlungen ohne Rücksicht auf den Willen und die Wünsche von Privaten, selbst der durch die strafbare Handlung betroffenen, erleidet in verhältnissmässig wenigen Fällen Ausnahmen, welche das materielle Recht bestimmt, dessen Aufgabe es auch ist, das Verhältniss der hieraus erwachsenden Berechtigungen zu der öffentlichen Klage zu regeln Diese Regelung kann auf sehr verschiedene Arten erfolgen, je nachdem die Strafverfolgung ganz den betheiligten Privaten überlassen P l a n c k , Systematische Darstellung S 128, mit Recht die bezüglichen Bestimmungen der deutschen Gesetze darauf zurückführt, dass der Staatsanwaltschaft „die in der Anklagerolle liegende Dispositionsbefugniss nicht ausschliesslich, sondern nur unter Controle und Mitwirkung des Gerichtes zusteht". S. dagegen z. B. v. B a r , Kritik der Principien des Entw etc. S 14. 15. 23 S. die zusammenhängende Begründung in den Motiven S 7 ff. ( K a s e r e r S 13 ff.). Vgl. Mot E I Nr 6 S 48 ( K a s e r e r S 67); U l l m a n n § 108 S 522 und § 126 S 600 Anm 2. 1 G l a s e r , Art. „Privatanklage" in HRLex I I I 175 ff. und die daselbst angeführte Literatur. S. auch noch W a h l b e r g , Kritik S 41 ff.; N i s s e n , Bemerkungen S 64 ff.

234

§ 21.

Privat-Anklage.

( p r i n c i p a l e P r i v a t k l a g e ) oder den letzteren blos ein negativer Einfluss eingeräumt wird, insofern es eines A n t r a g e s derselben oder wenigstens einer Z u s t i m i l i u n g oder E r m ä c h t i g u n g bedarf, wenn die öffentliche Klage soll erhoben werden können, wobei dann noch weitere Combinationen möglich sind, je nachdem sich an der Durchführung cler Privatklage die Staatsanwaltschaft neben dem Privatkläger oder in Vertretung desselben betheiligt, oder umgekehrt der Antragsberechtigte eine besondere Stellung im Prozess einnimmt, und namentlich seinen Antrag zurücknehmen kann. Das deutsche Strafgesetzbuch hatte einer beträchtlichen Anzahl von Paragraphen (2 \7erbrechen, 24 Vergehen betreffende §§, 3 Uebertretungsfälle) den Zusatz beigefügt: „Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein", und den Antrag für untheilbar hinsichtlich der an der Handlung (als Thäter, Theilnehmer oder Begünstiger) betheiligten erklärt (§ 63). Der Antrag konnte nach § 64 „nach Verkündung eines auf Strafe lautenden Urtheils nicht mehr zurückgenommen werden", eine Regel, von welcher allerdings Ausnahmen gemacht wurden, und zwar nach beiden Seiten hin, indem Fälle statuii! waren, in welchen der Antrag nicht mehr zurückgenommen werden konnte, sobald einmal „die förmliche Anklage bei Gericht erhoben wrorden" (StGB §§ 176, 177), während andererseits bei cler Verfolgung der Beleidigung „im Wege der Privatklage oder Privatanklage" der Antrag „bis zum Anfange cler Vollstreckung des Urtheils zurückgenommen werden" konnte (§ 194 des StGB). — Das Reichsgesetz v. 26. Febr. 1876 hat nun zunächst die Fälle der „Verfolgung nur auf Antrag" nicht unerheblich vermindert·. Die Hauptveränderung bestand aber in cler Umkehrung der Regel über die Zulässigkeit cler Zurücknahme des Antrages; die letztere ist jetzt nur mehr ausnahmsweise und nur „bis zur Verkündung eines auf Strafe lautenden Urtheils" möglich (neue Fassung des § 64). Diese Ausnahme tritt bei Beleidigungen mit Einschluss der Fälle cler §§102 bis 104 und Entwendungen von Nahrungsmitteln (§ 370, 5 u. 6) ein, ausserdem aber nur in Fällen, AVO cler Rücktritt „Angehörigen" zu statten kommt, sei es, class schon das Antragsclelict nur vorhanden ist, wenn die That Angehörigen zur Last fallt (§§ 247, 263, 292), sei es, dass der Rücktritt ausdrücklich nur ihnen gegenüber gestattet wird (Korperverletzung § 232 und Sachbeschädigung § 303) — womit allerdings clas Princip cler Untheilbarkeit cles Antrages durchlöchert ist. Durch die Aenderung der angeführten Bestimmung über die Zurücknahme cles Antrages bei Beleidigungen ist die dort vorkommende Erwähnung der Privatklage aus dem Strafgesetz wieder getilgt worden.

§ 21.

Privat-Anklage.

Dagegen hat aber die StPO der p r i n c i p a l en P r i v a t k l a g e , in allerdings sehr beschränkter Weise, Raum gegeben: „Beleidigungen und Körperverletzungen können, s o w e i t d i e V e r f o l g u n g n u r a u f A n t r a g e i n t r i t t , von dem Verletzten im Wege der P r i v a t k l a g e verfolgt werden, ohne dass es einer vorgängigen Anrufung der Staatsanwaltschaft bedarf" (§ 414). Durch diese Regelung des Gegenstandes ist also eine Unterart der Antragsdelicte, Delicte, welche Gegenstand der Privatklage sein können, geschaffen, eine Unterart, deren Abgrenzung keineswegs von der Rücksicht auf die Zulässigkeit der Zurücknahme des Antrages beherrscht ist, da letztere bei Körperverletzungen, die nicht durch Angehörige verübt sind, nicht eintritt. Scharf aufgefasst ist also nach neuestem deutschen Recht jede strafbare Handlung Gegenstand der ö f f e n t l i c h e n K l a g e , welche jedoch in gewissen Fällen durch den „Antrag" des Privaten bedingt ist und unter Umständen durch dessen Zurücknahme zum Stillstand gebracht werden kann, während bei einigen dieser Delicte noch der Staatsanwaltschaft anheimgegeben ist, wegen Mangels eines öffentlichen Interesse sich des Einschreitens zu enthalten, selbst wenn der „Antrag" des zur Privatklage berechtigten vorliegt. Diese Stellung der „Privatklage" wird weiter dadurch charakterisirt, dass die StPO einerseits den Adhäsionsprozess n i c h t zulässt, andererseits aber § 11 des EStPO bestimmt, dass die „ V e r f o l g u n g " von Beleidigungen und Körperverletzungen nur mehr nach den Bestimmungen der Strafprozessordnung stattfindet — womit die bisherigen vor dem Civilrichter zu führenden Injurienprozesse beseitigt sind, was aber wohl die Erhebung eines (wenigstens auf Körperverletzung basirten) Privatanspruches auf Entschädigung vor dem Civilrichter nicht ausschliesst. Immerhin führte die Beschränkung der „Privatklage" gerade auf jene zwei Fälle dahin, dass hier auch eivilprozessualische Momente hineinspielen. Das Wesen des „ A n t r a g s d e l i c t es" im allgemeinen liegt nach dem Strafgesetz jetzt darin, dass es Object der öffentlichen Klage ist, deren Erhebung (und ausnahmsweise auch deren Fortführung) durch den Mangel (Wiederfortfall) des Antrages verhindert wird. Nach der Strafprozessordnung „ k ö n n e n gewisse Antragsdelicte auf dem Wege der Privatklage verfolgt werden" ; das würde an sich das Recht des Privaten, sich auf den Antrag zu beschränken und von der Staatsanwaltschaft clie Verfolgung zu verlangen, bei der Schärfe, mit der das Legalitätsprincip in der Strafprozessordnung betont wird, nicht ändern, wenn nicht § 416 der StPO hinzufügte, dass in solchen Fällen „die öffentliche Klage" „von der Staatsanwaltschaft nur dann erhoben"

236

§ 21.

Privat-Anklage.

wird, „wenn dies im öffentlichen Interesse liegt". Ob letzteres der Fall sei, hat die Staatsanwaltschaft unabhängig, aber pflichtmässig zu beurtheilen. Man muss somit im § 416 nicht blos eine Entbindung der Staatsanwaltschaft von der Herrschaft des Legalitätsprincips, sondern ein (bedingtes) Verbot der Einmischung erblicken. Wenn also nicht ein öffentliches Interesse hinzutritt , kann die Handlung n u r durch Privatklage verfolgt werden. Liegt ein solches dagegen vor, so hat cler Verletzte die Wahl zwischen Antrag unci Privatklage. Ferner ersetzt die Privatanklage wohl den Antrag, dagegen macht dieser jene nicht entbehrlich. Ausser clem Antrag der Privaten und der „Privatklage" kennt das deutsche Recht noch clie N e b e n k l a g e . Der öffentlichen Klage können sich als N e b e n k l ä g e r anschliessen: 1. wer als Privatkläger auftreten könnte; 2. derjenige, auf dessen Antrag das Gericht der Staatsanwaltschaft gegen ihre Ansicht die Erhebung cler öffentlichen Klage auftrug, „wenn die strafbare Handlung gegen sein Leben, seine Gesundheit, seine Freiheit, seinen Personenstand oder seine Vermögensrechte gerichtet war" ; aus diesem Zusatz geht indirect hervor, dass nicht jeder, der als „Verletzter" den erwähnten Gerichtsbeschluss erwirken kann, auch als Nebenkläger einschreiten darf, Avas man wohl hart finden wird, da der „Antragsteller" für die Kosten haftet und hinsichtlich dieser (cl. h. der Höhe derselben) jedenfalls zu hören ist (§ 504); 3. derjenige, welcher die Zuerkennung einer Busse begehrt. Nach förmlicher, schriftlicher Anschlusserklärung, über welche das Gericht nach Anhörung cler Staatsanwaltschaft entscheidet, hat cler Nebenkläger im weiteren Verfahren clie Rechte des Privatklägers. Das in O e s t e r r e i c h noch geltende Strafgesetz von 1852 kennt nur wenige Ausnahmen von dem Grundsatz cler Verfolgung der Delicte von öffentlichen Amtes wegen; diese wenigen Delicte, deren „strafgerichtliche 'Verfolgung nur auf Verlangen eines Betheiligten stattfindet", sind auch nach dem neuesten Strafprozessrecht durchaus Gegenstand cler Privatanklage (§ 2 Abs. 2) ; clie Erhebung der letzteren muss jedem Einschreiten cler öffentlichen Behörde unbedingt vorangehen; auf den Wunsch cles Privatanklägers kann zwar der Staatsanwalt d e s s e n V e r t r e t u n g übernehmen, sonst aber findet eine Einmischung cler Staatsanwaltschaft in die \'erhandlung erster Instanz nicht statt (StPO § 46). Der Privatankläger kann bis zu dem Augenblicke , wo der Gerichtshof sich zur Berathung des Urtheils zurückzieht, von der Anklage mit der Wirkung definitiver

§ 22.

Stellung

er Parteien.

237

Beendigung des Verfahrens und der Erlöschung des materiellen Klagerechts zurücktreten (StGB § 530 ; StPO § 259 Z. 2) § 22.

S t e l l u n g der Parteien.

I. Die Beschränkungen der freien Bewegung des Gerichtes, welche sich aus dem accusatorischen Typus ergeben, betreffen durchaus nur die thatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidung und den thatsächlichen Inhalt derselben. Weitere Consequenzen, welche man vielfach cloctrinell und selbst in Gesetzen ziehen zu müssen glaubte 3 , 2 Hiezu tritt noch eine Variante, vermöge welcher die Verfolgung gewisser Handlungen zwar der Staatsanwaltschaft zukommt, aber nicht ohne Zustimmung der Betheiligten stattfinden darf, wobei wieder, je nachdem nur eine einzelne oder eine Collectivperson betroffen ist, eine weitere Unterscheidung stattfindet, welche die Strafverfolgung im ersten Falle der Privatanklage, im zweiten der öffentlichen Klage nähert (Art. 5 d. G ν. 17. Dec. 1862, RGBl 1863 Nr 8). — Der im Jahre 1874 eingebrachte Entwurf eines Strafgesetzes, welcher in diesem Punkt nahezu unverändert in die Regierungsvorlage von 1881 überging, stellte sich speciell die Aufgabe, ein planmässiges Ineinandergreifen cles materiellen und des Prozess-Rechts in diesem Punkt herbeizuführen. Während das bisherige österreichische Recht nur P r i v a t d e l i c t e oder richtiger, wenn auch etwas schwerfälliger : P r i ν ata η k l a g e d e l i c t e (d. h. Delicte, welche den Gegenstand der Privatanklage zu bilden haben), das deutsche Strafgesetzbuch nur A n t r a g s d e l i c t e kannte, lässt der Entwurf beide zu. Nur „auf Gruncl einer Privatanklage" zu bestrafen sind, wie die Motive sagen, Handlungen, „bei denen das Interesse des Verletzten an Erlangung der Genugthuung oder an Unterlassung der Verfolgung" (ersteres ζ. B. beim Nachdruck, letzteres beim Ehebruch) „das öffentliche Interesse so überwiegt, dass ihm die \ T erfolgung ganz überlassen werden kann und der Staat nicht weiter einzutreten hat" ; dagegen sind „nur auf Antrag zu verfolgen" solche Handlungen, bei denen „dies zwar nicht in gleichem Maasse cler Fall ist, jedoch besondere Gründe hinzutreten, welche die Staatsgewalt bestimmen, ihr Einschreiten von cler Initiative cler einzelnen abhängig zu machen". Den Unterschied beider Gattungen lassen die beiden Entwürfe in folgendem hervortreten: Die Antragsdelicte sind Gegenstand der öffentlichen Anklage, welch' letztere lediglich durch Stellung des Antrags von Seite eines hiezu berechtigten b e d i n g t ist; der Antrag bezieht sich auf „ d i e T h a t " ; er ist eben darum hinsichtlich der Personen untheilbar, und da er nicht widerruflich ist, übt er keinen anderen Einfluss auf den Prozess, als wrelchen eine Bedingung der Ergreifung der Initiative seitens der Staatsanwaltschaft üben kann. Der „Privatankläger" dagegen ist von Anfang bis zu Ende dominus litis ; die Privatanklage muss gegen bestimmte Personen, auf welche das Verfahren zu beschränken ist, gerichtet sein, und sie kann bis zum Beginn der Vollstreckung des Strafurtheils zurückgenommen werden. (Vgl. S c h ü t z e in der Allgemeinen österreichischen Gerichtszeitung 1882 Nr 58.) 1 Man glaubte es als Consequenz des Anklagegrundsatzes ansehen zu müssen, clas Gericht in Bezug auf die rechtliche Beurtheilung der That an die Anträge der Staatsanwaltschaft zu binden, also ζ. B. dem Gericht zu verwehren, ohne ausdrücklichen Antrag des S t a a t s a n w a l t s (von dem Prozessrechte des A n g e k l a g t e n

238

§ 22.

Stellung

er Parteien.

sind in beiden Strafprozessordnungen dem folgerecht durchgefühlten Gedanken gewichen, dass die Erhebung der Strafklage nichts anderes bedeutet als die Aufforderung an das Strafgericht, einen bestimmten Vorfall, soweit derselbe einer bestimmten Person zur Last gelegt wird, zum Gegenstand seiner Prüfung zu machen, alle für die rechtliche Beurtheilung des Vorfalles und die daraus für die bezeichnete Person erwachsenden strafrechtlichen Folgen erheblich scheinenden Umstände und Verhältnisse festzustellen und die daraus sich ergebenden rechtlichen Folgerungen lediglich nach eigener Ueberzeugung zu ziehen. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass es sich bei dieser Frage, die später eine eingehende Untersuchung wird finden müssen, nicht blos um die Abgrenzung der B e f u g n i s s e des A n k l ä g e r s von denen des Gerichtes, sondern auch um das Recht des Angeklagten auf vollständiges Gehör und auf gründliche Vorbereitung seiner Vert e i d i g u n g handelt; allein von jedem dieser Gesichtspunkte aus ergeben sich andere Folgerungen 2 , namentlich ein Recht des Angeklagten auf Vertagung zum Zweck gründlicher Vorbereitung, ein Recht b e i d e r Parteien auf Anhörung über den geänderten Gesichtspunkt. Das Verhältniss des Gerichtes zur Anklage, der Grundsatz der Wahrung der Freiheit seiner rechtlichen Beurtheilung, welche nicht zu trennen ist von der Freiheit der Annahme, dass sich die Sache anders als von der Anklage behauptet wird, verhalte, ist durch die Verhandlungen, aus welchen das preussische Gesetz von 1852 hervorging. ist liier nicht die Rede, wie denn überhaupt hier nur eine vorläufige Andeutung zur Charakteristik des Systems gegeben werden kann) die That unter den Gesichtspunkt eines schwereren Delictes zu bringen ; die äusserste Consequenz dieser Auffassung ist dann eine Bestimmung, wie sie § 292 der österreichischen StPO von 1850 enthielt, wonach das Gericht keine härtere Strafe verhängen konnte, als worauf der Staatsanwalt angetragen hatte. Siehe in Bezug auf beide Fragen W u r t h S 475—483 und dagegen v. H y e - G l u n e k , Leitende Grundsätze S 38. 39; vgl. übrigens P l a n c k , Systematische Darstellung S 317 if. H. A. Z a c h a r i ä , Handbuch I I 508 ff. M i t t e r m a i er, Gesetzgebung und Rechtsübung S 494 ff. S c h w a r z e , Commentar zur sächsischen StPO v. 1855 I I 99. D e r s e l b e in WRLex Art. „Schwurgericht" X 96 ff. v. B a r , Recht und Beweis im Geschwornengericht S 126 ff. O p p e n h o f f S 160 ff (zu Art. 30 des Ges von 1852). S c h w a r z e , Deutsche StPO S 363 ff. und bei § 263. G e y e r , Lehrbuch § 213. U l i m a n n § 129. G l a s e r in HRLex Art. „Urtheil im Strafprozess" I I I S 987 ff. 2 Diese Sonderung lässt Geyer (der allerdings überdies das Verhältniss nicht eines Parteiantrages, sondern eines richterlichen Anklagebeschlusses zum Endurtheil bespricht) aus den Augen, wenn er Lehrb. § 213 I sagt: „Dem Anklagegrundsatz allein vollkommen entsprechend ist es, wenn das erkennende Gericht (ohne Einwilligung des Angeklagten) auch von der dem Eröffnungsbeschluss zu Grunde liegenden rechtlichen Beurtheilung der That nicht abweichen kann".

§ 22.

Stellung cler Parteien.

239

wesentlich geklärt worden 3 ; und übereinstimmend erkennen die beiden Strafprozessordnungen diesen Grundsatz an. „Gegenstand der Urtheilsfindung ist die in der Anklage bezeichnete T h a t 4 , wie sich dieselbe nach dem Ergebnisse der Verhandlung darstellt" (§ 263 Abs. 1 verglichen mit § 153 d. deutschen S t P O „ A n die Anträge des Anklägers ist der Gerichtshof nur insoweit gebunden, als er den Angeklagten nicht einer That schuldig erklären kann, auf welche die Anklage weder ursprünglich gerichtet, noch während der Hauptverhandlung ausgedehnt wurde" (§ 267 Österreich. StPO vgl. mit § 92) 6 . II. Die contradictorische Verhandlung fordert ihrer Natur nach, dass den gegen einander verhandelnden Parteien g l e i c h e s R e c h t , gleiche Möglichkeit geboten sein müsse, auf den Richter einzuwirken 7 . Dies muss als die Regel gelten, die so selbstverständlich ist, dass sie sich selbst Anerkennung erzwingt, wo nicht clas Gesetz oder die Natur der Sache sich offenbar widersetzen. Die Regel hat in den beiden Strafprozessordnungen vielfach in höherem Gracle, als vorher der Fall war, Ausdruck gefunden, namentlich darin, dass cler Staatsanwaltschaft die Aufsicht über clie richterlichen Functionen entzogen ist, dass die exorbitanten behördlichen Befugnisse zu Eingriffen in die persönliche Freiheit und zur Vornahme von richterlichen Untersuchungsakten, die sie in Frankreich hat, ihr nicht mehr zukommen, oder avo ein Rest bleibt, dieser unschädlich gemacht ist, — dass ferner die Befugnisse zu richterlicher Prüfung der Anforderungen der Staatsanwaltschaft wesentlich erweitert sind (siehe namentlich § 160 Abs. 2, 178, 200 RStPO, noch weiter gehend § 88 Abs. 2 , § 92 Abs. 3 , §.211. § 214 Abs. 2, § 225 Österreich. StPO) und die Gleichstellung in der Hauptverhandlung eine nahezu vollständige ist. Der ausnahmlosen Durchführung des G r u n d s a t z e s der Gleichstellung aber stellen sich 3

Materialien zu der Υ ν. 3. Januar 1849 etc. Berlin 1882. S 88. 89. 418 ff. Zu beachten ist, dass beide Strafprozessordnungen den Ausdruck „ T h a t " zur Bezeichnung des nackten Factums im Gegensatz zu dem bereits unter einen Delictsbegriff gebrachten (strafbare Handlung) gebrauchen. 5 Die Frage gehört zu denjenigen, welche in den Besprechungen des Entwurfs lebhaft erörtert wurden: v. B a r , Kritik S 41. 42. H. M e y e r , Mitwirkimg der Parteien S 48 ff. W a h l her g, Kritik des Entw S 44 ff., und mit bewusster Ueberspannung des Untersuchungsprincips H e i n z e in GA 1876 S 282. Vgl. die M o t i v e , welche die „Identität der in der Anklage bezeichneten und cler abzuurtheilenden That" als das entscheidende erklären, S 153 ff. 6 Mot A 5 S 13 ( K ä s e r e i · S 20) und E I Nr 7 S 48 ( K a s e r e r S 68—71). 7 S. namentlich M i t t e r m a i e r , Gesetzgebung und Rechtsübung S 285 ff. Schwarze in Schletters J IV 1858 S 56 — 58. Cas ora t i , Processo penale p. 230 ss. 4

240

§ 22.

Stellung

er Parteien.

schon im Civilprozesse unübersteigliche Hindernisse entgegen; der Kläger nimmt nothwendiger Weise eine andere Stellung ein, als der Beklagte, von den Verschiedenheiten nicht zu sprechen, welche thatsächlich sehr oft das verschiedene Maass der den Parteien zur Verfügung stehenden Mittel mit sich bringt. Im Strafprozess ist die Verschiedenheit schon in der Natur der Sache begründet; sieht man von nur in ganz primitiven Verhältnissen denkbaren Einrichtungen ab, welche dahin führen, dass cler Privatankläger in ganz gleichem Maasse seine Existenz auf das Spiel setzt, wie er clie des Angeklagten in Gefahr bringt, so ist selbst unter Annahme der Privatanklage die Stellung des Angeklagten eine so gedrückte und gefährdete, dass er trotz aller rechtlichen Verniuthungen, die man zu seinen Gunsten aufstellen mag, im Naehtheile ist; und natürlich wird clas Verhältniss in dem Maasse ungünstiger für ihn, als der Staat clem Ankläger seine Mittel zur Verfügung stellt oder gar selbst als Ankläger auftritt, und als der förmlichen Erhebung cler Anklage Prozessstadien vorausgehen, welche auf eine vorläufige Prüfung derselben abzielen und eben deshalb bewirken, dass für die zugelassene Anklage die Annahme streitet, sie habe die Wahrscheinlichkeit für sich. Hierauf beruht die Notwendigkeit von Einrichtungen, welche eine Ausgleichung zu Gunsten cles Angeklagten bezwecken. Dass jeder erhebliche Zweifel dem Angeklagten zum Vortheil gereichen müsse, ist eine mit cler Forderung abstracter Gleichheit cler Parteirechte nicht zu vereinigende, aber in cler dargestellten Sachlage wohlbegründete Forderung; sie findet ihren deutlichen Ausdruck in den Bestimmungen der StPOen über clas Abstin m lungsverhältniss, wonach nicht blos bei Stimmengleichheit stets zu Gunsten cles Angeklagten die Entscheidung fallen muss, sondern eine k ü n s t l i c h e M e h r h e i t für die Bejahung der eigentlichen Schuldfrage gefordert wird; s. §§ 262 u. 307 StPO, §§ 20 u. 329 cler österreichischen StPO, welch' letztere durch die Zusammensetzung der Strafgerichte mittlerer Ordnung und der Berufungsgerichte aus v i e r Richtern clem Angeklagten den Vortheil sichert, class er nur mit einer Mehrheit von 3 : 1 verurtheilt werden kann. — Der berechtigte favor defensionis führt ferner zu einer namhaften Begünstigung cles Angeklagten bei der Einrichtung cler Rechtsmittel. Die deutsche StPO beschränkt insbesondere zu Gunsten des Angeklagten clie Staatsanwaltschaft im Gebrauche cles wichtigsten Rechtsmittels, cler Revision, theils direct (§ 374), theils indirect, indem sie clie sachlichen Revisionsgrüncle zu Gunsten des Angeklagten vermehrt (§ 377 Z. 8, 378); sie gestattet cler Staatsanwaltschaft, von Rechtsmitteln zu Gunsten des Beschuldigten Gebrauch zu machen (§ 338 Abs. 2) und knüpft sogar an jedes von cler Staats-

§ 22.

Stellung

241

er Parteien.

anwaltschaft eingelegte Rechtsmittel die Wirkung, dass die angefochtene Entscheidung auch zu Gunsten des Beschuldigten abgeändert oder aufgehoben werden kann (§ 343); endlich wird bei Aufhebung eines Urtheils wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Strafgesetzes zu Gunsten eines Angeklagten bezüglich der Mitangeklagten, denen der gleiche Grund zu statten kommt, so entschieden, als hätten sie ihn ebenfalls geltend gemacht (§ 397), so dass also das Verbot der Aenderung eines Urtheils zum Nachtheile desjenigen, der es durch Rechtsmittel angreift (reformatio in peius, § 372), und das r r i n cip der relativen Rechtskraft fast nur dem Angeklagten zu statten kommen. In noch höherem Grade ist cler Angeklagte bezüglich cler Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegenüber cler Staatsanwaltschaft begünstigt (vgl. § 402 mit § 344). Die ö s t e r r e i c h i s c h e StPO steht bezüglich der Berechtigung der Staatsanwaltschaft, Rechtsmittel zu Gunsten cles Angeklagten zu ergreifen, auf dem gleichen Boden; sie beschränkt zwar die Zulässigkeit cler Nichtigkeitsbeschwerde gegen Urtheile des Schwurgerichtshofes und die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zu Ungunsten cles Angeklagten etwas weniger als die deutsche StPO, aber auch sie begünstigt, namentlich was die Zulässigkeit von Nichtigkeitsgründen betrifft, den Angeklagten vor clem Ankläger (§ 281 letzter Abs., § 344 vorletzter und letzter Abs.) und giebt andererseits in noch weiterem Umfange cler Rechtsmittelinstanz clas Recht, von clem Princip der relativen Rechtskraft zu Gunsten des Angeklagten und seiner Mitangeklagten abzuweichen (§§ 290. 477). — Beide Strafprozessordnungen legen der Staatsanwaltschaft clie Pflicht auf, „nicht blos die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln" (§ 158 deutsche StPO vgl. mit § 3 österreichische StPO). — Zu diesen wesentlich im Interesse cles Beschuldigten nothwendigen Störungen der Gleichheit der Rechte und Befugnisse des Staatsanwaltes gegenüber denen cles Angeklagten kommen aber andere Gründe der Ungleichheit hinzu, die sich aus der Stellung beider ergeben. Der Staatsanwalt ist nicht von vornherein und nicht nothwendig cler Gegner dieses bestimmten Beschuldigten; er soll es sachlich immer nur mit dem Vorbehalte sein, dass er seine Haltung ändert, sobald er sich davon überzeugt, class eleni Beschuldigten Unrecht geschehe, und dieser Ueberzeugung soweit Ausdruck geben, als clas Gesetz dies gestattet 8 . Man kann ihn daher, zumal in clen ersten Stadien des 8 Eben darum halte ich es für wünschenswerth, dass ihm möglichst lange die Freiheit der Umkehr gelassen werde; wo das Gesetz nicht mehr gestattet, kann ihm doch nicht versagt sein, dass er seinen Zweifeln an der Schuld des Angeklagten Ausdruck gebe, indem er, nach der französischen Formel, die Sache der

Binding, Handtuch. IX. 4. I : G l a s e r , Strafprozess. I .

16

242

§ 22.

Stellung cler Parteien.

Verfahrens, wo er erst suchen muss, sich eine Ueberzeugung zu bilden, nicht unbedingt als dem Beschuldigten gegenüberstehenden Parteiniann behandeln. Ueberdies ist der Beschuldigte persönlich n i e parteilos, und es besteht vielfach der gegründete Verdacht, dass er Mittheilungen, die ihm zur Unrechten Zeit zukommen, zum Nachtheil der Gerechtigkeit missbrauchen könnte ; nieht ihn, höchstens seinen Vertheidiger könnte man daher äusserlich dem Staatsanwalt gleichstellen ; aber nicht innner ist ein Vertheidiger vorhanden, und noch seltener kann er so leicht und sicher ohne Zeitverlust herangezogen werden, wie der ständig bei Gericht wirkende Staatsanwalt. Dies erklärt namentlich die regelmässige Anhörung des letzteren im Vorverfahren und seine Anwesenheit bei Sitzungen, denen der Beschuldigte oder dessen Vertheidiger nicht beiwohnt, — ohne dass sich verkennen lässt, dass dadurch das Moment der Verteidigung zurückgesetzt und die Gleichheit zu dessen Nachtheil gestört wird. I I I . In m a t e r i e l l e r Hinsicht werden diese Unterschiede auch dadurch ausgeglichen, dass clas Gesetz das Gericht verpflichtet, sich von dem tatsächlichen Vorbringen cler. Parteien insofern unabhängig zu erhalten, als es weder durch Zugeständnisse9 noch durch Unterlassungen der Parteien sich abhalten lassen darf, sich ihm darbietende Zwreifel durch eigene Thätigkeit, durch Heranziehung Weisheit des Gerichts anheim stellt; aber wie misslich wird die Stellung des Gerichts und der Gesehwornen, wenn sie nach einer solchen Erklärung des Staatsanwalts dennoch die Verfolgung aufrecht erhalten! Treffend spricht sich Cas o r a t i (Processo penale ρ 243) gerade, indem er einer Erweiterung der Befugnisse cler Vertheidigung das Wort reclet, über die Frage der Gleichstellung der Parteien aus. „L'uguaglianza dei diritti ben si addice alla uguaglianza dei rapporti e degli interessi. Ma quando questi non sono identici, la materiale parità dei diritti, ben lungi dal condurre all'uguaglianza, conduce alla diversità di trattamento. Non deve dunque il legislatore reputare compiuto l'ufficio suo quando abbia stabilita una materiale parità, una specie di livellazione di diritti tra il pubblico accusatore e l'accusato; bensì deve con ogni studio escogitare un sistema, pel quale a ciascuno di essi sieno attributi quei diritti, che alla sua naturale condizione ed ai legittimi suoi interessi possono convenire". 9 Sehr viel richtiges, freilich zu Gunsten des Untersuchungsprincips auf clie Spitze getrieben, bei H e i n z e in G A 1876 S 277 ff. 286 ff. So unbestreitbar ζ. B. das ist, was S 280. 281 über die Unzulässigkeit von Fictionen im Strafprozess und daher von „vereinbarten Beweismitteln" gesagt wird, so vertrüge sich mit dem Grundgedanken doch manche zwischen den Parteien getroffene Vereinbarung über Beweismittel (ζ. B. über die Wahl und Ausschliessung von Sachverständigen); ja selbst die Anerkennung von Thatsachen kann zu einer zulässigen, mit dem Streben nach materieller Wahrheit zu vereinigenden Erleichterung des Verfahrens dienen. Entscheidend ist nur, dass der Richter sich bei solchen Vereinbarungen zwar beruhigen d a r f , aber nicht muss.

§ 22.

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Stellung der Parteien.

von Aufklärungsmitteln, auf die es selbst aufmerksam wird, zu zerstreuen und so für den Augenblick der Fällung des Urtheils sich die Beruhigung zu verschaffen, dass dasselbe nicht auf Erdichtungen, auf einem willkürlich von den Parteien ihm aufgenöthigten Sachverhalt, oder auf einer blos durch Unzulänglichkeit cler Parteithätigkeit veranlassten ungenügenden Erkenntniss beruhe. Zu diesem Zweck stellen die Strafprozessordnungen das Princip der freien W ü r d i g u n g des B e w e i s e r g e b n i s s e s (§ 260 deutsche, § 258 österr. StPO) auf und enthalten sich jeder Vorschrift, welche clas Gericht verpflichten würde, das ausdrückliche oder gar ein wegen Ausbleibens 10 angenommenes Geständniss cles Angeklagten als einzige Grundlage der Entscheidung ungeprüft hinzunehmen; ja es wird ihm nur in sehr beschränktem Maasse g e s t a t t e t , sich beim Schweigen und Ausbleiben cles Angeklagten zu beruhigen. Andrerseits gewährt das Gesetz dem Gericht einen umfassenderen Antheil am P r o z e s s b e t r i e b und an cler S t o f f s a m m l u n g , als im Civilprozess 11 für zulässig erachtet wird. Den maassgebenden Grundsatz stellt § 153 deutsche StPO so auf, dass unter Beschränkung auf die durch die Klage bezeichnete That und Person innerhalb der so bezeichneten Grenzen „die Gerichte zu einer selbständigen Thätigkeit berechtigt und verpflichtet" sind. Dieser Grundsatz findet im Vorverfahren und namentlich in cler Voruntersuchung umfassende Anwendung; hier liegt der Prozessbetrieb und die Beschaffung cles Stoffes ganz in cler Hand des 10 Beim richterlichen Strafbefehl tritt nur scheinbar eine Ausnahme ein, da derselbe nicht erlassen wird, wenn der Richter nicht Gründe hat, den Beschuldigten für schuldig zu halten, die so weit gehen, dass ihre Ergänzung durch die aus seiner stillschweigenden Unterwerfung sich ergebende Vermuthung ausreicht, eine volle Ueberzeugung herzustellen. Handelt es sich dagegen um eine polizeiliche Strafverfügung, so wird entweder eine richterliche Entscheidung überhaupt nicht in Anspruch genommen, oder es hat das Ausbleiben des Beschuldigten von der Hauptverhandlung nicht den Richter bindende Kraft (vgl. § 457 mit § 452 StPO). Vgl. H e i n z e in GA 1876 S 296. 297. 11 Vgl. namentlich W a c h , Vortrage S 48 ff.— Beachtenswerth ist es immerhin, dass der französische Cassationshof (Entsch. v. 11. September 1840, bei H é l i e § 499 I, vol. V I I 285. 286 und D a l l o z , Répertoire XVIII, verb.: Instruction criminelle Nr 893, vgl. G l a s e r , Kleine Schriften S 587. 588) das Recht des Assisenhofes, sich von den Parteien nicht angebotene Beweise auf anderem Wege als dem des pouvoir discrétionnaire des Präsidenten zu verschaffen, aus der Analogie des Civilprozesses deducirt: Considérant que tout tribunal a le droit légal d'ordonner, d'office, toutes les mesures d'instruction qui lui semblent propres à faciliter la manifestation de la vérité ; . . . que ce principe est consacré en matière civile par plusieurs articles du Code de procédure, notamment par l'art. 254 . . . ; qu'il l'est également en matière criminelle etc. . . .

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§ 22.

Stellung

er Parteien.

Untersuchungsrichters, dessen Thätigkeit durch die der Parteien nur ergänzt wird, während im Hauptverfahren sich das Verhältniss ändert und der Prozessbetrieb (nach der deutschen, nicht nach der österr. StPO) theilweise auf den Staatsanwalt übergeht, für die S t o f f s a m m l u n g in erster Linie das Einschreiten der Parteien abzuwarten ist, dem Gericht dagegen nur eine ergänzende und controlirende Thätigkeit zukommt. Bezüglich der Vorfühmng des gesammelten Beweisstoffes (Beweisaufnahme) kehrt sich das Verhältniss wieder um, insofern dabei die Thätigkeit des Gerichtes die primäre, die der Parteien die ergänzende i s t 1 2 . (Die nähere Darlegung muss der das Beweisverfahren behandelnden Partie des Werkes vorbehalten bleiben.) I V . Was die Stellung desjenigen betrifft, gegen welchen der Strafprozess sich richtet, so drückt sie sich zum Theil schon in der wechselnden Benennung aus. Nach cler Terminologie der deutschen Strafprozessordnung ist die allgemeinste Bezeichnung desselben „Beschuldigter" ; derjenige, gegen welchen die öffentliche Klage (durch Antrag auf Einleitung cler Voruntersuchung oder durch Einbringung cler Anklageschrift) erhoben ist, heisst A n g e s c h u l d i g t e r ; derjenige, gegen welchen die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen ist, Angeklagter (§ 155); dabei übt nicht, wie nach französischem Recht (wo nur cler vor das Schwurgericht verwiesene accusé, jeder andere zur Verantwortung gezogene dagegen prévenu heisst), die Schwere cler Beschuldigung einen Einfluss auf die Benennung. Die österreichische Strafprozessordnung gebraucht den Ausdruck „Angeklagter" ganz im gleichen Sinne wie die deutsche, wrendet aber den Ausdruck „Beschuldigter" 12 Sehr beachtenswerth bezüglich der Einhaltung der richtigen Linie ist, was H e i n z e in GA 1876 S 307 darüber sagt und was in der Bemerkung gipfelt: „Wenn in unseren Hauptverhandlungen die Ausnutzung der Erkenntnissmittel fast ausschliesslich, jedenfalls ganz überwiegend, in den Händen des Gerichts liegt, so ist damit, abgesehen von anderen Uebelständen, eine eben so schwere als venneidliche Beeinträchtigung der richterlichen Unbefangenheit gegeben. Die Erklärung dieser Anomalie liegt in den noch nicht ausgerotteten Traditionen der früheren exclusiven Untersuchungsform des Verfahrens und in der inquisitorischen Form unserer Voruntersuchung. Anstatt die letztere, das Vorstadium, nach der Hauptverhandlung, hat man diese, die Hauptsache, gemodelt nach dem Muster des vorbereitenden Prozessabschnitts. Diese Uebertreibung kann selbstverständlich kein Argument abgeben gegen ein innerlich berechtigtes und seine Grenzen einhaltendes richterliches Bestimmungsrecht über die Erkenntnissmittel und über deren Ausnützung in der Hauptverhandlung. Ist das Gericht einmal mit Aburtheilung eines Straffalles befasst und muss den Parteien jedwede Verfügung über den thatsächlichen und rechtlichen Bestand dieses Falles entzogen bleiben, so wäre es eine schädliche Pedanterie, wenn man dem Gericht das Recht und die Pflicht der Vervollständigung des Materials im Fall des eintretenden Bedürfnisses entziehen wollte" . . .

§ 22.

Stellung cler Parteien.

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auch auf denjenigen an, wider welchen ein Antrag auf Einleitung der Voruntersuchung oder die Anklageschrift eingebracht ist (§ 38). — Welchen Einfluss auf die Stellung des Beschuldigten der gewählte Prozesstypus überhaupt übt, ergiebt sich aus dem früher gesagten von selbst; es genügt, das unverkennbare Bestreben zu betonen, ihm ein thätiges Eingreifen in den Gang des Prozesses zu sichern, ihn möglichst vor Lagen zu bewahren, wo er nur Object von Untersuchungskünsten wäre (siehe namentlich §§ 136, 164, 242 deutsche StPO; §§ 1 9 9 - 2 4 3 , 245 österr. StPO). Für die f o r m e l l e V e r t h e i d i g u n g ist durch das reformirte Strafverfahren eine bedeutungsvolle Wendung zum besseren eingetreten 1 3 . Vor der Thatsache, dass die Anklage mündlich in öffentlicher Sitzung vom Vertheidiger widerlegt werden kann und dass dieser die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung Schritt für Schritt verfolgen und auf sie einwirken kann, treten alle Beschränkungen weit zurück, die theils als Beste des alten schriftlichen Verfahrens, theils als Fortpflanzungen französischer, namentlich dem Misstrauen Napoleons I. entstammender Maassregeln in das neuere \ r erfahren übergegangen waren. Es ist aber auch nicht zu verkennen, dass seither beharrlich an der Erweiterung cler Einwirkung cles Vertheidigers, an der Sicherung seiner Thätigkeit und cler Erhöhung cler Würde seiner Stellung gearbeitet wurde. Die wichtigsten Ergebnisse hievon sind der Wegfall der im französischen Recht (Code cl'Instr. a. 311) vorgeschriebenen Ermahnung an clen in cler Hauptverhandlung erscheinenden Vertheidiger, „nichts gegen sein Gewissen und gegen die dem Gesetze schuldige Achtung vorzubringen und sich mit Anstand und Mässigung auszudrücken" — die Einräumung des Rechtes der u n m i t t e l b a r e n Fragestellung an Zeugen und Sachverständige (§ 239 deutsche, vgl. § 249 österr. StPO), und eventuell, nach § 238 cler d e u t s c h e n StPO, cler directen und primären Abhörung von Auskunftspersonen (sog. Kreuzverhör), — die, wenn auch nicht vorbehaltlose und uneingeschränkte, Gestattung der Akteneinsicht und des Verkehrs mit dem verhafteten Beschuldigten schon während des Vorverfahrens (§§ 147, 148, vergi, österr. StPO § 45) und das Recht zur Anwesenheit und 13 S. namentlich Schwarze in Schletters J 1858 S 58. M i t t e r m a i e r , Gesetzgebung und Rechtsübung S 459. 461. H . A . Z a c h a r i ä , Handbuch I I 270 ff. P l a n c k , Systematische Darstellung S 47—52. G e y e r , Lehrbuch §§ 103—106. Glaser in HRLex I I 286—290 und die Literaturangaben S 294. Ho l t z en d o r f f in seinem Handbuch I 387 ff. S. M a y e r , Handbuch I I 138 ff. U l i m a n n , Lehrbuch §§ 65—69. W a h l b e r g , Kritik S 68 ff. N i s s e n , Bemerkungen S 53 ff. H e i n z e , Erörterungen S 18. Cas o r a t i , Processo penale ρ 274 ss.

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§ 23.

Mündlichkeit und Oeffentlichkeit.

Betheiligimg bei gewissen Akten cler Beweisaufnahme während derselben (§§ 147 Abs. 3, 191—193, 2 2 2 - 2 2 4 , in beschränkterem Umfang österr. StPO §§ 97 u. 116). § 23.

Mündlichkeit und

Oeffentlichkeit.

I. Der Hauptunterschied zwischen clem reforniirten Strafprozess und cler ihm unmittelbar vorhergehenden Verfahrensart liegt in cler M ü n d l i c h k e i t 1 und O e f f e n t l i c h k e i t des ersteren. Weit hinter uns liegt jetzt einerseits jeder ernste Zweifel an dem grossen Gewinn, der hieraus clem Strafprozess erwachsen ist, andrerseits aber auch so manches unreife und einseitige, Avas zur Anpreisung beider in den Jahren cles Kampfes einst vorgebracht wurde und namentlich damit zusammenhing, dass man mehr von cler Mündlichkeit sprach und mehr an die Oeffentlichkeit (die ohne jene keinen Sinn hat) dachte; dass man mehr die politische Seite beachtete, clie clie letztere unverkennbar darbietet, wenn sie gleich auch ihrerseits beträchtlichen Einfluss auf die Erreichung cler Zwecke der Strafrechtspflege übt, class man mehr auf clas bedeutsame Schauspiel der öffentlichen Verhandlung, auf den geisterhebenclen Eindruck der lebendigen Wechselrede, in welcher Anklage und Verteidigung einander Rede stehen, achtete als auf clie wesentliche Förderung cler richterlichen Aufgabe, welche aus der unmittelbaren und durch die Mitwirkung der Parteien noch fruchtbringender gestalteten Vernehmung des Angeklagten und der Auskunftspersonen vor clen Urtheilern gewonnen wird: man stellte 1 F e u e r b a c h , Oeffentlichkeit I 193 ff. I I 225 ff. H e n k e , Handbuch IV § 15. M i t t e r m a i e r , Strafverfahren I § 33. D e r s e l b e , Mündlichkeit S 333 ff. D e r s e l b e , Gesetzgebung und Rechtsübung S 305 ff. ( S a v i g η y ) Principienfragen S 1—26. H e p p , Anklageschaft S 88—98. A h e g g , Beiträge zur Strafgesetzgebung S 82—108. H . A . Z a c h a r i ä , Gebrechen und Reform S 251 ff. I v ö s t l i n , Wendepunkt S 72 ff. B i e n e r , Abhandlungen I I 133—142. Ro s s h i r t , Zwei criminalistische Abhandlungen. Heidelberg 1836. S 78 ff. L ö w e , Der preussische Strafprozess S 243—251. 263. Ο ρ ρ e η li ο f f S 92 ff. v. I i y e - G1 u η e k , Leitende Grundsätze S 21 ff. G l a s e r , Kleine Schriften S 701 ff'. H e r b s t , Einleitung 2. Iiptst. B. S c h w a r z e , Sächs. StPO I 43 ff. T e m m e im Anh. zu M a r t i n s Lehrbuch § 176. H . A . Z a c h a r i ä , Handbuch I 48—59. P l a n c k , Systematische Darstellung S 112 bis 116. Mot zur österreichischen StPO von 1873 B S 18 ff. (K as er er S 27 ff.). H e i n z e , Erörterungen S 38 ff. U l i mann §§ 15—18. D e r s e l b e in I I I ! S 88 bis 91. F u c h s , das. I I 63 ff. D o c h o w , Art. „Mündlichkeit" in HRLex I I 818. Mot zur deutschen StPO S 125. 126 (zu §§ 222. 223 des Ges) und S 140—142 (zu §§ 211-216 des Ges). G e y e r , Lehrbuch § 4. J o h n , Strafprozessrecht § 6. K a y s e r S 33 ff. W a c h , Vorträge S 1 ff. T r é b u t i e n I I 384. B o r s a n i e C a s o r a t i §§ 1351-1394 IV 96 sq.

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Mündlichkeit und Oeffentlichkeit.

die M ü n d l i c h k e i t über die U n m i t t e l b a r k e i t . Nicht wenig trägt zur maassvolleren und sachgemässeren Würdigung und zur Vermeidung des „ Mündlichkeitsfanatisnius ", vor welchem W a c h 2 warnt, der Umstand bei, dass jetzt auch für den Civilprozess in Deutschland ein mündlich-öffentliches Verfahren gewonnen, in Oesterreich angestrebt ist, und dass dadurch diese Form des Verfahrens sich nicht mehr als eine für Strafsachen gemachte Ausnahme, sondern als die normale Art der Vorbereitung und Herbeiführung der richterlichen Entscheidung darstellt. Man muss sich vor allem klar machen, dass es sich sowohl was das Mittel, als auch was den Zweck anbelangt, um zweierlei handelt, nämlich einerseits um die U n m i t t e l b a r k e i t und M ü n d l i c h k e i t und andererseits um die A u f n a h m e des Beweises und um die E r ö r t e r u n g der hieraus sich ergebenden Folgerungen. Für die Erhebung der Beweise ist mehr die Unmittelbarkeit, für deren Erörterung mehr die mündliche Form des Vortrages von Bedeutung. Man darf aber nicht übersehen, dass Wahrnehmungen auch m ü n d l i c h vermittelt, schriftliche Deductionen dagegen u n m i t t e l b a r von der Partei an den Richter gehen können. Allerdings muss man auch in cler Sondemng nicht zu weit gehen; die unmittelbare Vorführung der Beweise ermöglicht und fordert auch deren mündliche Erörterung, wird durch letztere belebt und befruchtet; und die schriftliche Discussion, wenn sie sich auch unmittelbar an den Richter wendet, muss lahm und schweifällig bleiben, weil die pflichtmässige Anhörung des Gegners wiederholten Schriftwechsel zur Folge haben muss und clen raschen Austausch aufklärender Bemerkungen nicht ermöglichen kann, der aus dem mündlichen unci unmittelbaren Zusammenwirken der Parteien und des Gerichtes erwächst. Was nun die Beweise betrifft, so muss nothwendig zwischen ihrer Sammlung und ihrer Vorführung unterschieden werden. Es ist ein unzweifelhafter Fortschritt, dass durch die Heranziehung der S c h r i f t l i c h k e i t und später cler von clen graphischen und plastischen Künsten gebotenen Hilfsmittel es ermöglicht worden ist, die Beweise frisch und im günstigsten Augenblick zu sammeln, zu beurkunden, sie vor \ 7 erdunkelung durch absichtliche oder zufällige Einwirkung oder Vergessenheit zu bewahren. Dass im Strafprozess dafür zur rechten Zeit gesorgt werden kann, dass es sehr häufig geschehen muss, ehe zwei Parteien einander gegenüberstehen, das giebt ihm in erster Linie seinen eigenartigen Charakter, das giebt mehr als alles andere die 2

Vortrage 8 4.

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Mündlichkeit und Oeffentlichkeit.

ihm eigentümliche Zuversicht, dass die im Urtheil declarirte Wahrheit nicht blos eine formelle sein werde. Dazu kam, dass die Möglichkeit der schriftlichen Fixirung nicht blos die Raschheit des ersten Einschreitens, sondern auch die Bedächtigkeit, Planmässigkeit und Gründlichkeit des Weiterschreitens, die Auswahl des richtigen Zeitpunktes für jede Erörterung, die Wiederholung von Vernehmungen und die Vergleiehung ihrer Ergebnisse und eine nahezu schrankenlose Ausdehnung der Nachforschungen gestattete. Die Ausbildung der Einrichtungen, die darauf abzielen, diese Vortheile zu sichern, ist die p o s i t i v e Leistung der continentalen Prozessformen, wie sie sich seit dem Ende des Mittelalters gestalteten, und insbesondere des gemeinen deutschen Inquisitionsprozesses. — Allein den Vortheilen standen Nachtheile gegenüber. Diese schriftliche Sammlung und Beurkundung der Beweise ist nicht möglich, ohne dass der gute Wille und die Befähigung, die I n d i v i d u a l i t ä t desjenigen, der dieses Geschäft besorgt, auf das Ergebniss einwirkt, und nicht ohne dass mannichfaehe Gefahren (Missverständnisse auf Seite dessen, der befragt wird, auf Seite dessen, der die Antwort aufzeichnet, endlich auf Seite dessen, der sie liest) die Reinheit des so vermittelten Eindruckes gefährden. Die schrankenlose Anhäufung geschriebenen Materials erschwerte die Uebersicht und nöthigte bald zu einer d o p p e l t e n Vermittelung: zur Benutzung eines Auszuges, eines Referates über den Inhalt der Akten. D a g e g e n richtet sich die gesunde und heilsame Reaction des modernen Prozesses, welcher die Person des urtheilenden Richters wieder an den ersten Platz setzt, den der untersuchende Richter eingenommen hatte, und die Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Verfahrens, die letzterer für sich in vollstem Maasse in Anspruch genommen hatte und nimmt, auch für das erkennende Gericht wieder herstellt. Die hieraus sich ergebende Forderung geht also dahin, dass der zur Urtheilsfällung über die Schuld des Angeklagten berufene Richter die A u s s a g e n , aus welchen er seine Ueberzeugung über den festzustellenden Sachverhalt schöpfen soll, selbst höre, dass er die Schriftstücke und sonstigen Gegenstände, die als Beweise dienen sollen, selbst sehe, dass die vorausgegangenen Beurkundungen, statt der Grundlage des Urtheils nur die Grundlage für die Veranstaltung der u n m i t t e l b a r e n Vorführung der Beweise bilden. —- Aber es handelt sich nicht blos darum, dass jeder Beweis in voller Reinheit und Ursprünglichkeit zur Kenntniss des Urtheilers gelange, sondern auch darum, dass die Parteien ihn gerade so wie er auf den Richter einzuwirken in der Lage ist, auch ihrerseits kennen, dass sie die Möglichkeit haben, zu der Klärung der aus den Beweismitteln zu

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Mündlichkeit und Oeffentlichkeit.

ziehenden Folgerungen durch unmittelbare Betheiligung an der Prüfung und Sichtung derselben und durch Herbeischaffnng der so als wünschenswerth und nützlich erkannten weiteren Mittel der Aufklärung oder Widerlegung beizutragen, dass sie aber auch die Erörterung und Kritik der Beweisergebnisse unmittelbar an die Vorführung derselben und in der vollen Gewissheit, dass diese allein auf die Ueberzeugung des Richters einwirken, anreihen können. Eben daraus ergiebt sich die Noth wendigkeit der C o n c e n t r i r u n g a l l e r E i n w i r k u n g e n auf den e r k e n n e n d e n R i c h t e r in einer in unausgesetzter G e g e n w a r t a l l e r R i c h t e r und der P a r t e i e n z u p f l e g e n d e n , contradictorisch gestalteten Verhandlung und die Statuirung der Pflicht des Richters, auf sein Urtheil nichts einwirken zu lassen, was nicht ein Element dieser Verhandlung bildete, und daher auch umgekehrt, alles, wovon er sich bewusst ist, dass es auf sein Urtheil einwirken könnte, in dieser Verhandlung zur Sprache zu bringen. So aufgefasst wird die Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Verhandlung zugleich die wichtigste Gewähr dafür, dass das Urtheil der Wahrheit entspreche und dass es unter strenger Wahrung des Grundrechtes jeder Partei auf volles und den Gegnern gegenüber gleiches richterliches Verhör erfolge; und so bedingen und verwirklichen die Mündlichkeit und clie contraclictorische Form cler Verhandlung sich gegenseitig. Zu diesen Vorzügen der mündlich - unmittelbaren Verhandlung kommt noch hinzu, class sie allein Beruhigung darüber gewährt, dass der urtheilendc Richter alles erfährt, was er erfahren soll, und dass er jedem einzelnen Punkte eine zu dessen Wichtigkeit im richtigen Verhältniss stehende Aufmerksamkeit zuwendet. Allein sind diese Vortheile im grossen und ganzen gewiss und unersetzlich, so werden sie doch auch durch Nachtheile, Opfer und Gefahren eritauft. Was die Beweismittel betrifft, so hat man bei manchen nur zwischen zwei Arten cler Vermittelung zu wählen, und nicht immer ist es dann die mündliche, welche die grössere Gewähr bietet; eine Photographie, selbst eine an Ort und Stelle angefertigte Zeichnung oder Planskizze ist gewiss in vielen Beziehungen werthvoller, als eine mündliche Beschreibung; complicirte sachverständige Operationen (clas Ergebniss einer chemischen Untersuchung, einer Durchsicht von Handelsbüchern u. s. w.) werden verlässlicher durch eine von Schritt zu Schritt gemachte Aufzeichnung als durch eine spätere mündliche Erzählung dargestellt. Auch sonst kann eine Aufzeichnung über eine unbefangene und unter dem frischen Eindruck der erzählten Ereignisse abgelegte Aussage werthvoller sein, als mündliche

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Wiederholung unter Umständen, welche die Frische und Sicherheit der Erinnerung in Frage stellen oder die Besorgniss rechtfertigen, dass der aussagende Einwirkungen und Berechnungen zugänglich wurde, die früher nicht stattfinden konnten. Der Hörer, wie aufmerksam er ist, kann überhören, und dies ist schwerer wieder gut zu machen, als das Ueberschlagen von etwras geschriebenem; letzteres gestattet ferner die Auffrischung der Erinnerung an das gehörte und die Vergleichung früherer und späterer Angaben. Bei sehr verwickelten Gegenständen, bei Zifferangaben, bei einer Mehrheit von sich durchkreuzenden· gleichartigen Angaben sind Aufzeichnungen nicht zu vermeiden, und die planmässig, in Ruhe und unter Controle angefertigten verdienen dann gewiss den \ T orzug vor den flüchtigen Notizen, die man unter dem Eindruck des gehörten und der Verpflichtung, das nachfolgende gleichmässig zu beachten, sich während der Verhandlung machen kann. Der Hauptvorzug der mündlichen Verhandlung, dass sie einen lebendigen Totaleindruck hervorruft, muss durch die Gefahr erkauft werden, dass einzelnes nicht sofort so erfasst und festgehalten wird, wie es seine Wichtigkeit fordern würde, und dass der Fehler oft nicht mehr entdeckt wird, und sehr selten, selbst wenn entdeckt, vollständig gut gemacht werden kann. Endlich fordert die mündlich-unmittelbare Verhandlung nahezu ununterbrochene Aufeinanderfolge aller Theile der Verhandlung und des Urtheils ; kaum über Tage hinaus kann das Gedäehtniss das nur einmal gehörte verlässlich festhalten; nun giebt es aber Verhandlungen, die auch, wTenn deren einzelne Theile ununterbrochen einander folgen, eine beträchtlich längere Zeit in Anspruch nehmen. Dazu kommt dann die Gefahr, dass der Wegfall einer Person, deren Mitwirkung oder Vernehmung nothwendig ist, zur Vertagung oder zum Abbruch der Verhandlung nöthigt, woraus dann wieder der Verlust der schon vollbrachten Arbeit, eine Verzögerung der Entscheidung und die Möglichkeit einer Beeinträchtigung cler Verlässlichkeit der Aussagen entsteht. Endlich ist es fast unmöglich, eine Verhandlung mit der erforderlichen Raschheit, Freiheit und Lebendigkeit zu führen und dabei über deren Gang und Ergebnisse eine volle Gewähr bietende Aufzeichnung herzustellen; selbst wrenn dies geschieht, so sind es doch nur die Worte, nicht die für ihre Auffassung entscheidenden Nebenumstände, Mienen, Gebärden, der Ton der Stimme, die aufgeschrieben werden. Das Urtheil, clas aus einer solchen Verhandlung hervorgeht, hat daher eine Grundlage, die später nie mehr vollständig übersehen und überprüft werden kann. Alles dies nöthigt beim Festhalten an dem Grundsatz der Mündlichkeit zum Maasshalten bei dessen Anwendung; und der Umfang

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Mündlichkeit und Oeffentlichkeit.

der nothwendigen und zulässigen Einschränkungen war allein bei der Feststellung der beiden Strafprozessordnungen in Erwägung zu ziehen. Man hatte dabei mit den gemachten Erfahrungen zu rechnen. Obgleich nämlich kein Element des reformirten Strafverfahrens so rasch und so allgemein als ein Gewinn erkannt wurde, wie die Mündlichkeit, so hatte sie sich doch nicht in dem wünschenswerten Maasse durchgesetzt. Die ersten Gesetze nach dem Jahre 1848 hatten der Anwendung einen ziemlich freien Spielraum lassen müssen; und die Gewohnheit cles mit cler Strafrechtspflege sich beschäftigenden Personals, selbst clas gewissenhafte Streben nach Gründlichkeit, brachte dasselbe unwillkürlich dazu, ein Verfahren einzuhalten, welches die Mündlichkeit in der Hauptverhandlung verkürzen musste: u n m i t t e l b a r , indem die Hauptverhandlung über Gebühr mit V o r l e s u n g e n aus den Akten der Voruntersuchung angefüllt wurde, m i t t e l b a r , indem die Bedeutung cler Hauptverhandlung selbst gegenüber anderen Stadien des Verfahrens (cler schriftlichen Voruntersuchung, clie vorausging, und cler nachfolgenden Berufungsverhandlung, die sich auf die Akten cler ersteren stützen musste) herabgedrückt ward 3 . — Die Sicherung der vollen Wirksamkeit cler Mündlichkeit musste also eine Hauptaufgabe bleiben, und clas Augenmerk richtete sich namentlich auf folgendes: 1. Die vollständige Verwirklichung cler Forcierung cler Mündlichkeit für die H a u p t v e r h a n d l u n g selbst. Hier stand in erster Reihe die Frage cler Verwerthung der Akten des Vorverfahrens. Beide Strafprozessordnungen waren bemüht, clen Grundsatz cler Mündlichkeit vor willkürlicher Verletzung zu schützen; beide mussten sich sagen, dass dieses Bemühen seine Grenze finden müsse im s a c h l i c h e n Interesse. Wenn auch (wie eben gezeigt wurde) nicht unter allen Umständen, ist doch in cler Regel die unmittelbar vor dem erkennenden Gericht 3

In Oesterreich hatte man unter der Herrschaft der StPO von 1850 darüber geklagt (s. darüber Mot zur StPO von 1873 B S 18, Κ as er er S 27 ff., und den daselbst angeführten amtlichen Bericht aus dem J. 1851). Die StPO von 1853 hatte nach allen im Text bezeichneten Seiten hin, namentlich aber dadurch, dass man es völlig in das Ermessen des Gerichts erster Instanz stellte, was in der „Schlussverhandlung" zu verlesen sei, — durch eine schwerfällige Gliederung des Vorverfahrens (Untersuchung) und durch ein Rechtsmittelsystem, welches das lediglich auf die Akten verwiesene höhere Gericht die Entscheidung nach allen Seiten hin frei überprüfen Hess, — ermöglicht und bewirkt, dass die Mündlichkeit aufs äusserste beschränkt ward (s. dagegen G l a s e r , Kleine Schriften S 734 ff.). Was Deutschland betrifft, siehe G l a s e r in HH I 53. Man vergleiche damit ζ. B. die Schilderung, welche aus der preussischen Praxis heraus L ö w e , Der preussische Strafprozess S 247, entwirft.

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abgelegte Aussage clas bestmögliche Beweismittel; wenn aber dieses bestmögliche Beweismittel nicht zu haben ist, die durch dasselbe zu erlangende Auskunft einerseits wichtig, andrerseits in anderer nicht unbedingt unglaubwürdiger Form zu erlangen ist, so kann durch die Zurückweisung cler letzteren der Zweck des Strafverfahrens mehr gefährdet werden als durch die Schmälemng cler Mündlichkeit 4 . Umgekehrt kann die im Vorverfahren abgelegte Aussage irgend einen Nebenpunkt, irgend ein Detail betreffen, in Bezug auf welches keine Zweifel oder Bedenken angeregt werden, das aber doch ein nicht wohl zu entbehrendes Element cler Beweisführung bildet; die Entscheidung darüber, ob diese Voraussetzungen eintreffen, ist keine ganz leichte, clem Gericht wird sie sogar sehr schwer werden, und sie sollte nicht einfach in dessen Ermessen gestellt werden, weil sonst allerdings die Grundform des Verfahrens von demselben abhängig gemacht ist. Dagegen kann man mit Sicherheit darauf rechnen, class die Vorlesung eines Protokolls des Vorverfahrens genügt , wenn weder vom Standpunkt dessen, der sich auf dasselbe beruft, noch cles Beweisgegners mehr verlangt wird ; und namentlich in Fällen, wo das Bedürfniss nach einer solchen Aufklärung in der Hauptverhancllung auftaucht, wo die Vorladung dei; Auskunftsperson nicht ohne Aussetzung der letzteren, vielleicht selbst nicht ohne Erneuerung cles ganzen Hauptverfahrens möglich ist, werden Parteien und Gericht sich leicht über solche Vorlesungen einigen 5 . Beide Strafprozessordnungen kommen nun darin überein, dass sie dem blossen Ermessen des Gerichtes die Entscheidung dieser Fragen entziehen und dass sie noch weniger zulassen, dass eine Vorlesung, die das Gesetz verbietet, kraft des Ermessens des Vorsitzenden stattfinde. Bei der Festsetzung cler Ausnahmen jedoch, welche von cler Forderung 4

Ist es bedenklich, auf die Vorlesung da zu verzichten, wo sie durch die Vernehmung des Aussagenden nicht ersetzt werden kann, so ist es noch bedenklicher, sie durch m ü n d l i c h e Vermittelungen zu ersetzen, die leicht noch weniger verlässlich sein können, als ein gerichtliches Protokoll (Zeugniss von Hörensagen, oder gar mündliche Aussagen über den Inhalt einer gehörig zu Protokoll gebrachten Aussage). 5 Die Praxis, wenigstens die mir bekannte österreichische, hat sich sogar eine noch weiter gehende Vereinfachung, ohne gesetzliche Ermächtigung, gewissermaassen contra legem geschaffen; man einigt sich sehr oft, wenn es sich um eine vereinzelte Auskunft, zumal um eine negative handelt (z. B. dass ein Zeuge oder der Angeklagte bei seiner Vernehmung im Vorverfahren einen bestimmten Umstand nicht erwähnt habe), darauf, sich mit einer blossen „Constatirung" desselben aus den Akten durch den Vorsitzenden zu begnügen, um namentlich weitschweifige Vorlesungen zu ersparen.

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Mündlichkeit und Oeffentlichkeit.

unmittelbarer Aussagen gemacht werden (§§ 248—255 der deutschen, §§ 242 und 252 der österr. StPO), gehen sie nicht unbedeutend aus einander : a. die deutsche StPO ist strenger in der Bestimmung der Ausnahmen ; sie lässt diese nur zu bei ganz unzweifelhafter Unmöglichkeit des Erscheinens (ja sie erschöpft nicht einmal alle Fälle solcher Unmöglichkeit) und trägt clen Erschwerungen desselben nur unter der Voraussetzung Rechnung, dass die Auskunftspersonen obgleich nicht vor dem erkennenden Gericht, doch unter Umständen eidlich vernommen würden, unter welchen den Parteien die Möglichkeit geboten war, dabei anwesend zu sein (§§ 222 — 224). Die österr. StPO, die allerdings cler unbeeidigten Aussage insofern ein grösseres Gewicht beilegen kann, als auch diese unter das Strafgesetz fällt, kennt eine ähnliche Veranstaltung noch nicht und beschränkt sich da, wo voraussichtlich es auf die Verlesung der Aussage in der Hauptverhandlung ankommen wird, auf die Anordnung cler Beeidigung im Vorverfahren (§ 169) ; neben clen Fällen, AVO clie persönliche Vernehmung unmöglich ist, lässt sie diejenigen gelten, AVO clas persönliche Erscheinen der Auskunftsperson in der Hauptverhandlung „wegen entfernten Aufenthaltes oder aus anderen erheblichen Gründen füglich nicht bewerkstelligt werden konnte" ; sie gestattet ferner die Vorlesung, wenn darüber Ankläger, Angeklagter und das Gericht einverstanden sind (§ 252 Z. 4), und stellt es, wenn g e l a d e n e Zeugen nicht erschienen sind und deren ungesäumte Vorführung nicht erfolgen kann, clem Gericht anheim, „nach Anhörung cles Anklägers und des Angeklagten zu entscheiden, ob die Hauptverhandlung vertagt oder fortgesetzt Averden und statt der mündlichen Abhörung . . . die Verlesung der in der Voruntersuchung abgelegten Aussagen erfolgen soll" (§ 242). b. Auch noch in zAvei anderen Punkten überbietet die in der deutschen StPO getroffene Vorsorge für die Mündlichkeit der Hauptverhandlung die der österreichischen. Nach der letzteren Avircl zu Beginn der Hauptverhandlung die Anklageschrift verlesen, in welcher „der Sachverhalt, Avie er sich aus clen Akten . . . ergiebt, zusammenhängend zu erzählen ist" (§§ 207 u. 244); die deutsche StPO lässt nur den gerichtlichen Beschluss über clie Eröffnung des Hauptverfahrens verlesen, Avelcher eine ähnliche Darstellung nicht enthält (§§ 205 u. 242). c. Die deutsche StPO trifft eine positive Vorsorge dafür, dass dem Gedächtniss der Urtheiler nicht zu viel zugemuthet Averde, indem sie in § 228 anordnet, dass mit clem Verfahren von neuem zu beginnen ist, wenn die unterbrochene Hauptverhandlung nicht spätestens

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am vierten Tage nach der Unterbrechung fortgesetzt wird ; die österr. StPO überlässt dagegen hierin alles der Beurtheilung von Fall zu Fall. cl. Beide Strafprozessordnungen suchen die durch die Natur der Mündlichkeit gebotene Vereinfachung des Verhandlungsstoffes für die Hauptverhandlung zu erzielen, indem sie wenigstens die M ö g l i c h k e i t eröffnen, die Trennung von Strafsachen, die blos dadurch zusammenhängen, dass dieselbe Person mehrerer Delicte beschuldigt ist oder dass an demselben Delict mehrere Personen betheiligt sind, herbeizuführen (§ 2 Abs. 2 deutsche StPO, wozu freilich § 236 kommt, welcher dem Gericht gestattet, die Verbindung mehrerer bei ihm anhängiger Strafsachen zum Zweck gemeinschaftlicher Verhandlung anzuordnen, auch wenn dieselben nicht in vorerwähnter Weise zusammenhängen, — österr. StPO §§ 56—58, 214 Abs. 2, 233 Abs. 4). Es wäre zu wünschen, ist aber nach den bisher (namentlich in Oesterreich) 6 gemachten Erfahrungen nicht zu hoffen, dass von diesem Rechte umfassender Gebrauch gemacht werde. 2. Inwiefern nun der M ü n d l i c h k e i t auf andere Partien des Strafprozesses als die Hauptverhandlung Einfluss gewählt werden könne, das ward namentlich bei der Vorbereitung der deutschen StPO in eingehendster Weise in Betracht gezogen, insoweit es sich a. um die Feststellung des Verhältnisses des V o r v e r f a h r e n s zur H a u p t V e r h a n d l u n g und um die Gestaltung des ersteren handelt 7 . Das Ergebniss war, dass in beiden Strafprozessordnungen die Voruntersuchung ihren bisherigen Typus beibehielt und dass nur in erster Linie dafür gesorgt wurde, dass das Verhältniss zwischen Voruntersuchung und Hauptverhandlung nicht umgekehrt, der Schwerpunkt des Verfahrens nicht in erstere verlegt werde. Für die richtige Ordnung des Verhältnisses zwischen Vor- und Hauptverfahren sorgten in erster Reihe die oben unter 1. dargestellten Veranstaltungen; andere nicht minder wichtige werden unten bei der Darstellung der Gliederung des Verfahrens zu besprechen sein. So wird cler Charakter der Voruntersuchung auch im neuesten Prozess zwar durch die Mündlichkeit der Hauptverhandlung modifient; jene 6

Auf die Bestimmung über die Möglichkeit der Sonderung von Strafsachen (s. darüber S. M a y e r , Handbuch I 421—424 I I 247 ff.; U l i m an η § 16 S 90 §47; M i t t e rb a eh er bei §§ 56—58) legten die Mot zum Entw der österreichischen StPO eben wegen ihres Einflusses auf die Verwirklichung der Mündlichkeit grosses Gewicht. Daselbst Β I I I 25 ff. K as er er S 37 ff.; vgl. G l a s e r , Kleine Schriften 1. Aufl. I I 129 ff. 7 Siehe die Literaturangaben § 16 Anm 15.

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Mündlichkeit und Oeffentlichkeit.

vertritt aber nach wie vor das Element cler Schriftlichkeit. Die U n m i t t e l b a r k e i t war ihr zwar, so viel den Untersuchungsrichter selbst betrifft, stets eigen, allein die Einwirkung der Parteien auf die Art cler Beweisaufnahme beschränkte sich stets auf clen Fall der Confrontation ; clie neuesten Strafprozessordnungen erweitern sie allerdings etwas in cler bereits oben § 22 I V besprochenen AVeise. b. So oft clas Gericht erster Instanz ausser der Hauptverhandlung eine Entscheidung zu fallen hat, bilden die Grundlage derselben nur die Akten und schriftlich oder zu Protokoll eingereichte Anträge der Parteien. Dies gilt insbesondere von cler Entscheidung über die Eröffnung cles Hauptverfahrens (Versetzung in Anklagestand). I n dieser Beziehung ist zwar die jetzt auch in Frankreich 8 angeregte Frage zu erwägen gewesen, ob nicht diese Entscheidung wenngleich auf Grund der Akten, so (loch nach lnündlich-contradictorischer Verhandlung ergehen sollte. So verlockend solche Anregungen sind, so darf andrerseits nicht übersehen werden, class eine mündliche Verhandlung auf Grund cler Akten ihr missliches hat, class sie nur in Verbindung mit der unmittelbaren Vorführung der Beweise, d. h. mit cler Umgestaltung cler Voruntersuchung im Sinne des englischen Rechts, ein befriedigendes Resultat erwarten lässt, und dass gleichzeitig je grösser der Apparat ist, der für die Entscheidung über die Versetzung in Anklagestand in Bewegung gesetzt wird, desto bedenklicher clas Gewicht des die letztere aussprechenclen Beschlusses zum Nachtheil des Angeklagten werden muss. — Innerhalb cles Rahmens einer schriftlichen Verhandlung über clie Versetzung in Anklagestand hat aber wohl die österr. StPO grössere Vorsorge für richterliche Anhörung des Beschuldigten über die Versetzung in Anklagestand getroffen, als die deutsche. c. Die Gestaltung der R e c h t s m i t t e l gegen clas Endurtheil begünstigt die Mündlichkeit des Verfahrens, unci zwar in doppeltem Sinne: Nur die Urtheile der Strafgerichte unterster Ordnung unterliegen einer Berufung, welche clie in denselben enthaltene Feststellung der Thatsaehen einer Ueberprüfung aussetzt, bei welcher nothwendig eine Berichterstattung auf Grund cler Akten eintreten muss. Auch hier muss übrigens hervorgehoben werden, dass zwar beide Strafprozessordnungen im Berufungsverfahren eine der Hauptverhandlung erster Instanz ähnliche mündliche Verhandlung vorzeichnen, dass aber die §§ 363—367 cler deutschen StPO dabei die Mündlichkeit des Verfahrens in viel umfassenderer Weise sichern, als die 8

S. oben § 15 III.

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§ 23.

Mündlichkeit und Oeffentlichkeit.

" §§ 469 - 4 7 3 der österr. StPO, welche dem Berufungsgericht gestatten, bei der Vorprüfung ohne vorausgegangene mündliche Verhandlung sehr tief eingreifende Verfügungen zu treffen, und es ganz in die Hände des Berufungsgerichtes legen, in welchem Umfange eine unmittelbare Vernehmung von Auskunftspersonen oder des verhafteten Angeklagten in der Berufungsverhandlung stattfinden soll. — Was nun das Verfahren bei der Anfechtung der übrigen Urtheile betrifft , so ist die Verhandlung über das bezügliche Rechtsmittel ( R e v i s i o n , in Oesterreich N i c h t i g k e i t s b e s c h w e r d e ) insofern eine w e s e n t l i c h schriftliche, als die Grundlage der Verhandlung die Akten und die schriftlichen Deductionen cler Parteien bilden, und Staatsanwaltschaft und Angeklagter nur nach clem hierüber erstatteten Vortrage zu mündlicher Ausführung zugelassen werden. — Die B e s c h w e r d e endlich ist ein Rechtsmittel, über welches stets auf Grund der Parteischrift und der Akten ohne mündliche Verhandlung entschieden wird. H. Die O e f f e n t l i c h k e i t 9 des Verfahrens steht, wie wiederholt betont wurde, mit cler Mündlichkeit desselben in engem Zusammenhang, und zwar schbn diejenige beschränkte Gestaltung derselben, die darin besteht, dass die Vorgänge des Prozesses zur Kenntniss cler Parteien gelangen, die P a r t e i e n - O e f f e n t l i c h k e i t . Denn wenn es eine einfache Forderung cler Gerechtigkeit ist, dass diese Kenntniss den Parteien so rechtzeitig gewährt werde, class sie dieselbe bei der Verhandlung über clas Endurtheil geltend machen können, so ist doch nicht zu verkennen, dass der Zeitpunkt dieser Mittheilung und eben darum auch die Unmittelbarkeit der Kenntnissnahme die Verwendbarkeit derselben für die Parteien steigern oder 9

F eu erb a c h , Betrachtungen I 19—192 I I 194—242. H e n k e , Handbuch IV § 14. M i t t e r m a i er, Strafverfahren I § 34. D e r s e l b e , Mündlichkeit u. s. w. S 333 ff. D e r s e l b e , Gesetzgebung und Rechtsübung S 317 ff. S a v i g n y , Principienfragen S 27—34. Hep ρ , Anklageschaft S 117—135. A h e g g , Beiträge zur Strafgesetzgebung S 109—123. Η. Α. Z a c h a r i ä , Gebrechen und Reform S 310 ff. K ö s t l i n , Wendepunkt S 72 ff. B i e n e r , Abhandlungen I I 273 ff. W ü r t h S 16—18. H e r b s t , Einleitung 2. Hptst. B. L ö w e , Der preussische Strafprozess S 251—253. S c h w a r z e , Sächsische StPO I 43 ff. T e m m e , Anhang zu M a r t i n s Lehrbuch § 175. H. A. Z a c h a r i ä , Handbuch I 59 ff. P l a n c k , Systematische Darstellung S 109—112. H e i n z e , Erörterungen S 43 ff'. U l i m an η §§ 19. 20. v. J a g e m a n n , Art. „Oeffentlichkeit des Verf." in HRLex I I 942. Geyer § 5. J o h n , Strafprozessrecht § 7. K a y s e r S 30 ff. F u c h s in HH I I 61 ff. H é l i e , Instruction § 495 I I , vol. V I I I ρ 263, éd. Brüx. Nr 3680 — 3683. T r é b u t i e n I I 348. M o r i n , Répertoire verbo „Audience" Nr 2—8. D a l l o z , Répertoire verbo „Instruction crimin." Nr 2106—2139 vol. X X V I I I ρ 539 sq. O r t o l a n , Eléments Nr 1850—1852. P r i n s e P e r g a m e n i ρ 205. B o r s a n i e C a s o r a t i §§ 1334 bis 1350 IV 60 sq. C a s o r a t i , Processo penale ρ 239 ff.

§ 23.

Mündlichkeit und Oeffentlichkeit.

vermindern können. Also auch die Parteienöffentlichkeit ist im vollen Maasse nur erreichbar in Verbindung mit einer mündlichen Verhandlung ; und in noch höherem Grade gilt das von der Oeffentlichkeit im engeren Sinne, welche eigentlich nur eine Verneinung der H e i m l i c h k e i t ist und mit sich bringt, dass die Gerichtssäle, wie sie für alle vorhanden sind, auch allen geöffnet werden. Diese Oeffentlichkeit hat allerdings für den Strafprozess eine noch höhere Bedeutung. Die letzten Zwecke der Strafrechtspflege wie sie oben (§ 3) dargelegt wurden, sind nur durch sie zu erreichen; denn wenn es sich dabei in letzter Linie um die ideale Gegenwirkung gegen das Verbrechen handelt, so muss dafür gesorgt sein, dass das Walten der Strafgerichte nicht als etwas um seiner Heimlichkeit willen unheimliches, als etwas unberechenbares und unbekanntes dem Volke gegenübertrete, dass es nur von den Urtheilen oder gar nur von deren materieller Vollstreckung Kenntniss erlange, ohne dass es eine deutliche Vorstellung davon besitzt, in welcher Weise die Urtheile herbeigeführt werden. Selbstverständlich kommt es nicht darauf an, dass jeder einzelne Fall bekannt und gewissermaassen der Kritik der „öffentlichen Meinung" unterstellt werde, sondern darauf, dass richtige Vorstellungen über die Einhaltung eines gerechten, unparteiischen, menschlichen, umsichtigen, der idealen Aufgabe der staatlichen Strafrechtspflege auch in der Wahl der Mittel entsprechenden, den Sieg der Wahrheit und des Rechtes möglichst sichernden Vorganges verbreitet seien und dass der einzelne von den ihm zufällig bekannten Verhandlungen auf die ihm zufällig nicht bekannt gewordenen mit Beruhigung schliessen könne, weshalb eben auch die W i 11 k ü r in Bezug auf die Ausschliessung oder Beschränkung der Oeffentlichkeit ausgeschlossen sein muss. Diese Zwecke sichern die Strafprozessordnungen dadurch, dass sie die O e f f e n t l i c h k e i t a l l e r m ü n d l i c h z u f ü h r e n d e n V e r h a η d 1 u η g e il grundsätzlich aussprechen und die Ausnahmen g e s e t z l i c h regeln. Da diese Verhandlungen eben zur Ueberprüfung aller Vorgänge des vorausgegangenen Verfahrens bestimmt sind, da in ihnen die letzteren zur Sprache kommen können und müssen, ist dadurch in der That indirect die Oeffentlichkeit des Strafprozesses gewährleistet. In dieser Hinsicht bleiben die beiden Strafprozessordnungen auf dem Boden, auf welchen das reformirte Strafverfahren von Anfang an sich gestellt hatte. Die Vorgänge, welche die P a r t e i e n ö f f e n t l i c h k e i t im Vorverfahren dadurch erweitern, dass die Akteneinsicht früher gewährt wird und dass in gewissen Fällen die Parteien und deren Vertreter Akten der Beweisaufnahme beiwohnen können, sind bereits besprochen. Binding, Handbuch. IX. 4. I : G l a s e r , Strafprozess. I.

17

258

§ 23.

Mündlichkeit und Oeffentlichkeit.

Was übrigens die A l t der Ordnung der Oeffentlichkeit der Gerichtssitzungen betrifft, so war die deutsche Reichsgesetzgebung in der Lage, clem Einklang zwischen der Gestaltung des Civil- und des Strafprozesses dadurch Ausdruck zu geben, dass sie die Bestimmungen über die Oeffentlichkeit für beide im Gerichtsverfassungsgesetz aufstellt. Hieraus ergeben sich die Regeln: „die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht , einschliesslich der Verkündung cler Uitheile und Beschlüsse desselben erfolgt öffentlich" (§ 170); „clie Verkündung des Urtheils erfolgt in jedem Fall öffentlich" (§ 174); ferner die sachlichen Ausnahmen hievon „für die Verhandlung oder einen Theil derselben" wegen zu besorgender „Gefährdung cler öffentlichen Ordn u n g 1 0 oder cler Sittlichkeit" (§ 173), endlich die persönlichen für „unerwachsene Personen und solche, welche sich nicht im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte befinden oder welche in einer cler Würde des Gerichtes nicht entsprechenden Weise erscheinen" ( § 1 7 6 ) n . Den äusseren Vorgang bei Ausschliessung der Oeffentlichkeit regelt § 175, indem er die nicht öffentliche Verhandlung über die Ausschliessung der Oeffentlichkeit und die öffentliche Verkündung des Beschlusses vorschreibt 12 . Die Zulassung der Oeffentlichkeit, wo sie ausgeschlossen werden sollte, kann als Verletzung einer wesentlichen Form so wenig angesehen werden, dass vielmehr (Abs. 2 des § 176) dem Vorsitzenden gestattet wird, einzelnen Personen den Zutritt zu 10 Gegen die Ausnahme wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung s. G e y e r § 5. Die Motive bemerken, class unter diesem Ausdruck auch der Fall des Missbrauchs der Oeffentlichkeit zur Störung der Verhandlung oder zur Erschwerung der Wahrheitsermittelung fällt. Die Bestimmung, so wie sie lautet, hat daher zunächst Ersatz dafür zu schaffen, dass die folgenden, die Sitzungspolizei betreffenden Paragraphen wohl von Maassregeln gegen einzelne sich ungebührlich betragende Zuhörer und speciell von ihrer Entfernung handeln, nicht aber der Räumung der Zuhörerplätze Erwähnung thun. 11 Aus der Aufstellung dieser Ausnahme ist jedoch noch nicht ein individuelles Recht des einzelnen nicht ausgeschlossenen Privaten auf Eintritt in den Sitzungsraum zu folgern; es ist daher, wie schon früher die preussische Spruchpraxis annahm, zulässig, nicht blos bei eingetretener Ueberfüllung desselben die Thiiren gegen neu eintretende zu schliessen, sondern auch der Ueberfüllung durch Veranstaltungen (wie ζ. B. Ausgabe von Eintrittskarten) vorzubeugen ( L ö w e Bern 3 zu § 17 c GVG); oder für einzelne Theile des Saales besondere Verfügung zu treffen. ( K e l l e r Bern 5 daselbst, mit dem Zusatz : „Voraussetzung ist dabei jedoch immer, dass diese Maassregeln ohne Willkür und lediglich zur Aufrechthaltung der Ordnung in den Sitzungen getroffen werden", s. auch RGE v. 20. Oct. 1880 Rspr I I 360; K e l l e r Bern 17 c zu § 377.) 12 Eine Verhandlung ist nach der Fassung des Gesetzes überhaupt nicht nöthig, selbst nicht ein Antrag oder die Anhörung der Parteien.

24.

Mitwirkung· von Laien hei der Entscheidung der Strafprozesse.

259

gestatten, wogegen es ein Revisionsgrund ist (§ 377 Z. 6), wenn bei der mündlichen Verhandlung „clie Vorschriften über clie Oeffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind" 1 3 . Die österreichische Strafprozessordnung hat in der Hauptsache übereinstimmende Verfügungen getroffen (§ 228 bis 230. 233 Abs. 3). § 24.

M i t w i r k u n g von L a i e n bei der der S t r a f p r o z e s s e 1 .

Entscheidung

Die Beseitigung d e r g e s e t z l i c h e n Β e w e i s t h e ο r i e und clie Einfühlung der J u r y : dies waren bis zum Beginn cler Epoche cles reformirten Strafverfahrens die beiden am längsten und nachdrücklichsten bekämpften Punkte des Reformprogramms. Neben dem Streit um diese beiden hochwichtigen Fragen selbst ging stets die Erörterung der Frage ihres Zusammenhangs mit den anderen Reformfragen. Vom logischen Standpunkte aus hatten diejenigen Recht, die ihn verneinten: vom historisch-praktischen diejenigen, die ihn bejahten. Denn es ist von letzterem Standpunkte aus nicht zu leugnen, dass ein wesentlich schriftlicher Prozess jene Zerfaserung und Zergliederung der Beweise, jenes Messen derselben an abstracten Maassstäben gestattete und förderte, das in einem wirklich mündlichen Verfahren praktisch unmöglich ist. Mit seinen unmittelbar auf clen Urtheiler einstürmenden Beweisen begründet dieses oft im Augenblick der Vorführung eines Beweises eine Ueberzeugung, die zwar bei der Fortsetzung des Verfahrens noch Angriffe und Proben zu überstehen hat, aber das trockene, ziffernlässige Aneinanderreihen der Beweismittel nicht mehr gestattet; die individuelle Tragweite des Beweises, nicht die abstracte Beschaffenheit cler Kategorie von Beweisen, der er entnommen ist, macht sich hier geltend, und wenn es auch nothwendig ist, clen sogenannten Totaleindruck zum Zweck cler Kritik einer Analyse zu unterziehen, so ist er doch clas erste und natürliche Product einer mündlichen Verhandlung. Die grosse Schwierigkeit, von den Gründen einer so gebildeten Ueberzeugung so Rechenschaft abzulegen, class cler solche Entscheidungsgründe lesende durch sie allein in die Lage versetzt würde, sich über clas so begründete Urtheil selbst ein verlässliches Urtheil zu bilden, — die schon dargelegten Schwierigkeiten, welche clie Mündlichkeit cler Hauptverhandlung der schriftlichen Fixirung der 13 K e l l e r Bern 17 zu § 379 und die dort angeführten RGE, namentlich das vom 1. Oct. 1880, welches thatsäehliclien, dem Gericht unbekannt gehliebenen Beschränkungen der Oeffentlichkeit den Einfluss auf Vernichtung des Verfahrens abspricht. 1 S. die Literaturangaben oben § 16 Anm 2. 9 u. 10.

17*

260

§ 24.

M i t w i r k u n g von Laien

Beweise selbst und somit ihrer Ueberprüfung durch einen zweiten Richter entgegenstellen — die Unvereinbarkeit der Mündlichkeit des Verfahrens in erster Instanz mit einer Ueberprüfung der dort erlangten thatsächlichen Feststellung durch ein höheres Gericht, gleichviel ob dieses auf Grund der Akten urtheilt oder auf Grund mündlicher Verhandlung, und somit im ersten Falle ein wenig verlässliches* im zweiten ein anderes Material seiner Entscheidung zu Grunde zu legen hat, im ersten kaum verlässlicher urtheilen, im zweiten neu entscheiden, aber nicht überprüfen kann: alles dies zeigt die innige Wechselwirkung dieser verschiedenen Fragen. Die Mündlichkeit und die freie Beweiswürdigung bedingen und fördern sich gegenseitig, gemeinsam erschweren sie die Ueberprüfung des im Urtheil declarirten Beweisergebnisses. Es mag daher oberflächlich scheinen, war aber doch im Wesen cler Sache begründet, dass man auf beiden Seiten es als undenkbar ansah, dass die ständigen Staatsrichter nach wie vor allein über die schwersten Anklagen urtheilen sollten, und dass die Gewähr, die man in cler Aktennlässigkeit cler Grundlage ihrer Urtheile, in der gesetzlichen Beweistheorie, in den Entscheidungsgründen, in dem die ganze Materie umfassenden Instanzenzuge bisher gefunden hatte, dass alles dies unersetzt bleiben sollte, oder wie man es, das französisch-englische Vorbild vor Augen, ausdrückte, dass die ständigen Richter als Geschworne urtheilen sollten. — I n der Epoche seit 1848 gestaltete sich das Verhältniss insofern anders, als nicht mehr das Princip der freien Beweiswürdigung in Frage gestellt wurde, sondern nur die doppelte Frage auftauchte: e i n e r s e i t s , ob die drei eben in ihrem Zusammenhange dargestellten Elemente des reforniirten Verfahrens nicht selbst so mächtige Garantien cler Erreichung der Zwecke des Strafprozesses bieten, dass es eines Ersatzes jener anderen, zumal eines Ersatzes durch die Heranziehung von an Befähigung und Verlässlichkeit hinter clen rechtsgelehrten Staatsrichtern zurückbleibenden Elementen nicht bedürfe, — a n d r e r s e i t s , ob nicht das Laienelement in einer anderen Form als cler des Gesehwornengerichtes, in der Form der gemeinsamen Berathung und Urtheilsfällung (Schöffengericht), die gleichen Dienste leisten könnte, während die aus der Theilung des Gerichtes in zwei Körper erwachsenden Schwierigkeiten und Verlegenheiten erspart würden? Nur d i e s e Fragen waren es, die in Deutschland bei cler Berathung cler Strafprozessordnung in den Vordergrund traten; die Gestaltung des Beweisrechtes an sich ward kaum gestreift 2 . Dagegen hatte das S c h w u r g e r i c h t eine 2 Von den liier anzuregenden Fragen (s. darüber Glaser in HH I 57. 58) haben bei der Berathung der beiden Strafprozessordnungen nur diejenigen einige

261

bei der Entscheidung der Strafprozesse.

schwere Probe zu bestehen, aus der es nach den härtesten K ä m p f e n siegreich hervorging, noch fast überall

jene m e r k w ü r d i g e \ r i t a l i t ä t

der englische Stamm u n d seine Herrschaft, pation oder der Einfluss •eingebürgert Literatur

hatte.

Es

des Vorbildes scheint

hier zu excerpiren,

wiederholen,

bewährend,

auf den weiten Gebieten zeigte,

mir

französische

französischer

nicht

welche

die

die es

auf welchen

nöthig,

es

Occu-

Einrichtungen

die

massenhafte

der Streit hervorrief,

und

zu

was ich selbst an Gründen für die Lösung, die schliess-

lich obsiegte, zumal i n dem analogen Streite, der darüber etwas früher als

in

Deutschland

in

Oesterreich

gefühlt

wurde3,

vorbringen

zu

Beachtung gefunden, welche mit den gegenseitigen Beziehungen des P e r s o n a l s zusammenhängen. Vor allem ist es die Durchbrechung der wenigen Regeln des französischen Beweisrechts durch die discretionäre Gewalt des Vorsitzenden, was die beiden Strafprozessordnungen zu beseitigen unternahmen; wie sie ferner den Grundsatz der Mündlichkeit zu wahren, das Zusammenwirken der Parteien und Richter in Bezug auf Stoffsammlung fester zu regeln suchten, ist bereits oben hervorgehoben worden, und daraus geht auch hervor, wie in letzterer Beziehung die d e u t s c h e Strafprozessordnung, indem sie den Einfluss der Parteien auf die Stoffsammlung als entscheidend hinstellte, einer Entwickelung des Beweisrechtes im Sinne vorausgehender Prüfung der Zulässigkeit des Beweismaterials neue Hindernisse entgegenstellte. Daran reiht sich dann in dieser Strafprozessordnung der Wegfall der beiden anderen Prozessmomente, welche zur Geltendmachung juristischer Grundsätze über den Beweis Gelegenheit geben konnten: der Beg r ü n d u n g der E n t s c h e i d u n g der Richtercollegien über die Thatfrage und des Résumé des Vorsitzenden im Schwurgericht, im Gegensatz zur Rechtsbelehrung. 3 In Oesterreich war der Kampf kein so heftiger (siehe die Literatur oben § 16 Anm 9 und die Darstellung § 16 VI). Gleich bei Beginn der parlamentarischen Aera (1861) sprach die Regierung ihre Absicht aus, zu den in der StPO von 1850 verkörperten Grundsätzen zurückzukehren; die Schwankungen, die seitdem eintraten, betrafen fast immer nur die Territorien, in denen die Jury einzuführen war, und die ihr zuzuweisende Competenz. Bezeichnend ist die Tliatsache, dass H y e , der noch 1864 in einer Reihe von als Buch gesammelten Vorträgen den Jurygedanken auf das gründlichste bekämpfte, im Jahre 1867 als Justizminister sich nicht blos in der Lage sali, einen auf diesen Gedanken gebauten Entwurf einer Strafprozessordnung einzubringen, sondern sogar die Competenz der Jury reichlicher bemaass, als vor ihm geschehen war. Das im selben Jahre erlassene Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt, das im Jahre 1869 erlassene Gesetz, welches die Jury vorläufig für Presssachen einführte, bahnten der StPO vom Jahre 1873 und damit der Jury den Weg, welcher im Abgeordnetenhause eine vereinzelte und nicht unterstützte Hinweisung auf das Schöffengericht ( K ä s e r e r S 167. 175 bis 179), im Herrenhause dagegen die allerdings gewichtige, aber ausdrücklich auf praktische Geltendmachung verzichtende und von den hervorragendsten Vertretern der österreichischen Praxis bekämpfte Gegenerklärung von L i c h t e n f e l s (K a s e r e r S 339 ff.) entgegentrat.

262

§ 24.

M i t w i r k u n g von Laien

können glaubte. Es wird wohl genügen, folgendes zur Charakteristik des Geistes, in welchem die Entscheidung erfolgte, hervorzuheben. So wie die Gestaltung des Strafprozesses überhaupt, so hat auch die Juryfrage eine eminent-politische Seite, und es wräre thöricht, in Abrede stellen zu wollen, dass die weitverbreitete und auch nicht ungerechtfertigte Ueberzeugung, dass die Jury eine die bürgerliche Freiheit schützende Institution sei, dass sie die bewährte Form sei, in welcher in Ländern von einer älteren parlamentarischen Schulung die Theilnahme des Volkes an cler am tiefsten eingreifenden Art der Geltendmachung der staatlichen Gewalt stattfindet, erlieblichen Einfluss auf die Haltung cler parlamentarischen Körperschaften übte, welche direct und indirect auf die Entscheidung einwirkten. Allein in den Jahren seit 1848 war es sicher nicht die politische, sondern die juristisch-technische Seite, welche in der Contro -versen]iteratur die Hauptrolle spielte; clie Art und Weise, wie man auf den Gedanken kam, die Jury durch das Schöffengericht zu ersetzen, und die Annahme dieses Gedankens im ersten Entwurf cler deutschen Strafprozessordnung, cler conséquente und einfache Aufbau des letzteren auf dieser Grundlage, das alles war, glücklicherweise, wohl geeignet, die politische Phrase in clen Hintergrund zu drängen und der juristisch-technischen Prüfung der Gesetzgebungsfragen clen gebührenden Einfluss zu sichern. Die Abneigung gegen den Einfluss des Laienelenientes auf den Strafprozess, die Vergleichung seiner Leistungsfähigkeit mit cler der Berufsrichter konnte in cler Erörterung, welche so eingeleitet wurde, überhaupt keine Rolle spielen. Uni auf die Frage, wie sie cler Entwurf stellte, einzugehen, hatte man eigentlich als gegeben anzusehen, dass trotz der unzweifelhaften Ueberlegenheit, welche clem ausschliesslich aus Berufsrichtern zusammengesetzten Gerichte deren Rechtskenntniss, Geschäftsgewandtheit und eine die grösste Objeetivität und Unbefangenheit sichernde Lebensstellung gegenüber eleni Laienelement verschaffen, das letztere zur Sicherung der Zwecke des Strafprozesses, der allseitigen und unbefangenen Beurtheilung der Schuldfrage oder doch des Vertrauens der Bevölkerung auf eine solche, etwas beitragen könne, was auf andere Weise nicht zu beschaffen ist. Die Frage konnte hier nur dahin gehen, welches die zweckmässigere Form der Mitwirkung des Laienelementes sei. Nichtsdestoweniger war aber nicht zu verkennen, dass das Schöffengericht der Λ [ehrzahl seiner Vertheidiger nur als das geringere Uebel, als das bedauerliche, aber unvermeidliche Zugeständniss an eine von ihnen als Vorurtheil angesehene Meinung aufgenommen war. Und eben darum geriethen sie zunächst in den Widerspruch, dass sie, die Mitwirkung

bei der Entscheidung der Strafprozesse.

263

des Laieneleinents einmal als Uebel betrachtet, dieses Uebel durch das Schöffengericht nicht vermindern, sondern vermehren wollten. Denn die Einführung dieser Institution dehnte den Einfluss des Laienelementes, der bisher auf die Strafgerichte höchster Ordnung beschränkt war, auf alle Strafgerichte erster Instanz aus und verschaffte demselben Antheil an der Entscheidung der wichtigsten Frozessfragen und Straffragen. Die in der Institution liegende Tendenz, das Laienelenient zu stabilisiren, musste die Besorgniss erregen, dass sehr wichtige Vortheile des Geschwornengerichts, welche die mit ihm verbundenen Gefahren abschwächen, verloren gehen würden. Es bietet die Jury clen unverkennbaren Vortheil, dass eine unglückliche Zusammensetzung derselben, ein bedenklicher Einfluss, clem sie unterliegt, durch einen Wechsel der Zusammensetzung sofort wieder gut gemacht wird, — dass ferner der einzelne Geschworne clas Bewusstsein seiner Unerfahrenheit mitbringt, dass der frisch abgelegte Eid, die Neuheit der Aufgabe und der Eindrücke, die er empfängt, ihn ängstlich, aufmerksam und dem Verhandlungsmaterial zugänglich machen, dass er das Bediirfniss der Unterstützung durch das Gericht und die Verantwortlichkeit für seinen Antheil an cler Entscheidung lebhaft empfindet, während die Schöffeneinrichtung leicht Halbwissen, voreilige Abfertigung hervorrufen, das Gefühl der Verantwortlichkeit bei den Laien vermindern und bei der ungleichen Zusammensetzung der Collégien da dem einen, dort dem anderen Element ein auf viele Fälle sich erstreckendes Uebergewicht sichern kann. Der Hauptpunkt aber ist und bleibt der, dass es besser ist, die unleugbaren technischen Schwierigkeiten des Zusammenwirkens mehrerer Personen, und zumal ungleichartigerEleniente, zu derselben Entscheidung in der geordneten und der Verbesserung fähigen traditionellen Form des Schwurgerichtsverfahrens offen hervortreten zu lassen und ihnen offen zu begegnen, als sie dem Zufall, der Abmachung von Fall zu Fall, den unberechenbaren Transactionen im Schooss einer ungleichartig zusammengesetzten Körperschaft anheim zu stellen. In letzter Linie scheint mir maassgebend, dass der Widerspruch, der clen ganzen Prozess beherrscht, clas B e d ü r f n i s s z u g l e i c h nach festen Hegeln und nach der vom e i n z e l n e n F a l l e g e f o r d e r t e n I n d i v i d u a l i s i r u n g , seinen entsprechenden Ausdruck in dem Gegensatz des Gerichts und der Jury und seine Ausgleichung in ihrem gesetzlich geordneten Ineinandergreifen findet. In der That hat man in Deutschland, sobald einmal der Fortbestand der Jury gesichert war, und in Oesterreich gleichmässig die grösste Aufmerksamkeit der Verbesserung des Schwurgerichtsverfahrens

264 und

§ 24.

namentlich

der

Gerichts u n d der J u r y

M i t w i r k u n g von Laien

Aufklärung

cler

gegenseitigen Beziehungen des

zugewendet4.

F ü r die p r i n c i ρ i e l l e Behandlung der J u r y 5 muss man zunächst die F o r d e r u n g stellen, dass man i h r nicht clen Charakter e i n e r l i t i s c h e n oder einer A u s n a h m e e i n r i c h t u n g Strafprozessordnungen

gebe.

haben clas möglichst vermieden;

po-

Die beiden insbesondere

sind die Vorgänge bei den successiven Operationen, welche zur definit i v e n Besetzung cler Geschwornenbank ( B i l d u n g cler Geschwornenliste) führen,

möglichst

aus

dem Zusammenhange

mit

politischen W a h l e n

u n d der Ausübung specifisch politischer Rechte gelöst. die Abweichungen des Schwurgerichtsverfahrens

Es sind ferner

v o m sonstigen Gange

des Strafverfahrens beinahe ganz auf das Maass des unbedingt durch die N a t u r

cler Sache gebotenen z u r ü c k g e f ü h r t 0 .

(Nur

bezüglich der

4 S. namentlich die als Anlage zu den Motiven des Entwurfs der deutschen Strafprozessordnung gedruckte umfassende Denkschrift: „Die Rechtsfindung im Geschwornengericht" (Ani. S 175 ff. H a h n S 444 ff.), ferner die Motive zur österreichischen StPO E I I 52 ff. ( K ä s e r e r S 73 ff.; G l a s e r , Ges. kleine Schriften 1. Aull. I I 278 ff). 5 G l a s e r , Art. „Schwurgericht" in IlRLex I I I 634—636. G Nach beiden Strafprozessordnungen sind der Besonderheiten des schwurgerichtlichen Verfahrens nur sehr wenige. An der Spitze steht hier die N o t wendigkeit der V o r u n t e r s u c h u n g (§ 176 Abs. 1 deutsche, § 91 österreichische StPO) und die notwendige V e r t h e i d i g u n g (§ 140 deutsche, § 41 österreichische StPO). Letztere tritt, wie mit Recht angenommen wird, auch dann ein, wenn ein an sich zur Zuständigkeit eines Gerichts niederer Ordnung gehöriges Delict wegen Concurrenz vor das Schwurgericht gelangt. Auch die Abweichung der Bestimmungen über K l age ä n d e r n η g in der Hauptverliandlung (§ 294 deutsche StPO verglichen mit § 264) wird nicht als eine sachliche, sondern nur die Verteilung des Stoffes betreffende aufgefasst, und noch weniger kann ersteres von § 320 der österreichischen StPO verglichen mit § 262 gesagt werden. Selbst bezüglich der A u s d e h n u n g der V e r h a n d l u n g auf neue T h a t s a c h e n ist eine Abweichung in der deutschen Strafprozessordnung nach der vorherrschenden Ansicht nicht vorgeschrieben (anderer Meinung V o i t u s ) . In Oesterreich tritt eine solche in beschränktem Maasse ein (§ 321). — Auch das zur Verurtheilung erforderliche S t i m m e η Verhältnis s ist im Schwurgerichtsverfahren kein abnormes. Nach S 262 der deutschen StPO ist in jeder Hauptverhandlung zu einer jeden dem Angeklagten nachtheiligen Entscheidung, welche die Schuldfrage betrifft, eine Mehrheit von zwei Drittheilen der Stimmen erforderlich; dem entspricht die im Schwurgerichtsverfahren regelmässig geforderte Mehrheit von 8 : 4 Stimmen. Ebenso in Oesterreich (§ 329). Singular ist nur die Bestimmung des § 297 Abs. 2 der deutschen StPO, welche zur Verneinung der Frage nach „mildernden Umständen" mindestens 7 Stimmen fordert. Auch bezüglich der Rechtsmittel besteht zwischen der Anfechtung der Urteile der Schwurgerichte und der Gerichte mittlerer Ordnung kein nicht durch die Natur der Dinge gebotener Unterschied. Die schon oben hervorgehobene Begünstigung des durch die Gesehwornen freigesprochenen Angeklagten durch die im § 379 StPO vor-

265

bei cler Entscheidung der Strafprozesse.

Perioclicität der Schwurgerichtssitzungen u n d der daraus sich ergebenden Consequenzen könnte darüber noch ein Zweifel sonderer der

Wichtigkeit

aber

ist

es,

K l ä r u n g des Verhältnisses der J u r y

merksamkeit zuwandten.

obwalten.)

Von

be-

dass beide Strafprozessordnungen z u m Gericht besondere Auf-

D i e aus clem S t u d i u m cles englischen Rechts

und der thatsächlich i n F r a n k r e i c h geübten Praxis gezogene E r k e n n t niss, dass clie französische Theorie falsch sei, welche die J u r y auf die Feststellung nackter Thatsaehen beschränken, von der A n w e n d u n g des Gesetzes ganz ausschliessen

wollte, machten sie sich zu Nutze

brachten clie Bestimmungen über die Aufeinanderfolge Schritte anträge,

des Schwurgerichtsverfahrens Vortrag

des Vorsitzenden)

cler

(Fassung der Fragen, u n d über

die Geschwornen zu stellenden Fragen

damit

und

einzelnen

die Fassung in Einklang7.

Parteicler an Eine

gezeichnete Beschränkung der Revision der Staatsanwaltschaft ist auf Rechnung des favor defensionis zu setzen. 7 Die S t e l l u n g der G e s c h w ο r η e η charakterisiren die Worte des GYG § 8 1 : „zwölf z u r E n t s c h e i d u n g der S c h u l d f r a g e berufene Geschworne". Nach allem, was in den letzten Jahren und selbst in der amtlichen Bekämpfung der Jury über den Gegenstand gesagt wurde, kann nicht bezweifelt werden, class hierin die ausdrückliche Ablehnung der älteren Auffassung, welche die Geschwornen lediglich zur Feststellung nackter Thatsaehen berufen erachtete, liege. Dies wird ergänzt und bestätigt durch die StPO § 293, nach welcher Bestimmung die Frage an die Geschwornen die That „nach ihren g e s e t z l i c h e n M e r k m a l e n und unter Hervorhebung der zu ihrer Unterscheidung erforderlichen Umstände bezeichnen" soll. Da andererseits nach der Strafprozessordnung die Fassung der Anklage durch einen (allerdings einem anderen Collegium vorbehaltenen) Gerichtsbeschluss festgestellt wird, und da § 296 der StPO vorschreibt, dass die Stellung von Hilfs- und Nebenfragen „nur aus Rechtsgründen abgelehnt werden" darf: so kommt in der Gesammtlieit dieser Bestimmungen zu deutlichem Ausdruck, dass durch ihren Einfluss auf die Fassung der Fragen die rechtsgelehrten Richter die vorausgehende, hypothetische Unterstellung der That unter das anzuwendende Gesetz vollziehen, vermöge welcher der in der Bejahung oder Verneinung cler Frage enthaltene Ausspruch cler Geschwornen als das Ergebniss der gemeinsamen Arbeit an der Lösimg der Schuldfrage erscheint. Insofern die Aufstellung „mildernder Umstände" ohne nähere Angabe im Strafgesetz nichts anderes ist, als die Spaltung des der richterlichen Strafzumessung freigelassenen Raumes in zwei Gebiete, ist die Berufung cler Geschwornen zur Entscheidung über das Vorhandensein „mildernder Umstände" (StPO § 297) nach meiner, allerdings vielfach bestrittenen (siehe ζ. B. W a h l b e r g in Haimerls Vierteljahrsschrift X I 28—50) Ansicht sogar eine Ausdehnung ihrer Spruchgewalt auf das Gebiet der Strafzumessung. Die ö s t e r r e i c h i s c h e Strafprozessordnung behält die ausserordentliche Strafmilderung dem Gericht allein vor. Die in diese nach dem Vorgang anderer neuerer Gesetze aufgenommene Bestimmung, welche das Gericht in die Lage bringt, · wegen des Mangels formeller Voraussetzungen der Verurtheilung oder wegen solcher die Strafbarkeit aufhebender oder die Verfolgung abschliessender Umstände, welche gewissermaassen von aussen

266

25.

Gliederung des

erfarens.

wichtige Neuerung der d e u t s c h e n Strafprozessordnung ist die Beschränkung des Vorsitzenden auf eine den Gesehwornen zu ertheilende R e c h t s b e l e h r u n g , „ohne in die Würdigung der Beweise einzugehen" (§ 300), während ihm die österreichische Strafprozessordnung (§325) vorschreibt: „Er fasst die wesentlichen Ergebnisse der Hauptverhandlung in einer gedrängten Darstellung zusammen, führt in möglichster Kürze die für und wider den Angeklagten sprechenden Beweise auf, ohne jedoch seine eigene Ansicht darüber kundzugeben. Er erklärt den Gesehwornen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung und die Bedeutung der in den Fragen vorkommenden gesetzlichen Ausdrücke, und macht sie auf ihre Pflichten im allgemeinen und insbesondere auf die Vorschriften über ihre Berathung und Abstimmung aufmerksam". Daran schliesst sich die weitere Differenz, dass nach der österreichischen, nicht aber nach der deutschen Strafprozessordnung die Nichtigkeitsbeschwerde auf die Unrichtigkeit der vom Vorsitzenden ertheilten Rechtsbelehrung, sofern diese auf Verlangen einer Partei protokollirt wurde, gestützt werden kann. § 25.

G l i e d e r u n g des V e r f a h r e n s .

G l i e d e r u n g des V e r f a h r e n s und R e c h t s m i t t e l s y s t e m sind in ihren Grundzügen, wie sich dieselben aus der geschichtlichen Entwickelung ergaben, oben (§ 19) geschildert; hier ist nur die Gestaltung im einzelnen, namentlich in jenen Punkten, welche bei der Berathung der beiden Strafprozessordnungen Gegenstand specieller Erörterung waren, zu besprechen: I. Das V o r v e r f a h r e n ist zunächst als Gegensatz zur H a u p t v e r h a n d l u n g ins Auge zu fassen; sachlich sind alle richterlichen Vorgänge ausser cler Hauptverhandlung unter einander gleichartig und denen in letzterer entgegengesetzt, zumal in der Regel die ersteren den letzteren auch vorausgehen, obgleich während und selbst nach dieser einzelne solcher Akte nothwendig werden können. Zum Theil aus sachlichen Gründen 1 und zum Theil unter dem Einfluss d e r zur That hinzutreten, den Angeklagten noch vor dem Wahrspruch ausser Verfolgung zu setzen, ist in die deutsche Strafprozessordnung nicht übergegangen. Beide Gesetze anerkennen das Recht des Gerichts, den Wahrspruch zu suspendiren, wenn es „einstimmig der Ansicht ist, dass die Gesehwornen sich in der Hauptsache zum Nachtheile des Angeklagten geirrt haben" (§ 317 deutsche, § 332 österreichische StPO). Ein ausnahmsweises Verfahren für den Fall des G e s t ä n d n i s s e s nach dem Vorbilde des englischen Vorganges bei plea guilty ist n i c h t eingeführt. 1 Diese sind doppelter Art: die deutsche Strafprozessordnung schliesst principiell die sog. Nachinstruction des französischen Rechts und jeden Akt ans, welcher

25.

Gliederung des

älteren preussischen

267

erfarens.

Terminologie

hat jedoch die

deutsche

Strafprozessordnung den Begriff eines H a u p t v e r f a h r e n s aufgestellt, welches die ganze Procedur die eben darum

nach der Versetzung i n

die technische Bezeichnung

verfahrens" führt, u m f a s s t 2 .

„Eröffnung

Anklagestand, des

Haupt-

I n Oesterreich dagegen umfasst der Begriff

„Vorverfahren"

auch noch das Stadium der „ V o r b e r e i t u n g der H a u p t -

verhandlung".

Jedenfalls

die

Voruntersuchung.

bildet Es

den M i t t e l p u n k t ist

schon

bemerkt

des

Vorverfahrens

worden,

dass i n

dieser sich der B e i t r a g darstellt, den der gemeine deutsche Strafprozess zum reformirten Verfahren geliefert hat. Die allmählich eingetretene Vertiefung der Reformbewegung berührte das Gebiet der Voruntersuchung verhältnissmässig spät; das sonst für auf eine Ergänzung der Akten des Vorverfahrens abzielt, und zum Theil steht es damit in Verbindung, dass sie auch das in dieses Stadium fallende sog. Präsidentenverhör nicht mehr kennt. Dennoch hat auch die deutsche Strafprozessordnung das Bedürfniss nicht verkannt, in diesem Zwischenstadium über die blosse Herbeischaffung und Bereithaltung von Beweismitteln für die Hauptverhandlung hinauszugehen ; aber sie lässt dieses nur für Fälle gelten, wo das Beweismittel voraussichtlich in der Hauptverhandlung nicht vorgebracht werden kann, und hat daher für die Beweisaufnahme in diesem Stadium Formen vorgezeichnet, welche sich mehr denen der Hauptverhandlung als denen des Vorverfahrens anschliessen. 2 Schon in der preussischen CGO von 1805 war „Eröffnung der Untersuchung wider den Angeschuldigten" keineswegs gleichbedeutend mit Eröffnung des Strafverfahrens. ( G l a s e r , Kleine Schriften S 663.) Die V vom 3. Jan. 1849 war auf die Criminalgerichtsordnung gewissermaassen nur aufgesetzt, andererseits folgte sie der französischen Terminologie, indem sie den Ausdruck „Anklagebeschluss" für die Schwurgerichtsfälle aufsparte; daher kommt es, dass sie im § 11 die Regel aufstellte : „Die Eröffnung einer Untersuchung muss durch förmlichen Beschluss des Gerichts erfolgen" und damit die rechtskräftige Anordnung der Hauptverhandlung, die definitive Versetzung in Anklagestand bezeichnen wollte. Da die so „eröffnete Untersuchung" aber nur bei Straffällen unterster Ordnung das ganze Verfahren umfassen musste, während in den übrigen Fällen die Voruntersuchung vorausgehen musste oder konnte: so ist klar, dass man eines bezeichnenden Ausdruckes für diesen Theil des Verfahrens bedurfte, und so kam die Praxis zu clem Ausdruck „Hauptverfahren". Siehe ζ. B. O p p e n h o f f Beni 5 zu § 11; über diesen Ausdruck noch v. S te m a n n , Preussisches Strafverfahren § 38. Danach rechnet Stemann zum „Vorverfahren" die Anklage und den Antrag auf „Versetzung in Anklagestand", § 36 ; die Entscheidung darüber und die Vorbereitung cler Hauptverhandlung verweist er in das „Zwischenverfahren", § 37 ; ihm ist also „Hauptverfahren" gleichbedeutend mit „Hauptverhandlung". Vollkommen im Sinne cler späteren deutschen Strafprozessordnung gliedert L ö w e , Preussischer Strafprozess S 122. 123 das Verfahren in Vorverfahren, Beschlussverfahren und Untersuchung oder Hauptverfahren, und bemerkt ausdrücklich: „Nach Einleitung der Untersuchung können Beweisaufnahmen nur noch ausnahmsweise anders als vor dem erkennenden Richter vorkommen". Die „Handlungen, welche der mündlichen Verhandlung vorausgehen" (S 267), sind ihm Theile des Hauptverfahrens.

268

25.

Gliederung des

erfarens.

jene niaassgebencle englische Vorbild 3 war hier nicht so leicht zu verw e r t e n , weil England selbst (im Gegensatz zu Schottland) mit diesem Theil seines Verfahrens unzufrieden, erst gegen die Mitte des Jahrhunderts an denselben die bessernde Hand legte und noch fortfährt, an dieser Verbesserung zu arbeiten, und weil auch die verbesserten und in England selbst nicht überall durchgeführten Einrichtungen in mancher Beziehung ernste Bedenken erregen. Die eingehendste und, wie es scheint, die spätere Entwickelung beeinflussende Erörterung fand die Frage der Beibehaltung und der Reform der gerichtlichen Voruntersuchung auf dem dritten deutschen Juristentage (1862), wo Resolutionen angenommen wurden, in deren Sinne bei der Einführung der Strafprozessordnung in Oesterreich und Deutschland die Stellung der Voruntersuchung geregelt ward. In beiden Gebieten ward das Hauptaugenmerk auf die Einfügung der Voruntersuchung in das Ganze des neuen Prozesses und darauf gerichtet, dass nicht sowohl clas Wesen der gerichtlichen Untersuchung selbst geändert, als vielmehr durch die Einengung der Voruntersuchung auf ein beschränktes Gebiet und durch die Rückwirkung der anderen Partien des Strafprozesses ihr Geist umgestaltet und das vollendet werde, was schon bei jenen Verhandlungen des Juristentages mit clen Worten angedeutet wurde: „ I n clen anstossenden Gemächern sind Fenster und Thüren weit offen, Licht und Luft dringt von dorther überall auch in die Voruntersuchung herein". Eben darum ward das Augenmerk in erster Linie auf die Ausbildung des der Voruntersuchung vorangehenden Verfahrens, welches nach der älteren preussischen Terminologie „Scrutinial verfahren", nach cler deutschen Strafprozessordnung „Vorbereitungsverfahren", nach cler österreichischen „Vorerhebungen" genannt wird, in zweiter auf clas nachfolgende Stadium des Verfahrens, die Entscheidung über die Versetzung in den Anklagestand (Eröffnung des Hauptverfahrens) gerichtet. Gleichviel nämlich, ob eine \ r oruntersuchung geführt, oder direct ein auf Eröffnung des Hauptverfahrens abzielender Antrag gestellt wird, bedarf die Frage der Einleitung des Strafverfahrens einer vorausgehenden Prüfung. Für die zu diesem Zweck zu ergreifenden Maassregeln ist das R e c h t d e r I n i t i a t i v e entscheidend. Allein es 3

Bei der Berathung der deutschen Strafprozessordnung ward demselben übrigens volle Aufmerksamkeit zugewendet; eine der Anlagen der Motive des Entwurfs ist der Informirung über die englische Voruntersuchung gewidmet; G n e i s t wirkte in seinen „\ r ier Fragen" und im Parlament für eine wesentliche Annäherung an dieselbe, und in der That sind der P a r t e i e n ö f f e n t l i c h k e i t in der Voruntersuchung die schon erwähnten Zugeständnisse gemacht worden.

25.

Gliederung des

erfarens.

269

kann das Recht der Initiative nicht zweekgemäss geübt werden ohne eine entsprechende s a c h l i c h e G r u n d l a g e , deren Herstellung der Zweck jener Vorgänge ist, welche der Erhebung der öffentlichen Klage, der Einleitung des strafgerichtlichen Verfahrens vorausgehen. Nur ganz ausnahmsweise macht die Staatsanwaltschaft unmittelbar Wahrnehmungen, welche sie sofort zur Erhebung der öffentlichen Klage oder doch zur Nachforschung, ob eine solche nicht zu erheben sei, veranlassen. I n der Regel wird es eine Anzeige, sei es eines Privaten sei es einer Behörde, sein, was sie in Bewegung setzt. Die Behörden, von welchen Anzeigen ausgehen, werden in der Mehrzahl der Fälle wieder solche sein, deren eigentlicher Beruf die Erforschung und erste Verfolgung strafbarer Handlungen ist. Es sind dies eben die mit der Handhabung der Polizei und speciell der sogenannten Criminalpolizei (police judiciaire) betrauten Behörden. Soweit es sich um die Anbahnung der Strafprozesse handelt, sind diese Behörden verpflichtet, sich zu der Staatsanwaltschaft in diejenige Beziehung zu setzen, welche dem Verhältniss des Mittels zum Zweck, welches i n d i e s e r H i n s i c h t zwischen den beiderseitigen Thätigkeiten besteht, entspricht. Die Polizei hat also auf Anregung der Staatsanwaltschaft die Erhebungen und Ermittelungen zu pflegen, deren jene zu richtiger Ausübung ihrer hierher gehörigen Functionen bedarf; sie hat ferner, wenn sie bei ihrer sonstigen Thätigkeit Wahrnehmungen über Vorfälle macht, welche zur Einleitung eines Strafprozesses Anlass geben können, dieselben der Staatsanwaltschaft anzuzeigen und natürlich darauf Bedacht zu nehmen, ihre Feststellungen soweit zu vervollständigen, als für die erste Erschliessung der Staatsanwaltschaft erforderlich ist. Auf diese Weise entwickelt sich eine sehr umfassende, materiell dieselben Zwecke wie die künftige Untersuchung verfolgende Thätigkeit, welche doch eine durchaus aussergeriehtliehe, ausserprozessualische ist, das sogenannte E r m i t t e l u n g s - (Scrutinial-) V e r f a h r e n oder die V o r e r h e b u n g e n . Eine solche aussergeriehtliehe Thätigkeit liefert aber kein Beweismaterial, das später gerichtlich verwerthet werden kann, und es geht an sich schon nicht an, dass umfassende, mit Kraftaufwand und Belästigung von Privaten verbundene Erhebungen unter Umständen vorgenommen werden, wo sie für den nächsten Zweck entbehrlich sind, später aber wiederholt werden müssen. Umgekehrt droht oft der Verlust von Beweismitteln, wenn man zögert, sie in authentische Form zu fassen. Weiter wird es häufig nöthig, sich ungesäumt cler Person des Beschuldigten zu versichern, und es muss dafür gesorgt werden, dass dem letzteren der richterliche Schutz sobald als möglich zu Theil werde. Endlich fehlt

270

25.

Gliederung des

erfarens.

es an manchen Orten an clen geeigneten polizeilichen Organen, und es muss schon darum, wenn auch nicht immer der Untersuchungsrichter, aber doch ein Richter rascher als sonst zu Hilfe gerufen werden. Daraus entwickelt sich die Notwendigkeit eines r i c h t e r l i c h e n , mitunter selbst von Amts wegen einzuleitenden Vorverfahrens, welches nach beiden Gesetzen (§§ 163, 164 cler d. StPO, § 89 Abs. 2 und 3 der öst.) zunächst dem Einzelrichter (Amtsrichter, Bezirksrichter) zukommt und, soweit nicht die oben bezeichneten Motive ein weiteres forclern, nur clen Zweck verfolgt , dein Staatsanwalt jenen Ueberblick über die Sachlage zu verschaffen, dessen er bedarf, um sich über die Erhebung dei* öffentlichen Klage zu entscheiden. II. Das V e r f a h r e n b e i d e r V e r s e t z u n g i n A n k l a g e s t a n d ist durch die eben bezeichnete Rücksicht wesentlich beeinflusst und daher in clen beiden Strafprozessordnungen ganz verschieden gestaltet. Die österr. Strafprozessordnung geht, wie schon gesagt, nicht von dem Satz aus, dass die einmal erhobene öffentliche Klage gewissermaassen Eigenthum des Gerichtes ist; sie giebt daher dem Staatsanwalt am Schluss der Voruntersuchung die gleiche Stellung, die er am Schluss cler „Vorerhebungen" hat: seine Sache ist es, die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens zu erwägen und sich darüber zu entscheiden, ob er durch seinen Rücktritt vom Verfahren demselben ein Ende machen will. Wo nicht, so ist clie Forniulirung cler Anklage wieder völlig in seine Hand gelegt, und diese Anklage unterliegt einer vorläufigen richterlichen Prüfung nur dann, wenn cler „Beschuldigte" eine solche verlangt. Nach Mittheilung cler Anklageschrift ist dieser nämlich in der Lage, zu erwägen, ob er einen Schritt zur Abwendung cler Hauptverhandlung vor dem in cler Anklageschrift bezeichneten Gerichte und über alle oder einen Theil cler in ihr enthaltenen Anklagepunkte unternehmen will. Dieser Schritt ist die Erhebung des Einspruches, clen er durch einen Vertheidiger nach freier Akteneinsicht begründen lassen kann und über welchen der Gerichtshof zweiter Instanz auf Grund der Anklageschrift, des Einspruches und seiner schriftlichen Begründung und der Akten (nach Anhörung des Oberstaatsanwaltes) entscheidet. Erfolgt kein Einspruch, so ist clie Anklageschrift (die jederzeit zurückgezogen, aber nur unter besonderen Voraussetzungen (§ 227 Abs. 2) durch eine neue ersetzt werden kann) die Grundlage cler Hauptverhandlung. — Die d e u t s c h e Reichsgesetzgebung hat sich enger an die ältere französische Einrichtung angeschlossen, zeichnet sich aber durch Einfachheit und strenge Uniformität vor den meisten Nachbildungen des französischen Rechtes aus. Festgehalten wurde an dem französischen

S 25.

Gliederung des \'erfalirens.

271

Satz, dass die einmal eröffnete gerichtliche Voruntersuchung nur durch richterlichen Beschluss eingestellt werden könne, daher über das Ergebniss derselben jederzeit ein Gerichtsbeschluss ergehen müsse. Festgehalten ist ferner an den Grundsätzen des französischen Rechts über Notwendigkeit und Entbehrlichkeit der gerichtlichen Voruntersuchung : diese ist ausgeschlossen beim Schöffengericht , obligat in Schwurgerichtsfällen, ausserdem hängt ihre Einleitung zunächst vom Ermessen der Staatsanwaltschaft ab. Im Gegensatz jedoch zum französischen Recht ist diese Frage von der Beschlussfassung über die Eröffnung des Hauptverfahrens ganz getrennt: es giebt keine unmittelbare Ladung; die Hauptverhandlung kann nur auf Grund des Beschlusses eines Richters angeordnet werden, und diesem Beschluss liegt in der Regel eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft zu Grunde. Beim Schöffengericht ist die Anklageschrift minder umfassend und die Beschlussfassung steht dem Amtsrichter allein zu ; bei allen übrigen Strafsachen ist die Strafkammer des Landgerichts (in der Zusammensetzung von drei Richtern) zur Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens berufen. Die Sonderstellung in Schwurgerichtssachen hat also ganz aufgehört; es entfällt nicht blos die doppelte Prüfung der Anklage. sondern gerade jene Probe, welche vor einem höheren, bisher mit der Sache nicht befassten, mit zu prüfenden Anklagen nicht zu sehr überhäuften Gericht unter Mitwirkung des Vorgesetzten des in erster Instanz einschreitenden Staatsanwaltes stattzufinden hatte. Bei der Entscheidung der Strafkammer darf der betheiligte Untersuchungsrichter nicht mitwirken (GVG § 23 Abs. 2). Es war auch vorgeschlagen worden, die Richter, welche bei dieser Entscheidung mitgewirkt hatten, von der Theilnahme an der Hauptverhandlung auszuschliessen. Offenbar waren es aber organisatorische Bedenken, welche die Regierungen bestimmten, dem Antrage entschieden entgegenzutreten : die Gefahr, dass man blos deswegen kleinere Gerichte werde stärker besetzen und die Richter ohne genügende Beschäftigung lassen müssen. Schliesslich kam ein Compromiss zu Stande, das nur nach einer sehr lebhaften Debatte im Reichstage angenommen wurde und dahin ging, dass an dem Hauptverfahren vor den Strafkammern ( n i c h t vor dem Schwurgerichte) nicht mehr als zwei von denjenigen Richtern t e i l nehmen dürfen, welche bei der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens mitgewirkt haben, und namentlich nicht „der Richter, welcher Bericht über den Antrag der Staatsanwaltschaft erstattet hatte" (GVG § 23 Abs. 3). Die Gründe, welche dafür entschieden, trotz dieser Schwierigkeiten die gleiche gerichtliche Prüfung und Entscheidung in jedem

272

25.

Gliederung des

erfarens.

Falle eintreten zu lassen, sind im Berichte der Reiehstagsconiinission in dem Sinne dargelegt, dass zunächst die Wichtigkeit betont wird, die es für den Angeklagten haben muss, dass clas Uebel, welches in dem Erscheinen auf cler Anklagebank liegt, über ihn nicht lediglich durch die Entschliessung cler Staatsanwaltschaft verhängt werde. Ueber den Gedanken aber, eine gerichtliche Entscheidung erst dann eintreten zu lassen, „dafern und soweit der Angeklagte gegen clie Anklageschrift Widerspruch erhebt", wird bemerkt: „Die Commission des Reichstages verkannte zwar nicht, class die conséquente Durchführung des Anklageprincips zu einer derartigen Regelung der Materie führen könne, sowie auch die Erfahrung gezeigt habe, dass in vielen Fällen durch die Entscheidung des Gerichts der Antrag der Staatsanwaltschaft nicht abgeändert werde, sonach es clen Anschein gewinne, als ob jene Entscheidung öfters überflüssig sei. Dessen ungeachtet hat die Commission cler obigen Meinung sich anzuschliessen nicht vermocht. Keineswegs übernimmt, wie man eingewendet hat, das Gericht dadurch, class es die Eröffnung des Hauptverfahrens beschliesst, die Function des Anklägers, und zwar selbst nicht in dem Falle, class der Antrag cles Staatsanwalts auf Einstellung und dein entgegen clie Entscheidung des Gerichts auf Eröffnung des Hauptverfahrens lautet. Denn nachdem die Anschuldigung von der Staatsanwaltschaft gegen den Angeschuldigten erhoben ist, wird es mehr im öffentlichen Interesse wie im Interesse des Angeschuldigten liegen, dass über die Anschuldigung und deren Fortführung nicht das Ermessen des Staatsanwalts, sondern eine unabhängige richterliche Behörde entscheidet. Der Staatsanwalt erhebt hier nicht eine Anklage auf Grund eines gerichtlichen Beschlusses, sondern das Gericht entscheidet, ob die bereits erhobene Klage beizulegen oder aufrecht zu erhalten sei. Ferner kann man es nach cler Ansicht der Commission nicht dein Ermessen des Angeschuldigten überlassen, ob dem Antrag des Staatsanwalts auf Eröffnung des Hauptverfahrens ohne weiteres stattzugeben oder erst eine gerichtliche Entscheidung einzuholen sei, zumal der Angeschuldigte oft nicht die Bildung besitzt, um die Bedeutung des Antrages in seinem ganzen Umfange und in seiner vollen Tragweite zu erkennen" 4 . I I I . Die Bedeutung und Stellung der H a u p t v e r h a n d l u n g im Verfahren ist durch clas früher gesagte hinlänglich erläutert ; es genügen 4

Auf die Details und die zahlreichen Controversen kann natürlich li i e r nicht eingegangen werden; s. vorläufig G l a s e r in HRLex Art. „Eröffnung des Hauptverfahrens" I 737 ff.

25.

Gliederung des

273

erfarens.

daher hier einige Worte über die Anordnung derselben. Hierin hat das französische Verfahren einen von dem des römischen, englischen und schottischen abweichenden Typus geschaffen, der seine volle Ausbildung im Schwurgerichtsverfahren gefunden hat. Dort ist der Gang der Hauptverhandlung folgender: Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen ^Verhältnisse, Beeidigung der Geschworenen, Verlesung der Anklageschrift und des Verweisungserkenntnisses, eventuell mündliche Entwickelung der Anklage durch den Generalprocurator, Aufruf der Zeugen, Vernehmung des Angeklagten, Zeugenverhör, Parteivorträge, Résumé des Präsidenten, Stellung der Fragen an die Geschworenen. Im Verfahren vor dein Zuchtpolizeigerichte modifichi sich der Gang der Sache (auch abgesehen von den auf die Jury sich beziehenden Vorgängen) einigermaassen : die mündliche Entwickelung der Anklage ist die Regel, manchmal wird sie durch blosse Verlesung der an den Beschuldigten ergangenen Ladung ersetzt, sodann folgt sogleich das Beweisverfahren ; das Verhör des Angeklagten schliesst sich erst hierauf an, und daran reihen sich die Parteivorträge und die Urtheilsfällung. Der Typus des französischen Schwurgerichtsverfahrens ist nun auch in den neuesten Strafprozessordnungen, namentlich auch in der deutschen zur Geltung gelangt, Welche insbesondere G n e i s t dem englischen Typus näher zu bringen vergebens (ausser im Punkt der eventuellen Ueberlassung der Zeugenvernehmung an die Parteien) sich bemühte. Die Abweichung besteht (abgesehen von dem Zeitpunkt für die Feststellung der Fragen an die Geschwornen) nur darin, dass sowohl nach der österreichischen Strafprozessordnung (§ 241) als nach der deutschen (§ 242 Abs. 1) der Aufruf der Zeugen, in unmittelbarem Anschluss an die Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse, dem Vortrag der Anklage vorangeht. IV. Das System der R e c h t s m i t t e l 5 ist nur noch in Bezug auf die Gestaltung näher zu besprechen, welche es bei Straffällen 5

S. oben § 16 Anm 6. S c h w a r z e in HH I I 219 ff. G l a s e r das. I 61 if. K r i e s , Die Rechtsmittel im Civil- und Strafprozess. Breslau 1880. J o h n , Strafprozessrecht §§ 53 if. B i n d i n g , Grundriss §§ 114 if. L a m m , Das Rechtsmittel der Revision im Strafprozesse. Leipzig 1881. Mot zum Entw der deutschen StPO S 193 if.; Mot zum österreichischen Entw F und G S 58 if. 77 if. ( Κ as er er S 81 if. 106 if.). U l l m a n n §§ 170 if. M i t t e r b a c h e r S 431 ff. Für beide Gesetzgebungen war der Hauptstreitpunkt die Frage der Berufung. Der österreichische Entwurf hatte dieselbe für das einzelrichterliche Verfahren beibehalten, und darüber erhob sich so wenig Streit als über deren Nichtzulassung im schwurgerichtlichen Verfahren. Aber so wie dort ein früherer Entwurf auch beim Strafgericht unterster Binding, Handbuch. IX. 4. i : G l a s e r , Strafprozess. I .

18

274

25.

Gliederung des

erfarens.

mittlerer und höchster Ordnung erhalten hat. Trotzdem hier für die neueste Gesetzgebung sich ein freierer Gang und eine bessere Ausnutzung der verwerthbaren Grundgedanken des englischen Rechts empfohlen hätte, ist die neueste deutsche und österreichische Gesetzgebung wesentlich auf dem Boden des f r a n z ö s i s c h e n Rechts stehen geblieben. Zwar scheint es, als hätte sich die deutsche Strafprozessordnung weiter von letzterem entfernt, als die österreichische, da sie den bisher in Deutschland eingebürgerten Namen Nichtigkeitsbeschwerde durch die Benennung: „Revision" ersetzt, und in der That sagen die Motive (S 201), dies sei geschehen, weil mit dem Cassationsrecurs des französischen Rechts „der Sache und den Formen nach vollständig gebrochen werden sollte". Mit Recht ist aber bemerkt worden, dass „die Construction, welche im Entwürfe der Strafprozessordnung dem Rechtsmittel der Revision gegeben ist", in mehreren älteren und in der Mehrzahl der neueren deutschen Strafprozessordnungen sich findet 6 . Und in der That ist nur e i n e wirklich fundamentale Abweichung vorhanden, die aber schon in die früheren deutschen Strafprozessordnungen überwiegend Eingang gefunden hatte und in der österreichischen Strafprozessordnung, obgleich diese den Namen Nichtigkeitsbeschwerde beibehielt, umfassendere Geltung hat : dass das Rechtsmittel nämlich nicht lediglich zur Vernichtung des früheren Urtheils führt, sondern dass, wo die Zurückweisung zu nochmaliger Verhandlung Ordnung Schöffen und Inappellabilität mit einander in Verbindung gebracht hatte, so strebte das gleiche der deutsche Entwurf an. Wie an beiden Orten heftig für die Beibehaltung der Berufung bei den Gerichten mittlerer Ordnung gekämpft wurde, so drang der deutsche Entwurf mit dem Bestreben, die Urtheile der Schöffengerichte inappellabel zu machen, nicht durch. 6 S c h w a r z e S 513 Anni 1. Der entscheidende Grund wird wohl durch die später in den Motiven (S 202) vorkommende Hinweisung auf die Civilprozessordnung angedeutet sein. Die Motive selbst sagen zur Charakteristik des Rechtsmittels ausser der Hinweisung darauf, dass dasselbe nicht immer zur Zurückweisung an das untere Gericht führen muss, sondern sofortige Entscheidung in der Sache bewirken kann, nur folgendes: „Die Aufgabe des höheren Richters besteht nur in der r e c h t l i c h e n Beurtheilung der Sache; für die Lösung dieser Aufgabe aber ist ihm freie Bewegung gewährt, und es sind seiner Thätigkeit möglichst wenig formale Grenzen gezogen. Hierin liegt der hauptsächlichste Unterschied zwischen dem Rechtsmittel des Entwurfs und der Nichtigkeitsbeschwerde anderer Gesetzgebungen. Aus der clem höheren Richter zugewiesenen freien Stellung folgt aber andererseits, dass er das angefochtene Urtheil in der Regel nicht schon dann aufzuheben hat, wenn der erste Richter in seiner Entscheidung oder seinem V erfahren das Gesetz irgendwie verletzt hat, sondern nur dann, wenn die Gesetzverletzung in einem ersichtlichen oder wenigstens möglichen Zusammenhang mit der Entscheidung selbst steht"

§ 25.

275

Gliederung des Verfahrens.

nicht durch den Mangel formgiltiger Feststellung der erforderlichen Thatsaehen oder (nach der deutschen StPO) zum Zweck der Verhandlung über die Strafzumessung geboten ist, an die Stelle des aufgehobenen Urtheils ein neues zur Sache selbst ergehendes gesetzt wird. Der Grundgedanke des Rechtsmittels entspricht aber den Fundamentalsätzen, auf denen die Anfechtung eines im mündlichen Verfahren auf Grund freier Beweiswürdigung ergangenen Urtheils, wenn nicht das Begehren der Partei allein zu völliger Erneuerung des Verfahrens ausreichen soll, nothwendig beruhen muss: Die tatsächliche Feststellung kann nur mittelbar, durch Nachweis der Mangelhaftigkeit des ihr zu Grunde liegenden Verfahrens, die Rechtsanwendung völlig frei angefochten werden, soweit der erstrichterlichen Entscheidung sich ein dabei begangener Fehler nachweisen lässt. Keine von beiden Strafprozessordnungen hat darauf verzichten können, einerseits den Grundsatz aufzustellen, dass ein wesentlich mangelhaftes Verfahren zu dessen \ r ernichtung führt, andererseits zwischen Mängeln zu unterscheiden, bei welchen die Vernichtung unbedingt eintreten muss, und solchen, bei welchen es einer weiteren Beurtheilung und Unterscheidung bedarf. Die Art der Durchführung dieses Systems in beiden Gesetzen unterscheidet sich hauptsächlich dadurch, dass die österr. Strafprozessordnung für die Fälle der letzteren Art das Hauptgewicht auf das Verhalten der Partei selbst in erster Instanz legt, darauf, ob sie das ihr drohende Unrecht abzuwenden gesucht, das Gericht zur Prüfung der Frage sofort veranlasst und ihm zur Begründung seiner Incidentalentscheidung Gelegenheit gegeben, eben dadurch aber der Rechtsmittelinstanz die genauere Prüfung erleichert hat. — Die nähere Erörterung kann hier so wenig Platz finden, als es hier eines Eingehens auf die Gestaltung der Wiederaufnahme des Verfahrens bedarf.

18*

Zweite Abtheilung. Das Strafprozessrecht und seine Quellen. Erstes Kapitel. Stellung des Strafprozesses i m Rechtssystem. § 26.

S t e l l u n g des S t r a f p r o z e s s e s i m R e c h t s s y s t e m l .

I. Der S t r a f p r o z e s s ist der rechtlich geordnete Vorgang bei der Verwirklichung des Strafrechts in den einzelnen Fällen 2 . Das 1

St ü b e l , Criminalverfahren §§ 1—5. A b egg, Lehrbuch §§ 2—7. B a u e r , Lehrbuch §§ 1—9. J o r d a n im ΝΑ X I 230 ff. W. M ü l l e r § § 1 - 9 . M i t t e r m a i e r , Strafverfahren §§ 1 — 12. H e n k e , Handbuch IV §§ 1 — 5. M a r t i n §§ 1. 2. 2b. Z a c h a r i ä , Handbuch §§ 1 u. 2. L ö w e , Preussischer Strafprozess §§ 1. 3—8. B i n d i n g , Grundriss §§ 1 - 3 . 16. U l i m a n n §§ 1—3. G e y e r §§ 1 u. 39. J o h n , Das deutsche Strafprozessrecht § 1. D e r s e l b e zu §§ 3 ff. des EStPO. D o c h o w in HH I 133 ff. v. Bar, Systematik §§ 3 - 5 . L u e d e r , Grundriss §§ 1—3. 2 S. oben § 3. B a u e r bezeichnet den Strafprozess als „Inbegriff der sich auf die gerichtliche Verfolgung der Rechte des Staates wicler die Uebertreter der Strafgesetze beziehenden gesetzlichen Handlungen"; A h e g g als den „Inbegriff der gerichtlichen Handlungen, welche die Anwendung des Strafgesetzes auf einen gegebenen Fall nothwendig macht" ; M ü l l e r als den „Inbegriff der zur gerechten Anwendung des Strafgesetzes auf einen gegebenen Fall nothwendigen gerichtlichen Handlungen". H e n k e spricht zunächst von dem „Inbegriff der Voraussetzungen und Erfordernisse zur rechtsgültigen Anwendung von Strafgesetzen auf einzelne Fälle", scheidet aber dann „das, was auf die zweck- und sachgemässe Organisation der Richterbehörden Bezug hat", aus und definirt den Strafprozess selbst als „Inbegriff der nach gesetzlicher Vorschrift oder nach der Natur der Sache zur Untersuchung und Beurtheilung von Straffällen und zur Vollstreckung der darüber gefällten Urtheile erforderlichen gerichtlichen Handlungen". Z a c h a r i ä : „Der Strafprozess ist die-

§ 26.

Stellung cles Strafprozesses i m Rechtssystem.

277

W o r t wird zunächst in dem doppelten Sinne gebraucht, dass es sowohl den Vorgang, das Verfahren (ordo judiciorum criminalium), als jenige Art des gerichtlichen Verfahrens, welche die rechtliche Geltendmachung des Strafrechts des Staates zum Gegenstand hat, und besteht aus einem Inbegriff von gerichtlichen Handlungen, welche durch clen gemeinsamen Zweck der Verwirklichung der strafenden Gerechtigkeit bestimmt und geregelt werden. Derselbe umfasst im weiteren Sinne clas für alle Arten von S t r a f s a c h e n eintretende Verfahren". G e y e r : „Der eigentlichen Bedeutung nach ist Strafprozess (ordo judiciorum criminalium, processus criminalis) — im subjectiven Sinn — der Inbegriff der Handlungen, durch welche der Staat sein Strafrecht in jedem vorkommenden Fall geltend macht". U l l m a n n : „ S t r a f v e r f a h r e n , S t r a f p r o z e s s (Criminalprozess, processus criminalis, ordo judiciorum criminalium) nennt man den Inbegriff von H a n d l u n g e n , durch welche nach bestimmten Rechtsregeln der staatliche Anspruch auf Strafe im einzelnen Falle geltend gemacht wird (Strafprozess im subjetiven Sinne)". L u e d e r : „Criminalprozess . . . . ist diejenige Art des gerichtlichen Verfahrens, welche die Verfolgung, Untersuchung und Bestrafung der Verbrechen i. e. S. bezweckt, also der Inbegriff der Rechtsnormen, welche das Verfahren bei Anwendung des materiellen Rechts regeln". J o h n : „Der Strafprozess umfasst die Gesammtlieit derjenigen Rechtsvorschriften, deren Zweck es ist, zu bestimmen, welche Ermittlungen stattzufinden haben, damit die Gerichte über Existenz und Grösse eines strafrechtlichen Anspruches urtlieilen können". Hé l i e : „La procédure criminelle est l'ensemble des formes qui constituent la justice criminelle et règlent son action". Sachliche Bedeutung hat unter clen hier hervortretenden Differenzen nur 1. die N o t wendigkeit, zwischen materiell-rechtlichen Bedingungen der Anwendbarkeit cles Strafgesetzes und der Art der Feststellung ihrer Erfüllung zu unterscheiden; 2. die Betonung der r e c h t l i c h e n O r d n u n g des Vorganges, nicht aber der „gerichtlichen" Natur desselben. Nimmt man letzteres allein zum Ausgangspunkt, wie dies P l a n c k , System. Darst. S 146, thut („Das Strafverfahren ist clie gesetzlich geordnete Thätigkeit der vom Staate eingesetzten Strafgerichte"), so ist man mit ihm genöthigt, die „Vollziehung des anerkannten Strafrechts", die so vielfach nichtrichterlichen Behörden überlassen ist, als „ausserhalb cles eigentlichen Strafverfahrens" liegend zu bezeichnen, weil die eigentliche Aufgabe cler Gerichte nur die rechtsgiltige Feststellung des vermeintlichen Strafrechts cles Staates gegen den „Verbrecher nach Dasein und Inhalt ist, und ebenso clas Verfahren bezüglich der Begnadigung". Jedenfalls kann diese Abgrenzung nicht mit cler der Stadien des Vorganges bei Verwirklichung des Strafrechtes zusammenfallen, da auch nach dem Urtheil noch eine „rechtsgiltige Feststellung" cler zweifelhaften Wirkungen des Urtheils nöthig werden kann. Aber auch abgesehen hie von ist es ja doch nöthig, nicht geradezu zu verleugnen, class cler Prozess auf dem Zusammenwirken von Gericht und Parteien beruht (iudicium est legitimus actus trium personarum, seil, iudicis, actoris et rei: A z o , Summa in Cocl. I I I tit. 1 et 3; s. das Citat bei W a c h in Grünliut V I 521 u. bei B i n d i n g § 1 III). Mag es übrigens auch möglich sein, clie unvermeidliche Thätigkeit der Parteien als indirect mitgetroffen anzusehen, wenn von „gerichtlichen Handlungen", ja selbst wenn von der „Thätigkeit cler Gerichte" gesprochen wird, so kann dies doch nur von cler Thätigkeit v o r Gericht gelten; jedenfalls aber berührt clas .aussergeriehtliehe Verhalten der staatlichen Anklagebehörcle, die Möglichkeit aussergericlitlicher Transactionen der am

§ 26.

Stellung

es Strafprozesses im Rechtssystem.

auch den Inbegriff der dasselbe beherrschenden Regeln und zwar sowohl der dafür geltenden Rechtsregeln ( S t r a f p r o z e s s r e c h t ) als auch der S t r a f p r o z e s s w i s s e n s c h a f t , S t r a f p r o z e s s t h e o r i e bezeichnet, dann aber auch den Gegensatz zwischen dem in dieser Weise abstract hingestellten Strafprozess und dem Vorgang bei Prüfung der Anwendbarkeit der Normen des Strafrechts auf einen bestimmten,, einzelnen Fall einschliesstA Strafverfahren betheiligten Behörden (s. § 420 d. StPO), das Wirken der Criminalpolizei u. s. w. den Strafprozess so nahe, dass diese \rorgänge nicht vollständig aus dem Begriff des letzteren ausgeschieden werden können. 3 Es ist der Versuch gemacht worden, dem Ausdruck „Criminalverfahren" eine weitere Bedeutung beizulegen als dem „Criminalprozess", „weil dieser nach einem richtigen Sprachgebrauch mit der Untersuchung eines \7erbrechens beendigt wird und die Abfassung der Urtheile nebst der Execution derselben zwei von dem Prozesse ganz verschiedene Y erfahren sind" (S tu b e l , Criminalverfahren I, Vorrede S IV). Allein mit Recht sagt über diese nur aus dem Ueberwiegen der Aktenversendung im älteren gemeinen Strafprozess überhaupt erklärliche Behauptung H e n k e (IV § 2 B), dass zu ihrer Unterstützung „weder die Natur der Sache, noch die Terminologie der positiven Gesetze, noch auch nur die Laune des Sprachgebrauches" sich anführen lassen. Dennoch verdient der theilweise entlehnte Ausdruck S t r a f p r o z e s s den Vorzug vor dem rein deutschen „Strafverfahren". Beim Gebrauch der deutschen Benennung „Strafverfahren" wird man wenig Geneigtheit finden, dieselbe wie den Ausdruck „Strafprozess" nicht blos auf den Vorgang selbst, sondern auch auf die für die Regelung des Vorgangs geltenden Normen zu beziehen, ihm überhaupt all die verschiedenen Bedeutungen beizulegen, die dem fremden Worte beigelegt werden. ( B i n d i n g g l : „Strafprozess bezeichnet: 1. Das objectiveStrafprozessrecht, bald im weiteren Sinne die Strafgerichtsverfassung einschliessend, bald im engeren Sinne dieselbe abschliessend; 2. die wissenschaftliche Darstellung dieses Rechtes: die Strafprozesstheorie; 3. das Strafprozessrecht in seiner praktischen Anwendung überhaupt: so spricht man von einem schwerfälligen, einem prompten Strafprozesse u. s. w. ; 4. das einzelne Strafprozessverhältniss, d. h. den einzelnen Straffall in seiner prozessualen Durchführung, Prozess Arnaud, Prozess Rose-Rosal".) Auf die Wahl unter den verschiedenen für den Strafprozess gebrauchten Benennungen übt naturgemäss die Abgrenzung des dabei anzuwendenden materiellen Rechtes Einfluss; „peinliches Verfahren", „peinlicher Prozess", in manchen Ländern auch „Criminalprozess" waren Ausdrücke, welche den Gegensatz der höheren und niederen Straffälle (jurisdictio alta et bassa, Blutgerichtsbarkeit) andeuten sollten, wie denn die auch das materielle Recht einschliessenden, für erstere geltenden Gesetze eben darum „peinliche Gerichtsordnung", „Halsgerichtsordnung", „Landgerichtsordnung" genannt wurden. Nicht minder übt, wie M i t t e r ni a i e r , Strafverfahren §3, mit Recht bemerkt, auch die Grundform des Verfahrens selbst Einfluss auf die Benennung. So wurden unter der Herrschaft des inquisitorischen Verfahrens die Ausdrücke „Untersuchung", „Untersuchungsverfahren" als mit „Strafprozess" gleichbedeutend gebraucht; so ist es immerhin bezeichnend, dass der französische Strafprozess seiner älteren Tradition gemäss (L'instruction c'est l'âme du procès, sagt Ayrault 1. I § 3) instruction criminelle benannt wird, ein Ausdruck, der in doppeltem Sinne ungenau ist, weil er ebenso den Gegensatz zwischen

§ 26.

Stellung cles Strafprozesses i m Rechtssystem.

279

II. Zunächst handelt es sich hier um den Gegensatz zwischen m a t e r i e l l e m und f o r m e l l e m Strafrecht. Das erstere stellt abstract die Bedingungen fest, welche erfüllt sein müssen, wenn eine bestimmte strafrechtliche Regel in einem bestimmten Falle anwendbar sein soll, das letztere die Art und Weise, wie die Thatsache, d a s s sie erfüllt sind, rechtsgültig zur Gewissheit erhoben wird. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass diese rechtsgiltig hergestellte Gewissheit selbst eine rechtliche Bedingung der Anwendung des Strafgesetzes ist, dass die hierüber aufgestellten Rechtsnormen befolgt werden müssen und dass namentlich die Unmöglichkeit, ihnen zu entsprechen, ein rechtliches Hinderniss der Anwendung des Strafgesetzes, trotz der Verwirklichung aller Forderungen des letzteren, bildet 4 . So zeigt sich, dass es ein zwischen Prozessrecht und materiellem Recht in der Mitte liegendes Gebiet giebt, wobei aber schärferes Eingehen darthut, dass es seiner inneren Natur nach m a t e r i e l l e s Recht ist, welches nur durch prozessuale Voraussetzungen und Wechselfälle bedingt i s t 5 . ( M a t e r i e l l e s P r o z e s s r e c h t . ) Auch die Gesetze stimmen in der Art der Abgrenzung des materiellen und Prozess-Rechts nicht überein, wie denn z. B. die französische Gesetzgebung die Verjährung mit dem Prozessrecht in Verbindung bringt 6 . I I I . Der Strafprozess ist Mittel zur Verwirklichung des Strafrechts; von der Stellung und Bedeutung des letzteren hängt daher auch die des ersteren ab. So wie das Wort „S t r a f r e e h t " im heutigen Sprachgebrauch sich abhebt von den anderweitigen Regelungen strafartiger \ : orgänge, welche auf nicht staatlichen Gebieten (kirchliches Strafrecht, corporatives Strafrecht, Strafgewalt des Hausvaters, des Dienstherrn) für zulässig erachtet werden, und von den Ahndungen, Voruntersuchung und Hauptverhandlung, wie den zwischen Strafsachen höchster Ordnung (crimes) und den übrigen ausser Acht lässt, und welchen daher die italienische und belgische Gesetzgebung durch procedura penale, procédure pénale, ersetzt. Auch im englischen Recht, wo im Gegensatz hiezu ein Ausdruck vorherrschte, welcher nur auf die Hauptverhandlung passte (trial), bricht sich die Bezeichnung criminal procedure Bahn. 4 Ist es auch nicht glücklich ausgedrückt, wenn A h e g g § 4 sagt: „Die Schritte im Verfahren sind auch materielle Rechte und Pflichten", so hat er doch Recht hinzuzufügen, dass „selbst das, was hier F o r m ist, materielle Rechtsfolgen hat und selbst wesentlich ist". 5 P l a n c k S 117. 6 Eben so kommt es mitunter vor, dass die Frage der Anwendbarkeit der Gesetze eines bestimmten Territoriums, als eine materiell-rechtliche, mit cler cler Zuständigkeit seiner Gerichte, als einer formell-rechtlichen, vermischt wird. Dass es aber wichtig ist, die Grenzlinie richtig zu bestimmen, zeigt sich namentlich, wenn die Rückwirkung neuer Gesetze in Frage kommt.

280

§ 26.

Stellung cles Strafprozesses im Rechtssystem.

welche der Staat direct oder k r a f t seiner A u t o r i t ä t solchen Ausschreitungen folgen lässt, welche nicht die öffentliche fährden (vergi, oben § 3 I ) , so deutet das W o r t

also von

Strafprozess,

Rechtsordnung

ge-

Disciplinar-Maassregeln, wenn ohne erklärenden Beisatz

gebraucht, eben n u r auf die zur A n w e n d u n g des Strafrechts i m eigentlichen Sinne dienenden V o r g ä n g e 7 . — Es darf aber andererseits auch nicht übersehen werden, dass der Strafprozess u n d clas Bedürfniss, die durch denselben gewährten Vortheile auf Gebiete auszudehnen, welche nicht eigentlich i n das Strafrecht g e h ö r e n 8 , den Anlass dazu boten, das Gebiet des Strafrechts weiter auszudehnen, u n d dass i n Folge dessen der Strafprozess

die A n w e n d u n g des Polizeistrafrechts,

des

Finanz-

strafrechts u n d überhaupt eines weiten Kreises von administrativ-strafrechtlichen N o r m e n n u n ebenfalls v e r m i t t e l t , petenz der Gerichte Strafprozesses 7

das H a u p t m e r k m a l

für

und

deshalb

die Com-

die A n w e n d b a r k e i t

des

wird9.

S. die Literatur über das Verhältniss zwischen Straf- und Disciplinarverfahren bei B i n d i n g , Grundriss des Strafrechts I 112. Vgl. L ö w e Bern 11 zu § 13 GVG. J o h n zu § 3 EStPO I 78 if.. S. auch K r o n e c k e r , Die Rechtshilfe der Gerichte gegenüber den Disciplinarbeliörden in Preussen. GS 1881 S 575 ff. v. L i s z t in HRLex I I 966 ff.; D e r s e l b e , Reichsstrafrecht § 1 und § 42 IV. O.A.G.R. F u c h s , Ueber den Begriff des ehrengerichtl. Verfahrens. GS 1882 S 193 ff. Ueber die Specialität der akademischen Disciplinargewalt s. H e r m a n n , Die akademische Gerichtsbarkeit, in StRZ 1868 S 144 ff. ; O r t i ο f f , Carcerstrafe als Disciplinarstrafe auf Universitäten, im GS 1881 S 139 ff. Unter den D i s ci ρ l i n a r m aas s rege I n nehmen diejenigen eine eigenartige Stellung ein, welche die Ger i c h t e , gleichviel ob sie dazu bei Ausübung ihrer Strafgerichtsbarkeit Anlass erhalten oder nicht, zu verhängen berechtigt sind, so bei Ausübung der S i t z un g s p o l i z e i , des Z e u g n i s s z w a n g e s u. s. w. Mag auch über die Natur der einzelnen Maassregeln Streit sein, das steht ausser Zweifel, dass es sich dabei nicht um die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit selbst, sondern um Attribute, die den Civil- und Strafgerichten gleichmässig zukommen, und jedenfalls nicht um Durchführung von Strafprozessen handelt. 8 Dieses Bestreben übte namentlich auch Einfluss auf die Gesetze über Disciplinargerichte und das Disciplinarverfahren, insofern ein dein Strafprozess möglichst ähnliches Verfahren vorgezeichnet, ja wohl selbst, wie ζ. B. im § 10 des österr. Richterdisciplinargesetzes v. 21. Mai 1868, RGBl Nr 46, das Strafprozessgesetz als Subsidiarnorm dafür aufgestellt wird. Einen analogen Vorgang beobachtet das deutsche Gesetz über die Consulargerichte v. 10. Juli 1879, indem es das ordentliche Strafverfähren speciellen Modificationen unterwirft. Begrifflich machen davon etwa speeifische M i l i t ä r d e l i c t e eine Ausnahme, insofern hier Verletzungen der Disciplin zu Objecten des Militärstrafrechts und des Militärstrafprozesses erhoben sind, ferner A m t s v e r b r e c h e n , die als solche Gegenstände des allgemeinen Strafrechts und somit des Strafprozesses werden. 9 So § 3 Abs. 1 des EStPO: „Die StPO findet auf alle Strafsachen Anwendung, welche vor die ordentlichen Gerichte gehören". So § 1 der Österreich. StPO:

§ 26.

Stellung

es Strafprozesses i m Rechtssystem.

281

Der s a c h l i c h e U m f a n g des Strafverfahrens ist in O e s t e r r e i c h noch ein verhältnissmässig beschränkter geblieben. Es bilden dort den Gegenstand des gerichtlichen Strafverfahrens nur Handlungen, die ausdrücklich für Verbrechen oder Vergehen erklärt sind, und solche Uebertretungen, welche entweder im allgemeinen Strafgesetz von 1852, das allerdings sehr tief in das Gebiet des Polizeiunrechts eingreift, vorgesehen oder durch das Gesetz ausdrücklich den Gerichten zugewiesen sind (Art I und V I I I des Einf.Ges zur StPO und § 9 der S t P O ) 1 0 ; dagegen ist die grosse Masse der polizeistrafrechtlichen Ahndungen noch der Administrativbehörde überlassen 11 . — Im Gegensatz hiezu hat die deutsche Reichsgesetzgebung den Begriff der Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen so festgestellt, dass sie jede Bestrafung an Leben und Freiheit unci jede Belegung mit Geldstrafen umfassen 12 . Das Reichsstrafgesetz selbst umfasst eine grosse Anzahl von Strafandrohungen, die wesentlich polizeistrafrechtlicher Natur sind. Daneben hält aber § 2 des Einf.Ges zum RStGB eine grosse Anzahl von „besonderen Vorschriften des Reichs- unci Landesstrafrechts aufrecht", und es ist die Zahl dieser Bestimmungen seither durch Reichsgesetze vermehrt worden, während andererseits § 5 des erwähnten Einführungsgesetzes „ landesgesetzlichen Vorschriften über Materien, welche nicht Gegenstände des Strafgesetzbuchs für „Eine Bestrafung wegen der den Gerichten zur Aburtheilung zugewiesenen Handlungen kann nur nach vorgängigem Strafverfahren in Gemässheit dieser StPO . . erfolgen". 10 Siehe die Aufzählung bei M i 11 e r b a c li e r , Die StPO . . . Wien 1882 S 16. 17. Vgl. I l i b i t sch, Strafgerichte, Rechtsmittel und Fristen nach der österreichischen StPO. Laibach 1874. F r ü h w a l d , Prakt. Handbuch für . . . Bezirksgerichte in Uebertretungsfällen. Wien 1874. S . M a y e r , Handbuch I 326 ff. 360 f. 11 Die StPO von 1850 war hierin weiter gegangen und hatte von dem strafgerichtlichen Verfahren nur die der Gemeindepolizei zugewiesenen „Uebertretungen" ausgenommen ( W u r t h S 52. 57). Es war aber hierin nicht blos durch die StPO von 1853 ein Rückschritt gemacht worden, sondern es gingen während ihrer Wirksamkeit erlassene Verordnungen noch weiter, indem sie einen grossen Theil der im Strafgesetz angeführten Uebertretungen dem strafgerichtlichen Verfahren entzogen, was durch das Ges v. 22. Oct. 1862, RGBl Nr 72, nahezu, aber doch nicht ganz rückgängig gemacht wurde. Die bestehende Strafprozessordnung beseitigte die in dem eben erwähnten Gesetz noch enthaltenen Ausnahmen; neben dem Entwurf des Strafgesetzes wurde jedoch auch ein Entwurf vorbereitet, der das Polizeistrafrecht unter die Herrschaft der Strafprozessordnung bringen sollte. 12 Der Wortlaut des Abs. 3 des § 1 RStGB könnte zwar clen Zweifel erregen, ob Handlungen, bei denen die angedrohte Geldstrafe nicht „bis zu einhundertfünfzig Mark" reicht, als Uebertretungen anzusehen seien ; allein ein Blick auf den 29. Abschnitt des 2. Theils des RStGB beseitigt diesen Zweifel. Yg\. L ö w e Beni 2 c zu § 453.

282

§ 26.

Stellung

es Strafprozesses i m Rechtssystem.

das Deutsche Reich sind", nur die Schranke setzt, dass darin nur „Gefängniss bis zu zwei Jahren, Haft, Geldstrafe, Einziehung einzelner Gegenstände und die Entziehung öffentlicher Aemter angedroht werden kann", eine Beschränkung, welche pro praeterito nur nach Maassgabe des § 6 daselbst gilt. — Die §§ 27, 74 und 75 des Geriehtsverfassungsgesetzes weisen den ordentlichen Gerichten alle Vergehen und Uebertretungen zu, und nach § 3 der StPO findet die Strafprozessordnung auf alle Strafsachen Anwendung, welche vor die ordentlichen Gerichte gehören, und nach den in der Commission des Reichstages abgegebenen Erklärungen 1 3 „sind unter »Uebertretungen« diejenigen in dem Reichsstrafgesetzbuche, sowie in den Reichs- und Landesgesetzen vorkommenden Delicte zu verstehen, welche mit einer Strafe bedroht sind, die sich innerhalb der aus dem Strafgesetzbuche sich ergebenden Grenze der Uebertretungsstrafen hält; in gleicher Weise ist cler Begriff »Vergehen« zu verstehen". Die §§ 5 und 6 des EStPO halten allerdings eine Reihe von prozessrechtlichen Bestimmungen der Reichsgesetze 14 und in beschränktem Maasse auch der Lanclesgesetze aufrecht und sichern sogar cler Lanclesgesetzgebung in den in Ζ . 1 des § 6 erwähnten Gegenständen das auch cler Reichsgesetzgebung selbstverständlich verbliebene Recht, „über clas Verfahren im Verwaltungswege bei Uebertretungen" und bei Zuwiderhandlung gegen die Vorschriften über die Erhebung öffentlicher Abgaben und Gefälle Bestimmungen zu erlassen 15 . Allein an letzterer Stelle ist bei Erwähnung cler Uebertretungen cler Zusatz gemacht: „wegen deren clie Polizeibehörden zum Erlass einer Strafverfügung befugt sind", und ausdrücklich ist für alle diese durch die Lanclesgesetzgebung geregelten Fälle die Geltung der §§ 453 — 455, 459 bis 463 cler Reichsstrafprozessordnung vorbehalten. Daraus ergiebt sich in strafprozessualer Hinsicht, class clem B e s c h u l d i g t e n stets die M ö g l i c h k e i t offen b l e i b e n muss, b i n n e n e i n e r b e s t i m m t e n F r i s t a u f r i c h t e r l i c h e E n t s c h e i d u n g an13 Diese Erklärung, abgegeben in der 100. Sitzung der Reichsjustizcommission (Prot S 183), ist ausdrücklich als authentisches Interpretationsmaterial angeführt. Vgl. K e l l e r Bern 3 zu § 27 GVG'; S c h w a r z e zu Nr 1 das. S 22. 14 Eine umfassende Aufzählung bei St au d i n g er zu § 5 EStPO. — Ein a d m i n i s t r a t i v e s S t r a f v e r f a h r e n regeln die Reichsgesetze für Postsachen (Ges v. 28. Oct. 1871 §§ 34 ff.), über die Seemannsordnung (§ 101 des Ges v. 27. Dec. 1872) und über die Verpflichtung deutscher Kauffahrteischiffe zur Mitnahme etc. (Ges v. 27. Dec. 1872). Vgl. noch L ö w e bei § 13 StPO. Ueber den Begriff der „Strafsachen" nach deutschem Recht siehe insbesondere J o h n zu § 3 EStPO I S 76 ff. 15 S c h w a r z e vor § 453 StPO. L ö w e Bern 2 a zu § 453.

§ 26.

Stellung

es Strafprozesses im Rechtssystem.

283

zutragen und sonnt die Angelegenheit auf den Weg des gerichtlichen Strafverfahrens hinüber zu lenken. IV. Die Abgrenzung des A d m i n i s t r a t i v s t r a f p r o z e s s e s vom Strafprozess ist nicht ohne Willkür durchführbar und ist Aufgabe der positiven Gesetzgebung. I n Deutschland hatte dies, bei der Notwendigkeit, den Uebergang von der vollen Selbständigkeit der Länder unter die Gesetzgebung des Reiches schonend zu bewerkstelligen und noch manchen anderen Verhältnissen durch Aufrechterhaltung gewisser Sondergerichte Rechnung zu tragen, seine grosse Schwierigkeit, und es sind daher sehr complicirte Verhältnisse geschaffen, die nicht leicht zu übersehen sind; zumal Strafrecht, Strafgerichtsbarkeit und Strafverfahren nicht ganz zusammenfallen, vielmehr nach den geltenden Bestimmungen theils neben den ordentlichen Strafgerichten verschiedene Behörden mit Strafgewalt bestehen, welche ein vom allgemeinen Strafprozess ganz unabhängiges Verfahren beobachten, — theils solchen Behörden ein Verfahren vorgezeichnet ist, für welches in weiterem oder geringerem Umfang das geltende Strafprozessrecht als Subsidiarrecht (bezw. als nur mit den durch Specialbestimmungen aufgestellten Modificationen geltendes Recht) in Betracht kommt, — theils endlich die ordentlichen Gerichte mit gewissen Strafsachen so befasst werden können, dass dabei Abweichungen vom ordentlichen Strafprozess vorgezeichnet sind (§ 3 Abs. 2 EStPO). — Es kommen hier folgende Gesichtspunkte in Betracht 1 6 : 16 Maassgebend sind liier die §§ 13—16 des GYG, die §§ 3—6 des EStPO, endlich die §§ 453 ff. der StPO. Besonders wichtig ist für diese Fragen folgende, eine theilweise über den Wortlaut der Gesetze hinausgehende Erklärung (vgl. L ö w e Bern 11 zu § 13 GYG) enthaltende Stelle der Mot zu § 3 des EStPO: „Was zunächst den Begriff der »Strafsachen« anlangt, so kann derselbe nicht wohl einem Missverständnisse unterliegen. Immerhin mag die Bemerkung am Platze sein, dass er ein Verfahren voraussetzt, welches die Entscheidung über die Anwendung einer strafrechtlichen Norm zum Zwecke hat. Es scheiden somit solche Fälle aus, in denen eine Strafe als Ordnungsstrafe, um den gesetzlichen Gang eines gerichtlichen oder aussergerichtlichen Verfahrens zu sichern, oder als Executionsmittel, um die Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht zu erzwingen, in Anwendung kommt. Dieser in der Natur der Sache liegenden Begrenzung wird nun durch den Entwurf eine positive Beschränkung hinzugefügt: Die StPO soll nur für diejenigen Strafsachen maassgebend sein, welche vor die ordentlichen Gerichte gehören. Welche Strafsachen unter diese Kategorie fallen, ergiebt sich aus den §§ 2 und 3 des GVG. Indem wegen der Begründung dieser Bestimmungen auf die Mot zum GVG Bezug genommen wird, genügt es, an diesem Orte auf die wesentlichsten praktischen Consequenzen aufmerksam zu machen, welche sich aus jenen Vorschriften für die Anwendbarkeit der StPO ergeben. Ausser dem Bereiche der StPO bleiben zunächst die Disciplinarstrafen, weil es sich in denselben, gleichviel ob deren Bearbeitung

284

§ 26.

Stellung cles Strafprozesses i m Rechtssystem.

A. Dem Gegenstand wie der Gerichtsbarkeit nach liegen gänzlich ausser dem Bereich des Strafprozesses: 1. D i s c i p l i n a r S a c h e n , Ordnungs-, Ungehorsams-, Prozess- und Executivstrafen (s. oben Anm 7). 2. M i n i s t e r a n k l a g e n , welche nach den Gesetzen der einzelnen Bundesstaaten vor besondere Staatsgerichtshöfe gehören, unbeschadet der etwaigen Verweisung auf das bestehende Strafprozessrecht als Subsidiarnorm 17 . \Terwaltungsbehörden oder Gerichten übertragen ist, nicht um die Handhabung der Rechtspflege, sondern um einen Akt der Verwaltungsgerichtsbarkeit (GVG § 2) handelt. Unberührt bleibt auch das besondere Verfahren, welches nach den Landesverfassungen bei Anklagen der Minister und der ihnen gleichgestellten Staatsbeamten wegen Verfassungsverletzung stattfindet, da die Entscheidung in solchen Fällen nicht durch die Gerichte als Organe des Rechtspflege, sondern durch einen Staatsgerichtshof erfolgt. Ausserhalb des Rahmens der StPO bewegt sich ferner das \rerfahren vor den Militär- und Consulargerichten, weil diese reichsgesetzlich als besondere Gerichte bestellt sind, und das Verfahren vor den auf Staatsverträgen beruhenden Rheinscliifffahrts- und Elbzollgerichten, sowie vor den Forst- und Feldrügegerichten und vor den Polizeirügegerichten (G\ r G § 3 Nr 1. 5. 6). Es versteht sich übrigens von selbst, dass die StPO auch in dem Verfahren vor diesen besonderen Gerichten insoweit in Anwendung kommt, als die für diese Gerichte maassgebenden Gesetze auf die allgemeinen Strafprozessvorschriften verweisen. Der Absatz 3 enthält eine Erweiterung der Befugnisse der Landesgesetzgebung. Belässt man einmal der Landesgesetzgebung das Verfügungsrecht über die Gerichtsbarkeit in Forst-, Feld- und Polizeirügesachen, so kann man ihre Befugniss zu abweichender Regelung des Verfahrens in diesen Sachen nicht an die Bedingung knüpfen, dass sie besondere Organe für diese Gerichtsbarkeit bestelle. Es würde dies zu einem Formalismus und zu Zweifeln und Streitigkeiten darüber führen, ob diese Bedingung in einem bestimmten Falle erfüllt sei. Der Entw gewährt daher die gedachte Befugniss der Landesgesetzgebung auch dann, wenn diese die Gerichtsbarkeit in den bezeichneten Strafsachen den ordentlichen Gerichten überträgt". 17 Dieses Verfahren trägt den Charakter eines eigens geregelten, von besonderen staatsrechtlichen Garantien umgebenen Disciplinarverfahrens ; das Bestehen solcher Einrichtungen bringt es mit sich, dass das Specialgericht zum Einschreiten auch dann berufen ist, wenn die den Gegenstand seiner Thätigkeit bildende Handlung unter das allgemeine Strafgesetz fällt, während andrerseits die blosse Möglichkeit der Anwendung dieses Specialverfahrens nichts daran ändert, dass das allgemeine Strafgesetz nach Maassgabe der StPO auf das Delict angewendet werde. Insofern das „Non bis in iclem" in Betracht käme, würden allerdings Schwierigkeiten entstehen, die nur angesichts der bezüglichen Specialgesetze zu lösen sind. (Das österr. Ministerverantwortlichkeitsgesetz v. 25. Juli 1867 weist in § 5 die gemeinrechtlichen Delicte der Minister den ordentlichen Gerichten zu, gestattet aber in § 8, sie zum Gegenstande des Specialverfahrens zu machen, wenn sie mit den öffentlichen Functionen des Ministers zusammenhängen, in welchem Falle der Staatsgerichtshof allein zuständig wird.) — Eine eigentümliche Schwierigkeit ergiebt sich daraus, dass die im Art. 61 der p r e u s s i s c h e n Verfassungsurkunde

§ 26.

3.

Stellung

Das Verfahren

vor folgenden reichsgesetzlich

Sondergerichten ( § 1 4 G V G ) :

18

, b. den Gewerbegerichten, m i t

thatsächlich n u r i n Elsass-Lothringen ausgerüstet,

Austrägalinstanz von Standesherrn (§ 7 E G V G ) B.

vorbehaltenen

a. den auf Staatsverträgen beruhenden

Rheinsehifffahrts- u n d Elbzollgerichten Strafgewalt

285

es Strafprozesses i m Rechtssystem.

,9

c. der

.

Verhandlungen, welche dem Gegenstande nach unter den Be-

griff der Strafsachen fallen, aber vermöge

der Zuweisung vor beson-

dere Gerichte auch einem besonders geregelten

Strafverfahren (oder

einem solchen, welches abweichend von dem Reichsstrafprozessrecht geregelt werden kann) unterliegen, oder u m g e k e h l t , bezüglich welcher die Möglichkeit

abweichender O r d n u n g des Verfahrens

auch die der

Constituirung eigenartiger Gerichte m i t sich b r i n g t : 1.

„In

Ansehung

der

Landesherrn

und

der

Mitglieder

der

landesherrlichen F a m i l i e n sowie der M i t g l i e d e r der fürstlichen F a m i l i e Hohenzollern

finden

insoweit A n w e n d u n g , fassungen

öder

die Bestimmungen

der Strafprozessordnung

als nicht besondere Vorschriften

der Landesgesetze

abweichende

nur

der Hausver-

Bestimmungen

ent-

halten" (§ 4 E S t P O ) 2 0 . gehrauchte Bezeichnung: „der oberste Gerichtshof der Monarchie in vereinigten Senaten" auf keines der jetzt noch bestehenden Gerichte anwendbar ist. J o h n zu S 3 EStPO I I I 4 S 91. 18 L ö w e Bern 6 zu § 14 GVG; B i n d i n g § 16 Nr 4 d. 19 Vgl. J o h n a. a. 0. I I I 3 S 88 u. 89. Die Einrichtung ist auf Art. XIV der deutschen Bundesakte von 1815 zurückzuführen. In Preussen ist maassgebend die durch G ν. 12. Nov. 1855 wieder hergestellte Instruction v. 30. Mai 1820, deren wesentlichen Inhalt J o h n folgendermaassen skizzirt: „Die wesentliche Bedeutung (1er Austrägalgerichte besteht darin, dass die H ä u p t e r der standesherrlichen Familien in p e i n l i c h e n Sachen, jedoch mit Ausnahme (1er im königl. Dienste begangenen Verbrechen, den privilegirten Gerichtsstand vor Austrägen beanspruchen können. In dem austrägalgerichtlichen Verfahren werden die Functionen des Untersuchungsgerichts von dem Oberlandesgerichte wahrgenommen und nach Abschluss derselben werden durch das Justizministerium zehn ebenbürtige Standesgenossen bezeichnet, von welchen der Angeschuldigte fünf auswählt, die dann durch Cabinetsbefehl zur Abhaltung des Austrägalgerichts berufen werden. Den Vorsitz führt der Justizminister. Referent und Correferent, welche die Sache aktenmässig mit beigefügtem Rechtsgutachten vorzutragen haben, werden von dem Justizminister aus der Zahl der auf die Justiz verpflichteten Räthe ernannt. Verzichtet der Angeschuldigte auf das Austrägalgericht, so findet Untersuchung und Entscheidung der Sache vor den ordentlichen Gerichten statt". 20 Die bezüglichen Bestimmungen können auch die Zulässigkeit der Verfolgung überhaupt betreifen, wie ja schon aus der Erwähnung der Landesherren selbst hervorgeht. Vgl. L ö w e Bern 2 zu § 4 EStPO. S t a u d i n g er zu diesem §. Die Gesetzesstelle ändert auch nichts daran, dass Landesgesetze nur für das Land gelten, für das sie erlassen sind ; denn die Hausverfassungen (1er regierenden Familien

286

§ 26.

Stellung cles Strafprozesses im Rechtssystem.

2. Die Strafgerichtsbarkeit der M i l i t ä r g e r i c h t e (§ 39 MilG vom 2. Mai 1874, RGBl S 56; § 7 EGVG; § 16 G V G 2 1 . 3. Die Gerichtsbarkeit der Kriegsgerichte und Standrechte (§16 GVG; Art. 68 der deutschen Reichsverf.; preuss. G ν. 4. Juni 1851, Gesetzsammlung S 451, vorläufig giltig für das Reich) 2 2 . 4. Die Strafgewalt der Consulargerichte (Reichsgesetz v. 10. Juli 1879, RGBl S 1 4 7 ) 2 3 . C. Das V e r w a l t u n g s s t r a f r e c h t muss hier nochmals in seiner Eigenart besprochen werden 24 . Es fällt gänzlich aus dem Gesind den L a n d e s g e s e t z e n gleichzuachten, und die bezüglich der fürstlichen Familie Hohenzollern bestehenden Bestimmungen als für Preussen geltend anzusehen (Mot zu § 5 des EGVG). Da alle Bestimmungen, welche Vorbehalte für die Landesgesetze machen, allgemein so verstanden werden, dass sie nicht blos den bestehenden, sondern auch den künftig zu erlassenden gelten, so hat es allerdings den Wortlaut für sich, wenn L ö w e , Bern 4 zu § 4 EStPO, der Landesgesetzgebung das Recht zuspricht, auch hinsichtlich der Mitglieder der landesherrlichen Familien anderer Länder Ausnahmebestimmungen zu erlassen. Allein B i n d i n g bestreitet dies unter Hinweis auf die oben angeführten Mot zu § 5 des EGVG, wonach ausserhalb des eigenen Staates die in § 5 bezeichneten Familien nur jene Privilegien haben sollen, welche die Prozessordnungen ihnen einräumen ; und man muss ihm um so mehr beistimmen, als die Absicht nicht bestanden haben kann, die eventuelle Schaffung auch eines Privilegium odiosum zu ermöglichen. B i n d i n g hat übrigens hier ein „Sonderverfahren vor den ordentlichen Gerichten" vor Augen und bespricht unabhängig davon die Möglichkeit des Bestandes eines Sondergerichtes (die sich allerdings auch aus § 5 EGVG ergiebt), wobei er davon ausgeht, dass soweit solche Gerichte oder die Austrägalgerichte der Standesherrn bestehen, „sie auch dann functioniren, wenn diese Personen ausserhalb ihres Heimathsstaates delinquiren". Vgl. S c h w a r z e zu § 5 EGVG, welcher bezwecke: „die Anwendung der Privilegien, welche den genannten Personen . . . eingeräumt sind, . . . für den gesannnten Umfang des Reiches und für sämmtliche deutsche Gerichte zu sichern". 21 Nach Art. 61 der RV gilt die preussische MStPO v. 3. April 1845 für das ganze Reich (vgl. darüber Dr. Karl H i l s e , Die leitenden Grundsätze des heutigen deutschen Militärstrafverfahrens. Berlin 1869 ; Kritische Beleuchtung des in der norddeutschen Bundesarmee eingeführten preussischen Militärstrafverfahrens. Berlin 1868 ; und die Besprechung beider Schriften von T e i c h m a η η in StRZ 1869 S 288ff.) mit Ausschluss von W ü r t t e m b e r g und B a y e r n , welche ihr MStPRecht beibehalten haben. 22 In B a y e r n sind für Standgerichte noch die Bestimmungen des StG von 1813 I I Art. 441—456 maassgebend; überall sonst kommt eventuell das im Text angeführte preussische Kriegsgerichtsgesetz zur Anwendung. J o h n a. a. 0. I I I Nr 4 S 90. 23 S. namentlich §§ 21—42. Ist die strafbare Handlung ein zur Zuständigkeit des Reichsgerichtes oder der Schwurgerichte gehöriges Verbrechen, so beschränkt sich die Thätigkeit des Consuls „auf die zur Strafverfolgung erforderlichen Sicherheitsmaassregeln". 24 S. namentlich L ö w e Bern 2 a - 8 zu § 13 GVG; J o h n a. a. Ο. IV S 92 ff. Die Ansicht J o h n s , dass hier nur Bestimmungen gemeint seien, welche zu der Zeit

§ 26.

Stellung

es Strafprozesses im Rechtssystem.

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biet des Strafprozesses heraus, insofern es zu Ahndungen führt, deren Androhung der Handlung nicht mindestens den Charakter einer „Uebertretung" giebt (s. oben I H ) ; bezüglich anderer zur Sicherung verwaltungsrechtlicher Anordnungen aufgestellter Strafandrohungen findet ein administratives Strafverfahren statt, von welchem folgendes gilt: 1. Dasselbe stellt sich als eine A u s n a h m e dar, die ihre besondere Begründung finden muss, entweder a. in einer reichsgesetzlichen Anordnung (bis jetzt: für Poststrafsachen, Postges. v. 28. Oct. 1871, G Sanimi. S 347, für gewisse Zuwiderhandlungen gegen die Seemannsordnung, § 101 des Ges v. 27. Dec. 1872, RGBl S 401, und gegen § 1 des Ges v. gl. Tage, RGBl S 432, betreffend die Mitnahme hilfsbedürftiger Seeleute, endlich für Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften über die Erhebung öffentlicher Abgaben und Gefalle, §§ 459 ff. StPO) — oder b. in einer auf Grund reichsgesetzlicher Zulassung fortbestehenden oder neu ergehenden landesrechtlichen Anordnung ; eine solche Zulassung ist ausgesprochen im § 6 Nr 3 des EStPO für Uebertretungen (§ 453 StPO) und für Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften über die Erhebung öffentlicher Abgaben und Gefalle (§§ 459 ff. StPO). 2. Das V e r f a h r e n der Verwaltungsbehörden in solchen Fällen steht aber nicht völlig ausserhalb cles allgemeinen Strafprozessrechtes ; vielmehr wird es in letzteres dadurch hinübergelenkt, dass dem zu einer Strafe verurtheilten die Herbeiführung einer r i c h t e r l i c h e n E n t s c h e i d u n g ermöglicht ist, wobei den Grundtypus die verwaltungsbehördliche Strafverfügung bildet , auf deren Erlassung und Vollzug unter Einhaltung cler im § 453 StPO gezogenen Grenze die landesgesetzliche Regelung des Verfahrens beschränkt i s t 2 5 . Das gerichtliche bestanden, wo die Reichsjustizgesetze ins Leben traten, hat den Wortlaut des § 453 nicht für sich ; a. M. scheint auch L ö w e , Bern 4 d zu § 6 EStPO, und es ist in der That nicht recht einzusehen, warum Erleichterungen des Verfahrens, die das Reichsgesetz nicht blos duldet, sondern billigt, nicht da eingeführt werden sollten, wo sie bisher nicht bestanden, oder warum solche Bestimmungen nicht sollten verbessert werden können? 25 Die Landesgesetzgebung ist nach § 6 Nr 3 des EStPO in der Regel auf die Anordnung bezüglich der polizeibehördlichen Strafverfolgung beschränkt; sie umfasst also die hiemit zusammenhängenden Punkte, wie z. B. die Zulässigkeit eines Administrativrecurses, Vollstreckung der rechtskräftigen Strafbescheide. Weiter gehen die Befugnisse der Landesgesetzgebung bei Regelung des Verfahrens wegen Verletzung der Vorschriften über öffentliche Abgaben ; sie erstrecken sich hier auch auf die ersten Schritte für Einleitung des Verfahrens, vorläufige Feststellung des Thatbestandes durch die Verwaltungsbehörden, freiwillige Unterwerfung unter deren

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§ 26.

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es Strafprozesses im Rechtssystem.

Verfahren, welches einzutreten hat, wenn richterliche Entscheidung angerufen ist, richtet sich dann nach den Bestimmungen der Strafprozessordnung ·, eine Abweichung hievon kann die Landesgesetzgebung nicht anordnen. 3. Ergänzt wird all dies durch die Bestimmungen des § 17 des GVG, welcher die Entscheidung der Frage über die Zulässigkeit des Rechtsweges regelt. I). Eine ganz eigenartige Stellung zwischen Verwaltungs- und Strafsachen nehmen die Forst- und Feldrügesachen 2G ein. Während sonst, wo „besondere Gerichte" aufrecht erhalten wrerden, die Landesgesetzgebung ermächtigt wird, diese Strafsachen den ordentlichen Gerichten unter Vorzeichnung eines abweichenden Verfahrens zu übertragen (§ 3 Abs. 2 des EStPO), ist hier das umgekehrte Verhältniss beobachtet: die Landesgesetzgebung kann ein abweichendes Verfahren für dieselben auch dann vorzeichnen, wenn sie an der reichsgesetzlichen Competenz der Gerichte nichts ändert; sie kann aber andererseits letztere nur soweit reguliren, dass sie anordnen kann, dass diese Sachen durch die Amtsgerichte, sowie dass sie durch diese ohne Zuziehung von Schöffen verhandelt und entschieden wrerden sollen (Abs. 3 daselbst). Der Ausdruck „Forst- und Feldrügesachen" ist unzweifelhaft ein sehr unbestimmter ; unter diesen Ausdruck können gebracht werden: 1. Uebertretungen der nach § 2 des Einf.Ges zum Strafgesetz v. 31. Mai 1870 dem Landesstrafrecht gebliebenen Vorschriften über Forst- und Feldpolizei und Holzdiebstahl, Handlungen also, welche unter das Reichsstrafgesetz überhaupt nicht fallen und welche je nach den durch die Landesgesetzgebung damit verbundenen Folgen den Charakter einer Uebertretung tragen können oder nicht. 2. Im Reichsstrafgesetz vorgesehene Uebertretungen, welche unter den Gesichtspunkt von Forst- und Feldfreveln gebracht werden können (siehe z. B. § 368 K r 6. 9. 11). Entscheidung u. s. w. Mot zu § 6 EStPO (S 258); S t a u d i n g e r Bern 3 zu dieser Gesetzesstelle, und Bern 2 — 5 zu § 459 StPO. Eine Reihe von unentschiedenen Fragen führt L ö w e Bern 7a zu § 13 EGYG auf. 26 S. die oben Anm 16 angeführte Stelle der Mot zu § 3 des EStPO. Vgl. Schwarze bei § 3 EStPO. J o h n das. IV 94 ff. H e i n z e , Das Verhältniss des Reichsstrafrechts zum Landesstrafrecht. Leipzig 1871. S 76 ff. B i n d i n g , Normen I S 73 und d e s s e l b e n Grundriss des Strafrechts S 46. v. L i s z t , Reichsstrafrecht § 11 Anm 6 u. § 65 Nr 3. S. auch das preussische Feld- und Forstpolizeigesetz ν. 1. April 1880 §§ 53 ff. ; das preussische Gesetz betr. den Forstdiebstahl v. 15. April 1878, Gesetzsammlung 222. (Beide abgedruckt bei Da l e k e S. 408 ff.)

§ 26.

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es Strafprozesses im Rechtssystem.

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3. Handlungen, welche durch die Specialgesetzgebung über Forstund Feldpolizei aus dem Begriffe des Diebstahls und der Sachbeschädigung, unter welche sie sonst vielleicht gebracht werden könnten, ausgeschieden und zu Specialdelicten erklärt werden, wofür die formelle Rechtfertigung in der angeführten Stelle des Einführungsgesetzes zum Reichsstrafgesetze, die sachliche aber darin liegt, dass die Geringfügigkeit des Werthes der entzogenen oder beschädigten Gegenstände, das ungünstige Verhältniss zwischen eleni Nutzen, den sie gewähren können, und dem Aufwand an Mühe und Arbeit, den ihre Sammlung erfordert, endlich die aus der historischen Entwickelung hervorgegangene volksthümliche Anschauung sie von der Gruppe, zu der sie eigentlich gehören, abhebt, ähnlich wie dies beim unberechtigten Jagen der Fall ist, wobei aber der Unterschied obwaltet, dass das Wild, das nicht in umfriedeten Räumen gehegt wird, sich aus dem Jagdreviere von selbst entfernen kann und daher Eigenthuni des Jagdberechtigten erst durch die Erlegung wird, während gleiches nicht von geringfügigen Erzeugnissen des Feldes und Waldes g i l t , die hier im Auge zu behalten sind. Die soeben besprochene Abgrenzung ist übrigens eine Frage des materiellen Rechtes; sie musste aber hier berührt werden, um den Umfang der Zulassung von Abweichungen vom Strafprozessrecht zu beurtheilen. Soweit es sich nämlich nach vorstehendem um Ausschreitungen handelt, die n i c h t als Uebertretungen zu betrachten sind, bedarf die Landesgesetzgebung des Abs. 3 des § 3 nur dann, wenn sie trotzdem das Verfahren wegen derselben den Amtsgerichten statt den Verwaltungsbehörden zuweisen will. Abgesehen davon kann man zwar allerdings nicht daran zweifeln, dass das Reichsgesetz nur ganz geringfügige Fälle vor Augen hatte ; immerhin aber ist die Abgrenzung dem schon bestehenden Landesrecht und der bona fides der Landesgesetzgebung überlassen und die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass auch Handlungen, die an sich Vergehen wären, als Feld- und Forstrügesachen behandelt werden. Was die Abweichungen vom Verfahren betrifft, so ist zu erwähnen, dass der Wortlaut des Gesetzes sie auf die Verhandlung und Entscheidung vor den Amtsgerichten einschränkt, eine Bestimmung, welche allerdings die Möglichkeit ausschliesst, das Verfahren i n cler Berufungsinstanz zu modificiren, aber die Ausschliessung jedes Rechtszuges gegen die Entscheidung des Amtsgerichtes nicht verhindern würde. Geradezu ins Auge gefasst war nach dem Berichte der Reichstagscommission (S. 106) die Abänderung der Vorschriften über die Beweisaufnahme, und insbesondere eine Einrichtung derselben, welche Binding·, Handbuch. IX. 4. I : G l a s e r ,

Strafprozess. I.

19

290

§ 26.

Stellung

es Strafprozesses i m Rechtssystem.

vermeiden lässt, dass derselbe Forstbeamte an demselben Tage eine Mehrzahl von Eiden zu leisten habe 27 . V. Aus vorstehendem ergiebt sich, dass, insofern E i η t h e i l u n g e n 2 8 des Strafprozesses nach verschiedenen A r t e n denkbar sind, 27

Was das österreichische Recht betrifft, so ist das Verhältniss zum Verwaltungsstrafrecht schon oben unter I I I dargestellt, und hier nur noch hinzuzufügen, dass das Strafrecht in Bezug auf Abgaben und Gefälle in den wichtigeren Fällen vermöge des Gesetzes über Gefällsübertretungen v. 11. Juli 1835 eigens zusammengesetzten, in den höheren Instanzen mit den Oberlandesgerichten und dem obersten Gerichtshof zusammenhängenden Gefällsgerichten übertragen ist, denen das erwähnte Gesetz ein sehr umständliches, auf den Principien des inquisitorischen, schriftlichen Strafprozesses beruhendes Verfahren unci insbesondere eine eingehende Beweistheorie vorschreibt. Die S o n d e r g e r i c h t s b a r k e i t der Militär- und Landwehrgerichte ist durch die Ges v. 20. Mai 1869, RGBl Nr 78, u. v. 23. Mai 1871, RGBl Nr 45, und bezüglich der Gendarmen durch § 10 des Ges v. 26. Febr. 1876, RGBl Nr 9, geregelt.— Ueber das Militärstrafverfahren s. D a n i i a n i t s c h , Handbuch des Strafverfahrens bei den k. k. Militärgerichten. Wien 1855. Die Consulargerichtsbarkeit in Strafsachen umfasst in der Levante Vergehen und Uebertretungen, bei Verbrechen nur die Maassregeln zur Sicherung der Strafverfolgung. Für M i n i s t e r a n k l a g e n setzt das Ges v. 27. Juli 1867, RGBl Nr 104 es einen besonderen Staatsgerichtshof ein und regelt das Verfahren vor demselben unter Verweisung auf die StPO als Subsidiarrecht. — Das standrechtliche Verfahren (das Verfahren vor Civilstandgerichten) ist im 25. Hauptstück der StPO selbst geregelt. 28 H e n k e IV § 1. B a u e r §§ 4—8. M ü l l e r §§ 7 u. 8. M i t t e r m a i e r , Strafverfahren § 12. Z a c h a r i ä § 2. B i n d i n g § 3. Luecler §§ 1. 3. Die meisten in der älteren Literatur angeführten Eintheilungen sind, auch soweit sie nicht schon früher antiquirt waren, auf den heutigen Strafprozess unanwendbar. Sie bezogen sich: auf die Verschiedenheit der S t r a f f ä l l e (Criminalverbrechen — im Gegensatz zu leichteren Fällen, sog. Civilverbrechen, Polizeidelicten); auf die Verschiedenheit der Grundform des Strafprozesses, insofern das gemeine Recht nominell den Anklageprozess neben dem Untersuchungsverfahren fortbestehen Hess ; auf die grössere oder geringere Förmlichkeit des Verfahrens, indem man dem f ö r m l i c h e n Prozess einen s u m m a r i s c h e n gegenüberstellte, d. h. eine Verfahrensart, welche, ohne von der Grundform des ordentlichen Verfahrens abzuweichen, gestattete, leichtere Straffälle rascher und einfacher zu verhandeln (levia crimina eie piano). Der Ausdruck war um so mehr geeignet, Verwirrung hervorzurufen, als das s u m m a r i s c h e Verfahren in der späteren Entwickelung des gemeinen Strafprozesses einen A b s c h n i t t desselben bezeichnete (s. oben S 97. 98). Im Gegensatz hiezu liebte man es, den Strafprozess als solchen, oder doch wenigstens den inquisitorischen Prozess, „als eine Art des summarischen Verfahrens an den summarischen Civilprozess anzureihen", eine Methode, welche schon G ö n n e r (Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses. Erlangen 1804. I 109—111) verwarf. ( H e n k e IV § 6 Anm 1. B a u e r § 6 Anm c. B i n d i n g § 3 III.) Eben so wenig kann man den A d h ä s i o n s p r o z e s s , wo er besteht, als eine Art des Strafprozesses bezeichnen, da er vielmehr nur darin besteht, dass die Verhandlung eines Civilprozesses mit cler eines Strafprozesses verbunden wird. Dagegen

§ 26.

Stellung des Strafprozesses im Reclitssvstem.

291

zu unterscheiden ist zwischen dem allgemeinen S t r a f p r o z e s s r e c h t und den vorstehend dargestellten S o n d e r v e r f a h r e n bei bestimmten Strafsachen. Es hat sich aber auch bereits gezeigt, dass diese Sonderverfahren nicht unbedingt ausserhalb des sachlichen Geltungsgebietes der Strafprozessordnung stehen. Man hat daher innerhalb des durch die Strafprozessordnung geregelten Verfahrens zu unterscheiden den o r d e n t l i c h e n Strafprozess und ausserordentliche Verfahrensarten. Der o r d e n t l i c h e Strafprozess ist übrigens nicht streng gleichartig, sondern richtet sich nach der für die e r s t e Instanz bestehenden dreifachen Abstufung der Strafgerichtsbarkeit: Reichsgericht oder Schwurgericht — Strafkammern — Amts- und Schöffengerichte. Es dürfte übrigens sachlich gerechtfertigt sein, das Verfahren in clen vor die Strafkammern gehörigen Strafsachen als clas ordentliche Strafverfahren im engeren Sinne des Wortes zu bezeichnen, da nach cler ganzen Anlage der Strafprozessordnung die Vorschriften für clas Verfahren bei anderen Strafsachen sich als Abweichungen von jener Grundform darstellen. Dem ordentlichen Strafverfahren im weiteren Sinne stellt die Strafprozessordnung selbst als „besondere Arten des Verfahrens" gegenüber: clas Verfahren bei amtsrichterlichen Strafbefehl en, clas Verfahren nach vorangegangener polizeilicher Strafverfügung und bei Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften über die Erhebung öffentlicher Abgaben und Gefalle, clas Verfahren gegen Abwesende, welche sich der Wehrpflicht entzogen haben und clas bei Einziehungen und Vennögensbeschlagnahnien. Dazu kommen dann allerdings noch analoge Prozessbestiniinungen in Specialgesetzen, wie ζ. B. im Pressgesetz v. 7. Mai 1874, RGBl S 65 (§§ 23 — 28), in dem Ges über Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften v. 4. Juli 1868, BGBl S. 415, in clem Ges über das Postwesen des Deutschen Reiches v. 28. Oct. 1871, RGBl S 347 (§§ 32 ff.), in clem Ges über clas Urheberrecht an Schriftwerken u. s. w. v. 11. Juni 1870, BGBl. S 339 ff., und in den connexen Gesetzen v. 9., 10. u. 11. Jan. 1876, RGBl S 4, 8 u. 11 (bezüglich cler WTerke der bildenden Kunst, Photographien, Muster und Modelle), und clie Proeecluren vor den Sonderstrafgerichten, sofern bildet das sog. f i s c a l i s che Verfahren wegen Defraudation u. dgl. allerdings ein dem Strafprozess entgegenzusetzendes Strafverfahren; sowie auch die Erwähnung des Achtsprozesses und des C o n t u m a c i a l v e r f a h r e n s sachliche Bedeutung hatte. Nur der Curiosität halber sei noch die Eintheilung von S t e l ζ er (Lehrb. des CrimR § 701) in g e s e t z l i c h e n und w i l l k ü r l i c h e n Strafprozess erwähnt ; siehe darüber B a u e r § 8. — L u ed er § 1 weist auf eine „Eintheilung in die Lehre von der Criminalgerichtsverfassung und in die von dem Criminalverfahren selbst". 19*

292

§ 26.

Stellung cles Strafprozesses im Rechtssystem.

deren Aufgaben nach Abs. 2 cles § 3 cles EStPO clen ordentlichen Gerichten unter Vorzeichnung von Modificationen des allgemeinen Strafprozessrechtes „übertragen" werden.— Besondere Proceclurvorgänge, die ausserhalb cles normalen Verfahrens stehen, aber sich demselben anzupassen haben, treten bei der G e W ä h r u n g d e r R e c h t s h i l f e und A u s l i e f e r u n g s V e r h a n d l u n g e n ein, in einem gewissen Sinn auch bei der Behandlung von B e g n a d i g u n g s f r a g e n und sonstigen aus clem Vollstreckungsverfahren erwachsenden Z w i s c h e n f ä l l e n . Im Gegensatz zu cler Sonderung der Arten des Strafprozesses weist die wirkliche i n n e r e Eintheilung cles Strafprozesses zunächst auf zwei Hauptabschnitte hin, deren erster die Herbeiführung des Urtheils (Έ r k e η η t η i s s v e r f a h r e η ), deren zweiter dessen Vollstreckung zur Aufgabe hat. Der erste Theil gliedert sich dann naturgemäss: in clas V o r v e r f a h r e n , das H a u p t v e r f a h r e n und das R e c h t s m i t t e l v e r f a h r en. VI. Als ein Theil cles Strafrechtes im weiteren Sinne hebt sich der Strafprozess von dem C i v i l p r o z e s s 2 9 ab, mit clem er unter clen gemeinsamen Begriff des gerichtlichen Verfahrens fällt, was nicht hindert, dass selbst bei Ausschluss des A c l h ä s i o n s p r o z e s s e s mancherlei gegenseitige Beziehungen dieser beiden Arten cles gerichtlichen Verfahrens bestehen, auf welche später zurückzukommen sein wird. Vermöge seiner doppelten Eigenschaft als Theil des Strafrechts wie als Theil des g e r i c h t l i c h e n V e r f a h r e n s gehört cler Strafprozess clem öffentlichen Rechte an. Auf clem Gebiete des letzteren nimmt er, vermöge cler Wichtigkeit seiner Aufgabe, der ältesten, welche der Staat für seine Thätigkeit im Inneren sich setzte, einer Aufgabe, deren Erfüllung als die primitivste aller Pflichten der Staatsgewalt erscheint und es rechtfertigt, dass cler Staat für seine Strafbehörden die eingreifendsten Rechte gegenüber den Staatsbürgern in Anspruch nimmt, eine bevorzugte Stellung ein, insofern auch die öffentlichen Behörden, welche nicht unmittelbar mit clem Strafprozess in Berührung zu kommen haben, die Zwecke desselben und die Thätigkeit der Strafgerichte zu unterstützen verpflichtet sind. Dies äussert sich in clen mannichfachen Berechtigungen cler Gerichte, die Hilfe anderer Behörden, ζ. B. für Zustellungen, Auskünfte und Ausfolgung von Akten in Anspruch zu nehmen (z. B. §§ 53 Abs. 2, 73 Abs. 2, 81 Abs. 1, 83 Abs. 3, 92, 96, 255 StPO), fand aber die weitestgehende Anerkennung in § 159 StPO, welcher schon der Staatsanwaltschaft clas Recht einräumt·, für clie Zwecke cler allseitigen Aufklärung eines Straf29

v. B a r , Systematik §§ 4 u. 5.

§ 26.

Stellung cles Strafprozesses im Rechtssystem.

293

falles „von allen öffentlichen Behörden Auskunft zu verlangen". Ganz speciell aber, wie die Natur der Sache mit sich bringt und die eben angeführte Gesetzesstelle ausser Zweifel setzt, sind „die Behörden und Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes" in den Dienst des Strafprozesses gestellt. In gleichem Sinne erklärt § 153 GVG die Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes für „Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft" und verpflichtet sie, clen Anordnungen der Staatsanwälte bei clem Landgerichte ihres Bezirkes und der diesen vorzgesetzten Beamten Folge zu leisten". Diese Bestimmung erlangt noch erhöhte Bedeutung dadurch, dass im deutschen Strafverfahren die Staatsanwaltschaft nicht blos clen Strafvollzug besorgt, sondern in umfassendster Weise die Beziehungen der Gerichte nach aussen (Ladungen u. s. w.) zu vermitteln hat. I n diesen die Behörden betreffenden Bestimmungen drückt sich aber das gegenseitige Verhältniss der Aufgaben derselben, das der Ρ ο 1 i ζ e i zur S t r a f j u s t i z aus 3 0 . Dieses Verhältniss kann nur das des Mittels zum Zweck, also das der Unterordnung sein. Allerdings dient auch die Strafgerichtsbarkeit dem obersten Staatszweck und in einem gewissen Sinne erscheint daher ihr Walten als ein Glied in der Gesammtheit der Veranstaltungen der Staatsgewalt für ihre eigene Sicherheit und für die der Staatsbürger, und insofern die Gewährleistung einer wirksamen Strafjustiz als Aufgabe der Staatsverwaltung 3 1 , als Gegenstand cler Polizei im weitesten Sinne, wie clas 30 Die österr. StPO stellt clas Recht (1er Gerichte voran. § 26: Die Strafgerichte sind in allem, was zu ihrem Verfahren gehört, berechtigt, mit allen Staats-, Landes- und Gemeindebehörden der im Reichsrathe vertretenen Länder unmittelbares Vernehmen durch Ersuchschreiben zu pflegen. Alle Staats-, Landes- und Gemeindebehörden sind verbunden, den Strafgerichten hilfreiche Hand zu bieten und den an sie gelangten Ersuchen derselben mit möglichster Beschleunigung zu entsprechen oder den Strafgerichten die entgegenstehenden Hindernisse sogleich anzuzeigen. § 28: Die Strafgerichte sind befugt, erforderlichen Falles die bewaffnete Macht unmittelbar, ohne Dazwischenkunft einer anderen Behörde, zum Beistande aufzufordern. — Bezüglich der Staatsanwaltschaft heisst es in § 36: Die Staatsanwälte sind befugt, sich in unmittelbare Verbindung mit Sicherheits- oder anderen Staats-, Landes- oder Gemeinciebehörden zu setzen und deren Unterstützung in Anspruch zu nehmen, sowie auch erforderlichen Falles die bewaffnete Macht, ohne Dazwischenkunft einer anderen Behörde, zum Beistande aufzufordern. Die Sicherheitsbehörden und deren untergeordnete Diener haben ihren Anordnungen Folge zu leisten. Vgl. im übrigen bezüglich der gerichtlichen Polizei die §§ 24. 25. 84. 85. 86. 141. 177. — Bezüglich des deutschen Rechtes s. die §§ 98. 105. 159. 161. 187 StPO, § 127 GVG u. § 11 EGVG; vergi, die Zusammenstellung bei v. B a r , Grundriss § 3. 31 Insofern mag es zu verstehen sein, dass G e y e r § 1 Anm das Strafprozessrecht „als einen Theil des Staatsverwaltungsrechts" bezeichnet.

294

§ 26.

Stellung

es Strafprozesses im Rectssystem.

gleiche ja eigentlich von aller Justiz gesagt werden kann, speciell von bedeutenden Gebieten der sog. freiwilligen Civilgerichtsbarkeit gesagt wurde. Polizei und Strafprozess dienen gleichmässig dem Zweck der Verhinderung strafbarer Handlungen; allein ihre Gebiete sondern sich doch sehr scharf. Der Strafprozess hat sich ausschliessend mit bereits verübten Delicten und daher nur mit der Verhinderung ihrer idealen Fortwirkung zu beschäftigen, über den einzelnen Fall darf er nicht hinausgreifen ; die Verhinderung neuer Delicte ist eine von selbst eintretende Folge, nicht eine unmittelbare Aufgabe des Strafprozesses; er dient diesem Zweck, ist ihm aber nicht dienstbar. Für die Polizei dagegen ist dieser Zweck die unmittelbare Aufgabe, die Förderung der Strafrechtspflege eines der Mittel zu ihrer Erfüllung neben zahlreichen anderen, die in das weite Gebiet der mittelbaren und unmittelbaren Verhinderung (Prävention) fallen. Während bezüglich dieser anderen die Berührung mit dem Strafprozess nur eine theoretische ist, insofern nämlich die Kenntniss der Vorgänge auf dem einen Gebiete das richtige \ 7 orgehen auf dem anderen wesentlich fördert, entsteht eine unmittelbare Berührung zwischen beiden blos da, wo es sich darum handelt, schon verübte strafbare Handlungen aufzudecken und ihre Ahndung herbeizuführen. Auch hier noch fallen in das Gebiet der Polizei alle Einrichtungen, welche i m a l l g e m e i n e n darauf abzielen, die Entdeckung sich ergebender Straffälle zu erleichtern und zu sichern. Sowie dagegen die Thätigkeit auf concrete Fälle sich richtet, tritt die polizeiliche Aufgabe vor der des Strafprozesses zurück. Das Wesen des letzteren bringt es mit sich, dass den gerichtlichen Anforderungen alle anderen weichen müssen; der Zweck, der hier erreicht werden soll, ist ein solcher, den die Polizei zu fördern als ihre Aufgabe anzusehen hat; aber dieser Zweck d a r f nur mit den Mitteln des S t r a f p r o z e s s e s erreicht werden, und hieraus folgt die Unterordnung dieses Theiles der polizeilichen Thätigkeit unter die strafprozessuale, die ihren Ausdruck zum Theil auch in Benennungen wie g e r i c h t l i c h e P o l i z e i (police judiciaire) gefunden hat — eine Unterordnung, die zweckmässig zu vermitteln, ohne dass höchst bedenkliche Grenzverschiebungen stattfinden, eine der schwierigsten und delicatesten Aufgaben ist. Es gehört mit zu den Vortheilen, die das Institut der Staatsanwaltschaft gewährt , dass es die Lösung dieser Aufgabe wesentlich erleichtert, das Zusammenwirken der Polizei und der Justiz ermöglicht, ohne dass solche unmittelbare Berührungen nothwendig werden, wTelche fast immer dahin führen müssen, dass die Polizei in die gerichtliche Sphäre eingreift oder dass richterliche Organe in Ver-

§ 26.

suchung gerathen,

Stellung

295

es Strafprozesses im Rechtssystem.

Polizei zu machen.

Ks ist hier also durchaus das

entscheidende, dass die polizeiliche T h ä t i g k e i t , sie betreffe n u n einen blos möglichen oder einen schon vorhandenen Strafprozess,

die sach-

lichen und formellen Anforderungen des Strafprozesses fortwährend zu berücksichtigen u n d sich darauf einzurichten h a t ,

denselben zu ent-

sprechen ; sowie Strafjustiz u n d Polizei sich berühren, hat letztere der ersteren zu dienen, sie ist eine H i l f s t ä t i g k e i t Andererseits staatsrechtlicher

steht

der Strafprozess

Momente,

welche

seiner Gestaltung bestimmen

nicht

derselben32.

vielfach unter

dem

Einfluss

blos die Gesetzgebung

(s. oben § 5 I I ) ,

sondern auch auf

bei die

Ausführung des Gesetzes Einfluss üben ; das g i l t namentlich von völkerrechtlichen N o r m e n u n d von der rechtlichen Stellung der Bundesstaaten zu einander

u n d zum R e i c h ,

an die Stelle der ausschliesslichen Strafprozessrecht barkeit

seines

Gebietes

u n d Begnadigungsgewalt

Herrschaft eine

wodurch

des Staates über

Theilung

getreten i s t ,

deutschen

unverkennbar

der

das

Strafgerichts-

die später noch

ein-

gehend zu besprechen i s t 3 3 . 32 Wichtig ist, was über das Verhältniss der gerichtlichen Polizei zur Staatsanwaltschaft die Mot zu § 153 GVG bemerken, die allerdings nur eines der dabei in Betracht kommenden Momente hervorheben. Es heisst dort: „Verschieden von dem Berufe der Staatsanwaltschaft, i n n e r h a l b der g er i cht 1 i c h en U n t e r s u c h u n g auf die Bestrafung des Schuldigen hinzuwirken, ist ihre andere Aufgabe, über die Handhabung des Rechts der Strafverfolgung, also darüber, ob im einzelnen Falle die öffentliche Klage zu erheben sei, Erschliessung zu fassen. Die grosse Wichtigkeit gerade dieser Aufgabe leuchtet ein, wenn man erwägt, wie gross die Zahl der Fälle ist, in denen unbegründete Denunciation«! erhoben werden, oder in denen wenigstens keine Beweise vorliegen, die eine Verurtheilung des Bezichtigten erwarten lassen. In der That liegt einer der wesentlichsten Vortheile, welche die Einrichtung der Staatsanwaltschaft bietet, gerade in der Möglichkeit, ohne gerichtliches Verfahren die Grundlosigkeit einer Denunciation oder eines angeregten Verdachtes zu erkennen und also ergebnisslose Untersuchungen zu vermeiden" „Durch die Beamten der Staatsanwaltschaft selbst aber lassen sich die erforderlichen Ermittelungen in den seltensten Fällen bewirken, und die Staatsanwaltschaft bedarf daher bestimmter Organe, um ihrer vorgezeichneten Aufgabe genügen zu können. Als solche Organe stellen sich von selbst die Beamten der Sicherheitspolizei dar" . . Die Motive sagen andrerseits: „So unbedenklich es für den Entwurf war, die Sicherheitspolizei als der Leitung der Staatsanwaltschaft untergeben vorauszusetzen, so musste er sich doch darauf beschränken, das Princip aufzustellen". 33 Vgl. F r a n c k e, Die Grenzen zwischen der Strafgewalt der einzelnen deutschen Bundesstaaten. GA X X I 1873 S 72 ff. H e i n z e , Staats- und strafrechtl. Erörterungen S 70 ff. v. B a r in GA 1870 S 90.

296 Zweites Kapitel. Die Quellen des Strafprozessrechts und ihre Behandlung. § 27.

D i e Q u e l l e n cles S t r a f p r o z e s s r e c h t s .

I. Auch abgesehen von clen im vorausgehenden Paragraphen dargestellten Beschränkungen des Begriffes des Strafprozesses besteht finden letzteren in Deutschland eine zweifache Art von Quellen: diese sind nämlich entweder r e i c h s r e c h t l i c h e oder p a r t i c u l a r r e c h t l i c h e ; beiderseits kommen neben den G e s e t z e n noch V e r o r d n u n g e n in Betracht, die, innerhalb der dem Verordnungsrecht verfassungsmässig gezogenen Grenzen erlassen, rechtsverbindlich sind. Bei der Erwähnung der reiehs- wie der landesrechtlichen Bestimmungen bleiben diejenigen hier ausser Betracht, welche ein Sonderstrafprozessrecht im oben dargestellten Sinne zum Gegenstande haben. II.

Reichsrechtliche Quellen des Strafprozessrechtes sind:

1. Die Reichsverfassung v. 20. Dec. 1873 und insbesondere deren Art. 4, wrelcher sagt: „Der Beaufsichtigung des Reiches und cler Gesetzgebung desselben unterliegen die nachstehenden Angelegenheiten : . . . die gemeinsame Gesetzgebung über das gesammte bürgerliche Recht, das Strafrecht und das g e r i c h t l i c h e V e r f a h r e n " , und deren Art. 31 über die Voraussetzungen der Verfolgung der Mitglieder des Reichstages. 2. Das Reichsstrafgesetzbuch v. 26. Febr. 1876, in jenen Bestimmungen, die das Gebiet des Strafprozesses, wie nicht zu vermeiden, berühren. 3. Die Strafprozessordnung für das Deutsche Reich v. 1. Febr. 1877, RGBl S 253 ff. 4. Das EinfühiTingsgesetz hiezu vom gleichen Tage, RGBl S 346 ff. 5. Das Gerichtsverfassungsgesetz v. 27. Januar 1877, RGBl S 41 ff. 6. Das Einführungsgesetz vom gleichen Tage, RGBl S 77 ff. 7. Das Gesetz über den Sitz des Reichsgerichts v. 11. Febr. 1877, RGBl S 415. 8. Gerichtskostengesetz v. 18. Juni 1878, RGBl S 141. 9. Gesetz v. 16. Juni 1879, betr. den Uebergang von Geschäften auf das Reichsgericht, RGBl S 157 ff. 10. Gesetz v. 7. Juli 1879, Gebührenordnung für Rechtsanwälte betr., RGBl S 176 ff.

§ 2.

ie Quellen es Strafprozessrechts.

I I . Die völkerrechtlichen Verträge des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches über Gegenstände des Strafprozesses, namentlich über Auslieferung, Rechtshilfe, Befugnisse cler Consulate1. III. Wenngleich nach der oben I I 1 angeführten Stelle das Strafprozessrecht g e m e i n e s R e c h t ist und nach eleni EStPO §§ 3 u. 6 daher durchgreifende Geltung h a t 2 , ist doch der Lanclesgesetzgebung und dem Verordnungsrecht der Landesregierungen ein nicht unbedeutendes Gebiet offen gelassen worden 3 . — Es sind nämlich einzelne strafprozessuale Materien reichsgesetzlich nur s u b s i d i ä r geregelt, so dass in erster Linie das etwa vorhandene Landesrecht für sie maassgebencl ist, und zwar e n t w e d e r nur das etwa hierüber zurZeit der Erlassung cler Reichsjustizgesetze (oder vielmehr des Beginnes ihrer Wirksamkeit am 1. October 1879) schon b e s t e h e n d e Recht oder auch das n e u zu b e g r ü n d e n d e . Die Sonderung d i e s e r beiden Arten von Ausnahmen, so wichtig sie ist, wird durch den Wortlaut der betreffenden Gesetzesstelle keineswegs erleichtert. Es handelt sich um folgende Punkte: 1. Der § 6 des EGVG sagt: „Unberührt bleiben die b e s t e h e n d e n lanclesgesetzlichen Vorschriften über die Z u s t ä n d i g k e i t der Schwurgerichte für die durch die Presse begangenen strafbaren Handlungen", eine Bestimmung, die klarerweise n u r für bereits erlassene Gesetze des bezeichneten Inhaltes gilt und überdies nicht für die nach S 136 GVG dem RG vorbehaltenen Strafsachen 4. 1

S t a u d i n g e r , Sammlung von Staatsverträgen des Deutschen Reiches über Gegenstände der Rechtspflege. Textausgabe mit Anmerkungen u. s. w. Nördlingen 1882. 2 B i n d i n g § 14 Nr 3: „Das gemeine Prozessrecht ist seiner Masse nach absolut gemeines Recht und somit, soweit es vollständig sein will, durch Particularreclit unspecialisirbar, unergänzbar, nicht auszulegen". J o h n Bern 1 zu § 6 EStPO: „Die StPO will eine Generalcodification des gesammten Strafprozessrechts sein". 3 S. hierüber D o c h o w in HH I 135. 136. B i n d i n g , Grundriss § 14. Geyer §§ 40. 41. 4 Schwarze bei § 6 GVG. L ö w e Bern 3 das. — Die Ausnahme gilt für B a y e r n , W ü r t t e m b e r g , B a d e n und O l d e n b u r g und ist in den für diese Länder zur Ausführung der Reichsjustizgesetze erlassenen Landesgesetzen ausdrücklich formulirt. — Sie war zur Zeit ihrer Zulassung bereits deutlich präcisirt und könnte eigentlich als eine indirecte reichsgesetzliche Festsetzung einer ausnahmsweisen Competenz der Schwurgerichte in den gedachten Fällen angesehen werden, wäre nicht auf dem gewählten Wege die Möglichkeit offen gehalten, dass die Landesgesetzgebung selbst der reichsgesetzlichen Regel freiwillig Platz macht. Sie ist also eine ausnahmsweise geltende locale Competenzbestimmung, die das Reichsgesetz anerkennt, so lange das Landesgesetz besteht. Auf den Streit darüber, ob die Schwurgerichte in solchen Fällen „besondere Gerichte" seien ( K e l l e r Bern 5

298

§ 2.

ie Quellen es Strafprozessrechts.

2. Nach § 11 Abs. 2 des GVG bleiben mit gewissen Vorbehalten „unberührt" „die landesgesetzlichen Vorschriften, durch wTelche die Verfolgung der Beamten entweder im Falle des Verlangens einer vorgesetzten Behörde oder unbedingt an die Vorentscheidung einer besonderen Behörde gebunden ist". Da dieser Absatz des § 6 eine Ausnahme von der Vorschrift des ersten Absatzes macht, welche clas Ausserkrafttreten landesgesetzlicher Bestimmungen über diese Materie vorschreibt, so gilt diese Ausnahme nur für b e r e i t s b e s t e h e n d e Anordnungen 5 . 3. Nach Nr 1 des Abs. 2 § 6 des EStPO „bleiben unberührt" „die landesgesetzlichen Bestimmungen über die Voraussetzungen, unter welchen gegen Mitglieder einer gesetzgebenden Versammlung während cler Dauer einer Sitzungsperiode eine Strafverfolgung eingeleitet oder fortgesetzt werden kann". Die analoge Bestimmung des Art. 31 cler Reichsverfassung bezüglich der Mitglieder des Reichstages blieb selbstverständlich unberührt, aber da sie nicht auf die Mitglieder der gesetzgebenden Versammlungen der Länder ausgedehnt ist, so stehen letztere nur unter dem Schutze der Gesetzgebung ihres Landes. Die Fassung des § 6 scheint zu gestatten, dass die Landesgesetzgebung auch neue Anordnungen dieser Art treffe 6 . 4. Die Landesgesetzgebung kann die Verhandlung und Entscheidung der zur Zuständigkeit cler Oberlandesgerichte gehörenden Revisionen und Beschwerden ausschliesslich einem der mehreren Oberzum § 6 cit. — s. dagegen L ö w e Bern 4 das., J o h n zu § 3 EStPO I I I 4 S 90 Anm 9), ist wohl nicht weiter einzugehen; die wichtigste Folgerung, die sich hieraus ergeben würde, wäre, dass in solchen Fällen nach Abs. 2 des § 3 EStPO die Landesgesetzgebung ein von der StPO abweichendes Verfahren gestatten könnte. Diese Folgerung erklärt K e l l e r selbst als unzulässig. Die Frage des G e r i c h t s s t a n d e s des Z u s a m m e n h a n g e s (s. darüber K e l l e r a. a. 0. und dagegen L ö w e Bern 4 zu § 6 cit.) wird später zu besprechen sein. 5 B i n d i n g § 14 Nr 2a. S c h w a r z e bei § 11 cit. L ö w e Bern 2 das. K e l l e r Bern 3 das. — Die Ausnahme gilt für B a y e r n , B a d e n , Hessen und E l s a s s - L o t h r i n g e n , wo nach französischem Vorbilde es zur Verfolgung öffentlicher Beamten der Genehmigung einer bestimmten Staatsbehörde unbedingt bedarf, unci für P r eu s s en, wo kraft des sog. Conflictsgesetzes v. 13. Febr. 1854 clie Verwaltungsbehörde gegen die Verfolgung Einsprache erheben kann, über deren Berechtigung der früher bestandene Conflictsgerichtshof zu entscheiden hatte. L ö w e Bern 2 das.; siehe jedoch über die sich ergebenden Controversen K e l l e r Bern 8 das. Vgl. überdies die ausführliche Erörterung und die Mittheilungen aus den Verhandlungen bei K e l l e r Bern δ—7. 6 B i n d i n g § 14 Nr 2 a. Die Wirksamkeit der Ausnahmen beschränkt sich übrigens auf das Erkenntniss- und Rechtsmittelverfahren ; ein Antrag, auch die Strafvollstreckung einzuschränken (Prot S 1111), wurde abgelehnt.

§ 2.

ie Quellen des Strafprozessrechts.

landesgerichte des Landes übertragen (§ 9 des GVG); es unterliegt keinem Zweifel, (lass hierin die Landesgesetzgebung freie Hand behält. 5. Durch Anordnung der Landesjustizverwaltung 7 können für das die öffentliche Klage vorbereitende Verfahren, für die Voruntersuchung und für das Verfahren bei der Strafvollstreckung jederzeit einfachere Formen für den Nachweis der Zustellung zugelassen werden, als welche die Reichsgesetze vorzeichnen (§ 39 StPO). 6. Der Landesjustizverwaltung überlässt § 420 StPO die Bezeichnung der zur Vornahme von Sühneversuchen berufenen Vergleichsbehörde, und 7. § 483 StPO die Uebertragung der Strafvollstreckung in den zur Zuständigkeit der Schöffengerichte (Amtsgerichte) gehörigen Strafsachen an den Amtsrichter. 8. Die Landesgesetze können Beamte bezeichnen, welche, obgleich in § 34 GVG nicht erwähnt, zu dem Amte eines Schöffen nicht berufen werden dürfen (Abs. 2 das.). IV. In anderen Fällen hat aber auch die Reichsgesetzgebung geradezu auf die E r g ä n z u n g ihrer Bestimmungen durch die Landesgesetzgebung gerechnet oder sich solcher Ausdrücke bedient, welche ihre Erklärung nur im Landesrecht und in clen Einrichtungen einzelner Länder finden. In letzterer Hinsicht ist ζ. B. auf den Ausdruck „Feld- und Forstrügesachen" zu verweisen; in ersterer auf die Bestimmungen über clen Mennoniteneid (§§ 64 u. 288 StPO), über die Wahl öffentlich bestellter Sachverständiger (§ 73), insbesondere aber auf die zahlreichen Ergänzungs- und Ausführungsbestinmiungen, deren das Gerichtsverfassungsgesetz bedarf, und auf die unentbehrlichen, in den Bereich cler Verordnung fallenden Anordnungen über clen Geschäftsgang der Staatsanwaltschaft, Kanzleieinrichtungen u. dgl. — Die Folge davon ist, dass die Bestimmungen cler Reichsgesetze durch eine sehr grosse Zahl zum Theil sehr umfangreicher Particulargesetze und Verordnungen ergänzt wurde. B i n d i n g giebt in seinem Grundriss (§ 15) eine Uebersicht über dieselben mit der Bemerkung, dass sie für die deutschen Königreiche im wesentlichen vollständig sei, für die übrigen Staaten nur clas wichtigste verzeichne; darauf wird hier verwiesen. 7

L ö w e Bern 4h zu § 6 EStPO und J o h n Bern 3 das. machen darauf aufmerksam, dass in solchen Fällen der Uebertragung der Befugniss an die Landesjustizverwaltung deren Verordnungsrecht aus dieser Quelle fliesst und daher von der sonst im Lande geltenden Abgrenzung zwischen Gesetzgebung und Verordnungsrecht unabhängig ist.

§ 2.

300

ie Quellen des Strafprozessrechts.

V. Die Quellen des heutigen österreichischen Strafprozessrechts sind durchaus reichsrechtliche; der Landesgesetzgebung ist durch § 12 des Staatsgrundges. über die Reichsvertretung v. 21. Dec. 1867 dieses Gebiet entrückt, was bei dem grossen Spielraum, der der polizeistrafrechtlichen Gesetzgebung gelassen ist (s. oben § 26 III), keine Schwierigkeit bereiten konnte. Abgesehen von dem unvermeidlichen Hinübergreifen einzelner Bestimmungen anderer Gesetze unci von den völkerrechtlichen Modificationen und Einschränkungen des Strafprozessrechts sind als Quellen desselben anzuführen: 1. Das Gesetz v. 23. Mai 1873, RGBl Nr 119, betreffend die Einführung einer Strafprozessordnung, welchem diese selbst sich ansehliesst. 2. Das Gesetz vom selben Tage, RGBl Nr 120, betr. die zeitweise Einstellung der Wirksamkeit der Geschwornengeriehte. 3. Das Gesetz vom selben Tage, RGBl Nr 121, betr. die Bildung der Geschwornenlisten. 4. Verordnung des Justizministers v. 19. Nov. 1873, RGBl Nr 152, Vollzugsvorschrift zur StPO. 5. Verordnung des Justizministeriums v. 16. Juni 1854, RGBl Nr 165, Instruction über die innere Amtswirksamkeit und die Geschäftsordnung cler Gerichtsbehörden in strafgerichtlichen Angelegenheiten. 6. Verordnung cles Justizministeriums v. 3. August 1854, RGBl Nr 201, über die innere Einrichtung und clie Geschäftsordnung cler Staatsanwaltschaften. 7. u. 8. Die Gesetze v. 27. October 1862, RGBl Nr 87 u. 88. zum Schutze der persönlichen Freiheit und des Hausrechts. 9. Das Gesetz v. ö . A p r i l 1870, RGBl Nr 42, zum Schutze cles Brief- und Schriftengeheimnisses. § 28.

Geltungsgebiet

der Q u e l l e n rechts1.

des

Strafprozess-

I. Der Strafprozess ist cler rechtlich geordnete Vorgang zur Verwirklichung cles Strafrechts, er verhält sich zu diesem, wie das Mittel zum Zweck; principiell fällt also das s a c h l i c h e und p e r s ö n l i c h e G e l t u n g s g e b i e t beider zusammen. Sie haben nothwendig dieselbe rechtliche Grundlage in demselben rechtserzeugenden Willen, in der1

F e u e r b a c h , Themis. Landshut 1812. S 319 if. Z a c h a r i ä §§ 7. 61. U l i m a n n § 9. B e r n e r , Wirkungskreis des Strafgesetzes S 52. 63 ff. 201 ff. K ö s t l i n , Syst. S 37. 38. 54. v. B a r , Das internationale Privat- und Strafrecht. Hannover 1862. S 577 ff.

§ 28.

Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts.

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selben gesetzgebenden Gewalt; das von dieser statuirte Strafrecht kann rechtlich nur unter Einhaltung des dafür aufgestellten Strafprozessrechts zur Geltung gebracht werden; dieses wieder hat keinen anderen Zweck als jenes zu verwirkliehen. Der wichtigste Grundsatz für die Art der Verwirklichung des Strafrechts ist aber der, dass sie von der Entscheidung des dazu berufenen Gerichts abhängt, das zu diesem Zweck zu einer selbständigen Macht im Staate erhöht wird. S t r a f r e c h t , S t r a f p r o z e s s und S t r a f g e r i c h t s b a r k e i t treffen daher nothwendig dieselben Gegenstände und dieselben Personen. Und das gilt unbedingt, wo diese drei Ausdrücke in ihrem eigentlichen, engeren Sinne gebraucht werden. Es ist aber bereits ersichtlich gemacht worden, dass einerseits an das sachliche Gebiet des allgemeinen Strafrechts Gebiete grenzen, die als die des S p e c i a l s t r a f r e c h t s bezeichnet werden können, und dass es für wünschenswerth erachtet werden kann, e n t w e d e r den Strafprozess geradezu auf dieses Gebiet auszudehnen, in welchem Falle dasselbe aber zunächst als ein Theil des allgemeinen Strafrechts anerkannt wird, o d e r das allgemeine Strafprozessrecht mit mehr oder weniger weit gehenden Modificationen anzuwenden. Ferner hat die Exemtion bestimmter Personen vom Strafrecht zwar nothwendig auch die Exemtion vom Strafprozess zur Folge; dagegen ist es allerdings möglich, dass die letztere ohne die erstere eintritt. Es ist bereits erörtert worden, in welchem Umfange eine S o n d e r g e r i c h t s b a r k e i t und ein Son d e r v e r f a h r en für bestimmte P e r s o n e n oder für bestimmte S t r a f s a c h e n eintreten können. Nimmt man hierauf und auf die möglichen Berührungen mit auswärtiger Strafgerichtsbarkeit Bücksicht, so gelangt man zu folgenden Grundsätzen: 1. U n s e r allgemeines Strafprozessrecht findet Anwendung überall, wo es sich um die Verwirklichung u n s e r e s allgemeinen Strafrechts handelt und hiefür nicht ausdrücklich ein S o n d e r ν e r f a h r e n vorgezeichnet ist. 2. Es erlangt aber andererseits eine darüber hinausreichende Wirksamkeit : a. insofern die Handhabung eines S ο n d er s t r a f r e c h t s den ordentlichen Gerichten überwiesen wird; b. insofern umgekehrt Strafbehörden, welche von den ordentlichen Gerichten verschieden sind, verpflichtet werden, Regeln und Grundsätze des Strafprozesses als solche zu beobachten; c. insofern endlich unsere ordentlichen Strafgerichte gesetzlich dazu berufen sind, einzelne Akte der Rechtshilfe zur Förderung eines vor einem Sondergerichte oder eines vor anderen Behörden in dem

§ 28. Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts.

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diesen zukommenden Sonderverfahren oder eines vor den ordentlichen Gerichten eines fremden Staats durchzuführenden Strafverfahrens vorzunehmen. II. Schon aus vorstehendem ergiebt sich, dass die ö r t l i c h e 2 Geltung des Strafprozessrechts sich über das ganze Gebiet erstreckt, in welchem das Strafrecht Geltung hat, zu dessen Verwirklichung es dienen soll. Das Τ er r i t o r i a l p r i n c i p , als der Grundsatz, vermöge dessen die souveräne Gewalt über ein bestimmtes Gebiet das a b schliessende Recht hat, die rechtliche Ordnung für dasselbe und für alle Vorgänge innerhalb desselben festzustellen, macht sich in Bezug auf den Strafprozess wo möglich mit noch grösserer Ausschliesslichkeit geltend als in Bezug auf das materielle Strafrecht. Es ist die Collision hier nicht denkbar, welche entsteht, wenn es fraglich ist. nach welchem Rechte eine Handlung zu be u r t h e i l e 11 ist, welche sich p h y s i s c h zwischen zwei Gebiete veitheilt 3 oder durch die Person des Thäters oder durch ihre Fortwirkung ein anderes Gebiet berührt, als auf welchem sie begangen wurde. Es ist denkbar und unter Umständen nothwendig, dass eine Handlung auf clem Gebiete A begangen, in dem Gebiete Β beurtheilt werde, und es ist denkbar und kann gerecht sein, dass dabei clas materielle Recht des Thatortes, soweit es das mildere ist, auch von clen Gerichten des fremden Gebietes berücksichtigt werde. Der Strafprozess aber ist klarer Weise unabhängig von cler Oertlichkeit, an welcher sich der clen Gegenstand desselben bildende Vorfall zugetragen hat. Er selbst ist nun jedenfalls ein inländischer Vorgang; er m u s s sich innerhalb eines bestimmten Gebietes halten; die Gerichtsbarkeit, ohne die er nicht denkbar ist, macht an der Grenze ihres Gebietes unbedingt Halt. Der Strafprozess ist clas rechtlich geordnete Verfahren, das der Staat seinen Strafgerichten vorgezeichnet hat, sie dürfen eine andere Norm ihres Vorgehens nicht gelten lassen. Sie dürfen es nicht, weil das Strafprozessrecht — ob nun durch Gesetze vorgezeichnet oder durch Herkommen festgestellt — cler Ausdruck der rechtlichen Ueberzeugung ist. dass die Zwecke der Strafrechtspflege nur auf diesem Wege mit voller Sicherheit zu erreichen sind, class ein Abgehen von demselben die Verlässlichkeit des Ergebnisses von Anfang an zerstört. Ein anderes Verfahren einschlagen hiesse entweder das den Gerichten des Inlandes 8

Z a c h a r i ä § 7 II. D e r s e l b e im ANF 1852 S 35 ff. B e r n e r S 80 ff. v. B a r S 577 ff. I I 11 m a n n § 9 S 49 u. 50. S t a r r , Die Kechtsliülfe in Oesterreich gegenüber dem Auslande. Wien 1878. S 244 ff. 3 Vgl. H é l i e § 131 vol. I I ρ 628—638; D e r s e l b e , Pratique η. 40 ρ 24. B or s a n i e C a s o r a t i § 306 I p 355.

§ 28.

Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts.

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vorgezeichnete Verfahren als das minder verlässliche erklären oder sich mit einem als minder verlässlich erkannten Verfahren begnügen, wo das verlässlichere zur Verfügung steht 4 . Ueberdies ist das letztere nicht blos moralisch, sondern factisch unmöglich; denn ein bestimmtes Prozessverfahren fordert eine Gesanuntheit von Einrichtungen und Veranstaltungen, die sich für einen einzelnen Fall nicht beliebig herstellen lassen. Der Satz steht also fest: So oft im Inlande ein Strafprozess zu führen ist, ist er ausnahmslos dem inländischen Strafprozessrecht unterworfen; und wesentlich hierauf, jedenfalls noch mehr als auf der Forderung der exclusiven Geltung des inländischen materiellen Strafrechts beruht es, dass auswärtige Strafurtheile im Inlande nie vollzogen werden 5 . Der Satz von der ausschliesslichen Geltung des inländischen Strafprozessrechts im Inland unterliegt nur denjenigen Beschränkungen, die sich aus den völkerrechtlichen Einschränkungen des Begriffes „Inland" durch die E x t e r r i t o r i a l i t ä t ergeben 6 . Auch sie reichen übrigens nur so weit, dass Vorgänge a u s w ä r t i g e r Behörden innerhalb der unter dem Schutze der Exterritorialität stehenden Räume 7 ignorirt werden, und auch dies nur wenn sie nicht einen Aufsehen 4

U l i mann § 9 Anm 6. Z a c h a r i ä S 61 ΠΙ Band 1 S 407. Oesterr. StG § 36 Abs. 3. 6 Die Wirkung der Exterritorialität besteht, in strafrechtlicher Hinsicht, in der Unanwendbarkeit des inländischen Strafrechts auf die Person cler Exterritorialen: fremde Souveräne und das eigentliche Gesandtschaftspersonal der im Inlande beglaubigten Legationen, deren Familien und in deren Dienst stehende Landsleute derselben ( n i c h t a l l g e m e i n a n e r k a n n t ) . H e f f t e r , Völkerrecht § 42. Z a c h a r i ä § 61 I V Oesterr. StPO § 61. S t a r r , Rechtshülfe S 14 f. He l i e § 127 vol. I I ρ 526 ss. D e r s e l b e , Pratique η. 25 ρ 20. Sie schliesst aber auch die Exemtion von der Gerichtsbarkeit namentlich der inländischen Strafgerichte in sich, und die Selbständigkeit dieser Exemtion würde sich zeigen, wenn es sich um Verfolgung wegen eines Delietes handelte, das zu einer Zeit begangen wurde, wo der jetzige Exterritoriale unter der Herrschaft des inländischen Strafgesetzes stand. 7 Es ist eigens dieser unbestimmte Ausdruck gewählt, weil es nichts weniger als fest steht, ob die Exemtion auch die R ä u m l i c h k e i t e n unbedingt mitumfasst in dem Sinne, dass daselbst von Nichtexterritorialen verübte Handlungen nicht als im Inlande verübt angesehen werden und keinen Anlass zu Amtshandlungen der inländischen Gerichte innerhalb dieser Räume geben können. Letzteres dürfte allgemein verneint werden, meist aber auch ersteres. So sagt H é l i e , Pratique η. 35: „II est vrai que, par une fiction légale, l'hôtel habité par les agents diplomatiques est réputé hors du territoire du souverain près duquel ils sont accrédités; mais de là il suit seulement que, pour saisir le domestique inculpé, l'assentiment de l'agent est nécessaire. L'usage veut que le magistrat saisi de la plainte en réfère au ministre des affaires étrangères". 5

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§ 28. Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts.

erregenden Charakter annehmen 8 . Durch völkerrechtliche Abmachungen kann übrigens fremden Gesandten und Consuln das Recht eingeräumt werden, einzelne Procedurakte in Bezug auf Gegenstände, welche unter die Strafgewalt ihres Staates fallen, in dem Gebiete, wo sie beglaubigt oder anerkannt sind, mit Ausschluss jedes Zwanges gegen die Angehörigen des letzteren vorzunehmen 9 . 8

Y a t t e 1 erkennt den diplomatischen Agenten un pouvoir coërcitif et pour ainsi dire correctionel liber ihre Hausleute zu, den andere auf die hausväterliche Gewalt beschränken; namentlich M e r l i n bestreitet den Diplomaten mit vollem Recht die Befugniss, ein Gericht einzusetzen, ein Urtheil zu fällen, H é l i e , Instr. § 127 vol. V I I ρ 552 ss.; und H é l i e selbst sagt: „Qui 'est-ce qui soutiendrait aujourd'hui que l'hôtel d'un ambassadeur peut servir d'asile aux criminels ou qu'une exécution capitale peut y être faite par le seul ordre de cet ambassadeur"? 9 Es gehören diese Fragen zu denjenigen, welchen man auf völkerrechtlichem Gebiete möglichst aus dem Wege geht. In neuerer Zeit, wo die Tendenz hervortritt, den Consularagenten eine der der Diplomatie analoge Stellung zu gewähren, dabei aber ein wirksameres Eingreifen in die Angelegenheiten der Angehörigen ihres Landes zu ermöglichen, werden mehr und mehr Mittelzustände geschaffen, welche einerseits den Räumen des Consulats ein gewisses Maass von Exemtion sichern, andererseits den Consularagenten mindestens ein gerichtspolizeiliches Einschreiten auf eigentlich der inländischen Jurisdiction unterstehendem Gebiete ermöglichen sollen, ein Einschreiten, bei welchem für sie die Gesetze des von ihnen vertretenen Landes maassgebend sind, soweit sie an deren Beobachtung nicht durch die territorialen Gesetze und Behörden gehindert sind. Vgl. hierüber H é l i e , Instruction § 126 vol. I I ρ 523 ss. D e r s e l b e , Pratique η. 34. B o r s a n i e C a s o r a t i §§ 309 bis 315 vol. I ρ 357 ss. M i t t e r b a c h e r bei § 61 öst. StPO. In ersterer Hinsicht wäre ζ. B. die Consularconvention zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika v. 11. Dec. 1871, RGBl 1872 S 95, mit einigen anderen zu vergleichen. Ueberall ist die Unverletzlichkeit der Consulararcliive, die Unzulässigkeit ihrer Durchsuchung oder Beschlagnahme bedungen; allein Art. 5 der angeführten Convention mit Amerika fügt hinzu: „Die Amtsräume und Wohnungen der Berufsconsuln (consules missi), welche nicht Angehörige des Landes sind, in dem sie ihren Sitz haben, sollen jederzeit unverletzlich sein. Die Landesbehörden sollen, soweit es sich nicht um Verfolgung von Verbrechen handelt, unter keinem Vorwande dort eindringen. In keinem Falle dürfen sie die daselbst niedergelegten Papiere durchsuchen oder in Beschlag nehmen. Unter keinen Umständen dürfen diese Amtsräume oder Wohnungen als Asylorte benützt werden". Dagegen beschränkt sich ζ. B. die Consularconvention zwischen Preussen und den Niederlanden v. 16. Juni 1856, welche am 11. Januar 1872 (RGBl S 67) auf das Reich übertragen wurde, auf den Schutz der Archive (Art. 5) und enthält zudem (Art. 4) die Verwahrung, dass das am Consulatsgebäude angebrachte „äusserliche Abzeichen niemals so angesehen werden darf, als ob es ein Asylrecht begründe, oder als ob es das Haus und dessen Bewohner den Maassregeln der Landesgesetze entziehen könne". Der betreffende Passus im Art. 4 des Consularvertrages mit Russland lautet wieder: „Selbstverständlich sollen diese äusseren Abzeichen niemals so aufgefasst werden, als begründeten sie ein Asylrecht, sondern sie sollen vorzugsweise dazu dienen,

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Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts.

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Wann inländische Gerichte, um auswärtigen R e c h t s h i l f e zu gewähren, einzelne Akte vornehmen, welche bestimmt sind, sich in einen im Auslande geführten Strafprozess einzufügen, so ändert dies an der Geltung des Territorialprincips nichts: die inländischen den betreifenden Seeleuten oder Landesangehörigen das Consulatsgebäude kenntlich zu machen". In Bezug auf die Vornahme von Untersuchungsakten, speciell Vernehmungen, ist ebenfalls die Grenze meist mit Bedacht etwas unbestimmt gelassen. So sollen nach Art. 9 der Convention mit Nordamerika die Consularagenten, „soweit sie nach den Gesetzen und \rerordnungen ihres Landes dazu befugt sind, das Recht haben, i n i h r e n A m t s r ä u m e n o d e r W o h n u n g e n , in den Wohnungen der Betheiligten oder an Bord der Nationalschiffe die Erklärungen der . . . . Angehörigen ihres Landes entgegenzunehmen", und nach Art 12 können sie sich an Bord der nationalen Schiffe begeben, „um die Officiere und Mannschaften zu vernehmen" und die Erklärungen über „die Zwischenfalle während der Reise entgegenzunehmen". Nach Art. 18 das. steht endlich den Consularbeamten „ausschliesslich die Aufrechthaltung der inneren Ordnung an Bord ihrer nationalen Handelsschiffe zu. Sie haben demgemäss Streitigkeiten jeder Art, sei es auf hoher See, sei es im Hafen, zwischen den Schiffsführern, Officieren und Matrosen zu schlichten" „Weder ein Gerichtshof noch eine andere Behörde soll unter irgend einem Vorwande sich in solche Streitigkeiten mischen dürfen, ausser in Fällen, wenn die an Bord vorfallenden Streitigkeiten der Art sind, dass dadurch die Ruhe und öffentliche Ordnung im Hafen oder am Lande gestört wird, oder wenn andere Personen, als die Officiere und Mannschaften des Schiffes, an den Unordnungen betheiligt sind. Mit Ausnahme der vorgedachten Fälle sollen die Landesbehörden sich darauf beschränken, den Consuln wirksame Hilfe zu leisten, wenn diese darum nachsuchen, um diejenigen Personen zu verhaften und gefangen zu halten, deren Name in der Schiffsrolle eingetragen ist und deren Festhaltung jene für erforderlich erachten. Diese Personen sollen auf eine schriftliche, an die Landesbehörde gerichtete und von einem beglaubigten Auszuge aus dem Schiffsregister oder der Musterrolle begleitete Aufforderung verhaftet und während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts im Hafen zur Verfügung der Consuln festgehalten werden. Ihre Freilassung soll nur in Folge eines Ersuchschreibens der gedachten Consuln erfolgen". Aehnliche Bestimmungen finden sich in allerdings variirendem Umfang, weitergehend namentlich für der Civilisation entrücktere Gegenden, in anderen Conventionen dieser Art (siehe dieselben bei S t a u d i n g e r , Staatsverträge S 260 ff.) Bemerkt sei ferner, dass nach Art. 21 des deutsch - österreichischen Handelsvertrages v. 23. Mai 1881 die beiderseitigen Consularbeamten auf dem Fusse der Meistbegünstigung behandelt werden. Bei dieser Gelegenheit sei auch noch § 6 des gleichzeitig abgeschlossenen Zollcartells erwähnt; danach soll „den Zollund Steuerbeamten der vertragenden Theile gestattet sein, bei Verfolgung eines Schleichhändlers oder der Gegenstände oder Spuren einer Uebertretung der Zollgesetze ihres Staates sich in das Gebiet des anderen Theiles zu dem Zwecke zu begeben, um bei den dortigen Ortsvorständen oder Behörden die zur Ermittelung des Thatbestandes und des Thäters sowie die zur Sicherung des Beweises erforderlichen Maassregeln, das Sammeln aller Beweismittel bezüglich der vollbrachten oder versuchten Zollumgehung, sowie den Umständen nach die einstweilige Beschlagnahme der Waaren und die Festhaltung der Thäter zu beantragen". Binding, Handbuch. IX. 4. I : G l a s e r , Strafprozess. I .

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Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts.

Gerichte haben sich dabei nach den Vorschriften des i n l ä n d i s c h e n Strafprozessrechts zu benehmen und die Giftigkeit des Aktes hängt, nach richtigen Grundsätzen, a u c h f ü r das a u s l ä n d i s c h e Gericht davon ab, dass dies geschehe. Da indess dies keineswegs allgemein anerkannt ist, vielmehr es unter Umständen auch gerechtfertigt ist, dass ein Staat richtige Grundsätze seines Beweisrechtes nicht blos deshalb bei Seite setzen will, weil sie im Auslande nicht berücksichtigt werden, so kann in solchen Fällen die Frage entstehen, ob es nicht zulässig sei, bei der Vornahme solcher Akte auf den Zweck, dem sie dienen sollen, und eben darum auch auf die rechtliche Ordnung des Verfahrens, in das sie eingefügt werden müssen, Rücksicht zu nehmen? Diese Frage ist meines Erachtens zu bejahen, wenn es sich darum handelt, solchen Anforderungen, von welchen das ausländische Recht die Verwendbarkeit des Aktes abhängig macht, zu entsprechen, obgleich solche Anforderungen dem inländischen Rechte fremd sind, sofern nicht etwas zu geschehen hat, was das inländische Recht missbilligt oder was in das Recht der an dem Akt betheiligten Privaten in grösserem Maasse eingreift, als es bei der einfachen Anwendung des für den Akt geltenden inländischen Prozessgesetzes der Fall wäre. So würde ζ. B., wenn ein im auswärtigen Strafprozess beschuldigter als solcher auf Requisition zu vernehmen ist, es zulässig sein, der etwaigen Vorschrift des ausländischen Gesetzes durch Beiziehung von Gerichtszeugen zu entsprechen, unzulässig dagegen, irgend jemand zu zwingen, sieh als Gerichtszeuge verwenden zu lassen, unzulässig auch, dem Verhör einen Charakter zu geben, welcher für den Vernommenen drückender wäre, als nach inländischem Prozessrecht gestattet ist. Es würde ferner ζ. B. zulässig sein, bei der Vernehmung des durch die strafbare Handlung tödtlich verletzten für die Zwecke eines englischen Strafprozesses die Bedingungen zu erfüllen, von welchen nach englischem Recht die Benutzung seiner Aussage abhängt (Sicherstellung des Umstandes, dass er im Bewusstsein des drohenden Todes aussage)10. I I I . Für die Frage nach den z e i t l i c h e n G r e n z e n 1 1 der Wirksamkeit des Strafprozessgesetzes ist im allgemeinen derselbe doppelte 10 Z a c h a r i ä § 61 I I ; D e r s e l b e in StRZ 1861 S 133 ff. Hitzigs Ζ X 379-441. 11 Z a c h a r i ä § 7 I I ; D e r s e l b e , Ueber die rückwirkende Kraft neuer Strafgesetze. Göttingen 1834. S 53 ff. B a u e r , Lehrbuch § 9 Anni g. B e r n e r , Wirkungskreis S 52. 63 ff. D e r s e l b e , Lehrbuch § 127. Seeger, Ueber die rückwirkende Kraft neuer Strafges. Tübingen 1862. § 39. U l i m a n n § 9 S 50. H y e , Leitende Grundsätze S 73 ff. R u l f , Zur österr. StPO von 1853 I 28ff. D e r s e l b e , StPO von 1873 S 12—15. M i t t e r b a c h e r S XXVIII. XXIX. ν. S t e m a n n , Dar-

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Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts.

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Gesichtspunkt festzuhalten, der bezüglich der örtlichen Grenzen oben hervorgehoben wurde : das geltende Strafprozessrecht ist der Ausdruck der maassgebenden Ueberzeugung, dass die Zwecke des Strafrechts bei Einhaltung des in demselben geordneten Verfahrens mit der grösstlnöglichen Sicherheit erreicht werden; es ist daher unzulässig, hievon abzugehen; und es ist dies auch nicht möglich, weil es wohl denkbar ist, dass einige strafrechtliche Nonnen aus dem Zusammenhange gerissen angewendet, andere nicht angewendet werden, der Prozess aber ein in sich geschlossenes Ganze bildet, das sich auf für dasselbe bestimmte, ihm angepasste Einrichtungen stützt, weshalb eine partielle oder vereinzelte Anwendung eines früheren Prozessgesetzes auf unüberwindliche Hindernisse stossen oder zu willkürlichen Combinationen führen müsste. Der Strafprozess ist daher stets nach denjenigen Gesetzen einzurichten, welche zu der Zeit gelten, wo er geführt werden soll, ohne Rücksicht darauf, welche Gesetze zu der Zeit galten, als die. den Gegenstand des Strafverfahrens bildende Handlung begangen wurde. In diesem Sinne sagt man: S t r a f p r o z e s s g e s e t z e w i r k e n z u r ü c k . Der Ausdruck ist aber ein uneigentlicher; denn in Wahrheit fällt die Thätigkeit, welche das neue Gesetz regelt, die Prozessthätigkeit, in den Zeitpunkt seiner Geltung und hat sich naturgeinäss demselben unterzuordnen. — Der Grund dafür, dass das Strafgesetz nicht zurückwirkt, liegt darin, dass die Handlung eine Auflehnung gegen das Strafgesetz ist, die einem noch nicht existirenden Gesetze gegenüber nicht denkbar ist, — dass das Strafgesetz unter anderem den Zweck hat, jedem die Folgen klar zu machen, die ihn wegen einer Handlung, die er im Sinne hat, treffen sollen, und weil wenigstens als möglich angenommen werden muss, dass er, hätte er die Straffolgen vorausgesehen, die ein späteres, strengeres Gesetz androht, dieselbe unterlassen oder auf minder sträfliche Weise eingerichtet hätte. Alles das findet auf den Strafprozess keine Anwendung ; man müsste denn der Ansicht sein, das Vorhandensein fehlerhafter Prozesseinrichtungen und die daraus abgeleitete Stellung des preussischen Strafverfahrens. Berlin 1858. § 4. B i n d i n g , Normen I 78 ff. H ä l s c l i n e r , Das gemeine deutsche Strafrecht I S 116 ff., insbes. S 127. Gabba, Della retroattività in materia penale. Pisa 1869. cap. 28. D o c h o w in HH I 136. 137. Geyer § 40. Die Commentare zu Nr 9 EStPO. D u ν e r g e r , Manuel du juge d'instr. Nr 9 I ρ 118 ss. M e l , Regolamento ρ 3—5. Pas eau d, Reme critique 1881 Nr 5—8. Rivista penale X V I bollett. Nr 570. Chauve au et H é l i e , Théorie du code pénal. Bruxelles 1858. Nr 52 — 56. L egra ver e n d , Traité de législation criminelle. 3. ed. Bruxelles 1832. I I I ch. 1 § 6 p 25 ss. R a u t e r , Traité du droit criminel. Bruxelles 1&37. p 28 Nr 8, 1. 1 eli. 1. 20*

308

§ 28. Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts.

Hoffnung, der rechtmässig verdienten Strafe dadurch entgehen zu können, dürfe einen rechtlich zu berücksichtigenden, die Anwendung des Strafgesetzes ausschliessenden oder beschränkenden Bestimmungsgrund für die Verübung einer bei Strafe verbotenen Handlung abgeben. Wenn daher die Gesetzgebung jene Mängel entdeckt, welche die richtige Anwendung des Strafgesetzes hinderten und sie durch Einrichtungen ersetzt, die für letztere Gewähr bieten, so kann sich der Angeklagte darüber keineswegs etwa in dem Sinne beklagen, dass er nach einem strengeren Gesetze behandelt wird, als welches zur Zeit der Verübung der That gegolten hat; das Frozessgesetz hat nicht die Aufgabe, strenger oder milder zu sein, es will nur richtig und zweckentsprechend sein; ist es letzteres, so ist es vielleicht ungünstiger für den Angeklagten, als ein früheres, aber nicht strenger. Die beste Blustration dieses Verhältnisses bietet der Uebergang von einer gesetzlichen Beweistheorie zur freien Beweiswürdigung und die Beseitigung der ausserordentlichen Strafe für den Fall eines nach der ersteren nicht für voll erachteten Beweises 1 2 ; andere liegen in der Abschneidung des Rechtszuges in höhere Instanzen durch ein nach der That aber vor der Fällung des Urtheils erster Instanz ergehendes Gesetz und in der Einführung von Aenderungen in der Competenz der Gerichte 1 3 . 12 Ein solcher Uebergang ist in Oesterreich zweimal eingetreten, bei Einführung der StPO von 1850 und der von 1873, und nicht blos im allgemeinen unbedenklich gefunden worden, sondern es ist auch die Verhängung der Todesstrafe ohne Rücksicht auf das zur Zeit der That geltende, für ein Todesurtheil besondere Beweisrequisite vorzeichnende Gesetz für gesetzmässig erachtet worden. — Wenn übrigens die österreichische Gesetzgebung wiederholt, wie U l l m a n n § 9 S 50 Anm 7 anführt, sich auf den Standpunkt stellte, dass das neue Gesetz nur in Anwendung kommen sollte, „sofern der Ausschlag der Sache nach demselben gelinder als nach dem bisherigen ausfallen müsste", so war das zunächst gerade bei jenen zwei Gesetzbüchern der Fall, welche materielles Strafrecht und Prozess zugleich umfassten (Ges von 1796 und von 1803), und es war dabei überdies jener Grundsatz uneingeschränkt nur für Straffälle ausgesprochen, welche bei Beginn der Wirksamkeit des neuen Gesetzes bereits anhängig waren: eine Unterscheidung, welche auch auf die den entgegengesetzten Grundsatz beobachtende StPO von 1853 (Kundm. Art. IV Abs. 4) Einfluss übte. 13 So hatte der französische Cassationshof am 10. Mai 1822 entschieden, dass das neue Gesetz, welches für die bis dahin den Schwurgerichten zugewiesenen Presssachen die Zuchtpolizeigerichte für zuständig erklärte, auch auf früher begangene Pressdelicte Anwendung finde, indem er bemerkte: „Le principe de la non-rétroactivité n'est applicable qu'au fond des droits acquis et à la punition des délits antérieurement commis, mais nullement aux règles d'après lesquelles ces droits et ces délits doivent être poursuivis devant les tribunaux". D u v e r g e r , der diese Entscheidung billigend mittîïeilt (Manuel des juges d'instr. Nr 9 I 119 ss.),

§ 28.

Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts.

A l l e i n so r i c h t i g die Regel i s t ,

309

so unterliegt sie doch sehr wich-

tigen Einschränkungen. 1. Es ist schon oben § 26 I I auf das dem materiellen u n d formellen Recht gemeinsame worden;

Gebiet des materiellen Prozessrechts

dasselbe ist i n W a h r h e i t

herauswachsendes

materielles

hingewiesen

aus prozessualen Voraussetzungen

Recht.

Namentlich

kommt

hier

alles

dasjenige i n Betracht, was prozessuale B e d i n g u n g der Entstehung, E r löschung oder Einschränkung des Rechts der Strafverfolgung w i d e r eine bestimmte Person wegen eines bestimmten Delictes ist ; i n a l l diesen Beziehungen ist es gleichgültig, ob etwa wegen des sachlichen Zusammenhanges der Gegenstand i n einem Prozessgesetze K e r n der Sache nach handelt unterliegt also der für

behandelt i s t ;

es sich u m materielles Strafrecht

clem und

dieses geltenden R e g e l , dass n u r clas mildere

neue Gesetz z u r ü c k w i r k t .

Bestimmungen also, welche die Verfolgung

von einem Strafantrage oder von der Privatanklage abhängig machen,

fügt hinzu: „Les lois de compétence et de simple instruction, dit M. Legraverend, ont toujours régi les faits antérieurs et non jugés, comme les faits à venir. Cette doctrine, de laquelle on disait qu'elle pouvait passer pour une v é r i t é génér a l e , a été confirmée de plus en plus par la mise-en-activité de nouveaux codes et l'installation de nouveaux tribunaux. Un tribunal supprimé ne peut revivre, une juridiction à laquelle il en a été substitué une autre, ne peut saisir les pouvoirs qui lui ont été enlevés, pour continuer à connaître de faits dont la connaissance a été transportée a un nouveau tribunal ou à une nouvelle juridiction. En confondant ce qui touche au fond, et qui, en matière civile comme en matière criminelle, ne peut être réglé que par les lois existantes au moment où le droit naît ou le fait est commis, avec ce qui n'est que de forme et qui doit subir tous les changements, toutes les modifications qu'il plaît au législateur d'introduire dans ces lois, on tomberait nécessairement dans l'absurde". In gleichem Sinn sprachen sich der Mailänder Cassationshof mit Erk. v. 16. Januar 1863 und cler Turiner mit Erk. v. 4. Juni 1866 aus (Mei ρ 3 u. 5). In ersterem heisst es: „Le leggi concernenti le giurisdizioni ο competenze, le forme dei giudizj, l'accertamento e le prove del reato e della reità son leggi di diritto pubblico interno, che entrano in osservanza dal dì in cui il legislatore, mosso da considerazioni d'interesse pubblico e generale, abbia voluto introdurre più pronti, efficaci e sicuri mezzi di una buona amministrazione della giustizia, ai Trib. giurisdizionali e competenze già esistenti ed alle forme già stabilite abbia creduto doverne altre sostituire. Nessun accusato ο delinquente può invocare alcun preteso diritto per lui acquisito ad esser giudicato ο in altro modo ο da altri giudici, nè può con fondamento plausibile pretendere, che le cessate diverse norme di procedura abbiansi tuttavia per lui a seguire, perchè dal reato non nasce in chi n'è accusato alcun diritto ad esser giudicato in uno anziché in altro modo, da uno anziché da altro giudice; nè si potrebbe tener conto di una vana speranza ο lusinga che fosse in lui al momento del perpetrato crimine di non poter essere legalmente riconosciuto colpevole giusta la legge allora esistente"

310

§ 28. Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts.

somit die Zulässigkeit der Strafverfolgung einschränken, oder die V e r folgung bestimmter

Handlungen sonst an Einschränkungen

dingungen knüpfen, können f ü r b e r e i t s b e g a n g e n e

und

Be-

Handlungen

nicht durch neue die Verfolgung erleichternde Gesetze verdrängt werden. Das gleiche g i l t meines Erachtens welche das zur Z e i t ,

i n Bezug auf Prozessvorgänge,

wo sie stattfanden,

geltende Gesetz eine

an die

weitere Verfolgung ausschliessende oder einschränkende W i r k u n g k n ü p f t : die Rechtskraft

des U r t h e i l s ,

das V e r b o t

der reformatio i n p e j u s 1 4 ,

n u r dass hier nicht bis auf die Z e i t der T h a t zurückzugehen ist (vergi, u n t e n 3). 2. E i n e Mischung von materiell- u n d prozess-rechtlichen N o r m e n pflegt bei der E i n f ü h r u n g es also auch

principiell

stimmungen über

von Ausnahmegerichten richtig ist,

einzutreten;

dass die Erlassung neuer

wenn Be-

Competenz u n d Zusammensetzung von solchen n u r

eine neue Regelung von Prozessfragen

enthält u n d dies u m so u n -

bedenklicher von dem F a l l e zu sagen i s t , wo n u r die Verfügung neu ist,

welche eine gesetzlich bereits geregelte I n s t i t u t i o n dieser A r t i n

14 Gleicher Ansicht Z a c h a r i ä § 7 I I , welcher insbesondere die Frage der Zulässigkeit der W i e d e r a u f n a h m e des S t r a f v e r f a h r e n s hieher rechnet.. Wie unten noch zu besprechen sein wird, hat sich die deutsche Gesetzgebung bei Regelung des Ueberganges zum neuen Strafprozessrecht dieser Ansicht nicht angeschlossen. Soweit diese Entscheidung reicht, nämlich soweit es sich um diese eine Epoche des Ueberganges handelt, ist es überflüssig, eine Discussion daran zu knüpfen. Allein h i e r , wo die Frage zu erörtern ist, wie bei Aenderungen der Strafprozessgesetzgebung und beim Schweigen des Gesetzes bezüglich der Rückwirkung vorzugehen ist, kann nicht unterlassen werden, zu bemerken, dass die Motive (S 259) diese Anordnung nicht zu rechtfertigen vermögen. Auch da bleibt, als zu unserer Untersuchung nicht gehörig, dahingestellt, ob die'deutsche StPO unbedingt dem Angeklagten in diesem Punkt günstiger ist, als das Recht, an dessen Stelle sie tritt. (S. dagegen J o h n zu § 10 EStPO Anm 3 S 118.) Was vor allem die Analogie mit dem Civilprozess (§ 20 EStPO) betrifft, so ist sie wohl nicht maassgebend, da der Civilprozess hier beide Parteien auf dem Fusse strenger Gleichheit behandeln kann und muss, während im Strafprozess die Anforderungen des favor defensionis sehr beachtenswerthe sind; da ferner die deutsche CPO das Verfahren principiell so ordnen konnte und wohl auch musste, dass die Erhebung der Wiederaufnahmeklage sogleich das Verfahren in der Sache selbst eröffnet, während die StPO mit Recht zwischen der Verhandlung und Entscheidung über den Antrag auf Wiederaufnahme und dem wiederaufgenommenen \rerfahren unterscheidet. Von letzterem kann man allenfalls mit den Motiven sagen, dass es „aus dem Gesichtspunkte nicht eines Rechtsmittels, sondern eines neu eröffneten Verfahrens aufzufassen ist" ; aber doch gewiss nicht von ersterer. Selbst hier aber ist weiter zu unterscheiden zwischen der prozessualen Behandlung eines Antrags auf Wiederaufnahme und den Bedingungen der Zulässigkeit eines solchen, d. h. den gesetzlichen Einschränkungen der Rechtskraft eines unter der Herrschaft eines früheren Gesetzes ergangenen Urtheils-

§ 28.

Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts.

311

Wirksamkeit setzt, so pflegt doeh mit solchen Maassregeln auch eine directe Verschärfung des materiellen Rechts Hand in Hand zu gehen oder die ganze Procedur unverkennbar auf Abschreckung berechnet zu sein; im ersten Falle wäre es nicht gerecht, im zwreiten nicht billig, die Ausnahmeprocedur auf Handlungen anzuwenden, welche zu einer Zeit verübt wurden, wo die Ausnahmeprocedur noch nicht dafür vorgeschrieben w a r 1 5 . 3. Eine Rückwirkung im prozessualen Sinne kommt erst in Frage, wenn nicht auf den Zeitpunkt, wo die strafbare Handlung begangen wurde 1 6 , sondern auf den, AVO ihrethalb ein prozessualer Vorgang bereits stattgefunden hat, zu sehen ist. Die wahre Rückwirkungsfrage für den Strafprozess ist: w e l c h e n E i n f l u s s ü b t e i n n e u e s G e s e t z über V e r f a h r e n auf bereits vorher vorgenommene Proc e d u r a l i te? Diese Frage drängt sich bei jeder Einführung neuer grösserer Prozessgesetze auf und findet dabei auch ihre Regelung durch sog. Uebergangsbestimmungen. Das ist auch bei Gelegenheit der Einführung der deutschen, wie der österr. Strafprozessordnung geschehen; allein die wissenschaftliche Bearbeitung des Strafprozesses kann sich auf die Besprechung des so gegründeten positiven Rechts nicht beschränken, sondern muss die Grundsätze erörtern, die im Falle der Erlassung neuer Gesetze, welche, wenn sie blos Einzelheiten ändern, selten Uebergangsbestimmungen aufstellen, zu gelten haben. 15 Das er st ere tritt bei dem im 25. Hauptstück der österr. StPO geregelten standrechtlichen Verfahren ein, bei welchem die Strafe sich nach den dafür ertheilten besonderen Anordnungen (§ 442) richtet, und in der Regel auf die Todesstrafe zu erkennen ist. Deshalb ist das standrechtliche Verfahren nur anwendbar gegen denjenigen, welcher nach der Verkündung des Standrechts eine demselben unterworfene Handlung begangen hat (§§ 431—434). In gleichem Sinn Art. 442 des bayer. StGB von 1813 und § 10 des preuss. G über den Belagerungszustand v. 4. Juni 1851. L ö w e , Preuss. StP S 27. M i t t e r m a i e r im ANF 1849 S 29 f. Z a c h a r i ä a. a. 0. Anni 11. 16 M i t t e l b a r kann allerdings auch die Zeit der That insofern in Betracht kommen, als prozessuale Bestimmungen von materiell-rechtlichen abhängen. Dies gilt zumal von Competenzbestimmungen, welche von der Qualification der strafbaren Handlung abhängen. Diese Qualification ist natürlich nach den Grundsätzen zu behandeln , welche bezüglich der Rückwirkung neuer strafrechtlicher Bestimmungen materieller Natur gelten. Die so festgestellte juristische Natur des Delictes ist dann für die Anwendung der jetzt geltenden Competenzvorschrift maassgebend : erklärt das jetzt geltende Prozessgesetz ein Gericht als zuständig für Verbrechen, so ist zu untersuchen, ob die Handlung sich nach dem im oben dargelegten Sinne darauf anwendbaren materiellen Recht als Verbrechen darstellt; ist dies nicht der Fall, so ist dasjenige Gericht zuständig, welchem das jetzige Competenzgesetz die Classe von Handlungen zuweist, in welche das fragliche Delict einzureihen ist.

312

§ 28. Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts.

a. Grundsätzlich muss nun daran festgehalten werden, dass jede Prozesshandlung dem zur Zeit ihrer Vornahme geltenden Recht zu entsprechen hat und nur nach diesem zu beurtheilen ist; dieser Grundsatz macht sich ohne weiteres geltend, so lange nicht die Notwendigkeit einer neuen, zur Zeit cler Geltung eines neuen Gesetzes vorzunehmenden Handlung eintritt, also wenn der unter der Herrschaft des alten Gesetzes durchgeführte Prozess beendet oder doch zu einem solchen Abschluss geführt ist, welcher ein Zurückgreifen hinter denselben entbehrlich macht. Einen solchen Abschluss bildet das ergangene und in Rechtskraft erwachsene Urtheil; das nachfolgende Verfahren zum Zwecke der V o l l s t r e c k u n g desselben muss sich zwar nach dem neuen Gesetze richten, aber es beruht nicht unmittelbar auf den früheren Procedurakten, sondern auf deren Ergebniss, dem Urtheil. Die gleiche Bewandniss hat es mit* dem Begnadigungsverfahren. — Anders verhält es sich, wenn der Strafprozess noch nicht zu einem Abschluss im angegebenen Sinne geführt hat, sondern die denselben herbeiführenden Akte erst unter der Herrschaft des neuen Gesetzes vorzunehmen sind. Hier handelt es sich nicht blos um die Beurtheilung, sondern um die Verwendung der früheren Prozessakte für die unter die Herrschaft des neuen Gesetzes fallende Thätigkeit; die Frage ist nicht, ob sie rechtsgültig sind, sondern ob sie den Bedingungen entsprechen, von welchen ihre Verwendbarkeit für die dem neuen Recht unterworfenen Procedurakte abhängt. Nach dieser Unterscheidung muss sich namentlich die Frage richten, in wie fern abgeschlossene Abschnitte der früheren Procedur als solche die Grundlage eines späteren PiOcedurabschnittes des neuen Verfahrens werden können. Rechtsmittel gegen früher ergangene Urtheile fordern die Prüfung einer früher vorgenommenen und zum Abschluss gelangten Procedur; diese Prüfung hat sich daher auf den Standpunkt des früheren Verfahrens zu stellen und sie wird dies in der Regel nur können, wenn bei dem Akt der Prüfung selbst die früher dafür vorgezeichneten Procedurfornien eingehalten werden; ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung darf dies allerdings nur insoweit geschehen, als es zu dem gedachten Zwecke nothwendig ist. Es ist aber erklärlich, dass die Gesetzgebung in der Regel durch Übergangsbestimmungen die aus der Notwendigkeit solcher Combinirung alten und neuen Rechts erwachsenden Schwierigkeiten abzuschneiden sucht. b. Die Uebergangsbestiinmungen, welche bei Einführung unserer Prozessordnungen erlassen wurden, unterscheiden sich dadurch, dass das österr. Einführungsgesetz (Art. I I — V ) die Fragen durchaus unmittelbar entscheidet, während das deutsche (§§ 8—10) schon durch

§ 28.

Geltungsgebiet der Quellen des Strafprozessrechts.

313

die Mannichfaltigkeit der durch das neue Recht verdrängten Gesetze genöthigt war, einerseits den durchgreifenden Grundsatz der ausschliesslichen Geltung des neuen Rechts aufzustellen und die „Ueberleitung in das neue Verfahren" anzuordnen, andererseits aber die hiefür erforderlichen Bestimmungen cler Landesgesetzgebung zu überlassen. Innnerhin tritt zwischen dem sachlichen Vorgang cler beiden Gesetze ein Unterschied hervor bezüglich des Stadiums des Verfahrens, in welchem der Abgeschlossenheit cler früheren Procedur Rechnung getragen wird. Die österreichische Strafprozessordnung legt diese Bedeutung dem „Einstellungs- oder Anklagebeschluss" des früheren Verfahrens bei; sie lässt für die Ueberprüfung solcher Beschlüsse und für das ganze weitere Verfahren das ältere Recht in Wirksamkeit, unterwirft also dem neuen Verfahren nur solche Strafsachen, welche noch nicht so weit vorgeschritten waren. Das deutsche Gesetz (§ 8 Abs. 2) ignorili den durch das Verweisungserkenntniss herbeigeführten Abschnitt, ohne zu hindern, dass auf dasselbe clas neue Hauptverfahren unmittelbar aufgebaut w i r d 1 7 , und lässt den entscheidenden Abschnitt erst durch clas Endurtheil erster Instanz eintreten; ist dieses vor dem 1. October 1879 ergangen, „so finden auf clie Erledigung der Sache bis zur rechtskräftigen Entscheidung" (also nicht auf das Vollstreekungs - und Begnadigungsverfahren) die bisherigen Prozessgesetze Anwendung". Dem eingenommenen Standpunkte entspricht es aber, class die Regel in § 9 in clem Sinn eingeschränkt wird, class falls in Folge cler Ergreifung eines Rechtsinittels gegen ein unter cler Herrschaft cles älteren Rechts ergangenes Endurtheil erster Instanz „clie Sache zur nochmaligen Verhandlung in die erste Instanz zurückgewiesen wird", sich „clas weitere Verfahren nach cler Vorschrift der (neuen) Strafprozessordnung regelt", wobei selbstverständlich dieses Verfahren auf dasjenige zu beschränken ist, Avas nach Maassgabe des Zweckes cler Zurückverweisung erforderlich i s t 1 8 . — Die Frage der Wiederaufnahme ist in beiden Gesetzen ausdrücklich besprochen. Das österreichische Gesetz geht in Bezug auf „clie Statthaftigkeit der Wiederaufnahme" von cler oben (Anni 14) dargelegten Ansicht aus und bestimmt, sie sei nach clem neuen Gesetz nur dann zu beurtheilen, 17

„I)eni Verweisungserkenntniss wohnt eine bindende Wirkung regelmässig nicht bei" (Mot S 258); wohl aber hatte es meist eine Fassung, vermöge welcher dessen Verlesung in der Hauptverhandlung mit clen Intentionen der neuen StPO nicht in Einklang stand, während sie doch nicht unterbleiben konnte. Andere Schwierigkeiten, die sich ergaben, deutet J o h n a. a. 0. S 113 ff. an. 18 So dürfte auch die bei S c h w a r z e im 2. Abs. seiner Bemerkungen zu § 9 des Einführungsgesetzes erwähnte Complication zu lösen sein.

314

§ 29.

Auslegung und Anwendung der Rectsquellen.

wenn nicht das frühere dem Beschuldigten günstiger ist; über den Vorgang bei cler Prüfung cler Statthaftigkeit spricht es sich nicht direct aus, doch ergiebt cler Zusammenhang, class für ihn wie für die Competenz zu dieser Prüfung das neue Recht maassgebend ist, wie nicht minder für das wieder aufgenommene Verfahren. Das deutsche Gesetz stellt alles dies unter das neue Recht (§ 10 — s. oben Anni 14) 1 9 . — Ueberdies erklärt § 12 des Einführungsgesetzes auch noch die „Vorschriften der Strafprozessordnung über die Strafvollstreckung" für anwendbar, wenngleich „die Strafe nach den bisherigen Vorschriften über das Strafverfahren erkannt ist", eine Bestimmung, die den oben dargelegten Grundsätzen entspricht und, wie die Motive (S 259) sagen, „eine unerwünschte Geschäftsversplitterung vermeidet". § 29.

A u s l e g u n g und A n w e n d u n g der

Rechtsquellen1.

I. Für clie Auslegung und Anwendung der Quellen des Strafprozessrechts gelten die allgemein juristischen Regeln. Die aus der besonderen Natur des materiellen Strafrechts und insbesondere des codificirten Strafrechts abgeleitete Ausschliessung cler A n a l o g i e ist in Wahrheit nichts anderes, als die Anerkennung der Grundsätze : Nulluni crimen sine poena legali — nullum crimen sine lege, d. h. cler Unzulässigkeit der Ergänzung cler im Gesetz enthaltenen geschlossenen Aufzählung cler strafbaren Handlungen durch Anwendung von Straf19 J o h n a. a. 0. S 118 und K e l l e r zu § 10 des Einführungsgesetzes besprechen die Frage der Rückwirkung mit Rücksicht auf den Zeitpunkt des Ereignisses, welches den Grund zur Wiederaufnahme bietet. K e l l e r meint, die Ablegung des Geständnisses, das einen Grund der Wiederaufnahme abgeben soll, müsste nach dem Beginn der Wirksamkeit cler StPO erfolgt sein, „da die Wirkungen des unter der früheren Gesetzgebung gemachten Geständnisses auch nur nach letzter beurtheilt werden dürfen". Dies wäre — abgesehen vom positiven Gesetz, mit dem die Ausnahme entschieden nicht in Einklang zu bringen ist (s. J o h n a. a. 0.) — nur richtig, wenn es auf das Geständniss als Dispositivakt abgesehen wäre, während das Gesetz deutlich nur ein Beweismittel als solches vor Augen hat (§ 402 Nr 4). J o h n a. a. 0. S 119 macht zwei Ausnahmen von der Regel des § 10 geltend: den Fall der Verjährung, der mit dem Wechsel des Strafprozessrechts nichts zu thun hat, ausser etwa wegen der Rückwirkung des letzteren auf die Beurtheilung der die Unterbrechung bewirkenden Prozessakte, und den, wo nach dem älteren Gesetz die Wiederaufnahme an eine Nothfrist gebunden war. Letztere Ausnahme ist aber mit dem Gesetz nicht vereinbar ; denn bei Ablauf der Nothfrist befand sich der Angeklagte, dem sie zu statten kam, genau in derselben Lage, wie derjenige, der ein Gesetz für sich hatte, das die Wiederaufnahme überhaupt nicht gestattet; dass aber auch zum Nachtheil des letzteren die Wiederaufnahme zugelassen ist, ist anerkannt. 1 B a u e r § 9. M a r t i n § 3. ΛΥ. M ü l l e r §§ 15—18. H e n k e IV §§ 6 u. 8. M i t t e r m a i e r , Strafverfahren § 6. H. A. Z a c h a r i ä § 7 I. G e y e r § 42.

§ 29.

Auslegung und Anwendung der R e c t s q u e l l e n .

bestinnnungen desselben auf Handlungen, die den unter sie fallenden nur ähnlich sind. So gestellt , kann die Frage auf dem Gebiete des Strafprozesses höchstens insofern auftauchen, als die Strafprozessordnung selbst eine Straffestsetzung enthält ; in solchen Fällen ist es in cler That richtig, class der äusserliche Zusammenhang der Strafbestimmung mit dem Strafprozessrecht an deren innerer Natur nichts ändert und eine analoge Anwendung derselben nicht ermöglicht. Es ist ferner nichts dem Strafprozess eigenthümliches, dass die Analogie nicht benutzt werden darf, Bestimmungen, denen clas Gesetz eine eingeschränkte Geltung geben w o l l t e , auf Fälle auszudehnen, welche nicht unter die Bestimmung fallen. Dies gilt ζ. B. von der Aufzählung von Gründen cler Nichtigkeit des Verfahrens, cler Ausschliessung von gewissen Functionen und Befugnissen, sobald aus der Anlage des Gesetzes sich die Absicht ergiebt, nicht eine beispielsweise, sondern taxative Aufzählung zu geben 2 . Im übrigen handelt es sich auch hier, wie überall, um die doppelte Aufgabe, von clen W o r t e n cles G e s e t z e s ausgehend dessen wahren Sinn zu erforschen und so die Entscheidungen richtig aufzufassen, die darin enthalten sind, und in clen G e i s t einzuclringen, zunächst, um die Richtigkeit cler g r a m m a t i s c h e n und l o g i s c h e n Auslegung zu controliren und sodann, um clie L ü c k e n des Gesetzes dadurch auszufüllen, dass die von ihm offen gelassenen Fragen eine dem Geiste des Gesetzes entsprechende Lösung finden. I I . Was nun zunächst das eigentliche A u s l e g u n g s m a t e r i a l 2 Mit der Aufstellung dieses Grundsatzes dürfte der Zweck erreicht sein, den Geyer verfolgt, wenn er § 42 I an die alte Regel erinnert, „dass die von den Principien abweichenden (inconsequenten) Rechtssätze nicht selbst zur Ziehung von Consequenzen im Wege der Analogie benutzt werden dürfen" ; mir scheint dies dann nicht richtig zu sein, wenn einerseits das Princip der Ausnahme erkennbar ist und auf den Fall passt, andrerseits kein Grund vorhanden ist, anzunehmen, dass bei Formulirung der Ausnahme die Absicht bestand, jede ausdehnende Auslegung derselben, denn darauf läuft ja doch sodann die Anwendung der Analogie hinaus, auszuschliessen. Diese Absicht bestand ζ. B. bei der Aufstellung der von G e y e r angeführten Ausnahmen vom Princip (1er Unmittelbarkeit (§§ 250. 252. 253 deutsche StPO); es wäre unzulässig, neue Hauptfälle hinzuzufügen, aber es steht nichts entgegen, die Analogie zu benutzen, wenn das Geltungsgebiet der diese Fälle statuirenden Ausnahmebestimmungen abgesteckt werden soll. So spricht z. B. § 252 Abs. 2 nur von dem Fall des bei einer Vernehmung hervortretenden Widerspruches mit der früheren Aussage und der liieher bezogene erste Absatz nur von der Vorlesung eines Protokolls über letztere; es wird aber doch gewiss ganz unbedenklich sein, unter der dort angegebenen Voraussetzung auch das im Vorverfahren schriftlich erstattete Gutachten des vernommenen Sachverständigen (§ 82 StPO) zur Verlesung zu bringen.

316

§ 29.

Auslegung und Anwendung der Reclitsquellen.

betrifft, so liegt es theils in dem T e x t des Gesetzes, theils in auffindbaren Angaben über dessen Entstehungsgeschichte. 1. I n ersterer Hinsicht ist, wie überall, die einzelne Stelle zunächst in ihrem natürlichen Sinne und in dein unmittelbaren logischen Zusammenhange zu betrachten, dann aber der so sich ergebende Sinn zu prüfen durch Rücksicht auf den inneren Zusammenhang des ganzen Gesetzes, auf die Uebereinstimmung und Vereinbarkeit mit anderen Bestimmungen desselben und den a u s i h n e n hervorgehenden Intentionen der Gesetzgebung. Dabei ist Gewicht darauf zu legen, dass die Strafprozessordnung eine Co d i f i c a t i o n ist, also ein geschlossenes, systematisches Werk, welches bestimmt war, den gesaininten Stoff des Strafprozesses, soweit es überhaupt für nöthig erachtet wurde, ihn in Gesetzesfonn zu bringen, einheitlich zu behandeln und gleichmässig, harnionisch darzustellen; daraus folgt namentlich, dass Institutionen, die darin keinen Platz gefunden haben, als mit Bedacht ausgeschlossen anzusehen sind, und dass die Summe der Machtmittel, welche die Strafprozessordnung den Behörden den Privaten gegenüber einräumt, aus einer selbe erschöpfenden Aufzählung hervorgeht und daher nicht auf dem Wege ergänzender Auslegung vermehrt werden k a n n 3 ; es folgt daraus ferner die Annahme, dass dem gleichen Ausdruck oder denselben offenbar promiscue gebrauchten Ausdrücken stets die gleiche Bedeutung beizumessen ist, und dass Abweichungen des Ausdruckes Abweichungen in der Sache andeuten, so lange sie nicht anderweitig erklärbar sind — endlich, dass die Stelle, an welcher eine Bestimmung sich findet, nicht gleichgültig ist, sondern auf die Gegenstände schliessen lässt, welche durch sie geregelt werden sollten. 2. Andererseits aber sind unsere Strafprozessordnungen nicht blos ihrer Grundlage nach, sondern auch bezüglich ihres Textes Ergebnisse eines g e s c h i c h t l i c h e n Prozesses. Bezüglich der österreichischen Strafprozessordnung ist dies oben (§ 18 I) schon dargestellt worden ; bezüglich der deutschen scheint eine an der Spitze der Motive stehende Erklärung (s. oben § 17 I) das Gegentheil behaupten zu wollen. Es ist dort aber nur gesagt, dass nicht in gleicher Weise, wie für das deutsche Reichsstrafgesetz das preussische Strafgesetzbuch den Grundtext, gewissermaassen den ersten Entwurf abgab, ein ähnliches Verhältniss auch zwischen der deutschen Strafprozessordnung und einem 3 Die mehrfach angeführte 1 2 D de jurisd. 2. 1 : Cui jurisdictio data est, ea quoque concessa videntur, sine quibus jurisdictio explicari non potiiit, ist daher mit grosser Zurückhaltung zu behandeln, wie denn auch Z a c h a r i ä bemerkt, dass sie nur die „nothwendigen, nicht absolut verwerflichen" (ebenso Geyer mit Weglassung des „absolut") Mittel legitimire.

§ 29.

Auslegung und Anwendung der R e c t s q u e l l e n .

der durch sie verdrängten Gesetze obwaltete. Das ändert aber nichts daran, dass für die Behandlung einzelner Materien sich in Deutschland seit langer Zeit Formeln und Redewendungen herausgebildet hatten, welche durch die verschiedenen Gesetze und Entwürfe hindurch sich fortzogen und die Fassung und Ausdrucksweise des neuen Reichsgesetzes bestimmten. Es ist auch leicht erkennbar, dass, bei aller Kenntniss der deutschen Strafprozessgesetze, welche den ersten Bearbeitern des Entwurfes zur Seite stand, und bei dem unverkennbaren Streben nach allseitiger Würdigung und Benutzung dieser Gesetze, doch die specielle Beziehung zur Gesetzgebung und zur Praxis Preussens einen ganz besondern, bald positiven, bald negativen Einfluss auf die Terminologie des Entwurfes geübt hat, und es ist auch deutlich erkennbar, dass in ähnlicher Weise die zur Prüfung und Umarbeitung des Entwurfes berufenen Persönlichkeiten durch die Ausdrueksweise, durch den Sprachgebrauch, die Auslegungsvorgänge und die Erlebnisse der ihnen zunächst stehenden Länder geleitet wurden und dass dies nicht blos auf ihre Auffassung des Entwurfes, sondern auch auf die Fassung der von ihnen gestellten und in das Gesetz übergegangenen Ausdrücke wesentlichen Einfluss übte. 3. Dies bildet daher ein Gegengewicht gegen die oben aus der Thatsache der einheitlichen und bedachten Abfassung des Textes der Strafprozessordnungen abgeleiteten Folgerungen. Sie sind also zugleich aufzufassen als mit Ueberlegung geschaffene einheitliche Werke und als das Ergebniss eines selbst die Ausdrücke und Wendungen beeinflussenden und nicht immer mit Bewusstsein controlliteli geschichtlichen Entwickelungsganges. I I I . Unter den oben ( I I am Eingang) dem Text entgegengesetzten auffindbaren Angaben über die Entstehungsgeschichte des Textes sind die sog. „Materialien" zu verstehen: die Motive der Regierungen, die Berichte und Protokolle über die fachmännischen Prüfungen der Entwürfe im engeren Kreise der Regierung und in der parlamentarischen Vorverhandlung, endlich die Anträge und Erklärungen sowohl der Regierungen als der Mitglieder der gesetzgebenden Versammlungen. Die schon früh von W ä c h t e r 4 angeregte Frage hat speciell in Bezug auf die Materialien zur deutschen Strafprozessordnung bereits einen lebhaften 4

ANF 1839 S 345 ff. (Die Ausübung der Gesetzgebungsgewalt unter Theil nähme von Ständeversammlungen und insbesondere die Verhandlungen der württembergischen Kammer der Abgeordneten über das königl. württembergische StGB); vgl. W ä eli t e r s Sächsisches und thüringisches Strafrecht. Leipzig 1857. S 110 ff. B i n d i n g , Die gemeinen deutschen StGB I (1877) S IV, warnt mit Recht sowohl vor dem Motiven- als vor dem Präjudicien-Cultus.

318

§ 29.

Auslegung un

Anwendung der Rectsquellen.

Meinungsaustausch hervorgerufen 5 . An berechtigten Mahnungen zur Vorsicht fehlt es in der That nicht. Vor allem ist die Autorität des 5

V o i t u s stellt S X X V I I if. seines Comnientars zur StPO den Satz voran: „Die Entstehungsgeschichte der zu interpretirenden Bestimmungen kann nur ausnahmsweise einen einigermaassen sicheren Anhalt zur Auffassung des Sinnes derselben gewähren, da die dabei wirksam gewesenen Fac-toren . . . . nicht nur nicht im Einklänge mit einander, sondern sich vielfach direct entgegenstehen und einander bekämpfen". — Unter den Einzelheiten, welche V o i t u s zur Begründung dieses Satzes hervorhebt, sind einige, gegen welche S c h w a r z e , der S X X I I auf die Frage in ihrer Totalität nicht eingehen zu wollen erklärt und demnächst eine Reihe von die Bedeutung dieser Materialien für die Interpretation des Gesetzes abschwächenden Anführungen vorbringt, dennoch (S XXIV) Widerspruch erhebt. Er bemerkt: „AVenn von Voitus in seinem Commentar S XXIX die Meinung aufgestellt wird, dass eine Rücksichtnahme auf die Protokolle in allen solchen Fällen unstatthaft sei, avo der Aufnahme der betreffenden Vorschrift in das Gesetz seitens der Vertreter der Regierungen i n der C o m m i s s i o n Widerspruch entgegengesetzt worden sei, so übersieht er, class die Regierung mit der nachträglichen Zustimmung zu der Aufnahme selbstverständlich den früheren Widerspruch aufgegeben und mit der Zustimmung auch die Motive des Beschlusses angenommen hat. Beide Gesetzgebungsfactoren haben in die Aufnahme gewilligt und hiermit ist der Widerspruch erledigt. Ja \ r oitus a. a. 0. will nicht einmal in den Fällen, wo die Protokolle Einstimmigkeit der Mitglieder bezüglich der Motive eines Beschlusses ergeben, den letzteren Authenticität (?) beilegen, da die Commission nicht Vertreterin des Reichstages, sondern lediglich mit der Vorberathung der Entwürfe beauftragt gewesen. Voitus übersieht hierbei, dass bei den ausgiebigen Debatten im Reichstage thatsächlicli darüber ein Zweifel niemals bestanden hat, claSs mit den Beschlüssen, gegen welche in dem Reichstage ein Widerspruch nicht erhoben worden, die Majorität des Reichstags einverstanden gewesen. Bei solchem Einverständnisse ist auch nicht in Abrede zu stellen, class letzteres, wo nicht das Gegentheil verlautbart worden, auf die Motive des Beschlusses sich mit erstreckt. Die Feststellung der Protokolle, wie sie oben geschildert worden, und die Mittheilung derselben an die Reichstagsmitglieder würde völlig zwecklos gewesen sein, w e n n man n i c h t in i h n e n e i n niaassgebencles A u s l e g u n g s m i t t e l zu s c h a f f e n b e a b s i c h t i g t h ä t t e . In mehreren Punkten hat clie Commission auf Antrag einzelner Mitglieder oder auf Anregung des Vorsitzenden zur völligen Klarstellung der Bedeutung und des Sinnes einer Vorschrift die übereinstimmende Auffassung cler Commission zu Protokoll constatimi lassen. Diese Erklärungen sind in den Anlagen J und L zu clem Protokolle vom 20. October 1876 zusammengestellt und nachmals von der Commission genehmigt worden. Endlich haben auch die Regierungsvertreter wiederholt auf bestimmte Anfragen über den Sinn einzelner Vorschriften in Uebereinstimmung mit dem Fragsteller sich geäussert, oline class aus cler Mitte cler Commission ein Widerspruch gegen clie kundgegebene Auffassung erklärt worden ist. Es kann die maassgebende Bedeutung solcher Aussprüche nicht in Abrede gestellt werden". Im wesentlichen stellt sich G e y e r § 42 III—V, B i n d i n g s Warnung vor dem „Motivencultus" wiederholend, auf clen Standpunkt von Voitus, indem er betont, dass keineswegs die Annahme eines Antrags, weder wenn darüber von Anbeginn Einstimmigkeit herrscht , noch wenn allmählich eine Verständigung darüber erzielt

§ 29.

Auslegung und Anwendung der Rectsquellen.

Gesetzes gegen jeden Versuch zu schützen, die Geltung dieses niaassgebenden Ausspruches des Willens der gesetzgebenden Factoren, dem allein auch das für die Verbindlichkeit der Gesetze unerlässliche Requisit der förmlichen Promulgation zur Seite steht, zu schmälern gegenüber mehr oder weniger authentischen Aeusserungen von einzelnen Personen, welche zu dem Zustandekommen des Gesetzes beigetragen haben, und selbst gegenüber ganz sichergestellten Erklärungen einzelner Factoren der Gesetzgebung. Das perfect gewordene Gesetz wird eben dadurch unabhängig von jeder Persönlichkeit, cler es sein Entstehen verdankt. Erklärungen, die mit clem Gesetz nicht in Einklang stehen, können daher die Anwendung des letzteren gar nicht beeinflussen. Es kommt dazu, dass ihnen an sich ein viel geringerer Gracl von Verlässlichkeit zukommt. Bezüglich cler Materialien zur deutschen Strafprozessordnung ist zunächst die Erklärung zu beachten, welche cler preussische Justizininister Dr. L e o n h a r d t in der Reichstagssitzung v. 24. Nov. 1874 über die clen Reichsjustizgesetzen beigegebenen Motive 0 abgab, und die dahin ging: „Es werde die Vertretung derselben seitens cler verbündeten Regierungen nicht übernommen, weil die Prüfung cler Motive nicht einmal im Justizausschusse des wird, als Aneignung der für den Antrag vorgebrachten Motive angesehen werden muss und dass insbesondere die „Motive, welche die Commission für ihre Beschlüsse gegeben hat, so hohen Werth sie sonst immer haben, als solche nimmer und nirgends Motive des R e i ch stags sind, sondern dies nur insofern werden, als aus den Reichstagsverhandlungen sich ergiebt, dass die beschlussfassende Mehrheit desselben diese Motive zu den ihrigen gemacht hat". Das RG I I I v. 5. März 1881 Rspr. I I I 107 bemerkt, so werthvoll die Materialien zum Verständniss des Gesetzes seien, „können sie doch den Richter nicht zu einer Auslegung verpflichten, welche sich . . als eine Aenderung des Gesetzes darstellt". G Damit ist die vom Reichsjustizamtsdirector v. A r n s b e r g in der 16. Sitzung der Commission des Reichstags (Prot über die CPO S 139) abgegebene Erklärung zu vergleichen: „Die gegenwärtigen Motive seien, wie bereits an anderer Stelle officiell erklärt worden, von dem Bundesrathe nicht beschlossen. Sie setzen sich aus verschiedenartigen Bestandteilen zusammen. Theils seien in ihnen officielle Bemerkungen, hergenommen aus der Motivirung der Anträge im Bundesrathe, theils aus Stellen aus den Protokollen des Bundesraths, enthalten ; zum Theil aber trügen sie den Charakter einer mehr wissenschaftlichen Ausarbeitung. Immer aber seien sie im Sinne und Geiste der im Bundesrathe gefassten Beschlüsse abgefasst; nur dürften sie nicht als die Motive des Bundesraths angesehen werden". S c h w a r z e schliesst an die Anführung dieser Stelle die tatsächliche Mittheilung, es sei „ w i e d e r h o l t bei den B e r a t h u η g e η ci e s E n t w u r f s i n der Co m m i s s i o n vorgekommen, dass die Erklärungen der Regierungsvertreter nicht mit den Motiven im Einklänge standen, wie andererseits auch in der Commission selbst mehrmals in einzelnen Punkten bestimmter Widerspruch gegen die Motivirung erhoben worden ist".

§ 29.

Auslegung und Anwendung der Rectsquellen.

Bundesraths, geschweige denn im Bundesrathe selbst stattgefunden habe, auch der Natur der Sache nach nicht habe stattfinden können. Die Motive seien jedoch von Männern, welche den Arbeiten sehr nahe gestanden hätten, mit eben so viel Sorgfalt als Einsicht in die Verhältnisse geordnet worden ; sie legten die Mannichfaltigkeit der Rechtszustände dar, in welche die gesetzlichen Vorschriften reformirend eingreifen sollten; sie entwickelten vom legislatorischen Standpunkte aus das Für und Wider in Betreff der einzelnen Vorschriften und Grundsätze ; sie erörterten den Zusammenhang zwischen den Grundsätzen unter sich, sowie zwischen Grundsätzen einer- und einzelnen Folgesätzen andererseits. Er glaube, dass die Motive ein unentbehrliches Hilfsmittel bei der Prüfung der Gesetzentwürfe sein würden". Dazu kommen i n n e r e G e b r e c h e n , wie sie unvermeidlich sind bei einem verhältnissmässig rasch geförderten Werke, an dem verschiedene Personen in einer mannichfaltigem Wechsel unterworfenen Weise mitzuwirken berufen sind, und das andererseits doch nicht jene ängstliche Prüfung und Ueberwachung herausfordert, wie ein Gesetzestext, Mängel, die dem Ganzen nicht seinen Werth rauben, aber die unbedingte Verlässlichkeit aller Einzelheiten ausschliessen7. — Die P r o t o k o l l e der Commission sind ohne Zweifel sehr sorgfältige und verlässliche Arbeiten, allein sie sind nicht stenographische Berichte; sie sind übrigens cler Natur der Sache nach so schwer übersehbar, dass es nicht wahrscheinlich ist, es sei ihr Inhalt auch nur denjenigen Mitgliedern des Reichstages, welche den Justizgesetzen specielle Aufmerksamkeit zuwendeten, stets so gegenwärtig gewesen, dass er deren Beschlüsse beeinflusste 8. Eher kann dies von dem B e r i c h t der Commission 7

Auch darüber ist es am besten v. S c h w a r z e sprechen zu lassen. Es heisst bei ihm S X X I I I : „ A u f e i n z e l n e I n c o n g r u e η zen v e r s c h i e d e n e r A r t in den Motiven selbst soll hierbei nicht eingegangen werden ; sie erklären sich dadurch, dass die dem ersten Entwürfe beigegebenen Motive in Folge der nachträglichen verschiedenen Aenderungen des Entwurfs in mehreren Materien eine wiederholte Umarbeitung, welche nicht in derselben Hand geblieben ist, erfahren haben. Hierdurch wird.— mit wenigen Ausnahmen — das berechtigte Lob nicht geschmälert, welches der Justizminister I)r. Leonhardt den Motiven gezollt hat. Auszustellen ist, dass die Motive bei der Relation der Bestimmungen in den deutschen Gesetzgebungen oft aus einzelnen Vorschriften Schlüsse gezogen haben, die bei einer erschöpfenden Prüfung der gesammten auf die betreifende Materie bezüglichen und der verwandten Vorschriften des angezogenen Landesgesetzes nicht möglich gewesen wären und mit der Praxis in den einzelnen Ländern nicht übereinstimmen". 8 Der Anm 5 schon erwähnte Streit scheint mir theilweise auf einem Missverständniss zu beruhen. V o i t u s sagt nämlich (a. a. 0. S XXIX), es sei eine Rücksichtnahme auf die in der Commission vorgebrachten Argumente „in allen

§ 29.

Auslegung und Anwendung der Rectsquellen.

angenommen werden, wahrt,

der aber selbst sich gegen die Annahme ver-

als gebe er „ e i n vollständiges B i l d von dem Inhalte der Be-

rathungen und der Beschlüsse der

Commission"9.

Z u dem allen k o m m e n noch zwei äusserliche G r ü n d e , Vorsicht

bei der B e n u t z u n g dieser M a t e r i a l i e n

mentarische richtigkeit;

Geschäftsbehandlung

verträgt

mahnen.

nicht

immer

die zur

Die volle

parlaAuf-

m a n muss, namentlich wro die P o l i t i k oder die Eigenliebe

und das Interesse weiter Kreise eine Rolle s p i e l t , entscheidenden Gründen oft zurückhalten;

mit

clen eigentlich

cler Redner muss überdies

den E r f o l g i n der Sache über alles andere stellen,

er b r i n g t Gründe

nicht vor, die für i h n wichtig, aber nicht w i r k s a m sind, er bekämpft solchen Fällen unstatthaft, wo der Aufnahme der betreffenden Vorschrift in das Gesetz seitens der Vertreter der Regierungen in der Commission Widerspruch entgegengesetzt worden ist. Denn scheidet in einem solchen Falle die Annahme des Einverständnisses zwischen der letzteren und den mit der Wahrung des Interesses des zweiten Factors der Gesetzgebung betrauten Regierungscommissarien hinsichtlich des von diesen bekämpften B e s c h l u s s e s s e l b s t aus, so darf auch ein solches Einverständniss nicht in Bezug auf die zur Rechtfertigung der Aufnahme der betreffenden Vorschrift in das Gesetz geltend gemachten G r ü n d e vorausgesetzt werden. Es kommt aber auch in Betracht, dass über die bei der Berathung der Anträge von den Mitgliedern der Commission abgegebenen Erklärungen und aufgestellten Argumente Abstimmung nicht erfolgt ist, es mithin in solchen Fällen, wo die Protokolle über die Sitzungen der Commission Uneinigkeit hinsichtlich der den Beschlüssen unterzulegenden Gründe ergeben, ungewiss bleibt, ob einer derselben, eventuell welcher, die Zustimmung der Mehrheit der Commissionsmitgliecler erhalten hat". Nun ist es gewiss richtig, dass man einen Antrag ja eben aus dem Grunde zu verwerfen pflegt, weil man die dafür vorgebrachten Motive nicht zutreffend findet ; und insofern mag es zu weit gehen, wenn darauf S c h w a r z e antwortet, dass die Regierung bei Aufgabe des ursprünglichen Widerspruches „auch die Motive des Beschlusses angenommen hat". Widerstrebend nachgeben heisst noch nicht die Richtigkeit dessen anerkennen, dem man sich fügt. Allein es handelt sich in der Regel nicht darum, aus den fraglichen Aeusserungen der Mitglieder eine officiell beglaubigte theoretische Wahrheit abzueiten, sondern Sinn und Tragweite der auf solche Weise in das Gesetz gebrachten Stellen zu erklären; nicht darum, ob die Regierung anerkannte, dass der Antragsteller Recht hatte, sondern was derselbe mit seinem Antrage sagen und erreichen wollte, ob dies den anderen Factoren bekannt war oder ob ein Grund besteht, anzunehmen, dass sie ungeachtet ihrer Zustimmung zu dem Antrage ihm eine andere Bedeutung beilegten. Damit steht es aber im Fall des Widerspruches gegen einen Antrag nicht anders als im Fall der selbst allseitigen Zustimmung zu diesem ; auch hier wird über die Gründe nicht abgestimmt, nnd es ist sogar viel wahrscheinlicher, dass jemand, der mit einem Antrage einverstanden ist, dessen Annahme er als gesichert ansieht, es nicht immer nöthig findet, die dafür vorgebrachten, aber von ihm für unrichtig angesehenen Gründe zu bekämpfen und die für ihn maassgebenden entgegenzustellen. 9 Bericht S 7, H a h n S 1514. Binding, Handbuch.

IX. 4. I : G l a s e r , Strafprozess.

I.

21

322

§ 29.

Auslegung und Anwendung der Rectsquellen.

auch nicht gerne die falschen Begründungen derer, die ihn unterstützen. Ueberdies brechen die öffentlichen Verhandlungen oft gerade da ab, wo die Entscheidung erfolgen soll, und die letztere ist das Ergebniss einer nicht öffentlich reproducirten Verhandlung. — Trotzdem ist das vorhandene Material so massenhaft, dass es nur schwer zu übersehen ist, und dass man sehr leicht bei oberflächlicher Benutzung desselben unter den Eindruck einer scheinbar ausschlaggebenden Aeusserung gerathen kann, während an irgend einer verborgenen Stelle dasjenige steht, was sie entkräftet. Dennoch muss all diesen Materialien eine sehr grosse Bedeutung für die wissenschaftliche Auffassung des Gesetzes beigelegt werden. Namentlich für zweierlei sind sie von unverkennbarem Werthe. Einerseits tritt clie Grundanlage, das principielle Verhalten der verschiedenen Factoren zu den grossen, nothwendig im Vordergrund stehenden legislativen Fragen mit voller Deutlichkeit hervor; wir gewinnen aus ihnen die Erkenntniss cler leitenden Gedanken, welche für die Ausbildung der wichtigsten Institutionen maassgebend waren, der bisher hervorgetretenen Uebelstände und Missbräuche, die man vermeiden wollte. Andererseits muss man im allgemeinen doch von cler Ansicht ausgehen, dass bei der Berathung eines Antrages die ausdrückliche Erklärung cles Antragstellers darüber, wie er seinen Antrag verstehe, was er durch seine Worte ausdrücken wollte, Beachtung findet, und dass derjenige, cler damit nicht einverstanden ist, in cler Regel bemüht ist, dem dann drohenden Missverständniss der Wortfassung, der er zustimmt, entgegenzutreten, zumal wenn bekannt ist, dass die bezüglichen Aeusserungen aufbewahrt und clem Interpretationsmaterial einverleibt werden. Noch mehr Gewicht muss aber wohl auf Vorgänge gelegt werden, wie sie so häufig namentlich in der Reichstagscoimnission vorkamen, wo vor cler Stellung, Zurückziehung, Annahme oder Ablehnung von Anträgen ausdrückliche Erklärungen über den Sinn bestimmter Worte des Textes ausgetauscht wurden, und gar auf Beschlüsse der Commission, welche darauf abzielten, ihre Anträge als solche authentisch zu interpretiren, ein Vorgang, zu dem sie ihrerseits, so weit es sich um ihre Beschlüsse handelte, gewiss berechtigt war, und der fast die Notwendigkeit mit sich brachte, class Andersdenkende den so erläuterten Text ablehnten. Aber auch sonst gewährt cler Anblick cler einander entgegengesetzten Strömungen, clas Sichdurchkreuzen von Tendenzen und Anträgen, das Auftauchen einer an einer Stelle unterlegenen Meinung bei der Berathung einer anderen Stelle des Entwurfes, die Beziehung eines angenommenen Textes zu einer erst später niodificirten Textesstelle — Aufschlüsse über den Sinn cler

29.

Auslegung und Anwendung der Rectsquellen.

in das Gesetz aufgenommenen Ausdrücke, die, für sich allein nicht entscheidend, doch nicht unbenutzt gelassen werden dürfen. IV. Daraus, dass unser Strafprozessrecht Gesetzesrecht und zwar codificirtes Gesetzesrecht ist, folgt, dass das Gewohnheitsrecht oder vielmehr die einzig denkbare Gestaltung desselben durch G e r i c h t s g e b r a u c h keine Quelle desselben sein kann. Seine Bestimmungen können nicht durch Nichtbefolgung oder gar durch mangelnde Gelegenheit zu deren Anwendung ausser Geltung gesetzt werden, noch viel weniger kann sich ein mit dem Gesetz im Widerspruch stehender Gerichtsgebrauch bilden. Letzteres wäre überhaupt nur denkbar in Folge der Einbürgerung einer unrichtigen Auslegung des Gesetzes, eine Tliatsache, die nicht zu ändern vermag, dass die als richtig erkannte Auslegung später die maassgebende wird. Dennoch ist den Präcedentien der Gerichte eine sehr hohe Bedeutung beizulegen. 1. Zunächst kommt der sog. stylus curiae in Betracht, Einrichtungen und Gewohnheiten. die sich innerhalb des Kreises, den das Gesetz der richterlichen Thätigkeit freigelassen hat, bewegen, und bezüglich deren es zumeist nahezu gleichgültig ist, wie man es damit hält, während ein geordnetes Zusammenwirken von Gericht und Parteien nur möglich ist, wenn derselbe Vorgang stets gleichmässig beobachtet wird. Aus diesem Verhältniss erwächst ein Anspruch der Betheiligten darauf, dass man den regelmässig gewordenen Vorgang nicht ohne ausreichenden Grund verlasse, oder dass sie durch eine Abweichung wenigstens nicht überrascht werden. Geschieht dies dennoch, so muss es den Verdacht der Willkür oder Parteilichkeit wachrufen. Wo dies nicht der Fall ist, stört die unerklärte Abweichung wenigstens den Eindruck der Stetigkeit und festen Ordnung, den das strafgerichtliche Verfahren hervorrufen soll. 2. Aber auch auf dem Gebiete der eigentlichen Auslegung des Strafprozessreehts ist zunächst innerhalb desselben Gerichtes ein gleichmässiges. stetiges Vorgehen in hohem Grade wünschenswerth, und die Gesetzgebung hat sich überdies zur Aufgabe gesetzt, auf dem ganzen Gebiete, das sie beherrscht, die Rechtseinheit herzustellen: — eine Aufgabe, die ungelöst bleibt, wenn zwar dasselbe Gesetz für alle Gebietsteile erlassen ist, in jedem derselben aber eine andere Anwendung findet. Die Institution des Reichsgerichtes in Deutschland, des Cassationshofs in Oesterreich hat in erster Linie die Bestimmung, die Rechtseinheit zu wahren; beide sind mit Befugnissen ausgerüstet, welche es ihnen auch ermöglichen, ihre Rechtsanschauungen praktisch zur Geltung zu bringen. Aus diesem Verhältniss erwächst für den einzelnen Richter ein Conflict von Pflichten, dessen Lösung er von 21*

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§ 29.

Auslegung und Anwendung der Rectsquellen.

Fall zu Fall mit seinem Gewissen abzumachen genöthigt ist, da er sich nicht für berechtigt halten kann, etwas zu thun, Avas nach seiner Ueberzeugung gegen das Gesetz verstösst, oder auch nur sich gedankenlos dem, überdies leicht zu missdeutenden Präcedens hinzugeben, andererseits aber auch den Zweck der ganzen Strafrechtspflege vor Augen haben und erkennen muss, wie wichtig es ist, dass Entscheidungen vermieden werden, wrelche dem Volke clen Eindruck des Schwankens und der Unsicherheit cler Strafrechtspflege machen oder von welchen mit Bestimmtheit zu erwarten ist, dass sie von dem endgiltig entscheidenden höchsten Gericht umgestossen werden. Jedenfalls erwächst aus diesem Verhältniss die Pflicht , sich in Kenntniss cler hier erwähnten Präcedentien zu erhalten, ihre Gründe sorgfältig zu würdigen und von der constanten Praxis nicht leichterdings abzuweichen 10 . V. Das schon früher (§ 1) erörterte Verhältniss von P r o z e s s r e c h t und P r o z e s s t h e o r i e bringt es mit sich, dass die wissenschaftliche Behandlung des Prozessrechts in noch höherem Maasse Voraussetzung richtiger Anwendung des Gesetzes ist als auf clem Gebiete des materiellen Rechtes. Es kann eine isolirte Anwendungeinzelner materiell-rechtlicher Bestimmungen gedacht werden ; die Gefahr cles Missgriffes ist bei isolirter Betrachtung und Auffassung derselben jedenfalls eine verhältnismässig geringere. Im Prozess dagegen ist eine isolirte Erfassung und Anwendung der einzelnen Bestimmungen und Einrichtungen gar nicht denkbar; jeder Theil des einzelnen Prozesses wie des Prozessrechtssystems steht mit dem Ganzen in unmittelbarer Wechselwirkung. Ich halte das zwar nicht für möglich, was man als den Hauptpunkt bei Aufstellung einer Prozesstheorie bezeichnet h a t 1 1 , .,vor allem den obersten leitenden und für alle einzelnen Lehren maassgebenden Grundsatz zu entwickeln, darzulegen" und „von dem allgemeinen zum besonderen hinuntersteigend, aus diesem Grundsätze diejenigen Folgerungen zu ziehen, die für das gesamnite strafgerichtliche Verfahren einflussreich sind, in cler nunmehr folgenden Entwickelung der besonderen Lehren . . . ihn als Maassstab der Beurtheilung an die vorhandenen positiv-rechtlichen Bestimmungen anzulegen, um in dem Gewirr der verschiedenartigen Einrichtungen und Satzungen niemals den leitenden Faden zu verlieren". Allein wenn es auch nicht möglich ist, dass das gesammte Strafprozessrecht gewissermaassen auf e i n e n leitenden Grundsatz zurückgeführt wird, so giebt doch die Betrachtung des Zweckes des Ver10 11

G l a s e r , Kleine Schriften S 55 if. H e n k e IV 57.

§ 29.

Auslegung und Anwendung der R e c t s q u e l l e n .

fahrens, der verschiedenen Wege, die zur Erreichung desselben führen können, der Mittel, die zur Verfügung gestellt werden können, den nächsten Aufschluss über die leitenden Gedanken, welche die Grundanlage des Strafprozesses bestimmten, die Widersprüche, die dabei abzugleichen waren, und die Art der hiefür gefundenen Lösung. Diese Darstellung giebt dann den Schlüssel für das Verständniss der einzelnen Institutionen, welche das Gesetz aufgenommen hat, und für ihre Wechselwirkung. Sie kann diese Aufgabe aber nur lösen, wenn sie sich nicht auf den abstract-philosophischen, sondern auf den h i s t o r i sch- c o m p a r a t i v e η Standpunkt stellt. Was cler einzelne, wenn auch noch so scharf sehende, als das letzte Ziel, als die vollendetste Einrichtung des Strafprozesses erkennt , clas hat höchstens einen Werth de lege ferenda ; es unmittelbar in das geltende Strafprozessrecht hineinzutragen wäre unberechtigt und müsste Verwirrung hervorrufen : es könnte das Verständniss des von der Gesetzgebung fertig hingestellten Werkes nicht ermöglichen. Nur die Vergleichung der concreten Gestaltungen, welche nach und neben einander in clen verschiedenen Ländern der Strafprozess angenommen, und der Verhältnisse, welche der einen oder der anderen einen grösseren oder kleineren, mittelbaren oder unmittelbaren Einfluss auf die Grundform des geltenden Strafprozessrechtes gaben, vermag das Eindringen in den Geist des letzteren zu ermöglichen 12 . So aufgefasst, ist die Kenntniss der G e s c h i c h t e des Strafprozesses in clen für uns maassgebenden Ländern und clie comparative Darstellung des Strafprozesses nicht ein ausserhalb der Wissenschaft des einheimischen Strafprozesses liegendes blosses Hilfsmittel, sondern ein integrirender Bestandteil derselben. Aber nicht blos clen Einblick in die Grundanlage des geltenden Strafprozessrechts soll die Prozesstheorie vermitteln und das Verständniss der im Gesetz getroffenen Anordnungen durch Klarlegung ihrer letzten Gründe und Zwecke sichern. Das oberste Gesetz des Prozesses ist clie Zweckmässigkeit·. Wo clas positive Gesetz das für zweckmässig erkannte ausgesprochen und es unter den Schutz der Rechtsregel gestellt hat, ist letztere oft nur durch Zurückgehen auf dessen Intention zu verstehen. Aber auch wo clas Gesetz den zu seiner Anwendung berufenen verlässt und auf seine durch die Wissenschaft geleitete Einsicht verweist, handelt es sich wieder um die Erkenntniss des Verhältnisses von Zweck und Mittel; mit Recht muss angenommen werden, dass wo das Gesetz es nicht selbst übernommen 12

Auch H e n k e lenkt a. a. 0. S 58 zu dieser Auffassung der wahren Elemente der Strafprozesstheorie ein.

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§ 29.

Auslegung und Anwendung der Rectsquellen.

hat, das zweckmässige unter den Schutz der Rechtsregel zu stellen, es Pflicht des Anwendenden ist, das für zweckmässig erkannte zu thun. Es handelt sich also hier um clie doppelte Aufgabe, clas an sich zweckmässige zu erkennen, und zu prüfen, ob es sich auch innerhalb des durch das positive Gesetz gebotenen Rahniens als zulässig und zweckmässig darstellt. Auch hier wird die historisch-comparative Methode vielfach Aufschluss darüber geben, welche Lösungen bestimmte Aufgaben finden, welche Schwierigkeiten und Verwickelungen dabei auftauchen, welche Dienste dabei die Institutionen, welche in unser Strafprozessrecht aufgenommen wurden, leisten können und unter welchen Bedingungen dies geschieht, welche Wandelungen eine scheinbar einfache Rechtsregel durchzumachen hat, welch' überraschende Consequenzen oft aus scheinbar unverfänglichen Anfängen sich ergeben. Alles dies aber bietet nur M a t e r i a l für die selbstständige Behandlung und Prüfung cler sich ergebenden Fragen; die letzte Entscheidung hängt davon ab, dass mit voller Sicherheit erkannt wird, ob der als zweckmässig eingesehene Vorgang dem Geiste des geltenden Strafprozessrechts entspricht, ob er in dessen Organismus eingefügt werden kann, ohne diesen zu verletzen und ohne selbst dadurch in seinem Wesen geändert zu werden. I n gleicher Weise ist denn auch cler Ci v i l p r o z e s s zu berücksichtigen. Er ist ja die andere Hälfte des gerichtlichen Verfahrens, hat eine der des Strafprozesses in vielem verwandte Aufgabe, ist im grossen und ganzen durch Organe zu besorgen, deren Einrichtung gleichmässig auf beide Prozesse berechnet ist. Die Darstellung der Annäherung und des Auseinandergehens der Formen beider Arten des gerichtlichen Verfahrens, auf deren logische und geschichtliche Gründe zurückführend, trägt wesentlich zur Aufklärung und richtigen Erfassung des Wesens und cler Grundbedingungen beider bei. Bei tiefgehender Verschiedenheit stellen sie doch vielfach der Anwendung im einzelnen ganz analoge Aufgaben, und wenn man jene nicht aus clen Augen lässt 1 3 , so kann die Anweisung, die das Gesetz für deren Lösung auf einem Gebiete giebt, immerhin zur Ausfüllung einer Lücke der für das andere geltenden Anordnungen (durch R e c h t s a n a l o g i e ) dienen. Die grösste Vorsicht ist dabei allerdings nöthig; und vielleicht 13 Die Antinomie der beiden Anforderungen tritt schon im römischen Recht hervor, wo 1 5 I) de poenis 48. 19 auf die Analogie des Civilprozesses hinweist, während dagegen Inst, de pubi, judiciis 4. 18 jede Aehnlichkeit des Strafprozesses mit anderen Arten des gerichtlichen Verfahrens in Abrede stellt. Vgl. übrigens M a r t i n § 3 und gegen diesen H e n k e IV 73. 74. M ü l l e r § 15. Z a c h a r i ä § 7 Anm 3. G e y e r § 42 I.

§ 29.

Auslegung und Anwendung der Reclitsquellen.

in besonders hohem Grade bei der Benutzung der deutsehen ReichsCivilprozessordnung zur Ergänzung der Strafprozessordnung. Denn es hat zwar in diesen beiden Gesetzen, die beide auf Oeffentlichkeit, Mündlichkeit und Freiheit der Beweiswürdigung gegründet sind, eine grössere gegenseitige Annäherung stattgefunden, als seit langer Zeit auf dem Continent geschah ; allein es war auch sichtlich das Bestreben der deutschen Gesetzgebung, das beiden gemeinsame als solches hervortreten zu lassen und bei der Behandlung derselben Fragen Verschiedenheiten, selbst des Ausdruckes, zu vermeiden. Man muss daraus folgern, dass die möglichen Berührungspunkte für erschöpft erachtet wurden, und im Zweifel wird eher zu verniuthen sein, dass eine ausdrückliche Entscheidung, die nicht in beide Gesetze Eingang fand, nicht als für beide gleichmässig sich eignend angesehen wurde. — Im ö s t e r r e i c h i s c h e n Recht bestehen zwischen den beiden Prozessen viel weniger Berührungen ; die Grundformen beider gehen eben so weit auseinander, als die Zeiten, aus welchen die Texte herrühren.

Drittes Kapitel, Der literarische Apparat der Strafprozesswissenschaft. § 30.

L i t e r a t u r des neuesten deutschen r e i c h i s c h e n S t r a f ρ r o z esses.

und

öster-

In welchem Geiste die wissenschaftliche Bearbeitung des Strafprozessrechtes erfolgen müsse, wie sie insbesondere das rechtshistorische Element voranzustellen habe, das ist im vorstehenden auseinandergesetzt, und an den entsprechenden Stellen ist auch die Literatur sowohl des älteren Criminalprozesses als auch der ausländischen Gestaltungen desselben angegeben. Hier ist also nur noch die Literatur des heutigen, in Deutschland und Oesterreich geltenden Strafprozesses anzuführen. I. L i t e r a t u r d e s d e u t s c h e n S t r a f p r o z e s s e s . 1. S y s t e m a t i s c h e B e a r b e i t u n g e n : H o l t z e n d o r f f , Handbuch des deutschen Strafprozessrechtes. I n Einzelbeiträgen von D o c h o w 7 , F u c h s , G e y e r , G l a s e r , H o l t z e n d o r f f , H . M e y e r , M e v e s , v. S c h w a r z e und U l l m a n n . 2 Bände Berlin 1879, 1880. Adolf D o c h o w , Der Reichsstrafprozess. 3. Aufl.

328

§ 30.

Literatur cles neuesten deutschen

Berlin 1880. A. G e y e r , Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafprozessrechtes. Leipzig 1880. Paul K a y s e r , Die Strafgerichtsverfassung und clas Strafverfahren des Deutschen Reichs. Paderborn 1879. Rich. J o h n , Das deutsche Strafprozessrecht mit Rücksicht auf die Justizgesetze des Deutschen Reichs in den Grundzügen systematisch dargestellt. Supplement zu Holtzendorffs Encyklopädie der Rechtswissenschaft. Leipzig 1880. L. v. B a r , Systematik cles deutschen Strafprozessrechtes auf Grundlage cler deutschen Reichsjustizgesetze. Berlin 1878. Karl B i n d i n g , Grundriss des gemeinen deutschen Strafprozessrechts. Leipzig 1881. C. L u e d e r , Grundriss zu Vorlesungen über deutsches Strafprozessrecht. Erlangen 1881. M. D e l i u s , Das StrafpiOzessverfahren und clie Neuerungen nach cler StPO für das Deutsche Reich. Berlin 1879. Q u a r i t s c h , Compendium cles deutschen Strafprozesses. 4. Aufl. Berlin 1881. M e ν es. Das Strafverfahren nach der deutschen StPO. 3. Aufl. Berlin 1880. R, Β r e t S c h n e i d e r , Referat über die vom Herrn Generalstaatsanwalt Dr. v. Schwarze aus Dresden im April 1879 in Chemnitz gehaltenen \ r orträge über die deutsche StPO und deren Principien. Chemnitz 1879. Ludwig Β r o s y , Repetitoriuin cles deutschen Strafprozesses. Leipzig 1878. S c h r a m m , Die Strafgerichte im Deutschen Reiche, deren Verfassung und Verfahren. 2. Aufl. Nördlingen 1879. M e l t z i n g . Der deutsche Strafprozess, an Rechtsfallen nach gerichtlichen Akten veranschaulicht. Ludwigslust 1882. 2. C o m m e n t a r e : E. L ö w e , Appellationsgerichtsrath in Frankfurt a. d. O., Die StPO für clas Deutsche Reich nebst dem GVG und den clas Strafverfahren betreffenden Bestimmungen cler übrigen Reichsgesetze. з. Aufl. Berlin 1882. Dr. Friedrich 0. v. S c h w a r z e , kön. sächs. Generalstaatsanwalt, Mitglied und Referent der Reichsjustizconimission, Commentar zu der deutschen StPO und zu den auf dieselbe bezüglichen Bestimmungen des GVG. Leipzig 1878. R. J o h n , Geh. Justizrath und Professor in Göttingen, StPO für das Deutsche Reich nebst Einfuhrungsgesetz (Separatabdruck aus „Gesetzgebung des Deutschen Reiches mit Erläuterungen"). Erlangen 1881, 1882. Heft 1 и. 2. Adolf K e l l e r , Obeiiandesgerichtsrath in Colmar, Die StPO für clas Deutsche Reich nebst Einführungsgesetze. 2. Aufl. Lahr 1882. H. G. T h i l o , kön. preuss. Kreisgerichtsdireetor, Die StPO . . . Berlin 1878. C. A. D a l c k e , Oberstaatsanwalt, Die deutsche S t l O und das GVG nebst den deutschen Einführungs- und den preussischen Ausführungsgesetzen. 2. Aufl. Berlin 1881. C. A. V o i t u s , kön. preuss. Obertribunalsrath a. I)., Commentar zu der StPO für das Deutsche Reich und den dieselbe ergänzenden Vorschriften cles GVG. Berlin 1877. E. S. P u c h e l t , Die StPO des Deutschen Reichs. Unter Benutzung cler Materialien sowie cler Doctrin und Praxis, insbesondere der Rechtsprechung des Reichsgerichtes. Leipzig 1881. E. v. B o l l i li arci, Appellationsgerichtsrath und Referent im bayerischen Justizministerium, und Wilh. K o l l e r , Stadtgerichtsassessor in München, Die StPO des Deutschen Reichs . . . nebst dem Einführungsgesetze.

und österreichischen Strafprozesses.

329

Mit Auslegungsbehelfen aus den Motiven . . . und aus der bisher erschienenen Literatur. Nördlingen 1879. M e v e s, Appellationsgerichtsrath, Die StPO fur das Deutsche Reich. Breslau 1882. Julius S t a u d i n g e r , kön. bayer. Oberappellationsgerichtsrath a. D., Mitglied der Bundesrathscoinmission, StPO für das Deutsche Reich . . Mit Einleitung, Anmerkungen etc. Nördlingen 1877. C. K r a h , StPO und StGB mit den Einführungsgesetzen, zum praktischen Gebrauch bearbeitet. Frankfurt 1877. J. E. S t i e g e l e, Die StPO für das Deutsche Reich . . nebst Einführungsgesetz. Handausgabe mit Erläuterungen auf Grund der amtlichen Materialien etc. Stuttgart 1879. Jul. W e i f f e n b a c h , kön. preuss. Justizrath, StPO nebst GVG für das Deutsche Reich. Nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts erläutert. Kassel 1881. W. D o r e n d o r f , StPO. Breslau 1881. 3. Unter den verschiedenen A u s g a b e n der StPO sind hervorzuheben : Die amtliche preussische Ausgabe mit Sachregister. Berlin, N a u c k u. Comp.; die amtliche Ausgabe für Elsass-Lothringen mit f r a n z ö s i s c h e r 1 Uebersetzung. Strassburg 1879, R. Schulz u. Comp.; die in Berlin bei Guttentag (2. A u f l . 1 8 8 2 ) erschienene, mit einer System und Inhalt darstellenden Einleitung (und ausführl. Sachregister) von R. G n e i s t : die von A. D o c h o w (auch mit dem Strafgesetzbuch von H. R ü d o r f f verbunden) Berlin, Guttentag; die von H ö i n g h a u s , „ergänzt und erläutert durch die amtlichen Materialien"; die von D e l i u s (Die Prozessordnungen und die Gerichtsverfassung für das Deutsche Reich, mit Erläuterungen. Leipzig 1877); die von Freih. v. N e u b r o n n er mit den badischen landesgesetzl. Bestimmungen (2. Abth. des 5. Bandes der Justizgesetze für das Grossh. Baden. Mannheim 1880); P. Κ ays e r , Die Reichsprozessgesetze und deren Ergänzungen im Reiche. Berlin 1880. H e 11 w e g und A r n d t . Die deutsche Strafgesetzgebung. Textausgabe mit Anmerkungen. Berlin u. Leipzig 1883. 4. S a m n i l u n g e n v o n B e s p r e c h u n g e n e i n z e l n e r F r a g e n des Strafprozessrechts : Dr. F. Ο. v. S c h w a r z e , Erörterung praktisch wichtiger Materien aus dem deutschen Strafprozessrechte. 1. Band Leipzig 1881. C. A. V o i t u s . Controversen betreifend die StPO und das G\ r G. 2 Bände 1878 u. 1882. v. H o l t z e n d o r f f , Rechtslexikon. 3. Aufl. Leipzig 1880—1882. 5. S a m m l u n g e n v o n J u d i c a t e n (abgesehen von den Zeitschriften) 2 : Annalen des RG. Herausgegeben von K. B r a u n und H. B l u m . Leipzig. Rechtsprechung des deutschen RG in Strafsachen. Herausgegeben von den Mitgliedern der Reichsanwaltschaft. München und 1 Eine i t a l i e n i s c h e Uebersetzung ist in der Rivista penale von L u c c h i n i veröffentlicht und als Separatabdruck in Florenz erschienen. 2 Wo hier und im folgenden nichts näheres angegeben ist, erscheint die fortlaufende Publication seit 1880; wo ohne weitere Bemerkung die Zahl eines Bandes angegeben ist, ist es diejenige des Jahrganges 1880.

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S 30.

Literatur des neuesten deutschen

Leipzig seit 1879. Entscheidungen des EG in Strafsachen. Herausgegehen von den Mitgliedern des Gerichtshofes. Leipzig. E. G r ü n e w a l d , Rechtsgrundsätze der Entscheidungen des RG. 6 Bände Berlin 1880—1882. Max N i p p o l d , Amtsrichter zu Dresden, Wegweiser durch die Entscheidungen des RG mit Berücksichtigung der Rechtsprechung des kön. sächs. Oberlandesgerichts. Dresden 1882. Z u e r l , Repertoriuin zu den Erkenntnissen des Reichsgerichts in Strafsachen. München u. Leipzig 1882. F u c h s b e r g e r , Die Entscheidungen des OHG und des RG. IV. Theil: Das Strafprozessrecht. Giessen 1882. Sammlung der Entscheidungen des kön. Oberlandesgerichts München in Gegenständen des Strafrechts und Strafprozesses. Unter Aufsicht und Leitung des kön. Justizministeriums herausgegeben. Erlangeil. Annalen des kön. sächs. Oberlandesgerichts zu Dresden. Herausgegeben von K l e i n m und L a m m . J für Entscheidungen des Kamniergerichts in Sachen der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit und in Strafsachen, herausgegeben von R. J o h o w und 0. K ü n t z e l . Berlin seit 1881. 6. F achz e i ts eh r i f t e η : Der Gerichtssaal. Ζ für Strafrecht, Strafprozess, gerichtliche Medicin, Gefängnisskunde und ausländische ^Literatur. Unter Mitwirkung von v. B a r , B e r n e r , H ä l s c h n e r , v. H o l t z e n d o r f f , M e r k e l , v. S e e g e r , T e i c h m a n n , U l l n i a n n , v. B i n d e r , v. B u r i , G l a s e r , v. H y e - G l u n e k , R o s s h i r t und S t e n g l e i n , herausg. von v. S c h w a r z e . 32. Jahrg. Kritische Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, herausg. von Α. Β r i η ζ und J. Ρ ö z l . München Β 22. G o l t d a n i m e r , Archiv für preuss. Strafrecht. Berlin Β 28. G r ü n h u t , Ζ für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Wien Β 8. Zeitschrift für die vergleichende Rechtswissenschaft, herausg. von B e r n h ö f t und C o h n . Stuttgart Β 3. Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissenschaft, herausg. von D o c h o w , L i s z t und L i I i en t h a i , Berlin u. Leipzig seit 1881. Magazin für das deutsche Recht der Gegenwart. Unter Mitwirkung von Dr. v. B a r , E r y t h r o p e l , Dr. F r a n k e , O p p e n h o f f , Dr. S t r u c k m an n , T h o m s e n herausg. von B ö d i k e r , Landgerichtsrath in Hildesheini, seit 1881. Justizniinisterialblatt für die preussische Gesetzgebung und Rechtspflege. Herausg. im Bureau des Justizministeriums. Berlin 42. Jahrg. Archiv für das Civil- und Criminalreeht der kön. preuss. Rheinprovinzen. Köln 71. Band. Annalen der Justiz und Verwaltung im Bezirke des Oberlandesgerichts . . . zu Kassel. Herausgegeben von 0 . L. H e u s e r . Kassel 25. Band. Juristische Zeitschrift für das Reichsland Elsass-Lothringen. Herausgegeben von P u c h e l t und M a u r e r . Mannheim 5. Jahrg. Annalen der grossh. badischen Gerichte. Herausgegeben von R ο s s h i r t , Mannheim 46. Jahrg. Württembergisches Gerichtsblatt. Unter Mitwirkung des kön. Justizministeriunis herausgegeben von K ü b e l . Stuttgart Β 18. Württembergisches Archiv für Recht und Rechtsverwaltung. Herausgegeben von K ü b e l und S a r w e y . Tübingen 21. Band. S e u f f e r t s Blätter für Rechtsanwendung zunächst in Bayern, red. von Η e t t i eh. Erlangen 45. Jahrg. Ζ des Anwaltsvereins für Bayern. Herausgegeben von

und österreichischen Strafprozesses.

331

F e u s t unter Mitwirkung von G u n z e n h a u s er. Nürnberg 20. Band. Allg. Gerichtszeitung für das Königreich Sachsen. Herausgegeben von v. S e h w a r ζ e. Leipzig 24. Jahrg. Blätter für Rechtspflege in Thüringen und Anhalt, Herausgegeben von Ο. Β r e t s c h n e i d e r . Jena Β 27. Ζ für Rechtspflege im Herzogthum Braunschweig. Red. C. K o c h . Mecklenburgische Ζ für Rechtspflege und Rechtswissenschaft, herausgegeben von Johann Friedrich B u d d e , August M o e l l e r und I)r. Karl B i r k m e y e r . Wismar seit 1881. II. L i t e r a t u r des h e u t i g e n ö s t e r r e i c h i s c h e n S t r a f prozessrechts. 1. A u s g a b e n des T e x t e s : Eine Duodez- und eine Octavausgabe der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, letztere in 2 Bänden Wien 1873, deren zweiter die Motive und die parlamentarischen Materialien enthält ; ferner die den 10. Band von J. K ä s e r er s „Oesterr. Gesetze mit Materialien" bildende: „Die StPO . . . und deren Einführungsgesetz mit Materialien". 2 Theile Wien 1873 (s. auch Β 13 u. 14 dieser Sammlung, welche die Gesetze über die Bildung der Gesehwornenlisten und über die zeitweise Einstellung der Wirksamkeit der Geschwornengerichte enthalten) ; der clen 5. Band der Manz'schen Taschenausgabe der österr. Gesetze bildende Abdruck (5. Auflage Wien 1880) mit allen Nebengesetzen, Durchführungsvorschriften und kurzen, auf letztere und auf die Erkenntnisse des Cassationshofes verweisenden Bemerkungen; die den · . Band von Leo G e l 1er s „Oesterr. Justizgesetze mit Erläuterungen aus der oberstrichterlichen Rechtsprechung" (Wien 1881) bildende Ausgabe des Strafgesetzes und der StPO; endlich die clen 2. Theil cler bei M e r c y in Prag erscheinenden „coninientirten Handausgabe der österreichischen Reichsgesetze" bildende Ausgabe. — Die i t a l i e n i s c h e , für das Reichsgesetzblatt amtlich veranstaltete Uebersetzung ist auch enthalten in W e i s k e , Manuale di procedura penale con introduzione del Prof. Francesco C a r r a r a aggiuntovi il nuovo codice di procedura penale austriaco . . con note. Firenze 1874. — F r a n z ö s i s c h : Code d'Instruction criminelle autrichien traduit par Edili. B e r t r a n d et annoté par Ch. L y o n - C a e n . Publication de la société de législation comparée. Paris imprimé par ordre du Gouvernement 1874. 2. D a s g a n z e u m f a s s e n d e B e a r b e i t u n g e n : S. M a y e r , Handbuch des österr. Strafprozessrechts. Β I : Entstehungsgeschichte der österr. StPO . . und cler damit zusammenhängenden Gesetze, nach amtlichen Quellen. Wien 1876. Β I I 1. Theil: Commentar §§ 1 - 2 0 6 . Wien 1878—1881. Emanuel U l l m a n n , Lehrbuch des österr. Strafprozessrechtes. 2. Aufl. Innsbruck 1882. Die Commentare von R u l f , 2. Aufl. Wien 1874, M i t t e r b a c h e r und Ne u m ay e r , Graz. M i t t er b â c h e r . Wien 1882 (statt einer neuen Auflage des vorangehend erwähnten Conimentars). R u l f , Die Praxis des österr. Strafprozesses. Wien 1878. I v e l l i o , I motivi del regolamento di procedura penale . . . . Traduzione e studio . . Zara 1876. 3. Umfassendere m o n o g r a p h i s c h e Arbeiten auf Grund oder mit Berücksichtigung der österr. StPO:

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§ 31.

Hilfswissenschaften.

G l a s e r , Kleine Schriften über Strafrecht und Strafprozess. 2. Aufl. Wien 1883, besonders S 841 ff. (ausserdem 1. Aufl. auch 11 8 1 - 2 7 4 ) . W a h l b e r g , Ges. Schriften. 3 Bände Wien 1875—1882 (s. auch Die Gehorsamfrage in cler StPO, in Grünhut I 152 ff.). B i b i t s c h , Strafgerichte, Rechtsmittel, Fristen und Nichtigkeiten. Laibach 1876. A. Z u c k e r , Die Untersuchungshaft vom Standpunkt der österr. StPO. 3 Abtheilungen Prag 1873—1879. F. v. L i s z t . Lehrbuch des österr. Pressrechts. Leipzig 1878 (Prozess S 340 ff.): D e r s e l b e . Die Privatanklage im österr. Recht. GS 1877 S 187 ff. M. F r v d m a n n . Systematisches Handbuch der Verteidigung im Strafverfahren. Wien 1878. J. V a r g h a , Die Verteidigung in Strafsachen historisch und dogmatisch dargestellt. Wien 1879. F r ü h w a i d , Praktisches Handbuch für die strafgerichtliche Wirksamkeit der k. k. Bezirksgerichte in Uebertretungsfällen. Wien 1874. Obgleich nicht gesammelt, dürfen doch die unter fortlaufender Zahl seit Beginn der Wirksamkeit der StPO in der Allg. österr. Gerichtszeitung erschienenen Aufsätze: J. v. W ( a s e r ) , „Zur Anwendung cler StPO". hier nicht übergangen werden. 4. J u d i c a t e n s a m m l u n g : Plenarbeschlüsse und Entscheidungen des k. k. Cassationshofes, veröffentlicht im Auftrage des k. k. obersten Gerichts- als Cassationshofes von der Redaction der Allg. österr. Gerichtszeitung. Wien 1876 (bisher 4 Bände, die älteste Entscheidung vom März 1874). 5. F a c h z e i t s c h r i f t e n : Allg. österr. Gerichtszeitung, redig. von Dr. R. N o w a k , seit 1850; Die Gerichtshalle, redig. von Dr. I. P i s k o , seit 1856; Juristische Blätter, redig. von Dr. Μ. Β u r i a η und Dr. L. J o h a n n y , seit 1872; Allg. Juristenzeitung, redig. von Dr. S t a l l , Dr. K e r p a l und Dr. F r y d n i a n n , seit 1877; alle diese in W i e n . Mittheilungen des deutschen Juristenvereins in Prag, redig. von Dr. U l i m a n n . Prag seit 1868. Gazetta de' tribunali, redig. von Dr. L. C a m b o n und Dr. B. G ia n n e l i a , Triest seit 1867. — G r ü n h u t s Ζ ist schon oben (I. 6) angeführt. § 31.

Hilfswissenschaften.

I. Ueber die Abgrenzung der Hilfswissenschaften von dem in zweiter Linie stehenden Apparat für die gründliche Behandlung einer Wissenschaft lässt sich leicht ein wenig fruchtbarer Streit führen. Es dürfte aber das richtigste sein, zu unterscheiden zwischen solchen Kenntnissen, die für einen Zweig des AVissens nicht entbehrt werden können und die nur vermöge des Gesetzes der Theilung cler Arbeit und wegen ihrer nicht überall gleich grossen Bedeutung Specialbearbeitungen gefunden haben, welche ihnen die Stellung selbständiger Fächer sichern, und solchen, welche als Bestandteile einer anderen Wissenschaft erscheinen. Ersteres gilt namentlich, was den Strafprozess betrifft, von der Geschichte desselben und von cler Kenntniss des Strafprozesses

§ 31.

Hilfswissenschaften.

derjenigen Länder, mit welchen der zu behandelnde Strafprozess solche Beziehungen hat, vermöge welcher jene auf seine Gestaltung Einfluss übten oder auch nur ähnliche Aufgaben zu lösen haben oder hatten, wie sie diesem gestellt sind. Höchstens in letzterer Beziehung könnte von einer blossen Hilfswissenschaft die Rede sein, wenn man unter letzterer nur eine solche Wissenschaft versteht, deren Ergebnisse die A n w e n d u n g des Hauptfaches erleichtem. I n diesem Sinne mag es genügen, zu erwähnen, dass bei der Handhabung cles Strafprozessrechts Werke, welche die sog. U n t e r s u c h u n g s k u n d e zum Gegenstande haben, wie nicht minder solche, welche die eingehende, aktenmässige D a r s t e l l u n g g e f ü h r t e r S t r a f p r o z e s s e bieten, nützliche Dienste leisten. In e i s t er er Hinsicht sind hauptsächlich zu nennen: Joseph K i t k a , Beitrag zur Lehre über die Erhebung des Thatbestandes der Verbrechen. Wien 1831. L. H. F. v o n J a g e m a n n , Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde. 2 Bände Frankfurt a. M. 1838. D u v e r g e r , Manuel criminel des juges d'instruction. 3. éd. Paris 1850 (mit einem bis nach 1865 reichenden Supplement). I n l e t z t e r e r ist aus der massenhaften Literatur (s. darüber B i n d i n g , Grundriss zur Vorlesung über gemeines deutsches Strafrecht § 16 VII), die zum grössten Theil in Beiträgen zu den älteren Fachzeitschriften besteht) hervorzuheben: G. J. F. M e i s t e r , Praktische Bemerkungen. 2 Bände Göttingen 1792, 1795. K l e i n , Merkwürdige Rechtssprüche der hallischen Juristenfacultät. 5 Bände Berlin u. Stettin 1796—1802. A. v. F e u e r b a c h , Merkwürdige Criminalfälle. 2 Theile Glessen 1808 u. 1811. D e r s e l b e , Aktenmässige Darstellung merkwürdiger Verbrechen. 2 Bände Glessen 1828,1829 (zum Theil neu umgearbeitete 2. Auflage des voranstellenden Werkes, 3. Auflage mit Einleitung von M i t t e r m a i e r , 1 Band Frankfurt 1849). T i t t m a n n , Vorträge und Urtheile über merkwürdige Straffälle aus Akten. Leipzig 1815. P f i s t e r , Merkwürdige Criniinalreehtsfälle. 5 Bände Heidelberg und Frankfurt 1814—1820. B i s c h o f f , Merkwürdige Criniinalreehtsfälle. 4 Bände Hannover 1835—1840. B o p p , Bibliothek gewählter Strafrechtsfälle. Leipzig u. Stuttgart 1834. H. Z a c h a r i ä , Geschichtserzählungen aus Criniinalakten. Göttingen 1835. C. E. v. W e n d t , Die teutsche Facultätspraxis in Strafrechtsfällen. Neustadt a. cl. O. 1836. S c h o l z I I I , Merkwürdige Strafrechtsfälle. Braunschweig 1840, 1841. W. M e j e r , Beispiele aus der Criminalpraxis, vorzüglich vom Standpunkte der Vertheidigung. Göttingen 1843. Kasimir P f y f f er und J. B. zur G i l g e n , Aktenmässige Darstellung merkwürdiger Criniinalreehtsfälle aus der deutschen Schweiz. Zürich 1846. A . O b e r s t , Sammlung gerichtlicher Akten aus der pfälzischen Strafrechtspflege. München 1848 (mehr mit dein Charakter einer Forniulariensanimlung). II. Das P o l i z e i w e s e n hat für die Praxis des Strafprozesses die allergrösste Bedeutung. Einblick in das Wesen und Getriebe der Polizei, in die Mittel, die ihr zur Verfügung stehen, in ihren Kampf

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Hilfswissenschaften.

mit dem gewerbsmässigen Verbrechertum, besonders dem Gaunert u m , in die Sitten und den Jargon des letzteren einerseits, andrerseits in die systematische Stellung der Polizei, in die Organisation der gerichtlichen Polizei, in die den untergeordneten Polizeibehörden zuzumutende Kenntniss der Gesetze, in die speciell für sie geltenden Vorschriften — alles das ist theils unentbehrlich für die richtige Auffassung mancher strafprozessualen Fragen, theils sehr nützlich für gewisse Seiten der Praxis des Strafprozesses. In ersterer Hinsicht muss noch immer zurückgegangen werden auf die Hauptwerke von R. v. M o h l (Die Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates. 3. Aufl. 3 Bände 1866), von Gustav Ζ i m m e m i a η η (Wesen, Geschichte, Literatur, charakteristische Thätigkeit und Organisation der modernen Polizei. Hannover 1852), von L. A. v. S t e i n (Die \rerw raltungslehre, 4. Theil: Das allgemeine Polizeirecht und die Sicherheitspolizei. Stuttgart 1867) und A v é - L a l l e n i a n t (Das deutsche Gaunertum in seiner socialpolitischen, literarischen und linguistischen Ausbildung . . 4 Theile Leipzig 1858—1862. Physiologie der deutschen Polizei. Leipzig 1882). P ö z l , Grundriss zu Vorlesungen über Polizei. München 1866. Im übrigen: S t i e b e r , Praktisches Lehrbuch der Criminalpolizei. Berlin 1860. C. H. O r t i o f f . Landgerichtsrath in Weimar, Lehrbuch der Criminalpolizei auf Grund der Reichsgesetze. Leipzig 1881. Dr. W i e c k , Ueber die Aufgabe und den Wirkungskreis der gerichtlichen Polizei (Braunschweigische Ζ 1854 S 117 ff. 133 ff.). Α. Ζ al ei s k y , Handbuch der Gesetze und Verordnungen, welche für die Polizeiverwaltung im österr. Kaiserstaate von 1740 bis 1852 erschienen sind. Wien 1854, mit mehreren Nachträgen bis 1858. M a v e r h o f e r . Handbuch für den politischen Verwaltungsdienst. 2. Band 4. Aufl. Wien 1850 S 556—671. Th. F ö r s t e m a n n , Principien des preussischen Polizeirechts. Berlin 1869. G e η z ni e r , Die Thätigkeit der Polizei in Strafsachen auf Grund der Reichsjustizgesetze und des preussischen Landrechts, für Bürgermeister, Amtsvorsteher, Gemeindevorsteher und andere Polizeibeamte. Berlin 1879. C h u e l m i . Die gerichtliche Polizei. Instructions- und Forniularbuch. Kassel 1880. H ö f l i n g , Die Polizeibehörden in ihrer Thätigkeit als Hilfsbeamte der Staatsanw altschaft und als Polizeirichter. Leipzig 1881. R. E. v. F e l s e n t h a l , Aus der Praxis eines österreichischen Polizeibeaniten. I. (einziger) Band Wien 1853. I I I . Die g e r i c h t l i c h e M e eli c i η und speciell die gerichtliche P s y c h o l o g i e , wrelche wieder mit der Psychiatrie im engsten Zusammenhange stellt. Aus der allerdings massenhaften Literatur dieser Wissenschaft seien hier angefühlt: A. H e n k e , Lehrbuch der gerichtlichen Medichi. 13. Aufl. von Bergmann. Berlin 1859. Joh. Ludw. C a s p e r s Handbuch der gerichtlichen Medicin. Neu bearbeitet und vermehrt· von Geh. Rath Prof. Dr. C. L i m an. 7. Auflage B e r l i n . L Band. Biologischer Theil. 1881. II. Band. Thanatologischer Theil, 1882.

31.

Hilfswissenschaften.

Dr. H. B e e r , Einleitung in das Studiuni und die Praxis der gerichtlichen Medicin. Wien 1851. F. X. G ü n t n e r , Kindsniord und Eruchtabtreibung. In gerichtsärztlicher Beziehung für Gerichtsärzte und Juristen dargestellt. Prag 1845. D e r s e l b e , Handbuch der gerichtlichen Medicin für Mecliciner, Rechtsgelehrte und Gerichtsärzte, mit Rücksichtnahme auf die Schwurgerichte. Regensburg 1851. Dr. E. B u c h η e r , Lehrbuch der gerichtlichen Medicin für Aerzte und Juristen. Nach eigenen und fremden Erfahrungen bearbeitet. München 18ö7. Dr. J. H. Seh ü r m a y e r , Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. Mit Berücksichtigung der neueren Gesetzgebungen des In- und Auslandes, insbes. des Verfahrens bei Schwurgerichten, für Aerzte und Juristen bearb. Mit einem Anh. enth. eine kurzgefasste prakt. Anleitung zu gerichtl. Leichenöffnungen. 4. Aufl. Erlangen 1874. Dr. A. S c h a u e n s t e i n , Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. 2. Auflage Wien 1875. Dr. E. H o f m a n n , Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. Mit besonderer Berücksichtigung der Österreich. und deutschen Gesetzgebung. Wien 1878. Joseph M a s c h k a , Handbuch der gerichtlichen Medicin. Tübingen Band I 1881, Band I I 1882. D e r s e l b e , Sammlung gerichtsärztlicher Gutachten aus den Verhandlungen der prager medicinischen Facultät·. 4 Bände in Folio Leipzig 1873. Prof. Dr. H. F r i e c l b e r g , Gerichtsärztliche Praxis. Wien u. Leipzig 1881. Ed. H o f m a n n , Die Leistungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Medicin im Jahre 1880—1881. Ζ f. StRW I I 50 if. C. Η . E. B i s c h o f f , Grundriss einer anthropologischen Propädeutik zum Studium der gerichtlichen Medicin für Rechtsbeflissene. Bonn 1827. J. C. H o f f b a u e r , Die Psychologie in ihren Hauptanwendungen auf die Rechtspflege. 2. Aufl. Halle 1823. J. C. A. H e i n r o t h , Grundzüge der Criniinalpsychologie. Berlin 1833. A. S c h n i t z e r , Die Lehre von der Zurechnungsfähigkeit bei zweifelhaften Geniütliszustäiiden, für Aerzte und Juristen. Berlin 1840. J. B. F r i e d r e i c h , System der gerichtlichen Psychologie. 2. Aufl. Regensburg 1842. J. W i l l ) r a n d , Lehrbuch der gerichtlichen Psychologie für Aerzte und Juristen. Erlangen 1858. F. X. G ü il t li e r , Handbuch der gerichtlichen Psychologie. Das Seelenleben des Menschen im gesunden und kranken Zustande in Bezug auf die Zurechnung vor den Gerichtshöfen, für Juristen und Aerzte. 2. Aufl. Hamburg 1868. Dr. M. L e i d e s d o r f , Lehrbuch der psychischen Krankheiten. Stuttgart 1874; italienische Bearbeitung von S c h i f f und U n g e r n - S t e r n b e r g . Turin 1878. Dr. ν. Κ r a f f t - E b i n g , Lehrbuch (1er gerichtlichen Psychopathologie. Stuttgart 1875. D e r s e l b e , Grundzüge der Criniinalpsychologie. 2. Aufl. Stuttgart 1882. D e r s e l b e , Uebersicht über die Fortschritte im Gebiete der forensischen Psychologie im Deceniuni 1866—1875 (Beilage zum „psychiatrischen Centralbiatt". Wien 1876). —-Unter den d e u t s c h e n Fachzeitschriften nahmen F r i e d r e i c h s Blätter für gerichtliche Anthropologie (später „für gerichtliche Medicin und Sanitätspolizei"), bis 1879 30 Bände, clen ersten Platz ein, jetzt besonders: \ T ierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin und öffentliches Sanitätswesen. Unter Mitwirk, der kön. wissenschaftl. Commission etc. herausgeg. von H. E u l e n b u r g . Berlin (1880 Β 32).

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§ 31.

Hilfswissenschaften.

Als neueste Erscheinungen der f r a n z ö s i s c h e n Literatur, welcher die älteren Werke von F o d é r é (Traité de médecine légale. 1813 8 vol.), O r f i l a (Leçons de médecine légale, zuerst Paris 1828 3 vol.; deutsche Uebersetzung von H e r g e n r o t h e r , 3 Bände Leipzig 1829) und T a r d i eu (Etudes médico-légales: sur la strangulation Paris 1858 — sur les attentats aux moeurs, 4. éd. 1862 — sur l'avortenient 1863) einen besonderen Glanz verleihen, sind zu envähnen: Ch. D e s m a z e , Histoire de la médecine légale en France. Paris 1880. L u t a r c i et B o u t m y , Manuel de médecine légale et de jurisprudence médicale. 3. éd. Paris 1881. D u h r a i , Traité de jurisprudence médicale. Paris 1882. B r i a n d et C h a u d é , Manuel complet de médecine légale. Paris 1880. — E n g l i s c h e W e r k e : A. S. T a y l o r , A manual of medical jurisprudence; zuerst London 1844, 12. Aufl. 1879; französische Uebersetzung von Coutange Paris 1881; eine italienische von Simoncelli erscheint eben in Neapel. Ders e l b e , On poisons' in relation to medical jurisprudence and medicine. 2. ed. London 1859. Deutsch übersetzt mit Anmerkungen von S e y d e l e r . 3 Bände Köln 1862, 1863. I). F er r i e r , Die Functionen des Gehirns. Deutsche Uebersetzung von Dr. H. Obersteiner. Braunschweig 1879. Henry M a u d e s l e y , Responsibility in mental disease. London 1874. — Aus der neueren i t a l i e n i s c h e n Literatur (aus älteren Epochen namentlich G. B a r ζ e 11 o t t i , Medicina legale, zuerst Pisa 1818 2 vol.) ist zu envähnen: V i g n a , La giurisprudenza e la freniatria. M i l a n o 1880. Dr. Francesco F ο r i a n i (Jurist), L'isterismo nei suoi rapporti colla follia e colla responsibility; memorie medico-legali. Vienna, Torino e Firenze 1869. F. P o i e t t i , I l delinquente, cenno di antropologia criminale. Udine 1875. L o m b r o s o , L'uomo delinquente. 2. ed. Torino 1881. Archivio di psichiatria, scienze penali ed anthropologia penalo. Edit. L o m b r o s o , G a r o f a l o e F e r r i . Turin und Rom seit 1881.

Zweites Buch. Der Stoff des Strafprozesses als Gegenstand thatsäclilicher Feststellung: der Beweis.

Binding, Handbuch. IX. 4. I :

G l a s e r , Strafprozess.

I.

22

Erste Abtheilung. Beweis und Beweisverfahren überhaupt. Erstes Kapitel. Allgemeine Beweislehre Κ § 32.

Subjective

Ueberzeugung.

Die Thatsaehen, welche das Gericht seiner Entscheidung zu Grunde legt, müssen wahr sein. Diese Wahrheit ist keine blos f o r m e l l e . 1 R e n a z z i , Elementa juris criminalis 1. I I I cai). 9 —12. Feuerbach, Lehrbuch §§ 543 ff'. S t ü b e i , Das Criminalverfahren I I I 1 ff. §§ 1082 ff. D e r selbe, Thatbestand der Verbrechen. Wittenberg 1805. v. Gl ο b i g , Versuch einer Theorie der Wahrscheinlichkeit. 2 Bände Regensburg 1806. G r o l m a n , Grundsätze der Criminalreclitswissenschaft. 3. Aufl. §§ 430—433. H e n k e . Darstellung des gerichtlichen Verfahrens in Strafsachen S 140 ff. D e r s e l b e , Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik IV 400 ff. §§ 65 ff. J e n u l i , Das österreichische Criminalrecht. 3. Aufl. IV 1 ff. A b e g g, Lehrbuch des gemeinen Criminalprozesses §§ 89 ff. M ü l l e r , Lehrbuch §§ 96 ff. M a r t i n , Lehrbuch des Criminalprozesses. 5. Aufl. §§ 71 ff. B a u e r , Lehrbuch des Strafprozesses §§ 95 ff. D e r s e l b e , Theorie des Anzeigenbeweises (Abhandl. III) S 1 ff. H e f f t e r §§ 614 ff. I v i t k a , Beweislehre S Iff". M i t t e r m a i er, Das deutsche Strafverfahren I §§ 86 ff. v. H y e - G l u n e k , Leitende Grundsätze S 202 f. 279 f. Κ u l f , Oesterr. StPO von 1853 I 234 f. I I 54 f. P l a n c k , Systematische Darstellung S 223 ff'. Z a c h a r i ä , Handbuch I I 397 ff. v. B a r , Recht unci Beweis im Geschwornengericht. Hannover 1865. S 311 f. D o l i m a n n , System des bayerischen Strafprozessrechts. Erlangen 1864. §§ 52 f. U l i m a n n , Lehrbuch des österr. Strafprozessrechts §§ 118 f. S. M a y e r , Commentar S 418 f. G e y e r in HH I 185 f. D e r s e l b e , Lehrbuch §§ 121 f. 198 f. J o h n , Strafprozessrecht §§ 28 f. D e r s e l b e , StPO I 460 ff. H è l i e, Instruction criminelle §§ 341 s., vol. p 398 s. B o n n i e r , Traité des preuves en droit civil et. criminel. 2 vol. 3. éd. Paris 1862. Die englisch-amerikanischen Werke über Beweisrecht s. oben § 14 Anm 1. B e n t h a m , Theorie des gerichtlichen Beweises. Deutsche Ausgabe. Berlin 1838. S t e p h e n .

22 *

340

§ 32.

Subjective Ueberzeugung.

keine Wahrheit, welche auf w i l l k ü r l i c h e n Zugeständnissen der Parteien — diese seien nun wirklich gemacht oder aus ihrem Verhalten kraft bestimmter Rechtsnormen (direct oder indirect, positiv oder negativ) abgeleitet — beruht, keine Wahrheit, welche lediglich für die Zwecke dieses einzelnen Strafprozesses ( s u b j e c t i v ) angenommen wird und als solche gilt, sondern o b j e c t i v e , m a t e r i e l l e , allgemein giltige Wahrheit : die Annahmen und Feststellungen des Richters müssen cler Wirklichkeit entsprechen; clas, was er für wahr erklärt, muss wahr sein. Dazu aber ist notlrwenclig, dass es von ihm als wahr e r k a n n t werde. Diese Erkenntniss beruht auf einem psychischen Prozess, auf dem Streben des Richters, sich ein Urtheil über die Wahrheit der Thatsachen, welche er seiner Entscheidung zu Grunde legen soll, zu bilden. Das Ergebniss dieses Bestrebens kann nun sein: 1. Er erkennt die Thatsache als w a h r , er m u s s annehmen, dass sich die Sache so, wie behauptet oder vermuthet wurde, in Wirklichkeit verhalte; in diesem Falle ist die Thatsache für ihn g e w i s s , er ist davon ü b e r z e u g t . 2. Er erkennt die Thatsache als u n w a h r , es ist für ihn g e w i s s , dass sie nicht eingetreten sei, er ist von ihrem N i c h t s e i n überzeugt. 3. Zwischen diesen beiden Endpunkten liegt eine mannichfaltige Abstufung von M e i n u n g e n , welche nicht scharf von einander abgegrenzt werden können 2 ; der Urtheilende ist weder von cler WahrGeneral view eli. V I ρ 189—219, eli. V I I ρ 234 s. F i l a n g i e r i 1. I I I parte I cap. 9 s. C a r m i g n a n i , Teoria delle leggi di sicurezza sociale. Pisa 1831. 1832. vol. IV cap. 5—13. C a r r a r a , Programma. Parte generale sezione I I I cap. 13 ss. §§ 900 s. E l l e r o , Critica criminale. Venezia I860 (auch enthalten in den Trattati criminali. Bologna 1875. ρ 93 s.). 2 M i t t er m a i er, Beweis § 7 S 69 (vgl. auch B o n n i e r , Nr 2 λ Ί ρ 2). In seinem ersten Werke über Beweis ( T h e o r i e des B. im peinlichen Prozess, 1821) fasst M i t t er m a i er S 73 auch die Wahrscheinlichkeit nicht subjectiv, sondern objectiv; sie sei dann erreicht, „wenn eine solche Menge von Gründen für die Behauptung vorhanden ist, dass die entgegenstehenden dadurch aufgehoben, allein doch nicht ganz zerstört werden können". G lob i g , auf den Mittermaier sich beruft, hält sich dagegen, Theorie der [Wahrscheinlichkeit I § 3 8 5, für die Feststellung des Begriffes der Wahrscheinlichkeit an den Seelenzustand als solchen, stützt sich dabei aber selbst wieder auf C a n z , De probabil. jurid., der nur vom Grund der Wahrscheinlichkeit spricht : „Probabile est, quod (piidem sui habet rationem, sed nondum omni ex parte sufficientem", was Globig „aus der \Tergleichung des Satzes mit dem Gegensatze" ergänzt: „Die Wahrscheinlichkeit ist diejenige Beschaffenheit eines Satzes, vermöge deren man ihn eher als das Gegentheil für wahr zu halten geneigt ist". Ueber das gegenseitige Verhältniss von Gewissheit und Wahrscheinlichkeit s. auch B i n d i n g Normen I I 97 Anm 122.

§ 32.

Subjective Ueberzeugung.

heit noch von der U n w a h r h e i t der Thatsache überzeugt,

er

besitzt

k e i n e G e w i s s h e i t ; allein j e nachdem er sich mehr hingezogen fühlt, die Thatsache für wahr oder für u n w a h r zu halten, die V e r m u t h u n g erkannt,

der W a h r h e i t

entsteht bei i h m

(die Thatsache ist nicht als wahr

aber sie scheint i h m wahr,

ist w a h r s c h e i n l i c h ,

weit sie eine Schuld begründet, hegt er bezüglich ihrer oder die V e r m u t h u n g der U n W a h r h e i t

u n d so

Verdacht)

(sie ist nicht als unwahr er-

kannt, aber scheint unwahr, ist u n w a h r s c h e i n l i c h , er b e z w e i f e l t sie).

Ueberwiegt nicht i n merklicher Weise die V e r m u t h u n g der W a h r -

heit oder das Bezweifeln der Thatsache, schwankt clas U r t h e i l zwischen Bejahung u n d Verneinung, so bleibt die Thatsache Ueberzeugung, Seelenzustände, die i m

die

Vermuthung, wir

nicht

einzelnen Menschen

er weiss,

willkürlich

mit

dieser i m gewöhnlichen Leben hingiebt

Zweifel

meist

Thatsaehen,

hervorrufen

Notwendigkeit

u n d die er als Grundlage

zweifelhaft.

sind selbst

können,

entstehen3,

ohne eingehende Prüfung

und denen sich

seiner Entschlüsse a n n i m m t , weil

dass die Gesetze des Denkens,

denen er sich unterworfen

f ü h l t , sich von selbst geltend machen u n d die R i c h t i g k e i t seiner E i n drücke verbürgen.

Er

dass die Fähigkeit

des Menschen,

3

bemerkt

allerdings

bei einigem

die W a h r h e i t

Nachdenken,

zu erkennen,

eine

Das passive, willenlose Verhalten bezeichnet schon M e η ο c h i u s, wenn er Verdacht so definirti „Suspicio est p a s s i o animi, aliquid fìrmiter non eligentis". Viel umfassender aber sind folgende Darstellungen. R e n a z z i lib. 3 c. 11 η 6: „Varios animi status quod attinet ad veritatem . . . assequendani, . . . omnino quatuor sunt: ignorantiae scilicet, dubii, probabilitatis atque certitiulinis . . . Et dubius quidem est animus, cum neutra ex parte rationes habet, quibus impellatur ad assensum, quod d u b i um n e g a t i vu m vocant, vel cum ex utraque parte habet aequales, quod club i um ρ ο si t i vu m nommant. Est enim animus . . . lands instar, quae nisi praeponderante ex alterutra parte momento rationis nempe, sen calculi evidentia, nullam in partem déclinât, sed perstat in aequilibrio. Status probabilitatis, qui velut médius est inter ignorantiam et scientiam, is est, in quo animus alterutram quidem in partem flectitur, seel lente, perplexim, timide nec sine sollicitiuline . . . Certus est animus, qui de judicio seu calculo suo quantumvis velit aut conetur, dubitare nullo pacto potest". Die Kehrseite betont J. Fitzjames S t e p h e n , General view eli. V I I ρ 241 : „Experience proves, that though a given man at a given moment may have no choice as to whether or not he will believe particular sets of propositions, yet by education, by forming mental habits with a view to such a result, a man may bring himself either to believe or to doubt almost any thing". Dies bezieht sich aber nach den folgenden Ausführungen darauf, class es eines Motivs bedarf, um den Menschen zu bestimmen, sich eine Ansicht zu bilden, statt die Frage, als eine für ihn gleichgiltige, auf sich beruhen zu lassen; und dass Motive vorhanden sein können, lieber im Zweifel zu verharren als sich cler Gefahr des Irrthums auszusetzen, unci class andererseits die Notwendigkeit vorliegen kann, sich sofort auf Grund des eben vorliegenden Materials zu entscheiden.

342

§ 32.

Subjective Ueberzeugung.

begrenzte ist, class viele Gefahren cles Irrens vorhanden sind, ja dass die abstracte Möglichkeit cles Irrens gar nicht auszuschliessen ist, dass es in Bezug auf die Dinge, die sich in der Zeit und im Baume zutragen, eine unbedingte, mathematische, a p o d i k t i s c h e Gewissheit nicht giebt; er weiss aber auch, dass von der hierauf beruhenden absoluten Skepsis abgesehen werden muss, wenn cler Mensch zum Urtheilen und Handeln überhaupt gelangen soll. Ja er sieht, dass es nothwenclig ist, noch weiter zu gehen: bei cler Mangelhaftigkeit unserer Mittel, die Wahrheit zu erforschen, gewöhnen wir uns daran, auch über solche Z w e i f e l , welche aus der concreten Sachlage entstehen, uns hinwegzusetzen, wenn sie auf einer Möglichkeit beruhen, welche nach clem gewöhnlichen Lauf der Dinge keinerlei Wahrscheinlichkeit für sich hat; und wir lassen uns dadurch nicht abhalten, die Thatsache, gegen welche sie sprechen, als wahr anzunehmen 4 . Immerhin aber d a r f man annehmen , dass clie Bildung einer Ueberzeugung im Menschen cler Willkür entrückt ist, dass er nur sein Bewusstsein, sein Gewissen zu fragen hat, um zu erkennen, ob er von einer Thatsache überzeugt sei, sowie dass unter normalen Verhältnissen diese Ueberzeugung selbst eine Gewähr der Wahrheit bietet, unci dass es umgekehrt nicht angeht, dem Menschen durch Gesetze und Rechtsnormen eine Wahrheit aufzunöthigen, deren Erkenntniss nicht clas Ergebniss der in ihm sich vollziehenden Seelenprozesse wäre. Insofern ist es unvermeidlich, die f r e i e , v o n i n n e n heraus kommende U e b e r z e u g u n g (conviction intime) des Urtheilers als Grundlage cler Entscheidung desselben gelten zu lassen. Allein wenn es unvermeidlich ist, dass man dem einzelnen überlässt, sich cla, wo es lediglich um seine Interessen sich handelt, seine Ueberzeugung selbst zu bilden und sich ihr rückhaltlos hinzugeben, so kann man es darauf allein doch nicht ankommen lassen, wo es sich um clie Verwirklichung von Forderungen cler Gerechtigkeit handelt. Nicht blos ist die Gefahr vorhanden, dass der einzelne vorsätzlich seine Ueberzeugung verleugnet oder in leichtfertiger Weise sich über seinen eigenen Seelenzustand täuscht und sich für überzeugt hält, wo er es nicht ist, sondern es ist die Richtigkeit cler Urtheile, die sich der einzelne bildet, abhängig von der Gelegenheit, die ihm geboten ist, sich vollständige Kenntniss cler Voraussetzungen zu verschaffen, nicht minder aber auch von seiner eigenen Beschaffenheit. Trotz der Allgemeingiltigkeit cler Denkgesetze und trotzdem, dass man sich ihnen * M i l l , Die inductive Logik; bearbeitet von Schiel. I. Abth. Kap. 22 § 2 S 360.

Braunschweig 1849.

§ 32.

Subjective Ueberzeugung.

willkürlich nicht entziehen kann, besteht doch auch in Bezug auf die Fähigkeit, Thatsachen richtig zu beurtheilen überhaupt und bestimmte Arten von Thatsachen zu erkennen, eine grosse Verschiedenheit zwischen den Menschen5. Keine auftauchende Frage kann eine ganz isolirte Lösung finden; es handelt sich immer darum, dass die Wahrnehmungen, auf Grund deren letztere erfolgen soll, sich in Verbindung setzen mit der Gesammtheit von Vorstellungen unci Kenntnissen, welche im Menschen schon vorhanden ist; jeder bringt auch bezüglich des Vorganges bei der Beurtheilung von Thatsachen Gewohnheiten und Fähigkeiten mit, welche bei anderen anders beschaffen sind. So stellt sich die Ueberzeugung cles einzelnen doch nur als Wahrheit für ihn, als subjective Wahrheit, nicht als Wahrheit für alle, objective Wahrheit, wie sie allein clie Verwirklichung des Rechts sichert, dar. Es muss also, so weit menschliche Macht reicht, dafür gesorgt werden, diesen Gegensatz zu überbrücken. Es steht clem Staat dafür ein doppeltes Mittel zur Verfügung: einerseits kann er verlangen, class cler richterliche Ausspruch auf die übereinstimmende Ueberzeugung mehrerer, und zwar einer um so grösseren Zahl von Personen gestützt wTerde, je wichtiger die Sache ist, — andererseits kann er darauf hinarbeiten, sich cler Grundlage zu versichern, auf welche die Urtheiler ihre Ueberzeugung gründen, d. h. sie zum Gegenstände rechtliche Normirung machen. In ersterer Hinsicht vermindert sich die Gefahr cler Beeinflussung des Urtheils durch clen Zufall in dem Maasse, als die Zahl cler Urtheiler zunimmt. Stimmen sie in ihrem Urtheil überein, so kann dies nicht auf individuellen Fehlern und Mängeln beruhen; fehlt diese Uebereinstiinmung, so drückt sich in cler Verschiedenheit cler Meinungen schon objectiv der Gracl cler Wahrscheinlichkeit oder Zweifelhaftigkeit cler festzustellenden Thatsachen aus, und es ist cler Gesetzgebung die Möglichkeit geboten, durch die Forderung cler E i n s t i m m i g k e i t oder einer k ü n s t l i c h e n M e h r h e i t Gewähr dafür zu erlangen, dass nur geringfügige Zweifel cler Annahme einer bestimmten Thatsache entgegenstehen. 5

„It is thus of great importance to understand clearly whether evidence is not only the cause of belief, for of that there is no doubt, but whether its tendency to produce belief is measured entirely by its own qualities or partly by the qualities of the mind in which the belief is to be produced. As to this, experience proves" . . . (folgt die Anm 3 angeführte Stelle). S t e p h e n , General view eh. VII ρ 241.

344 § 33.

Beweis.

Wichtiger aber ist die Anerkennung der Notwendigkeit, sich der Grundlagen der richterlichen Ueberzeugung zu versichern, dafür zu sorgen, dass dieselben mit Recht als solche betrachtet werden können Auch in seinen eigenen Angelegenheiten folgt kein achtsamer Mensch ohne weitere Prüfung dem blossen Eindruck von der Wahrheit entscheidender Thatsaehen. Wenn mit Recht die „Ueberzeugung als Bewusstsein der Gewissheit" bezeichnet wurde 2 , so kann dieses Bewusstsein nicht bestehen, ohne sich auch darauf zu erstrecken, dass diese Ueberzeugung auf Gründen beruht, welche den Gesetzen des Denkens Genüge thun, und also, da diese Gesetze allgemein giltig sind, auf a l l g e m e i n g i 11 i g e η G r ü n d e n . Allgemein giltige Gründe für die Annahme der Wahrheit einer Thatsache können aber nur andere Thatsaehen abgeben, welche bereits gewiss sind und welche mit derjenigen, deren Wahrheit erst festgestellt werden soll, in solchem Zusammenhange stehen, dass diese aus jenen zu folgern ist. Dieser logische Zusammenhang zweier Thatsaehen wird dadurch ausgedrückt, dass man sagt, die eine mache über die andere B e w e i s , s e i ihr B e w e i s , b e w e i s e sie. In diesem Sinne bezeichnet man die eine als Β e w e i s g e g e η s t a. η d , B e w e i s s a t z (thenia probandi), die andere als B e w e i s g r u n d (probatio, argumentum); die Mittel, durch welche man über den Beweisgrund Gewissheit erlangt, als B e w e i s m i t t e l (media probandi), wohl auch kurzweg als B e w e i s e 3 . Mit diesem Worte wird angeknüpft an jene logische Operation, welche das ganze Gebiet des Wissens und Denkens beherrscht und dem Streben des menschlichen Geistes entspricht , überall die Wahrheit zu erkennen und sich ihrer zu vergewissern. I n diesem Sinne heisst b e w e i s e n : die Gründe für die Giltigkeit eines Urtheils entwickeln. Während aber auf den Gebieten abstracten, besonders mathematischen Wissens 1

Vgl. v. B a r , llecht unci Beweis S 311. B a u e r , Lehrbuch cles Strafprozesses § 96. 3 Mitunter gebraucht man clas Wort „ B e w e i s e " auch für Β e w e i s g r ü η cl e. B a u e r , Theorie cles Anzeigenbeweises S 2, sagt: „Sowohl (lie Beweisgründe als die Beweismittel werden auch Beweise (probationes) genannt". Die Beweisgründe sind eben die Thatsaehen, aus welchen die Wahrheit cles Beweissatzes gefolgert wird, clie Beweismittel sind die Quellen, aus welchen wir die clen Beweisgrund bildenden Thatsaehen schöpfen. (Ueber clas Zusammenfallen von „Beweisquellen" und „Beweismitteln" vgl. auch H e f f t e r , Lehrbuch § 614 Anm 2.) S t ü b e l , Criminalverfahren § 1086. 1087 I I I 3. J o r d a n , WRLex I I 183, meint, der Unterschied zwischen Beweismitteln und Beweisgründen liege nur in Worten. J o h n , StPO I 464, versteht unter Beweisgründen clen Gruncl des cler Annahme der Thatsache günstigen Ergebnisses der Kritik cler Beweisführung. ' 2

§ 33.

Methoden der Beweisführung·

345

Beweis.

(demonstratio)

stattfinden,

welche

ge-

statten, bis zu apodiktischer Gewissheit zu gelangen, eine unbedingt einleuchtende Sicherheit (evidentia) verschaffen, hat es das praktische L e ben m i t Thatsachen zu thun, bezüglich welcher n u r beschränkte u n d der Gefahr des Irreführens aussetzende Beweismittel zur Verfügung stehen. Der Beweis i m für

die W a h r h e i t

Strafprozess ist daher der Inbegriff

der Gründe

einer i m Strafverfahren festzustellenden Thatsache.

Der Ausdruck bezieht sich nach dem eben gesagten 1. auf die M i t t e l , sie festzustellen, 2. auf die T h ä t i g k e i t i h r e r Darlegung, das B e w e i s e n , die B e w e i s f ü h r u n g ,

welche wieder i n der Herstellung u n d Prüfung

der Beweismittel (Beweisverfahren,

Beweisaufnahme)

u n d i n der E r -

örterung ihrer Bedeutung (Beweisausführung, Deduction) besteht, 3. auf die Anerkennung, dass clas Z i e l der Beweisführung erreicht, diese gelungen, cler Beweis hergestellt sei (BeweisWürdigung) 4 .

I n diesem Sinne

4 Hiemit sind beispielsweise zu vergleichen die grundlegenden Ausführungen von B o n n i e r Nr 1 s. „Nous découvrons la vérité lorsqu'il y a conformité entre nos idées et les faits . . . que nous désirons connaître. P r o u v e r c'est établir l'existence de cette conformité. Les p r e u v e s sont les divers moyens par lesquels l'intelligence arrive à la découverte de la vérité. (Diet, de Γ Ac. : Preuve est ce qui établit la vérité d'une proposition, d'un fait.) Mais il ne faut pas confondre les moyens de preuve avec la preuve acquise". „Ce mot", sagt Bentham (Preuves j u d i c i a i r e s , éd. de Dumont, liv. I chap. 6, deutsche Ausg. S 15), „a quelque chose de trompeur: il semble que la chose qu'on appelle ainsi ait une force suffisante pour déterminer la créance; mais on ne doit entendre par là qu'un moyen dont on se sert pour établir la vérité d'un fait, moyen qui peut être bon ou mauvais, complet ou incomplet. Aussi peut-on avoir accumulé toutes les p r e u v e s , c'est-à-dire tous les moyens, sans qu'il y ait dans l'esprit du juge p r e u v e , c'est-à-dire conviction formée. Enfin, la p r e u v e s'entend de la production même des éléments sur lesquels doit s'établir la conviction, comme lorsqu'on se demande à qui incombe le fardeau de la preuve". Im engen Anschluss an Greenleaf, Law of evidence I § 1, sagt T a y l o r , A treatise on the law of evidence. 3. ed. 1858. § 1: „The word E v i d e n c e , considered in relation to Law, includes all the legal means, exclusive of mere argument, which tend to prove or disprove any matter of fact, the truth of which is submitted to judicial investigation. This term and the word p r o o f are often used as synonymes; but the latter is applied by accurate logicians, rather to the e f f e c t of evidence, than to evidence itself. None but mathematical truth is susceptible of that high degree of evidence, called d e m o n s t r a t i o n , which excludes all possibility of error. In the investigation of matters of fact such evidence cannot be obtained; and the most that can be said is, that there is no reasonable doubt concerning them. The true question, therefore, in trials of fact is not, whether it is possible that the testimony may be false, but whether there is sufficient probability of its truth; that is, whether the facts are proved by competent and satisfactory evidence". Vgl. auch B e s t , Law of evidence §§ 6—11; deutsche Ausg. §§ 2—5 und He us 1er in CA 1879 S 209 f.

346

§ 34.

Gegensatz der freien Ueberzeugung

enthält also der Begriff des Beweises, als Resultates der gelungenen Beweisführung, ein doppeltes: 1. dass derjenige, welcher eine Thatsache als Grundlage seines Handelns annehmen soll, von ihrer Wahrheit überzeugt ist, sie nicht blos für wahrscheinlich hält, und 2. dass er auch das Bewusstsein hat, dass diese seine Ueberzeugung auf Gründen ruht, welche den allgemeinen Denkgesetzen Genüge thun und von welchen anzunehmen ist, dass sie auch bei jedem anderen die gleiche Ueberzeugung hervorrufen werden. ^ 34.

Gegensatz der f r e i e n U e b e r z e u g u n g und der gesetzlichen Beweistheorie.

Irregeführt durch die Vorgänge auf anderen Wissensgebieten hat man aber geglaubt, auch auf dem praktisch-juristischen weitergehende Anforderungen an den Begriff des Beweises stellen zu dürfen. Man hat behauptet, o b j e c t i v e G e w i s s h e i t nur dann annehmen zu können, wenn die vorliegenden Beweisgründe zur Annahme der Wahrheit nöthigen; erst wo solche Gewissheit vorhanden, sei die Thatsache bewiesen. „Beweis im engeren eminenten Sinne ist also cler Inbegriff von Beweisgründen, welche vereinigt die Notwendigkeit cler Annahme cler Wahrheit einer Thatsache erzeugen" Im Gegensatz zu dieser objectiven Gewissheit sei „ s u b j e c t i v e G e w i s s h e i t die durch vorhandene Beweisgründe bewirkte Ueberzeugung von cler Wahrheit einer Thatsache". Diese aber sei verschieden von clem blossen „subjectiven Für wahrhalten" : „Die rechtliche Gewissheit ist nämlich durch objective, allgemein giltige Beweisgründe bedingt, welche jeden unbefangenen Urteilsfähigen zu überzeugen geeignet sind und von denen man sich selbst und anderen bestimmte Rechenschaft zu geben vermag. Das subjective Fürwahrhalten hingegen beruht auf solchen Gründen, welche die individuelle Ueberzeugung des einzelnen zu bestimmen vermögen. Es können und werden dies zwar auch objective, zugleich jedoch blos subjective, nur individuell giltige Gründe sein. Diese beruhen daher mitunter nicht in klarem, bestimmtem Bewusstsein und lassen folglich keine genaue Angabe zu. (Insofern das Fürwahrhalten blos auf subjectiven Gründen beruht, ist es nur M e i n u n g oder W a h n ! ) Zwar wird auch bei Würdigung der objectiven Beweisgründe die Individualität des Beurteilenden nicht ohne Einfluss sein; allein derselbe hat doch bestimmte Anhaltspunkte und Grenzen, welche diesen Einfluss beschränken; hieran fehlt es aber beim subjectiven Fürwahrhalten, bei welchem daher vieles von Zufälligkeiten 1

B a u e r , Theorie des Anzeigenbeweises S 3. 4.

und der gesetzlichen Beweistheorie.

347

abhängt, insbesondere theils von der Individualität, theils von der augenblickliehen Geinüthsstinnnung, theils von der Macht der öffentlichen Meinung" 2 . So vieles Richtige diese Darstellung enthält , so birgt sie doch auch Verwechselungen, aus welchen irrige Folgerungen über das Verhältniss des Individuellen zum Allgenieingiltigen gezogen worden sind, welche für die Gestaltung des Beweisrechts verhängnissvoll wurden. Der praktische Jurist kann sich nicht darauf beschränken, mit solchen Beweisgründen zu operiren, welche a priori die „N o t h w e n d i g k e i t der Annahme cler Wahrheit" in sich tragen; denn er kann nicht, wie cler Astronom, wie cler Mathematiker, wie cler Philosoph, seine Aufgabe jedesmal ungelöst lassen, wenn ihm solche Beweisgründe nicht zur Verfügung stehen. Die auf diesem Gebiete erreichbare Gewissheit ist von der Wahrscheinlichkeit nur dem Gracle, nicht cler Art nach verschieden, äusserlich nicht messbar; und daher führen nur individuell bestimmbare Abstufungen zu jener empor. Eben darum ist es nicht blos die Individualität des Urtheilers, sondern auch die Individualität des zu beurtheilenclen Falles, was für clas Resultat einer gegebenen Beweisführung entscheidend ist, und es handelt sich nicht blos um clas Ueberzeugtsein eines Individuums, sondern um die Beurtheilung einer individuellen Sachlage. Es ist möglich, dass cler Beurtheiler seinen Seelenzustand irrig auffasst und überzeugt zu sein glaubt, wo er nur für wahr hielt ; es ist auch möglich, dass er eine feste Ueberzeugung gewonnen hat, class diese aber auf Gründen beruht, welche als allgenieingiltige nicht anerkannt werden können. Es ist aber auch möglich, class eine ganz bestimmte Ueberzeugung vorhanden ist und class sie auf Gründen beruht, die, obgleich sie nicht abstraete Eigenschaften haben, welche gestatten, zu sagen, class sie u n t e r a l l e n U m s t ä n d e n clie Wahrheit verbürgen, doch unter den gegebenen Umständen jedem Urtheilsfähigen volle Beruhigung gewähren, und umgekehrt, class clas Beweismittel denjenigen abstracten Anforderungen entspricht, von welchen man — ohnehin nur vermöge der schon wiederholt betonten Fiction — annimmt, dass sie Gewissheit verbürgen, die „Notwendigkeit cler Annahme" cler Thatsachen erzeugen, während dasselbe im gegebenen Falle keine Ueberzeugung hervorruft und auch aus guten, jedem unbefangenen Urtheiler einleuchtenden Gründen sie nicht hervorzurufen vermag. Statt zu erkennen, dass, sobald einmal auf apodiktische Gewissheit verzichtet werden muss, dasjenige, was man als Beweis 2

B a u e r S 3—6.

348

§ 34.

Gegensatz der freien Ueberzeugung

bezeichnet, auch nicht mehr auf Gründen beruhen kann, welche objective Allgemeingiltigkeit haben, die Notwendigkeit der zu beweisenden Thatsache darthun, — zog man aus der falschen Analogie zwischen jener und dieser Art der Beweisführung Consequenzen, welche auf willkürliche Unterscheidungen gegründet waren. Die Beweisgründe können nicht abstracter Natur sein; sie können nur in Kategorien eingereiht werden, und für diese in ihrer Totalität lassen sich gewisse allgemeine Kennzeichen aufstellen. Es ist aber eine Täuschung, zu glauben, class durch die Aufstellung dieser Kennzeichen mehr als clas n e g a t i v e Resultat, Ausscheidung absolut unbrauchbarer Beweismittel, erreicht werden könne, und dass sich Merkmale finden lassen, welche abstract zu formulimi, also so beschaffen sind, class ihr Vorhandensein sich unabhängig von dem einzelnen Fall feststellen lässt, und welche doch für sich allein schon die Gewähr der unbedingten Beweistüchtigkeit des Beweismittels bieten. Bei manchen Beweismitteln konnte man sich darüber täuschen, bei andern war dies gar nicht möglich. Und gerade dadurch wurde man bestimmt, eine Unterscheidung aufzustellen, welche, aus cler abstracten Beschaffenheit cler Beweisgründe abgeleitet, clen einen die Eignung beimaass, wirklichen Beweis zu machen, während die anderen nur V e r m u t h u n g begründen sollten. Letzteres hing damit zusammen, dass gewisse Beweisarten auf dem Zusammentreffen einzelner Beweisgründe beruhen, und dass man, was von clen vereinzelten richtig sein mag, auf die Beweisart übertrug, welche auf deren Verbindung und Ineinandergreifen beruht. Und daraus wieder erwuchs die Verwechselung des Maasses von Gewissheit , welches einer jener Beweisgründe etwa mit sich bringen kann, mit dem Maass, welches für clas Gelingen der Beweisführung selbst gefordert wird. Weil also diese Art cler Beweisführung, durch I n d i c i e n , einerseits abstracter Regelung auffälligeren Widerstand entgegensetzte, als diejenige, welche auf physische Wahrnehmung cler zu beweisenden Thatsache zurückführte, weil ferner jene die Gewissheit aus der Zusammenlegung von Gründen ableitete, welche vereinzelt nur Vermutungen, zusammenstimmend aber allerdings mindestens clen gleichen Grad von Gewissheit begründen, wie letztere, weil endlich bei jener Art von Beweisführung die individuelle Beu r t e i l u n g cles Falles noch weniger als bei dieser für entbehrlich erachtet werden k a n n , — k a m man dahin, zwischen e m p i r i s c h e r und m o r a l i s c h e r Gewissheit zu unterscheiden, letztere mit blosser Vermuthung zu verwechseln, aus jener allein o b j e c t i v e , aus dieser nur s u b j e c t i v e G e w i s s h e i t erwachsen zu lassen und zuletzt subjective B e u r t h e i l u n g und U r t h e i l e n auf Grund

und der gesetzlichen Beweistheorie.

349

b l o s s e n M e i η ens als gleichbedeutend hinzustellen. Andererseits hat man geglaubt, Merkmale zu besitzen, welche es gestatten, a priori zwischen vollem und nicht vollem, ja sogar zwischen ganzem und halbem Beweis zu unterscheiden und somit nicht blos die Eignunggewisser Mittel, auf die Ueberzeugung hinzuwirken ( B e w e i s q u a l i t ä t ) , sondern auch das Maass der von ihrer Anwendung zu erzielenden Wirkung (ihre B e w e i s k r a f t ) abstract zu bestimmen. Gestützt auf diese Unterscheidungen glaubte man ein System von Beweisregeln (Be w e i s t h e ο r i e ) aufstellen zu können, deren Beobachtung Gewähr dafür biete, dass die Urtheile nicht auf blosser Meinung der Urtheiler, sondern auf objeetiven Grundlagen beruhen. Allein die Vorstellung von den sich gewissermaassen von selbst anwendenden Beweisregeln ist eine ebenso täuschende, wie es die von dem sich von selbst airwendenden Strafgesetz war. I n letzter Linie giebt es keinen anderen Prüfstein menschlicher Gewissheit, als dass etwas Menschen gewiss wird, welche nicht leichtfertig ihre Meinung bilden, sondern sich dabei den allgemein anerkannten Gesetzen des Denkens unterwerfen; auf diese aus der Prüfung des für den einzelnen Fall zur Verfügung stehenden Beweismaterials erwachsende Ueberzeugung, die eben darum nur eine individuelle sein kann, muss jede abstracte Regel, wenn sie nicht eine offenbar falsche sein soll, auch wieder hinweisen. In dem Augenblick also, wo der Urtheiler, überzeugt, dass er nunmehr alle ihm zugänglichen Gründe für und gegen die Wahrheit einer Thatsache kennt, dazu schreitet, über diese zu urtheilen ( B e w e i s w ü r d i g u n g ) , wird er als eine g e g e b e n e T h a t s a c h e ein bestimmtes inneres Verhalten (§ 32) zu dem Beweisthema vorfinden, von dem er sich in doppeltem Sinne Rechensehaft zu geben hat. Er muss sich klar darüber werden, ob ihm die Thatsache oder deren Gegentheil gewiss, wahrscheinlich, zweifelhaft oder unwahrscheinlich ist, und er muss bestrebt sein, sich über die Gründe, welche diesen Seelenzustand in ihm hervorgerufen haben, klar zu werden, dieselben durch Vergleiehung mit den Gegengründen und mit den Gesetzen des Denkens zu prüfen. Diese Vergleiehung wird entweder dazu führen, dass die ursprünglich vorgefundene Ueberzeugung sich festigt oder dass sie sich ändert, dass ihm zweifelhaft wird oder nur wahrscheinlich bleibt, Avas ihm gewiss schien, oder umgekehrt. Feste persönliche Ueberzeugung, welche dieser Prüfung stand hält, welche also erkannt wird als basirt auf nach allgemeinen Denkgesetzen zureichenden Gründen, bildet den höchsten Grad cler Gewissheit, die der einzelne erreichen kann: eine Thatsache, von welcher der Richter in

350

§ 35.

Das B e w e i s r e c t des heutigen Strafprozesses.

dieser Weise überzeugt ist, ist im Sinne des modernen Prozessrechtes e r w i e s e n , und wenn die Beweisführung dieselbe Wirkung bei der gesetzlich erforderlichen Zahl von Urtheilem hervorruft, so ist die Thatsache zur r e e h t l i e h e n G e w i s s h e i t erhoben. Eine Thatsache, deren der Urtheiler gewiss zu sein glaubt, bezüglich welcher er aber erkennt, dass seine Ueberzeugung nur auf Gründen beruht , die nach allgemeinen Denkgesetzen als unhaltbar oder doch als unzureichend erscheinen, muss ihm in Folge dieser seiner Erkenntniss auch subjectiv z w e i f e l h a f t werden, sie kann ihm höchstens noch wahrscheinlich bleiben. Umgekehrt wird der Umstand, dass die vorhandenen Beweisgründe auszureichen scheinen, um die Annahme der Thatsache nach allgemeinen Denkgesetzen zu rechtfertigen, zu erneuter Prüfung ermähnen ; auch diese kann vielleicht die feste Ueberzeugung nicht begründen, den tatsächlich vorhandenen Zweifel nicht zum Schweigen bringen. In dem einen Falle wie im andern bleibt die Thatsache u n b e w i e s e n und kann nicht Grundlage einer Entscheidung werden, welche auf Gewissheit, nicht auf blosse Wahrscheinlichkeit zu stützen ist. Das Beweisrecht des heutigen Strafprozesses beruht also auf der Anerkennung des a u s s c h l a g g e b e n d e n Gewichtes der persönlichen Ueberzeugung ; es erkennt keine Regeln an, welche nicht der individuellen Beurtheilung des einzelnen Falles freien Raum lassen, es verlangt aber allerdings, dass letztere von allgemein giltigen Grundsätzen beherrscht ist. § 35.

D a s B e w e i s r e c h t des h e u t i g e n

Strafprozesses.

I. Das in § 33 gesagte ist das unbestreitbare Ergebniss der geschichtlichen Entwickelung cles Strafprozesses. Es ist oben (Buch I Abth. 1 Kap. 2) gezeigt worden, dass die Entwickelung und der Untergang der gemeinrechtlichen Beweistheorie für die Gestaltung des Strafprozesses in den verschiedenen Epochen geradezu maassgebend war. Die Anerkennung des Grundsatzes cler freien richterlichen Würdigung des Beweisergebnisses ist vielleicht die praktisch bedeutsamste Thatsache, welche in dem Strafprozess cler Jahre 1848 if. sich vollzogen hat. Darüber hinausgefühlt ist die Entwickelung noch in cler deutschen Reichsstrafprozessordnung, insofern diese, abweichend von der Mehrzahl der früheren deutschen Strafprozessordnungen und von der österreichischen des Jahres 1873, auch die ständigen Richtercollegien von cler Begründung ihrer tatsächlichen Entscheidungen entband und im Schwurgerichtsverfahren die Ausdehnung des Schlussvortrages des Vorsitzenden auf die Darstellung des Beweisergebnisses beseitigte.

§ 35.

Das B e w e i s r e c t des heutigen Strafprozesses.

Damit wäre man zu der a u s s c h l i e s s l i c h e n Geltung des Princips der freien Beweiswürdigung gelangt, und der Gedanke liegt nahe, dass damit jeder rechtlichen Regelung des Beweises der gesetzliche Boden entzogen sei. Genaueres Eingehen auf die geschichtliche Entwickelung, das allerdings einem anderen Orte vorbehalten bleiben muss, zeigt jedoch, dass dies mit nichten deren Sinn und Ziel war, dass man keineswegs auf die fernere Geltung eines Be w e i s r e c h t e s im Strafprozess verzichten wollte und dass vielmehr cler neueste Strafprozess es als die wichtigste, freilich ungelöste Aufgabe übernahm, dasselbe so auszugestalten, dass cler freien Beurtheilung cles einzelnen Falles kein Henunniss sich entgegenstelle, aber auch dafür Bürgschaft geboten sei, dass die tatsächliche Feststellung nicht lediglich das Ergebniss rein persönlicher Meinungen und Anschauungen sei. λ Γ οη diesem Standpunkt aus ist nunmehr an die Beurtheilung der Stellung zu gehen, welche die deutsche (und im wesentlichen übereinstimmend die österr.) StPO zur Lehre vom Beweis in Strafsachen einnimmt. Hiefiir ist in erster Linie maassgebend, class sie ein geschlossenes Gesetzeswerk (eine Codification) ist, welches der formellen Geltung bisheriger Gesetze über denselben Gegenstand ein Ende macht. Es giebt in Ansehung des Beweises in Strafsachen kein anderes Recht, als welches nach Wortlaut und Sinn die StPO selbst aufstellen oder anerkennen wollte. — Die alles zusammenfassende Bestimmung ist die des § 260: „ U e b e r clas E r g e b n i s s cler B e w e i s a u f n a h m e entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem I n b e g r i f f e cler V e r h a n d l u n g geschöpften Ueberzeugung". (Vgl. § 258 ö. StPO.) Es wäre fruchtlose Haarspalterei, die hier gewählten Ausdrücke einer Analyse zu unterziehen und mit analogen Bestimmungen zu vergleichen, zu fragen, ob das Gericht überhaupt ü b e r das „Ergebniss der Beweisaufnahme", oder nur auf Gruncl desselben über die Frage zu entscheiden hat, „ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei" (§ 259 cler CPO), und ob diese Grundlage nicht in dem „Inbegriff cler \ r erhandlung" selbst mit Inbegriffen sei. Gerade clas nicht ganz scharf zutreffende dieser Ausdrücke gestattet um so deutlicher, es als die Absicht cles Gesetzes zu erkennen, z w e i e r l e i auszusprechen: 1. Dass die f r e i e U e b e r z e u g u n g cles Richters, unbeirrt durch Regeln über clie B e w e i s k r a f t e i n z e l n e r B e w e i s m i t t e l , über clie Thatfrage entscheide. 2. Dass diese Entscheidung sich aber nur stützen dürfe auf die V e r h a n d l u n g , und zwar nicht auf einzelne, isolirt betrachtete Theile derselben, sondern auf deren I n b e g r i f f , und dass zu dieser Verhandlung insbesondere die B e w e i s a u f n a h m e gehöre.

352

§ 35.

Das Beweisreclit des heutigen Strafprozesses.

Dass dieser letztere Ausdruck, obgleich er bei dem übrigen Inhalte des Satzes und des Gesetzes entbehrlich war, Aufnahme fand, kann nur darauf zurückzuführen sein, dass das Gesetz den B e w e i s als Grundlage der richterlichen Entscheidung ebenso betonen wollte, wie es an zahlreichen anderen Stellen die Herstellung des Beweises als Aufgabe des Verfahrens bezeichnet. So spricht das Gesetz in § 266 von den „für erwiesen erachteten" (und „für erwiesen angenommenen") Thatsaehen und unmittelbar daneben von dem Falle, wo dieser Beweis „aus anderen Thatsaehen gefolgert" wird ; und der zugleich vorkommende Ausdruck „überführt" enthält nicht grammatisch, aber logisch die Hindeutung auf objective Ueberzeugungsgründe, auf den Beweis. Das Gesetz spricht von „zu beweisenden Thatsaehen" 245), von den „für das Verfahren und den Beweis in Strafsachen geltenden Vorschriften" (§ 261), von B e w e i s m i t t e l n (§§ 198. 210. 218. 220. 243. 244. 245.- 248. 364. 399 Z. 5), von „ B e w e i s a n t r ä g e n " (§§ 218. 243), von B e w e i s e r h e b u n g oder Erhebung von Beweisen (§§ 164. 199. 200. 206. 244), von B e w e i s h a n d l u n g (§ 243), endlich von B e w e i s a u f n a h m e und A u f n a h m e des BeAveises in der mehrfachen Beziehung eines genau abgegrenzten Stadiums des Verfahrens (§§ 243. 245. 257. 367), einer auf den „Beweis" in seiner Gesamintheit (§§ 237. 244. 260. 366) und einer auf die Vorführung und Prüfung eines einzelnen Beweismittels (§ 253 : „zum Zwecke der Beweisaufnahme über ein Geständniss", § 331 : „die noch erforderlichen Beweisaufnahmen") sich beziehenden Thätigkeit, In all diesen Redewendungen ist der Ausdruck B e w e i s als ein allgemein verständlicher, einer gesetzlichen Erklärung nicht bedürftiger gebraucht worden, und daher im Sinne desjenigen Beweissystems, welches nach dem Stande der Rechtswissenschaft, nach dem wissenschaftlichen und allgemeinen Sprachgebrauch als das zur Zeit der Erlassung des Gesetzes allein herrschende anzusehen war. Damit hat das Gesetz die Verwerthung und Fortführung der Forschungen über die Natur des Beweises, über die einzelnen Beweismittel, über die Bedingungen ihrer Beweiskraft, soweit diese aus dem Wesen der Sache abgeleitet und nicht durch willkürliche Satzungen aufgestellt sind, der Wissenschaft anheimgestellt, welche nicht unterlassen darf, clie Ergebnisse des Nachdenkens und der Erfahrung von Jahrhunderten, welche in cler auf der Grundlage des gemeinen deutschen Rechtes erwachsenen Literatur und in den gleichartigen Leistungen cler Rechtswissenschaft anderer Länder niedergelegt sind, mit den Anordnungen und Grundlagen des geltenden Rechtes in Einklang zu bringen.

§ 35.

Das B e w e i s r e c t

es heutigen Strafprozesses.

II. Aus letzterem Gesichtspunkte ergeben sich aber folgende Einschränkungen : 1. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist rückhaltlos ausgesprochen, und der vollen Entfaltung der aus demselben sich ergebenden Consequenzen darf nichts entgegentreten, was nicht gesetzliche Autorität für sich hat. Der Grundsatz aber macht sich nicht erst im Augenblick, avo das „Ergebniss der Beweisaufnahme" zu prüfen ist, geltend, sondern er muss sich auch auf das vorausgehende (und soweit es sich um Ueberprüfung des Urtheils handelt, auch auf clas nachfolgende) Verfahren erstrecken. Die erste und wichtigste Consequenz cles Grundsatzes cler freien Beweiswürdigung besteht eben darin, dass clie Beantwortung cler Frage, ob ein bestimmtes Beweismittel im gegebenen Fall seinen Zweck erreicht h a b e , ob es sich als geeignet e r w i e s , Gewissheit über die zu beweisende Thatsache zu schaffen, ob also seine Beweiskraft ausreichend war, — der nachfolgenden Prüfung des Urtheilers allein vorbehalten, und gleichzeitig jeder Versuch ausgeschlossen wird, ihm die Bedingungen vorzuschreiben, unter welchen er dem Beweismittel Glauben oder ein bestimmtes Maass von Glauben schenken darf oder schenken muss. Es ist daher eine Beengung dieser freien Beurtheilung und somit eine Einschränkung des Grundsatzes, wenn cler Versuch auf dem Umwege unternommen wird, dass Beweismittel, clie unter diesen Begriff fallen, als u n z u l ä s s i g ausgeschlossen werden, sobald gewissem formellen Erfordernissen nicht entsprochen ist ; es liegt hierin clas Unternehmen, ein Element aus der richterlichen Prüfung unci Beurtheilung auszuschliessen, von welchem es möglich wäre, dass es im gegebenen Falle die Ueberzeugung cler Urtheiler bestimmt oder mitbestimmt hätte und dem die Beweiskraft wegen Abganges eines formellen Erfordernisses abgesprochen wird. Der Grundsatz cler freien Beweiswürdigung ist also unvereinbar mit dem Fortbestand von gemeinrechtlichen oder traditionellen Regeln und mit der Nachahmung der Vorgänge fremder Gesetzgebungen, wrelche darauf abzielen, ein Beweismittel wegen des Abganges formeller Eigenschaften auszuschliessen, d. h. ihm auf Gruncl einer abstracten Regel von vornherein jede beweisende Kraft abzusprechen und clie Beeinflussung des Urtheilers durch dasselbe unmöglich zu machen, indem die in demselben liegende Aufklärung oder Andeutung cler Kenntnissnahme des Urtheilers von vornherein vorenthalten wird. Während unter cler Herrschaft cler freien Beweiswürdigung die beweisende Kraft des Beweismittels sich nur dadurch erproben kann und soll, class es tatsächlich beim Urtheiler Ueberzeugung hervorruft, wird durch diesen Vorgang eine Vorprüfung an liinding, Handbuch. ]X. 4. i :

G l a s e r , Strafprozess. 1.

28

354

§ 35.

Das B e w e i s r e c t des heutigen Strafprozesses.

der Hand einer abstracten Norm vorgenommen und dem Beweismittel, welches dieser nicht entspricht, jede Beweiskraft von vornherein abgesprochen. Dadurch wird zwar nicht v e r b o t e n , aber v e r h i n d e r t , dass der Urtheiler sich im gegebenen Falle von dem Beweismittel überzeugen lasse. 2. Liegt also hierin allerdings eine Beschränkung, die theilweise Aufhebung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung, so kann eine solche gleichwohl als nothwendig erkannt werden; ja es wird sich zeigen, dass solche Einschränkungen gar nicht zu vermeiden sind. Aber sie müssen dann ihre Begründung in der Autorität desselben Gesetzes finden, welches jenen Grundsatz aufstellt und dürfen nicht aus einem Beweissystem herübergenonimen werden, welches auf dem entgegengesetzten Princip ruht, auf dem Bestreben, die Beweiskraft voraus abzumessen und dem Urtheiler Vorschriften über das von ihm anzuerkennende M a as s derselben zu ertheilen. In sachlicher Hinsicht ändert sich auch der Charakter der Maassregel selbst durch die Uebertragung in das neue System. Die gemeinrechtlichen Normen oder Lehren, welche einem Beweismittel diesen Charakter wegen eines formellen Gebrechens absprachen, bezogen sich auf das zureichende M aas s v o n B e w e i s k r a f t ; sie untersagten dem Richter, es in dem Beweiscalcul, den er anzustellen hatte, als voll in Rechnung zu bringen; sie sprachen ihm aber nicht die Eignung ab, als Beweise l e m e n t zur Entscheidung der Sache einen Beitrag zu liefern. Auf dem Boden des heutigen Prozesses hätte diese Unterscheidung allerdings keine rechtliche Wirkung; eine solche wäre nur von der Nichtzulassung der Vorführung des Beweismittels in der Hauptverhandlung zu erwarten; damit aber würde jede Benutzung desselben als Beweiselements für die Aufklärung des Sachverhaltes abgeschnitten, und dies ginge eben über die Formstrenge des älteren gemeinen Rechtes hinaus (siehe unten § 37 V). Es hängt dies mit der Unterscheidung zwischen blosser A u s k u n f t und A u f k l ä r u n g einerseits und B e w e i s andererseits zusammen, die im inquisitorischen Prozess eine Rolle spielte und sich in den m o d e r n e n f r a n z ö s i s c h e n Prozess hinüber gerettet hat. Es darf aber nicht übersehen werden, dass einer der Grundzüge des neuen Strafprozesses in der scharfen Sonderung der Hauptverhandlung, deren Mittelpunkt die B e w e i s a u f n a h m e ist, von dem Vorverfahren, welches der Untersuchung, Nachforschung, Aufklärung gewidmet ist, beruht. In der Hauptverhandlung kommt es aufs B e w e i s e n an; was nicht beweisen soll, hat dort keinen Platz; im Vorverfahren wird erst gesucht, nichts darf bei Seite gelassen werden, was mög-

§ 35.

Das Beweisrecht des heutigen Strafprozesses.

lieherweise zur Auffindung

355

von Beweisen, zur A u f k l ä r u n g der Sache

dienen k a n n ; auf misslungene Versuche muss m a n da von vornherein gefasst sein, u n d dem späteren Verfahren Werthes des gefundenen vorbehalten.

bleibt die E r p r o b u n g

des

D e r inquisitorische Prozess hatte

nun, zumal nachdem die Schranken durchbrochen waren, welche d u r c h die

Specialinquisition

und

clas a r t i c u l i r t e

Verhör

gezogen

wurden,

das Ergebniss all dieser experimentirenclen Nachforschungen clen A k t e n einverleibt,

die clem erkennenden Richter

uneingeschränkt

vorlagen,

u n d dieser hatte an der H a n d der gesetzlichen Beweisregeln den Beweisstoff

daraus

zu

entnehmen.

Damit

hängt

es zusammen,

dass

Juristen u n d Gesetze, welche auf diesem Boden standen, es vereinbar fanden,

Beweismittel

die Entgegennahme

als solche für u n t a u g l i c h zu erklären u n d doch derselben zu gestatten.

weisregel weggefallen u n d das Stadium des Beweisens scharf

gesondert i s t ,

Unterscheidungen n u r V e r w i r r u n g

Jetzt aber, wo die Be-

des Nachforschens

würde

von

die U e b e r t r a g u n g

dem jener

anrichten1.

1 Ein Beispiel dafür mag eine Aeusserung K i t k a s (Beweislehre S 28 Anm 2) geben. Er polemisirt da, zunächst gegen B e n t h a m sich wendend, gegen die Ansicht, „dass im Strafrecht die Vermuthung für clie Unschuld cles Inculpaten streite oder dass man wenigstens so handeln müsse, als wenn diese Vermuthung durch das Gesetz aufgestellt wäre" — „weil cler Inquirent, welcher sich in seiner Thätigkeit durch diese Vermuthung leiten lässt, sehr leicht jene Umstände zu erheben übersieht, welche für die Schuld des Inculpaten streiten und zu dessen Ueberweisung viel beitragen können". Die hier allerdings handgreifliche Verwechselung cles bei cler N a c h f o r s c h u n g zu beobachtenden Verfahrens mit dem bei cler Prüfung des Ergebnisses derselben einzuhaltenden hat sehr oft auf die Ausbildung des Beweisrechtes nachtheilig eingewirkt. In M i t t er m a i er s ältester (1809 gedruckten, aber erst 1821 unter clem Titel „Theorie cles Beweises im peinlichen Prozesse" erschienenen) Bearbeitung cler Beweislehre im Strafprozess verwirft dieser für clen Strafprozess clie Regel: „es sollen nur erhebliche Thatsaehen bewiesen werden", weil clie Pflicht des Richters forclere, „auf alles aufmerksam zu sein, alles zu sammeln, weil auch manches Unwichtige durch die Folge Werth erhält". Mit Recht betont auch Hé l i e , Instr. § 353, V 536 sq., dass im älteren französischen Rechte die gesetzliche Beweistheorie es war, welche die nachträgliche Sonderung zwischen Nachforschungen und Beweismitteln (pour leur donner une valeur probante) bewirkte — dass clie Gesetzgebung von 1791 diese Sonclerung durch Trennung cler Stadien des Verfahrens versuchte — die spätere Gesetzgebung aber clen Unterschied zwischen Ergebnissen cler Instruction, qui n'étaient que de simples renseignements et n'avaient aucune force probante, und Ergebnissen cles Beweisverfahrens wieder verwischt hat. — Es ist ein wesentlicher Fortschritt des neuesten deutschen unci österreichischen Strafprozesses, class clie Zweideutigkeit cler in cler Hauptverhandlung einzuholenden „Aufklärungen" ganz vermieden, den dort vorgeführten Beweismitteln dieser Charakter rein erhalten wird. Vgl. namentlich die Mot zur deutschen StPO S 140.

23*

356

§ 35.

Das B e w e i s r e c t des heutigen Strafprozesses.

Man gelangt also zu folgendem Resultate über das Verhältniss des neuen Beweisrechtes zu dem der früheren Prozessfornien : Alle aus den Denkgesetzen und der Erfahrung abgeleiteten Regeln über die Natur des Beweises, über die Beschaffenheit der einzelnen Beweismittel, über die Gründe und Voraussetzungen ihrer Eignung hiezu, über die Gesichtspunkte, von welchen bei cler Prüfung ihrer Beweiskraft auszugehen ist, behalten nach wie vor ihre Geltung, clie ohnehin keine unmittelbar praktische ist. Es handelt sich nämlich um theoretische Sätze, deren Consequenzen auf eleni Boden des geltenden Prozessrechtes bei Entscheidungen, die nicht unmittelbar das Be w ei s er g e b n i s s feststellen, sondern diese Feststellung nur vorbereiten, zuziehen sein werden; häufig auch um Anleitungen zu richtigem Vorgehen bei der Prüfung cles Beweisergebnisses, die nicht darauf Anspruch inachen können, fertige Entscheidungen im voraus zu fonnuliren. Alles dagegen, Avas auf clen Versuch abzielt, die Beweiskraft zu messen, zwischen Beweismitteln zu unterscheiden, clie viel oder wenig beweisen, Abstufungen cler Gewissheit von vornherein zu machen und daraus entweder directe Anforderungen an clen Urtheiler abzuleiten oder ihm durch Ausschliessung von zulässigen, aber a priori für unausreichend erklärten Beweismitteln vorzugreifen: alles das hat jeden Anspruch auf Berücksichtigung im modernen Prozess verloren, soweit es diesen nicht auf clas geltende Gesetz als solches stützen kann. I I I . Die StPO beschränkt aber selbst clas Princip der freien Würdigung cles Ergebnisses cler Verhandlung: 1. Dadurch, class sie dieselbe als B e w e i s Würdigung behandelt ; die Grundsätze, welche clie B e w e i s q u a l i t ä t , nicht clie Quantität der B e w e i s k r a f t bestimmen, und welche auf die Forderung eines logischen Zusammenhanges zwischen Beweisgrund und Beweissatz sich zurückführen lassen, sind dadurch als fortan geltend anerkannt. 2. Zu würdigen ist clas E r g e b n i s s d e r V e r h a n d l u n g , und diese richtet sich nach Grundsätzen, welche n e b e n dem Princip der freien Beweiswiirdigung Geltung haben und dasselbe zwTar nicht d i r e c t , aber i n d i r e c t beschränken. Es sind dies namentlich die Grundsätze cler M ü n d l i c h k e i t und cler geordneten c o n t r a c l i c t o r i s c h e n V e l li a η cl 1 u η g, deren Consequenzen theils im Gesetz gezogen sind, theils bei dessen Anwendung gezogen werden müssen, und welche bewirken können, dass ein angebotenes Beweismittel als unzulässig zurückgewiesen und damit cler Würdigung bei Beurtheilung des Gesammtergebnisses entzogen wird. Ja es kann vorkommen, class das Gericht über gewisse Zwischenfälle des Verfahrens nicht anders entscheiden kann, als indem es die grössere oder geringere Wahrscheinlichkeit, die

§ 35.

Das B e w e i s r e c t

es heutigen Strafprozesses.

dafür spricht, dass ein in Frage kommendes Beweismittel auf das Ergebniss der Beweiswürdigung Einfluss nehmen könnte, in Anschlag bringt; und ähnliches wird bei der Ueberpri'ifung solcher Entscheidungen im Rechtsmittelzuge zu gelten haben. 3. Auch die Grundsätze über die B e w e i s q u a l i t ä t können nicht u n m i t t e l b a r dadurch zur Geltung gebracht werden, dass auf Grund einer behaupteten Verletzung derselben das Ergebniss der Beweiswürdigung angefochten werden könnte. Die Berufung bildet nur eine scheinbare Ausnahme, da sie den Berufungsrichter in den Fall bringt, s e l b s t das Beweisergebniss zu würdigen und das Resultat, zu dem er gelangte, an die Stelle des im ersten Urtheil niedergelegten zu setzen; es erscheint also hier gleiehgiltig. ob er Beweisgrundsätze für verletzt erachtet oder über die Messung des Beweises sich eine andere Ansicht gebildet hat. Wo es sich dagegen um die Prüfung der G e s e t z m ä s s i g k e i t eines der Ueberprüfung in gleichem Sinne entrückten Spruches handelt, da könnte höchstens der nicht wohl denkbare Fall in Frage kommen, dass sich daithun liesse, es liege einem solchen Ausspruch überhaupt n i c h t s zu Grunde, was irgendwie als Beweis angesehen werden könnte; denn sowie nur irgend ein Beweiselement gegeben ist, eröffnet es der freien Beweiswürdigung die Bahn. Allein eben dämm, weil die Beweiswürdigung eine einheitliche Operation ist, die sich jeder Ueberprüfung entzieht, muss das Verfahren, das ihr zu Grunde liegt, ein streng formgerechtes sein, und wenn dasselbe absolut unzulässiges zum Gegenstande cler Beweisaufnahme gemacht hat, lässt sich nicht mehr feststellen, ob nicht eben darauf clas Urtheil beruht: clas Ergebniss cler Beweiswürcligung verliert alle Verlässlichkeit, sobald clas dieser zu Grunde liegende Verfahren die Grundsätze des Beweisrechtes, welche unbeschadet der Freiheit der Beweiswürdigung in Geltung sind, verletzt hat. IV. Das Ergebniss der vorstehenden Auseinandersetzung ist: Auch im neuesten StP giebt es ein Beweisrecht , dessen Grundsätze aus cler Natur und dein Wesen des Beweises abgeleitet und durch das Gesetz indirect anerkannt sind. Diese Grundsätze müssen die Gerichte bei Leitung und Ordnung, beziehungsweise bei Ueberprüfung cler Gesetzmässigkeit des Verfahrens festhalten und zur Geltung bringen. Dabei müssen sie aber auch mit dem Grundsatz im Einklang bleiben, dass cler Urtheiler bei der Prüfung des Beweisergebnisses sich seine Meinung frei von jeder Regel bilden kann, und dass dieser Prüfung nicht dadurch vorgegriffen werden darf, dass Beweismittel lediglich deshalb ausgeschlossen werden, weil ihnen nur

358

§ 36.

Beweisgegestand und Beweislast.

ein geringes Maass von Beweiskraft beigelegt wird. Und umgekehrt findet die freie Beweiswürdigung ihre Begrenzung darin, dass sie nur eintreten kann auf Grand einer ordnungsmässigen, den übrigen Prozessgrundsätzen entsprechenden Verhandlung. § 36.

Beweisgegenstand und Beweislast.

I. Soll der Strafrichter auf einen seiner Entscheidung unterstellten Sachverhalt das Strafgesetz richtig anwenden, so müssen ihm alle den letzteren ausmachenden Thatunistände zur rechtlichen Gewissheit erhoben sein, d. h. a l l e Thatsachen, von welchen die Anwendbarkeit strafrechtlicher Nonnen auf clen Fall abhängt, müssen in ihrer Wahrheit erkannt und b e w i e s e n sein. Mehr als clie Ueberzeugung und clas Beruhen derselben auf Beweisen (d. i. allgemein giltigen Ueberzeugimgsgründen) ist durch clas Wesen cler Sache nicht geboten. Dies allein ist wesentlich. Für das Strafrecht ist es im Gegensatz zum Civilprozess, cler verlangt, class clem Richter sowohl die Thatsachen als die für dieselben sprechenden Beweise vorgetragen werden, gleichgiltig, ob eine entscheidende Thatsache b e h a u p t e t wurde, ob die Gründe für deren Annahme clem Richter von aussen her beigebracht wurden oder sich ihm selbst im Verlaufe seiner amtlichen Beschäftigung mit der Sache dargeboten haben. Insofern ist cler Gegenstand des Beweises identisch mit dem Gegenstand der Entscheidung cles Strafrichters. Allein insofern clie Herstellung cler rechtlichen Gewissheit über letzteren regelmässig clas Ergebniss einer hierauf abzielenden Thätigkeit, cler B e w e i s f ü h r u n g , ist — einer Thätigkeit, welche übrigens ebenso wohl vom Richter ausgehen kann, cler sich selbst, als von clen Parteien, die ihm jene Gewissheit zu verschaffen suchen —, kann man zwischen Gründen cler Gewissheit, welche aufgesucht und vorgebracht werden, und solchen, clie sich von selbst aufdrängen, unterscheiden und erstere als eigentliche Ziele cler Beweisführung, als G e g e n s t a n d des B e w e i s e s im engeren Sinn bezeichnen. So aufgefasst, ergeben sich die Fragen: Was kann, was muss bewiesen werden? ( B e w e i s g e g e n s t a n d . ) Wer muss beweisen? ( B e w e i s l a s t . ) Welchen Einfluss übt die Verschiedenheit cler Beweisgegenstände auf die Beweisführung? I I . Gegenstand cles Beweises kann dasjenige n i c h t sein, 1. was cler Richter als solcher bereits aus allgemein giltigen Gründen für wahr hält; was unbestreitbar ist, weil es allbekannt (notorisch) ist; dasjenige, dessen Gegentheil nicht bewiesen werden darf, weil von vorneherein feststeht, (lass letzteres u n m ö g l i c h

§ 36.

Beweisgegestand und Beweislast.

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ist. Ob einer bestimmten Thatsache gegenüber diese Voraussetzungen zutreffen, das hängt davon ab, ob die Gewissheit oder Unmöglichkeit cler Thatsache jedermann erkennbar ist, oder ob es dazu einer besonderen Berufsbildung bedarf; weshalb es geschehen kann, dass diese Vorfrage selbst wieder Gegenstand einer Beweisführung durch Vernehmung von S a c h - o d e r K u n s t v e r s t ä n d i g e n werden kann. 2. Dasjenige, was das Gesetz ausdrücklich von den Gegenständen der Beweisführung ausschliesst, weil dies ζ. B. im öffentlichen Interesse liegt ( t h e i l w e i s e tritt dies ein bei Aussagen, durch welche ein Dienstgeheinmiss verletzt würde, § 53 deutsche, § 151 Z. 2 Österreich. StPO), oder aus anderen Gründen, ζ. B.: Verbot des Gegenbeweises gegen gewisse Angaben des Hauptverhandlungsprotokolles (§ 274 StPO), Beschränkungen der Beweisführung in Beleidigungsprozessen (§ 190 deutsches, § 490 Österreich. StGB). I I I . Gegenstände, welche v o r l ä u f i g nicht bewiesen zu werden brauchen, sind solche Thatsaehen, für welche die V e r m u t h u n g spricht. Der Ausdruck wird, wie schon gezeigt (§ 32 I Z. 3), zunächst zur Bezeichnung eines Seelenzustandes gebraucht. Allein das Wort bezeichnet auch die Grundlage eines Seelenzustandes in dem Sinne, dass das Vorhandensein einer gewissen Thatsache die Annahme anderer Thatsaehen durch den Richter begründet. Die erstere wird dann selbst eine Vermuthung genannt. Man spricht in diesem Sinne von unwiderlegbaren Vennuthungen (praesunitiones juris et de jure) ; es sind dies in Wahrheit Thatsaehen, an deren Eintritt eine R e g e l des m a t e r i e l l e n Rechtes gewisse Folgenmgen knüpft, die also das Gesetz statt des Richters zieht. Es handelt sich hier gar nicht um die Feststellung der zu vennuthenden Thatsache, sondern nur der die Vermuthung begründenden. Daran schliessen sich gesetzliche Vermuthungen (praesunitiones juris), Thatsaehen, an deren Eintritt das Gesetz die Verpflichtung des Richters knüpft, eine andere Thatsache für wahr zu halten, bis ihm clas Gegentheil derselben zur Gewissheit erhoben wird. Solche Vennuthungen sind mit dem Wesen des Strafrechts und zumal mit cler Grundform des heutigen Strafprozesses durchaus nicht vereinbar, selbst nicht mit der Einschränkung, class es zu ihrer Entkräftung nicht cler Gewissheit, nur der Wahrscheinlichkeit des Gegentheils bedarf; es besteht daher insbesondere nicht eine gesetzliche Vermuthung des bösen Vorsatzes (praesumtio doli), oder der Zurechnungsfähigkeit (praesumtio imputabilitatis). Wohl aber liegt es in clen Denkgewohnheiten der Menschen begründet und ist fast unvermeidlich, dass sie dasjenige, was dem natürlichen Verlaufe der

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Dinge entspricht, einstweilen voraussetzen, als „InterimsWahrheit" gelten lassen, so lange nicht Gründe hervortreten, welche einen Zweifel dagegen anregen. I n diesem Sinne beruhen allerdings auch strafrichterliche Feststellungen vielfach auf Vermuthungen. Im Grunde ist dies nur die Durchführung des für alle Beweisführung geltenden Grundsatzes, dass man von dem Bewusstsein der Fehlbarkeit aller menschlichen Erkenntniss, von der stets vorhandenen abstracten Möglichkeit der Irreführung durch ein Beweismittel sich nicht abhalten lässt, demselben Glauben zu schenken. bis concrete Gründe Misstrauen gegen dasselbe erregen. I n diesem Sinne beirrt den Richter die abstrafte Möglichkeit nicht, dass der Zeuge lügen, dass er (z. B. durch eine ungewöhnliche Aehnlichkeit) irre geführt, dass ein Schriftstück nachgemacht sein könne. Ebenso wenig beirrt ihn die immer vorhandene Möglichkeit, dass der Angeklagte unzurechnungsfähig ist. dass er bei seiner Handlung eine.andere Absicht verfolgte, als die nach dem natürlichen Gang der Dinge ihm beigemessen werden muss. In all diesen und ähnlichen Fällen bedarf es nicht der Anstellung besonderer Untersuchungen, der Führung von Beweisen zur Ausschliessung jener abstracten Möglichkeit. Wohl aber tritt diese Notwendigkeit sofoit ein, sobald concrete Umstände darauf hindeuten, dass jene abstracto Möglichkeit im vorliegenden Falle verwirklicht- sein könnte; und sobald sie einmal eingetreten ist, hört die Wirksamkeit der vorläufigen Vennuthung v ö l l i g auf: es darf dein Urtheiler kein Zweifel mehr übrig bleiben, wTenn er jene „Interimsw r ahrheit" soll seiner Entscheidung zu Grunde legen dürfen. IV. I n dem vorstellend dargelegten Sinne ist die Beweisführung v o r l ä u f i g entbehrlich in Bezug auf Gegenstände, welche durch ein C i v i l u r t h e i l festgestellt sind (§§ 261 Abs. 2. 399 Z. 4 deutsche. § 5 Abs. 2 Österreich. StPO). Dem liegt aber überhaupt die in der Natur der Sache begründete vorläufige Annahme zu Grunde, dass Behörden in ihrem gesetzlichen Wirkungskreise ordnungsniässig und gesetzlich vorgehen (legalia praesuniuntur). — Andererseits führt die Betrachtung des Einflusses, welchen auf die Haltung eines jeden Menschen dessen Interesse übt, zu der Geneigtheit, einstweilen als wahr anzunehmen, wras jemand, der ein Interesse hat, es zu bestreiten, als wrahr gelten lässt, Avas er ausdrücklich oder stillschweigend zugestellt. Auf das Verhältniss eines solchen Z u g e s t ä n d n i s s e s (admissio) zum G e s t ä n d n i s s wird später noch zurückzukommen sein. Hier sei nur betont, dass ersteres auch auf Seite der Anklage, besonders WTO ein Privatkläger auftritt, und bei mancherlei Zwischenfällen des Verfahrens Berücksichtigung verdienen kann und nicht minder auf Seite des An-

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geklagten, zumal bezüglich mittelbar wichtiger Beweiselemente, Bedeutung zu erlangen vermag; ζ. B. zur Vermeidung der Notwendigkeit positiver Feststellung der Echtheit einer Urkunde oder des Umstands, dass der Angeklagte etwas, was in seiner Gegenwart gesprochen wurde, auch wirklich gehört habe, der Identität von Gegenständen u. dgl. I n allen solchen Fällen erspart das Zugeständniss die ausdrückliche Beweisführung ; allein es bindet nicht nur nicht den Richter, sondern entbindet ihn der Pflicht, auf positiven Beweis zu dringen, nur so lange, als die zugestandene Thatsache nicht aus anderen Gründen bedenklich wird. — Eine gewisse Aehnlichkeit mit diesen Vorgängen, vermöge welcher der Urtheiler sich trotz des Bewusstseins, dass die Sache nicht vollständig durchforscht und aufgeklärt wurde, mit dem ihm vorliegenden beruhigt, hat es endlich, wenn umgekehrt das Ergebniss der Beweisführung es z w e i f e l h a f t lässt, welche von mehreren Möglichkeiten im gegebenen Falle verwirklicht ist, nach Lage der Sache aber der Richter sich dadurch nicht abhalten lässt, seinen Spruch zu fällen, was dann gerechtfertigt werden kann, wenn die beiden allein übrig bleibenden Möglichkeiten j u r i s t i s c h g l e i c h b e d e u t e n d sind, oder wenn, wo dies nicht der Fall, weitere Aufklärung aber nicht zu erlangen ist, die dem Angeklagten g ü n s t i g s t e der überhaupt. zulässigen Annahmen dem Urtheil zu Grunde gelegt wird. V. Gegenstand der Beweisführung darf endlich nur dasjenige sein, was für die Entscheidung dieser bestimmten Strafsache e r h e b l i c h , r e l e v a n t ist. Die Einmischung von Erörterungen und Beweisführungen über unerhebliches ist nicht blos mittelbar von Nachtheil, indem sie zur Verschleppung der Entscheidung, zur Vergeudung der Zeit des Gerichtes und des Kostenaufwandes führt, sondern sie kann die Gewinnung des richtigen Beweisergebnisses gefährden, indem sie die Aufmerksamkeit von den entscheidenden Thatsaehen ablenkt und selbst zu nach allgemeinen Beweisgrundsätzen unzulässigen Folgerungen verleiten kann. Der Durchführung cler Regel, dass nur erhebliche Thatsaehen zum Gegenstand der Beweisführung zu machen sind, stellen sich aber grosse Schwierigkeiten entgegen: 1. dass die Beweisführung auf unmittelbar erhebliche Thatsaehen nicht beschränkt werden kann, da es in vielen Fällen auf den Beweis m i t t e l b a r r e l e v a n t e r Thatsaehen wesentlich ankommt·, 2. class häufig nicht vorher beurtheilt werden kann, ob das Ergebniss einer vorgeschlagenen Beweisführung nicht die Herstellung einer sei es unmittelbar, sei es mittelbar erheblichen Thatsache sein werde; 3. dass das positive Gesetz, welches clen Parteien einen Einfluss auf die Bestimmung des Beweismaterials einräumt (s. namentlich § 244 deutsche. § 246 Österreich.

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StPO), der strengen Sichtung erheblicher und unerheblicher Beweisgegenstände durch clas Gericht Hindernisse bereitet. Letztere werden unten noch näher zu erörtern sein. VI. Ist im vorstehenden besprochen, was ausserhalb des Kähmens der Beweisführung liegt, so ist nunmehr an das unter I gesagte anknüpfend zu betonen, dass jede sei es p o s i t i v e , sei es n e g a t i v e Thatsache Gegenstand cler Beweisführung ist, deren Vorhandensein clie Bedingung ist, von welcher die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit einer gesetzlichen Vorschrift auf einen bestimmten Fall abhängig ist. Die regelmässige Aufgabe cles Strafprozesses ist die Entscheidung darüber, ob eine bestimmte Person einer bestimmten strafbaren Handlung schuldig zu erklären, mit cler in einem bestimmten Strafsatz angesetzten Strafe zu belegen, wie diese Strafe vom Richter innerhalb der so bezeichneten Grenzen zu bemessen ist, welche sonstigen Nebenaussprüche zu erfolgen haben. Regelmässig werden dabei die Thatsachen sich unter die Gesichtspunkte sondern lassen, class von ihrer Annahme oder Nichtannahme abhängt: cler o b j e c t i v e Τ Ii at b e s t an cl, clie That ohne Rücksicht auf einen bestimmten Tliäter, corpus delicti, — der s u b j e c t i v e Thatbestand, der Ausspruch, dass die That dieser bestimmten Person zur Last falle und zur Schuld angerechnet werden könne, — und clie durch clas oben gesagte angedeuteten N e b e n u n i s t ä n d e . Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass gerade für die Aufgaben cler Beweisführung eine strenge Sonclerung dieser Beweisgegenstäncle sich nicht erreichen lässt. Schon im Sinne des materiellen Gesetzes durchkreuzen sich die angedeuteten Momente vielfach unter sich und mit anderen hier nicht ausdrücklich hervorgehobenen Momenten, ζ. B. Bedingungen cler Anwendbarkeit eines bestimmten Strafrechts. Es lässt sich ferner eine Sonelerung cler Beweisführung nach S t a d i e n , clie etwa den oben bezeichneten drei Hauptpunkten entsprächen, nicht durchführen, obgleich es an Versuchen, dies zu beanspruchen, nicht gefehlt hat. Es ist ferner nicht zu verhindern, dass die einzelnen Akte cler Beweisführung verschiedene jener Gegenstände zugleich umfassen, ja dass Beweisführungen, welche darauf berechnet sind, über die eine Thatsache Gewissheit zu verschaffen, sie für Thatsachen einer anderen Ordnung herstellen. So werden namentlich Strafzuinessungsgründe nur selten ausdrücklich als Gegenstand cler B e w e i s f ü h r u n g bezeichnet werden, obgleich sie clem Richter zur rechtlichen Gewissheit erhoben sein müssen. I m allgemeinen kann auch nicht anerkannt werden, dass die eben angedeutete Verschiedenheit cler Beweisgegenstäncle einen

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Beweisgegestand und Beweislast.

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Einfluss auf clie Anforderungen an die Beweisführung übt. Nur folgendes kann hier angedeutet werden: 1. dass die Beweisführung über n e g a t i v e Thatsaehen ganz besonders durch die oben unter I V erörterten Verhältnisse beeinflusst sein kann ; Λ 2. dass die Gesetze des Denkens es mit sich bringen, dass zwei Thatsaehen zu einander in clem Verhältniss stehen, dass clie Beweisführung über clie eine erst erheblich wird, wenn die andere feststeht, oder vielmehr class praktisch die eine Beweisführung sich als entbehrlich erweist, sobald das negative Ergebniss cler anderen einmal feststeht (die Beweisführung über Thäterschaft cler Tödtung oder Fälschung ist entbehrlich, sobald das Misslingen cles Beweises des objectiven Thatbestandes ausser Zweifel steht); 3. dass nicht jedes Beweismittel geeignet ist, über jede Art von Thatsaehen Gewissheit zu verschaffen, class ferner wenigstens eine bestimmte Art von Beweismitteln wenigstens in höherem Gracle, als eine andere, dazu geeignet ist, über gewisse Arten von Thatsaehen Beweis zu machen, und dass hierauf nicht blos bei cler Würdigung der geführten Beweise, sondern auch bei der Beweisaufnahme Rücksicht genommen werden muss. VII. Was clie R i c h t u n g d e r B e w e i s f ü h r u n g betrifft, letztere als Thätigkeit einer bestimmten Person, namentlich einer Partei gedacht, so kann darauf hingearbeitet werden, die Wahrheit oder clie Unwahrheit einer bestimmten Thatsache, gleichviel ob diese eine positive oder negative ist, festzustellen. I n diesem Sinne spricht man von B e w e i s und G e g e n b e w e i s . Sofern aber eine Entscheidung davon abhängt, dass eine bestimmte Thatsache bewiesen ist, genügt es für die Gegenbestrebung, dieselbe unwahrscheinlich oder auch nur zweifelhaft gemacht zu haben. I n diesem Sinne stellt man dem H a u p t b e w e i s clen G e g e n b e w e i s gegenüber; cler letztere ist entweder ein blosser E n t k r ä f t u n g s b e w e i s (Bekämpfung oder Abschwächung cler Erfolge des Hauptbeweises) oder ein e i g e n t l i c h e r , s e l b s t ä n d i g e r G e g e n b e w e i s , die selbständige Beweisführung für die Unwahrheit cler clen Gegenstand des Hauptbeweises bildenden Thatsaehen. Sehr häufig besteht der selbständige Gegenbeweis in der Darthuung einer Thatsache, deren Annahme mit der Wahrheit der den Gegenstand des Hauptbeweises bildenden unvereinbar ist ( i η cl i r e c t e r G e g e η b e w e i s, Hauptbeispiel : Alibibeweis). — Nimmt man die Stellung des Angeklagten zum Ausgangspunkt der aus der Richtung der Beweisführung sich ergebenden Eintheilung, so unterscheidet man den A n k l a g e - oder A n s c h u l c l i g u n g s - und

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§ 36.

Beweisgegestand und Beweislast.

den V e r t h e i d i g u n g s - oder E n t l a s t u n g s b e w e i s . Der letztere kann sein: G e g e n b e w e i s gegen den Anschuldigungsbeweis im eben dargelegten Sinne, oder auch Beweis von Thatsachen, welche, ohne das Ergebniss des Anklagebeweises zu beirren, einen dem Angeklagten g ü l t i g e n Ausspruch herbeizuführen geeignet sind. Beweis strafrechtlicher Exceptionen, Beweis von Strafmilderungs- und Strafini nderangsgründen u. s. w. ; endlich kann der Vertheidigungsbeweis sich die B e k ä m p f u n g des dem Entlastungsbeweis entgegengestellten Gegenbeweises, Gegenbeweis gegen den Gegenbeweis, zur Aufgabe machen. Analog steht es mit dem Belastungsbeweis. Der Werth dieser ganzen Unterscheidung kann aber nur erkannt werden im Zusammenhang mit der Erörterung der V I I I . B e w e i s l a s t (onus probandi). Sie hat eine dreifache Bedeutung : 1. Die f o r m e l l e Beweislast trifft denjenigen, welchem der Verlust seines Anspruches bevorsteht, wenn er nicht die zur Darthuung der denselben stützenden Thatsachen erforderlichen Beweise herbeischafft oder wenigstens durch genaue Anträge dem Gericht zur Verfügung stellt. Dies kann nur dort in Betracht kommen, wo das Gericht die nicht in dieser A i t von der Partei beschafften Beweise unberücksichtigt zu lassen berechtigt oder gar verpflichtet ist. Die Nichtanbietung des Beweises gilt hier gleich dem Verzicht auf die Thatsache und auf die daraus abzuleitenden Folgerungen. Eine solche Behandlung der Beweislast ist mit dem Strafprozess ganz unvereinbar; auch bei der Verhandlung über eine Privatanklage, ja selbst bei der exceptio veritatis, wodurch die Straflosigkeit einer Beleidigung erwirkt werden soll, ist eine formelle Beweislast nicht anzuerkennen. 2. Die m a t e r i e l l e Beweislast trifft denjenigen, zu dessen Nachtheil es ausfallen muss, wenn für eine bestimmte Angabe, Behauptung oder Annahme entweder überhaupt kein Beweis sich darbietet oder die Beweisführung das Ziel der Herstellung des Beweises nicht erreicht, — denjenigen also, den der Nachtheil trifft, welcher daraus entsteht, dass die Thatsache ungewiss bleibt. Im allgemeinen trifft im Strafprozess dieser Nachtheil unbestrittenerinaassen die Anklage; sie muss ganz oder theilweise unterliegen, wenn eines cler Elemente des allgemeinen oder speciellen Thatbestandes, wenn eine cler Voraussetzungen der Verurtheilung oder der Anwendung eines strengeren Strafgesetzes ungewiss bleibt ; und dies gilt insbesondere auch von all jenen Fällen. wro scheinbar die Nichtanwendung cles Strafgesetzes von dem Vorhandensein einer positiven Bedingung abhängig gemacht ist, während in Wahrheit , bei richtiger Auffassung des Gesetzes, blos Umstände und

§ 36.

Beweisgegeiistand und Beweislast.

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Thatsaehen zum Beweis gestellt sind, deren Eintritt gleichbedeutend ist mit dem N i c h t v o r h a n d e n s e i n einer Voraussetzung der Verurtheilung. Ist es zweifelhaft, ob eine Thatsache eingetreten sei, deren Verwirklichung mit dem Vorhandensein der Schuld des Angeklagten unvereinbar ist (ζ. B. Unzurechnungsfähigkeit), so ist es eben zweifelhaft, ob er schuldig ist ; der Zweifel über sog. S c h u 1 d a u s s c h 1 i e s s u η g s g r ü n d e macht daher die Verurtheilung unmöglich; die materielle Beweislast trifft clie Anklage. — Anders steht es aber bei von der Schuld unabhängigen Thatumständen, bei solchen, welche erst unter cler Voraussetzung in Betracht kommen, dass die Schuld des Angeklagten feststeht, bei materiell- und prozessreehtlichen Gründen, welche die Strafbarkeit a u f h e b e n oder die Strafverfolgung verhindern. Ist der Beweis der Schuld des Angeklagten erbracht, so kann der Richter nur dann freisprechen, wenn er von clem Vorhandensein solcher Thatsaehen überzeugt ist, von welchen das Gesetz dann allein clie Freisprechung cles Angeklagten abhängig macht. I n Bezug auf S t r a f i n i l d e r u n g s g r ü n c l e ist es eine Frage cler Auslegung, ob es sich um solche oder blos um die Feststellung cles Vorhandenseins der Bedingungen der Anwendung eines strengeren Strafsatzes handelt. 3. Die f a c t i s che Beweislast ist in cler Gefahr eines Irrthunis des Richters begründet, welche durch eine bestimmte Lage cler Beweisergebnisse hervorgerufen wird. Selbst clie strengste gesetzliche Beweistheorie vermag gegen solche Gefahr nicht zu sichern, und clie Freiheit der Beweiswürdigung macht es der Partei noch schwerer, sich dabei zu beruhigen, dass cler Richter sich nicht durch ungenügende Beweise, ja selbst durch Vennuthungen in dem oben (III) besprochenen Sinne zur Annahme ihr ungünstiger Thatsaehen werde bestimmen lassen ; clas ist namentlich dann zu besorgen, wenn die Sache so liegt, dass ein vorhandener Belastungsbeweis sein Gewicht nur durch Aufklärungen verlieren kann, welche nach Lage cler Dinge niemand so leicht als cler Angeklagte verschaffen kann. Wozu cler Angeklagte rechtlich nicht verpflichtet ist, nämlich den Belastungsbeweis zu widerlegen, dazu nöthigt ihn in solchen Fällen sein eigenes Interesse, und auf diesem beruht wieder sein Recht, class ihm zu solcher Ausdehnung des Entlastungsbeweises volle Freiheit und Gelegenheit gewährt werde.

366 § 37.

Verschiedenheit

der B e w e i s m i t t e l arten.

und Beweis-

I. Wer als Richter zu urtheilen hat, kann eine Thatsache nur aus einem von folgenden zwei Gründen für erwiesen ansehen: e n t w e d e r weil er sich davon überzeugt, dass clie zu beweisende Thatsache von einem Menschen sinnlich wahrgenommen oder, sofern es sich um einen innerlichen Vorgang handelt, erlebt wurde — o d e r weil er eine Thatsache als wTahr erkennt, welche ihn auf die Wahrheit jener anderen (cles Beweissatzes) vermöge ihres logischen Zusammenhanges mit derselben schliessen lässt. I m ersten Fall erlangt cler Urtheilencle e m p i r i s c h - h i s t o r i s c h e , im zweiten m o r a l i s c h e 1 Gewissheit. Die e m p i r i s c h - h i s t o r i s c h e Gewissheit beruht auf einer sich stets gleich bleibenden (selbstverständlichen) Voraussetzung, dass nur clas erlebt oder sinnlich wahrgenommen werden kann, was sich wirklich zuträgt. Sie wird entweder aus der eignen Wahrnehmung des Urtheilenden 2 abgeleitet und ist dann a u g e n s c h e i n l i c h , e v i d e n t : oder sie beruht auf der Wahrnehmung, clem Erlebniss a n d e r e r ; diese Wahrnehmung muss, um vollkommen verlässlich zu sein, unmittelbar von demjenigen niitgetheilt· werden, cler sie machte. Sie ist eben in diesem Fall ein Ζ e u g n i s s im weiteren Sinne (eine A u s s a g e ) . Genauer unterscheidet man dann: die Aussage des Beschuldigten, welche, soweit sie diesem ungünstig ist, G e s t ä η d n i s s genannt wird; die Aussage eines Unbetheiligten, Z e u g n i s s im engeren Sinne; den amtlichen Bericht des Richters über einen eingenommenen A u g e n s c h e i n , und, wenn es sich um Gegenstände handelt, deren Wahrnehmung eine besondere Vorbildung erfordert und die auf Grund eigens angestellter Beobachtung wahrgenommen wurden, den S a.eh v e r s t ä n d i g e nb ef u n c l , K u n s t b e f u n d . Das Zeugniss im weiteren Sinne kann entweder m ü n d l i c h oder s c h r i f t l i c h abgelegt werden. 1

Der Ausdruck „ m o r a l i s c h e Gewissheit" wird allerdings auch noch in einem weiteren Sinne, als Gegensatz zur mathematischen, apodiktischen Gewissheit genommen. (So z.B. W i l l s , Circumstantial evidence eli. 8 sect. 3 ρ 274.) Eine solche gewähren auch die empirisch-historischen Beweismittel nicht, weil auch sie die Möglichkeit der Täuschung in sich tragen und somit das Vertrauen zu ihnen auf Schlussfolgerungen beruht, die zwar ein für allemal gezogen werden, aber nicht volle Sicherheit gewähren; auch sie rufen nur eine der Gewissheit nahekommende höchste Wahrscheinlichkeit hervor. Im Text ist der Ausdruck „moralische" Gewissheit jedoch mit Beziehung auf die Verschiedenheit der Q u e l l e n derselben gebraucht. 2 Diese bildet sicherlich einen B e w e i s g r u n d ; es ist daher jedenfalls nicht in jedem Sinne richtig, wenn man von „Beweis" nur sprechen will ( H e u s l e r , CA 1879 S 209 ff.), wenn jemandem von einem andern Gründe für die Wahrheit einer Thatsache beschafft werden. Vgl. darüber J o h n , StPO S 466 ff.

§ 37.

Verschiedenheit der Beweismittel und Beweisarten.

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Ob ein Zeugniss im weiteren Sinne Ueberzeugung zu begründen geeignet ist, das hängt davon ab, ob 1. der Aussagende fähig war, die Wahrheit wahrzunehmen, und ob Grund vorhanden ist, anzunehmen, dass er bei der gemachten Wahrnehmung sich nicht täuschte; 2. ob er getreu und richtig, und in einer keinem Missverständniss ausgesetzten Weise seine Wahrnehmungen wiedergiebt, Die verlässliche Beantwortung beider Fragen ist wieder bedingt durch sorgfältige Prüfung der p e r s ö n l i c h e n V e r h ä l t n i s s e des Aussagenden sowie der i n n e r e n B e s c h a f f e n h e i t (ob die einzelnen Angaben mit einander übereinstimmen und sich gegenseitig unterstützen) und der ä u s s e r e n U e b e r e i n s t i m m u n g derselben mit anderen Erkenntnissquellen. II. Die m o r a l i s c h e Gewissheit ist abhängig in erster Linie von den mannichfaltigsten Verhältnissen, welche eine Schlussfolgerung von einer Thatsache auf eine andere gestatten und welche die Richtigkeit dieser Schlussfolgerung gewährleisten, zweitens aber von der Gewissheit der den Ausgangspunkt bildenden Thatsache. Diese letztere ist nur insofern B e w e i s g r u n d , als sie mit der zu beweisenden Thatsache in einem n o t h w e n d i g e n Zusammenhange steht, vermöge dessen diese ohne jene nicht gedacht werden kann, die eine als die allein denkbare Erklärung des Daseins der anderen sich darstellt. Gewöhnlich aber ist die Folgerung von der einen auf die andere keine n o t h w e n d i g e , sondern nur eine z u l ä s s i g e ; die eine macht die andere nicht gewiss, sondern nur wahrscheinlich, gestattet nicht, von ihr überzeugt zu sein, sondern nur, sie zu vermuthen; sie ist dann ein V e r m u t h u n g s - , und soweit es sich um eine den Beschuldigten belastende Thatsache handelt , ein \ T e r d a c h t s - G r u n d . Erst das Zusammentreffen mehrerer solcher Vermuthungs- oder Verdachtsgründe (Anzeigen, Anzeichen, I n d i c i e n ) 3 begründet eine der Gewissheit gleichkommende höchste Wahrscheinlichkeit vermöge des Umstandes, dass das Zusammentreffen mehrerer auf die Annahme derselben Thatsache hindrängender Thatumstände kaum anders denkbar ist als im Falle der Wahrheit der letzteren. — I n z w e i t e r Linie ist hier die Verlässlichkeit des Beweises abhängig von der Wahrheit der den B e w e i s - oder V e r m u t h u n g s g r u n d bildenden Thatsache oder Thatsaehen. Damit werden diese selbst Gegenstände des Beweises, welcher auch wieder unter eine der beiden oben bezeichneten Hauptarten fällt. Die Thatsache muss, um beweisen zu können, bewiesen 3 Der Ausdruck wird aber regelmässig so gebraucht, dass er Beweis- u η d Vermuthungsgründe umfasst ; auch hier macht sich die Thatsache geltend, dass der höchste Grad erreichbarer Gewissheit nicht q u a l i t a t i v von den dahin führenden Abstufungen unterschieden ist.

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§ 37.

Verschiedenheit der Beweismittel und Beweisarten.

sein; sie ist erst B e w e i s g e g e n s t a n d , ehe sie B e w e i s g r u n d wird. I I I . Insofern pflegt man diese Art der Beweisführung die m i t t e l b a r e , i n d i r e c t e , die Begründung historischer Gewissheit die u n m i t t e l b a r e , d i r e c t e zu nennen 4 , sowie man andererseits, weil in cler Regel die moralische Gewissheit nur durch clas Zusammentreffen mehrerer Verdachts- oder Vermuthungsgrüncle begründet wird, diesen Beweis einen z u s a m m e n g e s e t z t e n , die Beweisführung eine k ü n s t l i c h e nennt. Richtig ist dabei, class der auf Herstellung moralischer Gewissheit abzielende Beweis immer ein mittelbarer und f a s t immer ein zusammengesetzter ist. Allein auch der historische Beweis ist nicht immer ein u n m i t t e l b a r e r und e i n f a c h e r . Er ist ersteres nicht, weil es denkbar ist, class clie Wahrnehmung (oder clas Erleben) einer Thatsache nicht unmittelbar, sondern mittelbar durch Personen, welchen sie derjenige, cler sie machte, erzählt hat, bezeugt oder durch Thatsachen bewiesen werde, welche auf die erfolgte Wahrnehmung oder das (innere) Erlebniss schliessen lassen. Aber auch wenn die Beweisführung nicht in diesem Sinne zugleich auch eine zusammengesetzte und künstliche ist, kann sie letzteres aus einem anderen Grunde werden. Die historisch-empirische Beweisführung ist, wie gezeigt wurde, nur überzeugend, wenn jeder Zweifel daran ausgeschlossen ist, dass die bezeugte Thatsache richtig beobachtet und getreulich wieder erzählt wird. Ergeben sich Zweifel in cler einen oder der anderen Hinsicht, so entfällt die überzeugende Kraft des Zeug4

Vom Standpunkte der B e w e i s f ü h r u n g sind directe Beweise die Thatsachen, welche zu dem Zweck hervorgerufen werden, damit sie Grundlage der Ueberzeugung des Urtheilers über eine bestimmte Thatsache werden; i n d i r e c t e Beweise dagegen Thatsachen, die nicht zu diesem Zweck hervorgerufen, sondern zufällig ins Leben getreten sind. Die Aussage des Zeugen, des Angeklagten in der Hauptverhandlung, das zur Verlesung in letzterer bestimmte Protokoll über eine Aussage in der Voruntersuchung, die Wahrnehmungen, welche durch Augenschein und durch Experimente der Sachverständigen für die Zwecke des Prozesses aufgenommen werden, sind in diesem Sinne directe Beweise. Eine Erzählung, die der Angeklagte einem Freunde gemacht hat, ist, von diesem wiedererzählt, ein indirectes Beweismittel. Eine Urkunde beweist d i r e c t dasjenige, zu dessen Bestätigung sie aufgenommen wurde; sie beweist i n d i r e c t , dass am Tage ihrer Errichtung eine dabei betheiligte Person lebte, an einem bestimmten Ort anwesend war, von einer gewissen Thatsache Kenntniss hatte. Die Blutflecken auf dem Kleide des Beschuldigten, die Wunden des Verletzten sind s a c h l i c h e Beweismittel, deren Anblick einen indirecten Beweis herstellen hilft; die Antimoniumfiecke, welche der Gerichtschemiker bei der Untersuchung auf Arsenik hervorruft, sind das Ergebniss directer Beweisführung, welche allerdings zunächst eine m i t t e l b a r - r e i e v a n t e T h a t s a c h e zum Gegenstande hat.

§ 37.

Verschiedenheit der Beweismittel und Beweisarten.

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nisses oder sie wird so abgeschwächt, dass dasselbe statt Gewissheit nur Wahrscheinlichkeit begründet ; ja die blosse abstracte Möglichkeit eines unentdeckten Mangels in einer dieser Beziehungen lässt einem Zweifel Raum und volle Gewissheit nicht aufkommen. Es kann also nothwendig sein, entweder die Verlässlichkeit des Zeugnisses durch, eine besondere Beweisführung darzuthun, oder ein Zeugniss durch ein anderes oder eine Mehrzahl anderer, welche dieselbe Thatsache bestätigen, zu verstärken. Ersteres kann dann wieder e n t w e d e r durch unmittelbare Bezeugung einer Thatsache o d e r durch den Nachweis einer solchen, die eine Schlussfolgerung auf die Verlässlichkeit des Zeugnisses gestattet, geschehen. Endlich kann es vorkommen, dass zur Darthuung derselben Thatsache zugleich Gründe historischer und moralischer Gewissheit vorgebracht werden. IV. Wie dem auch sei, so oft es sich darum handelt, eine unmittelbar zu beweisende Thatsache oder die Verlässlichkeit eines Beweismittels durch Schlussfolgerung aus einer anderen darzuthun, wird diese letztere zuletzt doch nur durch Mittel historischer Gewissheit, durch p e r s ö n l i c h e W a h r n e h m u n g des Urtheilers oder durch Z e u g n i s s festgestellt werden können. Insofern beruht die Beweisführung stets entweder auf der Aussage von Menschen ( p e r s ö n l i c h e B e w e i s m i t t e l ) oder auf der Vorlegung von Sachen ( s a c h l i c h e B e w e i s m i 11 e 1 ) ; die letzteren sind wieder entweder Β e w e i s m i 11 e 1 im engeren Sinn, d. i. Sachen, deren B e s t i m m u n g es ist, über eine gegebene Thatsache Beweis zu machen, oder B e w e i s s t ü c k e ( g e l e g e n t l i c h e B e w e i s m i t t e l ) , cl. i. Sachen, welche vermöge einer Verkettung von Umständen dem ihnen ursprünglich fremden Zweck der Beweisführung über diese bestimmte Thatsache dienstbar gemacht werden (vgl. oben Anm 4). Zu ersteren gehören s c h r i f t l i c h e Z e u g n i s s e , und namentlich amtliche Aufzeichnungen über amtliche Vorgänge, für die Zwecke der Beweisführung eigens angefertigte Pläne, Risse, Abbildungen, Denkmaleu. dergl.; zu letzteren gehören S c h r i f t s t ü c k e aller A r t , wenn sie nicht bestimmt waren, als Zeugnisse zu dienen, die anderen eben angeführten Gegenstände, wenn sie zur Darthuung von Umständen benutzt werden sollen, deren Wiedergabe nicht von Anfang an Zweck ihrer Anfertigung war, Gegenstände aller Art, deren B e s c h a f f e n h e i t einen Schluss auf das Vorhandensein einer mittelbar oder unmittelbar zu beweisenden Thatsache gestattet oder bezüglich welcher dies behauptet wird. Wie aber das mündliche Zeugniss clen Gegenstand und die Beglaubigung cler Aussage in sich vereinigt und, verlässlich befunden, über den bezeugten Gegenstand keinen Zweifel lässt, so auch clas als echt erkannte s a c h l i c h e Z e u g n i s s , Binding, Handbuch. I X . 4. I : G l a s e r , Strafprozess. I .

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§ 37.

Verschiedenheit der Beweismittel und Beweisarten.

( U r k u n d e ) , während die übrigen sachlichen Beweismittel den Mitteln moralischer Gewissheit insofern gleichstehen, als sie eine doppelte Prüfung fordern : auf ihre wahre Beschaffenheit und auf die daraus zu ziehenden Folgerungen. Die Erforschung der ersteren ist in der Regel Aufgabe des richterlichen A u g e n s c h e i n s ; wo sie aber Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen voraussetzt, welche die Urtheiler nicht vermöge ihrer Lebensstellung nothwendig besitzen müssen, bedarf es dazu der Mitwirkung von S a c h v e r s t ä n d i g e n . — Eine wesentliche Vorbedingung der Verlässlichkeit solcher Beweisführungen bildet aber die H e r s t e l l u n g d e r V e r b i n d u n g zwischen den Beweisstücken und dem Beweisgegenstande, d. h. der Nachweis des Zusammenhanges mit letzterem, der Verhältnisse, vermöge welcher gerade d i e s e Sache geeignet ist, über jenen Aufklärung zu verschaffen, und insbesondere der Nachweis der Identität und Echtheit der als Beweisstück dienenden Sache; dieser Beweis wird f a s t immer wieder auf schriftlichen oder mündlichen Zeugnissen beruhen. V. Die schon erwähnte Eintheilung des Beweises in e i n f a c h e n und z u s a m m e n g e s e t z t e n steht in einem nahen Zusammenhange mit der Annahme eines v o l l s t ä n d i g e n und u n v o l l s t ä n d i g e n Beweises, insofern das Nichtausreichen, die Unvollständigkeit des einzelnen Beweises es nothwendig machen kann, dass man eine Verstärkung durch einen anderen, für sich allein auch nicht ausreichenden zu erlangen sucht. Die gemeinrechtliche Theorie hatte aber die beiden Einteilungen auf andere Weise in Beziehung zu einander gebracht. Sie hatte Regeln aufgestellt, vermöge welcher zur Vollständigkeit eines durch g l e i c h a r t i g e Beweismittel hergestellten Beweises eine Mehrzahl dieser letzteren gehörte, und hatte äusserliche Bedingungen vorgezeichnet, von denen es abhing, ob ein solches Beweismittel auch nur als Einheit in einer solchen Berechnung figuriren konnte. So kam man zu einem doppelten Begriff der v o l l s t ä n d i g e n Β e w e i s a r t ; im engsten Sinne war darunter die zum gesetzlichen Begriff des vollen Beweises erforderliche Combination von einzelnen, gleichartigen und wieder in sich v o l l s t ä n d i g den gesetzlichen Beweiskriterien entsprechenden Beweisen verstanden. I n diesem Sinne war also ein vollständiger Zeugenbeweis vorhanden, wenn dieselbe Thatsache durch zwei Zeugen bewiesen wurde, deren jeder wieder vollständig clen Anforderungen des Gesetzes an einen beweistüchtigen Zeugen entsprach ; unvollständig war cler Zeugenbeweis also, wenn nur die Aussage e i n e s classischen Zeugen vorlag; in doppeltem Sinne unvollständig war das Beweismittel, das in cler Aussage e i n e s unbeeidigten Zeugen lag. Aber eben in dieser Terminologie von der Unvollständigkeit

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der Beweismittel (welche im Geiste der gemeinrechtlichen Theorie nicht frei von Widerspruch war) lag der Anhaltspunkt dafür, alle Regeln, welche für die (scheinbar) einfache Beweisart aufgestellt worden waren, zu umgehen; denn da die Unvollständigkeit in unendlicher Abstufung nach abwärts gedacht werden kann, bleibt das Beweismittel, das noch so weit vom gesetzlichen Ideal entfernt ist, immerhin noch ein unvollständiges Beweismittel; indem man dann sich für berechtigt hielt, alle erdenklichen Combinationen solcher „unvollständigen" Beweismittel zu einem Beweise zusammenzusetzen, sofern nur die Zahl auszugleichen schien, Avas die Beschaffenheit der für die Zusammensetzung benützten Beweise vermissen liess, schuf man eine zwar unentbehrliche, aber eigentlich auch alle gesetzlichen Beweisregeln in Frage stellende Ergänzung des gemeinrechtlichen Systems. Diese darf nicht unberücksichtigt bleiben, wenn nun die Frage zu beantworten ist, ob auf dem Boden der freien Beweiswürdigung andere als die im gemeinrechtlichen Prozesse herkömmlichen Beweismittel zulässig seien 5 . Es ergiebt sich nämlich aus vorstehendem, dass die Begriffe der einzelnen Beweismittel und Beweisarten nur von dem Standpunkt aus festgestellt waren, wo es sich um die sog. Vollständigkeit handelt, dass aber den vollständigen verwandte und nur in der Verwendbarkeit r> Mit dieser Frage beschäftigt sich speciell eine Entscheidung des Cassationsliofs zu D a r m s t a d t , welche nach dem aus Emmerlings Sammlung 1855 S 121 geschöpften Auszug in Schletters Jahrbüchern I I S 393 Nr 146 folgenden Grundsatz aussprach: „In Strafsachen ist jedes Beweismittel, welches zur Entdeckung der AVahrheit führen kann, insolange zulässig, als dasselbe nicht gesetzlich ausdrücklich ausgeschlossen ist oder gegen Sitte und öffentliche Ordnung verstösst, oder das Gericht, nach den ihm allein zur Würdigung überlassenen Verhältnissen des concreten Falles, nicht findet, dass dessen Gebrauch für die Entscheidung der Sache unerheblich sei". — Auch die französische Praxis hat sich mit dieser Frage mehrfach beschäftigt. Der Ausgangspunkt für ihre Erörterungen ist der erste Satz des Art. 154 des Code d'Instr., welcher lautet: „Der Beweis der Uebertretungen wird entweder durch Protokolle oder Berichte (rapports) oder in Ermangelung oder zur Unterstützung derselben durch Zeugen erbracht". Dieser Wortlaut ermuntert allerdings zu der Behauptung, dass liiemit die zulässigen Beweismittel bindend aufgezählt seien ; aber schon ein Blick auf die Unvollständigkeit der Aufzählung würde wohl genügen, das bezweifeln zu machen; und so hat man denn auch schon oft ausgesprochen, dass diese Aufzählung kein anderes Beweismittel ausschliesse und dass das Gericht nur durch die Grundsätze der Unmittelbarkeit und cler contradictorischen Verhandlung gebunden sei. S. besonders die bei R o l l a n d Art. 154 Nr 546—550 angeführten Entscheidungen und Hé l i e , Pratique Nr 285 ρ 145; Instruction § 498 I , vol. V I I ρ 280, éd. Brüx. Nr 3703. — Vgl. übrigens bezüglich der Versuche, die Beweismittel nach innen und aussen abzugrenzen, J o h n , StPO S 499—514.

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Verschiedenheit der Beweismittel und Beweisarten.

hinter ihnen zurückbleibende Beweismittel von der Benutzung, auch als Grundlage des Endurtheils, keineswegs völlig ausgeschlossen waren. Der moderne Prozess nun verzichtet auf jedes äusserliehe Merkmal der „ V o l l s t ä n d i g k e i t ' 4 des Beweises und sieht die Gewähr der letzteren nur in der durch ihn hervorgerufenen Ueberzeugung ; es lässt sich also nicht verkennen, dass die Zulassung von Beweismitteln, die von vornherein als minderwerthig erscheinen, auf diesem Boden bedenklicher ist als auf clem des gemeinen Rechtes. Es hätte daher allerdings in Erwägung gezogen werden können, ob nicht gerade hier gewisse Beweismittel a priori auszuschliessen seien, und es ist dies theilweise auch (durch Aufstellung von Bedingungen für die Zulassung von Beweismitteln) geschehen. Allein soweit es n i c h t geschehen ist, kann die Schwierigkeit der Einreihung eines angebotenen Beweises in die gangbaren Classen der Beweise nach dem gesagten weder vom rationellen noch vom historischen Standpunkte die Ausschliessung desselben rechtfertigen. Maassgebend können nur zwei Gesichtspunkte sein : 1. Die gesetzlichen Vorschriften der eben angeführten Art dürfen nicht vorsätzlich umgangen werden. 2. Der Prozess der B e w e i s Würd i g u n g zerfällt in zwrei Abschnitte·, er besteht darin, a. dass sich der Urtheiler das unmittelbare Ergebniss des Beweisaktes klar macht und b. die Folgerungen erwägt, clie sich daraus ableiten lassen. Das Ergebniss des ersten Abschnittes lässt sich nicht vorher bestimmen, wohl aber kann die zweite Thätigkeit ebensowrohl h y p o t h e t i s c h vor der Beweisaufnahme, als a posteriori nach und auf Grund derselben vorgenommen werden. Wenn nun die hypothetische Würdigung unverkennbar ein negatives Ergebniss liefert, wenn zuversichtlich ausgesprochen werden kann, class auch wenn das angebotene Beweismittel alle Ergebnisse liefert, clie es für den günstigsten Fall liefern kann, dieselben doch auf die Annahme oder Nichtannahme cles Beweissatzes keinen Einfluss üben können, dann kann die dargebotene Auskunft unter clen Begriff eines B e w e i s e s f i ï r d i e s e T h a t s a c h e überhaupt nicht gebracht werden, da sie keine Thatsache darstellt, auf welche sich rationell die Ueberzeugung von der Wahrheit jener anderen gründen lässt. Ein anderes Kriterium für die Eignung als Beweismittel giebt es im heutigen Prozess nicht, und es ist bereits gezeigt worden, dass es im älteren Prozess (soweit es sich um die Frage der Z u l ä s s i g k e i t cles Beweismittels handelte) nicht anders stand. Man kann demgemäss wohl aussprechen, dass ein wirkliches Beweismittel nicht denkbar ist, welches nicht unter die unter I, I I und I V bezeichneten Kategorien fällt; allein es ist damit eine praktisch brauchbare Abgrenzung durchaus nicht gewonnen, weil sich die unter

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Grundsätze für die Beweisführung.

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dieselben fallenden Beweismittel nicht immer scharf von einander abgrenzen lassen; vielmehr unterstützen, durchdringen und bedingen sich dieselben gegenseitig (wie namentlich aus der Betrachtung des Indicienbeweises sich ergiebt), so dass es an Beweisgestaltungen nicht fehlt, welche in den Grenzgebieten verschiedener Beweisarten liegen.

Zweites Kapitel. Β e weis ver fahren. § 38.

G r u n d s ä t z e für die B e w e i s f ü h r u n g .

Die Thätigkeit, welche darauf abzielt, dem urtheilenden Richter die Erkenntniss der für den Prozess entscheidenden Thatsaehen zu ermöglichen, oder, vom Parteistandpunkt aus betrachtet, die Thätigkeit, welche darauf abzielt, ihn von der Wahrheit des Beweissatzes zu überzeugen, ist die B e w e i s f ü h r u n g . Sie zerfällt in eine Reihe von Einzelthätigkeiten: die Beweise müssen erforscht und so weit g e s a m m e l t werden, dass es möglich ist, von deren Vorhandensein und Beschaffenheit verlässliche Kenntniss zu erlangen. Es muss dann cler Antrag gestellt werden, von diesen Beweisen gerichtlichen Gebrauch zu machen — B e w e i s a n b i e t u n g , und soweit zu letzterem Zweck eine Parteithätigkeit erforderlich, die an bestimmte Formen gebunden ist, schliesst sich daran cler förmliche B e w e i s a n t r i t t . Der nächste Schritt ist die Vorführung der Beweise vor clen zur Urtheilsfällung berufenen Richter (clen erkennenden Richter, im Gegensatz zu dem mit anderen richterlichen Prozessthätigkeiten betrauten), unter dessen Mitwirkung und unter Beobachtung der die allseitige und behutsame Prüfung derselben verbürgenden Formen — clie Be w e i s a u f n ä h m e . Die Prüfung der Beweise ist nun in erster Linie eine materielle und unmittelbare, insofern sie selbst einer Thätigkeit unterworfen werden, die darauf abzielt, ihre wahre Beschaffenheit erkennbar zu machen und deutlich hervortreten zu lassen, und insofern liegt sie noch innerhalb der Grenzen cles Β e we is ν e r f a h r ens, als cles Inbegriffs der die H e r s t e l l u n g des Beweises bezweckenden Prozessvorgänge, bei welchen die Parteien und das Gericht zusammenwirken. Daran schliesst sich dann die Prüfung der Ergebnisse des Beweisverfahrens, die Vergleichung derselben mit dem

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Grundsätze für die Beweisführung.

Beweissatze, welche vom Standpunkte der Parteien als Β e we is a u s f ü l l r u n g (Deduction), vom Standpunkt des Richters als B e w e i s w ü r d i g u n g erscheint. Die Gestaltung cles Beweisverfahrens, als des Hauptbestandtheils des gesammten Strafverfahrens, muss natürlich durch die das letztere beherrschenden Grundsätze wesentlich bestimmt werden, so wie umgekehrt seine Bedürfnisse auf die Gestaltung des Ganzen clen hauptsächlichsten Einfluss üben. Es sind hiebei zumal folgende Grundsätze maassgebencl : I. Die Parteien haben im Strafprozess nicht willkürlich über die Gegenstände des Strafprozesses und daher noch weniger über die der Entscheidung zu Grunde zu legenden Thatsachen und über die Mittel, diese in ihrer Wahrheit zu erkennen, zu verfügen. Weder ihr ausdrücklich ausgesprochener, noch ihr aus Unterlassungen gefolgerter Wille, noch ein etwaiges Verschulden derselben ändert etwas daran, class der Richter clie von ihm erkannte Wahrheit und nur diese seiner Entscheidung zu Grunde zu legen hat. Daraus folgt nicht nur, dass es im Strafprozess keine formelle Beweislast giebt (s. oben § 36 VIII), sondern auch weiter, class clas Gericht nicht zu einer rein passiven Haltung verpflichtet oder berechtigt ist. Auf cler anderen Seite beruht der moderne Strafprozess, im Gegensatz zu clem gemeinen deutschen Inquisitionsprozess, dessen Theorie aus jenem Grundgedanken die Folgerung nahezu vollständiger Passivität cler Parteien (oder vielmehr, da clie Anklage kein selbständiges Organ hatte, des Beschuldigten) abgeleitet hatte, auf der Anerkennung cler selbständigen Berechtigung cler Betheiligten zur Mitwirkung im Beweisverfahren. Aus dieser Anerkennung cler Berechtigung beider Parteien und cler Anwendbarkeit des contraclictorischen Verfahrens ergiebt sich die N o t wendigkeit genauer Regelung ihrer Beziehungen zu einander und zum Gericht sowie des Ineinanclergreifens ihrer Thätigkeiten. I I . Der moderne Strafprozess ist auf den Grundsatz der U n m i t t e l b a r k e i t gebaut, und daraus folgt in erster Linie, dass clie Beweisaufnahme unter den Augen der zur Fällung des Endurtheils berufenen Richter erfolgen muss. Die Natur der Gegenstände des Strafverfahrens bringt es aber mit sich, dass der Zeitpunkt für die Beweisaufnahme nicht beliebig gewählt werden kann, will man nicht sich cler Gefahr aussetzen, dass, ehe es möglich ist, dieselbe unter clen Augen des erkennenden Richters vor sich gehen zu lassen, Beweise ganz verloren gehen, oder dass doch ihre Beschaffenheit durch absichtliches Eingreifen oder durch Einwirkung des Zufalls verändert wird. I I I . Die Besonderheit des Strafverfahrens, welche einen unbedingten

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Grundsätze für die Beweisführung.

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Gegensatz zwischen den Interessen der Anklage-Organe und denen des Angeklagten selbst da nicht vollständig aufkommen lässt, wo es sich um die Erwirkung des förmlichen Endurtheils handelt, bringt es auch sonst mit sich, dass Prozessakte zu einer Zeit nöthig werden, wo von einem Einandergegenüberstehen von Parteien noch gar nicht gesprochen werden kann, wo aber Maassregeln zu ergreifen sind, die einer gesicherten Grundlage bedürfen. Im Civilprozess geht die Partei mit sich und ihrem Rechtsbeistand allein zu Rathe, ehe sie eine Klage anbringt, und sie kann und muss die Vorbereitung für die Verhandlung und Beweisführung in derselben lediglich mit ihren Privatmitteln betreiben. Im Strafprozess bedarf die Staatsanwaltschaft einer annähernd verlässlichen Grundlage, ehe sie die Initiative der Strafverfolgung ergreift, und sie kann sich auch richterlicher Hilfe bedienen, um dieselbe zu erlangen. Es ist nothwendig, dass ein R i c h t e r sich darüber entscheide, ob der Beschuldigte in Haft zu nehmen und zu behalten sei, und auch dazu bedarf er einer verlässlichen Kenntniss der tatsächlichen Vorgänge. Endlich muss der Hauptverhandlung eine vorläufige Prüfung des Beweismaterials vorausgehen, welche die Grundlage einer einem freisprechenden Urtheil nahezu gleichkommenden Entscheidung bilden kann; auch dies erfordert einen hohen Grad von Verlässlichkeit der dabei benützten Beweise. Der so hervortretende Gegensatz zwischen der P f l i c h t des Gerichts und den R e c h t e n der Parteien, zwischen dein Grundsatz der U n m i t t e l b a r k e i t und dem sachlichen Bediirfniss nach r a s c h e m E i n g r e i f e n e i n e r u n p a r t e i i s c h e n G e w a l t , zwischen der N o t wendigkeit, das Endurtheil und das Beweisverfahren mit einander in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen, und dem Bediirfniss nach Aufklärung des Sachverhaltes bei der Hauptverhandlung vorausgehenden Vorgängen — brachte es mit sich, dass das Beweisverfahren nach Verschiedenheit (1er Prozessstadien sich verschieden gestaltete. Dazu kommt noch, dass nur die Hauptverhandlung eine reine Beweisaufnahme, einen dieser Thätigkeit vorzugsweise gewidmeten Abschnitt des Verfahrens zeigt; in den früheren Stadien geht mit der Beweisaufnahme die I n f o r m a t i o n , die Nachforschung nach etwaigen Beweismitteln, Hand in Hand ; in ersterer sollen daher nur Beweismittel, in letzteren auch I n f o r m a t i o n s m i t t e l zugelassen werden. § 39.

B e w e i s v e r f a h r e n ausser der

Hauptverhandlung.

Wenngleich der Zweck des zur „Vorbereitung der öffentlichen Klage" bestimmten Verfahrens nur dahin geht, den Staatsanwalt (ausnahmsweise das auf Verlangen des Verletzten über die Erhebung der

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§ 39.

Beweisverfahren ausser

er Hauptverhandlung.

öffentlichen Klage entscheidende Gericht) in den Stand zu setzen, die Initiative zu ergreifen (§ 158 StPO, vgl. § 168 u. 171 das.), und die Voruntersuchung „nicht weiter auszudehnen ist, als erforderlich ist, um eine Entscheidung darüber zu begründen, ob das Hauptverfahren zu eröffnen oder der Angeschuldigte ausser Verfolgung zu setzen sei" (§ 188 StPO), so fordert doch dieser Zweck schon die „Erforschung des Sachverhaltes" (§ 158) und mannichfache „Ermittelungen" (§ 171). Auf das diese beiden Stadien des Verfahrens unterscheidende ist hier nicht näher einzugehen; doch kann man bezüglich des Beweisverfahrens d r e i Grundformen unterscheiden: I. Die Erforschung des Sachverhaltes durch die Staatsanwaltschaft oder die an deren Ersuchen und Aufträge gebundenen Behörden, unter Einhaltung nur solcher Formen, wie sie für den unmittelbaren Zweck genügen, aber keinen Anspruch darauf geben, dass deren Ergebnisse jemals die unmittelbare Grundlage der Verurtheilung eines bestimmten Angeklagten werden können (§§ 159 — 163). Bei solchen Untersuchungshandlungen besteht m a t e r i e 11 die Pflicht, „nicht blos die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln und für die Erhebung derjenigen Beweise Sorge zu tragen, deren Verlust zu besorgen steht" (§ 158); f o r m e l l die der B e u r k u n d u n g der Vorgänge unter Einhaltung der zur Sicherung der Glaubhaftigkeit vorgeschriebenen Formen (§ 166, vgl. § 158 Abs. 2, § 161: „sie übersenden ihre Verhandlungen"), wobei zu beobachten ist, dass die so entstandenen Aufzeichnungen einen amtlichen Charakter haben und der willkürlichen Verfügung der Staatsanwaltschaft nicht unterliegen. Letzteres gilt sowohl dann, wenn die Staatsanwaltschaft die Eröffnung des Hauptverfahrens ohne vorausgegangene Voruntersuchung beantragt, in welchem Falle sie die „Akten mit der Anklageschrift einzureichen" 1 hat (§ 197 StPO), als auch dann. 1

Dass das gleiche bei Stellung des Antrages auf Einleitung der A^oruntersuchung geschehen müsse, ist im Gesetz nicht ausgesprochen, ergiebt sich aber wohl aus der Analogie des Vorganges; deshalb constatimi L ö w e Bern 3 bei § 177 und § 168 Bern 7; P u c h e l t bei § 177 Bern 2, und mit einer Beschränkung Schwarze § 177 Bern 2 und B o m h a r d das. Bern 3 diese Verpflichtung. Die erwähnte Beschränkung ist mit den Worten formulili;: „soweit ihre Ergebnisse zur Unterstützung des Antrages dienen". Soll damit nur auf die Ausscheidung von Schriftstücken hingewiesen sein, welche kein Beweismaterial enthalten (L ö w e spricht z. B. von der Correspondes mit Privatpersonen, Behörden oder Organen der Staatsanwaltschaft, fügt aber mit Recht auch bei, dass g e r i c h t l i c h e Verhandlungen niemals zurückbehalten werden dürfen), so ist dagegen nichts zu bemerken; die Worte lassen aber auch die Deutung zu, dass nur B e l a s t u n g s m a t e r i a l vorgelegt werden soll; das aber wäre mit dem Geist des Gesetzes und der Vorschrift

§ 39.

Beweisverfahren ausser

er Hauptverhandlung.

wenn gerichtliche Entscheidung über den Antrag ergehen soll, dass gegen die Ansicht der Staatsanwaltschaft die Erhebung der öffentlichen Klage erfolgen solle, in welchem Falle die Staatsanwaltschaft „auf Verlangen des Gerichts demselben die bisher von ihr gefühlten Verhandlungen vorzulegen hat" (§ 171). Hier handelt es sich durchaus um amtliche Erörterungen; die Staatsanwaltschaft handelt als öffentliche Behörde unter ihrer Verantwortung, ohne dass ihr eine Partei gegenüber stände. II. Anders stellt es sich, sobald es sich um richterliche Ermittelungen unter Umständen handelt, wo ein Angeschuldigter als solcher deutlich erkennbar ist, also in der Voruntersuchung, wo er ausdrücklich als „Angeschuldigter" bezeichnet sein muss, und im Ermittelungsverfahren, wenn der Beschuldigte vom Amtsrichter vernommen wird. Auch hier steht in erster Linie die Pflicht des die Verhandlung leitenden Einzelrichters (Amtsrichter, Untersuchungsrichter), selbst für die allseitige Aufklärung des Sachverhaltes und für die Ansammlung und Bewahrung der Beweise thätig zu sein, „deren Verlust für die Hauptverhandlung zu besorgen steht oder deren Aufnahme zur Vorbereitung der Vertheidigung des Angeschuldigten erforderlich erscheint" ; allein auf diese amtliche Thätigkeit können die Parteien bereits anregenden und ergänzenden Einfluss üben, allerdings nur durch Stellung von A n t r ä g e n (§§ 164, 194. 195 Abs. 2). Bezüglich des Angeschuldigten spricht das Gesetz von „einzelnen Beweiserhebungen", welche er „zu seiner Entlastung" beantragt und welche der Amtsrichter im Ermittelungsverfahren vorzunehmen hat, wenn „er sie für erheblich erachtet" und „der Verlust der Beweise zu besorgen steht oder die Beweiserhebung die Freilassung des Beschuldigten begründen kann". In der Voruntersuchung erweitert sich mit dem Zwecke der Procedur die Pflicht cles Untersuchungsrichters. I m wesentlichen leistet der „Antrag" nur den Dienst, den Richter auf dasjenige aufmerksam zu machen, was er, sobald es seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, auch ohne Antrag zu thun verpflichtet wäre. Er hat ihn also zu prüfen und nach dem Ergebniss der Prüfung sich zu entscheiden; der Antrag an sich ist also in cler Regel für ihn kein

des § 158 Abs. 2 nicht vereinbar. — Die ö s t e r r . StPO (§ 92 Abs. 2) bestimmt hierüber : „Beantragt der Staatsanwalt die Einleitung einer Voruntersuchung, so hat er die Anzeige, sowie die zu seiner Kenntniss gelangten Beweismittel und die Ergebnisse der etwa veranlassten Vorerhebungen clem Untersuchungsrichter mitzutheilen". Dass dort das gleiche bei unmittelbarer Erhebung der Anklage zu geschehen habe, ergiebt sich aus dem Zusammenhange der §§ 207 ff.

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§ 39.

Beweisverfahren ausser cler Hauptverhandlung.

Anlass und noch weniger eine Voraussetzung einer Beweiserhebung. Eben darum ist der Antrag weder an eine bestimmte Form oder Frist gebunden, noch ist es (formell) nothwendig, dass er ein gewisses Maass von Bestimmtheit zeige 2 ; es kann genügen, den Gegenstand der Nachforschung im allgemeinen zu bezeichnen, wenn es auch gewiss in vielen Fällen rathsam ist, sich des Verständnisses des Richters und der Zweckmässigkeit seines Vorgehens durch genauere Angaben zu versichern. — Im Vorbereitungsverfahren hat der Antrag der Staatsanwaltschaft allerdings auch eine f o r m e l l e Bedeutung und bindet den Richter durch sein blosses Vorhandensein, soweit er nicht auf eine Handlung geht, welche „nach den Umständen des Falles" nicht „gesetzlich zulässig" ist (§ 160). I n der Voruntersuchung fällt dagegen diese bindende Kraft der Anträge der Staatsanwaltschaft weg 3 , besteht also zwischen ihrer Stellung und cler des Angeschuldigten kein Unterschied. I I I . I n gewissen Fällen können die Staatsanwaltschaft und cler Angeschuldigte (beziehungsweise im Vorbereitungsverfahren cler Beschuldigte, welcher vom Richter als solcher vernommen wurde oder sich in Haft befindet) den Beweisaufnahmen beiwohnen und bei denselben mitwirken. Es ist dies cler Fall: 1. wenn im Vorbereitungsverfahren oder in der Voruntersuchung ein Zeuge oder Sachverständiger vernommen werden soll, welcher voraussichtlich am Erscheinen in cler Hauptverhandlung verhindert oder dessen Erscheinen wegen zu grosser Entfernung besonders erschwert sein wird (§ 191 Abs. 2), oder wenn bei der Vorbereitung cler Hauptverhandlung sich zeigt, dass cler Ver2

T h i l o Bern 4 u. 5 bei § 194. L ö w e Bern 2 zu § 182. K e l l e r Bern 1 zu § 194. P u c h e l t Bern 4 zu § 182. V o i tus bei § 194. T h i l o Bern 4 zu § 194. — Während darüber alles einig ist, bestreitet K e l l e r a. a. 0. das Recht, gegen die Entscheidung des Untersuchungsrichters Beschwerde zu führen, aus, wie mir (gleich Löwe und P u c h e l t ) scheint, unzureichenden Gründen. Die Vertröstung auf Rechte, die nach Schluss der Voruntersuchung geübt werden können, reicht um so weniger aus, als gerade in diesen Dingen der Antrag oft dringlicher Natur sein kann. Nur muss man dies auch zu Gunsten des Angeschuldigten gelten lassen, was bei T h i l o mit Rücksicht auf die Bern 5 bei § 194 zweifelhaft ist. — Eine weitere Frage regen T h i l o Bern 6 zu § 182 ,und K e l l e r Bern 2 bei § 194 an: ob der Staatsanwalt die ihm während der Vorermittelung zustehenden Rechte auch während der Voruntersuchung üben könne, welche Frage sie mit der Beschränkung bejahen, dass er n i c h t g e r i c h t l i c h e Erhebungen in diesem Stadium mit Umgehung des Untersuchungsrichters erwirken könne. Die sonstigen Ermittelungen werden der Staatsanwaltschaft nur zur Vorbereitung ihrer Anträge dienen können; ihre Ergebnisse direct dem Beweismaterial der Voruntersuchung beizufügen ist sie nicht berechtigt. 3

§ 39.

Beweisverfahren ausser

er Hauptverhandlung.

nehniung in der Hauptverhandlung nicht zu beseitigende Hindernisse oder grosse Entfernung entgegenstehen und deshalb das Gericht dieselbe durch einen Beauftragten oder ersuchten Richter vornehmen lässt (§ 222). In diesen Fällen ist der Staatsanwaltschaft und dem Angeschuldigten sowie seinem Veitheidiger die Anwesenheit bei der Verhandlung zu gestatten und durch die nöthigen Mittheilungen zu ermöglichen (§§ 167 und 191 Abs. 3 und 4, §§ 222, 223). Indess fügen Abs. 4 und 5 des § 191 und Abs. 2 des § 223 Einschränkungen bezüglich des verhafteten Angeschuldigten und zur Abwendung der Gefahr der Verlegling von Terminen bei, und nach § 192 StPO kann der Richter einen Angeschuldigten von der Anwesenheit bei einer Z e u g e n v e r n e h m u n g ausschliessen, wenn zu befürchten ist, dass ein Zeuge in seiner Gegenwart die Wahrheit nicht sagen werde 4 . 2. Das gleiche Recht haben die Parteien bei Einnahme eines Augenscheins (§ 167, § 191 Abs. 1 und § 224). Hier tritt für den Angeschnldigten noch das weitere Recht hinzu, zu bewirken, dass die von ihm bezeichneten Sachverständigen zu dem Termin geladen werden und dass ihnen die „Theilnahme am Augenschein und an den erforderlichen Untersuchungen insoweit gestattet" werde, „als dadurch die Thätigkeit der vom Richter bestellten Sachverständigen nicht behindert wird" (§ 193). Das Gesetz spricht allerdings nur von dem Recht der Betheiligten, in solchen Fällen bei der Vernehmung u. s. w. anwesend zu sein. Die Motive zu clem dem § 223 StPO entsprechenden Paragraphen des 4 Die Ausschliessung des Angeschuldigten hat natürlich nicht die des Verteidigers zur Folge. T h i l o Bern 3 bei § 192; P u c h e l t Bern 4 zu §§ 190 ff. und die daselbst angeführten. Die im Text erwähnten Beschränkungen beziehen sich darauf, dass 1. der „nicht auf freiem Fusse befindliche Angeschuldigte ein R e c h t auf Anwesenheit nur bei solchen Terminen hat, welche an der Gerichtsstelle des Ortes abgehalten werden, wo er sich in Haft befindet" ; § 191 Abs. 4. Nach dem RGE v. 21. April 1880 Rspr I 634 ist „Gerichtsstelle" weder blos das Untersuchungsgefängniss noch der ganze Gerichtsbezirk; nur die „Oertlichkeit", „welche das regelmässige Geschäftslocal des betreffenden Gerichtes an dem Orte bildet, wo der Angeschuldigte in Haft ist". Dabei ist übrigens in diesem Erkenntnisse die Frage der Benachrichtigung in dem Sinne gelöst, dass, solange kein Vertheidiger bestellt ist, die Benachrichtigung des zu persönlichem Erscheinen nicht berechtigten Angeschuldigten überhaupt nicht nöthig ist. (Siehe dagegen u. and. K e l l e r Bern 15 zu § 191.) Die Benachrichtigung ist nur vorgeschrieben, wenn sie „ohne Aufenthalt für die Sache" geschehen kann, und dieser Ausdruck ist nach dem RGE v. 18. Febr. 1880 Rspr I 362 keineswegs gleichbedeutend mit „Gefahr im Verzuge", welche allein von der nach § 223 stattfindenden Benachrichtigung entbindet. 3. Auf Verlegung des Termins wegen Verhinderung haben die Betheiligten keinen Anspruch; Abs. 5 des § 191.

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§ 39.

Beweisverfahren ausser

er Hauptverhandlung.

Entwurfes (S. 126) bezeichnen aber die dort angeordnete Vernehmung als „einen Ersatz für seine Abhörung vor dem erkennenden Gericht" und ziehen daraus die Folgerung, dass „der Staatsanwaltschaft, dem Angeklagten und dem Vertheidiger Gelegenheit gegeben sein muss, bei dieser Vernehmung ihre Rechte ebenso wie bei der Hauptverhandlung selbst wahrzunehmen". Bei der Berathung in der Commission ward ein (abgelehnter) Antrag auf Ausdehnung der Parteienanwesenheit auf andere Fälle damit begründet, gerade hier sei es nöthig, dass die „Aussage von den Vertretern der Anklage und Verteidigung durch sachgemässe Zwischenfragen controlirt werde" (Prot S 924). Ebenso heisst es in dem Bericht cler Commission (S 53) über die aus ihrer Berathung hervorgegangenen §§ 191 und 193 — nach Darlegung der Gründe, welche zur Ablehnung der auf Nachbildung der englischen Voruntersuchung abzielenden Anträge führten und unter welchen der wichtigste wrar, es „sei nicht zu bezweifeln, dass durch eine Zulassung des Staatsanwaltes und des Vertheidigers die Gefahr einer Einmischung derselben in die Thätigkeit des Untersuchungsrichters während cler Verhandlung herbeigeführt und somit cler Untersuchungsrichter aus seiner selbständigen Stellung und Unabhängigkeit herausgedrängt werde" —, dass „andererseits" in den in den fraglichen Paragraphen behandelten Ausnahmefällen die Commission glaubte, clie Parteienöffentlichkeit gestatten zu sollen. „Hier wird clen Parteien Gelegenheit zu geben sein, sofort bei der Beweisaufnahme und der Feststellung ihrer Ergebnisse ihre Interessen wahrnehmen zu können". Dass zu dieser Wahrnehmung cler Rechte und Interessen die blosse Anwesenheit gerade in solchen Fällen nicht genügt, WO eine Wiederholung der Vernehmung nicht möglich ist, ist klar. Das mindeste also, was anerkannt werden muss, ist das Recht cler Parteien, A n t r ä g e an den die Beweisaufnahme leitenden Richter zu stellen, ein Recht, clas ihnen in jedem Stadium des Verfahrens zusteht, und das sie nur bei anderen Vernehmungen im Vorverfahren, eben weil sie nicht anwesend sind, nicht s o g l e i c h ausüben können. Der Zweck der in § 223 StPO angeordneten Vernehmung und die nahe Beziehung der nach § 191 stattfindenden zu jener sprechen vielmehr dafür, dass auch das d i r e c t e F r a g e r e c h t in dem in der Hauptverhandlung zulässigen Umfange (§ 239 Abs. 2) ihnen zukomme, das in der That im Vorverfahren und bei commissarischen Vernehmungen viel weniger missbraucht wrerden kann als in der öffentlichen Hauptverhandlung. Was dagegen clas in § 238 StPO geregelte sog. Kreuzverhör betrifft, so war es jedenfalls in der oben angeführten Stelle cler Motive nicht mitgemeint, weil erst später eingeführt; es ist dasselbe überdies mit dem unmittelbaren Zweck

39.

Beweisverfahren ausser

er Hauptverhandlung.

des Beweisaktes, m i t der Stellung des Untersuchungsrichters oder des beauftragten Richters, der zunächst s e i n e r Pflicht sich zu entledigen hat, nicht v e r e i n b a r 5 .

D i e Specialfrage der Stellung der v o m Angeschul-

digten beigezogenen Sachverständigen

w i r d i m 3. K a p i t e l der 2. A b -

theilung dieses Buches erörtert werden. Obgleich überall,

wo Parteirechte anerkannt w e r d e n ,

auf

mög-

lichst gleichmässige Handhabung derselben zu sehen ist, u n d die vorstehend erwähnten Rechte namentlich a l l e n Mitbeschuldigten zustehen, ohne Rücksicht darauf, ob die Beweiserhebung sie speciell betrifft (wie i n der oben A n m 4 angefühlten R G E v o m 18. F e b r u a r 1880 anerkannt 5 Die Meinungen hierüber gehen weit auseinander und stehen sich nicht, wie man ζ. B. aus den Anführungen bei L ö w e Bern 2 zu § 191 und P u c h e l t Bern 3 das. scliliessen könnte, einfach in zwei streng einheitlichen Lagern gegenüber. Nach P u c h e l t darf „die Anwesenheit der Berechtigten nicht zu einer Einmischung in das Verfahren führen"; wenn er nun als gleicher Meinung T h i l o , K e l l e r und L ö w e anführt, so schliesst der erstere (Bern 7 bei § 191) nur das Kreuzverhör ganz aus, sieht in den Anträgen der Berechtigten auf Stellung von Fragen eine wesentliche Unterstützung des Untersuchungsrichters und erachtet es für zulässig, dass ihnen gestattet werde, direct zu fragen. (Ebenso B o m h a r d Bern 3 zu § 191.) K e l l e r (Bern 15 bei § 191) wahrt allerdings die Stellung des Untersuchungsrichters als „Herrn der Untersuchung" gegen die „Einmischung" der nur zur „Anwesenheit" berechtigten; allein er erkennt doch an, dass diese Anwesenheit nur Bedeutung habe, wenn „die betreffenden Personen den Untersuchungsrichter auf die ihnen wichtig scheinenden Punkte aufmerksam machen und deren Feststellung veranlassen können. Dem Ermessen des Untersuchungsrichters bleibt jedoch überlassen; wie weit er gehen will". Ganz dasselbe meint auch L ö w e . Dieser (Bern 1 zu § 223) und B o m h a r d (Bern 2 das.) unterscheiden ferner zwischen Vernehmungen nach § 222 und § 191 StPO und räumen in ersterem Falle das directe Fragerecht ein. F u c h s dagegen, der als Gegner angeführt wird, erkennt (ohne die eben erwähnte, wohl auch nicht zu rechtfertigende Unterscheidung zu machen) ein directes Fragerecht nicht an (HH I 482) und zweifelt natürlich nicht an dem Hechte des Richters, unangemessene Fragen, gleich dem Vorsitzenden in der Hauptverhandlung zurückzuweisen; er bezweifelt nur, „ob er ausser diesem Falle den Antrag, gewisse Fragen an die zu vernehmende Person zu richten, als unvereinbar mit der gesetzlichen Vorschrift, die nur das Recht der Anwesenheit kennt, von vornherein ablehnen kann". Die Gründe, die F u c h s dagegen anführt, lassen sich aber ganz ebenso gut auf die Versagung des directen Fragerechtes anwenden ; denn sobald es nicht mehr zulässig ist, aus der Erwähnung cler blossen Anwesenheit im Gesetz die Ausschliessung jedes weiteren Prozessrechtes abzuleiten, kann doch für die Verwerthung, der „Anwesenheit" nur der Grund ihrer Einräumung entscheidend sein, der darin besteht, dass man möglichst die Beweisaufnahme in cler Hauptverhandlung ersetzen wollte. Vgl. \ T o i t u s , Controversen I I 110 ff. — G e y e r , § 105 I I Nr 1, bedauert, dass dem Vertheidiger nicht das Recht eingeräumt sei, bei cler Verhandlung Anträge bezüglich der Erhebung gewisser Thatsaehen durch Augenschein, Sachverständige oder Zeugen zu stellen oder gar die letzteren selbst zu befragen.

§ 40. Sammlung des Beweismaterials für die Hauptveradlung.

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ist), ist doch G e y e r 6 darin beizustimmen, dass die Benachrichtigung eines zur Anwesenheit berechtigten Theiles nicht deshalb unterbleiben dürfe, weil die des anderen nicht ausführbar ist. — Hat ferner der verhaftete Angeschuldigte nicht das Recht auf Anwesenheit bei ausser dem Haftort abzuhaltenden Terminen, so ist doch nicht zu übersehen, dass ihm ermöglicht werden muss, einen Vertheidiger auch nach auswärts zu entsenden, wenn er dazu sonst gewillt und in der Lage i s t 7 . § 40.

S a m m l u n g des B e w e i s m a t e r i a l s H auptverhandlung1.

für

die

I. Liegt im Vorverfahren clas Beweismaterial, dessen Sammlung und Erprobung überwiegend in der Hand des Gerichtes, bei nur ausnahmsweiser und nicht entscheidender Mitwirkung der Parteien, so bringt es die contradictorische Form cler Hauptverhandlung mit sich, dass hier clas Verhältniss sich umkehrt, die Thätigkeit der Parteien mehr in den Vordergrund tritt, das Gericht Anträge abwartet und prüft und aus eigener Initiative nur eine auf Ergänzung berechnete Thätigkeit entwickelt. Trotzdem ist, ganz abgesehen von der Frage cler Vernehmung des Angeklagten, eine grosse Mannichfaltigkeit in der Behandlung des Gegenstandes zu bemerken, deren Grund in den widersprechenden Anforderungen liegt, denen hier unter sehr schwierigen Umständen Genüge gethan werden soll. Im Civilprozess verfügen allerdings die Parteien mit grosser Freiheit über das Beweismaterial; allein immerhin ist diese Freiheit keine schrankenlose. Sieht man auch ganz ab 6

§ 178 I I Nr 3. G e y e r das. Nr 4. B o m h a r d Bern 7 bei § 191. Die daselbst aufgenommenen, in diesem Sinne lautenden Worte L o w e s hat dieser schon in der zweiten Auflage seines Commentars weggelassen. 1 M i t t e r m a i e r , Gesetzgebung und Rechtsübung über Strafverfahren S 449 ff. P l a n c k S 334 ff. Z a c h a r i ä , Handbuch I I 351—356. W a l t h e r , Bayer. Strafprozessrecht S 277 ff. v. W u r t h , Oesterr. StPO v. 1850 S 410 ff. S c h w a r z e , Commentar zur sächs. StPO v. 1855 I I 47 ff. O p p e n h o f f , Die preuss. Ges über Strafverfahren S 146—150. 221. 264 ff. L ö w e , Der preuss. Strafprozess S 238 ff. M e y e r , Die Mitwirkung der Parteien S 36—42. v. B a r , Kritik der Principien S 34. 35. P e y r e r in Haimerls Magazin V 3 ff. S c h w a r z e im GS 1854 I 317—352. H a a g er das. 1871 S 81 ff. v. K r ä w e l in StRZ 1873 S 35 ff. C a s o r a t i in der Rivista penale X I I 5 —14 (Delle testimonianze dilatorie ο defatiganti). J o h n , Das deutsche Strafprozessrecht § 43. D o c h o w , Reichsstrafprozess S 214. Fuchs in HH I I 55 ff. G e y e r §§ 189. 190. U l i m a n n § 107. G l a s e r in HRLex I 375 f. Art. „Beweisverfahren". 7

§ 40. Sammlung des Beweismaterials für die Hauptveradlung. von Gesetzen, welche willkürliche Beschränkungen auferlegen, wie das französische Verbot des Zeugenbeweises im ordentlichen Civilprozess, so ist doch auf dem Continent das Beweisverfahren von einer richterlichen Beweisverfügung abhängig, deren Zweck unter anderem der ist, Beweisakte femzuhalten, welche das Gerieht für überflüssig erachtet, und welche nutzlos dessen Zeit und die Opfer, welche die Zeugen in Erfüllung ihrer Bürgerpflicht zu bringen haben, in Anspruch nehmen würden. Im Strafprozess besteht aber auch weder jene Gleichheit der Parteien, noch jene ausschliessliche Verfügung derselben über den Streitgegenstand, welche die Voraussetzung dafür sind, class das Beweismaterial lediglich ihrer Verfügung anheimgestellt wird. Der Staatsanwalt wird durch die Mittel des Staates in die Lage gesetzt, das Beweismaterial, das er für nöthig hält, herbeizuschaffen; er hat aber auch die Pflicht, einerseits die Staatsmittel zu Rathe zu halten und sie nicht für entbehrliche Prozessakte zu vergeuden, andererseits auch Entlastungsbeweise nicht unberücksichtigt zu lassen. Der grossen Mehrzahl der Angeklagten hilft die nackte Möglichkeit, Zeugen und Sachverständige durch ihre Mittel herbeizuschaffen, eben wegen des Mangels dieser Mittel nichts ; sie lediglich auf die Billigkeit des Staatsanwalts zu verweisen wäre ungerecht ; ihnen die Möglichkeit geben, schrankenlos durch Häufung der Beweismittel dem Staate Lasten aufzulegen, undenkbar. So muss doch mindestens bezüglich cler Beweise, deren der Angeklagte sich bedienen w i l l , eine richterliche Vorentscheidung, eine Prüfung cler Erheblichkeit ermöglicht werden, und es tritt dann die Frage heran, ob es nicht der gleichen gegenseitigen Berechtigung cler Parteien und gleicher Behandlung von A n n und Reich vor clem Strafgericht besser entspricht, wenn auch bezüglich des Beweismaterials die Parteien nur Anträge zu stellen haben, während dem Gericht die Entscheidung über dieselben und clie Initiative zur Ergänzung des so vorgeschlagenen Materials überwiesen wirel. II. Im e n g l i s c h e n Recht 2 macht sich auch hier geltend, dass cler Strafprozess so wenig als möglich vom Civilprozess abweichen soll und dass der englische Civilprozess keine richterliche Beweisverfügung kennt. Die Beschaffung des Beweismaterials ist daher ausschliesslich Sache der Parteien; selbst clie Verpflichtung, clem Gegner von clen zu benutzenden Beweismitteln rechtzeitig Kenntniss zu geben, ist im e n g l i s c h e n Recht (im Gegensatz zum s c h o t t i s c h e n ) eine 2

A r c h b o l d I I ch. I I sect. 4 Nr 7 ρ 252. Ganz besonders anschaulich ist die kurze Darstellung bei S t e p h e n , General view of the crini, law of England ch. V ρ 155 ff. Vgl. auch G l a s e r , Anklage etc. S 24 ff.

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sehr begrenzte; sie besteht für den Angeklagten gar nicht, und beschränkt sich für den Ankläger darauf, auf der Rückseite der Anklageschrift ein Verzeichniss der zu ladenden Zeugen anzubringen. Die Gleichheit der Parteien ist nur eine scheinbare ; denn hinter dem Ankläger, cler nur nominell eine Privatperson ist, stehen die Polizeiorgane und die öffentlichen Kassen, während cler Angeklagte gänzlich auf seine eigenen Mittel und Akte der Mildthätigkeit angewiesen ist. Gegen den Wegfall von wichtigem Beweismaterial durch Zufall (Ausbleiben der Zeugen u. s. w.) ist höchst ungenügend vorgesorgt; und der Gedanke, class beide Parteien ein Recht haben, dass der Spruch auf Grund des eben vorhandenen Materials bei cler einmal begonnenen Hauptverhandlung ergehe, lässt kaum vereinzelte Regungen aufkommen, welche auf eine Vertagung cler eröffneten Hauptverhandlung zur Herbeischaffung vollständigeren Beweismaterials abzielen. I I I . Auch im f r a n z ö s i s c h e n Recht 3 übt die Ordnung des Ladungswesens im Civilprozess einen beträchtlichen Einfluss auf den Strafprozess. Die Unbeweglichkeit cles Gerichts gerade in dieser Hinsicht, die gänzliche Ueberweisung des Prozessbetriebes an die Parteien, welche sich für Ladungen nur an öffentlich beglaubigte, aber von ihnen entlohnte Gerichtsvollzieher zu wenden haben, die Gewohnheit, der Staatsanwaltschaft die Vermittlung der Correspondenz u. s. w. in weitgehendem Umfange zu überlassen, alles dies musste die Procedurformen bezüglich cler Beschaffung des Beweismaterials für die Haupt3

G l a s e r , Die Vorbereitung des Hauptverfahrens im franz. Schwurgerichtsverfahren (Kl. Schriften S 565 if.) §§ 6 u. 7 und die daselbst angeführte Literatur, insbesondere H é l i e , Instr. crini. § 499 I, vol. V I I ρ 285 sq.; § 635, V I I I 683 if., éd. Brüx. Nr 3711—3714. 4964sq. D a l l o z , Rép. ν. „Instr. crim." Nr 1345 sq. 2171—2195, éd. Par. 1854 X X V I I I 365 sq. 550 sq. H é l i e , Pratique I Nr 321. 322 ρ 158—160, Nr 444. 445 ρ 219. 220, Nr 642 ρ 327 sq., Nr 678 ρ 349, Nr 691-694 ρ 356 sq., Nr 718 sq. ρ 369 sq. T r é b u t i e n , Cours élémentaire de droit criminel, titre I I I s. I I et I I I vol. I I ρ 372. 376. Das i t a l i e n i s c h e Recht (s. insbesondere Art. 383. 384. 464—466. 468. 479. 480 des Regol. di procedura penale und die Bemerkung hiezu im Commentar von M e i ; ferner Β or sani e C a s o r a t i §§ 1503. 1508 ss., vol. IV ρ 356 sq.) steht auch hier auf der französischen Basis, zeigt jedoch beachtenswerthe Eigenthümlichkeiten ; so die Ausdehnung der Pflicht zur gegenseitigen Notification der Zeugenliste auf die correctionellen Verhandlungen (die Praxis nimmt aber die Fälle der unmittelbaren Ladung aus) — die Verpflichtung, bezüglich der nicht bereits vernommenen Zeugen auch den Gegenstand ihrer Aussage zu bezeichnen — endlich das Recht des Assisenpräsidenten, alle von den Parteien vorgeschlagenen Beweise zurückzuweisen, welche der Sache fremd und nur bestimmt sind, ohne Aussicht auf verlässlichere Resultate die Verhandlung zu verlängern (che fossero estranei alla causa e tendessero a prolongare il dibattimento senza speranza (l'aver maggiore certezza ne' risultamenti).

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auptveradlung.

Verhandlung im Strafprozess um so mehr bestimmen, weil für die unteren Grade der Strafgerichtsbarkeit die u n m i t t e l b a r e L a d u n g des Beschuldigten die regelmässige oder doch (in Zuchtpolizeigerichtsfällen) die überwiegende Form der Einleitung des Verfahrens bildet, wobei vor der Hauptverhandlung dem Richter alles Aktenmaterial abgeht, auf welches er ein vorbereitendes Eingreifen stützen könnte. Hier muss naturgemäss den Parteien volle Freiheit gelassen werden, das richterlich noch gar nicht gesichtete Beweismaterial zu sammeln, hauptsächlich mit Hilfe der unmittelbar von ihnen zu veranlassenden Ladung der Zeugen zur Hauptverhandlung. Am schärfsten ausgeprägt sind die Normen für die schwersten, vor das Schwurgericht gehörigen Fälle, wo eine Prüfung und Sichtung des Beweismaterials durch die Anklagekannner der Hauptverhandlung vorausgeht, und die Anklage, nur nominell das Werk der Staatsanwaltschaft, thatsächlich vom Gerichte beschlossen ist. Nach französischem Recht steht der Staatsanwaltschaft, der Civilpartei und dem Angeklagten (las Recht zu, Zeugen und Sachverständige in unbeschränkter Zahl vorzurufen; sie haben dies aber auch selbst (durch Gerichtsvollzieher) zu bewirken und die Kosten der Ladung zu bestreiten. Ausserdem müssen Staatsanwaltschaft und Civilpartei dem Angeklagten und muss letzterer der Staatsanwaltschaft die Liste der zu ladenden spätestens 24 Stunden vorher (controvers ist, ob vor Beginn der Verhandlung oder der Vernehmung) mittheilen lassen, widrigenfalls sich die Gegenpartei der Vernehmung widersetzen kann. Dem mittellosen Angeklagten stehen jetzt zwei Wege offen, Zeugenladungen ohne eigenen Kostenaufwand zu erwirken. Ursprünglich war er darauf angewiesen, die Staatsanwaltschaft um Aufnahme der von ihm bezeichneten Personen in deren eigene Liste zu ersuchen (C. d'Instr. art, 321); nun scheint zwar die Staatsanwaltschaft es stets als ihre Pflicht angesehen zu haben, sich nicht auf Belastungszeugen zu beschränken ; allein immerhin war die Entscheidung über das Ansuchen des Angeklagten nur von ihrem Ermessen abhängig. Seitdem das Gesetz über das Armenrecht vom 22. Januar 1851 erlassen ist, kann sich der Angeklagte an den Präsidenten wenden, welcher bei nachgewiesener Mittellosigkeit die Ladung verfügt, wenn er „erachtet, dass die Aussage des Zeugen der Entdeckung der Wahrheit dienlich sein werde". Der Vollzug obliegt der Staatsanwaltschaft. — Letztere hat aus den verschiedenen Zeugenlisten eine G e s a ni m t z e u g e η 1 i s t e zu bilden, welche sie in der Hauptverhandlung nach der mündlichen Entwickelung der Anklage clem Gerichtshofe vorlegt (Cod. d'Instr. art. 315). Diese Liste bildet r e g e l m ä s s i g die Grundlage des Beweisverfahrens, die darauf erscheinenden Binding, Handbuch. IX. 4. I : G l a s e r , Strafprozess. 1.

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Personen, und nur diese, sollen der Regel nach im Beweisverfahren vernommen werden. Diese Grundlage ist aber keine unabänderliche: nicht blos können aus blossem Versehen ausgebliebene, sonst aber ordnungsmässig geladene und notificirte vernommen, sondimi auch umgekehrt muss auf rechtzeitigen Widerspruch des Gegners die Vernehmung derjenigen, die, ohne dass Ladung und Notification gehörig erfolgten, aufgenommen wurden, unterbleiben, wenigstens die regelrechte Vernehmung unter E i d , da allerdings dem Präsidenten die u n b e e i d i g t e Vernehmung kraft des pouvoir discrétionnaire gewahrt bleibt. Letztere steht natürlich um so mehr bei bisher noch gar nicht namhaft gemachten Personen offen. Bei solchen, nicht aber auch bei wegen unterbliebener Notificinmg zurückgewiesenen, steht auch dem Gerichtshof das Recht zu, deren Vorladung und eidliche Vernehmung zu beschliessen, ein Recht, das zwar vielfach bestritten wurde, jetzt aber als feststehend anerkannt ist. Die schon erwähnte discretionäre Gewalt des Schwurgerichtspräsidenten (bei den anderen Gerichten kommt sie dem Leiter der Hauptverhandlung nicht zu) wird in Frankreich so aufgefasst, dass, ungeachtet Art. 269 des Code d'Instruction die Ausübung derselben nur während der Hauptverhandlung (dans le cours des débats) zu gestatten scheint, der Präsident auch schon vor Eröffnung der Hauptverhandlung Zeugen vorrufen lassen kann, damit sie i n derselben als Auskunftspersonen vernommen werden 4 . In seinen Händen ruht aber auch das Recht der Herbeiführung einer Zwischen- oder Ergänzungsuntersuchung (instruction intermédiaire et complémentaire) 5 , deren Ergebnisse den Akten der Voruntersuchung gleichstehen, den Parteien zugänglich gemacht werden müssen und die Grundlage der weiteren Beweisanträge derselben bilden, auch durch Vorlesung in der Hauptverhandlung (kraft der discretionären Gewalt) verwerthet werden können. Dem Abbruch der begonnenen Hauptverhandlung zum Zweck weiterer Aufklärung des Sachverhalts stellt sich Art. 353 des Code d'Instr. entgegen, jedoch ohne gegen die Praxis aufzukommen, welche sich dabei wieder auf Art. 406 stützen kann 6 . IV. Die ö s t e r r e i c h i s c h e Strafprozessordnung legt bei den Gerichten unterster Ordnung die gesannnten Anordnungen für die 4

IIé l i e, Instr. § 609 III, V I I I 474 (éd. Br. Nr 4818). l i o l l a η d d e V i 11 a r g u e s Art. 269 Nr 3. 5. 6. (H'as er, Kl. Schriften S 589 § 7 1 (dagegen das. S 582 § 6 Nr 2). 5 Art. 308 u. 304 Code d'Instr. crini, ( i l as er S 581 ff. § 6. 6 Vgl. über die in dieser Hinsicht herrschende Verwirrung G l a s e r a. a. O. § 7 IV Nr 5. R o l l a n d de V i l l a r g u e s Art. 353 Nr 117: Art. 406 Nr 2. 4. 10. 12. 16. 17. 18.

§ 40. Sammlung des Beweismaterials für die Hauptveradlung. Hauptverhandlung, welcher regelmässig gerichtliche Erhebungen nicht vorangehen, in die Hände des Richters. Bei den Gerichten mittlerer Ordnung k a n n von der gerichtlichen Voruntersuchung Unigang genommen werden; hier wie vor clem Schwurgerichte liegt aber der Hauptverhandlung eine Anklageschrift zu Grunde, welche entweder der Angeklagte über sich ergehen liess oder welcher cler höhere Gerichtshof gegen dessen Einspruch Folge gegeben hat. Der Anklageschrift muss die Staatsanwaltschaft clas „Verzeichniss der vorzuladenden Zeugen und Sachverständigen, sowie der anderen Beweismittel, deren sie sich in der Hauptverhandlung zu bedienen gedenkt", ein- oder beifügen (§ 207 Abs. 3; dass dabei nicht einseitig vorzugehen sei, folgt aus § 3 StPO). Erhebt cler Angeklagte Einspruch gegen die Anklage, so kann er dadurch entweder die Einleitung oder Ergänzung der Voruntersuchung oder eine Entscheidung des über clie Anklage erkennenden Gerichtes über die von ihm gewünschte oder bekämpfte Vorladung von Zeugen und Sachverständigen erlangen (§ 211, § 214 Abs. 2). — Nach der Versetzung in den Anklagestand können Ankläger, Privatbetheiligter und Angeklagter die Vorladung neuer Zeugen oder Sachverständigen beim Vorsitzenden beantragen ; zu diesem Zwecke müssen sie ihm dieselben „unter Angabe der Thatsachen und Punkte, über welche der vorzuladende vernommen werden soll, rechtzeitig anzeigen. Die Liste der neu zu ladenden Zeugen und Sachverständigen ist dem Gegner längstens drei Tage vor cler Hauptverhandlung mitzutheilen: ausserdem können diese Personen nicht ohne seine Zustimmung vernommen werden" (§ 222). Glaubt der Vorsitzende einem solchen Antrage keine Folge geben zu sollen, so holt er die Entscheidung cler Rathskannner ein; wird von dieser der Antrag abgelehnt, so kann er in cler Hauptverhandlung erneuert und das hierüber ergehende Zwischenerkenntniss durch Nichtigkeitsbeschwerde angefochten werden 225 Abs. 2, § 238, § 281 Z. 4, £ 344 Z. 5). Aber auch bezüglich der in cler Anklageschrift namhaft gemachten Beweismittel steht, wenn nicht über die Anklage selbst vom höheren Gericht zu entscheiden war. dem Vorsitzenden das Recht der Sichtung zu, und wenn er Bedenken trägt, clen Anträgen Folge zu geben, mit der eben bezeichneten Wirkung clie Entscheidung der Rathskannner einzuholen (§ 225). Aus der Zulässigkeit der Erneuerung dieser Anträge ergiebt sich schon, dass cler G e r i c h t s h o f in der Hauptverhandlung auch die Ladung neuer Zeugen und Sachverständigen beschliessen kann. Die Praxis zählt solche Anträge zu clen „einzelnen Punkten des Verfahrens", über welche Zwischenerkenntnisse. die der Anfechtung durch Nichtigkeitsbeschwerde unterliegen. 25 *

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erwirkt werden können. Einen weiteren Anhaltspunkt findet die Praxis in dem durch § 276 dem G e r i c h t eingeräumten Recht, zum Zweck der Herbeischaffung neuer Beweismittel die Hauptverhandlung zu vertagen. — Neben diesem Recht des Gerichtshofes steht das selbständige Recht des V o r s i t z e n d e n , „ohne Antrag des Anklägers oder des Angeklagten Zeugen oder Sachverständige, von welchen nach dem Gange des Verfahrens Aufklärung über erhebliche Thatsaehen zu erwarten ist, im Laufe des Verfahrens vorladen zu lassen" (§ 254). Dass diese Befngniss nicht durch das Recht der Parteien auf vorausgehende Mittheilung beengt werde, ist im § 222 ausdrücklich gesagt. Von der entsprechenden französischen Vorschrift unterscheidet sich die österreichische dadurch, dass über die Frage, ob die kraft des pouvoir discrétionnaire vernommenen Zeugen zu beeidigen seien, der Gerichtshof nach deren Abhörung und nach Vernehmung der Parteien entscheidet. Nach der ganzen Anlage der österreichischen Strafprozessordnung erscheint das Gericht und in der Hauptverhandlung der Gerichtshof als der über das Beweismaterial allein verfügende; keine von beiden Parteien hat eine dispositive Einwirkung, sie sind b e i d e , abgesehen von dem Falle einverständlichen Verzichtes auf ein Beweismittel (§ 246 Abs. 2), zur Stellung von Anträgen berechtigt, aber auch b e i d e auf Anträge beschränkt, deren Würdigung dem Gericht zukommt; das Gericht verfügt die Ladung, und der Staat trägt deren Kosten. Der Vorgang des Gerichtes unterliegt der Ueberprüfung durch den Cassationshof von dem Gesichtspunkte aus, ob er „Grundsätze des Verfahrens hintangesetzt oder unrichtig angewendet, deren Beobachtung durch das Wesen eines die Strafverfolgung und die Vertheidigung sichernden Verfahrens geboten ist" (§ 281 Z. 4, S 344 Ζ . 5). V. Den Ausgangspunkt für den Entwurf der d e u t s c h e n Strafprozessordnung und dessen Prüfung in der Commission des Reichstages bildeten in dieser Hinsicht das bisherige preussische Recht und die bei Handhabung desselben gemachten Erfahrungen. Die §§ 51 und 52 der V von 1849 gaben dem Staatsanwalt, gleich dem Gerichte selbst, ein unbeschränktes Recht auf V o r l a d u n g der für erforderlich erachteten Zeugen. Bezüglich des Angeklagten ward .angenommen, dass die Worte des § 52: „sofern das Gericht die Umstände, über welche die Abhörung der Zeugen beantragt ist, wesentlich findet", sich nur auf die von ihm vorgeschlagenen Zeugen beziehen 7 . Daraus ward 7 O p p e n h o f f S 265 Nr 4; woselbst sich auch zeigt, dass die Praxis einige Zeit schwankte und dass in der Appellationsinstanz die Staatsanwaltschaft keine anderen Rechte hatte als der Angeklagte.

§ 40. Sammlung des Beweismaterials für die Hauptveradlung. gefolgert, dass das Gericht nur die Erheblichkeit cler zu beweisenden Thatsaehen zu prüfen, dagegen bezüglich der dafür vorzubringenden Beweise, also namentlich der Zahl und Auswahl der Zeugen, der Angeklagte allein zu entscheiden habe. Dem gegenüber unterstellt Art. 26 des Ges vom 8. Mai 1852 „der Prüfung und Bestimmung des Gerichtes auch die Zahl" mehrerer über einen und denselben Umstand vom Angeklagten vorgeschlagenen Zeugen und damit auch die Auswahl unter diesen, insofern sie nicht der Angeklagte selbst eventuell getroffen hatte 8 . Hierüber entschied lediglich das Ermessen des Gerichtes und ebenso ward dem Gericht unter allen Umständen das Recht zugeschrieben, nach freiem Ermessen die Vernehmung der vorgeladenen oder gestellten Zeugen, und zwar auch der vom Staatsanwalt herbeigeschafften, zu unterlassen, wenn es dieselbe nicht für erforderlich h i e l t 9 . Der Zustand konnte nach keiner Seite hin befriedigen. Die Motive zum Entwurf der Strafprozessordnung (S. 122) constatiren auf der einen Seite gröblichen Missbrauch des Rechtes, die Vorladung von Auskunftspersonen zu beantragen, auf der anderen das missliche der dem Gerichte zugeniutheten Entscheidung über die Vorladung. Der Entwurf suchte nun die Abhilfe darin, dass er die V o r l a d u n g der Zeugen und Sachverständigen — unter Benutzung der dem französischen Recht nachgebildeten Ladungsfonnen — ganz in das Belieben des Angeklagten stellte, so lange dieser dieselbe selbst und auf seine Kosten bewirkt. D i e s e Bestimmungen des Entwurfes sind auch Gesetz geworden, und es richtet sich also die Beschaffung des Beweisniaterials für die Hauptverhandlung nach folgenden Bestimmungen: Die Anklageschrift, welche in der Regel die Grundlage des Beschlusses über die Eröffnung des Hauptverfahrens bildet, ausnahmsweise aber manchmal erst auf Grund dieses Beschlusses abgefasst wird, wenn derselbe gegen den Antrag der Staatsanwaltschaft erging, enthält auch die Angabe cler Beweismittel (§ 198). Es darf als feststehend angesehen werden, dass bei dieser Angabe nicht einseitig Belastungsbeweise zu berücksichtigen seien, sondern dass alles aufgenommen werden muss, dessen voraussichtlich das Gericht bedarf, 8

O p p e n h o f f hei Art. 26 namentlich Nr 1 u. 4. Die Bestimmung ward auch als für Sachverständige maassgebend erachtet (das. Nr 31), und ausdrücklich war vom Obertribunal entschieden, dass clas Wahlrecht des Gerichts selbst durch den Umstand nicht beeinträchtigt wird, dass der Angeklagte die übrigen Zeugen nicht zu Gericht „gesteilen" kann, wenn dieselben ζ. B. verhaftet sind (das. Nr 2). 9 O p p e n h o f f zu Art. 26 Nr 1. 7 § 52 Nr 4—S. Nach beiden Richtungen also, sowohl bei Unterlassung der Vorladung, als bei Unterlassung cler Vernehmung, war die Nichtigkeitsbeschwerde ausgeschlossen.

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um sachgemäss und in voller Ruhe urtheilen zu können. Da übrigens die Staatsanwaltschaft nicht nur die ihr nöthig scheinenden Ladungen selbst veranlasst, sondern auch die vom Vorsitzenden oder vom Gericht angeordneten zu bewirken hat, so ist die Aufzählung in der Anklageschrift für sie in dem Sinne nicht bindend, dass sie berechtigt ist, auch später noch „ausser den in der Anklageschrift benannten Zeugen oder Sachverständigen die Ladung noch anderer Personen" zu bewirken (§ 221 Abs. 2). Die Angabe in der Anklageschrift hat also zunächst den Zweck, den Angeklagten über das Beweisniaterial zu orientiren und so die in der Anklageschrift enthaltenen thatsächlichen Angaben zu ergänzen. — Dem Angeklagten selbst bieten sich d r e i Wege für die Herbeischaffimg von Beweismitteln zur Hauptverhandlung dar: 1. Er kann seine Anträge „unter Angabe der Thatsachen, über welche der Beweis erhoben werden soll", bei dem Vorsitzenden des Gerichtes stellen (§ 218); 2. er kann durch Gerichtsvollzieher unmittelbar die Ladung bewirken, muss dann aber nicht blos die Kosten der letzteren bestreiten, sondern auch der geladenen Person die gesetzliche Entschädigung für Reisekosten und Versäumniss baar darbieten oder sichern, wobei die Aussicht eröffnet bleibt, dass je nach dem Werth, den die Aussage des Geladenen in der Hauptverhandlung „für die Aufklärung der Sache" nach Ansicht des Gerichtes hat, die gesetzliche Entschädigung auf die Staatskasse übernommen wird (§ 219); er kann endlich 3. sich an den Staatsanwalt wenden, und wenn der zweite Weg ihm durch das Gesetz ausdrücklich auch in dem Falle offen gehalten wird, wo der Vorsitzende den Antrag abgelehnt hat, so ist schon darauf aufmerksam gemacht worden 1 0 , dass eine solche Ablehnung auch clen Staatsanwalt nicht hindern müsse, die vom Angeklagten gewünschte Ladung zu bewirken. Der unmittelbaren Ladung kommt die Erwirkung der freiwilligen Stellung eines nicht geladenen gleich (später noch zu besprechen). VI. Bei cler Anwendung dieser Bestimmungen entstehen mancherlei Einzelfragen: 1. Wenn cler Angeklagte sich mit seinem Antrage auf Ladung oder Herbeischaffung von Beweismitteln an clen Vorsitzenden wendet, so muss dies „unter Angabe der Thatsachen, über welche cler Beweis erhoben werden soll", geschehen. Ueber die Gesichtspunktey von welchen der Vorsitzende bei Prüfung dieser Anträge auszugehen hat, sprechen sich die Motive (S 123) so aus, dass er „nach seinem 10

F u e l i s in HH I I 54.

§ 40. Sammlung des Beweismaterials für die Hauptveradlung. freien, ptiichtmässigen Ermessen" handelt und nicht blos auf die Erheblichkeit der zu Beweis gestellten T h at s a c h e iij, sondern auch darauf zu sehen hat, ob das B e w e i s m i t t e l geeignet sein werde, einen Einfluss auf die Entscheidung zu üben; insbesondere steht ihm bei einer Mehrheit von Zeugen zu, nach freiem Ermessen die Zahl zu bestimmen und die Auswahl zu treffen 1 1 . Diese sichtliche Anlehnung an das preussische Gesetz von 1852 ist auch durch die Conimissionsberathungen, trotz mannichfacher Versuche zur Beschränkung des Vorsitzenden (Prot S 344 ff. 944 ff.), nicht beseitigt worden. 2. Die Entscheidung des Vorsitzenden muss jedenfalls dem Angeklagten, und wenn sie eine gewährende ist, dem Staatsanwalt, der sie auszuführen hat, ferner dem Nebenkläger (arg. ex contr. aus S 439 Abs. 1) mitgetheilt werden. Die Mittheilung an die Mitangeklagten scheint durch die Natur der Sache geboten, sobald nicht ausser Zweifel steht, dass das Beweismittel deren Interesse gar nicht berührt 1 2 . 3. Die Gewährung des Antrages giebt dem Angeklagten ein Recht auf Vernehmung des Vorgeladenen, hat also die Natur einer definitiven Entscheidung; die Ablehnung hindert nicht, den gleichen Zweck auf anderen Wegen zu verfolgen, und hat in materieller Hinsicht nur eine v o r l ä u f i g e Wirkung; denn wenn auch die Bemerkung der Motive, dass die Entscheidung des Vorsitzenden „in allen Fällen nur eine vorläufige sei", auf das im G e s e t z angenommene System nicht mehr passt, so steht die Ablehnung des Antrages durch den Vorsitzenden der Erneuerung in der Hauptverhandlung nicht entgegen. Eben darum kann sie niemals den Stützpunkt eines Angriffs gegen das Endurtheil bilden. Dagegen ist es s t r e i t i g , ob sie einer Beschwerde unterliege. Der Wortlaut des § 346 StPO spricht dafür, dass diese sowohl bei Zulassung als bei Ablehnung des Antrages stattfindet 13 . D a g e g e n sprechen aber schlagende Gründe. 11

Vgl. auch Prot S 336. Die Prüfung muss der A'orsitzende auf Ci rund des Antrages und des ihm bereits vorliegenden Aktenmaterials vornehmen; eine vorläufige Beweisaufnahme, um sich in den Stand zu setzen, die sachliche Bedeutung des Antrages zu prüfen, ist ihm nicht gestattet ( S c h w a r z e Bern 2 bei § 218; K e l l e r Bern 3 bei § 218 (fehlt in 2. Aufl.) und Bern 2 bei § 220; L ö w e bei S 220 Bern 4); man wollte eine N a c h i n s t r u c t i o n principiell nicht zulassen und schnitt daher auch ab, was dazu führen konnte. Prot S 340. 341. 12 L ö w e Bern 3 bei §218. S c h w a r z e Bern 8 das. B o m h a r d Beni 5 das. 13 P u c h e l t Bern 3 zu §§ 218 ff.; K e l l e r , den er ills Gewährsmann anführt, erklärt die Beschwerde nur bei A b l e h n u n g von Beweisanträgen für zulässig Bern 4 bei S 346), ohne für diese Beschränkung einen Grund anzugeben.

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40. Sammlung es Beweismaterials für die Hauptveradlung.

welche L ö w e 1 4 der Natur des Geschäftsganges sowie den Motiven des Gesetzes entnimmt, ferner der Unistand, dass gerade in solchen Fällen die Beschwerde dadurch, dass sie keine aufschiebende Wirkung hat (§ 349), praktisch gegenstandlos wird, und dass, wollte man nicht die Sache in die Hand des Vorsitzenden allein stellen, es näher lag, die Entscheidung des G e r i c h t e s zu veranlassen, was beantragt aber abgelehnt w r urde 1 5 . 4. Findet der BewTeisantrag des Angeklagten wreder beim Vorsitzenden noch beim Staatsanwralt Eingang und will jener es nicht auf die Erneuerung desselben in der Hauptverhandlung ankommen lassen, so bleibt ihm nur übrig, sich selbst an den Gerichtsvollzieher zu wenden und durch diesen den Zeugen oder Sachverständigen laden zu lassen. „Hierzu ist er auch ohne vorgängigen Antrag befugt" (§ 219 Abs. 1). Die Ladung begründet die Pflicht, vor Gericht zu erscheinen, ganz mit denselben Folgen, wie die vom Staatsanwalt verfügte, sofern der oben erw ähnten Bestimmung bezüglich der Darbietung der Kosten Genüge geschehen ist. Auch cler Sachverständige hat übrigens nur auf die Darbietung der Entschädigung für Reisekosten und Zeitversäumniss Anspruch, nicht aber auf die v o r a u s g e h e n d e Leistung der ihm nach § 84 StPO ausserdem gebührenden „angemessenen Vergütung für seine Mühewaltung", für welche übrigens der Angeklagte haftet. Letzteres gilt natürlich auch dann, wenn der Geladene oder freiwillig erscheinende die vorausgehende Leistung nicht verlangt hat. — Die ebenfalls schon envähnte Gewährung cler „gesetzlichen Entschädigung aus der Staatskasse" (§ 219 Abs. 3) ist an die Voraussetzung geknüpft, dass die Vernehmung des unmittelbar geladenen (oder gestellten) „zur Aufklärung der Sache d i e n l i c h " (clas Wort wurde, als eine geringere Anforderung stellend, gegenüber dem Antrag, „erforderlich" zu setzen, aufrecht erhalten 1 6 . Die ganze Bestimmung, aus der Initiative cler Reichstagscommission hervorgegangen (Prot S 336—340, vgl. auch die Zusammenstellung der sog. authentischen Interpretationen, H a h n S 1505), bezweckt ein doppeltes: Personen, denen die Gebühr nicht dargeboten wird, w7erclen sich durch das Bewusstsein, dass sie erhebliches auszusagen haben, und die dadurch eröffnete Aussicht auf Entschädigung zum Erscheinen bestimmen lassen. I n der Regel wird also der Beschluss dem Geladenen zu 14

Beni 1 und 2 zu § 347. S. aneli S c h w a r z e Beni 7 zu § 218. T h i l o Bern 3 das. 15 Antrag R e i c h ens ρ erger Prot S 335. 16 Prot S 945. Das Gericht entscheidet über die Frage „auf Antrag", welcher Antrag auch vom Geladenen gestellt werden kann. G e y e r § 189 II.

§ 40. Sammlung des Beweismaterials für die Hauptveradlung. statten kommen, welcher das ihm gebührende noch nicht oder nicht vollständig erhalten hat. Dem Angeklagten kommt er insofern zu statten, als er ihn von jeder Haftung dem Geladenen gegenüber befreit und als ihm die zu diesem Zweck bestrittenen Auslagen in dem Falle vergütet werden, wo er nicht ohnehin die Kosten des Strafverfahrens vollständig zu tragen h a t 1 7 . λ τ ΙΙ. Man kann sich nicht verhehlen, dass diese Bestimmungen an sich schon Bedenken erregen. Für die grosse Mehrzahl der Fälle bleibt es thatsächlich bei dem, was man als misslich erkannt hatte und wogegen man Abhilfe suchte. Wer clas Geld nicht hat, nicht gleich zur Hand hat oder sich bezüglich des Ausmaasses der Gebühr irrt und zu wenig darbietet, dessen Beweisrecht ist vereitelt, und doch muss die Bestimmung die Vorsitzenden unci Staatsanwälte geneigter machen, Beweisanträge des Angeklagten abzulehnen. Andrerseits ist es sehr misslich, class der Geladene ein pecuniäres Interesse an dem Werth erlangt, welchen clas Gericht seiner Aussage beimisst. — Endlich darf nicht übersehen wTerden, dass bezüglich cler Herbeischaffung „anderer Beweismittel" mit clem Recht der unmittelbaren Ladung nichts gewonnen ist; verfügt der Angeklagte über diese Beweismittel nicht, so kann er sie auch nicht ohne Hilfe des Vorsitzenden oder des Staatsanwaltes sich verschaffen. Der Hauptnachtheil dieser Einrichtungen liegt aber darin, dass sie den unten darzustellenden Dualismus der Beweisbeschaffung zur logischen Consequenz haben, obgleich ursprünglich diese Consequenz nicht beabsichtigt war. VIH. Ergänzend greift endlich bezüglich des Beweismaterials b i s zur Hauptverhandlung cler V o r s i t z e n d e , n a c h Eröffnung derselben das G e r i c h t ein. 1. Aus § 153, welcher die Gerichte innerhalb der durch die öffentliche Klage bezeichneten Grenzen „zu einer selbständigen Thätigkeit berechtigt und verpflichtet", leiten die Motive (S 124) ab, dass die Gerichte „ebenso berechtigt als geeigneten Falls verpflichtet sind, auch solche Beweise zu erheben, welche von keiner Seite in Antrag gebracht worden sind". Bis zum Beginn cler Hauptverhandlung wird diese Befugniss cles Gerichtes durch den Vorsitzenden ausgeübt, welcher „von Amts wegen die Ladung von Zeugen und Sachverständigen, sowie die Herbeischaffung anderer Beweismittel anordnen kann" (§ 220). 17

Der Gedanke, über welchen man sich einigte, war der, dass der Angeklagte, wenn die Aussage als zur Aufklärung dienlich erkannt ist, pecuniar in derselben Lage sein soll, als wäre die Auskunftsperson von der Staatsanwaltschaft geladen worden.

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§ 40. Sammlung des Beweismaterials für die Hauptverliadlung.

Die Motive tragen Sorge, diese Befugniss von der discretionären Gewalt des französischen Vorsitzenden zu sondern. Sie weisen darauf hin, dass der \Torsitzende „bei der Durchsicht der Akten die Ansicht gewinnen" kann, dass eine weitere Beweiserhebung nöthig sein kann, die, erst später vom Gericht für nothwendig erkannt, eine Vertagung nöthig machen könnte. Während daher der französische Präsident auch vor der Hauptverhandlung eine Ladung nur erwirken kann, um dadurch die Ausübung der ihm eigentlich erst in der Hauptverhandlung zustehenden Gewalt vorzubeiten, endigt die Befugniss des deutschen Vorsitzenden gerade beim Beginn der Hauptverhandking. Dass letzterer keine Beweisaufnahme ausser der Hauptverhandlung veranlassen darf, ist bezüglich der sog. Zwischenuntersuchung schon bemerkt worden; das gleiche gilt von die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ersetzenden eonnnissarischen Vernehmungen, die nur „das Gericht" anordnen kann, und die durch einen „beauftragten oder ersuchten Richter" auszuführen sind (§ 222) 1 8 . 2. Akte der Beweisaufnahme können im Stadium der „Vorbereitung der Hauptverhandlung" nothwendig werden; dies ist in den §§ 222 bis 224 ausdrücklich vorgesehen; ihre Anordnung kommt aber dem e r k e n n e n d e n G e r i c h t zu, das zu diesem Zweck schon vor der Hauptverhandlung in Thätigkeit treten muss (vgl. Anni 18): jedenfalls um die Beweisaufnahme anzuordnen; ja, wie die Motive zu § 224 des Gesetzes (S. 186) wenigstens nicht ausschliessen zu wollen scheinen, allenfalls auch um den Augenschein selbst zu leiten. 3. In der Hauptverhandlung selbst steht endlich dem „Gericht" das Recht zu, „auf Antrag oder von Amtswegen die Ladung von Zeugen und Sachverständigen, sowie die Herbeischaffung anderer Beweismittel anzuordnen (§ 243 Abs. 3). Ob es diese Befugniss nicht schon v o r der Hauptverhandlung üben könne, das ist eine Frage, welche 18

K e l l e r , Bern 5 bei § 220 und Bern 4 bei § 81, spricht ihm (gestützt auf die Worte: „kann das Gericht" in § 81 Abs. 2) die Befugniss ab, den Angeklagten zur Vorbereitung eines Gutachtens über dessen Geisteszustand in eine öffentliche Irrenanstalt bringen zu lassen. — Dagegen vindicirt ihm P u c h e l t (Bern 5 zu §§ 218 ff.) das Recht: 1. die bereits abgehörten Zeugen unter der Voraussetzung des § 65 beeidigen zu lassen, wofür mir jeder Anhaltspunkt zu fehlen scheint; ferner 2. (in Uebereinstimmung mit K e l l e r § 224 Bern 2, a. M. L ö w e , D a l c k e , V o i t u s und B o m h a r d , sämmtlich bei § 224) einen Augenschein nach § 224 anzuordnen, wogegen der Wortlaut des im § 224 für anwendbar erklärten § 222 („so kann das Gericht") und der deutlich erklärte Wille spricht, clem Vorsitzenden eine Beweisaufnahme v o r der Hauptverhandlung nicht zu gestatten, ihn nur zur H e r b e i Schaffung von Beweismitteln für die Hauptverhandlung zu ermächtigen.

40. Sammlung des Beweismaterials für die Hauptveradlung. sich zu stellen die Praxis unbedingt genöthigt wird. Die Knappheit der dem Vorsitzenden eingeräumten Befugnisse gestattet, wie gezeigt, nicht, dass man an die Formel sich halte, dieser sei vor cler Hauptverhandlung allein im Namen des Gerichtes thätig. Andrerseits ergiebt sich, dass bei der Abfassung des Gesetzes die Absicht entschieden dahin ging, jede Nachinstruction oder Ergänzung der Voruntersuchung zu vermeiden. (Von clen Zweifeln, welche sich an die im § 200 erwähnten „einzelnen Beweiserhebungen" knüpfen, wird hier abgesehen.) Minder klar ist, ob man dabei das Hauptgewicht darauf legte, dass sie n i c h t s t a t t f i n d e n oder dass sie cler V o r s i t z e n d e nicht vornehmen oder bewirken solle 1 9 . Der Wunsch, Hauptverhandlungen bei sichtlich ungenügendem Material und Aussetzungen der begonnenen Hauptverhandlung zu vermeiden, wird jedenfalls das Gericht in die Lage bringen, Anträge des Staatsanwaltes zu provociren; bleiben aber diese aus, wo clas Gericht mit Recht glaubt, sie erwarten zu dürfen, so bieten einerseits § 224, andrerseits Abs. 3 des § 243 die Anhaltspunkte dafür, die vom Gericht, allerdings nicht die vom Vorsitzenden veranlasste Nachinstruction in den Prozess einzuführen. § 41.

Verfügung

ü b e r clas B e w e i s m a t e r i a l Hauptverhandlung.

in

der

I. Wenn die Bestimmungen cles Entwurfs der deutschen Strafprozessordnung über die S a m m l u n g cles Beweismaterials für die Hauptverhandlung bei den Berathungen des Reichstags erhebliche Aenclerungen nicht erfuhren, so war doch die Bedeutung, welche ihnen der Entwurf beilegte, eine ganz andere, als welche sie im System des Gesetzes erlangt haben. An das vorausgehende preussische Recht 10

So knüpft ζ. B. S c h w a r z e Bern 2 u. 3 zu § 220 an die Erwähnung seines nicht angenommenen Antrages, dem V o r s i t z e n d e n zu gestatten, behufs Vorbereitung seiner Erschliessung über die Ladung von Zeugen u. s. w. eine vorläufige Befragung zu veranlassen, die Bemerkung: „Es steht daher auch den Parteien auch in diesem Stadium des Verfahrens das Recht nicht zu, die Feststellung von Novis zu beantragen". Dieser Satz erleidet jedenfalls eine Ausnahme da, wo es sich um richterlichen Augenschein handelt, dessen Vornahme § 224 nicht von den B e d i η g u η g e η abhängig macht, welche § 222 aufstellt ; denn nur für die Art der Einnahme des Augenscheines ist im § 224 auf die „Bestimmung des vorhergehenden Paragraphen verwiesen". S c h w a r z e fährt fort: „Die Betheiligten werden sich vielmehr darauf beschränken müssen, die einschlagenden Beweismittel für die Hauptverhandlung zu beschaffen" ; zu dieser „Beschaffung" bedarf es aber manchmal Erhebungen, die dem Angeklagten nicht möglich sein werden und die nach eröffneter Hauptverhandlung vom Gericht vielleicht überhaupt nicht mehr mit Erfolg angestellt werden können.

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Verfügung über

as Beweismaterial in

er Hauptverhandlung.

anknüpfend, wollte der Entwurf mit denselben nur die H e r b e i s c h a f f u n g des Beweismaterials regeln, dagegen über den Umfang der Benutzung des herbeigeschafften Materials in der Hauptverhandlung das Gericht entscheiden lassen. „Den Umfang der Beweisaufnahme", hiess es in dem dem § 244 des Gesetzes entsprechenden § 207 des Entwurfs, „bestimmt das Gericht, ohne hierbei durch Anträge. Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein". Die Motive (S 138) begründeten dies kurz unter Hinweisung auf die in den §§153 und 263 StPO enthaltenen Bestimmungen und hoben ausdrücklich die „wichtige Folge" hervor, „dass auch solche Personen, welche von dem Vorsitzenden oder von der Staatsanwaltschaft geladen sind, unvernommen entlassen werden können, wenn sich von ihren Aussagen nach dem Ergebniss der Hauptverhandlung ein näherer Aufschluss nicht erwarten lässt". Dieser Vorschlag stiess in der Commission des Reichstags auf entschiedenen Widerspruch (Prot S 370 ff. 950 ff.), welcher zunächst nur dem Gegensatz entsprach, in dem der bezügliche Satz des Entwurfs mit den Motiven stand, welche für die §§ 218 ff. vorgebracht waren, und welcher sich theils auf die abweichenden Einrichtungen in Bayern und Sachsen, theils auf die schlechten Erfahrungen stützte, die mit der Handhabung der analogen Bestimmungen in Preussen, hauptsächlich jedoch deshalb gemacht wurden, weil dort die Nichtigkeitsbeschwerde gegen Entscheidungen dieser Art keine Abhilfe gewährte und angenommen wurde, dass auch durch die vorgeschlagene Fassung „jede Nachprüfung von Seite des höchsten Gerichtes ausgeschlossen sei" Demgeinäss ward das Gegentheil des im Entwurf enthaltenen Principe in das Gesetz in einer Fassung aufgenommen, welche den vielfach geäusserten, gewichtigen Bedenken nur dadurch Rechnung trug, dass das Princip der Regierungsvorlage für die in erster oder zweiter Instanz über Uebertretungen oder auf Grund einer Privatklage geführten Verhandlungen angenommen ward. Für alle 1

Re i c h en s ρ erg er (Prot S 371) knüpfte an diese Darstellung trotzdem einen Antrag, welcher dem Gerichte einen Einfluss auf die Beschränkung der Zahl der Zeugen (jedoch nicht auf deren Auswahl) lassen wollte. Andere fügten noch das Argument hinzu, es könne in Schwurgerichtsfällen nicht gestattet werden, dass das Gericht über die Erheblichkeit von Beweismitteln, gewisserniaassen in der Seele der Geschwornen, urtheile, worauf von Seite der Regierung mit Recht bemerkt ward: „Die Geschwornen dürfe man nicht als etwas vom Gerichtshof getrenntes ansehen; vielmehr bilden beide zusammen ein Ganzes, dessen einzelne Glieder, wenn auch in gesonderter Function, zusammenwirken". Dass der Gegensatz gegen die Regierungsvorlage erst allmählich hervortrat, ergiebt sich ζ. B. aus den Aeusserungen R e i c h e n s p e r g e r s , Prot S 80. Das. u. S 82. 83 überhaupt nicht unwichtige Beiträge zur Beurtheilung des § 244.

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as Beweismaterial i n

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anderen Sachen gilt dagegen die Regel des ersten Abs. des § 244: r ,I)ie Beweisaufnahme ist auf die sänimtlichen vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen, SOAVI e auf die anderen herbeigeschafften Beweismittel zu erstrecken. Von der Erhebung einzelner Beweise kann jedoch abgesehen werden, wenn die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte damit einverstanden sind". Wie incless schon der Wortlaut dieser Stelle zeigt, und wie aus anderen Gesetzesstellen und der Natur der Sache hervorgeht, ist hiemit das in der Hauptverhandlung zulässige Beweismaterial noch nicht abgegrenzt. Auch i n der Hauptverhandlung kann das Gericht von der allgemeinen Befugniss, die ihm Abs. 3 des § 243 einräumt, Gebrauch machen „und von Amts wegen die Ladung von Zeugen und Sachverständigen, sowie die Herbeischaffung anderer Beweismittel anordnen". Es kann ferner nach demselben Paragraphen (Abs. 2 u. 3) in die Lage kommen, über Beweisanträge der Parteien Beschluss fassen zu müssen. Es ergiebt sich hieraus eine für die Anwendung des Gesetzes sehr wichtige Unterscheidung zwischen dem Beweismaterial, dessen Vorführung sich nach der Norm des § 244 richtet, und dem unter diese Nonn nicht fallenden: dem v o r der Hauptverhandlung bereitgestellten und dem e r s t i n der Hauptverhandlung in Frage kommenden. II. In den angeführten Worten des § 244 ist der Wille des Gesetzes ausgedrückt, dass die Bestimmung des Unifanges cler Beweisaufnahme Sache cler P a r t e i e n und nicht des Gerichtes sei. Nicht diesem kommt es danach zu, zu beurtheilen, welche Thatsachen den Gegenstand cler Verhandlung und Beweisführung bilden sollen und von welchen Beweismitteln zu diesem Zweck Gebrauch gemacht werden soll ; aus clen Materialien der Berathung, cler diese gesetzliche Bestimmung ihren Ursprung verdankt, ergiebt sich sogar, class es für nothwendig erachtet wurde, alles zuzulassen, dessen Zurückweisung dem Angeklagten clie M e i n u n g beibringen könnte, dass ihm nicht volles Gehör und Freiheit der Vertheidigung gewährt worden sei. Das Gericht steht zwar jeder cler Parteien insofern gleich, als es auch seinerseits nach eigenem Ermessen zur Vermehrung cles vorbereiteten Beweisinaterials beitragen kann. Allein vermöge des Grundsatzes cler Gemeinsamkeit, cler hier zur Geltung kommen sollte, verlieren sowohl Gericht als Parteien durch clie Ausübung ihres Rechts die Verfügung über den Gegenstand desselben: jeder kann einseitig das Beweismaterial mehren, niemand einseitig clas von wem immer vorbereitete Beweismaterial verkürzen. Selbst stillschweigendes Geschehenlassen, wenigstens des Beweisführers, schützt die Verhandlung, in welcher ein

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as Beweismaterial in

er Hauptverhandlung.

unter Abs. 1 des § 244 fallendes Beweismittel übergangen wurde, nicht vor der Aufhebung; RGE v. 14. Juli 1881 u. 10. Nov. 1881 Rspr I I I 488 u. 708 2 . Namentlich steht ausser Zweifel. dass man bei Abfassung des § 244 die Absicht hatte, dem Gericht jede Conjectur darüber, welchen Werth das herbeigeschaffte Beweismittel für die Entscheidung der Sache habe, zu untersagen, oder vielmehr zu verhindern, dass das Gericht sich durch die hierüber gebildete Ansicht bestimmen lasse, ein Beweismittel zurückzuweisen. Das Gericht hat. wie es im RGE vom 24. April 1880 Rspr I 660 heisst: „ohne besonderen Antrag und ohne Erwägung und Prüfung der voraussichtlichen Ergebnisse" (vgl. auch RGE v. 10. April 1880 Rspr I 571) mit der Beweisaufnahme vorzugehen. Die Gründe der Zurückweisung, deren Abschneidung man dabei im Auge hatte, waren hauptsächlich zweierlei: 1. dass es des Beweises nicht bedürfe, weil die Thatsache ohnehin schon feststehe, sei es durch andere Beweise, sei es durch Zugeständnisse: 2. dass durch das angebotene Beweismittel cler beabsichtigte Beweis nicht erbracht werden könne, weil das Gegentheil bereits unerschütterlich feststehe, — weil die durch das Beweismittel zunächst zu beweisende Thatsache die Schlussfolgerung nicht gestatte, welche die Partei daraus ziehen will — weil von vornherein feststehe, dass durch d i e s e s Beweismittel selbst das nicht bewiesen werden kann, was es unmittelbar beweisen soll — oder gar. weil nicht zu erkennen sei, wie so das vorgeschlagene Beweismittel diesen Beweis herstellen könnte (ζ. B. wie der vorgeschlagene Zeuge in der Lage sein konnte, den Umstand wahrzunehmen, der durch ihn bestätigt werden soll) — oder endlich, weil dem Beweismittel von vornherein die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird. Es liegt hier der berechtigte Gedanke zu Grunde, dass der Beweiswürdigung nicht vorgegriffen werden soll, selbst nicht wenn diese dem Gericht zusteht (weil es erst zu hören und zu prüfen und dann zu entscheiden hat. nicht umgekehrt), und noch weniger dann, wenn die Beweiswürdigung gar nicht Sache des Gerichts, sondern der Geschwornen ist, Ist dieser Gedanke berechtigt, und zwar nicht blos für die Fälle des § 244, so ward bei Feststellung dieses. Paragraphen andererseits übersehen, dass auch die Freiheit der Beweiswürdigung nicht alles Beweisrecht abgeschafft hat und dass die Handhabung des letzteren Sache des Gerichts und u m 2

Selbst das Uebersehen einer nach § 244 StPO zu vernehmenden Auskunftsperson, begünstigt durch die Erklärung der Partei, dass sie keinen Beweisantrag mehr zu stellen habe, hat die Vernichtung der Ilauptverhandlimg zur Folge. RGF v. 12. Februar 1881 Rspr I I I 42.

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so n i e h r gerade dann ist, wenn die Würdigung des geführten Beweises ihm n i c h t zukommt und es also nur indirect dafür sorgen kann, dass der ergehende Spruch auf Beweis und nicht auf willkürlichen Annahmen und unentscheidenden Eindrücken beruhe. Aber auch abgesehen hievon war man bei der Entwerfung der jetzt geltenden Texte sich darüber klar, dass dieselben gewisse Missbräuche empfindlicher Art ermöglichen, und wenn man einerseits nieinte, sich über diese Gefahr hinaussetzen zu können, so glaubte man andererseits doch auch genügende Vorsorge dagegen getroffen zu haben, oder hatte nicht die Absicht , auf dieselbe gänzlich zu verzichten. So beruht namentlich der § 219, der im § 244 seine im Entwurf allerdings nicht beabsichtigte Ergänzung fand, auf der Erwägung, dass man gegen die Häufung überflüssiger Ladungen seitens des Angeklagten nicht blos durch die diesem hieraus erwachsenden Kosten, sondern auch durch die Befugniss des Gerichts geschützt sei, endgiltig in der Hauptverhandlung über die Benutzung des Beweismaterials zu entscheiden und also missbräuchliches abzuwehren. Letztere Schranke ward jedoch principiell beseitigt ; erstere erweist sich mindestens bei den „herbeigeschafften Beweismitteln" nicht als ausreichend. Es scheint, dass die besorgten Missbräuche sich bald zeigten; jedenfalls aber musste der principielle Dualismus empfunden werden, welcher in die Verfügung über das Beweismaterial gebracht war und der zur Folge hat, dass das Gericht je nach dem Vorhandensein oder Fehlen gewisser Aeusserlichkeiten verschiedene Hechte und Pflichten zu üben hat und in den Fall kommen kann, einen Beweisantrag, den es unter anderen Umständen aus sachlichen Gründen zurückweisen müsste, aus formellen Gründen zulassen zu müssen, und gewiss wird eben dämm die Vorschrift des £ 244 als eine Abweichung von dem an sich naturgeniässen. als eine Ausnahme betrachtet, die man glaubt möglichst strenge einengen zu müssen. Alles dies blieb nicht ohne (nicht immer berechtigten) Einfluss auf mannichfache die Anwendung des § 244 betreffende Controversen, welche in der Literatur und Rechtsprechung auftauchten und welche mit dem Bestreben zusammenhängen, das Gebiet der ersteren scharf abzugrenzen 3. :> ' Siehe v. P r i t t w i t z , Ueber die Anwendung des § 244 StPO in G A 1880 S 426 ff. F u c h s in HH I I 76: Geyer § 194 I I I ; D o c h o w RStP S 224. 225. V o i t u s, Controversen I 1 — 21. Dagegen S c h w a r z e , Erörterungen S 77 ff. Besonders hervorzuheben ist hier folgende Aeusserung des RG: „Die Vernehmung muss erfolgen, nicht weil nach der Anschauung des Richters von derselben ein Ergebniss für die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu erwarten ist, sondern weil das Gesetz vermöge positiver Vorschriften beiden Theilen ein Recht darauf

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1. Die erste Bedingung der Anwendbarkeit des § 244 der StPO besteht darin, dass vor der Hauptverhandlung sich der W i l l e e i n e s h i e z u b e r e c h t i g t e n b e t h ä t i g t , ein bestimmtes Beweismittel zur Hauptverhandlung bereit zu stellen. Dieser Wille äussert sich: a. I n der Anordnung einer Vorladung oder der Herbeischaffung eines Beweismittels durch den Vorsitzenden, da nicht anzunehmen ist, dass die Unterlassung der Ausführung dieser Anordnung durch den hiezu verpflichteten Staatsanwalt (§ 213) an dem Rechte der anderen Betheiligten etwas ändern könne. b. I n der f ö r m l i c h e n L a d u n g , welche der Staatsanwalt oder der Angeklagte unmittelbar bewirken, wobei zu bemerken ist, dass die Motive (S 123) als Voraussetzung des Rechts der unmittelbaren Ladung, der Ladung von Auskunftspersonen „ohne Vermittelung des Gerichts", „die in Aussicht genommene Organisation der gerichtlichen \ 7 ollziehungsbeamten" bezeichnet. I n dem Falle, wo nach dem Inhalt der A n k l a g e s c h r i f t eine Ladung in Aussicht gestellt ist, kann durch die Unterlassung der Ladung an dem Recht der anderen Betheiligten nichts geändert werden 4 . — Wo die unmittelbare Ladung nicht ausführbar, die Intervention des Gerichtes nothwendig ist, um das Erscheinen des Zeugen zu erwirken, ist maassgebend, ob diese Intervention bewilligt oder versagt ward. Ist daher die e omni iss a r i s che V e r n e h m u n g eines Zeugen vom Gericht bewilligt worden, so bildet das Ergebniss derselben einen notwendigen Bestandtheil der Hauptverhandlung 5 . giebt" (RGE v. 19. Februar 1880 Annalen I 490). — RGE v. 12. Januar 1880 Rspr I 218: „Dass über den Umfang der Beweisaufnahme das Gericht zu befinden und von ganz zwecklosen Erhebungen Umgang zu nehmen hat, liegt im AVesen einer gesunden Strafrechtspflege begründet". — RGE v. 7. April 1880 Rspr I 551: „Die Vorschrift des § 244 Absatz 1 der StPO enthält eine A u s n a h m e von dem Grundsatze, wonach der Richter bei der Untersuchung und Entscheidung der in der Anklage bezeichneten That zu selbständiger, von den Anträgen der Betheiligten unabhängiger Thätigkeit berechtigt und verpflichtet ist. Die exceptionelle Natur der gedachten Vorschrift lässt daher eine ausdehnende Erklärung derselben . . nicht zu". — In einem Falle, wo zunächst dargethan ward, dass § 244 nicht Anwendung finde, wird (1er Gegensatz dadurch ausgedrückt, dass der „gestellte Antrag nach § 243 StPO der freien Würdigung des Gerichtes überlassen" war (RGE v. 9. Juni 1880 Rspr I I 451). 4 Im entgegengesetzten Sinn entschied das RGE v. 23. Februar 1880 Rspr I 376 ff., wobei jedoch das aus der unterlassenen Vorladung abgeleitete Motiv nur nebenher geht. 5 Das RGE v. 26. Mai 1880 Rspr I 826 bezeichnet zutreffend das bezügliche Protokoll als ein „herbeigeschafftes Beweismittel". Der Fall bot aber die Specialität, dass der \Terlesung an sich Formbedenken entgegenstanden, und das RG spricht

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c. In der E r w i r k u n g des (freiwilligen) Erseheinens eines Zeugen oder Sachverständigen, sofern dieselbe nur bis zu Beginn der Hauptverhandlung zur Kenntniss des Gerichts gebracht ist, der sog. G e s t e l l u n g oder S i s t i r u η g desselben. Das Reichsgericht hat in einer Reihe von Entscheidungen den entgegengesetzten Grundsatz aufgestellt und dieser hat auch in cler Literatur, wenn auch nicht überall, Billigung gefunden 6 . Der hiefür geltend gemachte Grund beruht wesentlich auf einer Wortauslegung: „Der § 221 der StPO unterscheidet zwischen vorgeschlagenen und gestellten Zeugen" und ebenso zeigt „die Gegenüberstellung von Zeugen und Sachverständigen mit clen anderen herbeigeschafften Beweismitteln" in §§ 220, 243 Abs. 3, § 244 Abs. 1 cler StPO, dass mit letzteren Worten in § 244 nicht die „gestellten Zeugen" gemeint sein können (RGE v. 10. Febr. 1880 s. Anm 6). Da indess im § 221 nicht eine G e g e n ü b e r s t e l l u n g , sondern eine G l e i c h s t e l l u n g cler geladenen und cler zu stellenden Zeugen stattfindet und die anderen angeführten Paragraphen keineswegs einen Gegensatz cler „Herbeischaffung" und cler „Ladung" betonen, so kann nur zugegeben werden, dass § 244 sich nicht genau genug an § 221 anschliesst, um die Frage ausdrücklich zu entscheiden. Immerhin fallen „gestellte" Zeugen unter den Wortlaut: „herbeigeschaffte Beweismittel". Man wird indess besser thun, auf Sinn und Zweck des Gesetzes und eben darum auch auf die zu vermeidende Gefahr des Missbrauchs zu sehen. Das Gesetz stellt nach § 221 (und diese Bestimmung steht mit § 219 in unverkennbarem Zusammenhange) dem Angeklagten die „Stellung" cler Zeugen anheim und beschränkt ihn bei keiner cler beiden Formen cler Erwirkung des Erscheinens durch eine Notificationsfrist. Wem es also um Missbrauch zu thun ist, der wird sich von der Ladung durch nichts abhalten lassen als durch das, was auch vom redlichen Gebrauch abhält: Mangel cler Mittel. Die Ausschliessung cler „Gestellten" von § 244 wTäre daher eine weitere nur aus, dass das Beweismittel nicht hätte einfach ignorirt und letzteres erst im Endurtheil ausgesprochen werden sollen. 6 Die im Texte vertretene Ansicht theilte K e l l e r , Bern 1 zu § 244 der 1. Aufl.; jetzt ist auch er (Bern 4 zu § 244) der entgegengesetzten Ansicht, ebenso bei Commentirang dieses § L ö w e Bern 2 a ; B o m h a r d Bern 2; V o i t u s Bern 2; D a l c k e Bern 3; P u c h e l t Bern 2; ferner Geyer § 194 Anm 6; D o c h o w S 225 Anm 15; F u c h s HH I I 77; V o i t u s , Controversen S 15 if. Von den zahlreichen Erkenntnissen des RG in letzterem Sinne Ε ν. 10. Febr. 1880 Rspr I 335 ff., 14. Febr. 1880 das. 356 (betrifft einen Fall blos „behaupteter" Ladung), 7. April 1880 Rspr I 549, 26. Juni 1880 Rspr I I 126 if. (indirecte Bestätigung), 4. Januar 1882 Rspr IV 14. Binding. Handbuch. IX. 4. I : G l a s e r . Strafprozess. 1. 26

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as Beweismaterial in

er Hauptverhandlung.

Steigerung des durch die §§ 218 if. begründeten Unterschiedes zwischen Bemittelten und Vermögenslosen. Eine wirkliche Gefahr, die nicht mit der Ladung ebenfalls verbunden wäre, träte erst dann ein, wenn L ö w e Recht hätte, der gegenüber der ratio legis dem Wortlaut das entscheidende Gewicht deshalb zuspricht, weil man „andernfalls mit Rücksicht auf § 245 Abs. 1 nicht berechtigt sein würde, zwischen den b e i B e g i n n der Beweisaufnahme und den erst s p ä t e r gestellten Zeugen u. s. w. zu unterscheiden". Diese Berechtigung wird aber meines Erachtens durch § 245 Ζ . 1 in keiner Weise beeinträchtigt ; sie ist ganz unentbehrlich, wenn nicht der Dualismus der Beweisquellen zu vollster Verwirrung führen soll. Ohne diese Unterscheidung könnte die Anwendung des § 244 auf w ä h r e n d der Hauptverhandlung bewirkte Ladungen gefordert werden, und die während der Haupt Verhandlung herbeigeschafften Beweismittel wären jedenfalls bedenklicher, als die vor derselben „gestellten Zeugen". — Fallen diese unter die Regel des § 244, so ist es überdies nicht nothwendig, mit peinlichem Formalismus die Ladungen zu prüfen, wodurch man in Gefahr kommt, den nicht erfolgten Ladungen die nicht gehörig vorgenommenen, nicht streng nachgewiesenen, nicht sofort nachweisbaren gleichzustellen, wozu sich Ansätze schon in den Anm 6 angeführten Erkenntnissen des RG zeigen. d. In der „Herbeischaffung anderer Beweismittel". Dieser Ausdruck geht einerseits über die Parallelisirung mit der Vorladung hinaus, indem er bereits den Erfolg der auf Bereitstellung des Beweismittels berechneten Thätigkeit einschliesst, andererseits bleibt er hinter derselben zurück, da er jede Form der hierauf abzielenden Thätigkeit, auch der indirecten, mit umfasst. — Es liegt daher in der Natur der Sache, dass sich hier nicht so scharfe Abgrenzungen vornehmen lassen und dass theilweise Fragen vorweg genommen werden müssen, die bezüglich der Auskunftspersonen erst später zu besprechen sind. Unter den B e w e i s in i t t e l η spielen neben Ueberweisungsstücken (Gegenstände und Spuren des Verbrechens u. s. w.) Urkunden und Schriftstücke die Hauptrolle. Als „herbeigeschaffte" Urkunden betrachtet das Reichsgericht: die vom Staatsanwalt herbeigeschafften und dem Angeklagten notificirten, die vom Vorsitzenden auf Antrag des Angeklagten oder von Amtswegen (und die vermöge Gerichtsbeschlusses) herbeigeschafften 7. Denselben stehen zur Seite die vom Angeklagten unmittelbar, d. h. ohne Vermittelung des Gerichts herbeigeschafften, solche, bezüglich welcher er selbst bei der Behörde, in deren Händen sie sich befinden, die Uebersendung an das Strafgericht erwirkt hat. 7

RGE v. 19. April 1880 Ann I 570, s. das. I 263. 267. 386. 387. 491.

§ 41.

Verfügung über das Beweismaterial in cler Hauptverhandlung.

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wie z. B. Akten eines Civilgerichts 8 : ferner solche, die er selbst besitzt oder sich verschafft, so dass i n d i e s e r H i n s i c h t gar keine Beschränkung der Ansprüche, die cler Angeklagte (das gleiche gilt übrigens vom Privatkläger) an die Zeit des Gerichts stellt, zu finden ist. Indess, der blosse Umstand, dass das Beweismittel, namentlich das Schriftstück, sich in den Händen des Gerichts und selbst bei den Akten befindet, genügt nicht, um dasselbe zu einem „herbeigeschafften Beweismittel" zu machen; es muss irgend ein Berechtigter clen Willen an den Tag legen, sich dieses Beweismittels bei der Hauptverhandlung zu bedienen, und, so viel an ihm, dafür sorgen, class es bei Beginn derselben zur Stelle sei 9 . Die Mannichfaltigkeit der Gegenstände, welche „herbeigeschafft" werden können, bringt es übrigens mit sich, dass auf clas Wort „ B e w e i s m i t t e l " hier Gewicht gelegt und clem Gericht die Befugniss gewahrt werden muss, Dinge zurückzuweisen, denen aus einleuchtenden, im Zwischenerkenntniss darzulegenden Gründen die Eignung zum Beweismittel unbedingt a priori abgesprochen werden muss (ζ. B. Schriftstücke und Drucksachen, deren Ursprung oder deren Zusammenhang mit der Sache sich nicht feststellen lässt, — Aufsätze des Angeklagten, bezüglich deren nicht behauptet werden kann, class ihr nachweisbares Vorhandensein an einem bestimmten Orte, zu einer bestimmten Zeit ein be- oder entlastendes Indicium bildet u. dgl. m.). 2. Es muss von Seite cles Berechtigten der Wille, von dem Beweismittel bei cler Hauptverhandlung Gebrauch zu machen, dem G e r i c h t e gegenüber ausgesprochen werden, und zwar vor oder in dem Augenblicke, wo die Hauptverhandlung „mit clem Aufruf der Zeugen 8

RGE v. 3. Mär/ 1880 Rspr I 404 ff. Darüber scheint das RGE v. 26. Juni 1880 Rspr I I 122 hinauszugehen. Es vernichtet wegen Ablehnung eines Antrages auf Verlesung der Denunciationsschrift: „Dieses Schriftstück war schon vor Eröffnung der Hauptverhandlung Bestandteil der Akten; es war »herbeigeschafft«, wenn auch nicht von einem der Prozessbetheiligten". Danach bedürfte es aber, da die unter § 244 fallenden Beweise „ohne Antrag" aufgenommen werden müssen, nicht einmal eines Antrags, um das Gericht zu verpflichten, alles verlesen zu lassen, was bei den Akten sich findet und dessen Verlesung nicht geradezu verboten ist. Ohnehin liegt in den herbeigeschafften Schriftstücken, wenn diese ohne Prüfung der Erheblichkeit des Inhaltes verlesen werden müssen, die grösste Gefahr für eine erträgliche Zeitökonomie und für die Erzielung eines einigermaassen verlässlichen Beweismaterials. — Später ward die Praxis strenger. Das RGE v. 9. Juni 1880 Rspr I I 45 rechtfertigt die Nichtanwendung des § 244 damit, es fehle der Beweis, „dass die fraglichen Erkenntnisse dem Gerichte vorgelegen hätten". Die RGE v. 27. Sept. u. 16. Dec. 1881 Rspr I I I 558 u. 806 verlangen noch specielle Hervorhebung. 9

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und Sachverständigen beginnt" (§ 242). Diese Anforderung wird allerdings gegenstandlos bezüglich der Beweismittel, die cler Vorsitzende oder das Gericht selbst herbeischaffen. Anders bezüglich der Parteien. Hier ist es von der grössten Wichtigkeit, dass das Gericht in der Lage sei, i n der Hauptverhandlung gestellte Anträge von der Forderung der Benutzung bereits vorher herbeigeschafften Beweismaterials zu unterscheiden, und dazu ist nothwendig, dass dieses spätestens bei Beginn der Hauptverhandlung vorgebracht werde ; es ist auch nothwendig, dass das Gericht in diesem Augenblick das vorbereitete Beweismaterial übersehe, damit es die ihm dienlich scheinenden Ergänzungen beschliessen und durch den Vorsitzenden die Beweisaufnahme leiten, auch die Beobachtung der Vorschrift des § 242 Abs. 3 überwachen könne 1 0 . Zweck der Namhaftmachung der Beweismittel und Zeitpunkt derselben sind also klar angedeutet. Wird daran festgehalten, so wird auch die früher erwähnte Besorgniss des Missbrauchs der gestellten Zeugen gegenständes und die viel berechtigtere bezüglich cler „Herbeischaffung" von Schriftstücken, beziehungsweise der beliebigen.Hervorzerrung derselben aus den Akten, wenigstens gemindert. Dem Zwecke ist aber durch jede dem Gericht gegenüber bei Beginn der Hauptverhandlung abgegebene oder zu den Akten gebrachte Berufung auf das Beweismittel unter Angabe der Art der erfolgten Herbeischaffung genügt; eines N a c h w e i s e s cler letzteren wird es zu diesem Zwecke nicht bedürfen, da das Resultat der Herbeischaffung vorliegen muss, die Art derselben aber gleichgültig ist 11. (Mit der Pflicht der Mittheilung an den Beweisgegner und clem Princip der G e m e i n s a m k e i t , auf welches viele die Bestimmung des § 244 Abs. 1 zurückführen 12 , steht 10

P u c h e l t Bern 3 zu § 242 unter ausdrücklicher Erwähnung der „gestellten" Zeugen. Das RGE v. 12. Febr. 1881 Rspr I I I 42 erklärt, dass die Herbeischaffung von Akten ohne Antrag auf Verlesung nicht genüge, die Pflicht dazu zu begründen. 11 Vgl. RGE v. 10. April 1880 Rspr I 571. Das Ε ν. 7. April 1880 Rspr I 549 behandelt Zeugen, von deren Vorhandensein der Angeklagte dem Gerichte Mittheilung machte, ohne die erfolgte Ladung nachzuweisen, als sistirte und daher nicht nach § 244 zu vernehmende; w a n n der Vertheidiger die fragliche Mittheilung machte, ist nicht zu ersehen. — Von dem Standpunkte aus, den das Reichsgericht bezüglich der „gestellten" Zeugen einnimmt, ist die im Text erörterte Frage natürlich anders zu entscheiden: da die L a d u n g entscheidet, muss sie erwiesen werden. 12 So ζ. B. S c h w a r z e Bern 1 zu § 244; Geyer § 194 I I I Nr 1. — Aus dem Grundsatze der Gemeinschaftlichkeit der Beweismittel folgt nur, dass das einmal angebotene und dem Gegner angezeigte Beweismittel nicht mehr einseitig vom P r o duc enten zurückgezogen werden kann, und dies war in dem Entwürfe und dessen Motiven nicht minder scharf betont als im 2. Satz des § 244;

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dies nicht im Zusammenhange; die daraus sich ergebenden Folgerungen sind ganz andere.) 3. Es muss gelungen sein, das Beweismittel zur Stelle zu schaffen ; die vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen müssen auch wirklich erschienen sein 1 3 . I n dem Wortlaut des Gesetzes, das nur von „vorgeladenen" Zeugen u. s. w. spricht, und das durch Erwähnung der „anderen herbeigeschafften" Beweismittel diese Frage so wenig als die cler „gestellten" Zeugen lösen wollte, findet diese Ansicht allerdings keine genügende Unterstützung. Eher kann man aus dein Bericht der Commission cles Reichstags (S 64) folgern, class man bei Abfassung des § 244 nur dem Gericht die Befugniss absprechen wollte, wirklich vorhandene Beweismittel zurückzuweisen. Entscheidend ist aber wohl clie Bemerkung im RGE v. 7. April 1880: „ I n einem Falle, in welchem die ursprünglich zur Hauptverhandlung vorgeladenen Zeugen nicht erschienen sind, handelt es sich nicht mehr unmittelbar und zunächst um deren Vernehmung, sondern um anderweite Ladung dieser Zeugen, bezw. um die Aussetzung cler Verhandlung zu diesem Zwecke". Hier steht also dem § 244 zunächst § 227 Abs. 1 entgegen. An die Stelle des unbedingten Rechts aller Betheiligten auf Vernehmung des \7orgeladenen tritt hier clas Recht, einen Antrag auf Aussetzung zu stellen, und clas Recht und die Pflicht des Gerichts, sich bei der Entscheidung über denselben von clen sachlichen Erwägungen leiten zu lassen, die seine Beschlüsse über i n der Hauptverhandlung gestellte Beweisanträge überhaupt bestimmen 14 . — Anders gestaltet sich meines Erachtens die Sache, wenn es einer Aussetzung cler Hauptverhandlung nicht bedarf und wenn cler v o r g e l a d e n e Zeuge ( h i e r ist dann es folgt aber aus demselben gar nichts fur die Frage, bezüglich welcher Entwurf und Gesetz einander gegenüberstehen: ob das Gericht ein angebotenes Beweismittel als unzulässig oder entbehrlich zurückweisen kann. 13 RGE v. 29. Jan. 1880 Rspr I 293, v. 10. Febr. 1880 Rspr I 333, v. 7. April 1880 Rspr I 554. — S c h w a r z e Bern 2 zu § 227 und 4 bei § 244; L ö w e Bern 2b zu § 244; B o m b a r c i Bern 2 das.; P u c h e l t Bern 2 das. 14 Immerhin wird das Gericht auch auf die Ursache des Nichterscheinens billige Rücksicht nehmen und verhüten, dass durch Willkür einer Partei der Gegner um sein Recht gebracht werde, z. B. wenn die in der Anklageschrift in Aussicht gestellte Ladung unterblieb, oder wenn die schon erfolgte und notificirte Ladung rückgängig gemacht wurde. In dem dem RGE v. 16. Dec. 1879 Rspr I 156 zu Grunde liegenden Falle (vgl. L ö w e a. a. O.) bestand diese Billigkeitsrücksicht nicht, weil dem Angeklagten die Möglichkeit geboten war, die Ladung seinerseits noch zu erwirken. Wäre nun der Zeuge erschienen, so hätte der erfolgte Verzicht cler Staatsanwaltschaft auf die von ihr bewirkte Ladung nicht dazu berechtigt, den Zeugen als einen „gestellten" zu behandeln.

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allerdings die Form der Ladung niaassgebend) zwar nicht beim Zeugenaufruf, aber noch im Laufe des Beweisverfahrens erscheint oder gestellig gemacht werden kann. — Andere Beweismittel müssen „herbeigeschafft" sein in dem Sinne, dass ihre Benutzung in der Hauptverhandlung ohne weiteres möglich ist. Sie müssen also, sofern sie sich nicht bereits in den Händen des Gerichts befinden, demselben überreicht werden. 4. Eine nicht unwichtige Frage ist es, ob ein Beweismittel, auf welches § 244 einmal Anwendung fand, diese Eigenschaft von selbst für die erneuerte Hauptverhandlung behält, welche durch Aussetzung oder erfolgreiche Revision nöthig wird. Diese Frage ist zu verneinen, da die neue Hauptverhandlung einen vollständig neuen Charakter annimmt, und es daher auch einer neuen Feststellung des für dieselbe nöthigen Beweismaterials bedarf. Bei entgegengesetzter Auffassung müsste von Amtswegen für die neuerliche Vorladung der zur ersten Verhandlung durch unmittelbare Ladung gerufenen Zeugen gesorgt werden 1 5 . 5. Ist den oben unter 1—3 bezeichneten Anforderungen entsprochen, so folgt daraus nur, dass das Gericht nicht aus dem Grunde die Beweisaufnahme ablehnen kann, weil es sich für die Aufklärung einer von ihm festzustellenden Thatsache davon keinen Erfolg verspricht; es bleibt aber immerhin noch eine Reihe von Fragen übrig, welche nicht einfach durch Berufung auf § 244 Abs. 1 abgeschnitten werden können: a. Das Gericht ist ni. E. nicht verpflichtet, Beweise über Thatsaehen zuzulassen, welche nach seiner Auffassung mit "der in Verhandlung stehenden Sache gar nicht zusammenhängen und von vornherein deutlich als unentscheidend erkennbar sind. Vgl. oben § 36 V. b. Wenn es sich in Folge einer unerwarteten Wendung in der Hauptverhandlung herausstellen sollte, dass clas Verhandlungsmaterial wesentlich eingeschränkt werden kann, so steht § 244 clem nicht entgegen; maassgebencl ist nur die Feststellung cler in der Hauptver15 Das RGE v. 3. Nov. 1880 Rspr I I 437 scheint den entgegengesetzten Grundsatz anzuerkennen; es handelte sich um Schriftstücke, die bei den Akten geblieben waren und bezüglich welcher allerdings das im Text unter 3 bezeichnete Erforderniss erfüllt war; m. E. aber scheint es nicht zu genügen, dass „von Seite des Angeklagten nichts geschehen, woraus zu entnehmen gewesen wäre, dass er . . . auf die Benutzung der Schriftstücke als Beweismittel Verzicht geleistet habe" (sein Verzicht hätte ja an dem Recht der anderen gar nichts geändert), und es hätte ein ausdrücklicher Antrag und zwar vor Beginn der Hauptverhandlung gestellt werden müssen.

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handlung zu lösenden Aufgabe; doch diese Frage kann nicht hier erörtert Averden. c. Die Bestimmung des § 244 kann in keinem Fall das Gericht des Rechts und der Pflicht entkleiden, die rechtliche Zulässigkeit der angebotenen Beweismittel zu prüfen. Je weniger zahlreich die Bestimmungen des geltenden Rechts sind, welche darauf abzielen, die Verlässlichkeit der zuzulassenden Beweismittel von vornherein zu sichern, statt alles nachträglicher Prüfung anheinizustellen, desto weniger ist es denkbar, dass diese Bestimmungen einfach dem Parteiwillen, und zwar dem einseitigen, zu weichen haben. Wenn es daher einerseits richtig ist, dass eidesunfähige Zeugen nichtsdestoweniger, wenn auch unbeeidet, zu vernehmen sind, sobald die Vorladung derselben erfolgt i s t 1 6 , so ist andererseits dem Gericht die Befugniss nicht zu bestreiten, einen als Sachverständigen vorgeladenen zurückzuweisen, wenn es ihm diese Eigenschaft mit gutem Grund abspricht 1 7 oder wenn es ein gesetzliches Hinderniss seiner Vernehmung vorfindet, — ein herbeigeschafftes Schriftstück nicht verlesen zu lassen, wenn dies nach 258 ff. nicht zulässig i s t 1 8 , — nicht ohne weiteres ein Mitglied des Gerichts dadurch beseitigen zu lassen, dass dasselbe als Zeuge vorgeladen wird 1 9 . d. Ueber den Einfluss der Unterlassung oder Verspätung der gesetzlich vorgeschriebenen Mittheilung der Beschaffung von Beweismaterial s. unten § 42. I I I . Das nicht unter § 244 begriffene Beweismaterial wird durch B e s c h l ü s s e bestimmt, die das Gericht entweder von Amts wegen oder auf Antrag der Parteien fasst. Bezüglich beider Vorgänge ist zu bemerken, dass wenn die angeordnete Beweisaufnahme nicht 1(J

17 L ö w e Bern 3 bei $ 244. L ö w e Bern 4 das. RGE v. 31. März 1880 Rspr I 523 (Nichtverlesung eines in einem herbeigeschafften Schriftstück enthaltenen Leumundszeugnisses). — Dagegen missbilligt das RGE v. 26. Mai 1880 Rspr I 826 die Nichtbenutzung des Protokolls über eine mangelhafte commissarische Zeugenvernehmung, allerdings nur in der Richtung, dass dem Mangel hätte abgeholfen werden sollen. — In dem Umstand, dass ein Zeuge ungehöriger Weise im Saale anwesend war, sieht das RGE v. 15. April 1880 Rspr I 604 mit Recht keinen genügenden Grund, von der Vorschrift des § 244 abzugehen, da jener Umstand eine Zeugenvernehmung nicht unzulässig mache. — Nach RGE v. 12. Febr. 1881 Rspr I I I 42 bleibt die \Torschrift des § 244 so lange bindend, bis erkennbar ist, dass der Zeuge von § 54 Gebrauch macht. 19 P u c h e l t Beni 2 bei § 244 u. Bern 8 bei § 22; L ö w e Bern 3 bei § 244 u. Bern 20 bei § 22. Schwierigkeiten, die sich der Beweisaufnahme entgegensetzen, müssen bona fide bekämpft werden. Das RGE v. 10. Nov. 1881 Rspr H 708 vernichtete eine Hauptverhandlung, weil die Vernehmung eines unter § 244 fallenden Zeugen deshalb unterblieb, weil er nicht deutsch konnte. 18

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sofort auszuführen ist, zugleich die A u s s e t z u n g d e r V e r h a n d l u n g ausgesprochen werden muss. Handelt es sich dabei um Beweisaufnahmen, welche für die Hauptverhandlung durch einen beauftragten oder ersuchten Richter durchgefühlt werden können, so wird dies auch in diesem Stadium der Sache geschehen dürfen. Muss die Hauptverhandlung von neuem begonnen werden (§ 228), so tritt die Sache überhaupt in das Stadiuni der Vorbereitung der Hauptverhandlung zurück und leben insbesondere die in demselben dem Vorsitzenden zukommenden Befugnisse wieder auf; in das Stadium der Voruntersuchung gelangt die Sache durch einen solchen Aussetzungsbeschluss nie zurück 2 0 . Für die Beschlüsse, die das Gericht von Amts wegen fasst, ist nur seine Ansicht von der Erspriesslichkeit der angeordneten Beweisaufnahme für die Aufklärung des relevanten Sachverhalts maassgebend. Nicht vorgeschrieben, aber zweckmässig und billig ist, vor solchen Beschlüssen die Parteien zu hören. Wird von irgend einer Seite Widerspruch erhoben, so müssen die dafür vorgebrachten Gründe gewürdigt werden und eventuell ist auch der bereits gefasste Beschluss wieder aufzuheben. — Um so mehr Gewicht wird darauf gelegt, dass der Vorsitzende i n der Hauptverhandlung das ihm im § 220 eingeräumte Recht nicht ausüben und dort weder Ladungen noch andere Beweiserhebungen von A m t s w e g e n verfügen könne 2 1 . So wie aber 20

L ö w e Bern 7b b bei § 243: RGE v. 1. Mai 1880 Rspr I I 33. — Die Sache hat ihr missliches, weil sich der Umfang der erforderlichen Erhebungen und Ladungen nicht immer sofort mit solcher Bestimmtheit wird feststellen lassen, wie nöthig wäre, um für die Hauptverhandlung eine gesicherte Grundlage zu bieten, und weil aus einzelnen Erhebungen, die noch vor der neuen Hauptverhandlung im Sinne der §§ 222—224 vorzunehmen sein können, die Notwendigkeit weiterer Erhebungen sich ergeben kann, für welche es eines Mittelpunktes bedarf, wie er füglich nur im Untersuchungsrichter gefunden werden kann: denn auch der Vorsitzende der neuen Hauptverhandlung darf nur neue Ladungen, nicht Erhebungen veranlassen. Es kann somit die Notwendigkeit einer neuen Vertagung sehr leicht eintreten. Ist es ferner so ganz unmöglich, dass das Gericht zumal bei unmittelbaren Anklagen die N o t wendigkeit einer gründlicheren Vorbereitung erkennt, und muss dann dem erkennendem Gericht die Befugniss versagt sein, welche dem Anklagegericht zusteht? Muss die Rechtskraft des Eröffnungsbeschlusses so weit reichen? 21 P u c h e l t Bern 3 bei § 243. Die Motive (S 124 u. 134) verwahrten sich nachdrücklich gegen die Annahme, als ob dem Vorsitzenden das französische pouvoir discrétionnaire eingeräumt werden sollte. Das Gesetz spricht im Abs. 3 des § 243 nur vom Gericht und erwähnt einer gleichen Befugniss des Vorsitzenden nicht. Allerdings hatte der Entwurf an der dem Abs. 2 des § 243 des Gesetzes entsprechenden Stelle einen Gerichtsbeschluss für nöthig erklärt, „wenn einer von dem Vorsitzenden angeordneten Beweishandlung widersprochen wird", und es ist diese Stelle

§ 41.

Verfügung über clas Beweismaterial i n cler Hauptverhandlung.

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die Praxis bereits zuzulassen beginnt , class allseitige stillschweigende Zustimmung zu einer

s o l c h e n Verfügung

des Vorsitzenden als E r -

satz eines ausdrücklichen Gerichtsbeschlusses g i l t , clen F a l l a n e r k a n n t ,

wo der Vorsitzende

einem unbestrittenen Antrage

so ist dasselbe für

u n t e r gleichen U m s t ä n d e n

stattgiebt22.

Welche Stellung das Gericht bei B e w e i s a n t r ä g e n teien

einnimmt,

auch über Es k o m m e n

der

Par-

ist ausdrücklich nicht bestimmt, u n d deshalb sind

diese wichtige

Frage

mannichfache

hier nämlich die Bestimmungen

Zweifel

aufgetaucht.

cles § 248 Abs. 2 u n d

nur in Folge eines Kedactionsversehens als völlig überflüssig ausgeblieben ( S c h w a r z e Beni 8 zu § 243, and. Mein. P u c h e l t , welcher die Weglassung eben aus der Absicht erklärt, clem Vorsitzenden diese Befugniss abzusprechen — Beni 1 zu § 243). Allein abgesehen von dem mit erkennbarer Absichtlichkeit gewählten weiten Ausdruck, der selbst nach Ausschliessung ganzer Beweisaufnahmen noch einen Sinn behält, kann cler hier vorausgesetzte Fall jedenfalls dann eintreten, wenn der Vorsitzende einem auf eine Beweiserhebung abzielenden Antrag sofort Folge giebt. Das Reichsgericht hat jedoch (E v. 2. Juli 1880 Rspr I I 156, siehe auch L ö w e Beni 4a zu § 243, und dagegen D a l c k e Bern 1 zu § 243, G e y e r § 194 I I ) dem Vorsitzenden das Recht zugesprochen, von Amts wegen die Beweisaufnahme auf neue Erhebungen zu erstrecken, und da nun § 237 nur in dem Falle eine Entscheidung des Gerichtes zulässt, wenn die Anordnung des Vorsitzenden als u n z u l ä s s i g angefochten wird, so wäre hiemit clem Vorsitzenden ein beträchtlicher Theil des französischen pouvoir discrétionnaire wiederverschafft, etwa in gleichem Umfange, wie dies ihm die österr. StPO (§ 254) einräumt, ja noch in weiterem als selbst nach französischem Muster insofern, als die auf solche Weise berufenen Zeugen zu beeiden sind. — Ein Grenze fände die so aufgefasste Befugniss des Vorsitzenden erst, wenn die Beweisaufnahme die Notwendigkeit einer Aussetzung der Hauptverhandlung mit sich bringt (§ 250 Abs. 3), dann in den gesetzlichen Bestimmungen, welche einen Beweisakt für unzulässig erklären (während die französische Praxis clem pouvoir discrétionnaire gerade die Bedeutung beilegt, class der Präsident sich erlauben dürfe, was clas Gesetz dem Gerichte verbietet). — Es darf aber ferner nicht übersehen werden, dass das erw. RGE eigentlich nur eine stillschweigende Zustimmung des Gerichtes, eine Vertretung des letzteren durch den \rorsitzenclen zum Ausgangspunkt nimmt, „falls nicht hiegegen von irgend einer Seite . . . Widerspruch erhoben oder auf die Ertheilung eines formellen Beschlusses angetragen wird". Es ist also, wenn solcher Widerspruch erfolgt, nach der Ansicht des Reichsgerichtes die Beschränkung, die sich aus § 237 ergiebt, n i c h t maassgebencl. 22 L ö w e Bern 4a bei § 243; P u c h e l t Beni 3 das; S c h w a r z e Bern 8 das. Das in diesem Sinne ergangene RGE v. 2. Juli 1880 Rspr I I 156 ff. leitete die positive Berechtigung cles Vorsitzenden aus der Annahme ab, dass das Gesetz nicht clen entgegengesetzten AVillen an den Tag legt, class „dem Vorsitzenden auch die Vertretung des Gerichtes im allgemeinen habe zugewiesen werden wollen" ; s. auch RGE v. 5. Juli 1880 Rspr I I 160 und v. 15. Nov. 1880 Rspr I I 520. Nach § 238 der österr. StPO entscheidet das Gericht, wenn über einzelne Punkte des Verfahrens „von den Parteien entgegengesetzte Anträge gestellt werden oder der Vorsitzende clem unbestrittenen Antrage einer Partei nicht stattzugeben findet".

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$ 245 Abs. 1 in Betracht. Aus ersterer ergiebt sich nur, dass ein Beweisantrag nicht anders als durch Gerichtsbeschluss abgelehnt werden dürfe, aus letzterer, dass die blosse Verspätung kein genügender Grund ist, eine Beweiserhebung abzulehnen. Es entstehen nun folgende Fragen: 1. Haben die Parteien ein Hecht darauf, dass jedem Beweisantrag stattgegeben werde, oder ist das Gericht berechtigt und verpflichtet, zu erwägen, ob von dem angebotenen Beweise ein Erfolg für die Aufklärung des Sachverhalts zu erwarten ist, überhaupt sich lediglich durch sachliche Erwägungen bei seinem Beschluss leiten zu lassen? Diese Frage ist entschieden in l e t z t e r e m Sinne zu beantworten 23 , und sie hätte kaum aufgeworfen werden können, wären nicht in den Berathungen, aus welchen § 244 der StPO hervorging, vielfach allgemeine Behauptungen aufgestellt worden, aus denen gefolgert werden könnte, dass ein solches Recht sachlicher Prüfung dem Gericht überhaupt, namentlich aber in Schwurgerichtsfällen, nicht zustehe, und hätte das Gesetz nicht, im Gegensatz zu § 244, hier auf jede sachliche Bestimmung verzichtet und nur die formelle Seite — das Verhältniss zwischen Gericht und \rorsitzenclem, die Noth wendigkeit eines Gerichtsbeschlusses — allein erwähnt. Aber eben weil § 244 von dem System des Entwurfs sich entfernt, § 243 aber keine Aenderung erfahren hat, die für diese Frage in Betracht käme, ist es klar, dass in allen nicht unter § 244 fallenden Punkten das System cles Entwurfs aufrecht erhalten blieb; dieses aber war im wesentlichen clas von der preussischen Praxis ausgebildete, worauf sich deshalb mit Recht S c h w a r z e 2 4 zur Erläuterung des § 243 beruft. 2. Auf der anderen Seite darf aber nicht übersehen werden, dass es sich um das wichtigste aller Parteirechte handelt, class namentlich das Wesen der Vertheidigung des Angeklagten durch clie Beweisfrage berührt w i r d 2 5 , class seine Unterlassung früherer Vorsorge, selbst wo 23 S. ζ. B. RGE v. 12. Jan. 1880 Rspr I 218, wie überhaupt die Mehrzahl der oben angeführten, die Anwendung des § 244 einschränkenden Reichsgerichtserkenntnisse. L ö w e Bern 8 zu § 243, T h i l o Bern 2 das. und P u c h e l t Bern 3 das. In den Motiven zu § 243 S 137 heisst es : „Die Ablehnung eines Beweisantrages enthält den Ausspruch, dass der angetragene Beweis, selbst wenn er die Behauptungen des Antragstellers bestätigte, auf die richterliche Ueberzeugung von der Schuld oder Unschuld des Angeklagten ohne Einfluss sein würde". S. auch RGE v. 23. u. 29. Juni 1882 Rspr IV 633. 639 ; insbesondere das in einem Schwurgerichtsfalle die Nachprüfung der Annahme des Gerichtes ablehnende RGE v. 6. Mai 1882 Rspr IV 421. 24 Bern. 13 zu § 243. 2ri Vgl. bezüglich der Handhabung des früheren preussischen Rechtes, durch

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solche möglich gewesen wäre, daran nichts ändert, und dass daher die Anträge der Parteien auf sorgfältige Beachtung und Behandlung Anspruch haben. Es wird deshalb das Gericht sich einerseits von sachlichen Erwägungen, andererseits von der Achtung des Parteirechts und der Rücksicht auf die mögliche Anfechtung seines Beschlusses leiten lassen müssen. In dieser Hinsicht ist a. die B e s c h a f f e n h e i t des A n t r a g s selbst zu beachten. Es muss deutlich erkennbar sein, dass ein Antrag gestellt wird und w r as beantragt wird. I n ersterer Hinsicht genügt eine blosse A n d e u t u n g (wie ζ. B. es könne diese Thatsache bestätigt werden) wohl, um die Initiative des Gerichts in Bewegung zu setzen, nicht aber um ein Parteirecht zu begründen, über dessen Nichtachtung geklagt werden kann. In letzterer Hinsicht muss der Antrag s u b s t a n t i i r t sein, es muss deutlich erkennbar sein, was vom Antragsteller beabsichtigt wird, und es muss dem Gericht auch möglich sein, sein Prüfungsrecht auszuüben. Wenn in dem RGE v. 13. Januar 1881 2 6 gesagt ist: „Als Beweisantrag kann nur eine Erklärung gelten, welche den Willen, eine bezeichnete Thatsache durch ein bestimmtes Beweismittel bewahrheiten zu wollen, erkennbar kundgiebt" — so sollte damit gewiss die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, auch solche Beweisanträge zu stellen, die den Gegenstand der Beweisaufnahme wohl deutlich bezeichnen, nicht aber die Beweismittel, sofern nach Lage der Sache solche Unvollständigkeit gerechtfertigt i s t 2 7 . — Umgekehrt kann die Unvollständigkeit in der Bezeichnung des Beweisgegenstandes durch die Beschaffenheit des dargebotenen Beweismittels (z. B. „Ueberreichung eines Schriftstückes zur Benutzung bei der Beweisaufnahme" 28 ) gutgemacht werden. — Der Antrag muss übrigens in der Hauptverhandlung gestellt werden ; einen früher gestellten und unberücksichtigt gelassenen von Amts wegen zu beachten ist das Gericht so wenig verpflichtet (wenn gleiçh berechtigt), als es andererseits durch die früher dessen Bestimmungen der Entwurf der StPO vielfach beeinflusst wurde, O p p e n h o f f S 265 ff.; J o h n , Kritiken S 202 ff. 26 Rspr I I 727. Vgl. RGE v. 16. I)ee. 1879 Rspr I 156: „In der Ablehnung eines . . . unsubstantiirten Antrages kann die Verletzung einer Rechtsnorm nicht gefunden werden". Vgl. O p p e n h o f f S 266 Nr 8—12. 27 Ungenauigkeit in der Bezeichnung cler Beweismittel k a n n allerdings ein unüberwindliches Hinderniss der Ausführung des Antrages sein, ist aber auch nur unter dieser Voraussetzung ein genügender Grund für die Zurückweisung desselben. S. RGE v. 23. Jan. 1882 Rspr IV 63 (Antrag auf Ladung eines Zeugen ohne Angabe des Aufenthaltsortes). 28 RGE v. 3. Nov. 1880 Rspr I I 437 ff.

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as Beweismaterial i n

er Hauptverhandlung.

seitens des Vorsitzenden oder durch Gerichtsbeschluss erfolgte Zurückweisung gebunden i s t 2 9 . Ueber jeden gehörig gestellten Antrag muss das Gericht b. B e s c h l u s s fassen, diesen sofort oder doch noch im Laufe des Beweisverfahrens kundgeben und ihn entsprechend begründen. Die Beschlussfassung kann zwar verschoben werden, weil das Gericht Anlass haben kann, die Ergebnisse der ohnehin zu pflegenden Beweisaufnahme abzuwarten, ehe es über den Antrag entscheidet; allein da der über denselben gefasste Beschluss Anlass zu neuen Anträgen geben oder doch sonst die Haltung des Antragstellers im weiteren Verfahren beeinflussen kann, ist es nothwendig, dass derselbe noch während der Verhandlung verkündet werde und nicht erst in oder mit dem Urt h e i l 3 0 , während allerdings die Begründung im Endurtheil erfolgen oder durch dasselbe ergänzt werden k a n n 3 1 . — Die Anforderungen, welche an die Begründung dieser Beschlüsse gestellt werden 3 2 , fallen naturgemäss mit der Angabe der sachlichen Erwägungen, die das Gericht leiten müssen, und mit der Regelung seiner Stellung zum Revisionsgericht zusammen. Der entscheidendste Grund, welcher zur Ablehnung eines Beweisantrags bestimmen kann, wird die rechtliche Unerheblichkeit der zu beweisenden Thatsache sein, und die Meinung, welche sich das Gericht hierüber bildet, hängt allerdings mit der für das Endurtheil maassgebenden Beurtheilung cler Fragen des materiellen Rechts untrennbar zusammen (vgl. die oben Anm 23 angeführte Stelle der Motive). Damit ist aber die Reihe der „rechtlichen Erwägungen", welche hier maassgebend sein können, keineswegs geschlossen ; es kann die Ablehnung auch aus Gründen des Beweisrechts, ζ. B. wegen Unzu29

L ö w e Bern 10 bei § 243; B o m h a r d Bern 2 das. RGE v. 16. Dec. 1879 Rspr 1 156; 21. Jan. 1880 Rspr I 2-57; 13. März 1880 Rspr I 456. Abweichend mit Rücksicht auf die Besonderheit des Falles RGE v. 2. Febr. 1880 Rspr I 310. 31 RGE v. 16. Dec. 1879 Rspr I 158; 17. April 1880 Rspr I 612. Letzteres Erkenntniss betont jedoch daneben, dass der Antragsteller schon in der Verhandlung erfahren müsse, „ob für den Fall der Ablehnung rechtliche oder lediglich t a t sächliche Gesichtspunkte maassgebend gewesen sind. Nur solchenfalls wird er in den Stand gesetzt, bei den ihm nach § 257 der StPO vorbehaltenen Anträgen und Ausführungen seine Rechte in geeigneter Weise wahrzunehmen". — Auf der anderen Seite ist aber auch grosse Vorsicht nothwendig, damit das Gericht durch die Motivirung solcher Beschlüsse nicht seiner eigenen Entscheidung in der Hauptsache oder der der Geschworenen vorgreife oder gar noch zu vernehmende Auskunftspersonen beeinflusse. 32 S c h w a r z e Bern 13 zu § 243; T h i l o Bern. 2, P u c h e l t Bein 3. L ö w e Bern 9 b das. 30

§ 41.

Verfügung über clas Beweismaterial i n

er Hauptverhandlung.

413

lässigkeit des vorgeschlagenen Beweismittels, erfolgen. Da nach all diesen Seiten hin der Beschluss cles Gerichts cler Ueberprüfung durch das Revisionsgericht unzweifelhaft unterliegt, so wird mit Recht vor allem gefordert, dass erkennbar sei, ob und welche rechtliche Erwägungen clie Entscheidung beeinflussten 33 . Wenn im Gegensatz hiezu von thatsächlichen Erwägungen gesprochen wird, so darf als unbestritten angenommen werden, dass clas Gericht einen Beweisantrag ablehnen kann, wenn es aus cler Vergleiehung des vorhandenen Beweismaterials mit clem neuangebotenen die Ueberzeugung gewinnt, class von letzterem eine weitere Aufklärung des Sachverhalts nicht zu gewinnen sei, sei es weil es die Schlussfolgerung, welche aus der zu beweisenden Thatsache gezogen werden soll, als unbedingt unzulässig erkennt (ζ. B. Alibibeweis, cler nur so weit reichen würde, dass die Möglichkeit, von clem angegebenen Ort rechtzeitig an clen Thatort zu gelangen, gar nicht ausgeschlossen wird), sei es wTeil es das angebotene Beweismittel als zur Darthuung des zu beweisenden völlig unbrauchbar erkennt, sei es weil es umgekehrt clie durch den neuen Beweis zu erweisende Thatsache als eine bereits hinlänglich festgestellte ansieht. Alles dies fällt unter den Gesichtspunkt der dem Gericht anheimgestellten freien thatsächlichen Würdigung, welche einer Revision nicht anheimfällt, sofern die Gründe nicht erkennen lassen, class ein Rechtsirrthuni dabei unterl i e f 3 4 . Man hat aber bereits erkannt, class es einer festen Hand bedarf, die darüber wacht, dass nicht durch oberflächliche Redensarten 33

S. ζ. B. RGE v. 9. Juni 1880 Rspr I I 45 u. v. 16. Jan. 1880 Rspr I 239. RGE v. 2. Februar 1880 Rspr I 310: „Die Entscheidung der Frage, ob einem in der Hauptverhandlung gestellten Antrage auf eine Beweiserhebung stattzugeben sei, ist nach ihrer thatsächlichen Würdigung dem freien Ermessen des Gerichtes überlassen ; es kann hienach der Entscheidung des Revisionsgerichtes nicht unterbreitet werden, ob das Gericht nach dem thatsächlichen Ergebniss der bereits erfolgten Beweisaufnahme und der thatsächlichen Bedeutung des neuen Beweises, dessen Erhebung beantragt worden, von diesem Ermessen einen richtigen Gebrauch gemacht hat". Viel weiter geht das RGE v. 10. Jan. 1880 Rspr I 213: Es „ist das erkennende Gericht vollkommen berechtigt, eine solche Vernehmung abzulehnen, wenn es nach den Ergebnissen der Verhandlung die Ueberzeugung gewinnt, dass die Aussage der Zeugen, selbst wenn sie die Behauptung des Antrages bestätigen sollte, ohne Einfluss auf die Entscheidung der Schuldfrage bliebe und überhaupt keinen näheren Aufschluss gewähren würde. Ueber die Ergebnisse der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien . . . Ueberzeugung, und wenn es . . . das Zeugniss des Seh. über den vom Angeklagten bezeichneten Punkt deshalb für thatsächlich unerheblich erklärt, weil für die Anklage ein derartig überzeugender Beweis geliefert sei, dass derselbe durch das Zeugniss des Sch. nicht entkräftet werden könne, so hat es den Beweisantrag . . . berechtigter und zulässiger Weise abgelehnt". S. das in Anm 35 angef. RGE. 34

414

§ 42.

Beweisfrist.

ungenügende Prüfung der Beweisanträge jeder Anfechtung entzogen werde und dass derselben noch weniger Vorgänge entgehen, bei welchen unter Umkehr des gesetzlichen Verhältnisses nicht das Urtheil des Gerichts das Ergebniss des Beweisverfahrens ist, sondern der Umfang des letzteren durch das schon fertige Urtheil bestimmt wird. In diesem Sinne spricht sich ein Erkenntniss des Reichsgerichts aus, welchem für die Schaffung eines rationellen Beweisrechts deshalb eine hohe Bedeutung beizumessen ist, weil es die Verletzung von ungeschriebenen Fundamentalregeln des Beweisrechts als Verletzung von Rechtsnormen bezeichnet. Es wird dort die Forderung betont, dass der ablehnende Gerichtsbeschluss mit Gründen versehen sei (§ 34 StPO), „und zwar so, dass sich aus der Begründung ergiebt, ob die Ablehnung aus thatsächlichen oder aus rechtlichen Erwägungen geschieht, und dass auch . . . die letzteren ergeben, dass der Beweisantrag . . „ richtig aufgefasst und über clas Resultat der beantragten Beweisaufnahme nicht im voraus ein Urtheil gesprochen worden sei, welches erst auf Grund der stattgehabten Beweisaufnahme . . . gefällt werden konnte"35. § 42. G e g e n s e i t i g e B e z i e h u n g e n cler P a r t e i e n u n d des G e r i c h t s b e i cler B e s t i m m u n g des B e w e i s m a t e r i a l s . A.

Frist

für

Beweis und

Gegenbeweis.

I. Der Gegensatz, der den ganzen Strafprozess durchzieht und cler in den Satzungen cler deutschen Strafprozessordnung bezüglich der Beschaffung cles Beweismaterials einen so schroffen Ausdruck gefunden hat, macht sich auch bei der Feststellung der Grundsätze geltend, welche clie Verwerthung cles herbeigeschafften Beweismaterials beherrschen: es ist dies der Gegensatz zwischen dem Recht der Partei, clas nothwendig in dem cler Gegenpartei seine Grenze finden muss, auf deren Einhaltung diese muss dringen können, und der daraus erwachsenden selbständigen Bedeutung der F o r m — und dem Streben nach objectiver Wahrheit, deren Sieg weder durch blos formelle Schwierigkeiten, noch durch Willkür, Nachlässigkeit oder Uebersehen e i n e r oder beider Parteien soll beeinträchtigt werden können. Beweisführung und Beweismaterial lassen sich nach clen dargestellten Bestimmungen cler deutschen Strafprozessordnung nicht einfach unter den Gesichtspunkt cler Parteithätigkeit bringen. B e l a s t u n g s - und E n t l a s t u n g s b e w e i s stehen sich nicht, durch ihren Ursprung sofort 35

RGE v. 26. Juni 1880 Rspr II 126.

§ 42.

Beweisfrist.

kenntlich gemacht, schroff gegenüber (was auch auf die Gestaltung der Beweisaufnahme den später zu bezeichnenden Einfluss nehmen muss) ; höchstens wird der Entlastungsbeweis dadurch bezeichnet, dass er unmittelbar vom Angeklagten oder auf dessen Antrag vom Gericht beschafft wird, obgleich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, dass der Staatsanwalt oder das Gericht auch sonst ein Beweismittel herbeischaffen, weil sie sich davon eine Aufklärung zum Vortheil des Angeklagten versprechen. Dennoch muss sich in mancher Hinsicht auch der Umstand fühlbar machen, dass ein bestimmtes Beweismittel von einer oder der anderen Seite herbeigeschafft wurde. II. Wenn den Parteien ein Einfluss auf das Beweismaterial gestattet wird, so muss andererseits an sie die Forderung gestellt werden, dass sie die ihnen zukommenden Schritte rechtzeitig machen, damit die Hauptverhandlung unaufgehalten vorschreiten könne. Daraus würde sich die Notwendigkeit ergeben. ihnen hiefür bestimmte Fristen zu setzen. Die Strafprozessordnung hat aber unterlassen, dies nach dem Vorgange anderer Gesetze zu thun. Allerdings bringt es die Natur der Sache mit sich, dass das f ü r die Hauptverhandlung bestimmte Material vorher beschafft werden muss, und die Parteien müssen auch in der minder einflussreichen Stellung, die sie bezüglich des nicht in dieser Weise bereitgehaltenen Materials einnehmen, ein dringendes Motiv finden, hierin nichts zu versäumen. Dagegen stellt im übrigen die Strafprozessordnung deutlich den Grundsatz auf, dass V e r s p ä t u n g an sicli kein Grund ist, einen Beweisantrag abzulehnen (§ 245 Abs. 1). E s g i e b t k e i n e B e w e i s f r i s t . Anträge auf Beweiserhebungen können auch b e i der Hauptverhandlung, und zwar während des ganzen Verlaufes derselben 1, bis zur Urtheilsfällung, beziehungsweise bis zur Verkündung des Wahrspruches gestellt werden. Der Umstand, dass dazu früher Gelegenheit geboten war, mag bei der dem Gerichte zukommenden Erwägung der Frage mit berücksichtigt werden, ob der Antrag bona fide gestellt ist oder auf Verschleppung des Verfahrens abzielt; aber selbst die verschuldete Verspätung ist kein Grund, einen in sachlicher Hinsicht beachtenswerthen Antrag abzulehnen. III. Könnte aber die Wahrheit unter der Ausschliessung an sich verwerthbaren Beweismaterials um einer blossen Form willen Schaden 1 Hiemit. ist nicht zu verwechseln die notliwendige Zurückweisung des ganz unzulässigen Versuches, in die Parteivorträge die Production von Beweisen, namentlich von Urkunden einzuwehen. S. S c h w a r z e , Sachs. StPO v. 1855 I I 93.

416

§ 42.

Beweisfrist.

leiden, so könnte sie andererseits dadurch gefährdet werden, dass eine Partei hinterlistig mit überraschenden und täuschenden Beweismitteln zu einer Zeit hervortritt, wo es der Gegenpartei nicht mehr möglich ist, auch nur so weit zum Gegenbeweis und zur Gegenwirkung sich vorzubereiten, dass sie die hierauf abzielenden Beweisanträge stellen könnte. Es handelt sich also hier um einen der Fälle, wo die Verabsäumung der Form selbst das Wesen gefährden könnte; und die Gesetzgebung hat die schwierige Aufgabe zu lösen, dafür zu sorgen, dass die Vorbereitung zum Gegenbeweise der Partei ermöglicht werde, und andererseits den eben entwickelten Grundsatz zu wahren, dass es k e i n e P r ä e l u s i o n vom Beweise giebt. I n erster Linie stellt nun die Strafprozessordnung den Grundsatz auf, dass jede Partei die andere über das von ihr vorbereitete Beweismaterial unterrichten müsse. Diese Pflicht hat 1. der S t a a t s a n w a l t a. schon in der Anklageschrift zu erfüllen, welche die „Beweismittel" anzugeben hat (§ 198 Abs. 1); b. bezüglich der von ihm, sei es auf Anordnung des Vorsitzenden, sei es aus eigener Erschliessung, bewirkten Ladung von Zeugen oder Sachverständigen ausser den in der Anklageschrift benannten oder auf Antrag des Angeklagten geladenen; er hat rechtzeitig dem Angeklagten Namen und Wohn- oder Aufenthaltsort der Geladenen anzugeben (§ 221 Abs. 2). 2. Die gleiche Verpflichtung, wie die unter 1. b erwähnte, trifft den Angeklagten gegenüber dem Staatsanwalt, bezüglich der „von ihm unmittelbar geladenen oder zur Hauptverhandlung zu stellenden Zeugen oder Sachverständigen" (§ 221 Abs. 1). 3. Der Vorsitzende hat Beweisanträge des Angeklagten, denen er vor der Hauptverhandlung stattgiebt, der Staatsanwaltschaft mitzutheilen (§ 218 Abs. 2). 4. Findet vor der Hauptverhandlung die conimissarische Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen oder die Einnahme eines Augenscheines statt, so ist das darüber aufgenommene Protokoll der Staatsanwaltschaft und dem Vertheidiger vorzulegen (§ 223 Abs. 1). Diese Bestimmungen zeigen einige Ungleichförmigkeiten und Lücken. Aus der Anklageschrift erfährt der Angeklagte auch die zu „beweisenden Thatsaehen", und umgekehrt erfährt sie der Staatsanwalt bezüglich der Beweisanträge des Angeklagten, denen der Vorsitzende stattgiebt. Beide Mittheilungen umfassen auch alle Arten von Beweismitteln; dagegen ist bezüglich der unter 1. b und 2 erwähnten Fälle weder von anderen Beweismitteln als den dort erwähnten, noch von den zu beweisenden Thatsaehen die Rede.

§ 42.

Beweisfrist.

IV. Nach f r a n z ö s i s c h e m Recht hat die Staatsanwaltschaft und die Civilpartei clem Angeklagten und letzterer cler Staatsanwaltschaft die Liste aller vorzuladenden 24 Stunden vor Beginn des Zeugenverhörs mitzutheilen (eine Mittheilung zwischen Mitangeklagten und zwischen Civilpartei und Staatsanwaltschaft ist nicht vorgeschrieben). Unterbleibt die Mittheilung, so kann sich die Partei, welcher die Mittheilung hätte gemacht werden sollen, v o r cler Beeidigung des Zeugen der Vernehmung widersetzen ; unterbleibt der rechtzeitige Widerspruch, so ist nicht blos die eingetretene Formverletzung gedeckt, sondern auch dem Gerichtshof unmöglich gemacht, sie weiter zu berücksichtigen ; im entgegengesetzten Fall hat cler Gerichtshof zu prüfen, ob die Mittheilung an clie Partei rechtzeitig und in solcher Weise erfolgt sei, dass ihr die Persönlichkeit des Zeugen genügend bekannt wurde. Ist dies nicht cler Fall, so muss clem Einspruch Folge gegeben werden; es kann jedoch die Verhandlung abgebrochen und später von neuem begonnen werden 2 . Diese Bestimmungen sind die Quellen zahlreicher Controversen geworden und haben auch dazu Anlass geboten, class clie cliscretionäre Gewalt cles Vorsitzenden herangezogen wurde, um die unbeeidigte Vernehmung cler als Zeugen nicht zulässigen zu bewirken 3 . Mit Bedacht ging cler Entwurf cler Strafprozessordnung denselben aus dem Wege und verzichtete sowohl auf die Fixirung einer F r i s t für die Mittheilung als auch auf die Androhung eines P r ä j u d i z e s für die Niehtbeobachtung cler im Gesetz auferlegten Pflicht. Dagegen bemerken die Motive zu § 221 ausdrücklich, dass derselbe seine Ergänzung in § 245 finde. Hier ist zunächst im Abs. 1 cler Grundsatz ausgesprochen, dass kein Beweisantrag l e d i g l i c h wegen Verspätung abgewiesen werden darf; d. h. generalisiit: Es giebt im Strafverfahren keine B e w e i s f r i s t . Die Verspätung kommt jedoch nach clen weiteren Absätzen dieses Paragraphen insofern in Betracht, als dadurch einer Partei es „ a n d e r z u r E i n z i e h u n g cler E r k u n d i g u n g e n e r f o r d e r l i c h e n Z e i t g e f e h l t h a t " , und sie bildet an sich nur einen Grund, dieselbe durch „Aussetzung cler Hauptverhandlung" ihr zu verschaffen. D i e s e Bestimmung aber bezieht sich ebenso wohl auf Beweismittel, welche ν ο r cler Hauptverhandlung namhaft zu machen waren, als auf 2 Art. 315 des Code d'Instr. und hiezu namentlich R o l l a n d de Y i l l a r g u e s Nr 8 - 9 9 . H é l i e , Pratique I Nr 729-731 ρ 377. 378. 3 S. G l a s e r , Kleine Schriften S 589. 593 § 7 I I u. IV. — Die österr. StPO (§222) bestimmt : „Die Liste der neu zu ladenden Zeugen und Sachverständigen ist dem Gegner längstens drei Tage vor der Hauptverhandlung mitzutheilen ; ausserdem können diese Personen ohne seine Zustimmung nicht vernommen werden, unbeschadet jedoch der dem Vorsitzenden in dieser Hinsicht eingeräumten Macht".

Binding·, Handbuch. IX. 4. I : G l a s e r , Strafprozess.

I.

27

418

§ 42.

Beweisfrist.

solche, welche erst i n der H a u p t v e r h a n d l u n g vermöge eines vom Gericht genehmigten Antrages oder auf dessen von Amts wegen gefassten Beschluss herangezogen werden (§ 245 Abs. 3). daher auch nicht eine A r t Form;

sie t r i t t vielmehr

v o n Strafe

für

Ihre A n w e n d u n g ist

die Verabsäumung

einer

auch i n F ä l l e n ein, wo die Notification gar

nicht stattzufinden hatte, wie ζ. B . bei erst i n der H a u p t v e r h a n d l u n g beschlossenen Beweisaufnahmen, u n d bezüglich solcher „ z u beweisenden T h a t s a e h e n " , welche nicht i n der Anklageschrift erwähnt s i n d 4 . — A u c h die Frage

des Einflusses von Mängeln i n der F o r m der M i t -

t h e i l u n g ist von diesem Gesichtspunkt aus zu beurtheilen; n i c h t darauf

an,

es k o m m t

ob durch dieselbe die gesetzliche Vorschrift

erfüllt,

4 Dass es zur Vermeidung von Vertagungen zweckmässig ist, mit der nach § 221 vorgeschriebenen Mittheilung die der zur beweisenden Thatsaehen zu verbinden (s. L ö w e Bern 1 zu § 221), lässt sich nicht verkennen. Allein es sind damit nicht alle Schwierigkeiten beseitigt, welche daraus entstehen, dass die Reichstagscommission im Abs. 2 des § 245 die früher nur im Abs. 1 enthaltene Erwähnung der „ z u b e w e i s e n d e n T h a t s a c h e " einfügte, ohne dass dies auch im § 221 geschah. Es kann nämlich sehr wohl geschehen, dass der als Entlastungszeuge gerufene neue Angaben macht, die den Angeklagten oder vielmehr clen \rertheicliger überraschen, und dass umgekehrt ein gehörig notificirter Zeuge neue Thatsaehen vorbringt. Findet man nun aber im § 245 nicht eine Sanction für die Pflicht rechtzeitiger Mittheilung, dann muss die Bestimmung, so scheint es, naturgemäss überall Anwendung finden, wo eine Partei, namentlich der Angeklagte, durch ein neues Vorbringen überrascht wird. (Aus diesem Grunde muss man auch L ö w e zustimmen, wenn dieser, Bern 2 zu § 245, aus der ratio legis die Geltung der Bestimmung auch für clas Auftauchen von Urkunden und anderen Beweismitteln — ausser den in §§ 221 und 245 erwähnten Zeugen und Sachverständigen — ableitet.) Allein behandelt man in solchem Umfange neue B e w e i s e und neue T h a t s a e h e n gleich, so ist die Gefahr des Missbrauches eine ungemein grosse. Man muss sich also doch daran halten, class das Gesetz von einer „ z u bew e i s e n d e n Thatsache" spricht, und zwar in jenem Zusammenhange, in welchem dies im Abs. 1 des § 245 geschah. Dort ist aber von einer Beweiserhebung die Rede, die vorgeschlagen wird, und zwar entweder so, class sofort das Beweismittel oder nur eine zu beweisende Thatsache „vorgebracht" wird, wobei es denkbar ist, dass das Beweismittel noch gar nicht bezeichnet werden kann. Daraus folgt, dass § 245 nicht auf Fälle Anwendung findet, wo es sich nicht um die förmliche Aufstellung eines Beweissatzes, um den Antrag auf Erhebung darüber handelt, sondern die „Neuheit" der Thatsache lediglich aus clem Umstände abgeleitet wird, dass die Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen sich auf Thatsaehen erstreckt, deren die Anklageschrift und die sonstigen Mittheilungen nicht Erwähnung gethan haben und die unter Umständen erfolgt, welche einen förmlichen Antrag ganz entbehrlich machen. Dieser Gegensatz tritt namentlich in der Befürwortung hervor, welche die Einschaltung der „zu beweisenden Thatsache" im Abs. 2 des § 245 von Seite L a s k e r s fand, sowie in der Bekämpfung derselben seitens des Regierungsvertreters (Prot S 954—956).

§ 42.

419

Beweisfrist.

ob sie vorsätzlich, aus Fahrlässigkeit oder unverschuldet mangelhaft erfüllt wurde, sondern darauf, ob ungeachtet der (mangelhaften) Mittheilung der Gegner Zeit und Gelegenheit hatte, seine Erkundigungen einzuziehen. V. Der Antrag auf Aussetzung der Verhandlung braucht nicht etwa v o r der Vernehmung des Zeugen, analog der Opposition gegen dieselbe nach französischem Rechte, gestellt zu werden; selbst nicht sofort bei Beendigung derselben ist dies nöthig. Die Motive (S 138) lassen hierüber so wenig einen Zweifel, als darüber, dass die Präclusion mit dem Antrag auf Aussetzung der Verhandlung in den Zeitpunkt des Schlusses der Beweisaufnahme verlegt werden sollte. Nun giebt es allerdings keinen definitiven Schluss cler Beweisaufnahme; bis zur Urtheilsfällung und bis zur Verlesung des Wahrspruches kann noch ein neuer Beweisantrag vorgebracht werden 5 ; damit lebt selbstverständlich auch clas Recht auf, von cler Bestimmung des § 245 Abs. 2 u. 3 Gebrauch zu machen. Ohnehin bleibt es fraglich, ob nicht erst die Parteivorträge clen Gegner auf die Bedeutsamkeit einer neu vorgekommenen Thatsache (zumal wenn es sich um Aenderung des juristischen Gesichtspunktes handelt) aufmerksam machen können. Die Geneigtheit, hierin mehr oder weniger weit zu gehen, muss aber wesentlich von cler Beantwortung der Frage abhängen: VI. Welche Stellung hat das Gericht zu dem Antrag auf Aussetzung cler Verhandlung einzunehmen 6 ? Hält man sich nun einfach an den Wortlaut des Gesetzes, so scheint dieser keinen Zweifel zu lassen. Die Partei kann die „Aussetzung der Verhandlung zum Zweck cler Erkundigung beantragen" ; das Gericht entscheidet über clen Antrag „nach freiem Ermessen". Dazu bemerken noch die Motive (S 138): „Der Entwurf musste auf die Aufstellung speciellerer Bestimmungen verzichten und clie Beurtheilung cler Anträge auf Aussetzung cler Verhandlung n a c h a l l e n R i c h t u n g e n hin dem freien Ermessen des Richters überlassen. Das Gericht soll also sowohl d a r ü b e r , ob es dem Gegentheil des Beweisführers an der erforderlichen Zeit zu Erkundigungen gefehlt hat, als auch darüber, ob es solcher Erkundigungen nach Lage cler Sache überhaupt bedarf, frei entscheiden, und ebenso soll es, wenn es die Aussetzung cler Verhandlung beschliesst, die zu 5

Schwarze Bern 5 bei § 221. Vgl. V o i t u s , Controversen I 10 ff. Dagegen S c h w a r z e , Erörterungen S 77 ff. Auf Seite des letzteren stehen K e l l e r Bern 6 zu § 245 unci G e y e r § 194 IV, auf der des ersteren L ö w e , T h i l o , D a l c k e , B o m h a r d , P u c h e l t , sämmtlich bei § 245, D o c h o w S 226. 6

27*

420

§ 42.

Beweisfrist.

gewährende Frist nach seinem Ermessen festsetzen". Allein auf der anderen Seite muss man doch in den §§ 221 u. 245 den Grundsatz anerkannt finden, dass jede Partei verlangen könne, dass ihr Zeit gelassen werde, sich über Vorbringen und Beweise des Gegners sowohl als über in der Hauptverhandlung neu aufgetauchte Beweise und Thatsaehen zu erkundigen, um ihre Gegenaction vorbereiten zu können. Schon in den Berathungen der Commission ward vielfach angedeutet, sobald fest steht, dass diese Zeit nicht gewährt wurde, m ü s s e sie nachträglich gewährt werden ; das Gericht mag nach freiem Ermessen beurtheilen, ob die gewährte Zeit ausgereicht habe, ob eine sehr kurze Zeit ausreiche, und im letzteren Falle die Vertagung sehr beschränken, im ersten sie verweigern. Anerkennen aber, dass die Zeit nicht ausgereicht habe, und dennoch die Aussetzung verweigern könne das Gericht nicht. Bei der Berathung in der Commission erklärte ferner ein Vertreter der Regierung (Prot S 955): Der bezügliche Satz „könne keineswegs dahin verstanden werden, dass schlechthin alles in das freie Ermessen des Gerichts gestellt sei. Wenn vielmehr Abs. 2 (jetzt 4) betone, es könne die Aussetzung der Verhandlung zum Zwecke der Erkundigung beantragt werden, so sei es damit dem Gerichte für solchen Fall als Regel vorgeschrieben, die beantragte Aussetzung zu beschliessen. Er interpretire den § 208 (jetzt 245) dahin, dass über die Frage, ob die zur Einziehung von Erkundigungen erforderliche Zeit ausgereicht habe, das freie Ermessen des Gerichts entscheide, dass aber das Gericht, wenn es annehme, dass die Zeit nicht gereicht habe, die Vertagung nicht versagen d ü r f e . Nach Auffassung des Redners würde es eine Nichtigkeit des Verfahrens bilden, wenn die Entscheidungsgründe constatiren, dass jene Zeit nicht ausreichend erscheine, und wenn gleichwohl der Antrag auf Vertagimg zurückgewiesen werde". S c h w a r z e , der sich hierauf beruft, bemerkt dabei 7 : „Einzelne Mitglieder der Commission sprachen sich im entgegengesetzten Sinne aus, weil sie die Abänderung des § 244 nicht mit berücksichtigt hatten"; auch K e l l e r 8 glaubt über diese sehr entschiedenen Aeusserungen 9 in erster Linie durch die Bemerkung hinaus zu kommen, dass 7

Commentar S 407 Anm 1. Bern 6 zu § 245. 9 B e c k e r z. B. findet, es sei „alles in das freie Ermessen des Gerichtes gestellt"; ein Recht . . . Vertagung zu fordern, räume § 245 nicht ein. R e i c h e nsp er g er legt clem § 245 „nur instruetiven Charakter" bei, er bilde „keine obligatorische Vorschrift"; allerdings setzt er hinzu, es „könne nicht bezweifelt werden, dass einer solchen Bestimmung materieller AVerth zukomme". Namentlich Gneist 8

§ 42.

Beweisfrist.

der Abs. 4 in der von den Motiven gegebenen Auslegung in das System des Entwurfs, nicht aber in clas bestehende Gesetz passe, und auch er verweist auf § 244 in der von cler Commission angenommenen Fassung. Was nun zunächst letztere Berufung betrifft und die daran geknüpfte Erörterung der Frage, ob clas Gericht überhaupt die Erheblichkeit der Beweise zu prüfen berechtigt sei, so scheint mir diese zur vorliegenden Frage nicht zu gehören. § 244 verbietet clem Gericht keinesfalls die Prüfung der Erheblichkeit der Beweismittel überhaupt, sondern die Unterlassung der Aufnahme eines regelrecht vorgebrachten Beweises aus dem Grunde der „Unerheblichkeit", gerade so wie § 245 dessen Ablehnung aus dem Grunde der Verspätung 1 0 . Die Frage über die Rückwirkung cles § 245 auf die Bestimmung des § 244 ist hievon ganz verschieden. Zunächst ist jedoch hervorzuheben, dass gerade die in der Commission gefassten Beschlüsse clas Abgehen von dem Standpunkte, den die Motive einnahmen, wesentlich erschwerten ; denn diese dehnten nicht blos clen Abs. 2 auf „zu beweisende Thatsaehen" aus, deren völlige Gleichstellung mit den neuen Beweisen selbst K e l l e r bedenklich findet, sondern erklärten die Anordnung anwendbar auf diejenige Classe von Neuerungen, die der Abs. 2 erwähnte, und die cler Regel nach eine vorausgehende Mittheilung überhaupt nicht zulassen. Gerade damit ist aber cler Bestimmung der Charakter eines die Partei wegen Nichterfüllung ihrer Pflicht treffenden Präjudizes völlig abgestreift, und müsste die Vertagung viel häufiger eintreten, als der Entwurf voraussetzt, dessen Motive dieselbe gleichwohl nur für facilitati ν erklärten. Erwägt man nun noch, class die zeitliche Grenze, welche clas französische Recht clem Einspruch wegen nicht erfolgter Notification setzt, aus Gründen beseitigt wurde, welche vollkommen zutreffen, so weit der Antragsteller in gutem Glauben ist, und selbst S c h w a r z e befürworteten gegenüber der Bemerkung, dass neben der allgemeinen Vertagungsbefugniss § 245 überflüssig sei, wenn er nicht ein unbedingtes Recht des Angeklagten statuire, die Beibehaltung der Bestimmung; letzterer, weil jene allgemeine Vertagungsbefugniss zweifelhaft sei, ersterer, weil er meint, der „Angeschuldigte werde mehr Schutz finden, wenn eine ausdrückliche Gesetzesbestimmung seine Befugniss, Vertagung zu beantragen, anerkenne". 10 Dass das Gericht in den Fall kommen kann, sich über die Erheblichkeit •eines Beweismittels eine Meinung bilden zu müssen, wird selbst ein so eifriger Vertheidiger des im § 244 zur Geltung gelangten Grundsatzes, wie S c h w a r z e , nicht völlig bestreiten können; denn wenn dieser das Gericht über die Erheblichkeit der T h a t s a c h e urtheilen lässt (Erörterungen S 87), so muss er doch wohl anerkennen, dass daraus das Urtheil über die Unerheblichkeit des B e w e i s e s für die Tliatsache von selbst folgt. Allein es ist eben das im § 245 gewährte Recht gar nicht von der Erheblichkeit des Beweises abhängig gemacht worden.

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§ 42.

Beweisfrist

dass aber der Chicane gerade dadurch ein weites Feld geöffnet ist r so wird man wohl hier mehr als sonst genöthigt sein, sich vor allein an den Text des Gesetzes zu halten und den einander widersprechenden „Materialien" den Einfluss auf die Auslegung zu versagen. Zweierlei aber lässt das Gesetz deutlich erkennen: 1. Demjenigen, welcher durch (für ihn) neues Vorbringen überrascht wird, muss selbst um den Preis einer Aussetzung der Hauptverhandlung die zur Einziehung von Erkundigungen erforderliche Zeit gewährt werden. 2. Die Anwendung dieses Grundsatzes (nicht aber die Anerkennung oder Nichtanerkennung desselben für den einzelnen Fall) ist der Beurtheilung des Gerichts anheimgestellt. Geht man nun auf die Einzelheiten ein, so unterliegt es keinem Zweifel, dass das Gericht unter Würdigung der besonderen Verhältnisse des Falles zu beurtheilen hat: a. ob die Mittheilung gemacht wurde; b. ob sie deutlich genug war, um dem Zweck, den das Gesetz im Auge hat, zu genügen; c. wrie viel Zeit nöthig war oder ist, um die Einziehung cler Erkundigungen möglich zu machen, welche die Partei in clen Stand setzen, die clem vorgebrachten Beweis etwa entgegenzustellenden Gegenbeweise und Gegengrüncle zu erfahren. Unbestritten ist wohl auch, dass keine Vertagung stattfindet, wenn die Verhältnisse des Zeugen oder Sachverständigen cler Partei, gegen welche derselbe angerufen wird, unzweifelhaft bekannt sind. Streitig ist dagegen, ob clas Gericht aus anderen Gründen, als welche sich aus cler Beantwortung der vorstehenden Fragen ergeben, und namentlich aus Gründen, welche cler Beschaffenheit des vorgebrachten oder angebotenen Beweises entnommen sind, die Vertagung verweigern könne. Um diese Frage unbefangen beantworten zu können, empfiehlt es sich: 1. Die Fälle ins Auge zu fassen, wo cler Beweis nicht nach § 244 aufzunehmen ist. Dabei wird nun weiter zu unterscheiden sein, ob cler Vertagungsantrag vor oder nach Aufnahme des Beweises gestellt wird. a. Die Partei ist nicht verpflichtet, diesen Antrag zu stellen oder anzukündigen, bevor der neue Beweis aufgenommen wird, und sie wird, zumal wenn bezüglich cler „zu beweisenden Thatsachen" die oben Anm 4 erwähnte Einschränkung nicht als zulässig anerkannt wird, oft gar nicht im Stande sein, es zu thun. Geschieht clas doch, so wird das Gericht immerhin in die Lage kommen, clie Förderung, welche die Aufnahme des Beweises der Aufklärung cles Sachverhaltes verspricht, mit den ganz unleugbaren Beeinträchtigungen zu vergleichen, welche aus einer Vertagung erwachsen ; es wird, wenngleich die Verspätung des Beweisantrages an sich kein Grund ist, ihn abzulehnen,

§ 42.

Beweisfrist.

doch bei Prüfung seiner Erheblichkeit 1 1 eine Beweisaufnahme von problematischem Werth unterlassen können, um der sonst unvermeidlichen Vertagung zu entgehen. Ebenso kann die Partei, welche das Beweismittel vorschlägt, eine gleiche Abwägung vom Standpunkte ihrer Interessen vornehmen und den Antrag zurückziehen, um die drohende Vertagung zu vermeiden, b. Die Frage wird aber meistentheils erst zu einer Zeit auftauchen, wo alle Betheiligten das Ergebniss der Beweisaufnahme übersehen können. Es wird also das Gericht das Resultat derselben bei der ihm zukommenden Entscheidung nicht unbeachtet lassen können 1 2 und die Vertagung versagen, wenn sich deutlich zeigt, dass jenes die Sache des Antragstellers nicht beeinträchtige. Dafür spricht schon der Wortlaut des Gesetzes; denn wenn eine Erkundigung überhaupt nicht erforderlich ist, kann von einer für dieselbe erforderlichen Zeit wohl nicht die Rede sein. Wenn also die Partei selbst die durch die Beweisaufnahme bestätigte Thatsache zugiebt, oder wenn aus dem ganzen Zusammenhange deutlich hervorgeht, dass sie ihr bekannt war, — oder umgekehrt, wenn der neue Zeuge nichts zur Sache gehöriges aussagt, wenn er die Thatsache nicht bestätigt, zu deren Erhärtung er berufen wurde, wenn seine Aussage etwa unzweifelhaft zu Gunsten des Antragstellers ausfällt, wenn der Gegenbeweis ohnehin in einer unverkennbaren Weise geführt ist, wenn in nicht schwurgerichtlichen Fällen das Gericht clem neuen Beweise jeden Einfluss auf seine Entscheidung abspricht oder in einem schwurgerichtlichen Falle mit Zuversicht ihn absprechen kann, so ist die Ablehnung des Vertagungsantrages vollkommen berechtigt. Dagegen hat das Gericht allerdings nicht das Recht, auf Kosten cler Partei Vennuthungen anzustellen, weder über clen grösseren oder geringeren Einfluss, den cler neue Beweis ausser den eben erörterten Fällen etwa üben kann, noch über die clem Antragsteller etwTa erreichbaren Mittel 11 Die Mot zu § 245 cler StPO (S 188) bemerken: „Dadurch wird aber nicht ausgeschlossen, dass das Gericht einen Beweisantrag dann ablehnen darf, wenn es nach Lage der Sache die Ueberzeugung gewonnen hat, dass der formell genügend begründete Antrag doch sachlich keinen Erfolg verspreche". 12 Wenn K e l l e r darauf hinweist, dass das Gericht ausser dem Falle des § 244 über die Erheblichkeit der behaupteten Thatsachen bei Zulassung des Beweises entscheidet, und dann hinzufügt: „Ist aber eine Thatsache für erheblich erachtet, dann muss der Gegenbeweis gestattet sein" — so übersieht er, dass v o r der Beweiserhebung eine zu gewärtigende Feststellung für erheblich erachtet werden, dennoch aber das Ergebniss der Beweisaufnahme ganz unerheblich sein, ja dass eine für erheblich erachtete Thatsache durch andere Ergebnisse der Beweisaufnahme jede Erheblichkeit verlieren kann.

424

§ 42.

Beweisfrist.

des Gegenbeweises 13 ; so ist selbst der Umstand, dass die zu beweisende Thatsache auch durch andere bereits rechtzeitig namhaft geinachte Auskunftspersonen bestätigt wird, kein genügender Grund, die Vertagung zu versagen (namentlich in Schwurgerichtsfällen), da die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, dass gerade nur diesem Zeugen Glauben geschenkt wird, und dass dies nicht geschehen wäre, wäre Gelegenheit geboten gewesen, dessen Aussage zu entkräften. — Hier liegt, meines Erachtens, die Grenze des „freien Ermessens" ; denn in der Ablehnung des Vertagungsantrages aus solchen Gründen liegt die Verleugnung des Grundsatzes, den das Gesetz aufstellt 1 4 . Damit unterscheiden sich auch die Fälle des § 245 von denjenigen, wo, ohne dass ein ausdrücklicher Antrag auf Erhebung einer Thatsache gestellt wird und ohne dass ein neuer Zeuge u. s. w. gerufen wird, das Beweisverfahren eine Thatsache ergiebt, auf welche eine der Parteien offenbar nicht vorbereitet w a r 1 5 . Hier appellirt der Antragsteller an die allgemeine Befugniss des Gerichtes, Aussetzung der Verhandlung zu beschliessen, nicht an die specielle Vorschrift des § 245; hier ist allerdings der Conjectur des Gerichtes und seiner billigen Beurtheilung der Lage der Parteien freierer Raum gestattet und wird dasselbe auch nicht völlige Gleichheit der Parteien, wie sie § 245 statuiit, annehmen, sondern die drückende Lage des Angeklagten 1 6 (wenn es sich namentlich um eine zu dessen Nachtheil angesuchte Vertagung handelt) sowie die etwa sich zeigende, auf Ueberraschung berechnete Hinterlist überwiegend berücksichtigen. 2. Handelt es sich um einen jener Beweise, auf welche § 244 StPO anwendbar ist, so kann das natürlich, wenn der Antrag auf Vertagung erst nach der Vernehmung der Auskunftsperson gestellt wird, nichts an den eben dargestellten Verhältnissen ändern. Widersetzt sich aber der Gegner sofort, noch vor der Vernehmung derselben, 13 Zu weit in der sonst von ihm bekämpften Richtung geht Schwarze, Erörterungen S 85, wenn er sagt, die Behauptung des Zeitmangels bedürfe jedenfalls einer näheren Darlegung, es müsse daher der Antrag „auf thatsächliche Momente sich berufen, zu deren Feststellung es noch einer Erkundigung bedarf" — denn damit käme die Partei um alle Exceptionen gegen den Zeugen, die sie mögl i c h e r Weise noch entdecken würde, und gerade dazu soll ihr ja die Erkundigung verhelfen. 14 In ähnlichem Sinne verweist Puc l i c i t Bern 4 zu § 245 auf Z. 8 des § 377. 15 And. Mein. L ö w e Bern 5 zu § 245. S. dagegen oben Anm 5. 16 Engländer, welche das continentale Strafverfahren mit dem englischen vergleichen, finden dabei kaum etwas so auffallend, wie die Zulassung einer Vertagung zum Zwecke der Verstärkung des Belastungsbeweises. Edinburgh Review Juli 1842 ρ 394.

§ 42.

Beweisfrist.

indem er den Vertagungsantrag stellt oder ankündigt, so könnte allerdings die Frage entstehen, ob damit das Gericht nicht das ihm durch § 244 entzogene Recht erlangt, über die Zulässigkeit der Beweisaufnahme zu entscheiden? Denn da die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens i h m zukommt, könnte es für berechtigt angesehen werden, einen Beweisakt abzulehnen, der die Vertagung zur Folge haben muss. Allein andrerseits ist zu erwägen: a. Nach vorstehendem muss die Aussetzung der Hauptverhandlung nicht sofort erfolgen; es ist also immerhin möglich, dass sie sich später als entbehrlich erweist: b. da die Verspätung für sich allein kein Grund ist, einen Beweisantrag abzulehnen, so müsste das Gericht jedenfalls die Erheblichkeit des angebotenen Beweises prüfen, und nur wenn es diese a priori verneint, könnte der Antrag abgelehnt werden; aber gerade in diesem Falle ist auch zur Aussetzung der Verhandlung kein Grund. Immerhin aber ist es denkbar, dass das Gericht in den Fall kommen kann, einen Beweis auf Grund des § 244 zulassen zu sollen, den es wenn auch nicht für völlig unerheblich, doch für überflüssig hält und der den Anlass zu einem begründeten Vertagungsantrag giebt (ζ. B. wenn ein nicht gehörig notificirter Zeuge einen Umstand bestätigen soll, über den bereits eine grosse Zahl anderer Zeugen vernommen wurde und übereinstimmend aussagte). Es wirkt also, wenngleich in sehr beschränktem Maasse, § 245 auf die Anwendbarkeit des Abs. 1 von § 244 zurück, nicht umgekehrt ; und es steht diese Beschränkung der letzteren Regel derjenigen ganz gleich, die aus dem Nichterscheinen eines geladenen Zeugen und der daraus abgeleiteten Notwendigkeit-, über die Aussetzung der Hauptverhandlung zu entscheiden, entsteht. § 43.

Fortsetzung:

B. G e m e i n s a m k e i t d e r und Verzicht \

Beweismittel

I. D i e V e r s c h i e d e n h e i t des U r s p r u n g e s des Beweismaterials ändert daran nichts, dass es, einmal für die Hauptverhandlung bestimmt, nicht dennaassen der Willkür desjenigen, durch den 1

Vgl. bezüglich des fr an ζ osiseli en Rechtes G l a s e r , Kleine Schriften S 596 §7 IV 4. — Bezüglich der deutschen Gesetze seit 1848 namentlich P l a n c k , Syst. Darst. S 327 Anm 20 u. S 357. Z a c h a r i ä , Handb. § 137 V. Oppen h ο ff, Preuss. Ges über Strafv. bei § 52 Nr 18. 68. 69. v. S t e m a η η, Preuss. Strafverf. S 153. S c h w a r z e , Comm. zur sächs. StPO v. 1855 Art. 291 (II S 90. 91) sanimt den dort angef. off. Motiven. — Für die d. StPO die Commentare zu § 244, speciell S c h w a r z e Beni 1 u. 3; L ö w e Bern 6a; P u c h e l t Bem3: K e l l e r Bern 11 u. 14. Oesterr. StPO § 246 Abs. 2 und die Commentare dazu.

426

§ 43.

Gemeinsamkeit cler Beweismittel und Verzicht.

dessen Heranziehung bewirkt wurde, unterliegt, dass er allein durch blosse Aenderung seines Willens, durch V e r z i c h t auf das Beweismittel ( Fallenlassen desselben), seine wirkliche Verwendung verhindern könnte. Vielmehr ist der Grundsatz der G e m e i n s a m k e i t des B e w e i s m a t e r i a l e s anerkannt: auf der \ 7 ernehmung der geladenen Auskunftspersonen und auf der Vorführung der sonstigen herbeigeschafften Beweismittel kann nicht blos der Producent, derjenige, der das Beweismittel herbeigeschafft oder dessen Herbeischaffung beantragt hat, sondern auch jeder andere Betheiligte und das Gericht bestehen. Der Grund ist ein doppelter: das Gericht soll überhaupt nicht durch Willkür einer Partei gehindert werden können, sich jedes Mittels zu bedienen, das ihm zur vollen Aufklärung des Sachverhaltes dienlich erscheint. Aber auch der Gegner des Beweisführers hat das vom Gegner angekündigte Beweismittel vielleicht nur eben deshalb nicht selbst herangezogen. Im Entwurf der StPO war der erste Gesichtspunkt der überwiegende. Es war das in der ursprünglichen Fassung des dem § 244 entsprechenden § 207 des E in den Worten ausgedrückt, dass das Gericht bei Bestimmung des Umfanges der Beweisaufnahme „durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse" nicht gebunden sei. Damit war e i n e r s e i t s eine Regel aufgestellt, welche die gesammte Beweisaufnahme beherrschte, a n d e r e r s e i t s dem Gericht die Möglichkeit gewahrt, angesichts des \ r erzichtes eines Producenten und des Widerspruches des Gegners die Gründe des letzteren zu würdigen und je nach Lage des Falles zu entscheiden 2 . Abs. 1 des § 244 StPO stellt dagegen das Recht der Partei voran ; er handelt nur von dem v o r der Hauptverhandlung für dieselbe bestimmten Materiale und stellt bezüglich desselben den Satz auf, dass von der Erhebung einzelner Beweise abgesehen werden könne, wenn die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte hiemit einverstanden sind. Dis Ausdehnung auf Beweismittel, deren Heranziehung erst in der Hauptverhandlung beschlossen wurde, kann nur aus der Natur der Sache und aus der (theilweise) entsprechenden Bestimmung des Abs. 2 des § 244 gefolgert werden. Andrerseits genügt cler Wille des Gegners, um den Verzicht des Beweisführers wirkungslos zu machen; das

2 Auch die französische Praxis betont nur die Notwendigkeit eines Erkenntnisses des Gerichtshofes über die Nichtvernehmung eines geladenen Zeugen, G l a s e r a. a. 0. Nr 4. — Die österr. StPO giebt dem Beweisgegner ein R e c h t , das „Fallenlassen" des Beweises i m L a u f e der H a u p t v e r h a n d l u n g zu hindern. Das Recht des Vorsitzenden und eventuell des Gerichtes, Beweise aufzunehmen, ist durch das Recht der Parteien nicht berührt.

§ 43.

Gemeinsamkeit cler Beweismittel und V e r z i h t .

Gesetz giebt der Beurtheilung des Gerichtes erst dann Baum, wenn ein p o s i t i v e s Einverständniss der Betheiligten vorhanden ist. Das Einverständniss kann auch ein s t i l l s c h w e i g e n d e s sein; zumal die Fassung der fraglichen Gesetzesstelle nicht entnehmen lässt, dass es (wie in Frankreich als Kegel gilt) eines förmlichen Gerichtsbeschlusses bedarf, um von einer Beweiserhebung „abzusehen". Als ein stillschweigendes Einverständniss kann es aber nicht ohne weiteres angesehen werden, wenn die Beweisaufnahme einfach unterbleibt, ohne dass dagegen Verwahrung eingelegt wird, da letzteres ebenso wohl auf einem Uebersehen als auf dem „Einverständniss" beruhen kann; immerhin wird es daher rathsam sein, die ausdrückliche Erklärung des Einverständnisses zu erwirken und im Protokoll ersichtlich zu machen. — Das Gesetz spricht vom Einverständniss des Staatsanwaltes und des Angeklagten ; wenn nun eine M e h r h e i t v o n A n g e k l a g t e n vorhanden ist, so versteht es sich von selbst, dass allen dem Staatsanwalt gegenüber das gleiche Recht zukommt. Nicht selbstverständlich ist es aber, dass sie dasselbe auch gegeneinander üben können, und man wird es daher auch nur soweit anerkennen, als das die ratio legis bildende berechtigte Interesse der einzelnen Mitangeklagten reicht 3 . Schon hier wird auch der Umstand nicht unberücksichtigt bleiben können, dass den Mitangeklagten gegenüber eine Pflicht zur Mittheilung der beabsichtigten Ladung nicht besteht, und dass dieselben von der unmittelbar von einem Mitangeklagten erwirkten Ladung vor der Hauptverhandlung nichts erfahren werden; allerdings ist auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass ein Angeklagter im Einverständniss mit den andern gehandelt hat. I I . Schon aus vorstehendem zeigt sich, dass der im Verzicht sich äussernde Parteiwille n i c h t ohne Einfluss auf die Beweisaufnahme bleibt; vielmehr ist umgekehrt derselbe entscheidend, wenn und soweit eben n u r der Wille dieser Partei allein der Grund der Beweisaufnahme wäre. So wird: 1. Die clem Gegner noch nicht mitgetheilte unmittelbare Ladung rückgängig gemacht, der vom Vorsitzenden noch nicht genehmigte Antrag auf Ladung von Auskunftspersonen oder Herbeischaffung von Beweismitteln zurückgezogen werden können ; auch nachdem der 3 Das RGE v. 16. Juni 1880 Rspr I I 70 erklärt clie Zustimmung cler Mitangeklagten für entbehrlich, „wenn dieselben an den Punkten, über welche die Vernehmung der Zeugen beantragt war, kein Interesse haben, welcher Fall sich nicht auf eine Verschiedenheit der den einzelnen Angeklagten zur Last gelegten Strafthaten beschränkt". Das Erkenntniss scheint aber mehr clen Unterschied zwischen ausdrücklicher und stillschweigender Zustimmung im Auge zu haben.

428

§ 43.

Gemeinsamkeit

er Beweismittel und V e r z i h t .

Vorsitzende den Antrag genehmigt, kann er in Folge der Zurückziehung desselben seine Verfügung zurücknehmen, so lange sie nicht den übrigen Betheiligten bekannt geworden ist oder soweit auch die Zustimmung derjenigen vorliegt, denen sie bekannt gegeben ist. 2. Der dem Verzicht auf ein Beweismittel entgegengesetzte Widerspruch kann mit der Wirkung zurückgezogen werden, dass nunmehr das Gericht frei beurtheilen kann, ob der Beweis aufzunehmen sei. Diese Zurücknahme selbst ist so wenig widerruflich, als der Verzicht des Beweisführers selbst; doch ist zwischen der Aufklärung eines Missverständnisses, welches den Schein des Verzichtes hervorrief, und der Zurücknahme eines Verzichtes wohl zu unterscheiden. Jedenfalls bleibt es den Betheiligten unbenommen, einen Antrag auf Wiederaufnahme des fallengelassenen Beweismittels zu stellen: dieser ist als in der Hauptverhandlung gestellter Beweisantrag zu behandeln. 3. Beweisanträge, welche in der Hauptverhandlung gestellt werden, können zurückgezogen werden. Die Wirkung ist, dass das Gericht über den Antrag nicht zu erkennen braucht, unbeschadet des Rechtes jedes anderen, ihn aufzunehmen. Hat das Gericht den Antrag genehmigt, so genügt der Verzicht des Antragstellers nicht, um die Ausführung zu beseitigen; es handelt sich dann um die Zurücknahme eines Beschlusses des Gerichtes, welche eines neuen Beschlusses bedarf. Wohl aber kann letzterer darauf beruhen, dass der frühere lediglich gefasst wurde, um einem nicht völlig unbegründeten Wunsche der Partei zu entsprechen, und dass nach dem Rücktritt der letzteren seine Aufrechterhaltung nicht nothwendig scheint. Widersetzt sich die Gegenpartei unter Vorbringimg von Gründen, so kommt dies einem neuen Beweisantrag derselben gleich; ihren Widerspruch an und für sich als bindend anzusehen, dafür spricht weder der Wortlaut des § 244 (jedenfalls passt er so lange nicht, als die Herbeischaffung des Beweises noch nicht erfolgt ist), noch der Grund der bezüglichen Bestimmung 4 . 4. Inwiefern dem Willen cler Parteien eine Einflussnahme auf die Förmlichkeiten cler Beweisaufnahme zukomme, hängt zunächst davon ab, ob die betreffende Förmlichkeit lediglich zur Wahrung der Interessen der Partei bestimmt ist oder nicht. So wird ζ. B. jede Partei ausdrücklich und, soweit dadurch kein Zweifel entsteht, auch 4

And. Mein. P u c h e l t Bern 4 zu § 243, welcher § 244 Abs. 1 „auf die erst im Termine veranlassten Beweiserhebungen nicht anwendbar" erachtet, während umgekehrt nach L ö w e Bern 6a bei § 244 diese Bestimmung „in vollem Umfange" gilt „auch für diejenigen Beweismittel, welche seitens des Vorsitzenden oder des Gerichtes von A m t s wegen (§§ 220. 243 Abs. 3) herbeigeschafft worden sind",— um so mehr wird er sie wohl für die auf Antrag beschafften Beweise gelten lassen.

§ 43.

Gemeinsamkeit

er Beweismittel und Verzicht.

stillschweigend auf die Ausführung von Vorschriften verzichten können, welche ihr die Vorbereitung für die Beweisaufnahme und die Mitwirkung bei derselben erleichtern sollen, wie ζ. B. auf die vorausgehende Mittheilung der beabsichtigten Beweisführung, die Vorlegung cler Protokolle über Beweisaufnahmen durch beauftragte unci ersuchte Richter 5 , auf die vorherige Benachrichtigung von clen bezüglichen Terminen (§ 223), auf die nachträgliche Mittheilung cler Ergebnisse cler in der Abwesenheit des Angeklagten erfolgten Beweisaufnahmen (§ 246), sowie cler zu verdolmetschenden (§ 187 G \ 7 G ) 6 . Bedenklicher ist man, wo es sich um Förmlichkeiten handelt, welche zwar nicht clas Wesen des Beweismittels nothwendig berühren, aber doch bestimmt sind, den Werth cler Beweisaufnahme nach allen Seiten zu siehern, wie ζ. B. die Beeidigung der Zeugen und Dolmetscher, die Unzulässigkeit des Ersatzes einer mündlichen Vernehmung durch Verlesung des Protok o l l s über eine frühere Vernehmung. Die herrschende Ansicht geht dahin, dass solche Verzichte wirkungslos seien 7 . Der Wille des Beweisführers oder des Beweisgegners allein kann in solchen Fällen gewiss das Gericht nicht binden; im übrigen aber scheint es mir an sich richtig, dass ebensowohl wTie im allgemeinen Einvernehmen auf ein Beweismittel gänzlich verzichtet werden kann, wohl auch eine Beweisaufnahme unter minder solenner Form vereinbart werden dürfte 8 . Allein was clen Verzicht auf die Zeugenbeeidigung betrifft, scheint mir für die deutsche StPO entscheidend, class ein Antrag, welcher darauf abzielte, selbst nur für die Straffälle unterster Ordnung diesen Grundsatz zur Geltung zu bringen, in der Reichstagscommission abgelehnt wurde, weil man willkürliche Bevorzugung einzelner Zeugen befürchtete und weil von Seite des Regierungsvertreters, es als dein Princip des Entwurfes widersprechend erklärt wurde, „die Beeidigung in clas Ermessen des Richters zu stellen, statt sie gesetzlich zu reguliren" 9 . 5 RGE v. 2. Juli 1880 Rspr I I 156; zu vergleichen ist RGE v. 18. Februar 1880 Rspr I 362. 6 In letzterer Hinsicht a. M. L ö w e Bern 3b zu § 187 des GVG. Vgl. auch Oppen h off, Preuss. Ges über Strafv. zu Art. 27 Nr 6. 7 Z a c h a r i ä , Handb. I I 402 Anm 15, unter beispielsw. Verweis, auf § 150 Nr 4 der rev. StPO für Hannover. O p p e n ho ff, Preuss. Strafv. Nr 28 u. 30 bei Art. 51. Geyer in HH I 283, Lehrbuch § 136 IV. V o i t u s , Controversen I 176—178. 186. 187. L ö w e Beni l a bei § 56 der StPO; bezüglich des Eides der Dolmetscher, der überdies in derselben Hauptverhandlung wiederholt soll nöthig werden können, Bern 1 u. 2 zu § 191 des GVG. P u c h e l t Bern 3 das. 8 Schwarze, Commentar ζ. säclis. StPO v. 1855 bei § 283 I I 77; zur rev. StPO v. 1869 S 239 zu Art. 283. Oesterr. StPO § 247 Abs. 3. 9 Prot S 73. 74. Vgl. B i n d i n g , Grundriss S 118 § 81 V C.

430 § 44. B e w e i s a u f n a h m e i n der H a u p t v e r h a n d l u n g . I. Unter Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung versteht die deutsche Strafprozessordnung den Vorgang, vermöge welches das Gericht die Abhörung der Zeugen und Sachverständigen und die Vorlage von schriftlichen und sachlichen Beweismitteln bewerkstelligt oder bewerkstelligen lässt. Was das Geständniss des Angeklagten betrifft, so ist von der „Beweisaufnahme über ein Geständniss" im § 253 StPO dann die Rede, wenn diese durch Vorlesung eines richterlichen Protokolls bewirkt werden soll; im übrigen aber bildet die zusammenhängende Vernehmung des Angeklagten einen der Beweisaufnahme im angegebenen Sinn vorausgehenden A k t ; im Verlauf der Beweisaufnahme jedoch wird zu Erklärungen des Angeklagten von Schritt zu Schritt neuerlich durch Befragung Anstoss und Gelegenheit gegeben (§ 256). Die so abgegrenzte Beweisaufnahme schliesst mit dem Beginn der Parteivorträge ; der Sache nach kann sie aber nach Bedarf bis zum Endurtheil immer wieder ergänzt werden. Für die Gestaltung der Beweisaufnahme in der d. StPO war in erster Linie maassgebend der Einfluss cles Grundsatzes der contradictorischen V e r h a n d l u n g und der M ü n d l i c h k e i t ; in zweiter Linie mussten einige V o r s i c h t s m a a s s r e g e l n zur Sicherung des Zweckes der Beweisaufnahme vorgezeichnet werden. II. Der G e g e n s a t z des a c c u s a t o r i s c h e n u n d i n q u i s i t o r i s c h e n V e r f a h r e n s 1 muss nothwendig auch bei der Gestaltung 1

P l a n c k , Syst. Darst. S 354. 355. Z a c h a r i ä , Handbuch I 43. 328. 329 I I 203—205 und die das. angeführte Literatur. . W a l t h e r , Lelirb. d. bayer. StP S 306 ff. W u r t h zur österr. StPO v. 1850 §§ 264 u. 272 ff. H y e und R u l f zur österr. StPO v. 1853 §§ 225 u. 243. O p p e n h o f f zu Art. 76 u. 77 des preuss. Ges v. 3. Mai 1852 S 362 ff; „Materialien" zu diesem Ges S 553 ff. F r a n t a , Der preuss. StP (1852) S 211. K e l l e r und G ö t z e , Die preuss. Schwurgerichte S 66 ff. R ü t t i m a n n , Züricher Gesetze S 194ff. M i t t e r m a i e r , Engl.-schott.-amer. Strafverfahren S 416 ff. D e r s e l b e , Gesetzgeb. etc. S 462 ff. G l a s e r im AXF 1851 S 200 ff. (Kl. Schriften S 407 ff.) und in HRLex Art. „Beweisverfahren im Strafprozess" I 375 ff. S u n d e l i n , Die Staatsanwaltschaft (Anklam 1860) S 119 ff. D e r s e l b e in GA 1858 624 ff, im GS 1858 S 401 ff, 1859 S 161 ff. Re hm im GS 1860 S 1 ff. v. S t e m a n n in GA 1860 S 49 ff. G n e i s t , Vier Fragen S 99 ff. S c h ü t z e in GA 1874 S 17 ff. Verhandlungen d. deutschen JT X I 3 ff. 137 ff. 323 ff. v. B a r , Recht und Beweis im Geschwornengericht § 71 S 331 ff. D e r s e l b e , Kritik des Entw S 35 f. S e u f f er t , Ueber Schwurgerichte und Schöffengerichte (1873) S 55. H. M e y e r , Die Mitwirkung der Parteien (1873) S 44 ff. — Oesterr. StPO v. 1873 §§ 248 und 249. U l i mann, Oesterr. StPR §§ 113—115.— D e u t s c h é StPO §§ 237-241. J o h n , Das deutsche StPR (1880) § 460. F u c h s in HH I I 72 ff. G e y e r § 193. D o c h o w , StPR S 222. -

§ 44.

Beweisaufnahme in cler Hauptverhandlung.

431

des Hauptbestandteils des ausschlaggebenden Stadiums des Verfahrens sich geltend machen. Der f r a n z ö s i s c h e Strafprozess stellt mit aller Klarheit das inquisitorische Princip voran. Mit der Pflicht belastet, „bei Ehre und Gewissen alles aufzuwenden, um die Offenbarung der Wahrheit zu fördern", und eben darum mit der discretionären Gewalt bekleidet, „kraft deren er alles auf sich nehmen kann, was er der Entdeckung der Wahrheit nützlich glaubt" (Art. 268 Code d'Instr. crini.), hat der Vorsitzende natürlich in seiner Hand auch die Vernehmung der Zeugen u. s. w. ; die Parteien können kaum ergänzend mitwirken, wobei noch die empfindliche Benachteiligung des Angeklagten hinzukommt, die darin liegt, dass dem Staatsanwalt das Recht, ergänzende Fragen unmittelbar zu stellen, zuerkannt ist, während der Angeklagte und sein Vertheidiger darauf angewiesen sind (gleich der Civilpartei), den Zeugen „durch das Organ des Präsidenten" zu befragen, dagegen aber allerdings das Recht haben, nicht etwa erst im Plaidoyer, sondern sofort „gegen das Zeugniss alles zu sagen, was sie der Verteidigung des Angeklagten dienlich erachten" (Art. 332). Nothwendig wird damit die Verteidigung dahin gedrängt, den Schwerpunkt ihrer Thätigkeit in Behauptungen und Erörterungen statt in die Befragung und Erprobung der Zeugen zu verlegen. Im Gegensatz hiezu nimmt cler e n g l i s c h e 2 Richter gegenüber dem ohnehin ausschliesslich von den Parteien herbeigeschafften Beweismaterial eine fast ganz passive, höchstens hie und da corrigirende, die empfangenen Eindrücke aufklärende Haltung ein. Die Beweisaufnahme ist das Werk der Parteien, die sich dabei nach festen, strengen, eifersüchtig geltend gemachten und bei Streitigkeiten vom Richter unparteiisch gehandhabten Regeln zu benehmen haben. Danach hat jede Partei zuerst den Zeugen selbst zu befragen, clen sie vorführt (examination in chief), wobei sie sich innerhalb der Grenzen der ihr gestellten Beweisaufgabe halten muss, d. h. Fragen nicht stellen darf, die auf die Feststellung von Thatumständen abzielen, welche nicht geeignet sind, Gründe für die Annahme des Beweissatzes herzustellen ; andrerseits sind ihr Suggestivfragen verwehrt. Nach dem Hauptverhör beginnt clas G e g e n ν e r h ö r (crossexamination, die Uebersetzung mit „Kreuzverhör" ist ungenau M o t i v e zum Entw der StPO S 134—136. Prot der RtC S 350 if. 948. 949. Bericht der Comm. S 59. 2 G r e e n l e a f I §§ 431—433. A r c h b o l d p. I I ch. I I sect. 4 Nr 7 ρ 252 sq. Roseo e ρ 129. 130—134. S. auch die Anführung der Bestimmungen des NewYorker Gesetzes über die Zeugenvernehmung bei R ü t t i m a n n , Züricher Gesetze S 247 ff. S. ferner die von kritischen Bemerkungen begleitete Darstellung bei S t e p h e n , General view ch. V I I Nr I I ρ 280 ss.

432

§ 44.

Beweisaufnahme i n

er Hauptverhandlung.

und veranlasste zur Beziehung dieses Ausdruckes auf die ganze Art der Vernehmung), bei welchem nach den beiden angedeuteten Richtungen dem Beweisgegner eine viel grössere Freiheit als dem Beweisführer gestattet ist, was sich namentlich auch darin äussert, dass der Beweisführer nicht auf die Entwertung cler Aussage seiner Zeugen, wenn diese anders ausfällt, als er erwartet hatte, hinwirken darf, während dies cler ausgesprochene Zweck des Gegenverhörs, das allerdings auch auf Ergänzung der Aussagen abzielt, ist. Den Schluss bildet das nochmalige Verhör (reexamination) durch clen Beweisführer, das sich auf Gegenstände beschränken muss, wrelche im Gegenverhör zur Sprache gebracht wurden. Der Vorsitzende Richter, dessen Thätigkeit wesentlich durch die eigenhändige Aufzeichnung cler Aussagen in Anspruch genommen ist, macht von seinem Recht, Fragen zu stellen, nur selten, fast immer erst nach dein Schluss cler Parteiverhöre und zu clem Zweck Gebrauch, um clen etwTa durch Hinundherzerren verdunkelten Sinn cler Antworten cles Zeugen oder clen inneren Zusammenhang derselben ins klare zu bringen. Nebenher ist hier noch des engen Zusammenhanges zwischen clen Parteivorträgen und der Beweisführung zu envähnen. — Die d e u t s c h e n Strafprozessordnungen, welche das mündliche Strafverfahren einbürgerten, stellten sich hierin fast ganz auf clen Boden cles französischen Prozesses ; nur gewährten einige (wie ζ. B. clas b a y e r i s c h e G von 1848, clie österr. StPO von 1853) auch dem Angeklagten und seinem Vertheidiger das Recht der d i ree t e n Fragestellung. Einen Schritt weiter in der Richtung des e n g l i s c h e n Rechtes ging man in Preussen. Das p r e u s s i s c h e G vom 3. Mai 1852 hat (Art. 77) dem Vorsitzenden im Schwurgericht die Ermächtigung ertheilt ( „ k a n n " ) , „cler Staatsanwaltschaft und clem Vertheidiger, auf deren übereinstimmenden Antrag, clas Verhör cler Zeugen zu überlassen". Diese von ihm zugelassene Ausnahme vom gewöhnlichen Gange cler Dinge konnte cler Vorsitzende jeden Augenblick wieder rückgängig machen. Mit dieser Bestimmung wollte man „eine Probe mit einer neuen Einrichtung machen, wrelche nach der Meinung vieler für alle Fälle gut wäre". Die Probe ist indess tatsächlich nicht gemacht worden, was schon deshalb natürlich ist, weil die Bestimmung clen Vorsitzenden weder von cler Verantwortlichkeit für clen Gang der Dinge, noch von der Notwendigkeit gründlicher Vorbereitung für die Leitung der Beweisaufnahme befreite, also für ihn kein Anlass vorlag, von seiner Befugniss Gebrauch zu machen. Erst die letzte b a d i sehe und w ü r t t e m b e r g i s che StPO schlossen sich diesem Vorgang an, und erstere ging einen Schritt weiter.

44.

Beweisaufnahme in

433

er Hauptverhandlung.

III. I)ie d e u t s c h e StPO, bei deren Vorberathung diese Frage durch eine bedeutende Schrift G n e i s t s und durch Verhandlungen des Juristentages in den Vordergrund gestellt worden war, beschränkt sich darauf, an die erwähnte p r e u s s i s c h e und b a d i s c h e Bestimmung anzuknüpfen (§§ 238, 240 Abs. 2). Die Uebertragung der Beweisaufnahme an die Parteien ist nunmehr lediglich von deren übereinstimmendem Antrage, nicht von der Beurtheilung des Vorsitzenden abhängig, kann daher von diesem auch nicht wieder vollständig rückgängig gemacht werden ; auch ist sie nicht mehr auf Schwurgerichtsfälle beschränkt, „Bei den von der Staatsanwaltschaft benannten Zeugen und Sachverständigen hat diese, bei den von dem Angeklagten benannten der Vertheidiger in erster Reihe das Recht der Vernehmung" — eine Sonderung, welche allerdings nicht der des Anklage- und Defensionsbeweises entspricht und sicher wenigstens diejenigen Zeugen, die der Vorsitzende oder das Gericht von Amtswegen vorriefen, vom primären Verhör durch die Parteien unberührt lässt. Sowohl dies als der Umstand, dass die intensivere Vorbereitung der Parteien, welche die Leitung des Verhörs fordert, bei völliger Unsicherheit über clen Eintritt der Voraussetzung, unter welcher sie nöthig ist, selten stattfinden wird, lässt annehmen, dass auch künftig von der Einrichtung kein umfassender Gebrauch werde gemacht werden und dass die fortgesetzte Ausübung des directen Fragerechtes ihr erst allmählich Terrain gewinnen dürfte. Das englische System der Beweisaufnahme umfasst ein d ο ρ ρ e 11 e s : a. die Einwirkung der Parteien durch Ausübung des Rechtes directer Fragestellung und b. die passive Haltung des Gerichtes unter ITeberlassung der Vorführung cler Beweise und der Anordnung des Ganges des Beweisverfahrens an die Parteien; womit nothwendig die strenge Sonderung des Beweises in Anklage- und Vertheicligungsbeweis und die Unterabtheilung in die Aufgaben des Beweisführers und des Beweisgegners verbunden ist. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass man sich in der Reichstagscommission die Verschiedenheit dieser beiden Elemente und dass es bei der Einführung des sog. Kreuzverhörs nur mehr um das zweite (b). aber nicht mehr um das erste (a) sich handle, nicht allseitig klar gemacht hatte 3 . Eine ähnliche Unklarheit ward 3

Daher allein erklärt es sich, dass bei der Erörterung der besorgte Missbrauch des Fragerechtes eine so grosse Bolle spielte, und tibersehen wurde, dass dieses auch neben dem Verhör durch den Vorsitzenden bestehen soll (s. ζ. B. die Aeusserungen von H e r z S. 355, von Re i che η s ρ er g er und B a h r S 358), dass andererseits ein Mitglied zugleich auf das entschiedenste die Notwendigkeit des Kreuzverhörs und die Unzulässigkeit der Sonderling des Beweises in AccusationsBinding. Handbuch. ΊΧ. 4. I :

G l a s e r , Strafprozess.

I.

28

434

§ 44.

auch

dem

Beweisaufnahme in

allerdings

in

diesem

Zusammenhange

stehendén Vorschlag des E n t w u r f e s , „die Vernehmung

dein

einen

er Hauptverhandlung.

oder

leicht

cler Vorsitzende dem

misszuver-

solle

anderen Theile

allenfalls gestatten"

können, v e r h ä n g n i s s v o l l 4 . U m so wichtiger ist es, die N a t u r cler so geschaffenen sich möglichst k l a r zu machen,

um

Procedur

danach die Einzelheiten

richtig

beurtheilen zu können. 1. D i e E i n r i c h t u n g befreit clen Vorsitzenden nicht von cler wendigkeit,

sich für

Not-

clie Beweisaufnahme vorzubereiten u n d clen Ge-

sanimtplan derselben zu entwerfen, u n d ebensowenig von der V e r a n t wortlichkeit erste res

für

die

eine Vereinbarung selben

möglichste

Aufklärung

n i c h t , weil selten vor

des

dem Tage der

Sachverhaltes



Hauptverhandlung

der Parteien zu Stande k o m m t und es j e d e r der-

sogar freistände,

von iener früher

getroffenen

wieder zurückzutreten, — das z w e i t e n i c h t ,

Vereinbarung

w e i l nach dem Gesetz

den Parteien wohl die V e r n e h m u n g der Auskunftspersonen, aber nicht die A n o r d n u n g Vorführung

der gesammten Beweisaufnahme, j a selbst nicht

aller

Beweismittel

überlassen

werden

soll,

was

die

schon

deshalb nicht angeht, w e i l es Zeugen giebt, die nicht zu den von den Parteien „benannten" der Vorsitzende

gehören,



das d r i t t e

nicht,

weil daneben

als solcher u n d als M i t g l i e d des Gerichtes für

die

und Defensionsbeweis verfocht und deshalb vorschlug, das Loos solle darüber entscheiden. Aver zuerst zu fragen habe (Prot S 356); dagegen blieb Gneists schlagende Bemerkung: alles komme darauf an, dass von Anfang an jeder wisse, was er zu thun haben werde (8 351), unberücksichtigt, 4 An sich enthält er nur etwas ganz natürliches, das der Sache, wenn auch nicht der Form nach aus dem System des § 244 StPO und der directen Befragung fast von selbst entspringen muss. Wenn die Partei Zeugen laden kann, ohne angeben zu müssen, worüber dieselben aussagen sollen, bleibt dem Vorsitzenden oft keine andere Wahl, als die Generalfragen zu stellen und den Zeugen „zu veranlassen, dasjenige, was ihm von dem Gegenstande seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhange anzugeben" (§ 68); führt dies zu keinem Resultat, so ist es wohl besser, die weiteren Fragen dem Beweisführer zu überlassen, statt sich dieselben vorsagen zu lassen, und es wäre dann, da die Befragung auf § 239 Abs. 2 beruht, selbstverständlich, was der Entwurf hinzufügte, dass die „gleiche Ermächtigung dem anderen Theile nicht versagt werden könne". (Der Entwurf sagte allerdings: „eine gleiche Ermächtigung", wollte aber doch wohl damit nicht sagen, ilass wenn dem einen Theile gestattet wurde, einen Zeugen zu vernehmen, dem anderen Theile die Vernehmung eines anderen Zeugen gestattet werden müsste.) — Allein der Entwurf wollte, dass ein Abweichen von der regelmässigen Procedurform statt durch Uebereinkommen der Parteien durch das Einverständniss des \ r orsitzenden mit e i n e r Partei sollte hergestellt werden können, und in der Commission befürchtete man hiebei die Ueberlegenheit des Staatsanwaltes und dessen einseitige Beeinflussung des Beweisverfahrens.

§ 44.

Beweisaufnahme in

er Hauptverhandlung.

435

Vollständigkeit des Beweismaterials zu sorgen hat, weil er nach § 238 Abs. 2 auch fortan verpflichtet ist, „die ihm zur weiteren Aufklärung der Sache erforderlich scheinenden Fragen" zu stellen, und weil er selbst in den Fall kommen kann, einer Partei die Befugniss der Vernehmung zu entziehen. 2. Die Ausnahineprocedur soll wohl der Regel nach die gesammte Beweisaufnahme, soweit sie durch Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen erfolgt. umfassen ; sie wird dies aber nicht immer k ö n n e n . Aus dem zweiten Satze des ersten Abs. des § 238 ergiebt sich, dass das Hauptverhör jede Partei mit den von ihr „benannten" Zeugen vornehmen soll; zu diesen wird man allerdings nicht blos die von der Partei unmittelbar, sondern auch die auf ihren Antrag geladenen rechnen müssen. Bezüglich der von Amtswegen geladenen aber war man schon in der Commission getheilter Ansicht; ein Mitglied war „der Meinung, dass man dein Vorsitzenden allein das Recht zur Befragung solcher Personen einräumen k ö n n e " 5 , während ein Vertreter der Regierung die Meinung aussprach, „es würde . . . der Präsident, bez. das Gericht, bei der Vorladung . . . sofort bestimmen können, ob der Zeuge als Accusations- oder Defensionszeuge anzusehen s e i " 0 . Mit Recht macht daher S c h w a r z e 7 darauf aufmerksam, dass unter solchen Umständen die Beschränkung auch des ersten Satzes des § 238 auf von den Parteien „benannte" Auskunftspersonen als Ausdruck des Willens anzusehen ist, das sog. Kreuzverhör bei r> B e c k e r (Prot S 359) sagt: „In der Natur der Sache liege, dass derjenige, der den Zeugen henannt habe, am besten nach dem frage, was der Zeuge bekunden solle". tt Prot S 357. Dagegen muss aber bemerkt werden, dass auch die vom Staatsanwalt benannten Zeugen nicht ausschliesslich Aecusationszeugen sein sollen, und dass es mit der unparteiischen Stellung des Gerichtes wohl kaum vereinbar wäre, zu dem a u s g e s p r o c h e n e n Zwecke der Belastung oder Entlastung Zeugen zu rufen. Es werden ζ. B. an einer dem Angeklagten gehörigen Sache Flecken bemerkt, die für Blutflecken gehalten werden könnten; beschliesst nun das Gericht, darüber einen Sachverständigen zu befragen, so wäre es doch eigen, wenn dies sofort als Belastungsbeweis bezeichnet würde. 7 Bern 2 zu § 238. Im Entwurf (§ 202) fehlt die im Text erwähnte nähere Angabe; sie ward erst in einem späteren Stadium der Berathung (163. Sitz, der Commiss., H a h n S 1498) eingefügt. — T h i l o Bern 2 zu § 238 findet die Frage zwar nicht ausdrücklich entschieden, hält aber ebenfalls die Ausschliessung der gedachten Auskunftspersonen vom Kreuzverhör für in der Natur der Sache gelegen, die „Zutheilung der von Amts wegen geladenen Zeugen zu Accusations- und Defensionszeugen durch den Vorsitzenden für willkürlich und durch nichts im Gesetze begründet". Ueberhaupt besteht in der Sache Einstimmigkeit unter den Commentatomi. Vgl. namentlich die Ausführung K e l l e r s , Bern 5 zu § 238.

28 *

436

§ 44.

Beweisaufnahme in

er Hauptverhandlung.

von Amtswegen geladenen nicht eintreten zu lassen. — Andrerseits schliesst der Wortlaut nicht aus und wird es für zulässig erachtet, dass das sog. Kreuzverhör auch nur bezüglich einzelner, von den Parteien benannter Zeugen unci Sachverständigen stattfinde 8 . 3. Das Kreuzverhör tritt ein, sobald Staatsanwalt und \ 7 ertheidiger es übereinstimmend „beantragen" ; letzterer Ausdruck hat nur formelle Bedeutung, da bei vorhandener Uebereinstinimung der „Antrag" angenommen werden muss, und wo sie fehlt, für die Entscheidung des Vorsitzenden und des Gerichts kein Raum mehr ist. Die \ T ernehmung cler Auskunftspersonen durch clie Parteien bedingt die Mitwirkung b e i d e r : es giebt kein einseitiges Parteiverhör. Eben darum müssen beide bereit und in cler Lage sein, sich daran zu betheiligen. Das Gesetz spricht daher mit Bedacht nicht von dem Antrag cles Angeklagten, sondern nur von clem seines Vertheidigers. Man ist von der Ansicht ausgegangen, class es sich hier um ein Recht handle, das cler Angeklagte in eigener Person nicht ausüben, daher auch nicht in Anspruch nehmen könne; man hat besorgt, dass er dem Staatsanwalt gegenüber zu sehr in Nachtheil gerathen könnte. Hat der Angeklagte keinen Vertheidiger, so kann die Vernehmung den Parteien nicht überlassen werden 9 . Sind mehrere Angeklagte vorhanden, so bedarf es cler Zustimmung aller Vertheidiger, so weit es sich nicht um Vernehmungen handelt, an denen einzelne Angeklagte nicht betheiligt sind. — Der Antrag muss, wenn alle nicht von Amtswegen geladenen s

S c h w a r z e Bern 1, L ö w e Bern 5 zu § 238. D o c h o w S 222. L ö w e Bern 3 zu § 238. — Die Notwendigkeit der Ausschliessung des Angeklagten ist keineswegs so ausgemacht, wie angenommen wurde. Die StPO gewährt- ja dem Angeklagten noch neben dem Vertheidiger das Recht der directen Befragung und entzieht es dem Staatsanwalt nicht, wenn dem Angeklagten kein Vertheidiger zur Seite stellt. — Ganz unberücksichtigt blieb auch der Fall der P r i v a t k l a g e ; hier können sich möglicherweise beide Parteien unmittelbar gegenüberstehen ; ihnen die Vernehmung der Auskunftspersonen zu überlassen, wäre gerade hier ganz besonders am Platze. Ob die Worte des § 425 : „zuzuziehen und zu hören" die Befugnisse dem Privatkläger sichern, welche § 238 der Staatsanwaltschaft einräumt, könnte vielleicht bezweifelt werden, hätten nicht die Motive zu der entsprechenden Stelle des Entwurfes (S 227) deutlicher ausgesprochen, dass die Absicht dahin gehe, dem Privatkläger die nicht einen Ausfluss der Amtsgewalt bildenden „Rechte und Pflichten" des Staatsanwaltes zuzuerkennen. Steht aber dem Privatkläger, obgleich er selbst kein Jurist ist, ein Beschuldigter ohne Vertheidiger gegenüber, so kann § 238 nicht angewendet werden. — Der N e b e n k l ä g e r hat nach § 437 die Rechte des Privatklägers; er kann also jedenfalls an dem Kreuzverhör sich durch Fragen betheiligen und wird dieses Recht unmittelbar nach dem Staatsanwalt ausüben müssen. Der Mangel seiner Zustimmung wird aber nicht genügen, den Antrag des Staatsanwaltes zu beseitigen, den das Gesetz für sich allein für ausreichend erklärt. 9

§ 44.

Beweisaufnahme in

er Hauptverhandlung.

437

Zeugen und Sachverständigen durch die Parteien abgehört Aver den sollen, bei Beginn der Beweisaufnahme, bei Beschränkung auf einzelne Theile der Beweisaufnahme vor Beginn der bezüglichen Vernehmung gestellt werden, da es nicht zulässig ist, dass dem Vorsitzenden die schon begonnene Beweisaufnahme wieder entzogen w i r d 1 0 . 4. Bei der im § 238 eingeführten ausserordentlichen Art der Beweisaufnahme tritt das Recht der Parteien in den Vordergrund; die Befragung der Auskunftspersonen wird zunächst von ihnen und zwar in der im Gesetze bezeichneten Reihenfolge — zuerst durch den Beweisführer, dann durch den Gegner — vorgenommen. Es ist aber gewiss kein Grund, es zu verwehren, und es kann bei dem Umstände, dass der Staatsanwalt oft Entlastungszeugen wird laden müssen, sogar ganz entsprechend sein, wenn sich die Parteien über eine Aenderung der Reihenfolge einigen 1 1 . Dass nach den Parteien die Reihe des Fragens an den Vorsitzenden komme, ist im zweiten Absatz des § 238 ausdrücklich gesagt 1 2 : es besteht aber auch kein Grund, anzunehmen, dass durch die Anwendung des ersten Absatzes des § 238 die im § 239 genannten Personen des ihnen dort eingeräumten Fragerechtes beraubt werden 1 3 . 5. Für den Fall eines Missbrauchs des im § 238 gewährten Parteirechtes hat Abs. 1 des § 240 vorgesorgt, nach welchem „demjenigen. welcher . . . die Befugniss der Vernehmung missbraucht", „dieselbe vom Vorsitzenden entzogen werden" kann. Es tritt diese Bestimmung an die Stelle des im Art. 77 des preussischen Gesetzes vom 3. Mai 1852 dem Vorsitzenden eingeräumten Rechtes, „das Verhör in jedem Zeitpunkte wieder selbst zu übernehmen und das Verhör zu schliessen" u . Daneben hatte er das Recht. „unzulässige Fragen 10

11 Löwe Beni 4 l> zu § 238. K e l l e r Beni 4 zu § 238. Der zweite Absatz ist ein Zusatz der Reiclistagsconimission (Prot 8 361); „mit dem Princip des Kreuzverhörs nicht im Éinklang" findet ihn T h i l o (Beni 5) wohl mit Unrecht; auch der englische Richter hat das Recht, wenn er es gleich, zumal wo er nicht glaubt, einem Angeklagten, dem der Vertheidiger fehlt, beistehen zu sollen, sehr zurückhaltend ausübt. Die Befugniss ist um so wichtiger, weil § 238 ein wiederholtes Verhör durch den Beweisführer nicht kennt, ein sehr wichtiges Mittel, künstlich hervorgerufenen Verwirrungen und Verdunkelungen der Zeugenaussage zu begegnen und die wahre Meinung des Zeugen ins rechte Licht zu setzen. 13 T h i l o Bein 6, P u c h e l t Beni 2 Abs. 2 zu § 238. Die Bestimmung des § 239 bezieht sich so deutlich auf den Fall des § 238, dass z. B. S t a u d i n g e r dem Missverständniss glaubt begegnen zu müssen, dass sie n u r für diesen Fall gelte. 14 O p p e n h o f f S 363 fand in der unvermeidlichen Ausdehnung dieser Befugniss auf den Staatsanwalt, in dem darin liegenden „Oberaufsichtsrecht" des Vorsitzenden „welches ihm dem Staatsanwalt gegenüber sonst nicht zusteht", die 12

438

44.

Beweisaufnahme in

er Hauptverhandlung.

und deren Beantwortung abzuschneiden oder zu verbieten". Nach der Strafprozessordnung hat den e i n z e l n e n F r a g e n gegenüber der Vorsitzende die gleichen Hechte wie ausser dem Kreuzverhör (§ 240 Abs. 2), wovon unter I V zu sprechen ist. Eben darum muss es sich also, wenn der erste Absatz des § 240 angewendet werden soll, um mehr als eine blos ungeeignete Frage handeln. L ö w e s a g t 1 5 : „Der Begriff des Missbrauches ist nicht erschöpfend zu bestimmen, ein solche]· kann unter Uniständen auch in einer ungebührlichen Ausdehnung der Vernehmung gefunden werden, namentlich dann, wenn etwaige Ermahnungen des Vorsitzenden fruchtlos bleiben". Im Begriff des Missbrauchs liegt es jedenfalls, dass das Recht zu anderen Zwecken, als zu welchen das Gesetz es einräumte, gebraucht wird, sei es nun zur Verschleppung der Sache, sei es zur Einschüchterung des Zeugen, zu Verunglimpfungen, als Gelegenheit zum Vorbringen von ungehörigen Insinuationen u. dgl. Die Correctur, welche § 240 Abs. 1 dem Vorsitzenden überträgt, hat den Charakter einer ausschliesslich gegen die Missbrauch treibende Person sich kehrenden Maassregel ; nur ihr, nicht auch dem Gegner wird das Recht entzogen, und es entsteht daraus die Notwendigkeit, dass der Vorsitzende selbst zur Abwendung der nun zu besorgenden Einseitigkeit unci Unvollständigkeit von seinem Fragerecht den entsprechenden Gebrauch mache. Allerdings aber kann und darf er sich nie an die Stelle einer Partei setzen 16 . — Steht nun aber eleni Ausgeschlossenen nach dem Verhör durch den Vorsitzenden das allgemeine Fragerecht nach § 239 noch zu? Die Frage muss v e r n e i n t werden, weil sonst das Kreuzverhör nur mit völlig gestörter Ordnung fortgesetzt würde; es bleibt dem Ausgeschlossenen daher nur das Recht, die Stellung von Fragen beim Vorsitzenden zu beantragen. — Dass gegen die Ausübung des in § 240 Abs. 1 dem Vorsitzenden eingeräumten Rechtes die Anrufung einer Entscheidung des Gerichts zulässig s e i 1 7 , ergiebt sich schon aus clem Wortlaute cles § 237, da es sich hier um eine die Sachleitung betreffende Maassregel handelt und dieselbe nur „zulässig" ist, wenn Missbrauch vorgefallen war; es ist also kaum nöthig, noch zu bemerken, dass der Entwurf die Frage grösste „Abnormität" und den Hauptgrund dafür, dass das Kreuzverhör nie praktisch geworden. 15 Beni 1 zu § 240. 16 Dies scheint P u c h e l t zu meinen, wenn er sagt: „An die Stelle des Ausgeschlossenen tritt der \7orsitzende, während der Gegentheil das Verhör fortsetzen darf" (Beni 4 zu §§ 238 ff.). L ö w e , auf den er sich beruft, sagt nur: „An Stelle des Ausgeschlossenen nimmt der Vorsitzende das weitere Verhör vor". 17 And. Mein. P u c h e l t Bern 4 zu §§ 238 ff.

44.

Beweisaufnahme in

er Hauptverhandlung.

439

ausdrücklich in diesem Sinne entschieden hatte und die Vorgänge hei der Berathung eine Absicht, dies zu ändern, nirgends erkennen lassen 1 8 . — Dass die Maassregel über den Staatsanwalt ganz ebenso wie über den Vertheidiger verhängt werden kann, ist zweifellos; dass dessen Xichtunterwerfung unter die Anordnung in anderer Weise disciplinar zu ahnden ist, kann keinen Grund abgeben, zu sagen, dass die „Unterwerfung der Staatsanwaltschaft nicht erzwungen werden kann" 1 9 . IV. Weit wichtiger als dieses Ausnahme-Verfahren, dem eine ausgedehnte Anwendung wohl nicht in Aussicht steht, ist der n o r m a l e Vorgang bei der Beweisaufnahme. Die hauptsächlich auf dem französischen Vorbild beruhende Regel ist, dass die Vorführung der Beweise vom Vorsitzenden des Gerichtes geleitet wird. Er bestimmt die Reihenfolge, in welcher sie vor sich geht, besorgt die Beweisaufnahme und hat dabei im wesentlichen die für die Voruntersuchung ertheilten Vorschriften zu beobachten (§ 237); er greift auch durch die Wiederaufnahme der Vernehmung des Angeklagten immer von neuem in den Gang des Verfahrens ein (§ 256; österr. StPO § 248 Abs. 4, § 252 Abs. 3). Er ist aber in seinem Vorgehen beschränkt einerseits durch die Controle des Gerichtes (§ 237 Abs. 2 mit der Beschränkung auf „als u n z u l ä s s i g beanstandete" Anordnungen des Vorsitzenden), andererseits durch das selbständige Recht der Parteien und dei· Mitrichter, sich an der Beweisaufnahme durch Fragen und eventuell durch Anträge zu betheiligen 2 0 . Zunächst ist in letzterer Hinsicht zu bemerken, dass bei Beweisaufnahmen, welche die Stellung von Fragen nicht gestatten, die 18

Abs. 1 § 204 Entw sagte ausdrücklich: „Ueber einen Widerspruch gegen diese Maassregel entscheidet das Gericht". (Vgl. Motive hiezu S 136.) Wenn diese Bestimmung wegtiel, so hatte dies keinen anderen Grund, als dass die Reichstagscommission eben im § 237 Abs. 2 einen allgemeinen Satz einschaltete, der jene Specialbestimmung überflüssig machte, später aber durch die Einschaltung: „als unzulässig" beschränkt wurde. 19 P u c h e l t Beni 4 zu §§ 238 ff. Bern 6 zu § 237. 20 Aus den meist analogen Bestimmungen der österr. StPO (§§ 232. 246. 248. 249) ist hervorzuheben: „Der Vorsitzende leitet die Verhandlung. Er ist verpflichtet, die Ermittelung der Wahrheit zu fördern, und hat dafür zu sorgen, dass Erörterungen, welche die Ha.uptVerhandlung ohne Nutzen für die Aufklärung der Sache verzögern würden, unterbleiben. Er vernimmt den Angeklagten und die Zeugen" . . (§ 232). „Ausser dem Vorsitzenden sind auch die übrigen Mitglieder des Gerichtshofes, der Ankläger, der Angeklagte und der Privatbeteiligte, sowie deren Vertreter befugt, an jede zu vernehmende Person, nachdem sie das Wort hiezu von dem Vorsitzenden erhalten haben, Fragen zu stellen. Der Vorsitzende ist berechtigt, Fragen, die ihm unangemessen scheinen, zurückzuweisen" (§ 249).

440

§ 44.

Beweisaufnahme in

er Hauptverhandlung.

Mitwirkung der Parteien eine noch beschränktere ist; sie dürfen hier nicht in analoger Anwendung der § 238 u. 239 StPO selbst Akte der Beweisaufnahme vornehmen, ζ. B. Schriftstücke vorlesen, Beweisstücke unmittelbar den Richtern, Geschworenen und Schöffen vorzeigen u. d g l . 2 1 . Mit dem Princip der persönlichen Beweisaufnahme durch den Vorsitzenden ist es andererseits nicht unvereinbar, dass derselbe einzelne Akte durch andere, zunächst durch Mitglieder des Gerichts (wie ζ. B. Zeugenvernehmungen), geeignetenfalls (Vorlesungen) durch den Schriftführer bewirkt, wobei jedoch er selbst fortwährend aufmerksam und bereit bleiben muss, das Geschäft in die eigene Hand zu nehmen, sobald dasselbe eine Wendung nimmt, die er nicht seiner Auffassung entsprechend findet; nach beiden Seiten hin muss hier der Satz gelten: quod quis per aliiun fecit, ipse fecisse videtur. I m einzelnen ist zu bemerken: 1. Der regelmässige Vorgang bezüglich cler Beweisaufnahme durch Vernehmung von Auskunftspersonen ist cler, dass der Vorsitzende die Vernehmung vollständig durchführt- und s o d a n n clen anderen zur Fragestellung berechtigten hiezu Gelegenheit giebt ; am zweckm ä s s i g e n , indem er, im allgemeinen oder cler Reihe nach an die einzelnen sich wendend, fragt, ob die Stellung einer Frage gewünscht werde. Es liegt in der Natur cler Sache, dass cler \ r orsitzende beim \ r erhör nicht unterbrochen, sein Verhörplan nicht durchkreuzt, die ihm unentbehrliche Uebersicht cles Verhörmaterials nicht durch Hineinreden oder Zwischenfragen beeinträchtigt werden darf. Es ward daher bei cler Berathung in cler Reichstagscommission von Seiten cler Regierung Gewicht darauf gelegt, dass kein R e c h t auf Zwischenfragen statuirt w e r d e 2 2 ; was nicht ausschliesst, class cler Vorsitzende, wo es unbedenklich ist und nur forciert, statt zu stören, den W u η seh nach Stellung von Zwischenfragen berücksichtigen k a n n 2 3 . Es hat daher n a c h Beendigung des Verhörs durch den Vorsitzenden derjenige, der eine Frage zu stellen wünscht, hiezu das Wort zu erbitten, welches ihm („auf Verlangen") ertheilt werden muss; in welcher Reihenfolge, ist im Gesetz nicht ausdrücklich bestimmt, es entscheidet cler Vorsitzende nach seinem Ermessen; in Ermangelung sachlicher Gründe sollte die vom Gesetz selbst bei der Aufzählung cler Berechtigten eingehaltene Reihenfolge mit cler Modification eingehalten werden, dass die Schöffen oder Geschworenen als Mitrichter v o r den Parteien zu 21 22 23

T h i l o Bern 8 zu § 237. Prot S 361. 362. S c h w a r z e Bern 1 zu § 239.

44.

Beweisaufnahme in

er Hauptverhandlung.

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Wort gelangen. Es giebt übrigens auch hier keine P r ä e l u s i o n ; weder das Schweigen noch die ausdrückliche Verneinung der Frage des Vorsitzenden schliesst von eleni Recht aus, nachträglich eine Frage zu stellen, zu welcher ja eben eine von anderen herbeigeführte Antwort Anlass bieten kann. Das Recht dauert so lange fort, als dessen Ausübung nicht die Wiedervorladung der Auskunftsperson zur Voraussetzung hat, welche nur Gegenstand eines Beweisantrages sein könnte. Dass der Vorsitzende das Verhör auch nach der Befragung durch andere wieder aufnehmen könne, unterliegt aus dem gleichen Grunde keinem Bedenken. 2. Das R e c h t der Fragestellung kommt den Mitgliedern des Gerichtes, den Geschworenen oder Schöffen, der Staatsanwaltschaft, allen Angeklagten und deren Vertheidigern ($ 239), ferner dem Privatkläger und daher auch dem Nebenkläger (§ 437) zu. Dass clen S a c h v e r s t ä n d i g e n gestattet werden kann, unmittelbar Fragen an Zeugen und Angeklagte zu stellen (§ 80), hat eine ganz andere Bedeutung; es handelt sich hier nicht darum, den Urtheilern unmittelbar eine Thatsache zu bestätigen, sondern zunächst nur dem Sachverständigen selbst eine Aufklärung zu verschaffen, welche die Grundlage seiner Aussprüche werden und nur mittelbar die Beweisaufnahme fördern soll. Die österr. StPO (§ 248 Abs. 3) verbietet den Zeugen, „sich unter einander zur Rede zu stellen". 3. Der Inhalt des Rechtes ist die u n m i t t e l b a r e Befragung der Auskunftspersonen. Dies liegt im Wortlaut des Gesetzes, und wenn dies gleich im Entwurf und in einem (aus für diese Frage unentscheidenden Gründen nicht angenommenen) Antrage in der Reichstagscommission noch deutlicher ausgesprochen war, so liegt cler eingetretenen Abänderung der Fassung durchaus nicht die Absicht zu Grunde, an der Sache etwas zu ändern 2 4 . Die Betheiligten haben das Recht, selbst zu fragen, sie haben aber weder das Recht, zu fordern, 24

Prot S 361. 362. Der Entw sprach von der „unmittelbaren Vorlegung einzelner Fragen" (letzterer Beisatz zur Charakterisirung des Gegensatzes gegen die Uebernahme des ganzen Verhörs) durch beide Parteien oder eine derselben. — Dass übrigens in der Commission der Unmittelbarkeit der Fragestellung, welche § 239 für den grösseren Theil des deutschen Gebietes η e u einführte, nicht die volle Beachtung zu Theil wurde, auf welche sie Anspruch hat, ist schon oben Anm 3 bemerkt worden. — Die Motive selbst geben allerdings Zeugniss von einiger Unterschätzung der Unmittelbarkeit, wenn sie sagen (S 136): „dagegen steht zu erwarten, dass die Richter, Geschwornen und Schöffen diejenigen Fragen, die ihnen wünschenswert scheinen, zunächst dem Vorsitzenden bezeichnen werden, weil die Gefahr eintritt, dass das Verfahren, insbesondere seine Folgerichtigkeit und Planmässigkeit, leiden möchte".

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Beweisaufnahme in

er Hauptverhandlung.

dass es statt ihrer der Vorsitzende t h u e 2 5 , noch sind sie verpflichtet, ihm die Fragen vorher vorzulegen 2 6 ; beides ist vielmehr (der unauffällige Verkehr, welcher zwischen den Richtern oder Schöffen und dem \ r orsitzenden möglich ist, fällt gar nicht unter obigen Gesichtspunkt) eher nachtheilig und störend ; es giebt zunächst den Vernommenen Zeit, sich auf die Antwort vorzubereiten, was namentlich die Aufdeckung von Lügen der Zeugen erschwert; ferner ist es für den Vorsitzenden misslieh, Fragen zu stellen, deren Zweck und Tragweite nicht übersehbar und nur durch Erörterungen aufzuklären ist, welche die Unbefangenheit cler Auskunftspersonen beeinträchtigen ; das gleiche gilt aber von Fragen, die er wenn auch nicht unzulässig, doch wenig zweckmässig findet. Ganz verschieden von der Forderung cler Vorlegung der Fragen ist der Fall, wo cler Vorsitzende angesichts einer bereits gestellten Frage Auskunft über deren Bedeutung begehrt·, ehe er clas unter 4 zu erwähnende Recht ausübt. 4. Der Vorsitzende hat nämlich nach S 240 Abs. 2 das Recht, Fragen, welche andere Personen als die beisitzenden Richter stellen 2 7 , „zurückzuweisen", cl. h. deren Beantwortung zu verhindern, wenn sie „ungeeignet oder nicht zur Sache gehörig" sind. Sind schon diese Ausdrücke an sich unbestimmt, so wird ihre Auslegung noch durch alle die sich durchkreuzenden Aeusserungen erschwert, welche bei cler Berathung in cler Reiehstagscoinniission über die Frage der Erheblichkeit cler Beweise und deren Prüfung durch clas Gericht gefallen s i n d 2 8 . Darüber, dass als ungeeignet alle Fragen zu betrachten sind, welche einen chicanösen, beleidigenden Charakter haben, welche in die Form von Fragen Behauptungen und Insinuationen kleiden, ist kein Zweifel. Wohl aber ward die Besorgniss geäussert, dass Fragen wegen „Unerheblichkeit" als „ungeeignet" könnten zurückgewiesen werden, und es ward in cler Reichstagscommission ein Antrag gestellt, der dies verhindern sollte, und der zurückgezogen ward, nachdem er von einer Seite bekämpft und von Seite cler Regierung als unnöthig bezeichnet worden war. Daraufhin wurde es im Bericht cler Commission 29 als 25

And. Mein. L ö w e Beni 3 zu § 239. And. Mein. T h i l o Bern 3 zu § 239. 27 Diese Unterscheidung zwischen den beisitzenden Richtern und den anderen Betheiligten ist von der Reichstagscommission eingeführt und findet ihre Rechtfertigung" nicht sowohl in demjenigen, was der Bericht derselben (S 62) anführt, denn diese Gründe gelten auch von den Geschworenen und Schöffen (vgl. K e l l e r Bern 3 zu § 240), als vielmehr darin, dass von den beisitzenden Richtern weder ein Missbrauch noch ein Missgriff zu besorgen ist, und die ganze Procedur in der Regel schädlicher wäre, als die Zulassung selbst einer ungeeigneten Krage. 28 2f l Prot S 371 f. 950—952, Bericht S 64. S 62. 26

§ 44.

Beweisaufnahme in

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„selbstverständlich" erklärt, dass die Befugniss des Vorsitzenden nicht „auf Fragen ausgedehnt werden könne, welche der Vorsitzende nur für unerheblich erachtet". Allein die Abgrenzung der „unerheblichen" von den „zur Sache nicht gehörigen" Fragen ist nicht leicht, wie ζ. B. der eifrigste Vertreter dieser Richtung, S c h w a r z e 3 0 , selbst anerkennen muss. Zuzugeben ist, dass auch § 240 dem Vorsitzenden kein Recht giebt, der Antwort des zu vernehmenden vorzugreifen, gewissemìaassen im voraus als feststehend zu erklären, wie sie ausfallen müsse, oder ihr die Glaubwürdigkeit abzusprechen. Allein andererseits handelt es sich auch hier um die Anwendung der Grundregeln des Beweisrechts, und es wird sich dabei der Vorsitzende von denselben Grundsätzen leiten lassen, die den Gerichtshof bei der Entscheidung über Beweisanträge leiten sollen (vergi, oben g 36 V, § 41 I I Nr 5 a) ; denn jede Frage ist ein Akt cler Beweisaufnahme und fällt unter denselben Gesichtspunkt, wie ein Beweisantrag. Ein Beispiel giebt die häufig auftauchende Einwendung, die Frage sei schon beantwortet. Es ist gewiss ganz „ungeeignet", dass eine Frage wiederholt wird, ohne dass hiefür ein triftiger Grund geltend gemacht werden kann; aber es wäre andererseits ein ganz ungeeignetes Vorgehen des Vorsitzenden, wenn er entweder durch Auslegung früherer, deutbarer Aeusserungen der Auskunftsperson der nächstliegenden Art der Aufklärung Hindernisse bereiten oder wenn er die absichtliche Wiederholung der Frage da verhindern wollte, wo nach Lage cles Falles hievon ein Erfolg erwartet werden kann, weil z. B. früher ein Missverständniss obwaltet haben mag oder weil spätere Angaben jetzt eine eingehendere Befragung ermöglichen u. dergl. Ohne aufrichtige Anerkennung des Rechtes cler Parteien, in clie Beweisaufnahme selbstthätig einzugreifen, kann der Vorsitzende dieser seiner schwierigsten Aufgabe ebenso wenig gerecht werden', als ohne die Freiheit, sich von seiner Auffassung des individuellen Vorganges und der Motive des Fragenden bestimmen zu lassen 31 . 30

Bern 2 zu § 240. Vgl. über die Frage S c h w a r z e Bern 2 zu § 240; K e l l e r Bern 5 das.; L ö w e Bern 5 das.; T h i l o Bern 3 das. — Dagegen P u c h e l t Bern 4 zu § 238 ff. — Das RGE v. 5. Mai 1880 Rspr 1 732 erkennt an, dass der S c h w u r gerichtshof berechtigt war, die Vorlegung einer Frage an einen Zeugen aus dem Grunde abzulehnen, „weil dieselbe ohne Einfluss auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen sei". Das Gesetz gehe davon aus, „dass nicht die A n s i c h t desjenigen, welcher die Frage stellt, darüber, ob die Frage erheblich oder zulässig sei, entscheidet". Diese Entscheidung komme nicht den Geschwornen, sondern dem Gericht, mit Vorbehalt der Revision wegen unzulässiger Beschränkung der Vertheidigung, zu. — Das RGE v. 26. Juni 1880 Rspr I I 122 hat einen Fall vor Augen, avo die Stellung der 31

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§ 44.

Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung'.

5. Die C o n t r o l e des G e r i c h t e s beruht auf § 237 Abs. 2 und auf § 241. Nach ersterem ist es berufen, zu entscheiden, wenn „eine auf die Sachleitung bezügliche Anordnung des Vorsitzenden von einer bei der Verhandlung betheiligten Person als u n z u l ä s s i g beanstandet" wird; nach der zweiten Stelle hat das Gericht „Zweifel über die Zulässigkeit einer Frage" „in allen Fällen" zu entscheiden. Was nun zunächst diese mehr specielle Bestimmung betrifft, so war sie mit Ausnahme der letztangeführten Worte auch in § 204 des Entwurfs enthalten, dessen Fassung keinen Zwreifel darüber liess, dass die Entscheidung des Gerichtes nicht bezüglich der vom Vorsitzenden als ungeeignet oder nicht zur Sache gehörig zurückgewiesenen Fragen angerufen werden durfte. Sie hatte also nur Bedeutung für Fälle oder Zweifel gegen die Zulassung der Frage, die auf andere Art angeregt wrerden, also wenn eine Frage, die der Vorsitzende z u l a s s e n oder s t e l l e n wrollte, von einem Betheiligten (einschliesslich der vernommenen Person selbst) „als unzulässig" angefochten würde. Diese Bedeutung hat sie m. E. auch im Gesetze behalten 32 . Der Wortlaut umfasst ferner auch den Fall, wenn der Vorsitzende (oder ein anderes Mitglied des Gerichtes) eine Frage eines der beisitzenden Richter für unzulässig ansieht; das Gesetz verlangt nur einen „Zweiallem Anschein nach berechtigten Frage, ob die Belastungszeugin an den Angeklagten einen Brief geschrieben, worin sie um Unterstützung gebeten, von der Staatsanwaltschaft deshalb beanstandet wurde, weil schon beschlossen sei, dass der fragliche Brief nicht verlesen werden solle. Das G e r i c h t erklärte aus diesem Grunde die Frage für „ungeeignet". Mit Recht bemerkt dagegen das Reichsgericht, dass letzteres nicht zutreffe, und nahm an. dass das Gericht die Frage nur „wegen thatsächlicher Unerheblichkeit für ungehörig und ungeeignet gehalten hat ; tliatsächliche Unerheblichkeit ist aber kein Zurückweisungsgrund". 32 Nach L ö w e Bern 9 zu § 237 (übereinst. D a l c k e Bern 5 das.) findet Abs. 2 des § 237 nicht auf Fragen des Vorsitzenden Anwendung; das ist wohl richtig, schneidet aber die Anwendung des §241 nicht ab; und wenn er zu diesem Paragraphen (unter 2) bemerkt, dass den Prozessbetlieiligten kein Recht zustehe, eine Frage zu beanstanden, auch nicht, wenn sie vom Gegner gestellt werde, so vermisst man dafür die Begründung. And. Mein. T h i l o Bern 1 zu § 241. D o c h o w S 223 scheint sich der Ansicht L o w e s darin anschliessen zu wollen, dass er nur dem Befragten die Beanstandung der Frage gestattet. F u c h s HH I I 72 sagt nur, dass der Vorsitzende „ s e l b s t in Bezug auf das Fragerecht unbeschränkt und nicht etwa von der Zustimmung der Beisitzer zu den von ihm gestellten Fragen abhängig" ist. Vgl. B ü l o w in Rassow und KüntzePs Beiträgen zur Erläut. des deutschen Rechts X X V I 1882 S 582—592: Ist ein beisitzender Richter befugt, eine auf die Sachleitung bezügliche Frage des Vorsitzenden oder einer von dem Vorsitzenden gestellten Frage als unzulässig zu beanstanden? Die Frage wird verneinend beantwortet und dies aus der Enstehungsgeschichte s p e c i e l l der Civilprozessordnung begründet.

§ 44.

Beweisaufnahme in

er Hauptverhandlung.

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fei". Wann aber ist die Frage unzulässig? Bestimmungen, welche die Zulässigkeit einzelner bestimmter Fragen, nicht der ganzen Vernehmung betreffen, sind nur in sehr geringer Zahl aufzufinden. Fälle, in welchen die subjective Berechtigung, clas Recht zu fragen, bezweifelt wird, werden ebenfalls selten sein, und nicht unbedenklich unter clen Wortlaut des § 241 gebracht werden. Die ganze Bestimmung ist also werthlos, wenn es sich nicht auch hier um Handhabung des angesichts cler freien Beweiswürdigung wesentlich n e g a t i v e n Beweisrechtes handelt, um clie Ausschliessung von Fragen, die nach ihrer Form (ζ. B. unzulässige Suggestion) oder nach ihrem Inhalt deutlich erkennen lassen, dass jede Antwort, welche darauf ertheilt wird, ungeeignet ist, als Beweisniaterial angesehen zu werden. — Nur bei solcher Auffassung cler Aufgabe cles Gerichtes fällt sie auch mit der dem Vorsitzenden nach § 240 Abs. 2 zukommenden zusammen ; nur so kann vermieden werden, class wenn der Berechtigte die Entscheidung des Gerichtes anruft, dieses etwa aussprechen müsste, die Frage sei zwar ungeeignet oder nicht zur Sache gehörig, aber nicht unzulässig und könne daher vom Gerieht nicht zurückgewiesen werden. Hat dagegen cler Vorsitzende eine Frage auf Grund des Abs. 2 des § 241 zurückgewiesen, so frägt es sich, ob dagegen die Entscheidung des Gerichts angerufen werden kann? Hier kommt nun § 237 Abs. 2 3 3 in Betracht, welcher die bestimmten Einzelentscheidungen, die der Entwurf enthielt, verdrängte. So wie clas Gesetz jetzt lautet, kann unzweifelhaft derjenige, der bei cler Zurückweisung seiner Frage sich nicht beruhigt, die Entscheidung des Gerichtes anrufen 3 4 . V. Der Einfluss cles G r u n d s a t z e s cler M ü n d l i c h k e i t u n d U n m i t t e l b a r k e i t 3 5 auf die Beweisaufnahme ist ein sehr bedeutender 33 Der Einfluss, den Abs. 2 des § 237 StPO auf die Stellung des Vorsitzenden übt, erstreckt sich nicht blos auf'das Beweisverfahren; es ist daher hier nicht der Ort, diese Gesetzesstelle und ihre Entstehungsgeschichte, namentlich die Variante „gesetzlich unzulässig" und „unzulässig" eingehend zu besprechen. 34 L ö w e Bern 3 bei § 241. K e l l e r Bern 2—4 bei S 241. P u c li e 11 Beni 4 bei §§ 238 ff. Für diese Auslegung des Gesetzes spricht auch der Antrag B ä h r (Prot der RtC S 348), welcher speciell die Handhabung des Fragerechtes einschliesslich der Beanstandung einer „Fragestellung des Vorsitzenden" mit dem jetzigen § 237 in Verbindung brachte, und welcher der definitiven Fassung zu Grunde liegt, obgleich der Stoff anders vertheilt wurde. Prot S 351. Nach ö s t e r r . Recht ist der Vorsitzende berechtigt, Prägen, „die i h m unangemessen erscheinen, zurückzuweisen" ; es findet hier also eine Anrufung des Gerichtes nicht statt. Wohl aber steht nichts entgegen, dass die sachliche Erhebung, welche mit der Frage bezweckt wurde, zum Gegenstand eines Beweisantrages gemacht wird. 3Γ) M i t t e r m a i er, Deutsches Strafverfahren I I 294 f. Anm 27—30. D e r selbe, Gesetzgebung und Rechtsübung etc. S 307 ff. D e r s e l b e im GS 1849

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§ 44.

Beweisaufnahme in

er Hauptverhandlung.

und die Regelung desselben eine der schwierigsten Aufgaben der Strafprozessgesetzgebung (s. oben § 23 I). Bei der Vorbereitung sowohl der ö s t e r r . als der d e u t s c h e n Strafprozessordnung hatte man überwiegend schlimme Erfahrungen vor Augen. Namentlich in Oesterreich hatte nicht blos die Praxis die Mündlichkeit geschmälert, sondern die StPO v. 1853 hatte dies durch allzuweit gehende Erleichterung cler Vorlesung von Vernehmungsprotokollen in cler Hauptverhandlung vielfach begünstigt 36 . Es war daher auf die Vermehrung der Garantien cler Mündlichkeit das Hauptaugenmerk bei cler Vorbereitung cler StPO v. 1873 gerichtet (vgl. § 252 und Abschnitt Β der Mot). Die deutsche StPO widmet der Frage clie §§ 248 bis 255 3 7 . Beide Gesetze präcisiren die Fälle, in welchen allein clie Vorlesung von Schriftstücken gestattet ist, und schliessen clas Ermessen, die discretionäre Gewalt von der Entscheidung hierüber aus. Allein clie deutsche StPO zieht der Vorlesung von Schriftstücken überhaupt viel engere Grenzen als clie österreichische. Letztere gewährt in dem Falle, wo geladene Zeugen oder Sachverständige ausgeblieben sind, clas Recht, nach Anhörung der Parteien darüber zu entscheiden, „ob die Hauptverhandlung vertagt oder fortgesetzt werden soll und statt der mündlichen Abhörung jener Zeugen oder Sachverständigen die Vorlesung cler in cler Voruntersuchung abgelegten Aussagen derselben erfolgen soll" (§ 242 Abs. 2). Diese Vorlesung ist ferner nach dem angeführten § 252 cler österr. StPO II I f f . 1850 I I 113 ff. Z a c h a r i ä , Handbuch I 8 48 ff., insbes. S 54 und 55 Anm 1—4 II 365 ff. P l a n c k , Syst. Darstellung S 370—372. 375. W a l t h e r , Bayer. StP S 315—318. W u r t h , besten·. StPO v. 1850 S 455 ff. O p p e n h o f f , Preuss. Ges über . . . Verfahren in Strafsachen S 146 ff. R u p p e η t h a i , Materialien S 136 ff. und im GS 1852 I 553 ff. S c h w a r z e in Schletters J IV 51, in den N. Jahrb. für säclis. Strafrecht V I I 37 ff., im Commentar zur säclis. StPO v. 1855 I I 85 ff. (mit reichlichen Literaturangaben). Da lek e in G A 1864 S 11 ff. S 83 ff. L o h m a n n das. 1870 S 137 ff. J o h n , Kritiken strafr. Entscheidungen S 159 ff. T r é b u t i en, Cours de droit criminel I 404. H é l i e , Instr. § 647, vol. V I I I p 782 ss., éd. Brüx. Nr 5029 — 5031. D e r s e l b e , Pratique I 328 Nr 644. R o l l a n d de V i l l a r g u e s zu Art. 477; zu Art. 269 § 2 Nr 57—115. S. aber auch bezüglich der ausgedehnten Anwendung der procès verbaux in leichteren Fällen H é l i e , Pratique I 146. 288 ss. R o l l a n d de V i l l a r g u e s bei Art. 153 Nr 17—32. — M e i zu Art. 294 des ital. Regol. di procedura penale ρ 168—170. C a r r a r a im Giornale delle Leggi (Genova) IV Nr 25, s. auch Rivista penale IX boli. Nr VII. Β or s a n i e C a s o r a t i §§ 1363—1379, IV 120 ss. 36 G l a s e r , Kl. Schriften S 701 ff. 734 ff. 37 Ausser den Commentaren zu diesen Paragraphen s. G e y e r $ 195 I I : F u c h s in HH I I 57 ff. 64 ff.; D o c h o w S 227. 228; Mot S 139 ff.; Prot der RtC S 381 ff. 959 ff. 984 ff.

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Beweisaufnahme i n

er Hauptverhandlung.

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liberali zulässig', wo das persönliche Erscheinen des zu vernehmenden „aus erheblichen Gründen füglich nicht bewerkstelligt werden konnte" AVO der Vernommene von seinen früheren Aussagen wesentlich abweicht, oder wenn Zeugen, ohne dazu berechtigt zu sein, die Aussagen in der Hauptverhandlung verweigern — endlich wenn die Parteien über die Vorlesung einig sind. — Die deutsche StPO hat zunächst im § 191 angeordnet, dass schon in der Voruntersuchung den Parteien die Anwesenheit bei der Verhandlung zu gestatten sei, „wenn ein Zeuge oder Sachverständiger vernommen werden soll, welcher voraussichtlich am Erscheinen in der Hauptverhandlung verhindert oder dessen Erscheinen wegen grosser Entfernung besonders erschwert sein wird". Für das Zwischenverfahren trifft § 222 die gleiche Vorsorge. Diese Bestimmungen finden ihre Ergänzung in den sehr Striefen Satzungen der StPO über die Voraussetzungen cler Verlesung von Schriftstücken in der Hauptverhandlung. Von diesen Bestimmungen sind hier diejenigen nicht zu besprechen, welche clen Urkundenbeweis oder clas Geständniss des Angeklagten oder das Verhältniss Mitbeschuldigter 38 zu Zeugen oder clie Befreiung von der Zeugenpflicht betreffen; hier handelt es sich lediglich um clen E r s a t z oder die E r g ä n z u n g cler Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen. 1. Der Grundsatz ist in § 248 mit voller Schärfe ausgesprochen: „ B e r u h t cler B e w e i s e i n e r T h a t s a c h e a u f d e r W a h r n e h m u n g e i n e r P e r s o n , so i s t l e t z t e r e i n d e r H a u p t v e r h a n d l u n g zu v e r n e h m e n " . Dieser Grundsatz findet seine Beschränkung in dem z w e i t e n Satz des § 249, welcher nur verbietet, die Vernehmung durch „Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolles oder eine schriftliche Erklärung zu ersetzen". Während cler Wortlaut auch das Zeugniss von Hörensagen ausschliesst, oder doch an dessen Zulassung clie Bedingung knüpft, dass es nicht bestimmt sei, clas unmittelbare Zeugniss zu ersetzen, ergiebt sich aus clem Zusammenhang mit § 248 und aus den Berathungsmaterialien, class man diese Frage nicht zu entscheiden beabsichtigte 39 . 38 Im allgemeinen steht in Bezug auf diese Frage der Mitbeschuldigte dem Zeugen gleich. Prot der BtC S 382. 383. Ber der KtC (mit einer ungenauen Wendung) S 66. 67. Schwarze bei § 250 Beni f u. i. L ö w e Bein 4 zu § 250. K e l l e r Bern 7 das. 39 Auf eine Bemerkung S c h w a r z e s , er fasse § 212 des Entw (§ 249 StPO) als eine Beschränkung des unmittelbar vorausgehenden Paragraphen auf, entgegnete Geh. Oberregierungsrath H a n a u e r : „Es könne kein Zweifel sein, dass durch § 212 nur die Vorlesung von Vernehmungsprotokollen (und wohl auch s c h r i f t l i c h e n Erklärungen) ausgeschlossen sein solle".

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§ 44.

Beweisaufnahme in (1er Hauptverhandlung.

Selbst in dieser engeren Fassung erleidet der Grundsatz als solcher eine doppelte Ausnahme. a. Augenscheinsprotokolle enthalten zwar schriftliche Bestätigungen der Wahrnehmung des Richters; allein d i e s e sind, im Gegensatz zu clen bei solcher Gelegenheit entgegengenommenen Aussagen von Sachverständigen und Zeugen 4 0 , stets zu verlesen (§ 248). b. Die „ein Zeugniss enthaltenden Erklärungen öffentlicher Behörden" k ö n n e n verlesen werden — eine Bestimmung, bei welcher die Motive zwischen collegialisch formirten Behörden, welche als solche ihre Stimine nur schriftlich abgeben können, und Behörden, welche nur aus einer Person bestehen, unterscheiden. Der Unterschied ist aber unerheblich; es handelt sich in beiden Fällen um die Wahrnehmungen bestimmter Personen, und es ist in beiden dem Ermessen des Gerichtes überlassen, ob es sich mit deren amtlicher Bestätigung begnügen könne, oder ob eine mündliche Vernehmung des oder der Wahrnehmenden nöthig sei. Neben clen ein „Zeugniss" enthaltenden Erklärungen erwähnt das Gesetz die ein „Gutachten" enthaltenden. Damit ist eine Mittelclasse von Erklärungen berührt , welche nicht physische Wahrnehmungen und nicht blos technische Beurtheilungen sondern die Darlegung der Ergebnisse von gepflogenen behördlichen Feststellungen enthalten; z. B. clie Erklärung der Behörde über eine vorgenommene Revision von Büchern und Cassen, über Haussuchungen, etwa mit cler Bemerkung, es sei alles in Ordnung gefunden, es sei nichts auffallendes bemerkt worden. Die V e r l e s u n g solcher Erklärungen scheint § 255 zu gestatten, schon weil sonst die ausdrückliche Ausschliessung von Leumundszeugnissen nicht nöthig gewesen wäre; wohl aber wird zu prüfen sein, ob sie ein für sich allein ausreichendes Beweismaterial bieten, da das Gericht sich nicht das Urtheil einer Behörde über Thatsachen ungeprüft aneignen darf 4 1 . Der 40

Schwarze Bern 9 zu § 86 und Bern 5 zu § 248 unter Erwähnung einer entgegengesetzten Entscheidung des Berliner Obertribunals und ihrer Besprechung durch J o h n , Kritiken S 159. 41 In d i e s e m Sinne erging das RGE v. 6. März 1880 Rspr 1 433 (in Anwendung der preussischen StPO v. 1867): nicht die \rerlesung einer behördlichen Mittheilung über die Ergebnisse amtlicher Nachforschung bezüglich eines Eisenbahnunfalles wurde gerügt, sondern dass das Gericht einen entscheidenden Umstand als erwiesen annahm, blos weil die betreffende Behörde denselben auf Grund der (übrigens dem Gericht mitgetheilten) Angaben einer Anzahl von Privateisenbahnunternehniungen als festgestellt ansah. Nach RGE v. 5. Mai 1882 Rspr IV 435 darf selbst in Fällen, wro ein ärztliches Attest zulässig wäre, das Protokoll über die Vernehmung des Arztes, die den entsprechenden Befund ergab, nicht verlesen werden, weil ein solches eine grössere Bedeutung in Anspruch nimmt.

§ 44.

Beweisaufnahme in (1er Hauptverhandlung·.

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A n t r a g des Verletzten ist bei Antrags-Verbrechen ein unentbehrliches Schriftstück; er muss verlesen werden können, weil es sich darum handelt, nachzuweisen, dass die gesetzliche Bedingimg der Strafverfolgung erfüllt sei; soweit aber das Schriftstück eine darüber hinausgehende Erklärung über Wahrnehmungen enthält, fällt es unter § 249 4 2 . 2. Bezüglich solcher Aussagen, welche dem Gegenstand nach unter § 249 StPO fallen, lässt § 250 Ausnahmen für einzelne Fälle zu, in welchen die Beobachtung jener Regel entweder u n m ö g l i c h oder doch s e h r erschwert ist. Das e r s t e r e bewirkt, dass das Protokoll über die Vernehmung der Auskunftsperson verlesen werden darf, ohne dass weiter unterschieden wird, in welchem Stadium des Verfahrens (etwa auch in einer früheren Hauptverhandlung, die abgebrochen oder vernichtet wurde) die Vernehmung erfolgte, ob sie eine eidliche oder nicht beeidigte war. Streitig ist nur, ob es erforderlich sei, dass die Aussage in d e r s e l b e n Strafsache abgelegt wurde, eine Forderung, für welche der Wortlaut des Gesetzes keinen Anhaltspunkt bietet, und ebensowenig die Natur der Sache 43 . Das Protokoll muss sich übrigens auf eine „ r i c h t e r l i c h e " Vernehmung beziehen 44 . 42 Weiter geht Sc Ii w a r ζ e bei § 250 unter e: „der Antrag kann jedenfalls vorgelesen werden, da er nicht als Zeugniss zu betrachten ist". 43 Anderer Meinung (im Gegensatz zu V o i t u s Beni 2 u n d D a l c k e Bern 5 zu § 250 und einem Erk. des Berliner OTr v. 16. Juni 1874) L ö w e Bern 8 und K e l l e r Bern 6 das. Letzterer gab in der 1. Aufl. als Grand an, dass von einem Zeugen immer nur mit Bezug auf einen bestimmten Beschuldigten und eine bestimmte That gesprochen werden könne. Allein § 250 spricht davon, in welcher Eigenschaft jemand zu vernehmen wäre, wäre dies überhaupt möglich, nicht davon, in welcher er f r ü h e r ausgesagt hat; von der früheren Aussage spricht § 249, aber nur mit den Worten: „über eine frühere Vernehmung". Sollte in einem auf Grund des § 399 Nr 2 wieder aufgenommenen Verfahren eine wichtige Aussage, welche in dem Meineidsprozess von einem seither verstorbenen abgelegt wurde, dem Angeklagten verloren gehen? Oder wäre es besser, sie etwa durch Vernehmung des Untersuchungsrichters zu ersetzen? Bei Berathung der österr. StPO (Mayer I 729) wurde die Fassung eigens so gewählt, damit sie auch Akten aus a n d e r e n Strafprozessen einschliesse. 44 Aufzeichnungen über polizeiliche Vernehmungen, Aussagen vor dem Staatsanwalt sind somit völlig ausgeschlossen; sie müssen durch die Vernehmung der Personen, vor welchen sie erfolgten, ersetzt werden. Dagegen schliesst der Wortlaut Vernehmungen von Zeugen und Sachverständigen vor dem Civilrichter nicht aus, und es besteht kein Grund, die im Text enthaltene Einschränkung durch Auglegung zu verschärfen.

Binding. Handbuch. IX. 4. I :

G l a s e r , Strafprozess.

I.

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§ 44.

Beweisaufnahme in

er Hauptverhandlung.

Im Gegensatz hiezu handelt es sich im z w e i t e n Falle nur darum, dass die mündliche Vernehmung zwar nicht unmöglich, aber doch sehr erschwert ist, und dass sie in der Hauptverhandlung durch die auf Grund der §§ 191 und 272 StPO unter faeultativer Mitwirkung der Betheiligten vorgenommene commissarische Vernehmung und durch Verlesung des bezüglichen Protokolles ersetzt werden soll. So fassen auch die Motive zu § 250 das Verhältniss der beiden Absätze zu einander : im ersten Fall strengere Bedingungen des Wegfalls der mündlichen Vernehmung, im zweiten strengere Anforderungen an das Surrogat. — In beiden Fällen sind die Voraussetzungen cler Zulassung von Verlesungen nach clem Stande cler Dinge im Augenblick cler Hauptverhandlung zu beurtheilen. Es handelt sich nicht um die Correctur früherer Uebersehen, noch um clie Fortsetzung des seiner Zeit correct vorgenommenen: sondern darum, dass nur wenn und so weit es im Augenblick der Hauptverhandlung unbedingt nöthig ist, von cler Regel des § 249 und von clem Grundsatz cler Mitwirkung der Parteien bei der Zeugenvernehmung abgewichen werden darf. 3. Die Gründe, welche nach dem ersten Absatz des § 250 allein die Verlesung einer früheren Aussage rechtfertigen, sind: der Tod oder eine Geisteskrankheit cles zu vernehmenden oder clie Unmöglichkeit, seinen Aufenthalt zu ermitteln. Letztere wird erst anzunehmen sein, wenn erwiesen ist, class alle Mittel, von deren Anwendung die Erforschung des Aufenthaltes des Zeugen u. s. w. etwa gewärtigt werden kann, erfolglos angewendet wurden. Nicht berücksichtigt sind dabei manche Verhältnisse, welche der Wirkung nach clen angefühlten gleichkommen, weil clas Gesetz als Ergänzung den Abs. 2 vor Augen hatte und davon ausging, dass überall, wo die Vernehmung nicht unmöglich ist, entweder der Zeitpunkt abgewartet werden soll 4 5 , wo sie möglich wird, oder durch Anwendung der commissarischen Vernehmung die Intentionen cles Gesetzes wenigstens annähernd verwirklicht werden müssen. Allein es sind Verhältnisse denkbar, wo beides entweder ausgeschlossen oder mit so wenig Zuversicht ins Auge zu fassen ist, als das Ende einer Geisteskrankheit; ζ. B. Aufenthalt in einem fremden Lande, in welchem cler Zeuge zur Aussage nicht 4r>

Das RGE v. 4. März 1881 Rspr I I I 105 genehmigt die Verlesung der Aussage „eines auf der Schifffahrt abwesenden" und bemerkt darüber: „Dass das Gericht, wenn aller Nachforschungen ungeachtet der Aufenthalt des Zeugen nicht ermittelt ist, die Hauptverhandlung . . . aussetzen müsse, sobald Aussicht vorhanden, dass der abwesende Zeuge zurückkehren werde . . ., schreibt das Gesetz nicht vor".

§ 44.

Beweisaufnahme in cler Hauptverhandlung.

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gezwungen werden kann, oder wo die Formen der commissarischen Vernehmung nicht beobachtet werden können. Ein in anderen Gesetzen ebenfalls vorgesehener, aber bei Berathung cler deutschen StPO mit Bedacht unberücksichtigt gelassener Fall ist der, wo der erschienene Zeuge das Zeugniss verweigert, ohne dazu berechtigt zu s e i n 4 6 ; allerdings kann hier zunächst der Zeugenzwang angewendet werden, und der Versuch wird gewiss nicht unterbleiben, wenigstens durch die Androhung und selbst durch die Verhängung der Zwangsmittel das Zeugniss zu erlangen. Allein wenn der \ 7 ersuch fehlschlägt, wenn selbst die Aussetzung der Verhandlung ein anderes Resultat nicht herbeiführt , so ist es mit dem Princip der freien Beweiswürdigung kaum in Einklang zu bringen, dass eine Aussage verloren geht, welche durch die Weigerung, mündlich auszusagen, an Werth verlieren mag, nicht aber ohne weiteres als völlig werthlos bezeichnet werden kann, zumal es oft möglich sein wird, das Motiv der Weigerung zu erkennen und zur Beurtheilung der früheren Aussage zu verwerthen. Zudem ist es sehr bedenklich, dass dem die Aussage verweigernden der vollständige Erfolg dieser Weigerung, sofern er nur die Strafe über sich ergehen lässt, gesichert ist. — Aehnlich verhält es sich mit a u s b l e i b e n d e n Zeugen. Die Strafprozessordnung lässt hier nur die Wahl: Vertagung oder gänzlichen Verzicht auf die Aussage; selbst der übereinstimmende Antrag der Parteien bewirkt nicht, dass 46 Oesterr. StPO § 252 Z. 3: „wenn Zeugen, ohne dazu berechtigt zu sein, oder wenn Mitschuldige die Aussage verweigern". — Bei der Berathung in der Reichstagscommission (Prot S 381 if.) wurde ein ähnlicher Antrag abgelehnt, weil er, wie der Vertreter der Regierung sagte, die Gefahr in sich berge, dass der Richter in den seltensten Fällen von dem Zeugnisszwange Gebrauch machen werde, dass dann aber auch die Zeugnissverweigerungen sich mehren würden. Was sollte aber den Richter abhalten, selbst wenn er keine Vertagung der Verhandlung eintreten lassen mag, mindestens die im § 69 Abs. 1 vorgesehene Strafe neben der Zulassung der Verlesung zu verhängen? Und würde nicht selbst dies genügen, um die Gefahr allzuhäufiger Zeugnissverweigerungen fernzuhalten? Andererseits ward bemerkt, der Antrag unterscheide nicht einmal zwischen beeidigten und unbeeidigten Aussagen, und durch die Weigerung eines Zeugen, sich in der Hauptverhandlung vernehmen zu lassen, werde dessen ganze frühere Aussage bedeutungslos. Allerdings spricht für diese Auffassung, dass der Zeuge für die letztere (sofern sie unbeeidigt blieb) nach dem deutschen StGB überhaupt nicht verantwortlich ist (nach österreichischem Recht ist dies anders). Die Umstände könnenaber so liegen, dass es deutlich erkennbar ist, dass der Zeuge seine Aussage gerade aus einem Grunde nicht wiederholen will, der dafür spricht, dass er früher die Wahrheit sagte (ζ. B. weil er für die Verweigerung der Aussage bezahlt oder sonst gewonnen ist).

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Beweisaufnahme in

er Hauptverhandlung.

es dem Gericht gestattet wäre, die vorhandene Aussage verlesen zu lassen 4 7 . 4. Der zweite Absatz des § 250 gestattet die Verlesung des Protok o l l s über die frühere Vernehmung, „wenn dem Erscheinen eines Zeugen oder Sachverständigen in cler Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit oder Gebrechlichkeit oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen" oder „dessen Erscheinen wegen grosser Entfernung besonders erschwert" ist (§ 222). Ueber die Gesichtspunkte, welche für die in praktischer Hinsicht wichtigste Frage der „grossen Entfernung" maassgebend sind, haben sich die Motive (S. 125) ebenso eingehend als zutreffend ausgesprochen: „Der Richter wird hier auch d i e Frage nicht ganz ausser Betracht zu lassen haben, ob die dem Zeugen zugemuthete Mühe einer grossen Reise und cler hierdurch erwachsende Kostenaufwand nicht in einem Missverhältnisse zu clem Gegenstande der Untersuchung stehen würde". Auf der anderen Seite weist L ö w e 4 8 auf clen engen Zusammenhang cler Frage mit der Gerichtsverfassung und ihrer Ausführung hin; es kann nicht angenommen werden, dass ein Gericht innerhalb seines Sprengeis die Entfernung so gross finden könne, dass sie das persönliche Erscheinen erschwert. Fühlt die Aufstellung dieser Regel zu verschiedenen Annahmen bei Amts- und Landgerichten, so darf dies nicht beirren, weil ja eben auch die Wichtigkeit der Sache einen Einfluss auf clie Entscheidung übt. Andererseits versteht es sich von selbst, dass die Verschiedenheit des Sprengeis für sich allein keinen Grund bildet, die Entfernung für eine zu grosse zu erklären. — Uebrigens ist nicht blos auf die Wichtigkeit cler Strafsache, sondern auch auf die Wichtigkeit des Gegenstandes der Vernehmung zu sehen. Aus vorstehendem ergiebt sich, dass es darauf ankommt, ob das Gericht im Augenblick der Hauptverhandlung erachtet, dass clie gesetzlichen Voraussetzungen für den Wegfall cler Vernehmung in cler Hauptverhandlung vorhanden seien. Das Gericht kann daher die Verlesung des Protokolles ablehnen, obgleich die conimissarische Ver47

S c h w a r z e Bern 1 zu § 251. Bern 6 zu § 222. Das Reichsgericht nimmt für sich die Prüfung der Frage, ob die Entfernung eine die Vernehmung besonders erschwerende war, mit Recht in Anspruch; grosse Entfernung sei nicht nur eine „thatsäehliche Frage, sondern auch ein Rechtsbegriff". RGE v. 13. Mai 1881 Rspr I I I 301. In diesem Falle beurtheilt es die concreten Verhältnisse (6 Eisenbahnmeilen bei täglich 9 Zügen); ebenso das RGE v. 3. Febr. 1882 Rspr IV 120. 48

§ 44.

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er Hauptverhandlung.

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nehmung bereits erfolgt ist, ja es kann in Folge der Aenderung der Verhältnisse in der Hauptverhandlung selbst einen früheren Beschluss, welcher die Verlesung für gerechtfertigt erklärt, wieder unistossen. Die mündliche Vernehmung darf aber auf Grund des Abs. 2 des § 250 nur durch ein Protokoll über eine Vernehmung ersetzt werden, welche den Anforderungen des § 222, beziehungsweise § 191, vollständig entspricht; es muss daher der Zeuge auch wirklich beeidigt sein, soweit die Beeidigung zulässig ist. Auch hierin ist die Meinung desjenigen Gerichtes, vor welchem die Hauptverhandlung stattfindet, maassgebend. Es muss ferner den Betheiligten die Möglichkeit, bei der Vernehmung (nach Maassgabe ihres Rechtes — siehe oben § 39 I I I ) zu erseheinen, durch rechtzeitige Benachrichtigung, soweit sie nicht wegen Gefahr im Verzuge unterbleibt, gewährt worden sein. Auch alle diese Erfordernisse sind von dem Gesichtspunkt aus zu beurtheilen. ob es j e t z t möglich ist, der gesetzlichen Regel zu entsprechen, nicht ob die Abweichung seiner Zeit gerechtfertigt war. Ist nun ersteres der Fall, so muss nöthigenfalls die Vernehmung wiederholt werden, sofern nicht der Berechtigte selbst auf die Nachholung verzichtet 4 9 . Hindernisse, welche die Partei von der Anwesenheit- bei der Vernehmung abhielten, geben ihr kein Recht, die Wiederholung der Vernehmung zu begehren; das wäre die in § 191 Abs. 5 ausdrücklich versagte Verlegung des Termins. Ist dem Wesen der Sache (Eid und Möglichkeit der Mitwirkung der Parteien) entsprochen, so kommt es dann nicht darauf an, in welchem Stadium des Verfahrens (in d e r s e l b e n Strafsache, washier allerdings unerlässlich ist) die Vernehmung erfolgte. Die Vernehmung in der Hauptverhandlung genügt dem Wortlaut des § 250 („nach Eröffnung des Hauptverfahrens"), wenngleich das Hauptverhandlungsprotokoll geringere Garantien bietet, welche von Fall zu Fall zu beurtheilen sein werden 5 0 . Ist bei einer in gehöriger Form vorgenommenen Vernehmung eine Aufzeichnung über eine frühere Aussage in Bezug genommen worden, so ist sie Bestandteil des über die spätere Vernehmung aufgenommenen Protokolles und kann mit diesem verlesen werden. 5. N e b e n der mündlichen Vernehmung kann das Protokoll über 49

Löwe Bern 6—8 zu § 250. Die etwa unterbliebene Vorlegung des Protokolls an den Vertheidiger ist ebenfalls durch a u s d r ü c k l i c h e n Verzicht heilbar. BGE v. 3. April 1880 Rspr I 533. r, ° L ö w e Beni 7 a zu § 250.

454

§ 44.

Beweisaufnahme i n

er Hauptverhandlung.

eine frühere Vernehmung· verlesen werden 5 1 , wo und soweit dies nöthig wird: a. „Zur Unterstützung des Gedächtnisses" des Vernommenen, wenn dieser erklärt, „dass er sich einer Thatsache nicht mehr erinnert". Diese Fassung ist, nach vielfachen Kämpfen, welche aus der Besorgniss vor Missbrauch der Bestimmung zur Untergrabung der Mündlichkeit hervorgingen, dem § 252 Abs. 1 gegeben worden, und sie ist in der That darauf berechnet , den Gebrauch dieses Mittels zweckmässig einzuschränken und zu verhindern, dass die Vernehmung in der Hauptverhandlung nur als Wiederholung der Vernehmung im Vorverfahren behandelt werde. b. Wegen behaupteter oder vennutheter Widersprüche zwischen der in der Hauptverhandlung abgelegten und der früheren Aussage des Vernommenen, wenn der Widerspruch „nicht auf andere Weise ohne Unterbrechung der Hauptverhandlung festgestellt oder gehoben werden kann". Auch diese Fassung beruht auf der gleichen durch mancherlei Vorgänge gerechtfertigten Besorgniss, wie die unter a erwähnte. Man scheint aber die Schwierigkeiten zu überschätzen, die sie bereitet" 2 . Worauf das Gesetz Werth legt, das ist, dass die Verlesung nicht thatsächlich die Vernehmung ersetze, ihr vorhergehe oder sie verdränge. Es muss also die Vernehmung zunächst vor sich gehen, als ob eine andere nicht vorhanden wäre. Glaubt nun ein zur Fragestellung berechtigter einen Widerspruch mit einer früheren Aussage zu entdecken, so wird zunächst der Vernommene darüber zu befragen sein; im Geiste des Gesetzes muss dies, wie bei jeder anderen Vernehmung, vorerst mit Vermeidung von Suggestionen geschehen; es können aber auch bestimmtere Vorhalte in der Form von Fragen nicht ausgeschlossen werden 5 3 . Giebt nun der Vernommene den Inhalt der früheren Angabe an oder zu, anerkennt er den Widerspruch oder klärt er clen Anschein eines solchen auf, so ist derselbe im ersten Falle „festgestellt", im zweiten „behoben", ohne dass es cler Verlesung bedurfte. Stellt er aber in Abrede, früher so ausgesagt zu haben, dann ist freilich nicht abzusehen, wie in zweckmässiger Weise die Verlesung des Protokolls sollte ersetzt werden können. Man kann r>1 Vgl. Mot S 141; Prot der Reichstagscommission S 384—390. 959-965: Ber der Commission S 68. 52 L ö w e Bern 1 u. 4 zu § 252. r> 3 L ö w e a. a. 0. meint: Die Vorhaltung kann nur im Wege der Verlesung geschehen. Im Gegensatze hiezu hielt G n e i s t , welcher den § 252 bekämpfte, trotzdem dafür, dass „mündliche Hinweisungen, für welche der Tact des \ T orsitzenden die richtige Grenze finden müsse", gestattet seien. Prot S 962.

44.

Beweisaufnahme in

er Hauptverhandlung.

455

dabei, zumal das Gesetz die Eventualität einer Unterbrechung der Hauptverhandlung vor Augen hat, nur meinen, es sollen die Beamten, welche das Protokoll aufnahmen, falls sie zur Hand sind, persönlich vernommen werden. Letztere Maassregel empfiehlt sich aber gewiss höchstens dann, wenn der Vernommene bestreitet, dass das Protokoll seine Aussage richtig wiedergiebt, und sie wird daher die Verlesungschön darum nicht entbehrlich machen können; es ist übrigens mit Hecht bemerkt worden, dass sie dem Princip der Unmittelbarkeit ebenso zu nahe treten würde, als die Verlesung selbst; gewiss aber gewährt sie an und für sich ein minder verlässliches Resultat. In den beiden Fällen, von denen hier die Rede ist, spricht das Gesetz wohl von „Protokollen", aber nicht ausschliesslich von gerichtlichen 54 , was auch in der Natur der Sache liegt. Es handelt sich in beiden Fällen nicht darum, class das Protokoll an und für sich beweise, sondern dass der Inhalt einer früheren Aussage zur Sprache gebracht und dass aufgeklärt werde, ob die Aussagen des Vernommenen sich gleichgeblieben, und wenn nicht, welche seiner Aussagen mehr Glauben verdiene. 6. Die Verlesung s t a t t oder n e b e n der Vernehmung ist eine Abweichung von cler Regel, und nur zulässig, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen zutreffen. Das Gesetz forciert einen Gerichtsbeschluss unbedingt nur im ersten Falle (§ 250 Abs. 3) und schliesst damit die diseretionäre Gewalt des Vorsitzenden im französischen Sinne aus. Auch der Giund der Verlesung und die Thatsache, ob die Aussage beeidet war oder nicht, muss verkündet werden. — Im Fall des § 252 dagegen fordert das Gesetz einen Gerichtsbeschluss nicht unbedingt, sondern es richtet sich die Noth wendigkeit desselben nach §§ 237 und 243. Dagegen ordnet § 254 an, dass „clie Verlesung und der Grund derselben auf Antrag cler Staatsanwaltschaft oder des Angeklagten im Protokoll zu erwähnen sei. Ersteres ergiebt sich aus $ 273 ohnehin, und da das Gesetz zwischen „Verlesung" und „Grund" r 4 ' Vgl. die Zusammenstellung der Literatur über diese Controverse (hei welcher auf der Seite der im Text vertretenen Ansicht L ö w e , T h i l o , V o i t u s und jetzt auch D o c h o w , S 228 Anm 39, auf der entgegengesetzten K e l l e r stehen) bei V o i t u s , Controversen 1 40 ff. In ersterem Sinne auch das RGE v. 7. Mai 1880 Kutsch I 409. — λ'οη den neben den Protokollen im § 249 erwähnten „schriftlichen Erklärungen" ist im § 252 so wenig als im § 250 die Rede. Es ist aber nicht zu übersehen, dass neben der Vernehmung solche „Erklärungen" den Gegenstand von Vorhalten bilden können, und dass jedenfalls nicht auf jener allein der Beweis beruht. Es muss vielmehr dem Beweisgegner gestattet sein, von solchen schriftlichen Erklärungen Gebrauch zu machen, um die Verlässlichkeit einer abweichenden Aussage zu bestreiten. — Das RGE v. 3. Mai 1882 Rspr IV 427 genehmigt die Vorlesung einer früheren Z e u g e n a u s s a g e des Angeklagten.

456

§ 44.

Beweisaufnahme i n

er Hauptverhandlung.

nicht unterscheidet 55 , so muss wohl angenommen werden, dass es sich hier um eine Einschränkung der Regel des § 273 handelt, die sich daraus erklären lässt, dass die \ 7 erlesung im Fall des § 252 nur einen Zwischenfall in der Vernehmung selbst bildet. VI. Den Gang der Beweisaufnahme und die auf Sicherung ihres Erfolges berechneten Vorsichtsmaassregeln charakterisiren folgende Bestimmungen des Gesetzes: 1. Nach § 242 Abs. 1 beginnt die Hauptverhandlung mit dem Aufruf der Zeugen und Sachverständigen 56 . Dass es sich hier nicht um eine leere Form handelt, sondern um die Herstellung der Uebersicht über das vor Beginn der Hauptverhandlung vorbereitete und zur Verfügung stehende Beweismaterial, ist bereits besprochen worden (§ 41 I I Nr 2). 2. Die Bestimmungen über die Anwesenheit des Angeklagten bei der Hauptverhandlung haben eine über die Beweisaufnahme hinausreichende Bedeutung; hier ist daher nur § 246 StPO zu erwähnen, welcher lediglich für das Beweisverfahren Geltung hat und dem Gericht gestattet, den Angeklagten während der Vernehmung eines Zeugen oder Mitangeklagten aus dem Sitzungszimmer abtreten zu lassen, „wenn zu befürchten ist", dass der Vernommene „in Gegenwart cles Angeklagten die'Wahrheit nicht sagen werde". Der Schlusssatz des Absatzes sorgt dafür, dass dem Angeklagten clas in seiner Abwesenheit vorgefallene nicht unbekannt bleibe 5 7 . 3. Aus Absatz 4 des § 242 ergiebt sich, dass die Zeugen spätestens vor Beginn der Vorlesung des Beschlusses über die Eröffnung des Hauptverfahrens das Sitzungszimmer verlassen müssen; aus § 58 Abs. 1 und § 72 in Verbindung mit § 80 ergiebt sich, dass Zeugen der Vernehmung später zu vernehmender Zeugen, Sachverständige der 55

Wie es L ö w e bei § 254 tliut. Die österreichische Strafprozessordnung bezeichnet als Anfangspunkt der Hauptverhandlung den „Aufruf der Sache durch den Schriftführer" (§ 239) und lässt den Zeugenaufruf der Befragung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse nachfolgen. Darauf weist der Vorsitzende die Zeugen (und eventuell auch die Sachverständigen) an, „sich in das für sie bestimmte Zimmer zu begeben, und ordnet nach Befinden Maassregeln an, um Besprechungen und Verabredungen der Zeugen zu verhindern" (§ 241). Nun erst erfolgt die Verlesung cler Anklageschrift (§ 244). 57 Aehnlich § 250 österr. StPO, welcher aber die Entfernung des Angeklagten in das Ermessen des Vorsitzenden stellt und die Pflicht zur Mittheilung des vorgefallenen erst eintreten lässt: „sobald er ihn nach seiner Wiedereinführung über den in seiner Abwesenheit verhandelten Gegenstand vernommen hat". „Ist die Mittheilung unterblieben, so muss sie jedenfalls, bei sonstiger Nichtigkeit, vor Schluss des Beweisverfahrens nachgetragen werden". 56

§ 44.

später

Beweisaufnahme in

zu vernehmender

457

er Hauptverhandlung.

Sachverständiger

nicht

beiwohnen

dürfen;

aus § 247, dass die vernommenen Zeugen u n d Sachverständigen sich nur m i t Genehmigung oder auf Anweisung des Vorsitzenden von Gerichtsstelle

entfernen

dürfen

u n d dass darüber

die

der

Staatsanwalt-

schaft u n d der Angeklagte vorher z u hören s i n d 5 8 . Das RGE v. 12. Sept. 1881* Rspr I I I 496 erklärt es für zulässig, dass ein sowohl als Sachverständiger wie als Zeuge zu vernehmender dem Beweisverfahren beiwohne. Vgl. österr. StPO § 248: „Der Vorsitzende . . . hat dafür zu sorgen, dass ein noch nicht vernommener Zeuge nicht bei der Beweisaufnahme überhaupt, ein noch nicht vernommener Sachverständiger nicht bei der Vernehmung anderer Sachverständiger über denselben Gegenstand zugegen sei". Dazu § 251 daselbst, wonach der Vorsitzende anordnen kann und auf Verlangen anordnen muss, dass die Zeugen nach ihrer Abhörung den Saal verlassen und später zu nochmaliger Vernehmung wieder gerufen werden.

Zweite Abtheilung. Die einzelnen Beweise und ihre Aufnahme. Erstes Kapitel. Der § 45.

Zeugenbeweis1.

B e g r i f f l i c h e A b g r e n z u n g des Z e u g e n b e w e i s e s .

I. Zeugniss ist die gerichtliche, mündliche Aussage einer vom Beschuldigten verschiedenen Person über sinnliche Wahrnehmungen, welche sie selbst, und zwar nicht in der Eigenschaft als eigens be1 M a t h a eus, De criminibus. Ad 1 48 tit. 15 cap. 2—4. Prosp. F a r i na c c i u s, Tract, de testibus. ed. Norimb. 1713. C a r ρ ζ ο v i u s, Practica nova I I I qu. 114. B ö h m e r , Observations selectae ad Carpz. obs. 2—11 ad h. quaest. B ö h m e r , Médit, in C. C. C. ad art. 63 ss. — F i l a n g i e r i cap. 9, 12 —15. Gl ob i g I 97 ff. I I 136—202. Gross, Das Beweisverfahren im kanonischen Prozess S 5 ff. 119 ff. 291 ff. — Q u i s t o r p I I 253 ff. §§ 688 ff. T i t t m a n n , Handbuch (Aufl. 1810) IV 606 ff. §§ 817 ff. St ü b e l , Criminalverfahren §§ 840 bis 935. 1111. 1134. 1167. 2388 — 2451. 2584 — 2622. H e n k e , Darstellung S 189 ff. D e r s e l b e , Handbuch IV 499 ff. M a r t i n §§ 83 ff. B a u e r , Lehrbuch §§ 141—147. A h e g g , Lehrbuch §§ 124-129. M ü l l e r , Lehrbuch §§ 104—108. 145. 150. K i t t l e r , Corpus jur. crimin. ρ 484—494. Κ lenze S 96 ff. Η. Α. Z a c h a r i ä , Grundlinien S 106 —113. 213—233. K i t k a , Erhebung des Thatbestandes S 88—203. D e r s e l b e , Beweislehre im österreichischen (Criminalprozess S 112—267. C o s t a n t i n i , Esame de' testimoni. Venedig 1827. ν. Ja gem an η , Untersuchungskunde I 47—50. 499 — 596. M i t t er m a i e r , Beweis §§ 38—47 S 288 ff. D e r s e l b e , Strafverfahren I §§ 94—107. 167—173. — E n g l a n d : B e n t h a m , Theorie des gerichtlichen Beweises Buch II. I I I Kap. 1—13. Buch VII. B e s t , Principles of evidence, book I I part I §§ 124—195. R o s c o e ρ 99—136. G r e e n l e a f , Law of evidence I §§ 306—469. A l i s o n ρ 393—555. M a c d o n a l d ρ 535 — 549. 565. 566. W h a r t o n book I I ch. 3. F r a n k r e i c h : Code d ' I n s t r . c r i m i n e l l e Art. 71—86. 153—157. 190. 304. 315—326. 355. 356. 510 ss. T r é b u t i e n (éd. 1854) I l ρ 236—244. H é l i e , Pratique und R o l l a n d de V i l i argues bei den aiigef. Artikeln. H é l i e , Instruction crini. (1. éd.) §§ 353 — 372, vol. V p 531 — 693; S 499, vol. V I I p 285 bis 317; §§ 635 — 642, vol. V I I I p 682—768 (éd. Brüx. Nr 3711 ss. 4964 ss.).

45.

Begriffliche Abgrenzung

es Zeugenbeweises.

459

rufener Sachverständiger (über die Sachverständigen und die sog. sachverständigen Zeugen s. unten § 56), in Bezug auf für einen Strafprozess unmittelbar oder mittelbar erhebliche Thatsachen gemacht hat. λΓοηι Zeugenbeweise sind vor allein auszuscheiden sog. G e r i c h t s z e u g e n , d. i. Urkundspersonen, welche zur Erhöhung der Beglaubigung richterlicher Verhandlungen beigezogen wrerden. Die deutsche StPO lässt solche überhaupt nicht mehr zu, während die österr. StPO, den meisten der früheren deutschen StPO folgend, deren Beiziehung theils vorschreibt (bei Einnahme des Augenscheins, bei Hausdurchsuchungen), theils gestattet (bei der A7ernehniung des Beschuldigten, „wenn der Untersuchungsrichter es für nöthig erachtet oder der Beschuldigte es verlangt"). Ausgeschlossen vom Zeugenbeweis im oben bezeichneten Sinne sind ferner — weil nicht unmittelbar bei Gericht abgelegt — schriftliche Beglaubigungen oder Bestätigungen (sog. Z e u g n i s s e ) von Privatpersonen, aber auch amtliche in schriftlicher Form abgegebene Bestätigungen über Wahrnehmungen, die eine Behörde als solche gemacht hat. Natürlich folgt aus der Ausschliessung vom Begriff des Zeugenbeweises nicht, dass solche schriftliche Zeugnisse M o r i n , Répertoire sub verbo: „Témoins". B o n n i e r I 286 ss. M a n g i l i , De l'instruction écrite. Paris 1847. I 163—212 Nr 97—126. Du v e r g e r , Manuel des juges d'instruction (éd. 1844) §§ 254—316, I I 309—411. I t a l i e n i s c h e s Regolamento di procedura penale Art. 160—179. 285—315. 490. 492. 493. Dazu der Commentar von Mel. B ors a n i e C a s o r a t i , Codice di procedura penale vol. I I ρ 375—418 IV ρ 304 ss. §§ 715—755. 1474-1561. E l l e r o , Critica criminale cap. 21 — 28. C a r r a r a , Lineamenti. 1874. Osserv. V i l i 191 ss. D e u t s c h - ö s t e r i * . P r o z e s s seit 1848: P l a n c k , Systematische Darstellung des deutschen Strafverfahrens S 231 ff. 362 ff. Z a c h a r i ä , Handbuch des deutsch. Strafprozesses 11 181—216.439—446. W a l t h e r , Lehrbuch des bayerischen Strafprozesses §§ 54. 55. 79. D o l l m a n n , System des bayerischen Strafprozessrechtes S 94—96. 105—108. O p p e n h o f f , Die preussischen Gesetze über Strafverfahren S 120—155. L ö w e , Der preussische Strafprozess S 169—178. ν. W u r t h , Oesterr. StPO v. 1850 S 256—275. R u l f , Commentar ζ. StPO f. d. K. Oesterreich v. 1853 I 203—232. S c h w a r z e , Commentar ζ. StPO d. K. Sachsen v. 1855 I 292 ff. — N e u e s t e s R e c h t : Deutsche StPO §§ 48—71, österr. StPO §§ 150—172. Dazu die nach Paragraphen gereihten Commentare. Ferner J o h n , Das deutsche Strafprozessrecht (1880) § 33. v. B a r , Systematik §§ 52—54. B i n d i n g , Grundriss § 81. L u ed er, Grundriss §§ 73 f. K a y s er, Strafgerichtsverfassung S 182 ff. D o c h o w , Reichsstrafprozess S 159ff. Geyer in HH I 265 ff., Lehrbuch §§ 130 bis 140. 210. U l i m an η §§ 80—82. 114. E r y d m a n n , System. Handbuch der Verteidigung S 141—145. 168—172. 200—210. V a r g l i a , Die Verteidigung S 315—317. 554—579. v. L i s z t , Lehrbuch des österr. Pressrechts § 84. D e r selbe, Reichs-Pressrecht g 49 Anh. S eel, Erörterungen über den Beweis in Strafsachen. Würzlmrg 1875. S 11 ff. F u c h s in GA 1880 169 ff'.

460

§ 45.

Begriffliche Abgrenzung

es Zeugenbeweises.

nicht zur B e s c h e i n i g u n g im Strafprozess verwendet werden können. Selbst im eigentlichen Beweisverfahren können sie als urkundliche Beweise benutzt werden. I n diesem Sinne gestattet § 255 StPO die Verlesung der „ein Zeugniss . . . enthaltenden Erklärungen öffentlicher Behörden", „mit Ausschluss von Leumundszeugnissen", in der Hauptverhandlung. Die österr. StPO berücksichtigt solche „Urkunden, welche für die Sache von Bedeutung sind", im § 252 letzter Absatz. A m t l i c h e Zeugnisse dieser Art werden dann von Wichtigkeit, wenn es sich um eine Erklärung handelt, welche nur auf Grund längere Zeit fortgesetzter Beobachtung oder einer Nachforschung in den Akten abgegeben werden kann (ζ. B. Bestätigungen über das Niehtvorkoninien von Strafanzeigen gegen eine bestimmte Person, über die Anhängigkeit oder Nichtanhängigkeit von Prozessen u. dgl.). Ihnen reihen sich an amtliche, gleichzeitige Aufzeichnungen über Vorgänge, welche sich vor einer öffentlichen Behörde zugetragen haben, [und welche wegen der für sie sprechenden Vermuthung grösserer Genauigkeit und verlässlicherer Feststellung aller Einzelheiten vor mündlichen Zeugnissen der anwesenden Personen auch für den Strafprozess clen Vorzug verdienen ; das wichtigste Beispiel geben Protokolle über Eidesleistungen und Zeugenaussagen, welche bei Strafprozessen über Meineid und falsches Zeugniss der Verhandlung zu Grunde zu legen sind. Darüber? ob d a n e b e n noch eine persönliche Vernehmung sich als nothwendig erweist, lassen sich allgemeine Grundsätze nicht aufstellen: dasjenige, Avas nur auf Grund der Akten und amtlicher Aufzeichnungen verlässlich bezeugt werden kann, wird dem schriftlichen Zeugniss vorzubehalten sein, sonst aber die mündliche Zeugenaussage höheren Werth haben. Letztere wird übrigens da, wo über die Ladung von Zeugen lediglich der Wille cler Prozessbetheiligten entscheidet, ohnehin nicht ausgeschlossen werden können. Gerade in solchen Fällen wird aber auch der Gegensatz zwischen schriftlichen Beurkundungen von amtlichem Charakter und dem Zeugenbeweis durch die Aussage von Personen, wären sie auch die Urheber jener Beurkundungen, hervortreten. Die fraglichen Amtspersonen stehen, so weit nicht der Schutz des Amtsgeheimnisses in Betracht kommt, allen andern Zeugen ganz gleich 2 . (Ueber Erleichterungen bezüglich der Vernehmung und hinsichtlich der Beeidigung in geringfügigen Sachen s. unten §§ 48. 49.) I I . G e g e η s t a η d des Zeugenbeweises ist die persönliche Wahrnehmung des Zeugen, nicht clie M e i n u n g , die er sich über die Wahrheit oder Beschaffenheit einer Thatsache durch Schlussfolgerungen gebildet 2

L ö w e Bern 6 zu § 53.

§ 45.

Begriffliche Abgrenzung

es Zeugenbeweises.

461

hat oder bildet 3 . Allerdings aber kann clie Sache so liegen, dass von der Wiedergabe seiner persönlichen Eindrücke eine Schlussfolgerung 3 Es ist in dieser Hinsicht eine Reihe von Fragen aus einander zu halten, deren M i t t e l p u n k t die nach dem Gegenstande des Zeugenbeweises ist; naturgemäss decken sich damit die P f l i c h t des Z e u g e n zur Aussage und das Recht des Ci eri elites, nicht blos danach zu fragen, sondera auch Aussagen zuzulassen. Gegenstand des Zeugenbeweises bilden immer nur tatsächliche Wahrnehmungen, nicht Meinungen oder Vermuthungen des Zeugen. Allein es kann die Frage nach der M e i n u n g des Zeugen dadurch, dass sodann* nach deren Gründen gefragt wird, das einzige Mittel bilden, die thatsächlichen Wahrnehmungen, die er gemacht hat, zu Tage zu fördern. (Z. B. wenn es sich um die Identität von Personen oder Sachen handelt — vgl. Roseo e ρ 135; G r e e n l e a f I § 440; T a y l o r §§ 1272. 1273. 1666.) Es kann unigekehrt der Zeuge einen bestimmten Thatumstand in der Weise angeben, dass er hinzufügt, er meine, dass er sich so verhalten; und es wird dies bei genauerer Nachforschung seine Begründung entweder in der Ungenauigkeit der Wahrnehmung oder in der Unsicherheit der Erinnerung haben. Ebenso kann es aber auch vorkommen, dass der Zeuge ein tatsächliches Verhältniss mit aller Bestimmtheit angiebt, während es sofort klar ist oder erst aus der weiteren Prüfung sich zeigt, dass er damit nicht blos seine Wahrnehmung habe ausdrücken wollen, sondern das Urtheil, das er sich gebildet. Um Meinungen und Vermuthungen aber, die n i c h t mit Wahrnehmungen zusammenhängen, die der Zeuge gemacht haben mag, darf er (zumal in der Hauptverhandlung) weder gefragt werden, noch sollte ihm gestattet werden, sich darüber auszusprechen, und um so gewisser hat er das Recht, die Antwort auf Fragen, die darauf abzielen, abzulehnen (ζ. B. wenn ein bei der That nicht anwesender gefragt wird, wen er für den Thäter halte). Diese beiden Extreme hat L ö w e vor Augen, wenn er einerseits sagt (Bern 4 a zu §§ 51—54), „der Zeuge sei nicht verbunden, seine Meinungen oder Muthmaassungen über tatsächliche Verhältnisse, ihren Zusammenhang und ihre indicirende Bedeutung kund zu geben", andererseits (Bern 5 zu § 68), es sei „völlig statthaft, ihn ausser über seine Wahrnehmungen auch über seine Meinungen und Schlussfolgerungen, welche er aus dem wahrgenommenen gezogen hat, zu vernehmen", ungeachtet er nicht verpflichtet sein würde, dte darauf abzielende Frage zu beantworten; und wieder (Bern 4a zu §§ 51—54): „er hat auch über den unmittelbaren Eindruck, den die Wahrnehmung auf ihn gemacht, Auskunft zu geben". Das Z i e l jedes Zeugenverhörs muss sein, die thatsächlichen Wahrnehmungen des Zeugen zu erfahren und auf diese das richterliche Urtheil zu stützen; jede Frage, die darauf hinwirkt, ist daher berechtigt und der Zeuge hat sie nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten. Dass es da eine Region giebt, wo man eben das G e w i s s e n des Zeugen darüber entscheiden lassen muss, ob er eine auf Thatsachen gegründete Meinung habe, ob er die Wahrheit mehr fördere, wenn er schweige, als wenn er eine unsichere Angabe mache, und dass diese Gewissensfragen weder durch den Zeugenzwang noch durch die strafrechtliche Verantwortlichkeit gelöst werden können, ist sicher. Allein das ändert nichts daran, dass Ziel und Gegenstand des Zeugenverhörs allein darüber entscheiden, was der Zeuge als solcher auszusagen berechtigt oder verpflichtet ist, was das Gericht zulassen oder fordern darf. Vgl. übrigens Z a c h a r i ä I I 182 Anm 6, welcher namentlich hervorhebt, dass man „dem Verlangen, auf sinnlicher Wahrnehmung b e r u h e n d e Kenntniss

462

45.

auf die Existenz

Begriffliche Abgrenzung

oder

Nichtexistenz

es Zeugenbeweises.

einer

Thatsache oder

auf

stimmte M e r k m a l e u n d Eigenschaften des Vorfalles möglich ist.

beDie

Beschaffenheit des menschlichen Gedächtnisses bringt es m i t sich, dass oft nach einiger Zeit nommenen n u r

ein

fältiger E r w ä g u n g

auch von dem erlebten u n d sinnlich wahrge„ E i n d r u c k " ü b r i g bleibt , der trotzdem bei sorg-

der Verhältnisse

einen brauchbaren

Anhaltspunkt

für die B i l d u n g der richterlichen Ueberzeugung bietet, namentlich bezüglich der N i c h t e x i s t e n z

einer

Thatsache; auch k a n n sich eine

Reihe von Einzelwahrnehmungen i n ein U r t h e i l condensili haben, das allein

übrig

bleibt,

und

endlich k a n n

es thatsächliche Verhältnisse

geben, deren nackte Darlegung ohne Einmischung eines U r t h e i l s nicht möglich ist.

Der Zeuge ist daher berechtigt u n d verpflichtet, auch seine

„ E i n d r ü c k e " dieser A r t wiederzugeben, selbstverständlich indem er sie als solche ausdrücklich bezeichnet 4 .

A u c h diejenigen Wahrnehmungen,

über welche es wünschenswerth ist, einen Befund von Sachverständigen des Thäters zu offenbaren, nicht mit dem Einwand begegnen könne, dass man zur Denunciation nicht verpflichtet sei", und H e i n z e GS 1862 S 458, der bei Gelegenheit einer anderen den Umfang der Zeugenpflicht betreffenden Frage die unsere nur streift und dabei bemerkt, die Zeugenpflicht „erstreckt sich zweifellos auf Sinnesaffectionen aller Art und auf das sinnlich wahrnehmbare Thun und Lassen des Zeugen selbst. In wie weit die psychischen Eindrücke, welche der Zeuge dabei empfangen, die Verarbeitung mittels Schliessens . . ., ob die eigenen Seelenregungen des Zeugen selbst . . . in jener Verpflichtung gleichfalls und unbedingt Inbegriffen seien, kann hier dahingestellt bleiben". Bis auf das „unbedingt", dessen Verneinung in der oben bezeichneten Bedingung liegt, ist die Frage zu bejahen. Der Zeuge ist daher sicher verpflichtet, auf die Frage, ob er Uber einen wahrgenommenen Vorgang erschrocken sei, ob und wie er den Sinn einer gehörten Aeusserung verstanden, ob er ihr Glauben geschenkt, zu antworten; sonst dürfte auch darüber nicht gesprochen werden, was der Zeuge selbst mit einer bestimmten Rede gemeint, noch ob ersieh eines bestimmten Vorganges erinnere. B e s t (§§511 und 512) führt den Fall an, wo ein Urtheil aufgehoben wurde, weil nicht gestattet worden war, einen Zeugen zu fragen, was er mit einer bestimmten Aeusserung habe sagen wollen. Es ward entschieden, dass das allerdings nicht die richtige Frage war, sondern dass die Frage hätte lauten sollen: „War irgend ein Grund vorhanden, diese Worte anders als in ihrem natürlichen Sinne aufzufassen"? Auf diese Weise könne der Frage nach dem Sinn der Worte der Weg gebahnt werden. — Bemerkungen über die Frage finden sich bei R u l f , StPO v. 1853 I 211; M a y e r , Handbuch I I zu §§ 159 u. 160 österr. StPO Bern 63, 64 u. 67 (vgl. übrigens auch M a y e r Beni 2—10 zu § 150 das.; S c h w a r z e vor § 48 der deutschen StPO). 4 Dies ist, wie sich aus der Vergleichung dessen, was Geyer in HH I 268 Nr 2 viel zu scharf abschneidend sagt, mit der Bemerkung, die er Lehrbuch S 234 macht, ergiebt, der gesunde Kern der letzteren. An j e n e r Stelle bestreitet er die Pflicht des Zeugen „zu einer Meinungsäusserung über »den Eindruck« (eine beliebte inquisitorische Formel)", was aber keineswegs mit der allerdings unzulässigen Zumuthung zusammenfällt, „eine Art von Gutachten darüber abzugeben, welche . . .

§ 45.

Begriffliche Abgrenzung cles Zeugenbeweises.

463

zu erlangen, sind Gegenstand des Zeugenbeweises. Das Gewicht, welches der Aussage des Zeugen, die oft durch nichts anderes zu ersetzen ist, beigelegt werden muss, hängt dann von cler im Beweisverfahren festzustellenden Fähigkeit desselben, Thatsachen dieser Art zu beobachten und clas beobachtete zu schildern, ab. Der sachverständige Zeuge hat darum doch nicht die Stellung des Sachverständigen; die Zulässigkeit und Pflichtinässigkeit seiner Aussage illustrirt aber am besten den Umfang des Gegenstandes des Zeugenbeweises in dieser Hinsicht: soweit clas wahrgenommene ohne Heranziehung cler Beurtheilung nicht mitgetheilt werden kann (ζ. B. bei der Frage nach der Identität), ist auch die letztere Gegenstand cler Zeugenaussage. — Auch bezüglich des Zeugnisses vom Hörensagen hat man sich nur vor cler Verwechslung zwischen Bezeugung des G e h ö r t e n und des H ö r e n s zu hüten: letztere ist nicht nur zulässig, sondern oft ganz unentbehrlich, zumal im Vorverfahren; bei -cler eigentlichen Beweisaufnahme wird es dann darauf ankommen, ob es möglich ist, das mittelbare Zeugniss durch ein unmittelbares zu ersetzen, und wo dies nicht möglich ist, den Werth cles ersteren sorgfältig zu prüfen. I I I . Der Z e u g e n b e w e i s beruht durchaus auf cler g e r i c h t l i c h e n A u s s a g e unter der den Zeugen treffenden s t r a f g e r i c h t l i c h e η V e r a n t w o r t u n g ; eben darum erschöpft er die Formen Schlussfolgerungen . . . auf das von ihm nicht wahrgenommene sich ihm ergaben". Dagegen sagt er an letzterem Orte: ..dass der G e g e n s a t z zwischen Zeugen und Sachverständigen falsch aufgefasst wird, wenn man meint, der Zeuge dürfe und solle kein Urtheil über die von ihm wahrgenommenen Thatsachen aussprechen, während die Aufgabe des Sachverständigen gerade in der Beurtheilung des von ihm oder anderen wahrgenommenen bestehe. Im Gegentheil: wer nicht im Stande ist, die sinnlichen Empfindungen, welche ihm von aussen kommen, zu einem Ganzen zusammenzufassen, indem er durch eine Mehrheit — unter Umständen eine gewaltige Masse — von U r t h e i l e n unterscheidend, ausscheidend, ein-, über- und unterordnend, einen begreiflichen" (begrifflichen) „Zusammenhang herstellt in der bunten Masse der sinnlichen Eindrücke, ist kein tauglicher Zeuge, und der urteilsfähigste Zeuge ist der beste". Das alles darf aber nicht übersehen lassen, dass der Richter seinen Ausspruch nicht auf die Urtheile des Zeugen bauen darf, sondern auf die factischen Grundlagen derselben, zu denen er hindurchzudringen suchen muss, wenn dies nach der Natur cler Sache nicht völlig ausgeschlossen ist. Hiemit ist zu vergleichen B e s t § 517, der es für zulässig erklärt, das Urtheil oder die Meinung des Zeugen über einen Complex von Thatsachen zu hören, die ihrer Natur nach nicht einzeln vorgebracht werden können. Er erwähnt beispielsweise Fragen der I d e n t i t ä t , Aussagen über den Zustand und die Beschaffenheit von Gegenständen, die nicht vorgewiesen wrerden können, über den Ausdruck von Gemütsbewegungen, endlich über den Charakter von Personen. „In all diesen Fällen aber kann selbstverständlich im Gegenverhör nach den Gründen gefragt werden, auf welche der Zeuge sein Urtheil stützt".

464

§ 45.

Begriffliche Abgrenzung cles Zeugenbeweises.

nicht, unter welchen Menschen der Entdeckung und Feststellung der Wahrheit im Strafprozess dienstbar gemacht werden können. Es kann daher eine Person auch als B e w e i s g e g e n s t a n d im Strafprozess benutzt werden; der Umstand, dass fast immer mit dieser Benutzung die Vernehmung als Zeuge verbunden wird, und class dadurch die Möglichkeit zur Anwendung der Bestimmung über Zeugnisszwang einerseits, Zeugengebühren andererseits auf solche Fälle geboten ist, ändert daran nichts, dass jene etwas vom Zeugenbeweis ganz verschiedenes i s t 5 . (So würde ζ. B. derjenige, cler sich künstlich scheinbare Spuren von Verletzungen beibringt, um eine an ihm verübte strafbare Handlung glaubhaft zu machen, nicht wegen falschen Zeugnisses gestraft werden können.) Ebenso wie eine vom Beschuldigten verschiedene Person Gegenstand einer B e s i c h t i g u n g sein kann, kann sie auch als Gegenstand von E x p e r i m e n t e n , von welchen man sich eine Aufklärung verspricht, behandelt werden, wie ζ. B. wenn versucht wird, ob ihr bestimmte Kleider passen, ob sie durch eine bestimmte Oeffnung hindurch gelangen kann, ob sie von einem Huncle erkannt wird, u. dgl. Weiter gehend schliessen sich hieran jene bedenklicheren Versuche, welche mit cler Vernehmung von Personen gemacht werden, welche sich in einem abnormen, jede Verantwortung abschliessenden Zustande befinden (Wahnsinnige, Trunkene, Schlafwandelnde, angeblich in magnetischem Schlaf befindliche u. dgl.). Das gleiche gilt von Kindern, die noch so jung sind, dass bei ihnen irgend ein Gefühl moralischer Verantwortlichkeit für ihre Aussagen nicht vorausgesetzt werden kann. In welchem Umfange und unter welchen Vorsichtsmaassregeln solche Experimente vor Gericht benutzt werden können, wird abgesondert erörtert; hier genügt es, zu betonen, class clie für clen Zeugenbeweis geltenden Regeln auf dieselben nicht ohne weiteres angewendet werden können, also namentlich kein Recht der Parteien besteht, solche „Zeugen" zu laden und deren Vernehmung kraft ihres Rechtes auf Zeugenladung zu begehren. 5

Das entscheidet die vielfach aufgeworfene Frage, ob Personen, die das Zeugniss verweigern können, sich die Besichtigung u. s. w. gefallen lassen müssen (vgl. M a y e r , Handbuch I I Bern 38 zu § 152 und den dort angeführten, von R o s e n b l a t t in den Criminalistischen Blättern 1876 Nr 45 erwähnten Fall, sowie Massi wan t e r in der Allg. österr. GZ 1857 Nr 78). Sie sind dabei in derselben Lage, wie jeder andere; durch den Z eu gen z wan g kann niemand genöthigt werden, sich besichtigen zu lassen.

465 S 46.

A u s s c h l i e s s u n g vom Zeugniss.

I. Die geschichtliche Entwickelung des Zeugenbeweises ist wesentlich dadurch beeinflusst, dass das ältere Recht reich an Ausschliessungen vom Zeugenbeweise war. So natürlich es ist, zum Zeugenbeweise zu greifen, so gross sind die Gefahren, die er mit sich bringt, und die Nachdenken und Erfahrung in so drohender Gestalt erscheinen lassen, dass es sich sehr wohl erklärt, wenn das a l t d e u t s c h e Recht den Zeugenbeweis principiell ausschloss und nichtsdestoweniger bei den Gestaltungen, die ihn ersetzten, noch mancherlei Vorsichtsmaassregeln für nöthig hielt 1 , und das f r a n z ö s i s c h e Recht, wenn auch nur auf dem Gebiete des Civilprozesses, seit Jahrhunderten dem Zeugenbeweis offenes Misstrauen entgegensetzt. Dass dieses eben nur auf dem Gebiete des Civilprozesses so schroff hervortritt, mag übrigens in denselben Verhältnissen wurzeln, welche sowohl im römischen wie im deutschen Recht dazu beitrugen, zu Ausschliessungen vom Zeugenbeweis geneigt zu machen. Denn wo der Anklageprozess, wie im altdeutschen Recht, noch ganz von cler privatrechtlichen Behandlung des Strafrechts getragen ist oder, wenn dies, wie schon beim älteren römischen Criminalprozess, nicht mehr der Fall ist, doch unter dem Einfluss des natürlichen Misstrauens steht, welches das Auftreten eines Anklägers erregen muss, welcher dazu kaum anders als durch Motive persönlicher und meist gehässiger Natur bestimmt sein kann: da ist eine gewisse Ghichgiltigkeit gegen den Misserfolg des Anklägers, auch wenn derselbe durch Zufall befördert wird, von dem einen wie dem anderen Standpunkt aus erklärlich, und die einmal zum Schutz gegen bedenkliche Anklagebeweise aufgestellte Regel muss dann auch den Entlastungsbeweis beeinträchtigen. Vorgänge dieser Art haben für die juristische Denkweise viel bestechendes; ist ja die Aufstellung von Fietionen (und eine solche liegt in der Annahme einer objectiv nicht bestehenden Unfähigkeit, in der Gleichstellung der Bedenklichkeit eines Zeugnisses mit cler Verwerfung cler gar nicht zugelassenen Aussage, in der Verwerthung solcher Aufstellungen zur Bestrafung Unwürdiger) die sichtbarste Machtäusserung des Juristenthums. Es ist daher erklärlich, dass auch cler Sieg des Grundsatzes der freien 1 Siehe die ausführliche Darstellung· der „ p e r s ö n l i c h e n Erfordernisse der Zeugen" bei Ρ1 a η c k, Gerichtsverfahren I I 45 ff., wo der Einfluss des Alters, Geschlechtes, Gesundheitszustandes, der Standesverhältnisse, des Leumunds, der Verwandtschaft und Abhängigkeit und der Verhältnisse, die das Wissen von der zu beschwörenden Behauptung bestimmen, eingehend erörtert werden. Vgl. K r i e s S 14—16.

Binding. Handbuch. IX. 4. ι : G l a s e r , Strafprozess. 1.

30

466

§ 46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

Beweiswürdigung die vom römisch-kanonischen Recht ausgehenden Ausschliessungen vom Zeugenbeweis, welche auf dem Misstrauen gegen die zu erwartende Aussage beruhten, nicht ohne weiteres zu beseitigen vermochte; ein naheliegender Gedanke ist es, die für unausführbar erkannte Regelung der Beweiswürdigung durch Aufstellung von Regeln über das M a t e r i a l , das der Würdigung unterstellt werden kann, zu ersetzen, und dieser Gedanke beherrschte bis tief ins 19. Jahrhundert- hinein das e n g l i s c h e Recht. Während hier aber die fortschreitende Entwickelung diese Ausschliessungen fast ganz beseitigte, steht dies anders auch noch im neuesten f r a n z ö s i s c h e n Recht. Dieses lässt als Z e u g e n nur solche zu, die es als vollgiltige anerkennt; die Beeidigung ist mit dem Zeugniss so untrennbar verknüpft, dass sie selbst auf übereinstimmenden Antrag der Parteien nicht unterlassen werden darf. Ein ziemlich weiter Kreis von Personen ist vom Zeugniss durch Art. 156 und 322 des Code d'Instruction ausgeschlossen: es sind das Ascendenten, Descendenten, Geschwister und im gleichen (Trade verschwägerte eines der Angeklagten, dessen Ehegenoss (selbst noch nach Auflösung der Ehe) und Anzeiger, welchen gesetzlich ein Anzeigerlohn gebührt, (In vollem Umfange gilt dies nur in der Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht.) Neben diese kategorischen Bestimmungen stellt sich aber nicht blos eine beträchtliche Abschwächung durch den Einfluss stillschweigender Zustimmung der Parteien, sondern auch durch die dem Präsidenten kraft seiner discretionären Gewalt zustehende uneidliche Vernehmung derselben Personen, die als Zeugen nicht vernommen werden dürfen, als A u s k u n f t s p e r s o n e n (pour renseignement). In ähnlicher Weise gestattet Artikel 75 des Code d'Instruction, „dass die Kinder unter 15 Jahren", und zwar auch schon in der Voruntersuchung, „in der Form der Erklärung (par forme de déclaration) und ohne Eidesleistung vernommen werden", woraus gefolgert wird, dass sie auch in der Hauptverhandlung unbeeidigt vernommen werden dürfen; die Praxis gestattet da übrigens, mindestens so lange kein Widerspruch erhoben ist, auch die Beeidigung. Die ö s t e r r . StPO erklärt als zeugnissunfähig ausdrücklich „Personen, die zur Zeit, in welcher sie das Zeugniss ablegen sollen, wegen ihrer Leibes- oder Geinüthsbeschaifenheit ausser Stande sind, die Wahrheit anzugeben" (§ 151 Z. 3). Die Zahl der Personen, welche durch Ausschliessung vom Eide als verdächtige Zeugen hingestellt (jedoch nicht als solche ausdrücklich benannt) werden, ist eine ziemlich grosse; bei Würdigung der Bedeutung dieses Systems im Gegensatz zum deutschen ist aber zu beachten, dass auch clas nicht beeidigte falsche Zeugniss nach österr. Recht als Verbrechen gestraft wird. Die

§ 46.

467

Ausschliessung vom Zeugniss.

d e u t s c h e StPO enthält keine Bestimmung über die Unfähigkeit zum Zeugniss. „Sonach", sagt L ö w e 2 , „können auch Kinder als Zeugen vernommen werden. Desgleichen ist die Vernehmung geisteskranker Personen selbst in der Hauptverhandlung nicht ausgeschlossen; sie kann vielmehr stattfinden, wenn clas Gericht von der Auslassung der betreffenden Person oder von der A i t ihres Auftretens eine Aufklärung der Sache erwartet". Gegen die Z u l a s s u n g cler Vernehmung solcher Personen ist allerdings nichts einzuwenden; die unter solchen Modalitäten stattfindenden Vernehmungen unterscheiden sich aber von Zeugenvernehmungen sehr wesentlich, welche wenigstens von cler Vermuthung ausgehen, dass man werde glauben dürfen, was der Zeuge sagt. Die Unterscheidung ist keine blos theoretische; werden solche Personen als Zeugen, nicht blos als Objecte eines Versuchs behandelt, so hat das Gericht es gar nicht mehr in seiner Hand, ob es sie ver.j·

nehmen will, da clen Parteien ihre Ladung freisteht, und sobald diese erfolgte, kann die Vernehmung nur mit Zustimmung beider Parteien unterbleiben (§ 244 StPO). Bezüglich cler Geisteskranken wird überdies. wenn man sie als Zeugen zu behandeln hat . § 56 Z. 1 der deutschen StPO nicht einmal unbedingt ausreichen, um die Unterlassung cler Beeidigung zu rechtfertigen. Ausdrücklich schliesst clie StPO niemand vom Zeugniss aus; selbst gesetzwidriges Verhalten, wie Verweilen im Sitzungssaal während der der Zeugenvernehmung vorausgehenden Beweisaufnahme bewirkt dies nicht (RGE v. 13. Mai 1881 Rspr I I I 295): die StPO stellt auch nicht eine Kategorie von ausdrücklich als v e r d ä c h t i g oder b e d e n k l i c h erklärten Zeugen auf: aber auch sie schliesst eine (verhältnissmässig geringere) Anzahl von Personen vom Zeugeneide aus, ohne deren Vernehmung als Zeugen zu untersagen, und der dafür maassgebende Gesichtspunkt ist doch in erster Linie das Misstrauen gegen den Zeugen. Allein wenngleich aus clem neuesten deutschen Recht die Ausschliessungen wegen Verdachts oder Rechtsunfähigkeit ganz, aus dem österreichischen fast ganz verschwunden sind, so besteht eine Reihe von anderen Ausschliessungen fort, welche durch die P r o z e s s s t e l l u n g bedingt sind. 2

Beni 2 a zum 6. Absclin. des I. Buches der StPO. Vgl. S c h w a r z e ebenda S 167. 168. Geyer in HH I 281. 282; d e r s e l b e , Lehrbuch § 136 II. Das missliche solcher Vernehmungen tritt zu Tage, wenn es sich darum handelt, ob der \~emommene überhaupt eines ernsten, wohlerwogenen Entschlusses fähig sei, z. B. auf das Recht der Zeugnissverweigerung verzichten kann, s. z. B. RGE v. 14. Juli 1881 Rspr I I I 488 und deren Besprechung bei J o h n , StPO S 553. Vgl. noch G laser. GS 1881 S 12 ff. 30*

468

§ 46.

II.

Unter

hindert,

Ausschliessung vom Zeugniss.

den P e r s o n e n ,

dass ihre

Beschuldigte4.

deren

Prozessstellung3

Aussagen als Zeugniss dienen, steht obenan

verder

Diese Ausschliessung vom Begriff des Zeugnisses

k a n n nicht m i t dem Satz begründet werden, dass niemand verpflichtet ist, gegen sich selbst auszusagen,

einerseits weil sie auch dort fest-

gehalten wurde, wo clas Gegentheil der gedachten Regel galt, andererseits, w e i l m i t letzterer nicht gerechtfertigt werden könnte, dass der Beschuldigte nicht zu seinen eigenen Gunsten soll Zeugniss ablegen dürfen. Vielmehr

ist es gerade der bereits auf dem Beschuldigten

lastende

Verdacht u n d seine hiedurch hervorgerufene höchst bedrohte Stellung, welche

seinen Aussagen gegenüber einen so hohen Grad

trauen

erregt,

Zeugenaussage

dass es nicht n u r höchst u n b i l l i g w ä r e , anzuhalten,

sondern

ganz

unlogisch,

von Miss-

i h n zu einer i h n zu

einer

solchen, die doch nur, soweit sie i h m ungünstig wäre, an sich beweiskräftig, unter dieser Voraussetzung aber als Geständniss zu behandeln wäre, zuzulassen 5 . 3

I n W a h r h e i t entscheidet hier die Unvereinbarkeit

J o h n , StPO S 578. 579. L ö w e Bern 8 zum 6. Abschn. des I. Buches der StPO und Bern 11 ff. zu § 56, sowie überhaupt die Commentare zu § 56 Nr 3 der deutschen und zu § 170 Z. 1 der österr. StPO. Geyer in HH I 285. 286. D e r s e l b e , Lehrbuch 8 137 I 3. B i n d i n g § 81 I I 3. S c h e r e r im GS 1878 S 41. U l i m a n n §§ 80 u. 82 S 398 u. 404 Anm 1. S. M a y e r , Handbuch I I zu § 150. R u l f , Die Praxis S 34. 35. K r a l l in der Allg. österr. GZ 1875 Nr 103 u. 104. 5 Das englische Recht kennt bekanntlich nicht nur keine inquisitorische Vernehmung des Angeklagten, sondern macht es durch allerhand Beengungen fast unmöglich, dass der Angeklagte sich irgendwie über die Anklage i n der H a u p t v e r h a n d l u n g anders auslasse, als durch die einfache Erklärung: „Schuldig" oder „Nicht schuldig". In neuester Zeit nun ist das missliche dieser zu weit gehenden Verschliessung des Mundes des Angeklagten empfunden worden (Schwarze S 271 Bern 3). Der Bericht der Criminal-Code-Bill-Commission von 1879 erwähnt, dass in dem ursprünglichen Entwürfe dem Angeklagten gestattet wurde, eine Darstellung des Sachverhaltes (statement) zu geben und sich damit einer Art von Gegenverhör zu unterwerfen. Die Mehrheit der Commission schlug (Sect. 523, vgl. Report ρ 37) dafür vor, dem Angeklagten das Recht zu geben, sich als Entlastungszeuge vernehmen zu lassen, d. h. u n t e r E i d und in völliger Gleichstellung mit jedem anderen Entlastungszeugen, also auch unter Eintritt des Gegenverhörs des Anklägers, mit der einzigen Beschränkung, dass der Richter die Fragen, welche lediglich bezwecken, die Glaubwürdigkeit des Angeklagten zu erproben, nach Ermessen beschränken kann. Die Commission sagt, die Sache sei bekanntlich bestritten; sie meine aber, lasse man den Angeklagten einmal zur Aussage, so solle das unter denselben Bedingungen geschehen, wie bei anderen Zeugen. Es ist also kein Zweifel, dass der Angeklagte auch wegen Meineides zu strafen ist, wenn gefunden wird, dass er in dieser Weise falsch aussagte, und da, wäre die Einrichtung einmal getroffen, jeder Angeklagte, der sich nicht unter Eid vernehmen lässt, sich mindestens verdächtig macht, so wäre man bei der schlimmsten Gestalt des Reinigungs4

§ 46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

der Prozessstellung des Beschuldigten mit der eines Zeugen, und dieser Gesichtspunkt ist auch niaassgebend für die Lösung der sehr bedeutenden Schwierigkeiten, welche sich bei der Durchführung des im allgemeinen als richtig anerkannten Satzes ergeben. Diese Schwierigkeiten zeigen sich 1. in jenen Vorgängen, welche im deutschen Inquisitionsprozess als Vernehmung inter rerun et testeni bezeichnet wurden 6 . Ohne hier auf den mit der Geschichte der Gliederung des Strafprozesses eng zusammenhängenden Einfluss des Beates auf die Behandlung cles Verdächtigen in den verschiedenen Stadien des Prozesses einzugehen, ist hervorzuheben 7 , dass der Vorgang bald erlaubt und zweckmässig, bald ein ganz abusiver sein kann. Sobald sich gegen eine bestimmte Person erheblicher Verdacht einer strafbaren Handlung ergeben hat. darf sie in keinem Fall mehr als Zeuge behandelt werden, weder indem man ihr geradezu die Pflichten eines Zeugen vorhält , noch indem man sie im Zweifel darüber lässt, in welcher Eigenschaft sie vernommen werde. Andrerseits ist es beim redlichsten Willen nicht zu vermeiden, dass sehr häufig bei den ersten Nachforschungen unter den Personen, von welchen über das Verbrechen Aufschluss erwartet wird, auch diejenige vernommen wird. wider welche sich später der Verdacht und selbst die Anklage wegen dieses Verbrechens erhebt. Die beiden Vorgänge, moralisch so weit von einander verschieden, gehen in ihrer prozessualen Gestaltung leicht in einander über; und es giebt in cler That nur e i n sicheres und gerechtes Mittel, wenigstens gröblichen Missbrauch fern zuhalten: dass dasjenige, was der spätere Angeklagte über die clen Gegenstand dieser Anklage bildende That bei einer Zeugenvernehmung oder bei einem Verhör, welches ihm als eicles, die nur denkbar ist, angelangt, vor welcher die schärfste Inquisition noch den Vorzug verdiente. — S. auch noch H i n g s t , Over de persoonlijke bewijsmiddelen in liet Engeische en Xederlandsclie regt. Nieuwe Bijdragen X Y I I 4 Bl. 598 ff. ü Sehr warm (allerdings mit zum Theil sonderbaren Gründen) redet dieser Vernehmung und einem künstlichen Hindurchschiffen zwischen dem Verzicht auf die von dem Verdächtigten zu gewärtigende Aufklärung und der verantwortlichen Vernehmung vor Eintritt der gesetzlichen Voraussetzungen der Behandlung als Beschuldigten K i t k a (Erheb, d. Thatbest. S 93 ff.) das Wort. Von demselben Gedanken ausgehend, meint St ü b e l , Criminalverfahren § 1913: „es ist der Vorsicht gemäss, eine blos nöthig scheinende Vernehmung unter dem Vorwande und in der Form eines Zeugenverhöres anzustellen". Vgl. übrigens Art. 86 des bayer. StG v. 1813; die preuss. CO § 203; M i t t e r m a i er, Strafverfahren I I 124 ff.: I l e n k e , Handbuch IV 674; J a g e m a n n . Untersuchungskunde I §§ 139. 277. 7 G l a s e r , Kleine Schriften S 655 f.

470

46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

solche erscheinen konnte, ausgesagt hat, als Beweismittel gegen ihn nicht benutzt werden darf 8 . Wird daran festgehalten, dass die Aussage jedenfalls nicht unter den Begriff des Zeugnisses fallen kann, so erledigen sich auch die sehr erheblichen, hier nicht zu erörternden Schwierigkeiten bezüglich der strafrechtlichen Beurtheilung falscher Aussagen des Beschuldigten 9 verhältnissmässig leicht. 2. Viel grösser sind, die Schwierigkeiten, welche bei einer M e h r h e i t von V e r d a c h t i g e n sich ergeben können. Eine conséquente Lösung ist nur zu finden, wenn daran festgehalten wird, dass der Grund der Ausschliessung vom Zeugniss nur in der Stellung d i e s e r Person in d i e s e m Prozess, in dem Umstände liegt, dass sie in demselben als beschuldigt oder angeklagt erscheint, und dass diese Prozessstellung mit der eines Zeugen nicht vereinbar ist. Die Frage, ob jemand gegen die Gefahren zu schützen ist, denen er dadurch ausgesetzt wird, dass er als Zeuge vernommen werden soll, oder ob er ein verdächtiger Zeuge ist, muss davon streng gesondert werden. Die P r o z e s s s t e l l u n g , nicht die Betheiligung an der That und daher auch nicht der Verdacht einer solchen, ist Grund der Ausschliessung. Die Möglichkeit einer bevorstehenden Behandlung als Beschuldigter (theilweise bereits unter 1 berücksichtigt) kann nur zu humaner Rücksicht, vor allein aber zu "würdiger, jeden Schein der Hinterlist fernhaltender Offenheit mahnen 1 0 ; aber weiter darf die Einflussnahme dieses 8

Eine Bestimmung in diesem Sinne war hei der Vorbereitung der österr. StPO vorgeschlagen worden : der Richter habe dem Vernommenen zu erklären, dass er als Angeschuldigter vor (Iericht stehe. „Eine ohne eine solche Erklärung aufgenommene Aussage kann gegen den Vernommenen nicht als Beweismittel benützt werden". Der Antrag drang jedoch nicht durch. S. M a y e r , Handbuch I 148. 149. 613. 614. Dass der als Beschuldigter zu vernehmende über seine Stellung nicht im unklaren gelassen werden soll, dafür ist allerdings in § 199 der österr. StPO (vgl. M a y e r Bern 11 zu § 199) und in § 136 der deutschen StPO hinlänglich gesorgt. Es handelt sich aber um die Fälle, wo jemand als Zeuge vernommen, später jedoch als Beschuldigter behandelt wird. Der von M a y e r hier herangezogene, in der deutschen Reichstagscommission gestellte, eine Annäherung an den Vorgang in der englischen Voruntersuchung bezweckende Antrag, Prot S 188 ff., zielte nicht auf Schutz gegen die Verwendung von Zeugenvernehmungen des Beschuldigten ab. !) v. L i s z t , Die falsche Aussage S 130 ff. Vgl. auch den Bericht des Ausschusses (les österreichischen Abgeordnetenhauses über den Entw des Strafgesetzes (1877) S 45 zu den §§ 166 u. 167. 10 Immerhin können schon hier die Bedenken berücksichtigt werden, welche L ö w e a. a. 0. Bern 3 b a wegen der Gefahr einer Erneuerung des Strafverfahrens äussert, die schon aus (1er Berufung auf § 54 dem Vernommenen erwachsen könne. Zunächst genügt es wohl, dass der Zeuge einer bestimmten Frage die Bemerkung entgegensetzt, dass eine der m ö g l i c h e n Antworten auf diese Frage ihn gefährden

§ 46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

Ullistandes nicht gehen, w e i l sonst den Zwecken des Strafverfahrens jede der beiden A l t e r n a t i v e n : beschuldigter

entgeht.

Vernehmung als Z e u g e u n d als

Mit-

Es ist daher

a. derjenige, welcher an der T h a t materiell theilnabm, aber wegen jugendlichen Alters, Mangels der Zurechnungsfähigkeit, der subjectiven Befähigung oder

zur

Begehung d i e s e s

Delictes

u. s. w. nicht

strafbar

der aus anderen materiell- oder prozessrechtlichen Gründen der

Verfolgung

entzogen i s t ,

nicht als vom Zeugenbeweis ausgeschlossen

anzusehen. b. Es kann der Verdacht über zwei Personen so schweben, es als gewiss g i l t ,

eine

von beiden sei der Thäter.

I n der

dass Regel

w i r d liier lediglich die Prozessstellung, welche vor der Hauptverhandl u n g r e g u l i r t sein muss, Verfahrens

entscheiden;

auf G r u n d der Ergebnisse des

w i r d die eine der beiden Personen angeklagt,

die andere

ausser Verfolgung gesetzt sein: die letztere w i r d vielleicht ein bedenklicher,

untüchtiger Zeuge sein,

aber sie muss,

wenn sie vernommen

könnte; so wird die Sache auch in England aufgefasst. In einer solchen Bemerkung liegt noch kein Zugeständnisse dass jene m ö g l i c h e Antwort die walirheitsgemässe sei. Erörterungen dieser Art beweisen aber, dass den am Strafverfahren betheiligten Behörden Spielraum gegönnt sein muss für Rücksichten des Ansfandes und der Rechtlichkeit, wie sie jeder Private beobachten soll, und dass mit der haarscharfen „Legalität" die Strafrechtspflege leicht discreditirt werden kann. Der Staatsanwalt soll eben nicht verpflichtet sein, eine Aussage, die unter solchen Umständen abgelegt ist, zur Grundlage einer erneuten Verfolgung zu machen ; aber auch das Gericht soll und wird bei Berufung auf das Privilegium des § 54 nicht Nachweise fordern, die den Zweck vereiteln, den bei Einräumung des Privilegs das Gesetz vor Augen hatte. In der Kegel ist es allerdings nicht die Gefährdung des Verdächtigen selbst, sondern die Bedenklichkeit seiner Aussage anderen gegenüber, was Zweifel gegen seine Vernehmung als Zeuge in dem Prozesse anderer wegen der vielleicht gemeinsamen That erregt, λ7gl. ausser dem oben Anm 4 angeführten ζ. B. Z a c h a r i ä , Grundlinien S 228 und die dort angeführte Literatur; M i t t e r m ai er, Beweis S 328 ff. (Zusätze in der ital. Ausgabe S 407); A h e g g im ΝΑ XIV 296 ff.; l i e f ft er ANF 1845 S 59 ff; M i t t e r m a i er das. 1852 S 51 ff.; Entseh. des OTr v. 4. Juni 1859 in GA. 1857 S 520; O p p e n h o f f bei § 22 Nr 24, wo ebenfalls das Verhältniss der M i t a n g e k l a g t e n , nicht der M i t s c h u l d berücksichtigt ist. Ganz in gleichem Sinne mit treffender Begründung RGE v. 9. Mai 1882 Rspr I \ T 455. Bemerkenswert ist auch hier die Casuistik des französischen Rechtes, das natürlich ebenfalls davon ausgeht, dass der M i t a n g e k l a g t e nicht Zeuge sein könne, aber anerkennt, dass derjenige, der ausser Verfolgung gesetzt oder freigesprochen ist, ja selbst derjenige, der wegen Theilnahine an derselben That im Auslande verfolgt wird, als Zeuge vernommen werden könne, ja sogar der wegen Theilnahme an der den Gegenstand der Hauptverhandlung bildenden Handlung verhaftete (CHE v. 20. Juni 1839; H o l l a n d Art. 322 Nr 63). Vgl. überhaupt B o n n i e r § 337 I ρ 430; H é l i e , Insti·. S 636 V i l i , vol. VII! ρ 714, éd. Brüx. Nr 4983; R o l l a n d 1. c. Nr 62—65; C u b a i n S 464 p 285; C a r n o t , Code pénal Art. 50 Nr 25.

472

§ 46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

werden soll, als Zeuge behandelt werden. Nur im Falle der Wiederaufnahme wäre es d e n k b a r , dass gleichzeitig die wiederauf'genonimene Verhandlung gegen die eine, unci die Hauptverhandlung über die Anklage gegen die andere vorgenommen würde; in diesem Falle stehen beide als Angeklagte vor Gericht und keiner ist Zeuge. c. Es kann die Anklage gegen mehrere als gemeinschaftlich an derselben strafbaren Handlung betheiligte (Mitthäter, Theilnehmer. Begünstiger, Hehler) erhoben sein und gegen alle gleichzeitig verhandelt werden. In diesem Fall mag materiell ein Mitangeklagter gegen oder für den anderen aussagen, aber prozessualisch ist keiner als Zeuge zu behandeln; insbesondere steht daher clie clas Fragerecht gegenüber clem Angeklagten auf die Person des Vorsitzenden einschränkende Bestimmung des § 239 der deutschen StPO einer Befragung eines Mitangeklagten durch einen anderen entgegen. Der Benutzung einer von dem Mitbeschuldigten als solchem in der Voruntersuchung abgelegten Aussage steht d e r Umstand nicht entgegen, dass dieser bei einer Vernehmung als Zeuge nach § 54 StPO von cler Zeugnisspflicht befreit und hierüber zu belehren gewesen wäre. Dagegen ist in Bezug auf Zulässigkeit der Verlesung von Aussagen in der Hauptverhandlung cler Mitbeschuldigte im § 250 StPO und im § 252 der Österreich, dem Zeugen gleichgestellt, cl. Die Anklage der Betheiligung an derselben Handlung kann clen verschiedenen Angeklagten gegenüber in verschiedenen Hauptverhandlungen auszutragen sein. Dabei sind die bereits ausser Verfolgung gesetzten oder verurtheilten (das Urtheil sei nun rechtskräftig oder nicht)-als Z e u g e n zu behandeln; allerdings als verdächtige. e. Bei gleichzeitiger Verhandlung über mehrere stralbare Handlungen kann eine Person bei der einen mitbetheiligt sein, während sie über clie andere lediglich als Zeuge auszusagen hätte. Dies kann aber nichts daran ändern, dass wenn die verschiedenen strafbaren Handlungen clen Gegenstand e i n e r Hauptverhandlung bilden, in dieser auch alle wegen einer derselben angeklagten nur die Stellung von Mitangeklagten einnehmen, als Zeugen also nicht behandelt werden können. Ergeben sich daraus Nachtheile, so muss rechtzeitig auf die Sonderling der bezüglichen Strafsachen Bedacht genommen werden 1 1 . 11 Es kann, trotzdem dass die gleichzeitig zu erledigenden Anklagen nicht wegen Betheiligung an derselben Handlung erhoben sind, das Verhältniss derselben zu einander doch ein solches sein,. welches eine Gemeinsamkeit des Interesse oder auch einen Gegensatz desselben für alle Angeklagten begründet; z. B. wenn eine Anklage wegen falschen Zeugnisses mit einer wiederaufgenommenen Strafsache zu-

46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

3. So wenig als beim Beschuldigten lässt sich beim B e s c h ä d i g t e η 1 2 der civilprozessuale Grundsatz, dass niemand Zeuge in eigener Sache sein könne, ein Grundsatz, welcher in neuerer Zeit namentlich in England aufgegeben ist, auf den Strafprozess einfach übertragen. Das Haupthinderniss liegt in dem Gegensatz zwischen der theoretischen und der praktischen Stellung des B e schädigten. Der Theorie nach berührt die strafbare Handlung als solche nur den Staat und die öffentliche Rechtsordnung ; das Interesse der von derselben betroffenen gellt unter in dem allgemeinen Interesse an der Bestrafung. Tragen auch die modernen Gesetzgebungen dem praktischen Bediirfniss des Beschädigten mehr Rechnung ( vgl. oben § 20 I I I , § 21), so kann dies doch nicht (oder nur ganz ausnahmsweise) dahin führen, dass man ihn als dominus litis betrachtet. Damit ist es auch theoretisch gerechtfertigt , dass man die Aussage des Beschädigten, dessen Zeugniss in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle p r a k t i s c h ganz unentbehrlich ist, nicht aus dem Bereich des Zeugenbeweises ausschliesst. Ist das im allgemeinen richtig, so sollten weitere Modificationen in der Prozessstellung darauf keinen Einfluss üben. Dies ist nach ö s t e r r e i c h i s c h e m Rechte auch nicht der Fall, der Beschädigte mag nun als Privatbetheiligter sich clem Strafverfahren nur angeschlossen haben oder als Subsidiaranklage!· clem Angeklagten tatsächlich allein gegenüberstehen; denn rechtlich bleibt die Anklage eine öffentliche. Schon dadurch ist es gerechtfertigt, class nach § 172 österr. StPO auch auf clen Beschädigten „alle über clie Zeugenvernehmung ertheilten Vorschriften Anwendung finden", eine Anordnung, aus welcher auch deutlich hervorgeht, dass bei einer Collision cler aus cler Stellung des Zeugen zu ziehenden Folgerungen mit clen Prozessrechten des Subsicliaranklägers die letzteren weichen müssen. Er ist daher auch von der Bestimmung des § 241 österr. StPO nicht ausgenommen, wonach cler Vorsitzende auch den Privatbeteiligten, unbeschadet seines Rechtes, sich durch einen anderen sammenhängt — bei wechselseitigen Beleidigungen und Körperverletzungen u. dgl. oder dem der Entsch. des Wiener Cass.-Hofes v. 17. Januar 1853 (Allg. österr. GZ 1854 Nr 15; H e r b s t I 12; Pei t i e r 8 96) zu Grunde liegenden Falle, wo bei einem verbotenen Spiele einei* der Mitspieler betrogen wurde. — Aber auch wo gar kein sachlicher Connex zwischen den Gegenständen der verschiedenen Anklagen besteht, ist es unausführbar, dass in derselben Hauptverhandlung dieselbe Person als Zeuge und als Angeklagter iigurire. 12 Z a c h a r i ä , Grundlinien S 227; M i t t er m a i e r , Beweis 8 325 ff. (Zusätze in der ital. Ausg. S 400—402): K i t k a , Thatbestand 8 108. 118; O r t l o f f , Adhäsionsprozess 8 27 ff.

474

46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

bei der Verhandlung vertreten zu lassen, zur Entfernung aus dem Sitzungssaal anweisen kann. Aber auch für den Privatankläger ist eine Ausnahme von der Kegel des § 172 österr. StPO nicht statuirt 1 3 . Das f r a n z ö s i s c h e Recht lässt den Beschädigten, welcher durch seine Klage den Anstoss zum Strafprozess gegeben hat (plaignant), unbedenklich zum Zeugniss zu und ist nur bezüglich desjenigen, der sich mit seinem Entschädigungsanspruch dem Strafprozess angeschlossen hat (partie civile), zurückhaltender, obgleich der Unterschied zwischen dem Ankläger im Strafprozess, namentlich im Schwurgeriehtsverfahren, und der partie civile gewiss grösser ist, als der zwischen der letzteren und dem plaignant. Indess ist der Grundsatz mehrfach durchbrochen worden; 1. dadurch, dass der Beschädigte seinen Anschluss als partie civile wirksam auch nach der Vernehmung als Zeuge erklären kann, wo dann nur erübrigt, den Geschworenen zu rathen, die Aussage als nicht beeidigt zu betrachten; 2. dadurch, dass man (ganz willkürlich) die partie civile dem bezahlten Denuneianten gleichstellte, der unbeeidigt „Auskunft" ertheilen kann; 3. dadurch, dass Nichtigkeit nur eintritt, wenn sich der eidlichen Vernehmung eine Partei widersetzt hat* 4 . Die d e u t s c h e StPO räumt zwar dem Beschädigten gewissermaassen eine prozessuale Stellung ein (§§ 169 u. 170, s. oben $ 20 I I I ) ; trotzdem aber wird er in keiner Weise als Prozesspartei behandelt, eine Ausschliessung vom Zeugenbeweis kommt daher gar nicht in Frage. Auch der A n t r a g s b e r e c h t i g t e hat nach deutschem Recht nicht die Stellung des Trägers der Anklage, obgleich er in gewissen Fällen dieselbe rückgängig machen kann; seine erwähnte Eigenschaft hat also auf die Zeugenstellung keinen Einfluss. Dagegen wurde die im Entw der deutschen StPO § 348 enthaltene Bestimmung: „Das Gericht ist befugt, den Privatkläger als Zeugen, nach Befinden selbst eidlich, zu vernehmen. Jedoch darf der Privatkläger, auch wenn er als Zeuge zu vernehmen ist, der ganzen Verhandlung beiwohnen" - bei der Berathung in der Reichstagscommission ge-

13

M a y e r , Handbuch I I zu § 172. M or i n , Repertoire verbo: „Témoins" η. 17 sagt bezüglich dessen, Avas M a y e r , Handbuch I I Bern 2 zu § 172 als „feststehenden Grundsatz der französischen Praxis" bezeichnet: Des considérations ont fait souvent hésiter, et la jurisprudence présente de notables variations. Vgl. übrigens H é l i e , Traité de l'instruction §§ 635. 636, vol. V I I I p 705 sq.; d e r s e l b e , Pratique criminelle Nr 741, vol. I p 384—386; B o n n i e r § 336 p 428—430; R o l l a n d zu Art. 322 Code d'Instr. Nr 37 sq.; C u b a i n Nr 464 sq. (mit entschiedener Bekämpfung der die Abhörung der Civilpartei als Zeugen begünstigenden Entscheidungen). 14

§ 46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

strichen 15 . Demnach kann der Privatkläger als Z e u g e nicht vernommen werden. Was vom P r i v a t k l ä g e r gilt, müsste man eigentlich nach §437 auch vom N e b e n k l ä g e r (s. oben $ 21) gelten lassen, da er nach erfolgtem Anschluss die Rechte des Privatklägers hat. Allein auf seine bereits voi* dem Anschluss erfolgte Vernehmung als Zeugen könnte das Verhältniss keinesfalls zurückwirken, und so wäre die Handhabe geboten, praktisch die Incompatibility in bedenklichster Weise zu umgehen, und dazu würde, mit Rücksicht auf den Zweck der Gewährung der Stellung des Nebenklägers, das Bedürfniss des Lebens drängen: der Verletzte müsste entweder auf die Forderung der Geldbusse oder auf das für deren Zuerkennung oft unentbehrliche Beweismittel, sein eigenes Zeugniss, verzichten. Aehnlich verhielte es sich in den Fällen, wo jemand durch seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung allein die Erhebung der öffentlichen Klage herbeigeführt hat: entweder die Prozessstellung, die ihm das Gesetz sichern wollte, oder das für die Aufklärung der Sache beiden Parteien unentbehrliche Zeugniss ginge verloren. I n einem Erkenntniss der vereinigten Senate cles Reichsgerichts 1 6 ist daher unter Hervorhebung dieser Missstände ausgesprochen worden, dass die Vernehmung des Nebenklägers als Zeugen η i c h t gegen Normen des Verfahrens Verstösse ; das Erkenntniss kann sich allerdings nur auf die oben angeführte Gefahr der Umgehung und darauf stützen, dass die Unvereinbarkeit nicht a u s d r ü c k l i c h ausgesprochen sei, dass nichts vorliegt, was beweist, sie sei beabsichtigt worden, und dass sie nicht nothwendig aus cler Prozessstellung folge. 4. Unvereinbar mit der Stellung eines Zeugen ist clie eines R i c h t e r s , welcher die eines G e s c h w o r e n e n oder S c h ö f f e n gleichsteht 17 . Nach der österr. StPO ist derjenige vom Richteramte 15

Die gegen die Bestimmung vorgebrachten Gründe bezogen sich überwiegend auf die e i d l i c h e Vernehmung; Avas darüber hinausgeht, fällt unter den allerdings stets unwiderleglichen Grund: „steht mit der deutschen Auffassung im directen Widerspruch". (Und das altdeutsche Hecht?) Der durch die Ablehnung des § 348 Entw hervorgerufene Antrag auf Zulassung eines förmlichen Parteieneides ward allerdings mit vollem Rechte abgelehnt (Prot S 661. 666). Als das Ergebniss bezeichnet S c h w a r z e , Erörterungen S 61: „Bei Injurien, welche ohne Zeugen begangen werden, ist daher thatsächlich der Beweis gegen den leugnenden Beschuldigten ausgeschlossen" — sofern nicht, muss man hinzufügen, der Richter dem freien Vortrag des Privatklägers auch ohne irgend ein anderes Beweismittel Glauben schenkt. 10 RGE v. 25. Oct. 1880 Rspr I I 388. 17 B o l z e in GA 1877 S 202 ff.; Geyer § 77 I I I Anm 5; U l i m a n n in I U I 1 169 und Gest. StPR §41: Mot zu § 22 d. StPO; L ö w e Bern 20; P u c h e l t

476

§ 46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

ausgeschlossen, welcher „ausserhalb seiner Dienstverrichtungen Zeuge der in Frage stehenden Handlung gewesen ist oder in der Sache als Zeuge (oder Sachverständiger) vernommen worden ist" (§ 68 Z. 1). Nach § 22 Z. 5 der deutschen StPO ist von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen, wer „in der Sache als Zeuge vernommen ist". Damit ist aber nur der Anlass zu Collisionen gemindert, die Unbefangenheit des Richteramtes gewahrt. Der Zeuge darf nicht Richter sein ; keineswegs ist damit entschieden, dass der Richter nicht Zeuge sein dürfe. Vielmehr gilt als Regel das Gegentheil. B e d a r f man des Richters als Zeugen, so muss die Richterqualität zurücktreten und die Ausschliessung tritt in ihr Recht, Indess fehlt es in der deutschen StPO an gesetzlichem Schutz gegen Missbrauch des Ladungsrechtes der Parteien; für den Entwurf derselben mochte eine Bemerkung der Motive vollkommen ausreichen, „dass das Gericht eventuell sich bei der Versicherung des Richters, dass er keine eigene Wissenschaft von der fraglichen Thatsache habe, begnügen und die Vernehmung ablehnen könne". Allein angesichts der durchgreifenden Aenderung, welche die Stellung des Gerichtes durch Anerkennung des Rechtes der Parteien nicht blos auf Ladung, sondern auch auf Vernehmung der von ihnen gewünschten Zeugen im Gesetze erfahren hat. kann man sich nur auf die offenbare Unzulässigkeit willkürlicher Beeinflussung der Zusammensetzung des Gerichtes durch die Parteien Bern 8; K e l l e r Bern 10; T h i l o Bein 7: B o m h a r d Beni 4 zu S 22. — l l y e , Leitende Grundsätze S 151; R u l f , StPO v. 1853 I 107; M a y e r , Handbuch II Beni 9—11 zu § 68; R u l f ebendaselbst; M i t t e r b a c h e r Beni 1 das. S. auch noch G l a s e r , Vorher, zur Hauptv. im franz. Schwurgerichtsv. §7 IV Nr 3: Kl. Schriften S 596 Anni 105; Ρ e r r è ve, Manuel des cours d'assises ρ 237 Nr 23 (betrifft einen in einem politischen Prozess 1822 vorgekommenen Fall, wo die Angeklagten 10 der auf die Geschworenenliste gesetzten als Zeugen laden Hessen): M e i zu Art. 468 des Regol. di procedura penale, ρ 286; C a s o r a t i in der Rivista penale X I I 6. Nach e n g l i s c h e m Rechte ward es früher nicht als unzulässig angesehen, dass Richter sowohl wie Geschworene als Zeugen in der Sache vernommen werden, über die sie zu entscheiden haben ( B e s t §§ 187. 188). Letzteres erklärt sich aus dem historischen Zusammenhange zwischen der Jury und dem Zeugenbeweise, sowie aus der Besorgniss, dass sonst der Geschworene auf Grund seiner aussergerichtlichen Wahrnehmungen urtheilen und selbst seine Mitgeschworenen dazu bestimmen könnte. Bezüglich des Richters ist der Vorgang so bedenklich, dass es schwer ist, an mehr als an die theoretische Zulässigkeit desselben zu glauben. In der That erklärt sich namentlich G r e e n l e a f I § 364 sehr entschieden dagegen; ja er fügt hinzu, es sei on grounds of public interest and convenience unzulässig, ihn über dasjenige als Zeuge zu verhören, was er während einer von ihm geleiteten Gerichtsverhandlung amtlich wahrnahm. Im wesentlichen derselben Ansicht, wenngleich minder entschieden, T a y l o r §§ 859. 1244. 1245.

46.

berufen 18.

Man wird

Ausschliessung vom Zeugniss.

also

dem

Gericht

das

ihm

i n den

Motiven

vindicirte Recht nicht absprechen können, u n d n u r auch dessen Pflicht betonen müssen,

darauf zu sehen, dass andrerseits Personen,

deren

Vernehmung als Zeugen sich als nothwendig oder b i l l i g darstellt, zur Thätigkeit als Richter i n der Sache nicht herangezogen werden.

Wird

nun einer der für die Hauptverhandlung bestimmten Richter als Zeuge i n Anspruch genommen, e h e die H a u p t v e r h a n d l u n g beginnt, so k a n n es nicht zweifelhaft aber

sein, dass darüber das G e r i c h t ,

ohne M i t w i r k u n g 18

nach Anhörung,

des so i n Anspruch genommenen

Richters19,

Diese Ansicht theilen im Anschluss an die Motive Geyer und U l i m a n n a. a. 0. und alle Commentare bis auf V o i t u s und S c h w a r z e , welche darüber schweigen. Mit Unrecht wird letzterem (von K e l l e r und P u c h e l t ) eine andere Meinung beigemessen. Die Stelle, auf welche dabei hingewiesen wird (Bern 12 zu § 22), betrifft nicht die Versagung der Vernehmung als Zeuge, sondern erklärt mit Hecht „gegenüber der Fassung des Gesetzes bedenklich" die Meinung, „dass, wenn sich herausstellen sollte, dass für die Zeugenvernehmung gerechte Gründe nicht vorhanden gewesen, vielmehr sie nur als Mittel zur Ausschliessung des Richters gemissbraucht worden, der Ausschliessungsgrund nicht vorhanden sei". Eine ähnliche Ansicht hatte z. B. Hye a. a. 0. ausgesprochen, dabei aber Vernehmungen gemeint, die der Hauptverhandlung vorausgehen. 19 Die Frage erregt einige nicht unbedeutende Schwierigkeiten; einen bequemen Ausweg bietet es allerdings, wenn man e n t w e d e r die Notwendigkeit der Entscheidung überhaupt leugnet und letztere in das Belieben oder Gewissen des betreffenden Richters stellt, oder ihn an dieser Vorentscheidung theilnehmen lässt. Der letzte Satz des § 24 der preuss. StPO v. 1867 scheint beides combin i m i zu wollen. Die Vernehmung des Richters ist abhängig gemacht worden von dem vorausgehenden Beschlüsse des Gerichtes über die Erheblichkeit der zu bezeugende)* Thatsache; von der Mitwirkung hiebei ist der als Zeuge in Anspruch genommene Richter nicht ausgeschlossen ; aber auch wenn in dieser Weise „die Erheblichkeit bejaht wird, bleibt die Vernehmung selbst ausgesetzt, falls er zu gerichtlichem Protokoll auf seinen Diensteid versichert, dass ihm von jener Thatsache aus eigener Wissenschaft nichts bekannt sei". Was das letztere betrifft, so genügt es, die Frage aufzuwerfen, ob von dieser negativen Erklärung des Richters in der Hauptverhandlung Gebrauch gemacht werden darf, um das bedenkliche des Vorganges hervortreten zu lassen.— Dass der als Zeuge vorgeschlagene von der Beschlussfassung nicht ausgeschlossen sei, spricht auch das P>k. des OTr v. 9. März 1876 (GA 1876 S 153, auch angeführt bei B o l z e , G A 1877 S 203) aus. Ausgeschlossen im Sinne des § 22 Nr 5 StPO ist der Richter in diesem Augenblicke allerdings nicht, wie dies mit Recht D a l c k e Beni a zu Nr 5 des § 22 (unter Anführung des Erk. des OTr v. 5. Nov. 1866, ORspr V I I 605) ausspriclit. Allein wo es vermieden werden kann, sollte doch nie ein Richter über etwas entscheiden, wobei er nicht ganz unbefangen sein kann (s. namentlich die Auffassung B o l z e s a. a. 0.). K e l l e r und P u c h e l t meinen dagegen mit Recht, es liege der Fall des § 30 StPO vor: und dies hilft einigermaassen über die grössere Verlegenheit hinweg, welche in dem gleich zu erwähnenden Falle entsteht, wenn der Beweisantrag erst in der Hauptverhandlung gestellt wird. Behandelt man hier die Sache lediglich als I n ci d e n t a l f r a g e , so

478

§ 46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

entscheidet ; und dass, wenn es der Ansicht ist, dass die Vernehmung nicht verweigert werden könne, sogleich für die nöthige Aenderung in der Zusammensetzung des Gerichtes gesorgt werden muss. — Allein für den immerhin möglichen Fall, dass erst in der Hauptverhandlung der Antrag auf Vernehmung gestellt wird, ist es schwer, bestimmte Regeln aufzustellen, da, wenn nicht Ergänzungs-Richter und -Geschworene zu Gebote stehen, nur zu wählen ist zwischen dem Verzicht auf die Vernehmung und dem Abbruch der Hauptverhandlung: zwischen beiden Hebeln muss nach Anhörung der Parteien das Gericht in billiger Würdigung aller Verhältnisse wählen; im Zweifel ist aber für die Abbrechung zu entscheiden, weil doch sonst, trotz der unterlassenen Vernehmung des Richters als Zeugen, auch die Unbefangenheit der Entscheidung Zweifeln unterliegen mag. --- Die Anwendung der gleichen Grundsätze auf Geschworene (§ 32 deutsche, S 306 Ζ . 3 österr. StPO) ergiebt insofern eine Eigenthümlichkeit, als hier nicht blos die in der Sache auf die Geschworenenbank berufenen, sondern auch die auf der Dienstliste stehenden in Betracht kommen. Es muss natürlich ebenso sehr der willkürlichen Aenderung cler letzteren, als der willkürlichen Fernhaltung von der Geschworenenbank entgegengetreten werden 2 0 . 5. Die Mitglieder d e r S t a a t s a n w a l t s c h a f t 2 1 sind durch keine Bestimmung unserer Gesetze 2 2 v o n d e r V e r η e h m u η g a l s muss darüber das die Hauptverhandlung abhaltende Gericht entscheiden und daher muss entweder der als Zeuge vorgeschlagene Richter an der Incidentalcntsclieidung noch theilnehmen, oder er müsste bei dieser Gelegenheit durch einen anderen ersetzt werden — wenn dies überhaupt möglich ist; damit wäre er aber bereits definitiv ausgeschieden, gleichviel ob nunmehr seine Vernehmung beschlossen wird oder nicht. Xur wenn die Frage als Zweifel über einen A u s s c h l i e s s u n g s g r u n d behandelt wird, tritt diese Alternative nicht ein. 20 Mit Erk. des Wiener Cass.-Hofes v. 21. Jan. 1881 Samml. der österr. GZ Nr 316 wurde es gebilligt, dass der Schwurgerichtshof, als sich während der Hauptverhandlung die Nothwendigkeit herausstellte, zwei Mitglieder der Geschworenenbank als Zeugen zu vernehmen, dieselben vom Geschworenenamte enthob und die Ersatz- (Ergänzungs-) Geschworenen an deren Stelle treten Hess. 21 B o l z e a. a. 0. S 206; T i p p e i s k i r c h in GA 1853 S 315 ff. 22 j n Frankreich wird angenommen, dass die Stellung von Zeuge und Staatsanwalt unvereinbar sei, und zwar scheint es, dass wer einmal die eine Stellung eingenommen hat, von der anderen ausgeschlossen ist. So leitet C u b a i n Nr 464 ρ 285 aus dem Satze, dass niemand Zeuge in eigener Sache sein könne, ab, dass man weder den Generalprocurator, in dessen Namen die Verfolgung vorgenommen wird, noch den Beamten der Staatsanwaltschaft, der vor der Jury das Wort führt, als Zeugen hören kann. H é l i e . Instruct. § 636 IX, vol. V i l i ρ 716. ed. Brüx. Nr 4984. sagt nur, es bestehe absolute Incompatibility, niemand könne sein partie poursuivante et témoin dans la même affaire.

§ 46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

Z e u g e n in einer Saelie, in welcher sie amtlich einschreiten, ausgeschlossen. Nach deutschem Recht fehlt es andererseits an Bestimmungen über Ausschliessung der Staatsanwälte von dieser ihrer Function ; es wird jedoch in den Motiven zum GArG darauf hingewiesen, „die Organisation der Staatsanwaltschaft gestatte, dass in den Fällen, wo die Ersetzung eines staatsanwaltschaftlichen Beamten durch einen anderen geboten oder wünsehenswerth erscheine", sie in formloser Weise herbeigeführt werde. Nach § 75 der ö s t e r r . StPO dagegen sind die Mitglieder der Staatsanwaltschaft ausgeschlossen, wenn sie in der Sache als Zeugen vernommen werden. Daraus ergeben sicli ganz verschiedene Lösungen' für die beiden Gebiete. Nach ö s t e r r . Recht entscheiden die Gerichte über die Ladung und Vernehmung aller Zeugen, also auch der staatsanwaltschaftliehen Beamten; sie werden bei dieser Entscheidung auch darauf Rücksicht nehmen, ob die Vernehmung bona fide begehrt werde oder n u r zur Ausschliessung des Staatsanwaltes führen soll ; b l o s wegen dieser Folge der Vernehmung kann dieselbe nicht versagt werden. Ist sie einmal erfolgt, so hat der Beamte sich des weiteren Einschreitens als Staatsanwalt zu enthalten, und wenn es sich um eine Vernehmung in der Hauptverhandlung handelt, muss schon während derselben die Staatsanwaltschaft anderweitig vertreten sein. — Nach d e u t s c h e m Rechte kann die chicanöse Ausschliessung gar nicht bewirkt werden; nur Rücksichten der Delicatesse halten den als Zeuge zu vernehmenden von der Ausübung seines Amtes ab, und sie verschwinden natürlich angesichts der offenen Chicane : h i e r genügt also eine Stellvertretung w ä h r e n d der Vernehmung, die wohl stets leicht zu beschaffen, übrigens auch nicht unbedingt geboten ist. Eben darum besteht angesichts des in der deutschen StPO anerkannten unbedingten Parteienrechtes kein Recht des G e r i c h t e s , den Staatsanwalt von der Erfüllung der Zeugenpflicht. von der ihn kein Gesetz ausninnnt, loszuzählen; noch viel weniger aber besteht ein selbständiges Entscheidungsrecht der Vorgesetzten des Staatsanwaltes 23 . 6. In einer ähnlichen Stellung ist der V e r t h e i d i g e r 2 4 . Es sind hier drei Gesichtspunkte auseinanderzuhalten: Die Befreiung des 23 And. Mein. B o l z e : „Der Staatsanwalt ist durch seine Parteistellung von dem Zeugniss ausgeschlossen (V). Er darf sich nicht minder wie der Richter auf seine amtliche Stellung berufen . . . Ueber die Collision s e i n e r Pflichten kann aber so wenig der Richter, wie der Oberrichter entscheiden. Es ist vielmehr sein Vorgesetzter" etc. 24 Bolze S 206. 207; O p p e n h o f f , Ges über Strafverfahren Bein 5 zu § 52: S c h w a r z e Bern 7 zu § 52 der StPO: M a y e r , Handbuch I 151. 394.

480

§ 46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

Vertheidigers von der Zeugenpflicht (s. unten § 49), der Einfluss des Verhältnisses auf clie Glaubwürdigkeit des Zeugnisses und die etwa daraus abgeleitete Ausschliessung des Vertheidigers vom Zeugenbeweis, endlich die Unvereinbarkeit cler beiden Stellungen, welche wieder die Ausschliessung des Vertheidigers vom Zeugniss oder die cles Zeugen von der Vertheidigung bewirken kann. Hier ist nur die Ausschliessung cles Vertheidigers vom Zeugenbeweis, das umgekehrte Verhältniss nur so weit zu besprechen, als es hierauf zurückwirkt. Geht man davon aus. dass Vertheidigung und Zeugenbeweis nicht vereinbar sind, so kann dies in dem Misstrauen seinen Grund haben, clen die berechtigte Parteilichkeit des Vertheidigers gegen sein Zeugniss einflösst 2 ·\ Dies ist aber vom Standpunkt des neuesten Rechtes sicher kein ausreichender Gruncl. Vielmehr ist entscheidend, dass die Vereinigimg des Vertheidigeramts mit der Stellung eines Zeugen schwer denkbar ist. Im Vorverfahren, wo jetzt clem Vertheidiger die Akten nicht mehr unbedingt verschlossen sind, kann es wichtig sein, clas der Zeuge von deren Inhalt nichts erfahre. I n der Hauptverhandlung können auf den Vertheidiger die Bestimmungen über clie Fernhaltung noch nicht vernommener Zeugen nicht angewendet werden, und umgekehrt kann er während seiner Vernehmung als Zeuge seine Pflichten als Vertheidiger nicht erfüllen. Eben so misslich ist es, dass er nachher die Ergebnisse des Beweisverfahrens bespricht: vertritt er seine Aussage, so spricht er nicht mehr für einen andern, sondern für sich ; sagt er gegen den Angeklagten aus, wie soll er ihn dann vertheicligen oder dieser noch zu ihm Vertrauen haben? Die verschiedenen Gesetzgebungen heben aber den entscheidenden Gesichtspunkt nicht immer scharf hervor. So kommt es, dass z. B. nach r ö m i s c h e m Recht der Vertheidiger vom Zeugniss ausgeschlossen w a r 2 6 , nicht umgekehrt 2 7 . Im e n g l i s c h e n Recht 2 8 hat man zunächst auch sich clem Einfluss der 395, I I 152 u. 153; U l i m a n n § 67 S 330: M i t t e r b a e h e r - N e u m a y er S 69. 70: F r y dm an η S 141-145; V a r g h a S 315—317; Allg. österr. GZ 1860 Nr 77. 25 S. ζ. Β. F r y d m a n n , welcher a.a.O. sagt, die Stellung eines \Tertheidigers stehe mit der eines Zeugen im Widerspruch, weil „der obligatorische Parteistandpunkt des Vertheidigers schlechthin unverträglich ist mit der Pflicht eines Zeugen, die volle AVahrheit auszusagen". Und trotzdem findet er durch § 40 österr. StPO die Vertheidigung noch zu sehr beengt! 26 Ne patroni in causa, cui patrocinium praestiterunt, testimonium dicant, 1 25 D de testib. 22. 5. 27 S. namentlich die von Geib S 356 Anm 281 angeführte Stelle aus Cicero in Verr. I I 8: Nonne multa mei testes, quae tu scis (Ilortensi), nesciunt? Nonne te mihi festem in hoc crimine eripuit non istius innocentia, sed legis exceptio? 28 S. namentlich Best §§ 184. 185.

§ 46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

nicht hieher gehörigen „ p r i v i l e g i r t e n M i t t h e i l u n g e n " zu entziehen; abgesehen davon aber lässt sich nicht behaupten, dass i n entscheidender Weise die Ausschliessung der Parteivertreter lich

die

Nichtberechtigung

Zeugnisses,

ausgesprochen

soweit es sich u m von i h m

der sei,

das Zeugniss

Gegenpartei

v o m Zeugniss, namentzur

wenn es gleich

ihres dazu,

des Advocaten zur E r h ä r t u n g

selbst aufgestellten Parteibehauptungen

Es ist aber schon j e t z t

Benutzung an Ansätzen

erkennbar,

der

handelt, nicht fehlt.

dass m a n eher geneigt ist,

den

unentbehrlichen Zeugen einer Partei von der F ü h r u n g i h r e r Sache auszuschliessen,

keinesfalls

aber weiter

zu

gehen29.



Im

franzö-

s i s c h e n Recht ist eine Schwankung bemerkbar, insofern für zulässig erachtet

wird,

nommen w i r d

dass der Vertheidiger u n d nitr,

i n aller F o r m

als Zeuge

wo die V e r t h e i d i g u n g eine nothwendige

während seiner Vernehmung

durch einen

anderen Vertheidiger

verist, ver-

treten w i r d 3 0 . 29 Entscheidend für die künftige Entwickelung ist wohl das folgende Wort des Herausgebers von B e s t (§184): „It would be very dangerous to allow a party who knows that important, perhaps the only important, evidence against him will be given by an advocate, to shut that person's mouth by retaining him as his counsel". 30 Mit Erk. des Pariser Cass.-Hofes v. 4. Jan. 1821, womit einige spätere bis zum Jahre 1849 reichende übereinstimmen, wurde in einem Schwurgerichtsfalle, wo die Staatsanwaltschaft die Vernehmung des Vertheidigers als Zeugen erwirkte, nur deshalb vernichtet, weil der Angeklagte während der Vernehmung des Vertheidigers als Zeugen a été privé sans son fait et sans le fait du conseil antérieurement choisi, de l'assistance d'un conseil ( H é l i e , Instr. § 614 II, vol. V I I I p 504, éd. Brüx. Nr 4842). — H é l i e (§ 357 IV, vol. V p 552 sq.) hat übrigens in erster Linie das Privilegium des \rertheidigers vor Augen: l'avocat n'est atteint d'aucune incapacité, il n'est écarté par aucune suspicion, il peut et il doit même, lorsqu'il est appelé par le juge, répondre à ses questions. Er sieht auch in der 1 25 I) de test, nur die Sanctionirung der B e f r e i u n g von der Zeugnisspflicht, übersieht aber, dass diese ja auf bestimmte Gegenstände beschränkt ist. Man vergleiche dagegen C u b a i n Nr 464, der erklärt, der Vertheidiger (sowie der Vertreter der Civilpartei) d ü r f e aus dem doppelten Grunde nicht als Zeuge vernommen werden, weil es ihn in eine schiefe Lage bringe und ihm die Fortführung der Vertheidigung erschwere. Uebrigens entscheidet C u b a i n Nr 466 alle derartigen Collisionsfälle (auch bezüglich der Richter) durch die P r i o r i t ä t ; also bezüglich des Vertheidigers : der Angeklagte darf einen geladenen Zeugen nicht als Vertheidiger wählen, der gewählte Vertheidiger darf nicht als Zeuge geladen werden. — Aus der italienischen Literatur über die Frage s. Car rara, Programmall §959 annot. 1 ρ 532. Dieser scheint Zeugenstellung und Vertheidigung für unbedingt vereinbar anzusehen, meint aber doch wohl nur E n t l a s t u n g s z e u g e n , wenn er sagt, dem Angeklagten könne nicht verwehrt werden, aus den Kenntnissen, die jener sowohl als Jurist, wie als Mensch besitzt, Nutzen zu ziehen. Eine eingehende Erörterung dieser Frage fand vor der Advocatenkammer in \7enedig 1876 statt; siehe Rivista penale von L u c c h i n i vol. V ρ 78 sq.; C a s o r a t i

Binding, Handbuch.

I X . 4. I :

G l a s e r , Strafprozess. I .

31

482

§ 46.

Ausschliessung vom Zeugniss.

Die ö s t e r r . StPO (§ 90) schliesst den Zeugen von der Vertheidigung (nicht den Vertheidiger vom Zeugniss) aus 3 1 . Um den Beschuldigten vor Beirrung in seiner freien Wahl möglichst zu schlitzen, unterscheidet sie zwischen Vorverfahren und Hauptverhandlung; bezüglich des ersteren stellt sie es dem Ermessen cler Rathskammer anheim, ob in demselben ein Vertheidiger zugelassen werden solle, der als Zeuge vernommen wurde oder zur Hauptverhandlung vorgeladen werden soll. Umgekehrt schliesst von der Vertheidigung in der Hauptverhandlung der Umstand nicht aus, dass cler dazu bestimmte im Vorverfahren als Zeuge vernommen wurde : ausdrücklich ausgeschlossen sind nur „diejenigen, welche als Zeugen" zu cler Hauptverhandlung „vorgeladen wurden". Da nach österr. Recht über die Vorladung nie blos das Ermessen der Partei entscheidet, so fehlt es dem Angeklagten nicht an Mitteln, geltend zu machen, dass ihm durch die beabsichtigte Zeugenladung ohne Noth cler erwünschte Vertheidiger entzogen werde. Auch so ist aber die Frage nicht gelöst, was angesichts der erst in der Hauptverhandlung hervortretenden Noth wendigkeit der Vernehmung als Zeuge geschehen solle. Nur das steht fest, dass die Notwendigkeit des Zeugnisses den Ausschlag selbst gegenüber dem gerechtfertigten Wunsche, den Vertheidiger beizubehalten, giebt. Der Vertheidiger ist ja nicht vom Zeugniss ausgeschlossen, nur der . vorgeladene Zeuge von der Vertheidigung. Unzweifelhaft drückt sich darin cler Wunsch des Gesetzes aus, die Collision so viel als möglich zu vermeiden. Allein daraus folgt nicht, dass die Ausschliessung des Vertheidigers auch dann eintreten müsse, wenn sich die Notwendigkeit der Vernehmung erst in der Hauptverhandlung herausstellt. Das Gericht wird die Umstände des Falles und billig auch die Wünsche des Angeklagten berückdas. vol. X I I ρ 7 u. 8. Uebrigens findet sich sowohl bei B o r s a n i e C a s o r a t i (§ 1494, IV 340 sq.) als bei M e i (zu Art. 288 ρ 162) clie Vermischung von Befreiung bezüglich bestimmter Mittheilungen, völliger Befreiung und Ausschliessung, wie sie schon in der regelmässig angeführten Stelle von V o e t s Pandekten (1. 22 t. 5 § 6) vorkommt: Non etiam advocatus . . . idoneus testis est, sive pro diente sive contra eum producatur; saltem non ad id, ut panciere cogeretur ea, quae non aliunde quam ex revelatione clientis comperta habet. S. übrigens über die Auslegung der 1 25 D de testib. F. Ros s h i r t in Ζ f. d. Strafv. NF I I I 136 und die das. Anm 102 u. 103 angeführte Literatur. Rosshirt selbst meint: „Der Gedanke dieser Stelle dürfte der sein, dass die Zeugenvernehmung . . . als ungeeignet erscheine, weil cler Anwalt durch den Zwang zur Aussage oft in die Lage kommen könnte, die Geheimnisse seines Clienten verrathen zu müssen". Jedenfalls passen dann Zweck unci Mittel nicht zusammen. — Auch Z u m p t I I Abth. 1 S 413 Anni 79 meint nur, class cler Anwalt zum Zeugniss „nicht angehalten werden dürfte". 31 Mot C I I 1 (Iva s er er S 48; M a y e r I 345, vgl. bei letzterem S 151).

§ 47.

Die Zeugisspflicht.

sichtigen und davon es abhängig machen, ob die Verhandlung mit demselben Vertheidiger oder unter Zuziehung eines anderen Vertheidigers fortzusetzen oder, wo dies nicht möglich, abzubrechen und zu erneuern sei. Im Gegensatz zur österr. StPO enthält die d e u t s c h e keine Bestimmung über die Unvereinbarkeit der beiden Stellungen. Die Bestimmung des § 52 Z. 2, auf die später zurückzukommen ist, entscheidet die Frage weder in dem einen noch in dem anderen Sinne ; sie beweist nicht die Unvereinbarkeit der beiden Stellungen 32 , da sie nur für Aussagen über einzelne Gegenstände ertheilt ist; sie beweist aber auch nicht ohne weiteres das Gegentheil, da es dort nicht darauf ankommt, dass jemand jetzt, in dieser Sache, als Vertheidiger fungilt, sondern dass er das, worüber er aussagen soll, als Vertheidiger d i e s e s Beschuldigten erfahren hat. Es lässt sich also hier so wenig wie beim Staatsanwalt von einer gesetzlichen Ausschliessung sprechen, und muss nur angenommen wrerden, dass es ein vollkommen ausreichender Grund ist, die Aussetzung der Verhandlung zu begehren, wenn der erst in der Hauptverhandlung oder kurz vorher zum Zeugniss genöthigte Vertheidiger erklärt, er halte die Weiterführung der Vertheidigung nicht für passend. § 47.

Die

Zeugnisspflicht 1.

I. Ist einmal anerkannt, dass die Aussage der Zeugen und die Verlässlichkeit dieser Aussage das unentbehrlichste Mittel bildet, die 32

p]ine Missdeutung, die K e l l e r ausschliessen will, indem er Bern 3 zu § 52 hervorhebt: „auch derjenige (Vertheidiger), welcher durch einen anderen ersetzt wurde". 1 Bei der Anführung der Literatur der Zeugnisspflicht ist es ganz unmöglich, das die Mittel der Geltendmachung der letzteren, den Z e u g e n z w a n g betreffende auszuscheiden ; dagegen ist dies ausführbar für einen Theil der Arbeiten, welche die Befreiung von der Zeugenpflicht zum Gegenstande habe. In diesem Sinne ist hier zu erwähnen: K l e i n s c h r o d im AA V I I Nr 1 § 21 S 171 ff. Q u i s t o r p § 702 droht noch mit Tortur! T i t t m a n n § 762, IV 483 ff. Stilb e 1, Criminalverfahren §§ 2423 ff. H e n k e , Darstellung S 226 ff. D e r s e l b e , Handbuch IV 614 ff. Z a c h a r i ä , Grundlinien S 106. 107. K l e n z e S 98. 99. M a r t i n § 105. B a u e r , Lehrbuch § 141. M ü l l e r § 145. J e n u l l IV 179. 180. M i t t e r m a i e r , Strafverfahren I 434 ff. D e r s e l b e , Beweis S 308 ff. (ital. Ausgabe mit Zusätzen S 378 ff.). P l a n c k S 231 ff. Z a c h a r i ä , Handbuch I I § 98. W a l t h e r S 209. S c h w a r z e , Commentar zur sächs. StPO v. 1855 I 292—295. O p p e n h o f f bei §20. L i m a n - S c h w a r c k S 65. A m a n n , GV und StPO für Baden 1864 S 114 ff. R u l f , Oesterr. StPO v. 1853 I 211. — T r i t t a u , Die Unrechtmässigkeit der gegen Herrn Julius Campe polizeilich verfügten Geldtortur. Hamburg 1856. 31*

484

§ 47.

Die Zeugisspflicht.

Gefahren fern zu halten, welche aus einer irrigen thatsächlichen Annahme des Richters der öffentlichen Rechtsordnung und den wichtigsten Privatinteressen drohen, so liegt darin auch die wichtigste Rechtfertigung dafür, dass die Staatsgesetze allen ihnen unterworfenen die Zeugenpflicht auferlegen. Eine weitere Rechtfertigung findet dies in dem Verhältniss der Gegenseitigkeit, welches hier besteht, da jeder in die Lage kommen kann, des Zeugnisses anderer zu bedürfen und so den grössten Nutzen aus einer Einrichtung zu ziehen 2 , welche allerdings an sich drückend ist, welche es noch mehr wird durch die scheinbare Gleichgiltigkeit der Sache für das Interesse des Zeugen, und sich noch drückender gestaltet, wenn die Entscheidung darüber, ob es nöthig ist, diese Last einer bestimmten Person aufzuerlegen, dem Gericht entzogen und den Parteien anheimgestellt wird. II. Von diesen Gesichtspunkten muss auch die Erörterung des Inhaltes und Umfanges der Zeugnisspflicht ausgehen. Man muss hier, wie auf vielen Gebieten des öffentlichen Rechts, wohl unterscheiden .zwischen demjenigen, was der Staat erwarten, durch seine Organe annehmen, ja zu dessen Leistung er mahnen kann, — ferner demjenigen, was er, wenn es verweigert wird, erzwingen darf, — und endlich demjenigen, wobei er selbst passiven Widerstand nicht zu dulden braucht, Zeitschrift für Rechtspflege . . . in B a y e r n IX 421—426. StRZ 1863 S 133 if. ( S u n d e l i n ) ; 1864 S 545 ff. (John). GS 1862 S 451—463 (Heinze). GA 1862 S 820—826, 1863 S 504 ff. (Bericht über J o h n s Antrag im preussischen Landtag). Verhandlungen des deutschen Juristentags V Β 1 S 54 ff. (Geyer), 75 ff. ( T i p p e l s k i r c h ) , Β 2 S 62 ff. 188 ff, Χ Β 1 S 144 ff. (Lehmann), X I Β 1 S 90 ff. ( U l i m a n n ) , X I I Β 3 S 155 ff. 313 ff. — v. B a r , Kritik der Principien S 54. R u b o , Ueber den sog. Zeugnisszwang. Berlin 1878. Κ ays er, Der Zeugnisszwang. Berlin 1879. O e t k e r in GA 1878 S 113 ff. — F r a n z ö s i s c h e s R e c h t : H é l i e , Instruction § 354 IV, vol. V ρ 544 ss. ; § 499 I I § 555 IV, ν. V I I ρ 287 ss. 693 ss. ; § 634 II, ν. V i l i ρ 673 ss. éd. Brüx. Nr 3715 ss. 4196 ss. 4961. I)ers., Pratique Nr 163. 446. R o l l a n d zu Art. 80. 81. 157. 158. 355. 356. C u b a i n Nr 468—477. D u v e r g e r Nr 280. 281, v. I I p 346 ss. M o r i η Nr 56—58. „Zur Lehre vom Zeugnisszwang" in StRZ 1863 S 429—435 und „Der Zeugenzwang nach rheinischfranzösischem Recht" in GA 1863 S 816 ff. (Diese beiden Abhandlungen betreffen den Fall K r u s e und die aus diesem Anlass ergangenen Rechtsgutachten und richterlichen Verhandlungen.) — N e u e s t e s R e c h t : S c h w a r z e vor § 48 S 170, zu § 50. Geyer in HH I 268 ff., Lehrbuch § 132. U l i mann, Oesterr. StPR S 347. M a y e r , Handbuch I I zu § 150 Nr 25—53 und §§ 159 u. 160. R u l f und M i t t e r b a c h e r zu denselben Paragraphen. D o c h o w , Der Zeugnisszwang. Jena 1877. W a h l b e r g , Die Gehorsamsfrage. Grünhut I 1874 S 171 ff. 2 Siehe Z a c h a r i ä , Handbuch I I 181 und dessen Bemerkung gegen M i t t e r m a i e r , Beweis S 308. Vgl. die eingehende Erörterung aller hier in Betracht kommenden Verhältnisse bei B e n t h a m 9. Buch Kap. 3 Nr 5 f. Kap. 4 S 359 ff. und die nachdrückliche Betonung der Zeugenpflicht das. Kap. 4 S 365.

§ 47.

Die Zeugisspflicht.

sondern mit Strafen belegen darf. Namentlich um letzteres zu rechtfertigen, dazu bedarf es im neueren Staatswesen, in welchem auch das öffentliche Recht mehr und mehr Gesetzesrecht wird, eines Gesetzes. Wo dieses Gesetz nicht deutlich ist, da muss es so ausgelegt werden, dass es auf ganz ausserordentliche Bedürfnisse, deren Befriedigung kaum je unbedingt nothwendig sein wird, nicht bezogen werde, zumal hier der Zwang nicht durch die Erwägung gemildert wird, dass er demjenigen, den er trifft, leicht in einem ähnlichen Falle auch wieder zu gute kommen könnte. Die Gesetze kennen nur eine Z e u g n i s s p f l i c h t und stellen diese unter Sanction eines Zwangsrechtes, welches sich naturgemäss eben nur auf die A b l e g u n g des Z e u g n i s s e s und dasjenige, was damit untrennbar zusammenhängt, bezieht. 1. Die Zeugnisspflicht ist die Pflicht, das Bedürfniss cler Rechtspflege nach Zeugenaussagen nach bestem Wissen und Können zu befriedigen; sie umfasst also das ganze Object der Zeugenaussage, beschränkt sich aber auch ciarauf. Der Zeuge ist also verpflichtet, a. bei Gericht zu e r s c h e i n e n und zwar sowohl an der ordentlichen Gerichtsstätte, als an jedem Orte, wo sich das Gericht zu der Amtshandlung einfindet, zu der auch clie Entgegennahme des Zeugnisses gehört, und so oft als dies für nothwendig erachtet w i r d 3 ; b. an dem Orte so lange auszuharren, bis die Vernehmung vor sich gehen kann und bis sie für beendigt erklärt und seine Entlassung ausgesprochen ist (§ 247, österr. StPO § 248), und sich denjenigen Anordnungen zu fügen, die getroffen werden, um die Vorschrift des Gesetzes über die Nichtanwesenheit noch nicht vernommener Zeugen bei anderen Vernehmungen auszuführen 4 (§ 58, österr. StPO §§ 162, 241, 248 Absatz 3) ; c. sich ferner in diejenigen Anordnungen zu fügen, welche —

-

3

?

L ö w e Bern 5 zu §§ 51—54, Bern 36 zu § 69. J o h n , StPO S 535 u. 536. Es können nicht blos wiederholte Vernehmungen im Vorverfahren nöthig sein, es ist nicht blos als Regel anzunehmen, dass der Zeuge im Vorverfahren und in der Hauptverhandlung erscheinen muss; sondern es kann auch durch Aussetzung oder Vernichtung der Hauptverhandlung und im Berufungsverfahren die wiederholte Vernehmung desselben Zeugen nöthig werden. 4 Ob auch derjenige Zeuge mit der den Nichterscheinenden treffenden Strafe belegt werden könne, welcher sich vorzeitig entfernt, ist wenigstens bezüglich desjenigen streitig, welcher nach seiner Vernehmung fortgeht, ohne entlassen zu sein. Die Frage wird b e j a h t von L ö w e Bern 5 ; T h i l o Bern 2 ; K e l l e r Bern 5 ; D a l c k e Bern 3; P u c h e l t Beni 6 zu § 50; G e y e r in HH I 272; D o c h o w S 166 Anni 50, v e r n e i n t von S c h w a r z e Beni 8 zu § 50 und V o i t u s , Controversen I S 28 ff. Der Anlass zum Streit liegt darin, class cler Entwurf ausdrücklich neben clem Falle des Ausbleibens clen Fall erwähnte, „wenn sich der Zeuge ohne Erlaubniss entfernt", welche Worte im Gesetz fehlen. Die Aenderung ist anerkanntermaassen zu dem Zweck erfolgt, Einklang zwischen den

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Die Zeugisspflicht.

nöthig sind, damit seine Vernehmung sachgemäss durchgeführt werden könne, daher auch ihm vorgezeigte Personen und Sachen zu besichtigen, wenn dies nöthig ist, um die Fragen, die an ihn gerichtet werden, zu verstehen oder die Antworten verständlich zu machen. 2. Sehr empfindliche Beschränkungen der persönlichen Freiheit können schon damit verbunden sein; wie ζ. B. die aus dem Art. 34 der französischen in so manche deutsche Strafprozessordnung übergegangene Vorschrift, dass der an Ort und Stelle erschienene Untersuchungsrichter „jedem, bei dem er es nothwendig findet, verbieten kann, während desselben oder auch noch während des folgenden Tages seinen Aufenthaltsort zu verlassen" (§ 182 österr. StPO). Darüber hinaus geht aber die Zeugenpflicht nicht. Es ist, nach H e i n z e s f > treffender Ausführung, „nachdrücklichst zu betonen die Beschränkung der Zeugenpflicht auf Offenbarung dessen, was der Zeuge weiss. Darin liegt ein doppeltes: der Zeuge hat nicht zu handeln, sondern nur zu reden. Und zu reden hat er nur von dem, was er jetzt bereits weiss"; man hat kein Recht ihm zur Pflicht zu machen, Nachforschungen und Beobachtungen anzustellen, „über ein demselben unbekanntes Sachverhältniss sich zu unterrichten; . . für die Zukunft sich zum Zeugen zu machen, während er es in der Gegenwart nicht ist". Ebenso wenig ist der Zeuge als solcher verpflichtet, sich zu Thätigkeiten oder Experimenten herzugeben, welche cler Entdeckung der Wahrheit förderlich sein mögen, aber mit dem Zeugniss nichts zu thun haben. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kann nicht in der Pflicht des Zeugen, sich die G e g e n ü b e r s t e l l u n g mit Beschuldigten und anderen Zeugen gefallen zu lassen, erkannt werden; denn hier \ Bestimmungen der Civil- und Strafprozessordnung herzustellen, sie beschränkt sich nicht auf diese Worte und es ist nicht dargethan, dass die Absicht bestand, über den Gegenstand etwas anderes zu verfügen. Man kann also annehmen, dass die Sache für den Ausleger so liegt, wie sie gelegen wäre, hätte auch der Entwurf gelautet, wie jetzt das Gesetz. Nun ist klar, dass der Text, buchstäblich genommen, auch den Zeugen nicht trifft, welcher erschien, aber vor oder selbst während seiner Vernehmung sich entfernte. Ist man einmal darüber einig, dass das Gesetz diesen trifft, so ist kein Grund, jenen auszunehmen, der sich der als möglich in Aussicht genommenen Fortsetzung seiner Vernehmung eigenmächtig entzieht. — Eine einigermaassen verwandte Frage regt C u b a i n Nr 477 an. Er will den in trunkenem Zustande erscheinenden dem ausbleibenden gleichstellen. Ob das f r a n z ö s i s c h e Recht mit seinem „satisfaire à la citation" so ausgelegt werden kann, mag dahin gestellt bleiben. Die d e u t s c h e und die ö s t e r r e i c h i s c h e Strafprozessordnung lassen sich ohne Zwang nicht so auslegen, wohl aber bietet § 170 des deutschen GVG eine Handhabe zur Bestrafung. 5 GS 1862 S 458.

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Die Zeugisspflicht.

handelt es sieh ja nur um einen mit der Vernehmung selbst untrennbar zusammenhängenden Vorgang, um die Wiederholung seiner Aussage vor einem anderen oder um die Veranlassung zur etwaigen Berichtigung derselben angesichts des letzteren; wohl aber liegt in der L a d u n g von Personen, die n i c h t s auszusagen haben, blos vorzustellen sind, eine bedenkliche Ausdehnung der Zeugnisspflicht. Eine Zwangspflicht, sich zum Object des richterlichen Augenscheins oder der Besichtigung durch Sachverständige herzugeben, ist in den Gesetzen über die Z e u g e n p f l i c h t nicht statuirt. H i e r sind die Folgeningen nicht zu erörtern, welche sich daraus ergeben, dass Untersuchungshandlungen dieser Art auch anderen als Zeugen gegenüber nothwendig werden können; sie finden dann auch dem Zeugen gegenüber in der allgemeinen Berechtigung ihre Rechtfertigung ; aber aus der Zeugenpflicht können sie nicht abgeleitet 6 und mit den nur für diese gestatteten Maassregeln (namentlich mit dem auch den passiven Widerstand brechenden Zeugenzwang) können sie nicht durchgeführt werden. Andere die Vernehmung begleitende oder vorbereitende Vorgänge ungewöhnlicher A r t : solche, welche die Gesundheit gefährden könnten (ζ. B. Versetzung in den sog. magnetischen Schlaf, in Hypnotisinus u. dgl.) oder dem persönlichen Gefühle widerstreiten (ζ. B. Verkleidungen, Verstellen der Stimme u. dgl.), sind so beschaffen, dass mehr als ein Appell an den guten Willen und an die Opferwilligkeit des Privaten nicht gestattet ist. Insofern sagt H e i n z e mit Recht: „Der Richter darf nichts b e f e h l e n , was er nicht physisch oder moralisch erzwingen kann". 3. Der Gegenstand der Aussagepflicht ist durch das über den Gegenstand des Zeugenbeweises gesagte bezeichnet. Jede Auskunft, welche der Richter, wenn er pflichtmässig vorgeht, vom Zeugen sich zu verschaffen suchen muss, muss der Zeuge, wenn er gewissenhaft vorgeht, ihm ertheilen; nicht blos, was er bestimmt weiss und bestätigen kann, sondern was immer a l s das E r g e b n i s s e i g e n e r W a h r n e h m u n g über den Gegenstand des Zeugnisses in seiner Erinnerung, gleichviel ob klar oder unbestimmt, sich erhalten hat, muss er so angeben, dass der Richter sich in seine Seele hineindenken, den ganzen Umfang seines Wissens sich aneignen kann. Und wenn er 6

Wenn U l i m a n n § 80 S 394 Ζ . 5 (und nach ihm M a y e r I I 505 Nr 35 e) als T h e i l der Z e u g e n p f l i c h t „die Pflicht, sich der Herausgabe von Ueberführungsgegenständen zu unterziehen", anführt, so beruft er selbst sich doch auf § 143 österr. StPO, der diese Pflicht statuirt, aber nicht etwa blos für Zeugen oder auch nur mit specieller Beziehung auf sie, sondern die Pflicht allgemein unter eine besondere Strafsanction stellt.

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§ 47.

Die Zeugisspflicht.

auch, wie gesagt, nicht verpflichtet ist, selbst Nachforschungen anzustellen, darf er doch auch nichts verschweigen, was Anlass zu Zweifeln oder Nachforschungen geben kann, oder dessen Nichtvorbringung dasjenige, was er aussagt, in einem unrichtigen Licht erscheinen liesse. 4. Die Pflicht des Zeugen, seine Aussage zu beeidigen und ihr dadurch erhöhte Verlässlichkeit zu geben, ist unten § 51 näher zu besprechen. I I I . Die Zeugnisspflicht hängt von einer Reihe von Voraussetzungen ab: 1. Die Geltendmachung der Zeugenpflicht ist ein Ausfluss der r i c h t e r l i c h e n Gewalt. Die Gesetzgebung könnte allerdings den Staatsbürgern ähnliche Verpflichtungen auch anderen Behörden gegenüber auflegen; allein die hergebrachten Vorstellungen bringen Gericht und Zeugniss auch sachlich in solche Verbindung, dass einerseits nur der vor Gericht abgelegten Aussage die volle Bedeutung eines Zeugnisses beigelegt, andererseits eben darum auch im Zweifel nicht angenommen wird, es stehe das Recht, Zeugen zu vernehmen, und also die Erfüllung einer Zeugnisspflicht in Anspruch zu nehmen, jemand anderem als dem Richter zu. Dies gilt auch vom Staatsanwalt 7 . Administrativ - und namentlich Polizei - Behörden haben unzweifelhaft das Recht, Auskunftspersonen vorzufordern und zu vernehmen, und es mag ihnen zu diesem Zweck durch die Landesgesetze eine mehr oder weniger weit reichende Zwangsgewalt eingeräumt sein; allein d e n Z e u g n i s s z w a n g , d e n das S t r a f p r o z e s s g e s e t z s t a t u i r t , gewährt es nur den Gerichten, und 7 Die Stellung des Staatsanwaltes bei der Vorbereitung der öffentlichen Klage ist h i e r nicht zu erörtern ; es genügt also, zu envähnen, dass selbst sehr bestritten ist, ob er dabei irgend eine Zwangsgewalt habe (s. die Uebersicht der bezüglichen Aeusserungen bei G l a s e r in HRLex I 641. 642). Jedenfalls aber sucht er in diesem Stadium seiner Thätigkeit nicht Beweise zu sammeln, sondern sich selbst Aufklärung zu verschaffen; er verlangt kein Zeugniss, und die Auskunft, die ilnn ertheilt wird, entbehrt jeder sonst das Zeugniss verbürgenden Gewähr. Mit der Idee vollends, dass dem Staatsanwalt die gleiche Zwangsgewalt zustehe, wie dem Richter, steht V o i t u s Bern 2 zu § 50 allein. L ö w e Bern 3 b zu § 159 räumt der Staatsanwaltschaft wohl das Recht ein, die zu vernehmenden zwangsweise vorführen zu lassen, nicht das, eine Aussage zu f o r d e r n , erkennt daher eine Ζ e u g n i ssp f l i c h t im Sinne der Strafprozessordnung nur den Gerichten gegenüber an (Bein 2 zu §§ 51—54); auch T u c h e l t erkennt Bern 10 zu § 50 und Bein 3 zu § 51 das Recht der Staatsanwaltschaft an, und meint nur, sie müsse sich um Bestrafung und zwangsweise Vorführung der Zeugen an das Gericht wenden. Wenn V ο i t us sich auf das Wörtchen „auch" im dritten Absatz des § 50 stützt, so erklärt sich dieses genügend daraus, dass das Gesetz in erster Linie das in der Hauptverhandlung erkennende Gericht vor Augen hatte.

§ 47.

Die Zeugisspflicht.

hieraus kann eine solche Zwangsgewalt für andere Behörden abgeleitet werden 8

nicht

Für Deutschland ist die Frage insofern von einigen Schwierigkeiten begleitet, als sie das Verhältniss der Reichs- zur Landesgesetzgebung berührt; von diesem Standpunkt ist es gewiss unzulässig, dass das Strafgericht mittelbar oder unmittelbar mit Verwaltungsaufgaben sich befasst, oder dass für Verwaltungszwecke Behörden, die ausserhalb des Gerichtsorganismus stehen, mit Befugnissen betraut werden, welche denen der Gerichte analog sind. — Die Strafprozessordnung gewährt den Polizeibehörden unzweifelhaft das Recht, zur Vernehmung von Auskunftspersonen zu schreiten. λΓοη einer Zwangsgewalt spricht sie nicht und lässt sie also von der Gesetzgebung der einzelnen Länder abhängen. Die Polizeibehörden haben für diese gerichtspolizeilichen Zwecke dieselbe Zwangsgewalt, die ihnen für den ganzen Umfang ihrer Thätigkeit zusteht. Das RGE v. 30. Sept. 1880 Rspr I I 282, welches die Frage allerdings nicht ex professo behandelt, geht davon aus, es lasse sich in keiner Weise die Auffassung als rechtsirrthümlich bezeichnen, dass wenn „in den Bereich dieses zuständigen Berufskreises der Behörden des Polizeidienstes die V e r n e h m u n g von Personen, von denen sie Auskunft erhalten zu können glauben oder die sie einer strafbaren Handlung verdächtig halten, als das natürlichste und sachgemässe Erforschungsmittel gehöre, zur Erfüllung dieses im öffentlichen Interesse gebotenen Zweckes die Polizei auch ermächtigt sein müsse, solche Personen in ihre Bureaux zu »bes t e l l e n , v o r z u l a d e n « , und dass dieser Berechtigung die V e r p f l i c h t u n g der Privaten gegenüberstehe, einer solchen A u f f o r d e r u n g und Ladung Folge zu leisten, der rechtliche Charakter dieser Pflicht als einer g e s e t z l i c h e n auch dadurch keine Aenderung erleide, dass diese Verpflichtung im Gesetze n i c h t e r z w i n g b a r gemacht sei". Unrichtig ist es bei diesem Wortlaut, wenn O r t i off, Lehrbuch der (Kriminalpolizei § 38 S 241, h i e r i n auch die Anerkennung eines Rechtes, „zwangsweise gestellig zu machen", findet. Von einem Zwang zur Aussage spricht auch er nicht. Siehe übrigens Geyer in HH I 269 Nr 4 und im Lehrbuch § 132 I I , welcher unter Berufung auf § 19 cles Ges betr. die Untersuchung von Seeunfällen clen Satz aufstellt: „Niemand ist verpflichtet, . . . cler Polizeibehörde oder cler Staatsanwaltschaft eine Aussage zu machen"; L ö w e Bern 2 zu §§ 51—54 und Bern 3 b zu § 159 und Beni 1 b zu § 161, welcher aus dem Umstände, class die Criminalpolizei die Befugniss zur zwangsweisen Vorführung nicht entbehren unci dass nicht angenommen werden könne, dass clie Strafprozessordnung sie ihr habe entziehen wollen, folgert, dass dieselbe auch cler Staatsanwaltschaft zustehe. Mit Unrecht wirft L ö w e dabei P u c h e 11 (Bern 8 zu §§ 158—160) Inconsequenz vor, wenn dieser sagt, den Sicherheitsbehörden gegenüber bestehe „zufolge cler maassgebenden Landesgesetzgebung regelmässig die Paritionspflicht der Vorgeladenen", nicht aber der Staatsanwaltschaft gegenüber. Für Preussen freilich nimmt solche Paritionspflicht clas Erk. des OTr v. 25. März 1870, GA 1870 S 135 an. — In O e s t e r r e i c h steht fest, einerseits, dass der Staatsanwalt Personen, welche Aufklärung über begangene strafbare Handlungen zu ertheilen im Stande sein dürften, durch die Sicherheitsbehörcle „unbeeidigt vernehmen lassen und diesen Vernehmungen auch selbst beiwohnen darf"; daraus folgt, dass etwaige unmittelbare Vernehmungen nur freiwillige und gänzlich * beweisuntüchtige wären. Andrerseits räumt die kaiserl. Verordnung vom 20. April 1854, Reichsgesetzblatt Nr 96, clen „landesfürstlich-politischen und polizeilichen Behörden" das

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Die Zeugisspflicht.

2. Die richterliche Gewalt ist, so weit es sich uni die Geltendmachung der Zeugnisspflicht handelt, nicht begrenzt durch den Umfang des Gerichtssprengeis; weder in territorialer noch in persönlicher Hinsicht muss der zu vernehmende gerade unter dem Gericht stehen, das ihn vernehmen soll 9 . Vielmehr begründet die Zuständigkeit für die Sache, in welcher die Vernehmung nöthig ist, auch die Zuständigkeit für diese selbst, und es hat sich derselben jeder zu unterwerfen, welcher den Gesetzen des Deutschen Reiches unterworfen ist, also jeder Deutsche und jeder Ausländer, welcher durch seinen Aufenthalt auf deutschem Gebiete zeitweilig den deutschen Gesetzen unterthan ist (subditus temporaneus) 10 . Der Ausländer hat keine Zeugnisspflicht gegenüber den Gerichten eines Landes, in welchem er sich nicht befindet; folgt er einer L a d u n g derselben, so geschieht dies freiwillig, auch wenn die Behörden seines Aufenthalts- oder Heirnathsortes die Ladung vermitteln, gleichviel ob sie hiezu durch internationale Verträge verpflichtet sind oder n i c h t 1 1 . — Wenn das Gericht des Landes, in dessen Gebiet der Zeuge sich befindet, auf Ersuchen eines fremden Gerichts den Zeugen vernimmt, gleichviel ob dies auf Grund internationaler Abmachungen geschieht oder aus freiwilliger BereitwilligRecht ein, „die in ihrem Amtsgebiete befindlichen Personen, deren Erscheinen in einer Amtshandlung nöthig ist, vorzuladen", nöthigenfalls auch vorführen zu lassen. Dagegen ist unter den in dieser Verordnung den gedachten Behörden zur Verfügung gestellten Mitteln zum Vollzuge ihrer Anordnungen keines, welches zur Erzwingung einer Aussage anwendbar wäre. 9 Siehe namentlich D o c h o w , Der Zeugnisszwang S 28 ff. Die maassgebende Bestimmung ist § 40 Abs. 1 des später auf Süddeutschland und Elsass-Lothringen ausgedehnten norddeutschen Gesetzes vom 21. Juni 1869, Bundesgesetzblatt S 405. Danach ist jeder Deutsche verpflichtet, „auf Anordnung des Civil- oder Strafgerichtes vor demselben zum Zwecke seiner Vernehmung als Zeuge zu erscheinen, auch wenn er einem anderen Bundesstaate angehört". Diese Worte könnten allerdings noch immer auf den subditus temporaneus gedeutet werden; sie sind aber, weil sie in diesem Falle etwas ganz selbstverständliches gesagt hätten, gewiss nur im Sinne des Textes zu verstehen. 10 Ro s s h i r t in der Zeitschrift für deutsches Strafverfahren NF I I I 101. L ö w e Bern 1 b zu §§51—54. D o c h o w , Zeugnisszwang S 29 ff. M a y e r , Handbuch I I Bern 32—34 zu § 150. 11 Art. 13 des vom Deutschen Reich mit Italien, Art. 13 des mit der Schweiz, Art. 14 des mit Belgien, Art. 14 des mit Luxemburg abgeschlossenen Auslieferungsvertrages, Reichsgesetzblatt 1871 S 446, 1874 S 113, 1875 S 73, 1876 S 223 —· angeführt bei D o c h o w a. a. Ο. S 31. Solche Verträge sichern gewöhnlich dem freiwillig erscheinenden Zeugen einen Kost&ivorschuss und Immunität bezüglich früherer strafbarer Handlungen, nicht aber gegen Verfolgung wegen Meineides oder gegen Anwendung des Zeugnisszwanges.

§ 47.

Die Zeugisspflicht.

keit zur Förderung der Rechtspflege 12 , so macht es dabei die eigene Gerichtsgewalt, nicht die des fremden Staates geltend. I n gleichem Sinne ist auch innerhalb des Territoriums der ersuchte Richter, nicht das ersuchende Gericht, das Subject cles Zeugnisszwanges (§ 50 Abs. 3 ) 1 3 . 3. Was nun die s a c h l i c h e n Voraussetzungen betrifft, so hängen sie mit Zweck und Gegenstand der Vernehmung zusammen. Eine Reihe scharfsinniger Unterscheidungen ist unter dem peinlichen Eindruck, den einzelne Anwendungen des Zeugenzwanges in Aufsehen erregenden Fällen ( H a g e n in Insterburg, K r u s e in Köln) hervorriefen, gemacht worden, und ihnen ist ein grosser Theil der oben angeführten Verhandlungen des Juristentages und Specialarbeiten über die Frage des Zeugnisszwanges gewidmet. Hauptsächlich die schrankenlose Zwangsgewalt, welche in Anspruch genommen war, regte zu Versuchen dieser Art an. Heute, wo von ihr nicht mehr die Rede sein kann, werden die hieher gehörigen Fragen leichter eine rein sachliche Würdigung finden. Diese führt aber zur Aufstellung des Satzes, dass Recht und Pflicht des Gerichts zur Vernehmung des Zeugen die einzige sachliche Voraussetzung für die Pflicht des Zeugen ist, sich vernehmen zu lassen. Daraus ergiebt sich die Lösung der auftauchenden Einzelfragen : a. D i s ci p l i η ars a che η gehören nicht ihrer Natur nach zum Wirkungskreis der Strafgerichte, selbst dann nicht, wenn Gerichte die Disciplinar-Untersuchung zu führen haben. Es bedarf also ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmungen, welche zu letzterem Zwecke den Disciplinargerichten strafrichterliche Gewalt ertheilen, oder welche die Disciplinarbehörden ermächtigen, sich zur Vernehmung von Zeugen der Gerichte zu bedienen ; selbstverständlich ist es nicht, dass die Gerichte ihre Gewalt für Disciplinarzwecke anwenden oder zur Verfügung stellen; ist ihnen dies aber einmal zur Pflicht gemacht, dann üben 12 In diesem Falle wird natürlich vorausgesetzt, dass dies nicht von den Landesgesetzen für unzulässig erklärt ist; bezüglich politischer Delicte wird eine Ausnahme in den bezüglichen Verträgen gewöhnlich ausdrücklich stipulirt. 13 Eine Verpflichtung, sich zur Zeugenvernehmung eines ersuchten Richters zu bedienen, statuirt die Reichsgesetzgebung nicht (Löwe Bern 3 zu § 50), soweit die Amtshandlung nicht ausser dem Sprengel des Gerichtes vorgenommen werden müsste, ohne dringlich zu sein (§ 167 GVG). Eine indirecte Begrenzung liegt in den §§ 65. 191. 222 StPO, welche für die Fälle Vorsorge treffen, wo clas Erscheinen des Zeugen „wegen grosser Entfernung besonders erschwert" ist. Wenn die Grösse der Entfernung es dem mittellosen Zeugen unmöglich macht, zu erscheinen, weil ihm, ungeachtet er dies sofort erklärte, kein Reisevorschuss gegeben wurde, so kann er nicht gestraft werden. J o h n , StPO S 536.

492

§ 47.

Die Zeugisspflicht.

sie, indem sie das Zeugniss fordern,

i h r e n Gerichtszwang

aus,

dem

sich j e d e r demselben überhaupt unterworfene fügen m u s s 1 4 . b. I n denjenigen Fällen, i n welchen die Zeugenvernehmung den Bestandteil

einer

von

dem

selbst geführten Untersuchung

zur

Vernehmung

schreitenden

oder Verhandlung b i l d e t ,

Richter

beruht

die

Berechtigung zur E r z w i n g u n g cles Zeugnisses auf der Berechtigung zur Führung

der U n t e r s u c h u n g ,

beziehungsweise

auf

cler Pflicht

hiezu.

W e l c h e Voraussetzungen für die E i n l e i t u n g der Untersuchung, für das Einschreiten des Strafrichters zu gelten haben, ist hier nicht zu untersuchen ; es genügt, zu sagen, class dasselbe nöthig werden kann, nicht blos u m auf die Spur desjenigen zu führen, gegen welchen die Strafverfolgung sich wenden soll, sondern auch u m aufzuklären, ob einem 14 D o c h o w , Zeugnisszwang S 6 ff. (mit Anführung der durch den Fall Ivantecky im Jahre 1877 veranlassten Verhandlungen im Deutschen Reichstage) und S 38 ff. D o c h o w stellt in seiner die Orientirung wesentlich fördernden Arbeit zunächst den Grundsatz auf, dass „überall da, wo der Staat Zeugniss gebraucht, auch Verpflichtung vorhanden ist, Zeugniss abzulegen". Das scheint mir insofern zu weit zu gehen, als es sich nicht um die lex ferenda, sondern um die lex lata handelt. Die Strafsachen überragen an Wichtigkeit für den Staat und die Beschuldigten im allgemeinen die Disciplinarsachen und noch mehr die in strafrechtlichen Nebengesetzen über administrative und finanzielle Gesetzwidrigkeiten angeordneten Procedures Das Disciplinargericht hat überdies die Stellung einer Standesbehörde, und es ist nicht von selbst einleuchtend, dass es Amtsgewalt auch über Personen haben soll, die dem Stande nicht angehören. Das alles ändert aber nichts daran, dass die gesetzgebende Gewalt guten Grund haben kann, sowohl im Interesse des Staates als des Verfolgten, das Disciplinarverfahren nach der Analogie des strafgerichtlichen Verfahrens zu gestalten und demselben die gleichen Wahrheitserforschungsmittel zur Verfügung zu stellen wie dem eigentlichen Strafverfahren. Selbst dann aber folgt aus der Einräumung des Rechtes, Zeugen zu vernehmen, nicht ohne weiteres das Recht, Zeugnisszwang zu üben oder die ordentlichen Gerichte deshalb in Anspruch zu nehmen. Es bedarf dazu einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung, oder es muss doch wenigstens guter Grund für die Annahme vorhanden sein, dass es die Gesetzgebung nicht anders gemeint haben konnte. — Was die Frage betrifft, welches von verschiedenen örtlich collidirenden Rechten entscheidend sei, so meint D o c h o w S 43 in Bezug auf Disciplinarsachen von Reichsbeamten, „es müssen die gesetzlichen Bestimmungen des einzelnen Bundesstaates angewendet werden, in welchem der Reichsbeamte sein Domicil hat'*. Es sind also die Zeugen nach preussischem Rechte zu behandeln, wenn in Preussen eine Untersuchung eingeleitet ist. Nach den im Text vertretenen Grundsätzen kommt es aber bei Requisitionen auf die Zwangsgewalt des requirirten Richters an; meines Erachtens also ist entscheidend, ob diese r im Reichs- oder Landesrecht die Ermächtigung findet, seine richterliche Gewalt für solche Zwecke in Anwendung zu bringen. — Mit der im Text ausgesprochenen Ansicht scheint vollkommen übereinzustimmen L ö w e Bein 6 zu §§ 51—54; in der 3. Auflage ein Zusatz, wo aus dem Recht zur eidlichen Vernehmung von Zeugen auch die Einräumung des Zeugenzwanges gefolgert wird.

§ 47.

bestimmten nicht

Vorfall

Ebenso

wenig

eine ist

Die Zeugisspflicht.

strafbare hier

Handlung

zu

zu untersuchen,

Grunde

wie weit

liegt der

oder Richter

die Berechtigung eines seine T h ä t i g k e i t i n solcher Richtung i n spruch nehmenden Antrages selben gebunden sei.

An-

z u prüfen habe oder unbedingt an den-

So v i e l aber ist gewiss,

dass die

sachlichen

Voraussetzungen der Zeugenvernehmung u n d der Geltendmachung der Zeugnisspflicht keine anderen sind, als die der gesammten Untersuchung und des Bedürfnisses gerade selben.

dieser V e r n e h m u n g für clen Zweck der-

Voraussetzung der Zeugnisspflicht ist also, dass bona fiele eine

strafgerichtliche Untersuchung stattfindet u n d dass bona fide clie V e r nehmung dieses Zeugen für nothwendig erachtet w i r d , aber weder die Richtung cler Untersuchung

gegen eine bestimmte Person, noch auch

nur die Wahrscheinlichkeit,

dass eine bestimmte strafbare

begangen w u r d e 1 5 . 15

Diese Voraussetzungen

werden

im

Handlung Falle

einer

Die erste dieser Forderungen (s. über dieselben jetzt namentlich D o c h o w S 88—41) wird jetzt bereits ziemlich allgemein fallen gelassen, nicht aber die letztere ; s. noch die Motive zum Entw der StPO S 35 ; ferner L ö w e Bern 3 a zu §§ 51—54. U l i m a n n § 80 S 393, M a y e r , Handbuch I I Bern 50 und 51 zu § 150 ö. StPO. — Geyer § 132 I I und in HH I 269 erwähnt auch die zweite Forderung nicht mehr. P u c h e l t Bern 5 zu § 51 thut es mit erheblicher Einschränkung: „schon der Verdacht genügt"; was die Motive sagen, „hat nur die Bedeutung einer Instruction (?) für die Behörden; die Zeugnisspflicht wird dadurch nicht berührt". S c h w a r z e vor § 48 S 170 sagt nur: „Immerhin wird . . . die Vermuthung einer begangenen, wenngleich, nach Befinden, erst künftig näher zu bezeichnenden strafbaren That bereits vorhanden sein müssen". Er fährt dann fort (und diese Aeusserung reproducirt M a y e r a. a. 0. Bern 52): „Die Befragung darf auf allgemeine, durch die Beziehung auf bestimmte Hergänge oder Personen nicht gerechtfertigte Fragen betreffs der Kenntniss der Zeugen von etwaigen blos für möglich erachteten \rergehungen gewisser Art, Zeit und Gegend nicht erstreckt werden (Obertribunal Berlin)". Gemeint ist hier eine bei Oppen h o f f zu § 20 unter Nr 2 angeführte Entscheidung des Berliner OTr v. 15. März 1855 in einer rheinischen Sache ; der mit der wörtlich angeführten gleichlauteiiden Stelle geht die Bemerkung voraus, die Zeugenpflicht setze „den Verdacht eines bestimmten Verbrechens . . . oder doch das Vorhandensein von Umständen voraus, welche die Vermuthung eines begangenen, künftig näher zu bezeichnenden Verbrechens ergeben". Die species facti, auf Grund welcher, wie es scheint, das Vorhandensein der Zeugnisspflicht angenommen wurde, ist nicht zu ersehen. In einer späteren Entscheidung des OTr v. 24. Mai 1866, GA 1866 S 487, wird die Bezugnahme auf jenes Präjudicat mit der Bemerkung abgewiesen, es treffe die dortige Voraussetzung nicht zu, „dass gar k e i n e b e s t i m m t e s t r a f b a r e H a n d l u n g behauptet worden war, der Zeuge vielmehr ganz allgemein darüber vernommen werden sollte, ob irgend wo unci in irgend welcher Beziehung contravenirt worden". Zugleich ward auf eine andere ebenfalls in einer rheinischen Sache ergangene Entscheidung verwiesen (Erk. d. OTr v. 2. Nov. 1854, GA 1855 S 121 ff), welche die Zeugnisspflicht in einem Falle anerkannte, wo wegen Verdachts eines Bruches

494

§ 47.

Die Zeugisspflicht.

Voruntersuchung regelmässig vorhanden sein, nichtsdestoweniger aber kann der Zeuge dadurch in die peinliche Lage kommen, das thun zu müssen, was man fälschlich „denunciren" nennt, nämlich den Verdacht auf eine bisher von demselben nicht ereilte Person zu lenken oder strafbare Handlungen zu enthüllen, die noch nicht bekannt w a r e n 1 6 . Es kann aber auch eine solche Untersuchung missbräuchlich zum Anlass genommen werden, Nachforschungen anzustellen, welche mit der Sache nichts zu thun haben, für welche diese nur den Vorwand bildet. Dazu soll und darf der Richter sich nicht hergeben. Auf die bona fides des Richters, deren Vorhandensein sich allerdings aus den Umständen des Falles der Beschwerdeinstanz ergeben muss, kommt es also an, nicht aber auf willkürliche Voraussetzungen, deren Aufstellung cler vom Gesetz vorgezeichneten gerichtlichen Nachforschung unüberschreitbare Schranken ziehen würde. c. Danach ist· denn auch die Stellung des ersuchten Richters und des im Vorbereitungsverfahren einschreitenden Amtsrichters zu beurtheilen. Schreitet der Amtsrichter wegen Gefahr im Verzuge unaufgefordert ein (§ 163), oder ist er von der Staatsanwaltschaft aufgefordert, einen von ihr im Sinne des § 158 zu erforschenden Sachverhalt zu erheben, so befindet er sich in dem gleichen Falle, wie er unter b vorausgesetzt ist. Wenn dagegen cler Amtsrichter nur „um clie Vornahme einer (bestimmten) richterlichen Untersuchungshandlung" von der Staatsanwaltschaft angegangen wird (§ 160), dann befindet er sich in der gleichen Lage, wie cler ersuchte Richter: Person und Gegenstand ihrer Vernehmung sind ihm bezeichnet; ob letztere nothwendig und gerechtfertigt ist, clas kann er nicht beurtheilen, und er des Amtsgeheimnisses „Recherchen über die Person des Einsenders, und deshalb die Vernehmung des gedachten Rédacteurs durch den Untersuchungsrichter als Zeugen über die Person des Einsenders, und nachdem er die Kenntniss derselben eidlich verneint hatte, über die Namen der Corresponclenten und Mitarbeiter seines Blattes überhaupt" verlangt worden waren. 16 Dies ist das an sich ja sehr achtbare Motiv, welches in vielen Fällen den Wunsch erregt, das Zeugniss zu verweigern, und welches H e i n z e , Strafprozessuale Erörterungen S 115, zu der Bemerkung veranlasst: „Die Zeugnisspflicht ist nicht die relative Verpflichtung, für oder gegen eine bestimmte Person als Zeuge aufzutreten, sondern die absolute Verpflichtung, in einem Rechtshandel hinsichtlich aller dem Gericht erheblich erscheinenden Thatunistäncle mit der eigenen Wissenschaft hervorzutreten. Man fasst das Wesen des Zeugnisses irrig auf, wenn man den Zeugen in eine gewisse Parteibeziehung zu dem Beschuldigten bringt". Die Grenze zwischen Zeugniss und Denunciation (mit welcher sich auch M a y e r a. a. Ο Bern 27 und 31 beschäftigt) liegt nicht hier, sondern in dem freiwilligen und unnöthigen Hinlenken der Strafbehörden auf eine Person oder eine That, mit welcher sie sich bisher noch nicht beschäftigt hatten.

§ 47.

Die Zeugisspflicht.

muss die Verantwortung dem ersuchenden Richter oder dem Staatsanwalt überlassen; er wird aber eben darum, wenn er auf Widerstand stösst, nicht weiter gehen, als zur Erfüllung des ihm erkennbaren Zweckes der Vernehmung nöthig ist, und schon dadurch dagegen geschützt sein, unwissentlich das Werkzeug einer missbräuchlichen Ausforschung im oben bezeichneten Sinne zu werden; wäre ihm letzteres klar, so wäre allerdings „die beantragte Handlung gesetzlich unzulässig" (§ 160 Abs. 2 ) 1 1 . 4. Wird mitunter gesagt, dass die Ladung, selbst die ordnungsmässige Ladung, Voraussetzung der Zeugnisspflicht s e i 1 8 , so geht dies zu weit. Die Ladung ist nur Voraussetzung der Bestrafung wegen Ausbleibens, und sie soll ordnungsmässig sein, um keinen Zweifel an der Zulässigkeit dieser Bestrafung zu lassen. Ist der Zeuge aber erschienen oder wird auch nur ein zufällig anwesender zum Zeugniss aufgefordert, so kann der Mangel einer Ladung keinen Grund abgeben, die Aussage zu verweigern. 5. I n gleicher Weise können die verschiedenen aus der Zeugnisspflicht abzuleitenden Folgerungen durch besondere Umstände, welche geeignet sind, die Nichterfüllung der Pflicht oder die nur theilweise Erfüllung derselben zu e n t s c h u l d i g e n , modificirt werden. I n der Regel stellen sich solche Umstände entweder dem Erscheinen am Sitz des Prozessgerichts oder überhaupt dem Erscheinen vor Gericht, also der materiellen Befolgung der Ladung entgegen, seltener der Vernehmung selbst. Von dem Hinderniss, das in der E n t f e r n u n g liegt, war schon oben die Rede; andere Hindernisse können durch Gesundheitsverhältnisse, Unentbehrlichkeit an einem anderen Orte u. s. w. bereitet werden. Ihre Wirksamkeit kann das Gericht oder der die Vernehmung beantragende von selbst berücksichtigen (§ 65 Abs. 2. 17

Danach beantwortet sich auch die Frage nach dem Einflüsse eines der Verhängung der Strafe im einzelnen Falle entgegenstehenden Strafausschliessungsgrundes. An und für sich kann das Auftauchen eines solchen nicht jede weitere Untersuchung überflüssig machen ; steht er aber unter Umständen fest, wo er ausser Zweifel setzt, dass die Strafverfolgung nicht stattzufinden hat, so wird allerdings auch das Zeugniss entbehrlich und sollte nicht, namentlich nicht von einem Widerstrebenden, gefordert werden; auch hier also: das Zeugniss muss bona fide für eine schwebende Untersuchung verwendbar erscheinen, es darf aber nicht, obgleich für dieselbe entbehrlich, unter dem Vorwande dieser Untersuchung abgepresst werden. Allerdings kann dem Zeugen die Beurtheilung dieser Verhältnisse nicht überlassen werden; aber er kann eine Ueberprüfung auf dem Beschwerdewege herbeiführen. 18 Z. B. Geyer in HH I 268; M a y e r a. a. 0. Bern 36 if. zu § 150. Richtig L ö w e Bern 1 zu § 50.

496

§ 47.

Die Zeugiiisspflicht.

§ 191 Abs. 2, § 222); sie können aber auch vom Zeugen in der Forni der „Entschuldigung" geltend gemacht werden. Das Gesetz (§ 50 Abs. 2) unterscheidet zwar zwischen der vorausgehenden und der nachträglichen Entschuldigung, meint aber mit letzterer nur die der Verhängung der nachtheiligen Folgen des Ausbleibens nachfolgende. Es steht indess sicher dem Zeugen auch frei, es nicht darauf ankommen zu lassen, ob das Gericht seine Entschuldigung werde für „genügend" erachten, und deshalb eine vorausgehende Entscheidung zu erbitten, so dass ihm bei Zurückweisung der Entschuldigung noch die Möglichkeit bleibt, der Ladung zu folgen 1 9 . Es liegt übrigens in der Natur der Sache, dass der Maassstab, der bei einer n a c h t r ä g l i c h e n Entschuldigung angelegt wird, ein strengerer sein muss; Ausbleiben, welches die gerichtliche Verhandlung vereitelt, kann nicht durch Schwierigkeiten, nur durch Unmöglichkeit genügend entschuldigt werden 2 0 . IV. Eine Erleichterung der mit der Zeugenpflicht verbundenen, oft recht schweren Last ist das Recht des Zeugen 2 1 auf „Entschädigung aus der Staatskasse für Zeitversäumniss, und wenn sein Erscheinen eine Reise erforderlich macht, auf Erstattung der Kosten, welche durch die Reise und durch den Aufenthalt am Orte der Vernehmung verursacht werden" (§ 70), und welche ihm sogar bei der Ladung baar dargeboten oder doch gesichert werden müssen, wenn die Ladung unmittelbar vom Angeklagten bewirkt wird (§ 219); und 19

P u c h e l t Bern 4 u. 9. L ö w e Bern 16—18 zu § 50. L ö w e Bern 3 zu § 50 bemerkt mit Recht, dass „sehr grosse Entfernung den Zeugen nicht von der Pflicht zum Erscheinen befreie", d. h. ihm nicht das Recht gebe, e i g e n m ä c h t i g wegzubleiben; P u c h e l t , gegen den die Bemerkung sich kehrt, scheint aber auch nur das Recht des Zeugen gemeint zu haben, um Entbindung von dieser Pflicht zu bitten und vom Gericht zu verlangen, dass es von dem im § 222 eingeräumten Mittel Gebrauch mache; s. übrigens oben Anm 13. 21 Siehe die Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige vom 30. Juni 1878, Reichsgesetzblatt S 173. — Artikel „Zeugengebühren" von Me ν es in HRLex IV 1417—1419. Für Oesterreich s. § 383 StrO. Dass, wie Schwarze bei § 70 meint, die Zeugengebühr demjenigen nicht zukomme, der der Ladung nachkam und dann r e c h t m ä s s i g das Zeugniss verweigerte, halte ich nicht für richtig; L ö w e bemerkt mit Recht, dass der Zeuge in diesem Falle seine Pflicht durch sein Erscheinen erfüllt hat. Selbst für des letzteren Meinung (Bern 4 zu § 70), dass die u n b e r e c h t i g t e Verweigerung des Zeugnisses oder cler Beeidigung den Anspruch beseitigt, finde ich keinen Anhaltspunkt; nicht für die Erfüllung der Zeugenpflicht, sondern für die mit seinem Erscheinen verbundenen Auslagen und Verluste wird der Zeuge entschädigt, und diese treffen auch den erschienenen, aber sich mit Unrecht weigernden Zeugen. Dieser hat allerdings die Pflicht zum Ersatz der „durch die Weigerung verursachten Kosten", was eine Compensation herbeiführen kann. 20

§ 47.

Die Zeugisspflicht.

selbst wo (lies nicht der Fall ist, ist dem Zeugen bei weiterer Entfernung seines Aufenthaltsortes auf Antrag ein Vorschuss zu bewilligen (§ 166 GVG). V. Es giebt Ausnahmen von der Zeugenpflicht. Diese gelten entweder für a l l e oder für b e s t i m m t e Strafsachen, sie begründen entweder eine v o l l s t ä n d i g e oder eine t h e i l w e i s e Befreiung, und in letzterem Falle bezieht sich die Befreiung entweder · nur auf die F o r m der Aussage oder nur auf die Beantwortung gewisser Fragen. Unter den die Form betreifenden Befreiungen ist namentlich die Befreiung vom Zeugeneicle zu erwähnen, welche, soweit sie nicht ein für allemal ertheilt ist, später besprochen wird. Ebenso bedürfen die Befreiungen von der Pflicht zur Aussage in bestimmten Fällen einer eingehenden abgesonderten Behandlung. Für a l l e Strafsachen vollständig befreit sind auf Grund des § 4 des Einf.Ges zur StPO die Landesherren der deutschen Staaten, insoweit als dies durch die Vorschrift der Hausverfassungen vorgesehen i s t 2 2 . Wo solche ausdrücklichen Satzungen nicht bestehen, wird in dieser Hinsicht unbedenklich das Vorhandensein eines ungeschriebenen Rechts angenommen werden können 2 3 , welches darauf beruht, dass das Staatsoberhaupt die Quelle cler Gerichtsgewalt ist und dass gegen dasselbe daher, wie überhaupt keinerlei Gerichts-, so auch kein Zeugnisszwang geübt werden kann. Dass es einer Zeugnisspflicht nicht unterliegt, ergiebt sich aber auch schon aus denjenigen sogleich zu erwähnenden Gesetzen und Bestimmungen, welche den Mitgliedern cler regierenden Familien gewisse Privilegien ertheilen, ohne dabei des Staatsoberhauptes Erwähnung zu t h u n 2 4 . Dies gilt sicher im e i g e n e n Lande; in Eisass-Lothringen „sind die Bundesfürsten, da sie Träger cler Staatsgewalt sind, nach deutschem Staatsrecht befreit" 2 5 . I n clen anderen deutschen Ländern scheint § 71 sie aber den übrigen Mitgliedern der landesherrlichen Familie gleichzustellen. So fasst es auch G e y e r 2 6 auf; D o c h o w 2 7 dagegen meint, 22 Ausdrückliche Bestimmungen in diesem Sinne bestehen im Königreich Sachsen, Art. 228 der StPO, und im Königreich W ü r t t e m b e r g (angeführt bei Geyer § 140 V); sie umfassen in beiden Ländern auch die Königin. 23 D o c h o w S 33. Auch nach englischem Recht steht dies fest. Best §§ 125. 259. 24 So z. B. Art. 24 des preuss. Ges v. 3. Mai 1852. Vgl. auch § 155 der österr. StPO. 25 26 D o c h o w S 34 Anm 1. Lehrbuch S 140 Y. 27 A. a. 0. S 33. 34. Der gleichen Ansicht H e i n z e , Strafprozessuale Erörterungen S 118. 119.

Binding, Handbuch. IX. 4. I :

G l a s e r , Strafprozess.

I.

32

498

§ 47.

Die Zeugisspflicht.

es komme ihnen dasselbe Recht auch ausserhalb des eigenen Bundesstaates nach völkerrechtlichem Gebrauche zu: § 71 regele nur die Art der Vernehmung, statuire aber keine Zeugnisspflicht ; und in der That lässt sich nicht wohl annehmen, dass den deutschen Bundesfürsten in Deutschland ein Ehrenrecht versagt werden sollte, das ihnen ausserhalb Deutschlands nicht bestritten werden wird, da ihnen dort Exterritorialität· zukommt. Dieses letztere Vorrecht schliesst naturgemäss die B e f r e i u n g v o m Z e u g n i s s z w a n g e in sich, welche also den G e s a n d t e n und ihrem Personale zu statten kommt. In neuerer Zeit nähert sich übrigens die Stellung der C o n s u l n mehr und mehr der der Gesandten und werden daher häufig für solche Consuln, welche Unterthanen des sie ernennenden Staates sind, gewisse4 Ehrenrechte bedungen. Dies gilt insbesondere vermöge des zwischen Oesterreich und Deutschland abgeschlossenen Vertrages v. 23. Mai 1881, RGBl S 1 2 3 2 8 . Für alle Strafsachen gleichmässig gilt ferner das in dem oben angefühlten § 71 deutsche StPO begründete Vorrecht der (nicht überhaupt befreiten) Landesherrn, der Mitglieder der landesherrlichen Familien, sowie der Mitglieder der fürstlichen Familie Hohenzollern, in ihrer Wohnung (in Abwesenheit der Parteien) vernommen zu werden, clen Eid nur mittels Unterschreibens cler die Eidesnonn enthaltenden Eidesformel zu leisten und zur Hauptverhandlung gar nicht geladen zu werden 2 9 . Hieran schliesst sich das im § 49 begründete Vorrecht cles Reichskanzlers und einer Anzahl höchster Reichs- und Landesbeamteter 30 . an ihrem Amtssitze oder Aufenthaltsorte vernommen zu werden, und ein ähnliches Vorrecht der Mitglieder des Bundesraths und der deutschen gesetzgebenden Versammlungen, während cler Sitzungsperioden an ihrem hiedurch bestimmten Aufenthaltsorte vernommen zu werden. Damit wird in vielen Fällen die Vernehmung in cler Hauptverhandlung unmöglich gemacht, welche in den im § 49 d. StPO er28

Nach Art. 21 gemessen die beiderseitigen Consuln unter der Bedingung der Gegenseitigkeit alle Vorrechte, die denjenigen eines anderen Staates eingeräumt sind. Vgl. die bezügliche Zusammenstellung österreichischer Verträge bei M i t t e r b ach er Bern 10 zu § 151 österr. StPO. 29 In O e s t e r r e i c h werden die Mitglieder des kaiserlichen Hauses als Zeugen durch den Obersthofmarschall und ausser Wien durch den Präsidenten des Gerichtshofes erster Instanz in ihrer Wohnung vernommen und es gilt eine an Eidesstatt abgegebene schriftliche Versicherung derselben für die wirkliche Ablegung des Eides (§ 155 StPO und § 31 des Familienstatutes vom 3. Febr. 1839). 30 V o i t u s in GA 1881 S 1 ft', bezieht den Ausdruck „Vorstände der Ministerien" auch auf die Vorstände von Abtheilungen i n den Ministerion; im Wortlaut liegt das nicht. Dagegen auch J o h n , StPO S 534.

48.

Befreiung von

er Zeugenaussage.

wähnten Füllen durch eomniissarische Vernehmung ersetzt werden muss, der kein Hinderniss entgegensteht. — Ausnahmen von dieser im öffentlichen Interesse aufgestellten Regel hängen nicht von dem Privilegirten selbst, sondern von höherer Genehmigung ab (Abs. 3 des § 49). Hier ist auch die Vorschrift des § 48 Abs. 2 deutsche StPO zu erwähnen, wonach die Ladung „einer dem activen Heere oder der activen Marine angehörigen Person des Soldatenstandes" „durch Ersuchen der Militärbehörde" erfolgt, welche die Erfüllung der Zeugenpflicht mit den Anforderungen des Dienstes in Einklang zu bringen h a t 3 1 . § 48.

B e f r e i u n g von der Zeugenaussage.

I. Von der Pflicht zur Aussage in bestimmten Straffällen g ä n z l i c h befreit sind die nächsten Angehörigen des Beschuldigten. Es beruht dies auf natürlicher Rücksicht für das Gefühl des Zeugen. Die Gesetzgebung selbst zollt damit dem Familiensinn, der es dem Zeugen schwer macht, selbst eine Thätigkeit zu entwickeln, welche dazu beitragen kann, einem nahen Angehörigen ein hartes Schicksal zu bereiten, seine Huldigung, obgleich vielleicht um den Preis der Schädigung wichtiger öffentlicher Interessen. Dieser Gesichtspunkt ist keineswegs immer und überall der maassgebende gewesen, und es ist daher nicht unwichtig, auf die grosse Verschiedenheit in der Behandlung des Gegenstandes im älteren und selbst im neuesten Recht Rücksicht zu nehmen. Das r ö m i s c h e Recht hatte mit grosser Entschiedenheit, das Naturgesetz gewissermaassen zum Staatsgesetz erhebend, ausgesprochen: Parentes et liberi inviceni ad ν er su s se nec ν o l e η t e s 1 ad testimonium admittendi sunt (1 6 Cod. de testib. 4. 20), an anderer Stelle aber auch die gegenseitige Unterstützung durch Zeugniss für unmöglich erklärt : Testis idoneus pater filio aut filius patri non est (19 1) de test. 22. 5). Bezüglich anderer naher Angehöriger ist zwar nur ausgesprochen, dass sie n i c h t g e g e n i h r e n W i l l e n zum Zeugniss heranzuziehen seien (ne invito denuncietur, ut testimonium clicat ; 1 4. 5 I) de testib.), wobei freilich auffallende Lücken sich zeigen, entferntere Ascendenten und Descendenten und die Ehegatten und einige Verwandte, die näher stehen, als die genannten, nur durch Auslegung 31

Ausführliche Besprechung der im Text erwähnten Ausnahmen hei J o h n . StPO S 522—534. Bezüglich der Gendarmen siehe F u c h s in GA 1880 S 168 ff. Vgl. österr. StPO §§ 161 und 223. 1 Sehr gut hierüber C a r r a r a , Programma II § 958 Anni 1 ρ 527 ss. 32*

500

§ 48.

Befreiung von

er Zeugenaussage.

herangezogen werden können 2 . — Dagegen ist bezüglich der nicht in gerader Linie verwandten auch keine Ausschliessung, nur ein Verdacht ausgesprochen, quia rei verae testimonium necessitudo personarum plerumque corrumpit (Paulus sent. ree. 1 5 tit. 15 § 3). Im allgemeinen ist das Verhältniss für das römische wie für das kanonische Recht so aufgefasst worden, dass Ascendenten und Descendenten gegeneinander nicht zeugen können, im übrigen Verwandte verdächtige Zeugen sind 3 . — Die spätere Praxis war auf dieser wregen der Beschaffenheit cler Quellen schwankenden Grundlage noch schwankender geworden; die Unmöglichkeit, bei allen Fällen unbedingt auf die Aussagen der nächststehenden und bestunterrichteten Personen zu verzichten, die Ungerechtigkeit, die darin liegt, dein Beschuldigten zu verwehren, sich auf deren Zeugniss zu berufen, die gegenseitige Schutzlosigkeit cler Mitglieder cler Familie bei Verbrechen im Innern des Hauses — alles dies half der bekannten Ausnahnieformel : si Veritas aliter haberi nequit, der Vernehmung nur zum Zweck der Auskunft u. s. w. hier mehr als anderswTo nach 4 . Bemerkenswerth ist clie Bestimmung des berühmten Leopoldinischen Gesetzes für Toscana, welche verbot, die nächsten Verwandten gegeneinander als Zeugen zu verhören, und nur für die schwersten, mit Vorbedacht verübten Verbrechen gegen ein 2

S i e g e n , Juristische Abhandlungen (1834) Abh. I I S 17. Geib S 336 Anm 280, S 629 Anm 363. Z u m p t , Criniinalrecht der römischen Republik I I Abth. 1 S 148. S i e g e n S lo ff. M i t t e r m a i er, Beweis § 42 S 352 (ital. Ausg. 409 ff). Z a c h a r i ä , Grundlin. S 108. 224. 225. Gross S 14. 15. Das Verbot der Vernehmung der Ascendenten und Descendenten gegeneinander zuerst beseitigt zu haben, wird der spanischen Inquisition vorgeworfen; jedenfalls hat sie bald Nachahmer gefunden. 4 K l eins ehr od, AA V I Heft 3 S 44—46, hält an der Ausschliessung der Verwandten vom Belastungs- wie Entlastungsbeweise fest. M a r t i n ging Lehrbuch § 84 Anm 8 so weit, auszusprechen, es „kommen den Zeugen die im bürgerlichen Prozesse noch anwendbaren Entschuldigungsgründe gegen die Vernehmung weniger in Crìminalf allen zu statten". Dagegen führt Siegen (s. Anm 2) das Wort von H omni e 1 an: Filius aut uxor, potissimum in causa criminali, nisi contra patrem vel maritum renuant testimonium, eo ipso se sceleratos ac nullius plane fidei esse significant. Die Römer, meint er — auf 1 20 C de his qui accusare non poss. (9, 1) hinweisend — hätten ja doch schon gegenüber dem Sklaven, der seinen Herrn eines Verbrechens beschuldigt, gesagt: Vocem funestam amputari opportet potius, quam audiri. (Freilich nicht, wie Siegen meint, wegen der darin liegenden Lieblosigkeit.) Noch in neuester Zeit sagt N i s s e n , Bemerkungen S 24, hinter das, was einmal die Römer sittlich genug empfanden, um jenes nec volentes auszusprechen, sollte billig kein gebildetes Volk zurücksinken ; sonst „würden wir der vielgepriesenen Heilighaltung der Familie geradezu ins Gesicht schlagen". Allein wer weiss voraus, ob ein Zeugniss für oder gegen den Angeklagten ausfällen werde ? Und ist es möglich, die Verwandten auch vom Entlastungsbeweis auszuschliessen V 8

§ 48.

Befreiung von

er Zeugenaussage.

Mitglied der Familie, sofern anderweitige Beweise nicht zu erlangen seien, gestattete, beim Landesfürsten die Erlaubniss zur Vernehmung anzusuchen5. Nichtsdestoweniger ging man auch in Toscana im Jahre 1838 von dieser Einschränkung wieder ab und ertheilte den Rathskammern die einst dem Fürsten vorbehaltene Ausnahmegewalt. Auf derselben Linie bewegt sich auch das bestehende italienische Recht (Art. 286, 287), wo clas entschiedene Verbot, die nächsten Angehörigen des Beschuldigten „zu rufen oder zu vernehmen" ausgesprochen, aber Avie gewöhnlich sogleich durchbrochen ist durch die Zulassung der Yevnehmung als Auskunftsperson kraft der discretionären Gewalt, auf der anderen Seite eine Ausnahme gestattet ist bei „Verbrechen", welche an Mitgliedern der Familie begangen wurden und auf andere Art nicht erwiesen werden können 6 . — Das ältere französische Recht 7 hatte ziemlich früh die Beschränkungen des römischen Rechtes abgestreift, die Vernehmung ausnahmlos gestattet und die Würdigung der Glaubwürdigkeit dem Richter überlassen. Dagegen brachte die reformirte Gesetzgebung von 1791 und nach ihr das Gesetzbuch vom 4. Brumaire I V das Verbot der Vernehmung der allernächsten Angehörigen. Dem schloss sich der Code d'Instr. (Art. 322 Z. 1—5) an, mit der Formel: ne pourront être reçues les dépositions — und mit einem weiteren Beisatz, welcher die bei Verletzung des Verbotes eintretende Nichtigkeit auf clen Fall beschränkt, wo sich ein B e t e i ligter cler Vernehmung vergebens widersetzt hat. Die französische Praxis hat auch hier eine Auslegung angenommen, welche die Vernehmung dieser Personen zur Auskunft (à titre de simples renseignements) gestattet, ja sogar, wenn nach der Beeidigung die Verwandtschaft entdeckt wird, nur clen Eid „annulliren", die Vernehmung aber fortsetzen lässt, Während hierüber nahezu Einstimmigkeit herrscht. r » Artikel 28 des Leopold. Patentes vom 30. Nov. 1786. C a r r a r a bezeugt übrigens, dass diese Erlaubniss niemals, wie schwer auch die Fälle und wie nöthig auch die Aussagen waren, ertheilt wurde. Lineamenti di pratica legislativa (Torino 1874) ρ 192. C a r m i g n a n i , Teoria de sicurezza sociale vol. IV ρ 152, rühmt die in dieser Bestimmung enthaltene Berücksichtigung der in der Familie verübten Verbrechen. 6 M e i ρ 159—162. B o r s a n i e C a s o r a t i § 721, vol. I I ρ 384. C a r r a r a (Lineamenti ρ 19 sq.; Programma, parte gener. § 958, vol. I I ρ 526 sq.) tadelt nachdrücklich diese Bestimmung. Gegen das System des i t a l i e n i s c h e n Gesetzes C o c e a n i in der Rivista penale X V I ρ 38. 39 (wobei geltend gemacht wird, dass das Verbot der Vernehmung der Verwandten nur für die Hauptverhandlung bestehe). 7 H é l i e § 353 vol. V ρ 833 sq. Pratique I Nr 163 ρ 82 und Nr 737—739 ρ 381 sq. M o r i n v. „Témoins" η. 19—23. D u v e r g e r , Manuel Nr 266 I I ρ 327 sq. M a n g i n , Instr. écrite Nr 101 I ρ 171 sq. Bei beiden letzteren Schriftstellern eingehende Angaben über die Literatur der Controverse bezüglich der Voruntersuchung.

502

48.

Befreiung von

er Zeugenaussage.

ist dagegen die R ü c k w i r k u n g der Bestimmung auf die Voruntersuchung u n d gerade i n Folge dessen auch die legislative Bedeutung der ganzen A n o r d n u n g sehr bestritten.

Hélie,

welcher

sich den B e f ü r w o r t e r n

der V e r n e h m u n g der V e r w a n d t e n i n der Voruntersuchung

anschliesst,

ist genöthigt, den Versuch zu machen, E i d u n d Zeugnisszwang i n cler Voruntersuchung für die V e r w a n d t e n zu beseitigen, ohne eine H a n d habe dafür i m Gesetz zu b e s i t z e n 8 . Das e n g l i s c h e Recht hatte sich stets auf die gegenseitige Ausschliessung der Ehegatten

vom Zeugenbeweis ( m i t erheblichen

Aus-

nahmen) beschränkt, u n d die neueste Gesetzgebung hat hieraus

eine

Befreiung von der Zeugnisspflicht

i n Strafsachen

gemacht (16 et 17

V i c t . c. 83 sect. 2 ) 9 . Die

deutschen

Codificationen

l e n k t e n bereits i n die Richtung

11

zu Beginn

cles

Jahrhunderts 10

ein, welche heute eingehalten ist.

8 II est certain, sagt H é l i e , Pratique 1. c., que le droit de l'instruction subsiste à l'égard de ces témoins ; il doivent comparaître sur la citation et leurs déclarations doivent être reçues; seulement, s'ils réfusent de le faire à raison de leur lien de parenté, il parait douteux qu'ils puissent être condamnés à l'amende. Also ein Verbot der Zeugenvernehmung, das zwar nicht in ein Recht der Zeugnissverweigerung, aber in die Straflosigkeit der letzteren unigesetzt wird! 9 B e s t §§ 175 sq. — R o s c o e ρ 116. 117. G r e e n l e a f I §§ 337 sq. Für das schottische Recht vgl. M aedo η a i d ρ 519. 520. 10 Die preussische Criminalgericlitsordnung schliesst zwar noch die Verwandten als Beweiszeugen (unter Gestattung ihrer Vernehmung „zur näheren Aufklärung der Sache") aus (§ 357); allein das österreichische Gesetz von 1803 (§ 376) und das b a y e r i s c h e von 1813 (Art. 204) statuiren die Befreiung vom Zeugniss einerseits, während andererseits letzteres Art. 280 Nr 4 denjenigen, welcher zu Gunsten eines nahen Angehörigen aussagt, als verdächtigen Zeugen erklärt, was im österreichischen Gesetz nicht unbedingt ausgesprochen, sondern der Beurtheilung des Richters anheimgestellt ist; J e n u l i I I I 191 IV 31. 11 Der Uebergang war ein. allmählicher. P l a n c k , Systematische Darstellung S 232, spricht noch von dem Rechte, die Aussage zu verweigern, „wenn sie die Schande naher Angehöriger . . . aufdecken müsste". Z a c h a r i ä I I § 98 II, S 187. 190 hält für das römische Recht an der Unzulässigkeit der Vernehmung von Eltern und Kindern wider einander fest, constatirt aber die A b w e i c h u n g e n von dem V e r b o t e , welche sich die gemeinrechtliche Praxis gestattet, indem sie dieselbe in eine Befreiung umwandelt. Er selbst hielt es übrigens für nothwendig, Ausnahmen vom Verbot zuzulassen, zwar nicht in dem Falle, wo Beschuldigter und Beschädigter dem Zeugen gleich nahe stehen, aber doch dann, „wenn Eltern und Kinder als der beschuldigte und verletzte Theil einander gegenüberstehen, weil sonst die gerichtliche Verfolgung und die Bestrafung des Schuldigen von vornherein ausgeschlossen werden würde". Von den verschiedenen Strafprozessgesetzen behielten Pre us s en und B a y e r n ihre bisherigen Bestimmungen bei; B r a u η s eli we i g verwies S 58 auf das gemeine Recht; die Strafprozessordnung von N a s s a u (Art. 144) gab dem Zeugen, aber auch dem Angeklagten und dem Staatsanwalt das Recht, sich der Ver-

§ 48.

Befreiung von

er Zeugenaussage.

II. Der Standpunkt des neuesten Rechtes 12 ist: Die Angehörigen des Beschuldigten sind vom Zeugniss nicht a u s g e s c h l o s s e n 1 3 , sondern nur b e f r e i t . Sagen sie freiwillig aus, so ist es Sache der Beweiswürdigung, den Einfluss des Verwandtschaftsverhältnisses auf die Glaubwürdigkeit ihrer Aussage abzuwägen. λ τ οη den verschiedenen möglichen Rücksichten entscheidet also die für das persönliche Gefühl und Bediirfniss des Zeugen. Dieser hat mit sich auszutragen, ob er das Gefühl wirklich schonen will, welches das Gesetz im allgemeinen bei ihm voraussetzt, oder ob dieses Gefühl nicht vielmehr ihn zur Aussage drängt. In erster Linie setzt das Gesetz wohl voraus, dass der Zeuge in der Regel dann und nur dann aussagen werde, wenn er glaubt, dass seine Aussage dem Beschuldigten nützlich sein dürfte. Es geht davon aus, dass es eine ungerechte Härte wäre, dieses Zeugniss dem Angeklagten zu entziehen blos wegen der ihm natürlich anhaftenden Bedenklichkeit oder wegen der Ungewissheit darüber, ob das Zeugniss nicht thatsächlich zum Nachtheil des Angeklagten ausfallen werde. Allein nicht minder war, auch gemäss der geschichtlichen Entwickel u n g 1 4 , die Erwägung maassgebend, dass es Fälle giebt, wo man nehmung zu widersetzen, jedoch trat Nichtigkeit nicht ein, „wenn der Staatsanwalt und der Angeklagte sich der Vernehmung nicht widersetzt haben". Die Strafprozessordnung von F r a n k f u r t schloss die nächsten Angehörigen vom Zeugniss „für oder gegen den Beschuldigten oder Angeklagten" aus. Die übrigen Strafprozessordnungen, also namentlich die von Hannover § 88 (95); Thüringen Art. 176; Sachsen Art. 213; Oldenburg Art. 107 § 1 ; Lübeck § 87; Baden (1864) § 106: Grossherzogthum Hessen (1865) Art. 130; Preussen (1867) § 155; Württemberg (1868) § 142; Hamburg (1869) § 170; Bremen (1870) § 183 — statuiren ein Ablehnungsrecht des Zeugen. Ebenso die österreichischen Strafprozessordnungen von 1850 und 1853. Vgl. übrigens H e n k e IV 619; M i t t er mai er, Strafverfahren 1 437. 438; d e r s e l b e , Beweis S 310. 311 (ital. Ausgabe mit Zusätzen S 381. 382); d e r selbe im GS 1854 I I 321; Ros s h i r t in der Ζ für deutsches Strafverfahren NF I I I 109 ff.; v. S t e m a n n im GS 1852 S 82 if.; R e i c h m a n n das. 1855 I 302 if.; Ed. B r a u e r das. 1856 I 3—18; S c h w a r z e das. 1869 S 60 ff.; W e s che das. 1870 S 369 ff.; I I assi wan t e r in der Allgemeinen österr. Gerichtszeitung 1856 Nr 76 ff.; W u r t h S 259 ff; R u l f , Commentar zur österr. StPO v. 1853 I 206. 12 Deutsche StPO § 51. Oesterr. § 152 Z. 2. Geyer § 135 II. D e r s e l b e in HH I 277. D o c h o w , Reichsstrafprozess S 170. 171. U l i m a n n § 80 S 396. 13 RGE v. 17. Nov. 1880 und v. 30. Nov. 1880 Rspr I I 523. 588. K e l l e r Bern 9 zu § 51. 14 Siehe oben Anm 11. Vgl. namentlich die dort angeführten Aufsätze von M i t t e r m a i e r (GS 1854 I I 321) und von R e i c h m a η η und die daselbst besprochenen Entscheidungen. Wenn, hierauf Bezug nehmend, Schwarze Bern 1 zu § 51 Nr 3 sagt: Ein Widerspruchsrecht stehe clem „Angeschuldigten auch dann nicht zu, wenn cler Angehörige zugleich der Beschädigte ist (was bekanntlich

504

§ 48.

Befreiung von cler Zeugenaussage.

des strafgesetzliehen Schutzes gegen nahe Angehörige dringend bedarf und wo dieser versagt ist. wenn der Verletzte und cler durch clie Verhältnisse zur Parteinahme zwischen Gliedern der Familie genöthigte Theil der Familie vom Zeugniss a u s g e s c h l o s s e n wird. Allerdings darf man sich nicht verhehlen, dass die Sache auch ihre, zumal finden Angeklagten sehr bedenkliche Kehrseite hat. Das vom Gesetz vorausgesetzte Motiv, zu reden oder zu schweigen, muss nicht immer wirksam sein; kein Hass ist bitterer, als der aus cler Störung cler natürlichen Familienbeziehungen entspringende, und nirgends ist so viel Anlass zu Interessencollisionen als zwischen nahen Verwandten; es kann also vorkommen, nicht blos dass die Angehörigen des Angeklagten aus Hass oder Eigennutz gegen ihn aussagen, sondern auch dass sie ihm aus dem gleichen Grunde ihr Zeugniss versagen. Alle diese Möglichkeiten hat clie Gesetzgebung gegen einander abwägen müssen, ehe sie ihren Entschluss fasste; letzterer beruht aber dann auf cler Berücksichtigung des im allgemeinen zu vermuthenden, des regelmässig anzunehmenden. I n Folge dessen ist aus der Angehörigkeit nicht ein Prozessrecht der P a r t e i e η , sondern ein P r i v i l e g i u m des Z e u g e n abgeleitet worden. Hieraus ergiebt sich folgendes: 1. Das Recht des zum Zeugniss aufgerufenen geht dahin, sich durch sein Gewissen allein bei der Beantwortung cler Frage leiten zu lassen, ob er aussagen solle oder nicht. Ob das, was er zu sagen hat, dem Beschuldigten günstig oder ungünstig sein werde, mag für seinen Beschluss maassgebend sein, ist es aber nicht für die Existenz seines Rechtes 15 . Wohl aber muss bei cler Anwendung des Gesetzes gemeinrechtlich bestritten ist)" — so ist dies dahin zu modificiren, es sei streitig, ob da, wo die Angehörigkeit einen Ausschliessungsgrund bildet und somit ein Recht der Parteien auf Verwerfung des Zeugen begründet, für die Fälle, wo der Zeuge der Beschädigte ist, eine Ausnahme von dieser Regel zu machen sei, eine Ausnahme, welche schon gemeinrechtlich auf diejenigen Gesetzesbestimmungen gestützt wurde, welche, wie Ait. 165 der CGC die Untersuchung von der Anzeige der Betheiligten abhängig machten. 15 Die entgegengesetzte Ansicht scheint Da I c k e Bern 2 zu § 51 auszusprechen, wenn er sagt: „Die Verweigerung des Zeugnisses ist nur soweit berechtigt, als der Zeuge in die Lage kommt, den Angehörigen zu beschuldigen". (Siehe dagegen G e y e r § 135 I I S 518.) Allein aus dem Zusammenhange und noch mehr aus der Anführung von E b mei er S 105. 106 ergiebt sich, dass hier nur die Frage des Verhältnisses des Zeugen zu ihm fremden Mitangeklagten besprochen werden sollte. Die immerhin mögliche Deutung (vgl. namentlich V o i t u s , Controverseli I 188—191), dass der Zeuge gezwungen werden könnte, als Entlastungszeuge auszusagen, oder etwa auszusagen und sich auf die Verschweigung des dem Angeklagten schädlichen zu beschränken, ist mit der principiellen Haltung des Gesetzes nicht vereinbar. Dies erkennt auch M a y e r (Bern 40 zu § 152) an, obgleich ihn die auf dem Ge-

§ 48.

Befreiung von

er Zeugenaussage.

darauf Bedacht genommen werden, dass der Zweck desselben die Vermeidung der Zwangslage war, in welcher jemand zwischen der Schädigung eines nahen Angehörigen und der Verletzung der Pflichten eines Zeugen zu wählen hat. Andererseits hat der Angeklagte zwar kein Recht darauf, dass der Zeuge nicht aussage (so wenig als darauf, dass er aussage), wohl aber darauf, dass er nicht in ungesetzlicher Weise zur Aussage gezwungen werde; und insofern steht ihm nicht blos „ein Widerspruchsrecht" zu. sondern das Recht, die stattgefundene Gesetzesverletzung auch dann zu rügen, wenn er nicht widersprach 1 ". Das letztere gilt allerdings auch vom Vertreter der Anklage 1 7 . 2. Das Recht des Zeugen beruht auf seiner Beziehung zum Beschuldigten, also auf einer doppelten Prozessstellung : er hat das Recht a l s Z e u g e in einer Strafsache, in welcher sein Angehöriger a l s B e s c h u l d i g t e r erscheint. Daraus ergiebt sich: a. Das Recht bezieht sich auf die Verweigerung der Z e u g e n a u s s a g e : inwieferne die Angehörigkeit einen Grund abgiebt, andere Mitwirkungen zur Herbeischaffung von Ueberführungsmitteln zu verweigern, hängt von anderen Bestimmungen der Gesetze ab ; aus dem Recht zur Verweigerung der Zeugenaussage folgt dies nicht (s. oben § 45 Anm 5). b. Der zu vernehmende kann das Z e u g n i s s verweigern. Die Ablehnung der Vernehmung als Sachverständiger fällt unter andere Gesichtspunkte; nicht minder aber auch die der Vernehmung als B e s c h u l d i g t e r . Da niemand in einer Strafsache, in welcher er als Beschuldigter figurili, Zeuge sein kann, so unterliegt der, für welchen dieses Verhältniss besteht, einerseits nicht der Zeugnisspflicht, andrerseits findet auf ihn das das Recht der Zeugnissverweigerung einräumende Gesetz keine Anwendung. Was auch ein Beschuldigter als solcher ausgesagt hat, ob in einer Strafsache, die ihn allein betraf, ob in der Untersuchung wegen einer ihn und einen Angehörigen treffenden Anschuldigung, ob in einer Verhandlung, welche mehrere Strafsachen betraf, von denen nur eine eine gegen ihn erhobene Beschuldigung zum Gegenstande hatte, immer ist derselbe Gesichtspunkt entscheidend. Aber auch umgekehrt: Die Aussage, die ein zum Zeugniss aufgeforderter abgelegt hat, bleibt Zeugniss, auch wenn der Aussagende später als Mitbeschuldigter behandelt werden muss. Entscheidend ist die actuelle Prozessstellung zur Zeit, wo die \ r ernehmung biete des Ausschliessungsgrundsatzes erwachsene Literatur, namentlich die des französischen Rechtes, (doch wolil nur de lege ferenda?) schwankend macht. 16 Schwarze GS 1869 S 64; M a y e r I I Bern 7. 8. 40 zu § 152; L ö w e Bern 4 zu § 51. 17 J o h n , StPO S 555.

506

48.

Befreiung von cler Zeugenaussage.

stattfindet oder stattfinden soll, nicht diejenige, die vorher bestand, oder die sich später entwiekelt 1 8 . c. I)as Recht des Zeugen gilt in allen Strafsachen, wo sein Angehöriger B e s c h u l d i g t e r ist. Soll indess nicht der Hauptzweck des Gesetzes vereitelt werden, so muss man hinzufügen, es gelte auch überall da, wo ein Angehöriger des Zeugen als Beschuldigter behandelt 18 S c h w a r z e Beni 12 zu § 51 Nr 3; derselbe im GS 1869 S 77. 78. An letzterer Stelle unterscheidet S c h w a r z e , wenn ich ihn richtig auffasse, so, ob im Augenblick, wo von einer Aussage Gebrauch gemacht werden soll, derjenige, der sie ablegte, n o c h als Mitbeschuldigter bezüglich d i e s e r Anklage erscheint. Wo dies nicht der Fall ist, behandelt er die Aussage cles Beschuldigten als Zeugniss: er gestattet dem Mitangeklagten, der nicht bei allen Anklagepunkten betheiligt ist, seine Aussagen zu sondern, als Angeklagter zu antworten, als Zeuge das Zeugniss zu verweigern. Dies scheint mir prozessualisch undurchführbar, aber auch nicht nöthig, da der Angeklagte jede Antwort verweigern kann, ohne dafür ein Motiv abzugeben und bei dem durchleuchtenden Motiv seines Schweigens auch nicht einmal indirecte Nachtheile zu fürchten hat. Praktisch liegt also der Unterschied nur in cler Forderung der Belehrung, die S c h w a r z e consequenter Weise aufstellt. In welchem Stadium der Vernehmung des Angeklagten soll nun die Belehrung ertheilt werden? In solchem Fall ist es richtiger, die Verhandlung cler Strafsachen zu sondern, damit der in der einen Strafsache als Angeklagter erscheinende in der zweiten als Zeuge behandelt werden könne. (Eine bei R ο g r ο η unter Art. 322 des C. d'Instr. angeführte Entscheidung cles niederländisch-belgischen obersten Gerichtshofes ν. 8. Jänner 1824 erklärt solche Trennung cler Strafsachen für unzulässig.) Vgl. über diese Frage M a y e r Bein 48 zu § 152, wo aber die Ansicht S c h w a r z e s ungenau dargestellt ist, und Beni 52 das.; femer H a s s l w a n t e r Nr 78 S 314, der aber die der Sonclerung der Functionen entgegenstehenden Schwierigkeiten nicht überschaut und dadurch zu weiteren Unterscheidungen genöthigt wird. Die richtige Ansicht ist sehr scharfsinnig vertreten von K r a l l in der Allgem. österr. GZ 1875 Nr 103 u. 104; in gleichem Sinne entschied der W i e n e r Cassationshof am 9. Sept. 1875 (Sammlung der Allgem. österr. GZ Nr 79). — Ferner meint Schwarze, das, was jemand als Beschuldigter ausgesagt, dürfe später, wenn die Untersuchung gegen ihn eingestellt wird, gegen seinen beschuldigten Angehörigen nicht gebraucht werden. And. Mein. B r a u e r im GS 1856 I 16, M a y e r Bern 93. 96; ebenso mehrere bei R o g r o n a. a. 0. erwähnte Entscheidungen des belgisch-niederländischen obersten Gerichtshofs, namentlich eine v. 10. April 1828 : La cour . . . ne pouvait poser, en point de droit, qu'il n'est pas permis de lire l'interrogation d'un prévenu, qui ne figure plus au procès, par la raison que le prévenu est le père cle l'accusé. Meines Erachtens muss man hier zwei Fragen auseinanderhalten: 1. die Unzulässigkeit einer solchen Vorlesung wegen der Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit; wann diese eintritt, ist hier nicht weiter zu erörtern. 2. Frage des Ablehnungsrechtes; dieses ist durch die Aussage nicht verletzt worden, f o r m e l l nicht, weil die Belehrung bei der Vernehmung eines Beschuldigten nicht stattzufinden hat, materiell nicht, weil ein als Beschuldigter vernommener weder unter clem Drucke der Zeugnisspflicht, noch unter den Garantien der Zeugenaussage deponirt und seine Aussage daher nicht mit dem Anspruch, als Zeugniss zu gelten, gebraucht werden kann.

§ 48.

werden könnte.

B e f r e i g von

er Zeugenaussage.

Es giebt Stadien des Verfahrens, i n welchen ein

bestimmter Beschuldigter noch gar nicht ins Auge gefasst, erst ein zu beschuldigender

gesucht

wird;

es k a n n aber

Person beschuldigt oder angeklagt Beziehung steht.

sein,

auch eine

bestimmte

die zum Zeugen i n

keiner

I n beiden F ä l l e n k a n n n u n der Zeuge G r u n d haben,

zu besorgen, dass dasjenige, was er aussagen müsste, einem i h m nahe stehenden einen Strafprozess, u n d zwar w e g e n stand

der

cler

Untersuchung bildenden That,

den

zuziehen

Gegenkönnte.

Die Zwangslage, welche das Gesetz i h m ersparen wollte, besteht hier i m vollen Umfange,

u n d eben darum auch das H e c h t ,

welches

zur

Vermeidung derselben den Angehörigen des Beschuldigten gewährt i s t 1 9 . d. Sobald keine Gefahr mehr besteht,

dass der Angehörige

Zeugen als Beschuldigter behandelt werden könnte,

des

erlischt auch das

Recht der Zeugnissverweigerung : also namentlich wenn der Angehörige unter Umständen, unter welchen die Wiederaufnahme zu dessen Nacht h e i l ausgeschlossen i s t , freigesprochen Strafverfolgung

ausgeschlossen oder

wurde

oder wenn sonst

die Strafbarkeit

aufgehoben

die ist.

Insbesondere g i l t dies also auch von dem F a l l , AVO der Angehörige des Zeugen g e s t o r b e n

ist20.

19 In diesem Sinne Has s I w a n t e r , Allg. ö. GZ 1856 Nr 76; M a y e r Nr 8; a. M. K e l l e r Bern 2 zu § 51; L ö w e Bern 2 das. Dieser verweist auf § 54, der dem Zeugen den nöthigen Schutz gewähre, und B o m h a r d Bern 2 und P u c h e l t Bern 6 das. stimmen ihm zu; letzterer fügt aber bei: „Wird aber später der Beschuldigte ermittelt, und ist er eine der im § 51 benannten Personen, so darf die Aussage nur dann benutzt werden, wenn der Zeuge von clem Hecht der Zeugnissverweigerung keinen Gebrauch gemacht hat". P u c h e l t hat dabei die Rückwirkung der a u s d r ü c k l i c h e n Ablehnung des Zeugnisses vor Augen; damit wäre dann aber willkürlich zwischen diesem Fall und dem der unterbliebenen Belehrung ein Unterschied gemacht ; und eben darin zeigt sich, dass § 54 die von L ö w e in Aussicht gestellte Abhilfe nur unvollständig gewährt. Nach der im Text vertretenen Ansicht kommt es darauf an, ob später der Angehörige des Zeugen als Beschuldigter behandelt wird; ist dies der Fall, so ist die nicht mit bewusstem Verzicht auf das Ablehnungsrecht abgelegte Aussage gegen den Beschuldigten nicht verwendbar. Die Frage des N a c h w e i s e s der Berechtigung zur Zeugnissverweigerung, welche für K e l l e r ausschlaggebend ist, tritt bei dieser Auffassung in den Hintergrund, sie ist unten in anderem Zusammenhange zu besprechen. 20 Im entgegengesetzten Sinne erging clas RGE v. 12. Februar 1880 Rspr I 347. Die Gründe, die dafür geltend gemacht werden, beweisen theilweise das Gegentheil (dass nämlich bereits verurtheilte Mitschuldige nach § 56 Z. 3 im späteren Verfahren gegen andere als Zeugen, nicht als Beschuldigte vernommen werden), theilweise gar nichts (dass nämlich auch nach cler Verurtheilung das richterlich festgestellte Verhältniss der Mitschuld sich als einflussreich erweisen kann und das Gesetz dann noch von verurtheilten M i t s c h u l d i g e n — nicht Mitbeschuldigten — spricht: § 240 Abs. 1, §§ 402 u. 406, oder dass die Bestimmung

508

§ 48.

e. Das Recht

Befreiung von cler Zeugenaussage.

der Zeugnissverweigerung

sache, i n welcher ein Angehöriger

besteht i n j e d e r

des Zeugen als Beschuldigter

Straffigu-

r i r t ; es besteht also principiell für die ganze Verhandlung, auch wenn des § 51 Z. 2. 3 einen Einfluss der nicht mehr bestehenden Ehe anerkennt. Das angeführte Erkenntniss erging in einem Falle, wo clie Ehefrau eines bereits verurteilten Mitangeklagten in cler gegen einen Mitschuldigen cles letzteren geführten Hauptverhandlung über clas Recht, sich cles Zeugnisses zu entschlagen, belehrt ward und, nachdem sie darauf verzichtet hatte, unbeeidigt vernommen wurde. Den zur Anwendung gebrachten Grundsatz formulirt das Erkenntniss : „Offenbar will das Gesetz niemanden in die widernatürliche Zwangslage bringen, gegen sich selbst als Angeklagten" (§ 56 Z. 3 thut dies ja!) „oder entgegen seinen, durch bestehende wie bestandene Ehe, nahe Verwandtschaft oder Schwägerschaft begründeten Interessen und Gefühlen nachtheilige Aussagen abzulegen". Dagegen fällte in einem ähnlichen aber noch aus anderem Grunde hiehergehörigen Falle cler Münchener Cassationshof (am 27. Nov. 1854) eine Entscheidung im entgegengesetzten Sinne. In diesem Falle waren Wittwe und Kinder eines inzwischen verstorbenen Angeklagten in der Hauptverhandlung gegen einen Mitangeklagten vernommen, aber wegen cles gegen sie vorliegenden Verdachts cler Theilnahine nicht beeidigt worden. Gegen die hierauf gestützte Nichtigkeitsbeschwerde machte der Generalstaatsanwalt geltend, class diese Personen wegen des auf ihnen haftenden V e r d a c h t e s der M i t s c h u l d „das Privilegium cler Zeugschaftsablehnung" verloren hätten. Der Cassationshof dagegen sprach aus, das Gesetz habe clen Angehörigen cles Beschuldigten „die Befugniss, sich des Zeugnisses zu entschlagen, in der Erwägung eingeräumt, dass dieselben nicht in die Lage gebracht werden sollten, durch ihre Aussagen zur Verurtheilung und Bestrafung ihrer Gatten oder nahen Verwandten mitwirken zu müssen, diese Rücksicht wirke aber nicht mehr fort, wenn cler verdächtige Gatte oder nahe Verwandte vor der Aburtheilung gestorben sei". Ueber den von clem Generalstaatsanwalt geltend gemachten Grund ging clas Erkenntniss stillschweigend hinweg, in treffender Weise aber ist er in cler Zeitschrift für . . . Bayern I 494 ff. bei Mittheilung der Entscheidung widerlegt. (Vgl. auch Sitzungsberichte der baver. Strafgerichte V 405.) — S c h w a r z e , cler im GS 1869 S 63 dieses Erkenntniss hauptsächlich mit der Erwägung bekämpft, dass oft cler Zeuge seinem Angehörigen nicht so sehr die Bestrafung als die Schande zu ersparen wünsche, bezeichnet im Commentar Beni 11 zu § 51 clie Frage als streitig. Dazu mag ihn hauptsächlich die enge Fassung des § 54 bestimmt haben, cler nur die „Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung" anerkennt. Auch abgesehen davon, dass eine conséquente Behandlung der Materie nicht möglich ist, sobald man nicht an dem Satze festhält, dass „der Beschuldigte" immer nur eine Person ist, die in dieser Strafsache als beschuldigt behandelt wird (oder noch behandelt werden kann), übersieht man, dass das Privilegium der Angehörigen schon innerhalb cler Familie auch Rechte Dritter ernstlich bedrohen kann und daher nicht auf Fälle ausgedehnt werden sollte, wo diesen schwere Nachtheile drohen, cler Angehörige des Zeugen aber jeder Gefahr entrückt ist. — Der hier vertretenen Ansicht stimmen zu: E b m e i e r Bern 2 a zu § 155 der preuss. StPO (aus nicht richtigen Gründen); D a l c k e Bern 2 zu § 51, der jedoch Bern 4 das. das angeführte ReichsgerichtsErkenntniss billigend citirt; P u c h e l t Bern 8 das.; M a y e r a. a. 0. Beni 18. Bezüglich des conformen französischen Rechts s. R o l l a n d Nr 22 u. 23 bei Art. 322.

§ 48.

Befreiung von

er Zeugenaussage.

diese mehrere Mitangeklagte und selbst Anklagepunkte betrifft, welche den Angehörigen nicht berühren, so lange diese verschiedenen Anklagen Gegenstand derselben Verhandlung sind 2 1 . H a t die Sonderung - 1 Das französische Recht hat die Frage ausdrücklich entschieden : de l'accusé ou de l ' u n des accusés présents et soumis au même débat. In gleichem Sinne hatten sich deutsche Strafprozessordnungen mehrfach ausgesprochen, so die badische von 1864, die w ü r t t e m b e r g i s c h e von 1868, die h a m b u r g i s c h e von 1864; andere hatten mit kaum zu verkennender Absicht dies unterlassen. (Tgl. Mot zu § 51 d. StPO.) Die ö s t e r r e i c h i s c h e Strafprozessordnung, bei deren Berathung die von H assi wan ter a. a. Ο. Nr 79 dargestellte Casuistik, wie sie in der österreichischen Spruchpraxis hervortrat, in Erwägung gezogen wurde (Mayer I 555, vgl. darüber V o i t u s , Controversen I 200 ft'., der übrigens bei der Erzählung des Vorganges in der Berathung nicht erwähnt, dass die bisherige österreichische Praxis in gleichem Sinne entschied und man d a r u m anfangs von einem Ausspruche Umgang nehmen wollte), entschied die Frage folgendermaassen im § 152 Abs. 2: „Steht eine als Zeuge vorgeladene Person nur zu einem von mehreren Beschuldigten in einem der vorstehend erwähnten Verhältnisse, so kann sie sich des Zeugnisses hinsichtlich der anderen nur dann entschlagen, wenn eine Sonderung der Aussagen, welche die letzteren betreffen, nicht möglich ist". — Die d e u t s c h e Strafprozessordnung enthält diese oder eine ähnliche Bestimmung nicht und giebt daher k e i n R e c h t zu einer Unterscheidung; ein Angehöriger des Zeugen steht als Beschuldigter vor Gericht, und darauf beruht das Recht des Zeugen. In diesem Sinne spricht sich namentlich V o i t u s a. a. 0. S 196 ff., besonders S 199 aus; K e l l e r Bern 3; B o m h a r d Bern 2 zu § 51. Im wesentlichen im Sinne der ö s t e r r e i c h i s c h e n Strafprozessordnung sprechen sich aus : S c h w a r z e Bern 12 zu § 51 deutsche StPO (in gleichem Sinne schon im GS 1869 S 77. 78; mit Unrecht stellt ihn M a y e r Bern 44 zu § 152 österr. StPO darin B r a u e r an die Seite); P u c h e l t Bern 7; T h i l o Beni 7; Da l e k e Bern 2 zu § 51, welchen noch der von letzterem mit angeführte E b m e i e r Bern 2 a zu § 155 preuss. StPO v. 1867 angereiht werden kann. L ö w e Bern 3 zu § 51 sowie Geyer in HH I 277 und Lehrbuch a. a. 0. S 520 (in der älteren Literatur auch B r a u e r , GS 1856 S 17) sprechen sich zwar im entgegengesetzten Sinne aus; namentlich Geyer nennt das \rerweigerungsrecht in solchem Fall, „ein unbedingtes" und giebt den doppelten Grund an, „dass das Gesetz keine Unterscheidung macht, und sich die Bedeutung, welche eine Aussage in dem Zusammenhange der Beweisaufnahme erhält, von vornherein sehr oft nicht erkennen lässt". Aber ersteres hält ihn nicht ab, L ö w e beizustimmen, der (gleich B r a u e r ) eine Ausnahme macht, sobald „mehrere Straffälle Gegenstand einer Untersuchung" sind. Diese Unterscheidung beruht jedoch, wie gesagt, nicht auf gesetzlicher Grundlage, und in sachlicher Hinsicht kann es Fälle geben, wo trotz der Einheit des Anklagepunktes die Sonderung ganz wohl möglich ist (z. B. bezüglich eines einem der Angeklagten zukommenden Strafausschliessungs-, Strafaufhebungsgrundes oder eines nur ihn betreffenden Qualifications- oder Strafzumessungsgrundes, eines ihm allein geltenden Alibibeweises), unci umgekehrt k a n n die einheitliche Verhandlung verschiedener Straffälle einen sachlichen Connex herstellen, der die Aussage bedenklich macht, auch soweit der Angehörige des Zeugen nicht mit angeklagt ist (z. B. wenn der Beweis gegen einen des Factums A mitangeklagten auf dein Umstand beruht, dass dasselbe Werkzeug der That ihm auch beim Factum Β

510

§ 48.

Befreiung von

er Zeugenaussage.

stattgefunden, steht in der Strafverhandlung, in welcher die Vernehmung erfolgen soll, der Angehörige cles Zeugen nicht unter Anschuldigung oder Anklage, so kann das Zeugniss nicht aus dem Grunde verweigert werden. weil früher eine Connexität zwischen den zwei Strafsachen bestand 2 2 . 3. Das Recht steht den A n g e h ö r i g e n des B e s c h u l d i g t e n zu. Als solche „Angehörige" sind im § 51 aufgezählt: Der Verlobte, der Ehegatte des Beschuldigten, „auch wenn die Ehe nicht mehr besteht", clie mit ihm durch Adoption, durch Verwandtschaft, Verschwägerung in gerader Linie oder bis zum dritten Grade cler Seitenlinie im ersten, bis zum zweiten Grade im zweiten Fall verbundenen. Vergleicht man diese Aufzählung mit cler des österreichischen £ 152 Z. 1. so fehlen in letzterer: der Verlobte und clie Schwiegereltern, unigekehrt im deutschen Gesetz: die Geschwisterkinder, Pflegeeltern und Pflegekinder, Vormund und Mündel. Was nun a. die V e r 1 ο b t e η betrifft, so bemerkt S c h w a r z e 2 3 , es könne im einzelnen Falle zweifelhaft sein, ob ein derartiges Verhältniss vorliegt ; „jedenfalls ist ein öffentliches Verlöbniss zu verstehen". T h i l o 2 4 dagegen meint, es komme nur auf das thatsächliche Eingehen auf ein solches Verhältniss an; D a l c k e 2 5 ist jetzt derselben Ansieht, früher forderte er die Verabredung der Ehe mit Zustimmung derjenigen, deren Einwilligung erforderlich sei; P u c h e l t 2 6 meint, es komme auf Stand, Ortssitte und Gebrauch an und schliesslich entscheide clas richterliche Ermessen. B o m h a r d und K o l l e r 2 7 halten sich nur an letzteres: ebenso V o i t u s 2 8 , cler clen Richter „nach den obwaltenden Umständen urtheilen" lässt, und L ö w e 2 9 , cler meint, es sei nur ein „thatsächlich bestehendes Verlöbniss, ein rechtsverbindliches also keineswegs, erfordert, ebenso wenig ein öffentliches". K e l l e r 3 0 sagt: „Sitte und Herkommen gedient haben soll; ist Ν eines Raubanfalles überführt, so wird man leichter an einen zweiten Raubanfall desselben, an dem auch M betheiligt ist, glauben u. dgl.). Mir scheint also, dass, wo das Gesetz, wie in D e u t s c h l a n d , nicht unterscheidet, die Prozessstellung allein entscheiden kann, allerdings nur die actuelle, nicht die der Vergangenheit angehörige. 22 S. Anm 20. Der Zeuge ist hier nicht Angehöriger „des Beschuldigten". 23 Beni zu § 51 Nr 1. 24 Bern 2 zu § 51. Als Grund giebt er an, dass die Rechtsformen der Verlobung in den meisten Staaten sehr verschieden bestimmt sind und im wirklichen Leben meistens nicht beachtet werden. 25 Bern 3 zu § 51. Er schickt voraus: Es bestimme sich der Begriff nach den Landesgesetzen. 26 Bern 9 das. und Controversen I 191—193. 27 28 29 30 Beni 3 das. Bern 2 das. Bern 6 das. Bern 4 zu § 51.

§ 48.

Befreiung von

sind i n Betracht zu ziehen,

er Zeugenaussage.

die eivilrechtlichen Voraussetzungen

der

Landesgesetzgebung können aber für das Strafverfahren nicht als bindend angesehen w e r d e n " .

W ü r d e es sich uni eine geschlossene Gesetz-

gebung handeln, welche eben so wohl das Civilrecht als das Strafrecht umfasst·, so müsste man sich allerdings an die Bestimmungen des ersteren halten, u n d dies würde i n Z u k u n f t bei Bestand eines deutschen Civilgesetzbuches, legt

31

das den Verlöbnissen

, zu behaupten sein.

rechtliche

Wirksamkeit

bei-

F ü r j e t z t k a n n nicht angenommen werden,

class man ein von Ort zu O r t wechselndes Ilecht gründen wollte, und man k a n n sich daher n u r daran halten, dass ein ausgesprochenes, auf Eheschliessung abzielendes Verhältniss bestehen muss. b. Die E h e g i l t i g sein; uns,

muss,

wie K e l l e r

m i t Recht b e t o n t ,

die „kanonische E h e " genügt i h m n i c h t ;

dass man sie dem Verlöbniss

k ö n n t e , so lange nicht

durch

bürgerlich

doch scheint es

gleichzustellen nicht verweigern

die Civilgesetzgebung der Begriff

des

Verlöbnisses so scharf begrenzt ist, dass diese Auffassung ausgeschlossen erscheint32. für

diesen 31

D e r Strafrichter w i r d sich, wenn der Bestand cler Ehe Zweck

in

Frage

kommt,

mit

der

Bestätigung der

zur

Das österreichische bürgerliche Gesetzbuch (§ 45) erklärt, das Eheverlöbniss „zieht keine rechtliche Verbindlichkeit nach sich", und das hätte Geyer bei seinem Tadel der österreichischen Strafprozessordnung wegen der Nichtberücksichtigung des Verlöbnisses in HH I 277 Anm 5 mit berücksichtigen sollen. — Uebrigens wird man aus obiger Controversensammlung wohl entnehmen, dass die Anwendung der Befreiung auf Verlobte ihre Schwierigkeiten hat. Zu diesen gehört ferner 1. die Abgrenzung vom Concubinat, das ja mitunter in der Hoifnung oder Vorspiegelung künftiger ehelicher Verbindung seinen Ursprung hat ; 2. die hier nicht ausgeschlossene Möglichkeit der Eingehung des Verhältnisses blos zu dem Zweck der Umgehung der Zeugenpflicht ; und 3. die Frage des Einflusses der Beendigung des Verhältnisses. Da das Verlöbniss nur als Vorbereitung der Eheschliessung in Betracht kommt, so wird man zu 1. zu erwägen haben, ob nach den besonderen Verhältnissen des Falles der beiderseitige Wille als auf Eheschliessung gerichtet anzusehen ist oder ob nicht gerade das Nichtvorhandensein dieses Willens in dem Verhältniss Ausdruck gefunden hat; zu 2. ist es Thatfrage, ob ein Schein- oder ein ernstliches Verlöbniss vorliegt, namentlich wo weder rechtlich bindende Formen, noch rechtliche Wirkungen des Verlöbnisses zu berücksichtigen sind, während wo letzteres der Fall ist, auch das aus Nebenabsicht eingegangene Verlöbniss nicht eigenmächtig als Sclieinverlöbniss erklärt werden darf; zu 3. verliert durch clie Auflösung clas Verlöbniss nachträglich alles, was es einem Familienverhältnisse ähnlich gestaltete. 32 Vgl. Anm 31. M a y e r Bern 25. 26 a. a. 0. erwähnt Fälle von ohne Beobachtung cler im Staatsgesetz vorgezeichneten Formen geschlossenen jüdischen Ehen, welche die Gerichte selbstverständlich nicht als E h e n gelten lassen können. M a y e r meint indess, clas sei eine eherechtliche „Vorfrage"; in Wahrheit handelt es sich um eine Incidentalfrage, nicht um eine Vorfrage für die Hauptentscheidung, abgesehen davon, class hier (las Verhältniss nicht einmal prima facie als Ehe erscheint.

512

§ 48.

Befreiung von

er Zeugenaussage.

Constatirung der Eheschliessung nach den Gesetzen des Ortes, wo diese stattgefunden hat, berufenen öffentlichen Organe begnügen, diese aber i m Falle des Zweifels auch fordern die Rechtsgiltigkeit

müssen.

der i n solcher Weise

Blosse Bedenken

Grund, das Recht der Zeugnissverweigerung anzufechten. aber v o m zuständigen Gericht für

ungiltig erklärt,

Strafrichter n a t ü r l i c h nicht als „ E h e " c. D i e A u f h e b u n g von E h e g a t t e n , kommen.

einer E h e

34

gegen

constatirten Ehe sind k e i n Ist die E h e

so kann sie der

behandeln33. k a n n bezüglich des Zeugnisses

sowie auch bezüglich der Schwägerschaft i n Betracht

Nach beiden Seiten e r k l ä r t § 51, dass dem Zeugen das den

„ E h e g a t t e n " u n d den „Verschwägerten" gewährte Recht verbleibe, auch wenn

die E h e ,

welche zwischen i h m u n d

clem Beschuldigten

oder

einem nahen Angehörigen cles letzteren bestand, wieder aufgehoben ist. Dies g i l t sowohl von cler Lösung der Ehe durch S c h e i d u n g 3 δ , als von cler durch

Tod,

soweit letztere noch einen Anlass zur Zeugnissver-

weigerung ü b r i g l ä s s t 3 0 . 33 Der Wortlaut des § 51 Z. 2 „auch wenn die Ehe nicht m e h r besteht" spricht deutlich dafür, dass sie bestanden haben muss. Η assi w a n t e r a. a. 0. S 306. 34 Schwarze im GS 1869 S 62—64. H a s s l w a n t e r a. a. 0. M a y e r Bern 17 u. 29 a. a. 0. 3r ' Im Sinne der gänzlichen Lösung der Ehe, nach österreichischem Recht „Trennung" genannt. Die Trennung von Tisch und Bett (separatio a mensa et thoro, nach österr. Recht Scheidung genannt) löst die Ehe ohnehin nicht auf. — 30 Nach der oben Anm 20 vertretenen Ansicht hat nach dem Tode eines Beschuldigten dessen Ehegatte kein Recht, in einem gegen einen andern geführten Strafprozess das Zeugniss zu verweigern, so wenig als nach der Freisprechimg oder definitiven Verurtheilung. — Das ö s t e r r e i c h i s c h e Gesetz enthält keine Bestimmung über den Einfluss der Auflösung der Ehe auf die Zeugnissbefreiung der Ehegatten und Verschwägerten ; allein da das Schwägerschaftsverhältniss auch nach Auflösung der es begründenden Ehe rechtliche Wirkungen hervorbringt, kann es selbst nicht als aufgehoben betrachtet werden. (Gleicher Ansicht H a s s l w a n t e r a. a. 0. und M a y e r Bern 29.) Auch cler Sprachgebrauch entspricht der Fortwirkung der Schwägerschaft. Anders ist es in d i e s e r Hinsicht· mit dem Verhältniss der Ehegatten selbst. Auch ist es erklärlich, dass die Auflösung der Ehe geneigt macht, ihr jede Fortwirkung abzusprechen. ( H a s s l w a n t e r a. a 0. namentlich in Bezug auf das Zeugniss über Thatsachen, die nicht in die Zeit der Ehe fallen; S c h w a r z e , GS 1869 S 33 unter Ablehnung dieser Unterscheidung — natürlich steht er im Commentar zur deutschen Strafprozessordnung auf dem Boden dieses Gesetzes.) Allein da auch die aufgelöste Ehe mit zahlreichen Rechtsfolgen fortwirkt, namentlich durch die Kinder ein festes, sittlich zu beachtendes, unzerstörbares Band geknüpft hat, kann nicht gesagt werden, dass die Bezeichnung „ E h e g a t t e " absolut unanwendbar geworden sei, und darum müsste wohl auch nach österreichischem Recht das Privilegium als fortbestehend angesehen werden, soweit es überhaupt noch darauf ankommen könnte. S. auch H é l i e , Pratique Nr 737 ρ 382 : L'alliance survit au conjoint qui en formait le lien.

§ 48.

Befreiung von

er Zeugenaussage.

d. Ob die Verwandtschaft ehelich oder unehelich ist, macht keinen Unterschied; ebenso wenig bei der Schwägerschaft, soweit dieselbe auf e i n e r E h e mit unehelichen Verwandten beruht, nicht aber soweit sie aus der Verwandtschaft mit Genossen eines ausserehelichen Verhältnisses abgeleitet wird (befreit ist ζ. B. der uneheliche Stiefsohn des Angeklagten, aber nicht der Sohn der Concubine des Angeklagten) 3 7 . e. Die A d o p t i o n 3 8 erweist sich nur unmittelbar zwischen Wahleltern und Wahlkindern, nicht aber gegenüber den natürlichen Verwandten derselben wirksam. — P f l e g e e i t e r n und Pflegekinder erwähnt das deutsche Gesetz im Gegensatz zum österreichischen nicht 3 und ohne gesetzliehe Ermächtigung können sie den natürlichen Eltern und Kindern nicht gleichgestellt werden. 4. Der I n h a l t des Rechtes des Angehörigen ist: dass es von seinem freien Entschluss abhängt, ob eine Zeugenaussage von ihm in dieser Strafsache als Beweismittel soll benutzt werden können oder nicht. Hieraus ergiebt sich eine Reihe von wichtigen Folgerungen: a. Dass es sich nur um die Zeugenaussage des Angehörigen des Angeschuldigten handelt, nicht aber um andere aus ihm oder durch ihn gewonnene Ueberweisungsmittel, deren Zulässigkeit anderweitig zu erörtern sein wird, ist bereits bemerkt worden. Hier ist nur noch zu erwähnen, dass die Zeugnissbefreiung cler Angehörigen kein Hinderniss bildet, ihr Zeugniss m i t t e l b a r zu benutzen, d. h. Mittheilungen, welche sie ausserhalb des Prozesses Dritten gemacht haben, durch diese zu erweisen. Der Wortlaut des Gesetzes steht nicht entgegen; auch der Grund, auf welchem dieses beruht, trifft hier nicht mehr zu, denn der Angehörige des Beschuldigten wird hier in keine Zwangslage versetzt, nicht der Gefahr ausgesetzt, falsch aussagen oder den ihm 37

H a s s i w a n t e r a. a. Ο. S 366 Nr 1 u. 2. M a y e r a. a. Ο. Beni 14. 15. 23. H é l i e , Pratique Nr 737 ρ 381 : En ce qui concerne les pères, mères et autres ascendants, la prohibition s'étend aux pères et mères adoptifs ou naturels tout aussi bien qu'aux légitimes, mais elle ne s'étend pas aux ascendants légitimes de ces pères et mères naturels. En ce qui concerne les descendants, la prohibition s'étend aux enfants naturels, même adultérins et aux enfants adoptifs. 38 H a s s l w a n t e r a. a. 0. 8 307 Nr 9 u. 10. M a y e r Bein 31. 32. 33. L ö w e Beni 8 zu § 51. 39 Als ein lediglich factisches Verhältniss will es H a s s l w a n t e r nur berücksichtigen, solange es besteht, ebenso M a y e r . Allein wo es einmal im Gesetz anerkannt ist, ist dafür kein rechter Grund abzusehen; die aus cler empfangenen und erwiesenen Wohlthat erwachsenden Gefühle sollen fortbestehen auch über die Zeit hinaus, wo jene nöthig war; und warum sollte ihnen dann die im Gesetz ausgesprochene Anerkennung versagt werden? Binding, Handbuch. IX. 4. I : G l a s e r , Strafprozess. I .

33

514

§ 48.

Befreiung von cler Zeugenaussage.

nahestehenden Beschuldigten zu Grunde richten zu müssen 40 . Noch weniger lässt sich behaupten, dass es unzulässig sei, die Anhaltspunkte für weitere Nachforschungen zu benutzen, welche sich aus einer Aussage ergeben, welche, sei es von vornherein, sei es in Folge nachträglicher Ausübung des Rechtes der Zeugnissverweigerung ungeeignet ist. selbst als Beweismittel zu dienen 4 1 . b. Der Angehörige ist befreit von der Pflicht, zur Sache auszusagen, nicht von der Zeugnisspflicht in ihrer Totalität. Er ist vielmehr verpflichtet, der Vorladung Folge zu leisten und diejenige Auskunft zu ertheilen, die ohne Verletzung des Zweckes der Befreiung — den Richter in den Stand setzt, das Vorhandensein des Befreiungsgrundes zu prüfen 4 2 . Andererseits hat der Zeuge nur das Recht, die Aussage überhaupt zu verweigern, nicht aber die Antwort auf einzelne Fragen. Die deutsche StPO enthält allerdings im § 51 Abs. 2 die Anerkennung des Rechtes des Zeugen, „den Verzicht" auf das Recht zur Verweigerung des Zeugnisses jederzeit — „auch während cler Vernehmung" — zu widerrufen·, allein mit diesem Widerruf endigt auch die Vernehmung, und es kann nicht die Vernehmung in der Weise fortgesetzt werden. dass clie Beantwortung einzelner Fragen vom Belieben des Zeugen abhängt 4 3 . 40

L ö w e Bern 9 zu §§ 51—54. K e l l e r Bein 3 (las. M or in, v. „Témoins" Nr 23. 1) u v e r g e r l i 350, Nr 266. M an g i n vol. I ρ 173. 175 Nr 102. H é l i e , Insti·. § 636 IV, V i l i 698; éd. Brüx. Nr 4974. M a y e r a. a. 0. Beni 19. S. auch das Erkenntniss des Wiener Cassationshofes vom 25. Sept. 1880 (Sammlung der Gerichtszeitung Nr 278). Von einem Zeugnissverweigerungsrecht des über die Mittheilung des Angehörigen vernommenen Fremden kann natürlich nicht die Rede sein ( M a y e r a. a. 0. Beni 4). — Die Frage, ob überhaupt Zeugnisse über Hörensagen zuzulassen sind, und speciell über den Einfluss des § 249 deutsche StPO gehört nicht hielier. 41 And. Mein. S c h w a r z e im GS 1869 S 72 ff., M a y e r Bern 90 zu § 152 österr. StPO. Siehe dagegen das von S c h w a r z e angefühlte Erkenntniss cles Dresdener Oberappellationsgerichts und W e s j l i e im GS 1870 S 379. 380. 42 S c h w a r z e Beni 3 a bei § 51 Nr 3. L ö w e Beni 7 b das. (erörtert die Frage auch vom Standpunkt des Ladungsrechtes der Parteien). H a s s l w a n t e r a. a. 0. Nr 78. M a y e r a. a. 0. Bein 36. 37. In den speciellen Motiven zu dem Entwurf der österr. Strafprozessordnung ( M a y e r I 557) heisst es: „Eben darum, weil nur die A u s s a g e z u r Sache wichtig ist, bleibt es dem Untersuchungsrichter unbenommen, den Zeugen zu Aussagen über seine persönlichen Verhältnisse, über seine Beziehungen zum Angeschuldigten (soweit dadurch der noch unbekannte Thäter nicht enthüllt wird) namentlich in der Richtung zu verhalten, um sich von dem Bestehen eines Rechtes, sich des Zeugnisses zu entschlagen, zu überzeugen. Hinsichtlich dieser Antworten, hinsichtlich welcher keine Befreiung besteht, kann daher auch eine Beeidigung, wenn nöthig, erfolgen". 43 And. Mein. L ö w e Bein 11 zu §§ 51—54 und Bern 5 zu § 54. Die Frage ist. ob man es in das Belieben des Privilegirten stellen kann, nicht blos seinen Ver-

S 48.

515

Befreiung von der Zeugenaussage.

c. Der Privilegirte wird dadurch, dass er sich einmal zur Aussage mit Verzicht auf sein Recht entschlossen hat, des letzteren nicht verlustig; er kann bei einer späteren Vernehmung, ja (nach ausdrücklicher Bestimmung des § 51 Abs. 2) selbst während der Vernehmung selber, sein fallen gelassenes Recht wieder aufnehmen; und es ergiebt sich daraus eine Reihe von Consequenzen, die im Zusammenhange mit prozessualischen Fragen unten (§ 50) ausführlicher zu besprechen sind. Für diese Stelle genügt die Aufstellung folgender Sätze: Die Aussage, welche der Zeuge unter Umständen abgelegt hat, welche es auch nur zweifelhaft lassen, ob er sie freiwillig machte, d a r f ohne seine a u s d r ü c k l i c h e r k l ä r t e Z u s t i m m u n g n i c h t als B e w e i s b e n u t z t w e r d e n . Ebenso wenig aber darf es selbst die regelrecht entgegengenommene g e g e n s e i n e n a u s g e s p r o c h e n e n Willen. d. Ein vermutheter Verzicht, welcher etwa daraus abgeleitet wird, dass der Privilegirte die Anzeige erstattet, den Strafantrag stellt oder die Privatklage erhebt, kommt nicht in Betracht 4 4 . e. Der Angehörige, welcher aussagt, hat noch das weitere Vorrecht, dass er seine Aussage nicht zu beeiden braucht, ohne unbedingt von der Beeidigung ausgeschlossen zu sein \(§ 57). Was die G e g e n ü b e r S t e l l u n g mit dem Beschuldigten betrifft, so kann er sich auch dieser dadurch entziehen, dass er den Verzieht auf sein Privilegium widerruft, bevor zur Gegenüberstellung geschritten w i r d 4 5 . f. Das Recht, von welchem hier die Rede ist, ist von der Person und der Zeugeneigenschaft untrennbar : es können Dritte darüber nicht das entscheidende Wort sprechen, auch wenn sie sonst zur Vertretung zieht zu widerrufen, sondern von Schritt zu Schritt zu schweigen und zu sprechen, je nachdem es ihm angemessen dünkt. Auch hier darf man nicht vergessen, dass er thatsächlich Belastungszeuge sein kann, und es trifft hier zu, was C a r r a r a § 959 ρ 531 bezüglich der Berufsgeheimnisse sagt: Man darf nicht zugeben, dass nach Bequemlichkeit eines Zeugen das Geheimniss halb verletzt wird und halb nicht; es ist einleuchtend, dass bei diesem System ein Verleumder die Unschuld hinopfern kann, ohne irgend welche Gefahr zu laufen. 44 L ö w e Bern 11 zu §§ 51—54. 45 So ist wohl S c h w a r z e Bern 4 zu S 51 Nr 3 zu verstehen. Die österreichische Strafprozessordnung geht davon aus, dass die Angehörigen des Beschuldigten, wemf sie sich der Zeugenvernehmung unterwerfen, im vollsten Umfange nach den für Zeugen geltenden Vorschriften, namentlich hinsichtlich der Beeidigung und Confrontation, zu behandeln sind. ( M a y e r , Handbuch I 557. 581. 582.) Bezüglich der Gegenüberstellung mit dem B e s c h u l d i g t e n räumt ihnen jedoch § 205 Abs. 2 das Recht ein, dieselbe abzulehnen, ausser wenn sie dieser selbst verlangt. (Vgl. Ma ver a. a. Ο. 1 621. 622, l i Bern 5 zu § 205.) 33*

516

§ 49.

Befreiung von

er Aussage über bestimmte Gegenstände.

des Zeugen berufen sind.

Handelt

es sich also uni K i n d e r , Geistes-

schwache u. s. w., so muss der Richter die Belehrung so einrichten, dass der Zeuge versteht, worauf er verzichtet ; ist diese Verständigung nicht m ö g l i c h ,

so w i r d w o h l auch eine Verständigung über die Aus-

sage selbst nicht erreichbar § 49.

Befreiung

sein46.

von der Aussage über

bestimmte

Gegenstände. I.

I n engem Zusammenhange m i t der Befreiung von der Zeugen-

aussage i n einem Strafprozess, i n welchem ein Angehöriger des Zeugen als Beschuldigter erscheint, steht das Recht jedes Zeugen, clie A n t w o r t auf F r a g e n zu verweigern, im

deren Beantwortung einem Angehörigen

oben bezeichneten Sinne oder i h m selbst die Gefahr strafgericht-

licher Verfolgung zuziehen würde (§ 54 deutsche StPO) \ 46

Nach § 153

Vgl. oben § 46 Anm 2. K e l l e r Bern 12 zu § 51 hält es für nothwendig, den gesetzlichen Vertreter „zu hören und von seiner Entschliessung die Vernehmung des Kindes abhängig zu machen, falls das Kind Zeugniss ablegen will. Dagegen ist der Wille des Vertreters jedenfalls dann nicht maassgebend, wenn das Kind das Zeugniss verweigert. . . Das Alter von 12 Jahren . . dürfte die Grenze bilden". Abgesehen von der Willkürlichkeit der Unterscheidungen käme man so zu einem lleclit der Vertreter, die Zeugnissaussage des Kindes, das aussagen will, durch ihren Widerspruch, ja durch ihr blosses Wegbleiben zu hindern. In gleichem Sinne, bei Besprechung des RGE v. 14. Juli 1881 Rspr I I I 488, Geyer in L i s z t s Ζ I 320 if. 1 S. ausser den Commentaren zu diesem Paragraphen die M o t i v e (S 45). Diese gehen davon aus, dass die Befreiung von einer den Zeugen selbst incriminirenden Aussage „das nothwendige Correlai des Grundsatzes, dass ein Beschuldigter nicht zu einer Aussage wider sich selbst gezwungen werden dürfe", sei, ebenso sehr aber „ein Gebot der Gerechtigkeit wie der Folgerichtigkeit, dass auch die Befreiung von dem Zeugnisse gegen einen nahen Angehörigen (StPO § 51) sich nicht erst dann wirksam zeige, wenn letzterer schon in Untersuchung befangen ist, sondern auch schon dann, wenn erst durch den Inhalt des verlangten Zeugnisses eine Strafverfolgung gegen denselben herbeigeführt werden würde". Sie erörtern sodann die Nichtberücksichtigung des Falles, wenn jemand zu seiner eigenen oder eines nahen Angehörigen Schande aussagen müsste. — Vgl. auch Prot S 49—53; ferner: Geyer § 135 I ; d e r s e l b e in' HH I 276. 277; N i s s e n S 25. 26; G o l t d a m m e r in seinem Archiv 1862 S 824 if.; S u n d e l i n StRZ 1863 S 147. 148. Bezüglich des älteren Rechtes s. Z a c h a r i ä , Handbuch § 98 I I 4(11 195); Thüring. StPO v. 1850 Art. 177; Hannov. StPO § 101; Sächs. StPO Art. 222 Abs. 5 u. 6 (dazu S c h w a r z e I 303. 304); Preuss. CO v. 1805 § 313 Ζ 3 u. 4; Preuss. StPO v. 1867 § 155 Abs. 3; Oldenburg. StPO Art. 107 § 2; Bad. StPO v. 1864 § 107; Württemberg. StPO v. 1868 Art. 145; Hamb. StPO v. 1869 § 172; Brem. StPO v. 1870 § 184; Lübisclie StPO v. 1862 § 87 letzter Abs. Bezüglich des e n g l i s c h e n Rechtes s. Roseo e ρ 137—141; Gr e en l e a f I §§ 451. 452. 454—460; T a y l o r §§ 1308—1321; B e s t §£ 126—131. Bemerkens-

§ 49.

Befreiung von

er Aussage über bestimmte Gegenstände.

der österr. StPO soll der Zeuge „nur in besonders wichtigen Fällen" nicht zur Aussage angehalten werden, „wenn die Ablegung des Zeugnisses oder die Beantwortung einer Frage für clen Zeugen einen unmittelbaren und bedeutenden Vermögensnachtheil nach sich ziehen, oder ihm selbst oder einem seiner Angehörigen Schande bringen würde". Die Vergleichung ergiebt , dass hier einerseits ein weiterer Kreis von Motiven zur Verweigerung der Aussage berücksichtigt, andrerseits aber dem Zeugen kein absolutes Recht gewählt, sondern cler Richter in die Lage gebracht ist. das Gewicht der Abhaltungsgründe in die eine Wagschale zu legen und in clie andere das der an die Aussage im concreten Falle geknüpften Interessen. Die deutsche StPO dagegen enthält eine Bestimmung, welche, wie G e y e r mit Recht betont, dem Ermessen des Richters keinen Spielraum lässt. Der Zeuge hat entweder das Recht, clie Antwort abzulehnen, oder cler Richter hat die Pflicht, ihn zur Antwort anzuhalten, in gleichem Umfange, wie bei jedem andern Zeugen. Weder die Geringfügigkeit des Untersuchungsgegenstandes, noch die Bedeutung des für clen Zeugen mit der Antwort verbundenen Nachtheils ändert daran etwas, und cler Umstand, dass die gleichzeitig erlassene Civilprozessordnung (§ 349) viel weiter geht, indem sie dem Zeugen Antworten erlässt, welche ihm oder seinen Angehörigen einen unmittelbaren vermögensrechtlichen Schaden oder die Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung zuziehen, oder ein Kunstoder Gewerbegeheimniss offenbaren würden, beweist nur deutlicher die auch in dem Motiven betonte Absicht , clen Kreis für clas Strafrecht enger zu ziehen. Im einzelnen ist zu bemerken: 1. Das Recht, um das es sich hier handelt, ist principiell ein Recht der V e r w e i g e r u n g , nicht eine B e f r e i u n g ; während das Gesetz bei Anwendung des § 51 dafür sorgt , dass clie Aussage nur auf Grund positiver Einwilligung des Berechtigten entgegengenommen werde, schützt es ihn in § 54 nur gegen die Vernehmung wider seinen ausgesprochenen Willen 2 . werth ist der Vorgang der englischen Gesetzgebung, welcher in Specialfällen die Zeugenaussagen dadurch ermöglichte, dass es für unzulässig erklärt ward, das, was jemand als Zeuge aussagte, in einem Criminalprozesse gegen ihn selbst als Beweismittel zu benutzen. T a y l o r § 1310. Im übrigen s. die Zusammenfassung des heutigen Rechtes über die Frage bei S t e p h e n , Digest art. 120. F r a n z ö s i s c h e s Recht: H é l i e , Instr. § 357 vol. I I I ρ 563—595; C u b a i n Nr 457 ss. 2 Es tritt dies deutlich hervor bei der später (§ 50) im Zusammenhange zu erörternden Frage der Belehrung des Zeugen über sein Recht, die Aussage zu verweigern. Das Gesetz schweigt hier darüber, im Gegensatze zu § 51. K e l l e r Beni 5 zu § 54 beschränkt sich darauf, zu sagen, die Belehrung sei nicht vorgeschrieben, ebenso

518

49.

Befreiung von

er Aussage über bestimmte Gegenstände.

2. Der Zeuge hat nicht das Recht, die Aussage völlig zu verweigern ; der Richter kann Frage auf Frage stellen und abwarten, ob der Zeuge auch hier die Antwort ablehnen werde, und untersuchen, ob er auch dazu berechtigt sei 3 . 3. Auch hier handelt es sich um ein Recht des Z e u g e n , nicht des Beschuldigten. Allein dieses Recht ist nicht, wie im § 51, bedingt durch eine Beziehung des Zeugen zu d e m Beschuldigten, d. h. dem in dieser Strafsache als solcher behandelten; auch nicht durch eine Beziehung auf den Gegenstand cles schwebenden Strafprozesses. Wäre clas erstere cler Fall, so träte § 51 unbedingt in Wirksamkeit, bestände letztere, so wäre derjenige, cler unter die gleiche Beschuldigung fallen kann, vom Zeugniss ausgeschlossen, unci seine Angehörigen wären nach § 51 befreit. Hier würde § 54 höchstens ergänzend wirken, soweit die ZwTeifelhaftigkeit der Sachlage die Anwendung des umfassenderen Mittels beeinträchtigt. Allein es kann den Gegenstand der Frage ein ganz anderes Delict bilden, als welches Gegenstand cler Verhandlung ist, und hauptsächlich für solche Fälle bedurfte es des § 54. — Da es auf eine Beziehung cler Aeusserung auf clen Beschuldigten nicht ankommt, so besteht das Recht auch für Fälle, wo clie Antwort dem Privatankläger, dem Beschädigten oder einer ausserhalb des Prozesses stehenden Person zu nahe treten würde. 4. Das Motiv, clas clen Zeugen berechtigt, die Aussage zu verweigern, ist nach deutschem Gesetz nur die Gefahr, sich oder einen seiner Angehörigen (§ 51) einer s t r a f g e r i c h t l i c h e n Verfolgung auszusetzen. Die Gefahren cler Schande (oder „Unehre") oder eines V o i t u s , D a l c k e Bern 3 das.; Pu eli e It Bern 5 das. fügt hinzu, sie sei nicht untersagt. G e y e r hingegen in HH I 277, Lehrbuch S 519 meint, sie sei durch eine „unabweisbare Analogie" geboten. L ö w e Bern 7 zu §54 sagt nur, sie werde angemessen sein ; erkennt aber an, dass ihre Unterlassung ohne rechtliche Wirkung bleibt. Darin liegt aber eben das entscheidende. Gewiss wird der Richter die Belehrung nicht unterlassen, wo ihre Voraussetzungen gegeben erscheinen; allein dies wird h i e r nur selten der Fall sein; oft wäre die Belehrung geradezu eine missliche Insinuation. 3 L ö w e Bern 6 sagt, es könne unter Umständen die Verweigerung der Antwort der Verweigerung eines ganzen Zeugnisses gleichkommen; das ist unzweifelhaft richtig, aber gleich das von L ö w e gewählte Beispiel geht über den Rahmen der Bestimmung des § 54 hinaus. Allerdings muss in Fällen, wo der Zeuge zu dem Gegenstände der Untersuchung die Stellung eines Beschuldigten einnimmt, die Vernehmung als Zeuge als unzulässig angesehen werden — dafür ist jedoch das oben im § 46 gesagte maassgebend. Trifft dies nicht zu, dann ist der Rie,liter und sind die an der Beweisaufnahme betheiligten berechtigt, auf die im Texte bezeichnete Art vorzugehen, ein Vorgang, der beim Rechte der Verweigerung der ganzen Aussage unzulässig wäre. In' diesem Sinne auch RGE v. 29. Sept. 1880 Rspr I I 263 und v. 9. Oct. 1880 das. S 305.

§ 49.

Befreiung von

er Aussage über bestimmte Gegenstände.

Vermögensnachtheils, wie sie die CPO gelten lässt, kommen hier nicht in Betracht. Ebenso wenig die Gefahr eines Disciplinarverfahrens oder anderer strafähnlicher Benachtheiligungen, wie ζ. B. Ausschliessung aus Corporationen u. dgl. ; ebenso wenig Verfolgungen vor Behörden, welche S t r a f g e w a l t haben, ohne G e r i c h t e zu sein 4 . Andererseits aber genügt 5. j e d e strafgerichtliche Verfolgung, wie geringfügig auch ihr Gegenstand, wie entlegen auch ihre Gefahr (ζ. B. wenn es sich um ein Antragsdeliet handelt) 5 . Aber es ist nur die Gefahr einer Verfolgung, die zur Verurtheilung führen kann, die in Betracht kommt; steht a u s s e r Z w e i f e l , dass die Strafverfolgung ausgeschlossen, die Strafbarkeit aufgehoben sei, so besteht auch kein Recht zur Verweigerung der Antwort; also namentlich nicht, wenn der Verwandte gestorben ist, zu dessen Schande auszusagen wäre, oder wenn der Zeuge selbst gegen weitere Verfolgung geschützt i s t 6 . 6. Ob Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung vorhanden wäre, kann natürlich nur hypothetisch bejaht oder verneint werden ; sie ist vorhanden, wenn unter den Antworten, welche einer bestimmten Frage gegenüber denkbar sind, sich eine befindet, mit welcher diese Gefahr verbunden wäre. 7. Die in § 51 erwähnten Angehörigen des Beschuldigten haben das in S 54 erwähnte Recht ebenfalls angesichts von Fragen, welche sie selbst oder von dem Beschuldigten verschiedene Personen gefährden, nicht aber wegen Gefährdung des Beschuldigten selbst bezüglich des in Verhandlung stehenden Delictes. Das ergiebt sich schon daraus, dass dieser der „Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung" schon erlegen, und dass dessen bedrohte Lage dem Zeugen schon bei Beginn der Vernehmung bekannt ist. Eben weil hier das umfassendere Recht der Verweigerung und des Widerrufs des Verzichtes auf dieses Recht offen steht, bedarf der Zeuge des beschränkteren nicht, und würde dasselbe gröblich missbrauchen können 7 . 4 An die Stelle des im Entw vorkommenden Ausdruckes „Strafverfolgung'·' wurde im Gesetze (1er Ausdruck „strafgerichtliche Verfolgung" gesetzt, wobei eben die Absicht maassgebend war, die Disciplinaruntersuchungen auszuschliessen (Prot S 1130). L ö w e Beni 2b; K e l l e r Bern 4 zu § 54. 5 P u c h e l t Bern 4 zu § 54. P u c h e l t a. a. 0.; L ö w e Beni 3a u. b; K e l l e r Bern 4 das. — Es braucht nicht erst hervorgehoben zu werden, dass nach der österr. StPO, wo es sich hier nicht um die Gefahr der strafgerichtlichen Verfolgung, sondern um die S c h a n d e handelt, anders entschieden werden müsste. 7 K e l l e r Bern 1 geht auf die im Texte gemachte Unterscheidung nicht ein. L ö w e Bern 5 dagegen ist gerade für den zweiten oben erörterten Fall anderer

520

49.

II.

Befreiung von

er Aussage über bestimmte Gegenstände.

D e r Conflict m i t der B e r u f s p f l i c h t

8

des Zeugen,

welche

i h m Schweigen auferlegt, k a n n diesem ebenfalls das Recht geben, die A n t w o r t auf gewisse Fragen, die Aussage über bestimmte Gegenstände zu verweigern.

W a n n dies der F a l l sei, bestimmen die §§ 52 u. 58,

welche erwähnen: Geistliche, Vertheidiger, Rechtsanwälte und Aerzte, endlich öffentliche

Beamte9.

von der „ V e r w e i g e r u n g

Allerdings

spricht das Gesetz i m § 52

des Zeugnisses" ; allein aus dem Zusammen-

hange geht deutlich hervor, dass es sich hier n u r u m ein sachlich beschränktes Recht h a n d e l t ; Sache, sondern diese Zeugen war

wohl

nur

verweigern.

auch

der

nicht

alles u n d jedes Zeugniss i n dieser

die Auskunft Bei

Wunsch

der

über bestimmte Umstände dürfen Gewährung

maassgebend,

dieses

dem

Privilegiums

Zeugen

Confliete

bedenklichster A r t zu ersparen, u n d insofern handelt es sich zunächst um s e i n Recht.

Dass es sich aber u m dieses weder

noch i n erster L i n i e handle, Beamten einleuchtend,

ausschliesslich

ist vor allein bezüglich der öffentlichen

bezüglich welcher das Gesetz sogar die F o r m

Ansicht. Die Motive sagen aber ausdrücklich, dass § 54 auf die Fälle berechnet sei, wenn gegen den Angehörigen des Zeugen „erst durch den Inhalt des verlangten Zeugnisses . . . eine Strafverfolgung herbeigeführt werden würde". Selbstverständlich gälte das auch für den Fall, wo das Zeugniss eine nicht den Gegenstand der schwebenden Verhandlung bildende anderweitige strafbare Handlung des Angeklagten bloslegen könnte. 8 Κ 1 e η ζ e, Lehrbuch S 99 ; Z a c h a r i ä , Grundlinien S 109— 111 ; d e r s e l b e , Handbuch I I 190—196; M i t t e r m ai er, Strafverf. I 438 ff.; P l a n c k S 233. 234; H é l i e , In str. § 357, vol. V ρ 563 sq.; C a r r a r a § 950, vol. I I ρ 530 sq.; A n d r e s , Ueber das Beichtsiegel, im ΝΑ I 556 ff., I I 151ff. ; G ο l t d am mer in s. Archiv 1862 S 821 ff.; Ro s s h i r t , Ζ f. d. Strafv. NF I I I 130 ff.; M u t e a u , Le secret professionel 1870; Ivo s co e ρ 120 (Grand Jury), ρ 141—144; Best §§ 49. 528. 578 sq.; B o r s a n i e C a s o r a t i § 723 vol. I I ρ 385. 9 Die österr. StPO behandelt diese Materie in theilweise anderem Zusammenhange. Das Zeugniss der öffentlichen Beamten und der Geistlichen über ihnen anvertraute Gegenstände behandelt § 151 Ζ . 1 u. 2 als a u s g e s c h l o s s e n ; die Aussage des Vertheidigers ist der der b e f r e i t e n Angehörigen des Beschuldigten angereiht (§ 152 Z. 2). Ein Privilegium der Advocaten überhaupt ist nicht anerkannt, ebenso wenig clas der Aerzte; vielmehr ist im § 498 StGB, welcher gegen den Verratli der Geheimnisse der Kranken gerichtet ist, die Beschränkung beigefügt : „jemand anderem als der amtlich nachfragenden Behörde entdecken". Die angeführten Texte lauten: § 151. Als Zeugen dürfen, bei sonstiger Nichtigkeit ihrer Aussage, nicht vernommen werden: 1. Geistliche, in Ansehung dessen, was ihnen in der Beichte oder sonst unter dem Siegel geistlicher Amtsverschwiegenheit anvertraut wurde; 2. Staatsbeamte, wenn sie durch ihr Zeugniss das ihnen obliegende Amtsgeheimniss verletzen würden, insofern sie dieser Pflicht nicht durch ihre Vorgesetzten entbunden sind. § 152 Z. 2. Von der Verbindlichkeit zur Ablegung eines Zeugnisses sind befreit: Vertheidiger, in Ansehung desjenigen, was ihnen in dieser Eigenschaft von dem Beschuldigten anvertraut ist.

§ 49.

Befreiung von

er Aussage über bestimmte Gegenstände.

eines V e r b o t e s cler Vernehmung gewählt hat, Avas aber nichts daran ändert, dass dem S t r a f g e r i c h t e nur ein Recht, die Aussage zu verweigern, gegenübersteht, das allerdings nicht blos in den Händen des Zeugen selbst ruht. Die übrigen oben erwähnten Personen haben nach der deutschen StPO das Recht, selbst die Aussage zu verweigern ; sie haben es aber — mit Ausnahme der Geistlichen — nur so lange, als sie nicht „von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden sind". Es handelt sich also doch nur scheinbar um ihr Recht; es ist vielmehr ein fremdes Recht, welches allerdings sowie unter den Schutz ihrer berufsmässigen Verschwiegenheit, auch unter den ihres Tactes und ihrer fachmännischen Beurtheilung gestellt ist. In e r s t e r Linie hat also der Zeuge zu beurtheilen, ob er durch Beantwortung einer an ihn gerichteten Frage seine Berufspflicht gegenüber demjenigen, dessen Geheimniss er zu bewahren hat, verletzt, Glaubt es dies nicht, so hat niemand ein Recht, ihn von cler Aussage abzuhalten; im entgegengesetzten Falle wird auch clas Gericht sich die Ueberzeugung verschaffen können, ob die Voraussetzungen cler gesetzlichen Befreiung vorhanden seien; allein auch clie hierauf gerichteten Fragen zu beantworten kann cler Zeuge verweigern, sobald er hiedurch in Gefahr käme, durchblicken zu lassen, wTas er zu verschweigen berechtigt ist. Dies ändert sich durch die E n t b i n d u n g v o m G e heimniss. Diese kann offenbar nur von demjenigen ausgehen, welchem gegenüber cler Zeuge gebunden ist: es ist dies keineswegs immer der Beschuldigte, sondern der Regel nach derjenige, welcher den Zeugen in Ausübung seines Berufes um Rath und Beistand anging und zu diesem ZwTecke ihm vertrauliche Mittheilungen machte oder zuführte, gleichviel ob er dies mittelbar oder unmittelbar that, ζ. Β. ihm etwras durch einen Dritten sagen liess. Mit einem Worte: Derjenige kann auf die Berufsverschwiegenheit verzichten, welcher an den Zeugen als an eine Person s e i n e s Vertrauens sich gewendet, seine Dienste in Anspruch genommen hat. Was nun clie privilegirten Berufsclassen betrifft, so sind dies: 1. „ O e f f e n t l i che B e a m t e " 1 0 (§ 53 deutsehe StPO, vergi. 10

Z a c h a r i ä , Granellili. 8 110, Handb. I 102; M i t t e r m a i e r , Strafverf. I 439—442: Ko s s h i r t a. a. Ο. S 140; R u l f , Comm. ζ. ö. StPO v. 18531 204—205: Geyer in HH I 275. 280. 281, Lehrbuch § 135 I V ; Roscoe p. 120. 144 sq.; G r e e n l e a f I §§ 250. 251. 252 (Grand Jury); T a y l o r §§ 860 sq. 863 (Grand Jury). Das e n g l i s c h e Recht steht insofern principiell auf einem anderen Standpunkte, als es nicht das A m t s - sondern das Staatsgeheimniss schützt, nicht danach fragt, ob jemand durch sein Amt etwas erfahren habe, sondern ob die öffentliche Vorbringung, gleichviel ob durch Beamte oder Private, dem Staats wohl abträglich wäre.

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49.

Befreiung von

er Aussage über bestimmte Gegenstände.

ft 51 österr. StPO „Staatsbeamte") ; sie „dürfen über Umstände, auf welche sich ihre Pflicht zur Amtsverschwiegenheit bezieht", sofern sie letzterer nicht entbunden wurden, nicht vernommen werden. Gleichgiltig ist, wie die deutsche StPO ausdrücklich entscheidet, ob der Beamte noch im Amte ist oder nicht, sofern nur die Aussage clas \ r errathen eines im Amte erfahrenen Geheimnisses wäre. Ein Verzicht des Beamten ist ebenso ohne Einfluss, wie sein Widerstreben, nach erfolgter Genehmigung seiner Vernehmung auszusagen; es handelt sich eben nur zum geringsten Theil um sein Recht oder Interesse. Insofern ist es richtig, wenn G e y e r hier von einem b e d i n g t e n Verbot spricht. Es handelt sieh um z w e i Fragen: 1. ob cler Beamte, indem er aussagt, ein Anitsgeheimniss verletzen würde; 2. ob mit dieser Verletzung ein Nachtheil verbunden wäre, und zwar ein solcher, welcher es rechtfertigt, dass der Justiz die gewünschte Aufklärung vorenthalten werde. Diese z w e i t e Frage steht lediglich in der Entscheidung der vorgesetzten Dienstbehörde, und nur durch deren a u s d r ü c k l i c h e Genehmigung kann die Vernehmung ermöglicht werden. Ohne jene d a r f sie cler Richter nicht zulassen 11 . Der zweckmässigste Vorgang ist daher gewiss der, dass cler Richter schon vor cler Vernehmung des Zeugen die Genehmigung cler dem letzteren vorgesetzten Dienstbehörde ansucht. Den an cler Sache betheiligten steht es allerdings frei, diesen Schritt auch selbst zu unternehmen, und sofern es sich um eventuelle Anrufung einer Beschwercieinstanz handelt, liegt dies auch in ihrem Interesse. Andrerseits kann für die Entscheidung der Behörde die amtliche Mittheilung des Richters über den Stand cler Sache von ausschlaggebender Bedeutung sein, und es kann daher dessen Vermittelung den Parteien nicht versagt werden. Alles dies ist aber nur anwendbar, wenn von Anfang an erkennbar ist, dass es sich um Gegenstände handelt, die unter clem Schutze der Amtsverschwiegenheit stehen. Anders verhält es sich, wenn die e r s t e Frage noch nicht gelöst ist, wenn nicht von vornherein feststeht, dass die Aussage clas Anitsgeheimniss verletzt. Zunächst ist es da gewiss 11

Wenn das Gesetz im Abs. 2 des § 53 ausspricht, dass diese Genehmigung nur dann versagt werden dürfe, „wenn die Ablegung des Zeugnisses dem Wohle des Reiches oder eines Bundesstaates Nachtheil bringen würde", so ist dies eine allerdings die Dienstbehörde bindende, aber keine strafprozessuale Bestimmung. Es sei hier also nur angeführt, dass, wie S c h w a r z e bemerkt, bei der Berathung derselben allseitig anerkannt wurde, dass „eine Schädigung eines fiscalischen Interesses als ein Nachtheil im Sinne des Gesetzes nicht anzusehen sei". M a y e r , Handbuch I I Beni 20 zu § 151 eignet sich diese Bemerkung für das österreichische Recht an, das irgend eine Regel dieser Art überhaupt nicht aufstellt.

§ 4.

Befreiung von

er Aussage über bestimmte Gegenstände.

Sache des Vernommenen selbst, die ihm durch seine Pflicht vorgezeichnete Grenze einzuhalten. Verweigert er aus diesem Grunde die Aussage, so kann auf dem oben angegebenen Wege die E n t s c h e i d u η g der Dienstbehörde auch gegen seinen Willen eingeholt werden. Umgekehrt muss, wenn er Zweifel hegt, ihm die Möglichkeit gelassen werden, eine Entscheidung seiner vorgesetzten Behörde einzuholen. In beiden Fällen wird die Frage nur die Dienstbehörde lösen können ; dem Richter wird nicht selten Sogar die Norm, welche die Grenze der Amtsverschwiegenheit bezeichnet, unbekannt sein ; auch wo solche Normen ihm zugänglich und amtlich bekannt sind, kann cler Fall immerhin so liegen, dass man ohne Venrath des Geheinmisses ihm die Beurtheilung der Frage gar nicht ermöglichen kann. Es ist daher gewiss richtig, als Regel anzusehen, class cler Richter cler Dienstbehörde auch die Entscheidung der Frage überlassen muss, ob es sich um Umstände handelt, auf welche sich die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit bezieht. I n diesem Sinne sprach sich bei der Berathung der Justizcommission des Reichstages der Regierungscommissar aus 1 2 , und diese Aeusserung blieb auch insofern unwidersprochen, als ihr keine abweichende n a c h f o l g t e ; allein vorher schon hatte ein Abgeordneter erklärt: er gehe davon aus, class clas Gericht selbständig zu prüfen habe, ob die im Gesetz gemachte Voraussetzung gegeben sei 1 3 . Man muss auch hier sich mehr an die Sache, als an das so schwankende Berathungsmaterial halten. In der Regel wird nun aus clen angegebenen Gründen das Gericht gar nicht selbst entscheiden, i;och weniger dem Ausspruch der Dienstbehörde entgegentreten können 1 4 . Allein in manchen Fällen können dem Gerichte clie Materialien für diese Beurtheilung vollständig vorliegen, so dass demselben das Nichteintreten der Voraussetzungen völlig zweifellos ist. I n solchen Fällen wird clas Gericht durch die offenbar unberechtigte Weigerung cles Beamten sich nicht abhalten lassen, lediglich nach seiner Auffassung zu handeln, sowie es durch die entgegengesetzte Ueberzeugung, die es sich in Fällen bilden kann, wo der Beamte zur Aussage bereit 12

Prot S 808: Wenn „dem Gerichte dargelegt werden sollte, dass es sich um Umstände handle, auf welche sich die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit beziehe, so würde die ganze Sache auseinander gesetzt werden müssen und würde dann von einer Amtsverschwiegenheit überhaupt nicht mehr die Rede sein können". 13 Vgl. K e l l e r Bern 2 zu § 53 („ohne weiteren Widerspruch zu finden"). P u c h e l t Bern 4 das. spricht dagegen der Aeusserung des Regierungscommissars das entscheidende Gewicht eben wegen des vorausgehenden Widerspruches ab. 14 In diesem Sinne K e l l e r a. a. 0.; G e y e r HH I 280; L ö w e Bern 3 zu g 53; T h i l o Bern 2 das.

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§ 49.

Befreiung von cler Aussage über bestimmte Gegenstände.

scheint, ebenfalls sich verpflichtet sehen wird, letztere nicht zu g e s t a t t e n . Uebersieht man diese allerdings complicirten Verhältnisse, so zeigt sich, dass bei der Anwendung die verschiedenen maassgebenden Gesichtspunkte sich verschieben und keiner derselben ausschliesslich festgehalten werden kann. Die Pflicht des Beamten, sein Dienstgeheimniss zu bewrahren, bis er davon entbunden ist, steht zugleich unter dem Schutz des gesetzlichen Verbotes, das den Richter bindet, und unter dem der persönlichen Haftung des Beamten gegenüber der Dienstbehörde. I n Folge dieser letzteren aber hat der Beamte auch ein persönliches Recht auf Wahrung seiner Stellung, und insofern gewährt das Gesetz ihm ein Privilegium. Die Frage .nach der Z u l a s s i g k e i t cler Entbindung von cler Pflicht cler Amtsverschwiegenheit ist, einmal anerkannt, dass diese der Vernehmung entgegensteht, eine rein administrative 1 5 ; aber auch für die Existenz der Pflicht selbst können nur administrative Normen entscheidend sein, welche zu erlassen Reich oder Land berufen sind, je nachdem das eine oder das andere das betreffende D i e n s t v e r h ä l t n i s s zu regeln hat. Das Gesetz schützt übrigens nur den Dienst cles Reiches und der Bundesländer, findet daher auf f r e m d e Beamte keine Anwendung 16 . Einige Specialfragen über den Begriff der „vorgesetzten Dienstbehörde" löst das Gesetz im 2. Satz des Abs. 1 des § 53. 2. „Geistliche" 1 7 können das Zeugniss v e r w e i g e r n „in Ansehung desjenigen, was ihnen bei Ausübung der Seelsorge anvertraut 15 Sie ist auch im administrativen Instanzenzuge, dessen Regelung Sache der Landesgesetzgebung ist, auszutragen, zunächst wohl durch die betheiligte Partei; gewiss ist es auch dem Richter gestattet, sich im Interesse der Sache an die höhere Administrativbehörde zu wenden; nur dürfte die Form der Beschwerde seiner Stellung nicht entsprechen. Vgl. Geyer UH I 281; L ö w e Beni 5; T h i l o Beni 2: P u c h e l t Bern 4 zu § 53. 16 P u c h e l t Beni 3. Der Begriff des Beamten richtet sich nach den Reiclisund Landesgesetzen; übrigens ist auch auf § 359 StGB Rücksicht zu nehmen. 17 Can. 2 Dist. V I de poenit. cap. 12 X de poenit. V 38. c. 13 X de excess. praelatorum. V31. cap. 2 X de off. jud. ord. 131. — Gross I I 11; Z a c h a r i ä , Grundlin. S 109 Nr 4 mit reiclil. Angabe der älteren Literatur: Ivlenze S 99; H e n k e IV 512. 513; M i t t e r m a i er, Strafv. I 440: Z a c h a r i ä , Handbuch I I 190. 191; A n d r e s ΝΑ I 556 ff. I I 151 ff; R o s s h i r t , Ζ . f. d. Strafv. NF I I I 131—135 (über die Literatur des französ. Rechtes S 135 Anm 100); D u i h eu er in GA 1859 S 56—62; N i s s e n S 24; H é l i e , Instr. g 357 III, vol. V ρ 568 ss.: C u b a i n Nr 460; G r e e η 1 e a f I §§ 229. 247; A l i s o n ρ 472 (bezüglich Englands), ρ 586 (Schottland); B e s t § 583—585. Dis Entwickelung aus dem kanonischen Rechte und aus dem Beichtgeheimniss heraus ist unverkennbar. In Frankreich ist daher auch, ungeachtet keine Bestimmung der StPO den Geistlichen von der Zeugenpflicht ausnimmt, dieselbe durch clie Praxis lediglich auf den Grund hin eingeführt oder

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Befreiung von

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ist" (deutsche StPO § 52 Z. 1). Nach österreichischem Recht sind Geistliche über das, was ihnen auch ausser der Beichte unter die Pflicht vielmehr beibehalten worden, dass das Concordat die katholische Religion unter den Schutz des Staates gestellt habe und dass daher „dasjenige, Avas mit ihrer Ausübung nothwendig zusammenhängt", geschont und aufrecht erhalten werden muss (CHE v. 30. Nov. 1810; H é l i e 1. c, ρ 569. 570). Man ging schon in diesem Erkenntniss, ohne auf Widerstand zu stossen, einen Schritt weiter, indem man den in der Beichte gemachten Mittheilungen diejenigen gleichstellte, die zwar nicht in der Beichte erfolgten, aber „im Hinblick auf das diese schützende Geheimniss" als „Fortsetzung und Ergänzung der Beichte". C u b a i n , der übrigens in den Berufspflichten ein Verbot der Aussage, nicht blos eine Befreiung, begründet findet (incapacité, nicht dispense 1. c. Nr 458) stellt unter den gleichen Schutz, was der Geistliche, wenn auch ausserhalb der Beichte, aus Anlass seiner priesterlichen Functionen (ζ. B. Entdeckungen, die er bei einem Kranken macht, dem er die Tröstungen der Religion bringt) wahrnimmt (1. c. Nr 460). Man hat aber in einem von H é l i e (1. c. ρ 571 ss.) scharf getadelten CHE v. 31. März 1841 auch den Mittheilungen, die dem Bischof aus Anlass einer kirchlichen Straf-(Disciplinar-)Untersuchung gemacht wurden — es handelte sich um die Namen der durch unsittliche Attentate eines Geistlichen betroffenen — das gleiche Privilegium zuerkannt. C u b a i n , der diese Entscheidung billigt (Nr 463) generalisirt sie in dem Sinne, dass alles, was in einem Disciplinarverfahren (ζ. B. auch wider Advocaten) erörtert wird, privilegirt sei. — In E n g l a n d , wo die Reformation den Zusammenhang mit der das Beichtgeheimniss schützenden Tradition löste, ist die Praxis schwankend und eher geneigt, das Privilegium zu b e s t r e i t e n , während andererseits cler Widerwille gegen unbillige Benutzung von Bekenntnissen, die nicht in voller Freiheit für gerichtliche Zwecke abgelegt sind, der Ausschliessung solcher Beweise zu statten kommt (so ζ. B. ward es für bedenklich erklärt, über ein Geständniss, das ein Katholik vor einem protestantischen Geistlichen abgelegt hatte, aussagen zu lassen; auf diese vereinzelte Entscheidung ist zur Unterstützung der Ansicht von der Anerkennung des Beichtsiegels verwiesen in G l a s e r , Engl.-schott. Strafverfahren S 68 Anm 2.) — Neuestens wird das Privilegium bekämpft. — Vgl. R ο s c ο e ρ 141; B e s t § 583; G ree η l e a f I § 247, der viel entschiedener als B e s t jedes Privilegium in Abrede stellt, dagegen ein New-Yorker Gesetz, 2 Rev. St. 406 § 72, anführt, welches Geistlichen jedes Bekenntnisses v e r b i e t e t , Bekenntnisse zu eröffnen', die ihnen in ihrem professional character in the course of discipline enjoined by the rules or practice of such denomination gemacht wurden. Ebenso in einigen anderen der Vereinigten Staaten. — Für England aber stellt auch S t e p h e n , Digest art. 117 u. ρ 180 ff. es als geltendes Recht hin, dass Aerzte und Geistliche gezwungen werden können, Mittheilungen zu enthüllen, made to them in professional ! confidence. Gegenüber dem in einer neueren, das Beichtgelieinmiss vertretenden Schrift von Β ad d e l e y gebrauchten Argument, dass vor der Reformation das gemeine Recht das Privilegium sicher anerkannte, sagt S t e p h e n , das englische Beweisrecht sei eben jünger als die Reformation. Nur in Schottland ist g e m e i η r e c h 11 i c h die alte Tradition festgehalten, und jede Aussage des Geistlichen über confessions, made to him in the course of religious visits or for the sake of spiritual consolation, ausgeschlossen und zwar als im Widerspruch stehend mit dem auf Besserung des Verbrechers gerichteten Zweck

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Befreiung von

er Aussage über bestimmte Gegenstände.

zur Verschwiegenheit begründenden Umständen, „unter dem Siegel geistlichen Amtsgeheimnisses", anvertraut wird, a u c h m i t i h r e r Z u s t i m m u n g nicht zu vernehmen 18 . Soweit es sich nicht um die B e i c h t e handelt, wird aber die Erklärung desjenigen, der die Mittheilung machte, dass er sie nicht als „anvertraut" ansehen wollte, nicht ohne Einfluss bleiben können. Im einzelnen ist hier zu bemerken : a. I m I n l a n d e fungirende Geistliche müssen als solche nach den Gesetzen des Landes anzuerkennen sein, d. h. es darf sich der Richter nicht mit den Landesgesetzen in Widerspruch setzen, indem er die betreffende Person als Geistlichen, ihre Thätigkeit als amtliche behandelt. Dass eine positive staatliche Anerkennung stattgefunden haben m ü s s e , wenn das Gesetz ein Fungiren auch ohne solche g e s t a t t e t , folgt daraus nicht. Wo also neben den staatlich anerkannten Kirchen andere bestehen, die nicht verboten sind, wird die Stellung ihrer Geistlichen ebenso berücksichtigt werden müssen, wie wenn es sich um im Auslande vorgenommene geistliche Verrichtungen handelt; die Beweisfrage wird natürlich in beiden Fällen manchmal Schwierigkeiten machen und der Würdigung des Gerichtes unterliegen, während sie in den anderen durch die staatliche Anerkennung der Religionsgesellschaft und ihrer Einrichtungen entschieden i s t 1 9 . Bei Religionsgesellschaften von minder geschlossener Verfassung kann dabei namentlich auch die Frage auftauchen, ob es sich um einen „Geistlichen" handelt; es wird aber dabei weniger auf eine bestimmte hierarchische Stellung als auf die Vornahme einer bestimmten kirchlichen Verrichtung ankommen. b. Hinsichtlich der letzteren verlangt das deutsche Gesetz ein „Anvertrauen" „bei Ausübung der Seelsorge". Die Ausdrücke sind mit Vorsicht gewählt, um ohne Begünstigung einer Kirche vor der ander Strafe. — Danach ist die Angabe bei M i t t er m a i er, Strafverfahren I 440 Anm 34: „Auch ist das Beichtsiegel anerkannt in E n g l a n d und Schottland" (s. auch M a y e r , Handbuch I I Beni 1 zu § 151) zu berichtigen. 18 Es entspricht dies der kirchlichen Auffassung, die Ma s car dus so ausdrückt: Confessio coram sacerdote, in poenitentia facta, non probat in judicio, quia censetur facta coram Deo. 19 Die staatliche Anerkennung der K i r c h e verlangen: Geyer H I I I 278; L ö w e Bern 6 zu § 52; S c h w a r z e Bern 1 das. am Schluss; K e l l e r Bern 2 das. P u c h e l t Bern 5 Abs. 1 das. betont dagegen den Unterschied zwischen Anerkennung der Kirche und des einzelnen Geistlichen und verlangt auch letztere. — O p p e n h o f f , Preuss. Ges über Strafverf. § 20 Nr 6, erwähnt eines Beschlusses über die Nichtausdehnung der Befreiung auf „Vorsteher eines christlichen Vereines".

49.

Befreiung von

er Aussage über bestimmte

egenstände.

deren das gleichartige Bediirfniss aller zu befriedigen. Ob aber dieses Bediirfniss bei einer derselben wirklich vorhanden ist, das ist allerdings erst näher zu untersuchen. Die beiden vom Gesetz aufgestellten Merkmale sind dem typischen Fall der B e i c h t e entnommen; bei dieser treffen dieselben stets, und ohne dass es erst einer weiteren Erörterung bedarf, zusammen. Das weitere Merkmal der Beichte, dass von ihr die rückhaltlose Bloslegung des Innern im Namen'der Religion geforciert wird, dass sie ohne Auflehnung gegen das kirchliche Gebot nicht verweigert werden kann, wird man bei analogen Vorgängen nicht forclern dürfen 2 0 . Es genügt also, class jemand seinem Seelsorger bei einer unter clen Gesichtspunkt cler Seelsorge fallenden Unterredung und lediglich des durch die Seelsorge gegebenen Zweckes halber eine Mittheilung macht, die er nicht gemacht haben würde, hätte er nicht auf die Verschwiegenheit des Seelsorgers rechnen können: also wohl dasselbe, was die österr. StPO unter das „Siegel geistlicher Amtsverschwiegenheit" stellt. Dagegen genügt weder clas Anvertrauen, wenn es blos durch die geistliche Stellung veranlasst ist. aber nicht mit einem Akte der Seelsorge zusammenhängt 21 ; noch genügt eine Mittheilung, die aus Anlass eines Aktes der Seelsorge gemacht ist, aber nicht als eine vertrauliche, als eine „anvertraute" anzusehen i s t 2 2 . In letzter Linie ist clas doppelte Motiv maassgebend. 20 P l a n c k hatte (Syst. Darstell. S 233. 234) „eine durch die öffentlichen Einrichtungen der Kirche . . . bedingte Pflicht der Verschwiegenheit" als das entscheidende Merkmal bezeichnet (ebenso M a y e r Bern 5 zu § 151 österr. StPO). Dies würde angesichts des heutigen Textes zu weit gehen; das Gesetz selbst sanctionirt die Pflicht zur Verschwiegenheit, sobald die beiden im Texte vorausgesetzten Bedingungen zusammentreffen. Es müsste also, um das Privilegium auszuschliessen, die Sache vielmehr so liegen, dass nach den Einrichtungen einer bestimmten Religionsgesellschaft die Entgegennahme solcher Mittheilungen nicht unter den Begriff der Seelsorge fällt. • 2 1 Akte k i r c h l i c h e r Verwaltung und Jurisdiction oder g e i s t l i c h e r Disciplin sind nicht Akte der Seelsorge (vgl. das o. Anm 17 aus der französischen Praxis angeführte, worauf auch Geyer mit den Worten „nicht bei einer anderen amtlichen Function" hinzudeuten scheint. L ö w e erwähnt (Bern 7) in gleicher Richtung die Stellung des Geistlichen als Vertreters der Kirchengemeinde oder als Civilstandsbeamten. Indess rechnet er Sühneversuche in einer Ehescheidungssache zu den Akten der Seelsorge ; ob dies (1er Fall, mag von gegebenen Einrichtungen abhängen. Jedenfalls bedingen sie nicht von selbst schon ein „Anvertrauen". Vgl. übrigens Cubain Nr 469, der geneigt ist, auch dem Richter, der Sühneversuche vornimmt, das gleiche Recht einzuräumen. 22 Es hängt dies ganz von den Umständen ab; es können z. B. ausserhalb der Beichte Mittheilungen stattfinden, welche sich so eng auf jene beziehen, dass sie als auf gleiche Weise „anvertraut" anzusehen sind. Andererseits wird gerade bei solchen Kirchen, welche diese feste Form haben, da, wo an sie nicht einmal

528

49.

Befreiung von cler Aussage über bestimmte Gegenstände.

class cler Staat nicht zum Bruch einer kirchlichen Pflicht nöthigen, aber auch selbst es nicht verhindern will, dass jeder über Angelegenheiten des Gewissens mit seinem Seelsorger rückhaltlos verkehren könne, so weit dies für Zwecke der Seelsorge nöthig oder auch nur wünschensAverth ist. c. Wahrnehmungen, die bei Gelegenheit eines Aktes cler Seelsorge gemacht wurden, aber nicht sich auf Mittheilungen an den Geistlichen beziehen, werden nur dann unter den Schutz des Privilegiums fallen, wenn sich behaupten lässt, der Geistliche sei zur Vornahme eines Aktes cler Seelsorge nur unter der Voraussetzung zugelassen worden, dass er über alles aus diesem Anlass wahrgenommene Schweigen beobachten werde, und somit überhaupt die Wahrnehmung auf ein Anvertrauen desjenigen, der seine geistliche Hilfe in Anspruch nimmt, zurückzuführen ist. Zu vermuthen ist weder das eine, noch das andere 2 3 . d. Die d e u t s c h e StPO stellt es lediglich der gewissenhaften Beurtheilung des Geistlichen anheim, ob er aussagen wolle; das Verbot überlässt sie der betreffenden Kirche. Dem „Anvertrauenden" ist ein Recht weder auf Wahrung des Geheimnisses, noch zur Entbindung von demselben zuerkannt; ebenso wenig ist von einer Intervention einer höheren Kirchenbehörde in einer dieser Richtungen die Rede. 3. R e c h t s a n w ä l t e 2 4 und A e r z t e 2 5 (im Sinne des § 29 cler angeknüpft wird, zu vermuthen sein, dass es sich nicht um ein „Anvertrauen" im Zusammenhange mit der Seelsorge handelt. Wo die kirchlichen Einrichtungen keine feste Form bieten, welche die „anvertrauende" Mittheilung von dem offenen Verkehr mit dem Seelsorger trennt, wird es darauf ankommen, wie es unter den gegebenen Umständen gemeint sein musste. 23 Auch hier bleibt die Beichte stets der typische Fall; das A u s s e h e n des Beichtenden u. clgl. gehört nicht zum Inhalt der Beichte. Wenn cler Geistliche an ein Sterbebett gerufen wird, so fällt das, was im Sterbehause vorgeht und gesprochen wird, nicht unter den Schutz des Privilegiums, soweit es nicht unmittelbar während des Aktes der Seelsorge zwischen dem Geistlichen und dem seine Hilfe in Anspruch nehmenden sich zuträgt. Man kann sich aber ζ. B. denken, dass der Geistliche zu gleichem Zwecke in die Mitte einer Verbrecherbande nur gegen sein ausdrückliches Versprechen der Geheimhaltung seiner Wahrnehmungen geführt wird: dann ist alles „anvertraut", was er bei diesem Anlasse wahrnimmt. 24 M i t t e r m a i e r , Strafverf. 1439 (clas. angeführt; M or i n , Journal du droit criminel 1844 ρ 129); Z a c h a r i ä , Handb. I I 194; K o s s l i i r t a. a. 0. S 135 if.; P o o d t s , De l'inviolabilité clu secret dans le défenseur. Belgique judiciaire 1878 t. 36 Nr 19; H é l i e § 357 IV, vol. V p 582; P e r r è v e p 250—253; C u b a i n Nr 461; Roscoe p 141—144; G r e e n l e a f I §§ 237—245; T a y l o r §§ 522 sq.: A l i s o n (Schottland) ρ 468—474; B e s t §581; S c h r u t k a in der Wiener Gerichtshalle 1878 Nr 100; Geyer HH I 279 c. Vgl. oben § 46 I I Nr 6. 25 Geyer a. a. 0.; M i t t e r m a i er, Strafverf. I 438; Z a c h a r i ä , Handb. I I 193; R o s s h i r t a. a. 0. S 143. 144; H é l i e § 357 II, vol. V ρ 565 ss. Sehr

49.

Befreiung von cler Aussage über bestimmte Gegenstände.

GewO v. 21 J u n i 1869 mitumfassend : Augen-, Zahn- u n d W u n d ä r z t e ) sind bezüglich alles dessen befreit, was ihnen von wem i m m e r Ausübung"

ihres Berufes

anvertraut

wurde.

„bei

Das ist aber doch n u r

auf das für den Zweck der Ausübung vorsätzlich mitgetheilte, nicht auf gelegentlich

der Ausübung

Der Zweck

des Gesetzes

gemachte Wahrnehmungen

ist nur,

zu erreichen,

zu

beziehen.

class m a n sich m i t

Beruhigung den gedachten Personen anvertrauen könne; u n d n u r Avas diesen Zweck

beeinträchtigen

würde,

fällt

unter

das

Privilegium

(§ 25 der Rechtsanwaltsorclnung). a. A u c h hier muss das doppelte Verhältniss des A n V e r t r a u e n s u n d speciell eines solchen, welches i m Zusammenhange Ausübung des Berufes, gefordert werden.

steht m i t der

Es genügt einerseits nicht,

dass eine W a h r n e h m u n g aus Anlass der Ausübung des Berufes macht w u r d e ,

ge-

wenn die Umstände, u n t e r welchen sie erfolgte, jeden

Gedanken an clie F o r d e r u n g

der Geheimhaltung

ausschliessen 2 6 ;

es

eingehend Ρ e r r è ve ρ 246—250. C u b a i n Nr 462; G r e e n l e a f I § 248; B e s t § 582. Das englische Recht kennt k e i n Privilegium der Aerzte, wohl aber hat die französische Praxis ein solches angenommen. 26 Interessant ist in dieser Hinsicht eine Entsch. des Pariser Cassationshofes v. 26. Juli 1845 ( H é l i e 1. c. ρ 567. 568). Der ihr zu Grunde liegende Fall ist bei Ρ e r r è v e 1. c. ρ 249 ff. ausführlich erzählt. Danach hatte ein Arzt vor dem Untersuchungsrichter die Aussage über eine im Duell erlittene Verletzung lediglich deshalb verweigert, weil er nicht verpflichtet sei, Thatsaehen zu enthüllen, die er in der Ausübung seines Berufes etwa erfahren haben möge. Er ward deshalb bestraft und zur Hauptverhandlung wieder vorgeladen; hier hat er unter Eid angegeben, que ce qui s'était passé entre lui et le sieur Girard était confidentiel, ajoutant que ce n'était que secrètement qu'il avait été introduit près du blessé. Der Assisenhof entband ihn hierauf von der Zeugenpflicht und der Cassationshof billigte sowohl die erste als die zweite Entscheidung, indem er ausführte: „Es genügte nicht die Angabe, dass die den Gegenstand der Aussage bildende Thatsache in Ausübung seines Berufes . . . zu seiner Kenntniss kam; etwas anderes aber ist, wenn die Thatsache unter dem Siegel der Berufsverschwiegenheit ihm anvertraut wurde". Fast der gleiche Ausdruck fand sich in der ersten von der Commission des deutschen Reichstages angenommenen Fassung des jetzigen § 52: „was ihnen bei Ausübung ihres Berufes unter der Verpflichtung zur Verschwiegenheit anvertraut ist". Weder aus den Protokollen (S 804 ff., ferner S 9. 10 des Prot v. 11. Nov. 1876, H a h n S 1613. 1614) noch aus dem Berichte (S 15) ist zu ersehen, class ein anderer als der redactionelle Grund der Herstellung übereinstimmender Ausdrücke für das gleiche Verhältniss diese Fassung beseitigte. Die nur für einen nicht eingetretenen Fall beantragte und beschlossene Streichung der oben angeführten Worte wurde von einer Seite mit den Worten begründet: „ein ausdrückliches Verlangen der Verschwiegenheit werde in der Praxis nur selten, von Leuten der niederen Stände fast niemals gestellt". Eine andere liieher gehörige und von K e l l e r Bern 5 zur Auslegung herangezogene Aeusserung geht dahin, die Streichung empfehle sich, weil Binding, Handbuch. IX. 4. I : G l a s e r , Strafprozess. I .

34

530

49.

Befreiung von

er Aussage über bestimmte Gegenstände.

genügt andererseits nicht eine Mittheilung, welche aus den vertraulichen Beziehungen erwuchs, die zwischen dem Rechtsanwalte oder dem Arzt und ihren Clienten und deren Familien naturgemäss entstehen, wenn die Mittheilung nicht zu dem Zweck erfolgte, die Hilfe des Rechtsanwaltes oder Arztes als solchen in Anspruch zu nehmen. Andererseits genügt jede Kenntniss, die sich der Arzt oder Rechtsanwalt zum Zweck der Ausübung des Berufes verschafft 27 , auch wenn die dann „übrig bleibenden Worte: «bei Ausübung ihres Berufes« nicht blos bedeuten »bei Gelegenheit der Ausübung«, sondern so viel wie »in und durch Ausübung ihres Berufes·'; es müsse die Ausübung der ärztlichen Thätigkeit selbst sein, durch welche der Arzt die betreffende Kenntniss erlange, dann bedürfe es allerdings des weiteren Zusatzes nicht. So würde ζ. B. in einer Ehebruchsuntersuchung der Arzt, welcher den einen Ehegatten wegen Syphilis behandelte, zur Verweigerung des Zeugnisses unbedingt berechtigt sein, dagegen nicht, wenn es sich in einem Prozesse über die Legitimität eines Kindes um ein Geständniss handeln sollte, welches eine Ehefrau ihrem Arzte als Vertrauensperson darüber abgelegt, dass sie sich in Folge eines Umganges mit einem Dritten in anderen Umständen befinde". Im Gegensatze hiezu findet sich eine Aeusserung, welche die Ausdehnung des Privilegiums auf Aerzte gerade damit begründet: „der Arzt pflege nicht selten regelmässig clas Haus zu besuchen; der Kreis seiner Wahrnehmungen und der vertraulichen Unterhaltungen b e s c h r ä n k e s i c h n i c h t a u f d e η u n m i t t e l b a r e n B e r u f " — eine Aeusserung, an welche auch der Bericht in cler zurückhaltenden Wendung erinnert: „clie Stellung als Haus- oder Familienarzt mache den Arzt zu einem Vertrauensmann im eminenten Sinne des Wortes". Es wird auch hier das beste sein, von diesen Materialien ganz abzusehen und sich an den Wortlaut des Gesetzes zu halten, der hier der gleiche ist wie bei dem Geistlichen, und daher das doppelte Merkmal der Wahrnehmung i n A u s ü b u n g des B e r u f e s in Folge A n ver t r a u ens (das allerdings nicht auf ausdrückliche Bedingung des Schweigens beschränkt ist) als ausschlaggebend anzusehen. — Legt man diesen Maassstab an, so zeigt sich ζ. B., dass in der Regel der Umstand, dass cler Arzt oder Sachwalter überhaupt, dass er an einem bestimmten Tage oder Orte eine Besprechung mit seinem Clienten hatte (Umstände, die für Fixirung cler Zeitpunkte sehr wichtig sein können), nicht unter das Privilegium, weil nicht unter das Merkmal des Anvertrauens falle. Wäre aber die Zusammenkunft schon eine heimlich veranstaltete gewesen, so ändert sich dies sofort. — In anderen Fällen ergiebt sich das vertrauliche cler Mittheilung schon aus der Natur derselben, ζ. B. Beschaffenheit der Krankheit oder Beziehung auf eine incriminirbare Handlung oder auf die bedrohte Geschäftslage. — Das Benehmen der Familie eines Erkrankten am Krankenbette und im Krankenzimmer trägt nicht clas Gepräge des A n v e r t r a u e n s . — Besonderer Erwähnung verdient die Beiziehung cles Arztes zum Duell. Man hat in Frankreich geleugnet, class die Anwesenheit bei einem solchen unter clie Ausübung des Berufes falle (P erre ve ρ 248 Nr 79). Für das deutsche Recht, clas dem Arzte, der dem Zweikampf als solcher beiwohnt, Straflosigkeit zusichert, ist es unzweifelhaft, dass schon die blosse Anwesenheit Ausübung des Berufes ist und dass alles, was er in Folge dessen wahrnimmt, ihm anvertraut ist. 27 Hieher gehören Wahrnehmungen, die cler Arzt bei Besichtigung des Kranken

S 49.

Befreiung von der Aussage über bestimmte Gegenstände.

531

sie nicht auf einer directen Mittheilung beruhte 2 8 . sofern nur die Umstände erkennen lassen, dass die Möglichkeit dazu nur im Veitrauen auf die Berufsverschwiegenheit ihm gewährt wurde. Die Grenzlinie fällt also weder mit der Linie zusammen, welche dem fachmännischen Vertrauensmann sein Zartgefühl vorzeichnet, noch mit derjenigen, deren Einhaltung dem Clienten wünschenswerth ist, um sich behaglich gehen lassen zu können, sondern es kommt darauf an: war es, um sich des Rathes und der Hilfe des Fachmannes zu versichern, n o t h w e n d i g , ihm den Einblick in die Verhältnisse zu verschaffen, aus welchem die Wahrnehmung hervorging, und wurde sie ihm nur deshalb verschafft? b. Es ist nach obigem (s. Anni 28) nicht nothwendig, dass die vertrauliche Eröffnung gerade von demjenigen ausging, welcher die Hilfe des Fachmannes anrief; nur muss sie in dessen Interesse und vermöge der namentlich zwischen Rechtsanwalt und Client vorausgesetzten Interessengemeinschaft ihm zugegangen sein, etwa von Familienangehörigen, Geschäftsbediensteten des Clienten u. s. w. (während z. B. das, was der Rechtsanwalt in einer Unterredung mit dem Gegner des Clienten hörte, nicht als von letzterem ihm anvertraut angesehen werden kann). In solchen Fällen ist das Anvertrauen als von demjenigen ausgehend anzusehen, der die fachmännische Hilfe des Zeugen in Anspruch nahm und ihm dadurch, wenn auch indirect, die Mittheilung zuführte; ihm kommt es daher auch zu, ihn von der Pflicht der Verschwiegenheit zu entbinden, so weit nicht besondere Verabredungen in dieser Richtung vorliegen. ohne dessen Wissen machte, dessen Reden im Delirium u. s. w. Ebenso wenn der Geschäftsmann seinem Anwalt seine Bücher oder seine Correspondes zeigt und dabei Dinge zum Vorscheine kommen, die sich gerade nicht auf den unmittelbaren Gegenstand der \Tertretung bezogen. 28 Mittheilungen, welche im Interesse des Clienten ohne dessen Auftrag von Personen gemacht wurden, die sich mit ihm identificiren und sicher geschwiegen hätten, hätten sie nicht auf die Verschwiegenheit des Fachmannes gerechnet. Umsomehr sind Mittheilungen geschützt, die der Client durch Dritte, als vertrauliche, dem Fachmann zukommen lässt (Mot zu § 52; T h i l o Bern 2 zu § 52; D a l c k e Bern 5 das.; M a y e r Bein 114 zu § 152 österr. StPO). Allerdings sind die Mittelspersonen nicht eo ipso privilegirt ; sie werden es aber oft als Angehörige sein, und wo dies nicht der Fall ist, ändert die Möglichkeit ihrer \rernehmung nichts an dem Privilegium des Fachmannes. In E n g l a η d ist die Frage aufgeworfen worden, ob der Dollmetsch, dessen man sich zum Verkehr mit dem Rechtsanwalte bedient, befreit sei. Die Frage wurde dort bejaht , sofern die Unterredung in Gegenwart des Anwaltes stattfand (Rose ο e ρ 141). M. E. ist sie dahin zu entscheiden, dass der Anwalt auch über eine so ihm zugekommene Mittheilung nichts auszusagen braucht, der Dollmetsch aber nicht befreit ist. 84 *

532

49.

Befreiung von cler Aussage über bestimmte Gegenstände.

e. Stellvertreter der A n w ä l t e u. s. w., die selbst unter clen gleichen Begriff

fallen,

sind zur Zeugnissverweigerung

auch dann

berechtigt,

wenn ihnen etwas zum Zweck der U e b e r m i t t e l u n g an ihren Chef anvertraut wurde ; u n d ebenso ist es letzterer bezüglich des so v e r m i t t e l t e n „Anvertrauens".

Dagegen

ist Hilfspersonal

anderer A r t

(Schreiber,

Kanzleibeamte u. dgl.) nicht i n die Befreiung eingeschlossen; nicht

dem W o r t l a u t

nach,

gewiss

aber auch nicht unbedingt vermöge

cles

Zweckes des Gesetzes, w e i l die M i t t h e i l u n g an solche Personen v e r m u t h e n lässt, class ein Bediirfniss cler Geheimhaltung nicht empfunden worden sei, u n d dass sie daher auch nicht n u r i m Vertrauen auf berufsmässige Verschwiegenheit gemacht w u r d e 2 9 .

Es k o m m t dazu, class bei

Aufnahme der Bestimmung der Z. 3 des § 52 StPO die Absicht unverkennbar obwaltete, sie auf Personen von einer höheren Lebensstellung, die einige Gewähr gegen Missbrauch bietet, einzuschränken, weil sonst die Nichterwähnung cler H e b a m m e n ganz u n e r k l ä r l i c h

wäre30.

29 8. schon R o s s l i i r t a. a. 0. S 137; ferner G e y e r a. a. 0. S 279 Anm 3 (der das Privilegium des Hilfspersonals „zweifelhaft" rindet); L ö w e Bern 13b u l 7 ; K e l l e r Bern 6; T h i l o Bern 3 zu § 52; D a l c k e Bern 9 (spricht nur von den Vertretern) ; Γ u c h e 11 Bern 5 zu § 52. Auf das Hilfspersonal dehnen das Privilegium aus S c h w a r z e Beni 14 das.; M a y e r Bern 113 zu § 152 österr. StPO. (In letzterem Sinne auch das englische Recht: Ros co e ρ 141.) Eigentlich denkt aber S c h w a r z e nur an den Versuch, durch Vernehmung des Kanzleipersonals über nicht vom Clienteli direct, sondern vom Anwalt selbst erfahrenes das diesem anvertraute an den Tag zu fördern; dies ist allerdings unzulässig. 30 Nicht privilegirt sind auch A p o t h e k e r . Was die Nichterwähnung der H e b a m m e n betrifft, so klingt es freilich sonderbar, wenn darüber bei den Berathungen der RtC ein Abgeordneter sagte: „Die \7erhältnisse seien hier ganz anders gestaltet als bei einem Arzte. Der letztere werde nicht selten aufgesucht, um Wunden zu heilen, welche bei Begehung eines Verbrechens entstanden; die Hebamme werde mitunter zu dem Zwecke aufgesucht, um bei der Begehung eines Verbrechens mitzuhelfen. Wenn gesagt worden, dass ja auch Aerzte sich bei Abtreibungen betheiligen könnten, so erwidere er, dass ein Arzt, der das thue, schon als Mitschuldiger vom Zeugnisse befreit sein würde". Von anderer Seite ward betont, die Hebamme sei weniger als der Arzt „Vertrauensperson in der Familie". Das ist aber nicht allgemein richtig ; in den unteren Ständen verhält es sich, oft anders; es bleibt wohl nur cler im Texte angeführte Grund übrig. Geyer nennt die Auslassung der H e b a m m e n eine „Unterlassungssünde" nicht minder, wie die der Notare. Beide waren von der Commission ursprünglich aufgenommen. Was die Notare betrifft, so berief man sich auf F r a n k r e i c h , wo deren Befreiung übrigens keine vorbehaltlose ist. (Von grossem Interesse ist die eingehende Darstellung von H é l i e § 357, vol. V ρ 588 ss., über das auf seinen Vortrag ergangene Erkenntniss des Pariser Cass.-Ilofes v. 10. Juni 1853, welches die entschiedene Ablehnung in einem früheren Erkenntnisse vorsichtig modificirte. Vgl. übrigens auch Ρ e r r è ve ρ 252 f.) L a s k e r bemerkte dagegen, „der Notar sei in seinem amtlichen Beruf Vertreter des Staates, Vertreter der Oeffentlichkeit, und habe mit Geheimnissen nichts zu

§ 49.

Befreiung von

er Aussage über bestimmte Gegenstände.

d. In ähnlicher Weise, wie den Beamten, ist es den hier erwähnten Vertrauenspersonen überlassen, nach ihrer Beurtheilung ihrer Pflichten ihr Benehmen einzurichten. Sie haben in e r s t e r Linie zu beurtheilen, ob die Voraussetzungen des Privilegiums vorhanden sind, worüber sie dem Gericht jede mögliche Auskunft zu geben haben; in z w e i t e r Linie, ob sie von dem vorhandenen Privilegium Gebrauch machen wollen, worüber sie dem Gericht keine Rechenschaft schuldig sind. Die formelle Berechtigung desjenigen, cler ihnen sein Vertrauen schenkte, beschränkt sich auf die Entbindung vom Geheimniss, welche dem Privilegium ein Ende macht. Dagegen hat er kein Recht, gegen die freiwillige Aussage des Fachmannes Einspruch zu erheben, noch weniger aber das Gericht eine Pflicht, solchen Aussagen aus dem Wege zu gehen, wie dies der letzte Satz des § 348 CPO vorschreibt. Ebenso wenig kann die Ausübung dessen, Avas clas Gesetz als ein Recht des Zeugen construirt hat, eine Verantwortlichkeit vor dem Strafgesetze wegen „unbefugter" Offenbarung von Privatgeheimnissen (§ 300 StGB) begründen; wohl aber kann eine disciplinare Ahndung wegen Verletzung der Berufspflichten begründet sein, wenn offen liegt, dass den Zeugen ungehörige Motive leiteten 3 1 . e. Es ist ganz ohne Einfluss auf clas Privilegium, worauf sich das Geheimniss eines Clienten bezieht. Es ist also nicht nothwendig, thun" (Prot S 806). Fast das gleiche sagen B o r s a n i e C a s o r a t i § 723, vol. I I ρ 385, welche hinzufügen : „Der Notar wird allerdings leicht der Verwahrer vieler Geheimnisse seiner Clienten; aber diese Enthüllungen sind Akte freiwilligen Anvertrauens in Folge von Achtung und Freundschaft, nicht aber vom Gesetz aufgenöthigten und daher dessen Vorsorge fordernden Anvertrauens". Aber gerade diese vertraulichen Mittheilungen (autant qu'ils leur ont été révélés à titre confidentiel) sind es, welche die neuere französische Spruchpraxis schützen will (s. oben). — P u c h e l t Bern 3 zu § 53 weist darauf hin, dass die Notare eher als öffentliche Beamte anzusehen seien, freilich nicht als Bewahrer von Staatsgeheimnissen. 31 L ö w e Bern 18 zu § 52. — Vgl. M e r k e l in HH d. Stil I I I 845; S c h w a r z e zu § 300 StGB. Entscheidend scheint mir, dass das Reichsstrafgesetz, als es erlassen wurde, den Fall der Zeugenaussage sicher nicht mit treffen wollte. In F r a n k r e i c h , wo man allerdings vielfach gerade aus den Bestimmungen des Strafgesetzes das prozessuale Privilegium, in offenbar unzulässiger Weise, herzuleiten suchte, behauptete man nicht selten, dass die Nichtaussage Pflicht cles Fachmannes sei; s. nicht blos C u b a i n , dessen Ansicht oben § 46 Anm 30 u. § 49 Anm 17 erwähnt wurde, sondern auch Ρ erre ve ρ 251 Nr 87, der so weit geht, selbst der Zustimmung des Clienten jeden Einfluss abzusprechen. S. dagegen H é l i e an dem oben Anm 24 angegebenen Orte und die daselbst angeführten Entscheidungen, welche lediglich an das Gewissen des Aclvocaten appelliren. In auffallendem Widerspruche tliut dies auch T r é b u t i e n I I 242. während er daneben der Zustimmung cles Clienten jeden Einfluss versagt.

534

§ 49.

Befreiung von cler Aussage über bestimmte Gegenstände.

dass dieser der Angeschuldigte sei, oder dass er zu diesem auch nur eine Beziehung habe; ebenso wenig kommt es darauf an, dass die vertrauliche Mittheilung irgendwie das dem Rechtsanwalt anvertraute Interesse der Rechtsvertheidigung seines Client en berühre 3 2 . Es genügt , dass er das Geheimniss des letzteren enthüllen müsste und der Ansicht ist, es wäre dies demselben nachtheilig. Man darf nicht übersehen, wie leicht sich dieses weit ausgedehnte Vorrecht z u G u n s t e n d r i t t e r P e r s o n e n gegen den Angeschuldigten kehren kann, wenn ζ. B. Auskünfte über Verhandlungen mit dem angeblich durch die strafbare Handlung beschädigten von dessen Anwalt, oder über den Gesundheitszustand des angeblich verletzten von dessen Arzt für die Führung des Entlastungsbeweises benöthigt werden. 4. Trotz der Erwähnung der Rechtsanwälte mussten die V e r t h e i d i g e r besonders hervorgehoben werden, da diese nicht immer dem Kreise der ersteren angehören. Es ist nun durchaus kein Grund denkbar, warum das Privilegium solcher Vertheidiger ein beschränkteres sein sollte, als das der Rechtsanwälte ; wenn daher auch der Wortlaut „Vertheidiger des Beschuldigten" darauf hinzudeuten scheint, dass dasselbe nur in der Strafsache Geltung hat, in welcher derjenige als Beschuldigter erscheint, in dessen Interesse dem Vertheidiger die Mittheilung gemacht wurde, so nöthigt doch die Vermuthung innerer Consequenz des Gesetzes, von welcher cler Ausleger auszugehen hat, anzunehmen, class die Befreiung für alle Mittheilungen gilt, welche einem Vertheidiger in dieser seiner Eigenschaft, gleichviel ob es sich um die Vertheidigung cles heutigen Beschuldigten oder eines anderen handelte, gemacht wurden 3 3 . Anders nach österreichischem Recht 3 4 , welches ein Privilegium der Rechtsanwälte als solcher nicht kennt und clas der Vertheidiger auf dasjenige beschränkt, „was ihnen in dieser Eigenschaft v o n cl e m B e s c h u l d i g t e n anvertraut worden i s t " 3 5 . I n clem Prozess gegen einen bestimmten Beschuldigten sind 32

Vgl. dagegen H é l i e , Instruction § 357, Y 584. Geyer in HH I 279 unter Hinweis auf § 155 d. preuss. StPO v. 1867; L ö w e Bern 11 ; etwas beschränkter T h i l o Bern 2 (Vertheidiger desselben in einer anderen Untersuchung). 34 U l i m a n n § 80 S 397 und die Commentare zu § 152 Z. 2; H a s s l w a n t e r a. a. Ο. Nr 77. 35 Das Gewicht ist hier allerdings auf die Worte „von dem Beschuldigten" zu legen, demjenigen, welcher in dem Strafprozesse, in welchem der Zeuge aussagen soll, als Beschuldigter behandelt wird oder anzusehen ist; — also nicht, was ein in a n d e r e n Strafprozessen beschuldigter mittheilte (anderer Ansicht M a y e r Beni 109 zu § 152). Dagegen kommt es nicht darauf an, ob clas Anvertrauen ein m i t t e l b a r e s oder u n m i t t e l b a r e s war, sobald die Mittheilung nur clem Ver33

§ 49.

daher Es

nur

Befreiung von

er Aussage über bestimmte Gegenstände.

dessen M i t t h e i l u n g e n

ist dagegen g l e i c h g i l t i g ,

solcher

auch

in

der

an

einen

Vertheidiger

ob der berufsmässige

gegenwärtigen

Strafsache

geschützt.

Vertheidiger

einschreitet;

als

genug,

dass ihm die M i t t h e i l u n g von dem heute beschuldigten gemacht wurde, w e i l er Vertheidiger war.

Ob er zu der Z e i t

theidiger des Beschuldigten war, die M i t t h e i l u n g über

die

Rathes,

Ver-

also namentlich auch aus Anlass von Verhandlungen

Uebernahme der

der b e s t e l l t e

darauf k o m m t es nicht a n ; es k a n n

noch

vor

einer

eventuellen

Einleitung

einer

Vertheidigung

oder

Strafverhandlung

eines erbeten

wurde (ζ. B. weil der spätere Beschuldigte als Zeuge über den Gegenstand cler

späteren

Anklage

gegen

ihn

vorgeladen w a r ) ,

gemacht

worden sein. Z u eleni gleichen Resultat führt auch nach cler deutschen StPO die oben hervorgehobene Consequenz der Z. 3 des § 52 III.

36

.

B e i Berathung cler StPO war von der Reichstagsconiniission

eine Bestimmung vorgeschlagen worden, welche — so wie eine schon bei Berathung des Pressgesetzes vorgeschlagene —

wenn auch

ausgesprochenemîaassen,

Grunde

Privilegium

für

Verleger

und

doch

ihrem

eigentlichen

das der Berufsverschwiegenheit Drucker

anvertraute

cler

Geheimniss

nicht

nach ein

Redacteure, cler

Verfasser,

tlieidiger vermöge des von diesem Beschuldigten in ihn gesetzten Vertrauens zukam (vgl. M a y e r a. a. 0. Bern 114 und die das. angef. Literatur; s. übrigens o. § 28. 29. 30 Man muss hier von dem gleichen Grundsatze ausgehen wie beim Anwalt und anerkennen, class lange ehe jemand in die ausgesprochene Lage eines Beschuldigten geräth, schon Anlass sein kann, den Rath eines Vertheidigers um dieser seiner Stellung willen in Anspruch zu nehmen. Die zu diesem Zwecke gemachten Mittheilungen sind privilegirte. (And. Mein. L ö w e Bern 12; S c h w a r z e Bern 7 zu § 52.) Alle anderen Beziehungen zu clem Vertheidiger entziehen sich dem diesen Beruf schützenden Privilegium ; ist der \7ertheidiger zugleich Anwalt, so schützt das deutsche Gesetz die diesem gemachten Mittheilungen ( S c h w a r z e Bern 5 zu § 52), das österreichische aber nicht. Hat nun aber ein Anvertrauen gegenüber clem Vertheidiger als solchem im Interesse eines später angeklagten stattgefunden, so beginnt das privilegirte Verhältniss, und es ändert daran nichts, dass a. es gar nicht zur förmlichen Bestellung des Vertheidigers kam, dass dieselbe wieder rückgängig wurde, etwa weil cler Vertheidiger die Führung der Vertheidigung ablehnte ( M a y e r Bern 116 clas.), oder weil die Anschuldigung wegen dieser Sache gar nicht erhoben wurde; b. dass die Vertheidigung übernommen, aber nicht geführt wurde ( L ö w e Bern 12 das.), sei es, weil der Vertheidiger durch einen anderen ersetzt ward ( K e l l e r Bern 3; Schwarze Bern 6 clas.) oder weil clas Verfahren eingestellt wurde, ehe es eines Vertheidigungsaktes bedurfte. Dass durch die Bestellung zum Vertheidiger die vorhandene Zeugnisspflicht nicht beirrt wird ( S c h w a r z e Bern 7; L ö w e Bern 12), ist richtig; ein Missbrauch ist aber eben darum auch dann nicht zu besorgen, wenn die der förmlichen Bestellung des Vertheidigers zwar vorhergehenden, aber darauf abzielenden Besprechungen als privilegirt behandelt werden.

536

49.

Herausgeber

Befreiung von cler Aussage über bestimmte Gegenstände.

oder

gründet h ä t t e 3 7 .

Einsender

eines

anonymen Presserzeugnisses

be-

Diese B e s t i m m u n g w a r d schliesslich fallen gelassen

u n d die Sache ist j e t z t u n t e r den allerdings auch i n clem Vorschlage selbst vorangestellten Gesichtspunkt

zu bringen,

inwiefern

die

erst-

gedachten Personen wegen der sie selbst treffenden Verantwortlichkeit eine Ausnahmestellung beanspruchen können. können geltend machen,

seien ; hier sind also clie oben § 46 I I maassgebend.

D i e gedachten Personen

dass sie i n der Sache selbst Beschuldigte bezeichneten Gesichtspunkte

Es k a n n dies am ehesten beim Reclacteur vermöge cler

i h n treffenden V e r m u t h u n g der Thäterschaft

(§ 20 des Pressgesetzes)

der F a l l sein. Seine eigene E r k l ä r u n g k a n n aber an cler Beurtheilung des Falles nichts ä n d e r n , für

weil j a

sich allein e n t s c h e i d e t 3 8 .

überhaupt k e i n Schuldbekenntniss

Die Berufung auf § 54 StPO w i r d i n

37 Vgl. hierüber Z a c h a r i ä , Handbuch I I 194. 195; H o l t z e n c l o r f f , Die Zeugnisspflicht der Zeitungsredacteure. StRZ 1861 S 668—670; Ζ für . . . Rechtspflege in Bayern IX 421—426; Württ. StPO Art. 143; Schwarze, Das Reichspressgesetz v. 7. Mai 1874 (in B e z o l d s Gesetzgeb. des Deutschen Reiches Th. I I I Β 1 S 125 if. B e r n e r , Lehrbuch des deutschen Pressrechtes. Leipzig 1876. S 282 — 285. B i e d e r m a n n , Bericht über den Antrag betreffend den Zeugnisszwang, erstattet dem 10. Journalistentag. Leipzig 1875. v. L i s z t , Lehrbuch des österr. Pressrechtes. Leipzig 1878. § 84. D e r s e l b e , Das deutsche Reichspressrecht. Leipzig 1880. § 49 Anhang. K a y s e r in HH d. StR IV 634—636. D e r s e l b e , Zeugnisszwang S 28. 29. S c h e r er im GS 1878 S 44 ff. H e i n z e , Strafprozess. Erörterungen S 112. I) ο c li ο w, Der Zeugnisszwang S 34 ff". S c h w a r z e , StPO S 183 ff. Geyer § 138 Anm 6. P u c h e l t Bein 2 zu § 52 und Bern 7 zu § 56. K e l l e r Beni 13 zu § 56. B o m h a r d Bern 5 zu § 52, Beni 6 zu § 56. D a l c k e Beni 4 zu § 56. L ö w e Bern 10 zu § 54 und die daselbst angeführten Erläuterungen zu §§ 20. 21 PressG Anh. I I I S 773. Hub erL i e b e n a u in der Ζ des bayerischen Anwaltsvereins XIX 339 — 342. Mot zu §§ 56. 57 der d. StPO S 46. 47. Prot der RtC S 44 ff. 758. 809—815. Bericht der Commission S 15—19 (auch abgedruckt in S c h w a r z e s StPO a. a. O.). Verhandlungen des Reichstages in zweiter Berathung S 429 ff., H a h n S 1740 ff*. 38 Von Seite der Regierung ward bei der Bekämpfung des erwähnten Vorschlages namentlich betont, dass das Pressgesetz dem Reclacteur zwar die Vermuthung der Thäterschaft, aber nicht die des Dolus aufbürde. Verhandl. S 438, H a h n S 1756. Auch in dem Bericht der Commission war übrigens gesagt: „Die Commission will, class, soweit sie nicht in § 44a im Anschlüsse an § 20 Abs. 2 des Reichspressgesetzes eine besondere Bestimmung vorgeschlagen hat, im übrigen die allgemeinen Grundsätze über die Zeugnisspflicht auch in Presssachen zur Anwendung kommen. Die Commission kann sonach als eine Consequenz dieser Anschauung folgende Fälle bezeichnen, auf welche die Bestimmung des von ihr vorgeschlagenen § 44a nicht Anwendung leidet: 1. auf Erzeugnisse, welche nicht zu den periodischen Druckerzeugnissen gehören; 2. auf den Reclacteur einer periodischen Druckschrift, wenn er nicht nach § 20 Abs. 2 des Reichs-PressG als Thäter zu bestrafen ist, sondern die Schlussbestimmung im Abs. 2 des § 20 eintritt ; 3. auf

§ 49.

Befreiung von

er Aussage über bestimmte Gegenstände.

der Regel wenig fruchten, weil die Antwort gewöhnlich nicht für den Zeugen, sondern für Dritte gefährdend sein wird. Vielmehr werden regelmässig alle gedachten Personen nach § 56 Z. 3 StPO als verdächtige Zeugen u n b e e i d i g t zu vernehmen sein; darauf weisen auch die Motive (S 46) hin, wobei nur nicht zu begreifen, wie dieselben erklären konnten, dass vermöge der gerade hiedurch constatirten, wenn auch beschränkten Zeugnisspflicht derselbe Zweck erreicht werde wie durch cjie Bestimmungen solcher Gesetze, welche, wie Art. 143 der wiirtt. StPO, das Recht zur Verweigerung des Zeugnisses ertheilen. — Nach ö s t e r r . R e c h t 3 9 besteht ebenfalls kein P r i v i l e g i u m aus dem Gesichtspunkte der Wahrung des berufsmässigen Geheimnisses; immerhin aber kann im gegebenen Fall auf Grund cles $ 153 StPO zu erwägen sein, ob die Ablegung des Zeugnisses aus dem angegebenen Grunde dem Redacteur u. s. w. zur Schande gereichen würde, in welchem Falle er nur in „besonders wichtigen Fällen" zum Zeugniss verhalten werden soll. Bei dieser Beurtheilung kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass jener Grund cler Regel nach eintrete, da im allgemeinen, eben wreil keine gesetzliche Befreiung besteht , auch nicht angenommen werden kann, dass der bezügliche Verkehr auf cler Basis unbedingter Verschwiegenheit. auch dem Gerieht gegenüber, erfolgte ; es wird sich vielmehr darum handeln, ob individuelle Vorgänge vorliegen, welche eine ausnahmsweise, moralische Verpflichtung zur Verschwiegenheit begründen. IV. Das Versprechen cler Verschwiegenheit , welches ein Zeuge ausser clen vorstehend unter I und I I erwähnten Fällen gegeben hat, giebt unter keiner Bedingung ein Recht, clas Zeugniss zu verweigern 40 . den Redaeteur einer periodischen Druckschrift, wenn er nur nach §21 des RPressG wegen Fahrlässigkeit mit Strafe belegt wird. Die Commission ist ferner von der Anschauung ausgegangen, dass es n i c h t i n dem f r e i e n E r m e s s e n des Réd a c t e u r s stehe, s i c h s e l b s t zum S c h u l d i g e n d a d u r c h zu m a c h e n , dass er die V e r a n t w o r t l i c h k e i t ü b e r n i m m t . Erhält vielmehr das Gericht aus den Verhandlungen Kenntniss von Thatsachen, welche den Redacteur nach der Schlussbestimmung im § 20 Abs. 2 von der an sich begründeten Haftpflicht wieder befreien, so kann der Redacteur nicht durch seine Erklärung das Gericht nöthigen, diese Thatsachen unberücksichtigt zu lassen und eine Haftung anzuerkennen, welche durch dieselben ausgeschlossen ist. Die Commission hat ferner durch die Worte »haftbar ist« aussprechen wollen, class die concrete Gestaltung des einzelnen Falles maassgebencl ist, so class je nach Lage desselben und cler hienach anzunehmenden Haftpflicht cles Redacteurs oder seiner Befreiung von derselben auch die Frage betreffs seiner Zeugnisspflicht sich regelt". 39 L i s z t , Oesterreich. Pressrecht § 84. In sachlicher Hinsicht vgl. auch Ζ f. Rechtspflege in Bayern IX 421-426. 40 Z a c h a r i ä , Handbuch I I 193 Anm 29; G o l t d a m m e r in s. Archiv 1862 S 821; C a r r a r a 1. c. ρ 532.

538

§ 50.

Entgegennahme un

Ablegung des Zeugnisses.

Eine Ausnahme wird eintreten müssen, wenn die Zusage unter Umständen ertheilt worden ist, wo das wahrgenommene unter den Gesichtspunkt der Amtsverschwiegenheit fällt. Nach ö s t e r r . Recht wird immerhin auch in Fällen, wo eine Ehrenpflicht des Aussagenden durch die f r e i w i l l i g e Aussage verletzt würde und der Zeuge aus diesem Grunde die Aussage verweigert, erwogen werden müssen, ob clie Umstände des besonderen Falles gestatteten, darauf Rücksicht zu nehmen 4 1 . , S 50.

Entgegennahme

und Ablegung

des

Zeugnisses.

Auf clie Berufung zum Zeugniss sowie überhaupt auf die Gestaltung der Vernehmung des Zeugen ist bei der allgemeinen Darstellung des Beweisverfahrens bereits oben (Buch I I Abth. I Kap. II) Rücksicht genommen worden. Immerhin aber bleibt noch eine Menge von den Zeugenbeweis speciell betreifenden Punkten hier zu besprechen. I. Die L a d u n g der Zeugen ist zwar nicht Bedingung der Zulässigkeit der Vernehmung (s. oben § 41 I I Nr 1 c), noch — wie mitunter angenommen wird cler Glaubwürdigkeit der Aussage, wohl aber bedarf es der Ladung, um ein volles Recht auf die Vernehmung des Zeugen zu erlangen (a. a. 0 . Nr 3) und um die Pflicht des Zeugen zum Erscheinen zu begründen. Ueber die F o r m der Ladung ist abgesondert zu sprechen; hier genügt es, zu bemerken, dass derselben irgend eine wesentliche Bedeutung nicht zukommt, sobald nur feststeht, dass cler Zeuge in einer keinem Zweifel Raum gebenden Weise erfahren habe, class von einem hiezu berechtigten sein Erscheinen vor Gericht zur Abgabe eines Zeugnisses in Strafsachen gefordert wird, und sobald ihm auch alles clas mitgetheilt ist, Avas er wissen muss, um rechtzeitig am richtigen Ort erscheinen zu können. II. I n erster Linie wird nun die p r o z e s s u a l e Erörterung cler hier in den §§ 47—49 erwähnten Voraussetzungen cler Z e u g n i s s p f l i c h t in Betracht kommen. Wo in dieser Hinsicht öffentliche Rücksichten in Frage stehen, muss das Gericht sie selbst, auch ohne eine Anregung der Betheiligten, sich vor Augen halten. Wo es 41

Das Gesetz sagt nämlich: „Wenn die Ablegung des Zeugnisses oder die Beantwortung einer Frage . . . ihm . . . Schande bringen würde, und er deshalb das Zeugniss verweigert" — eine Fassung, welche nicht nur den Inhalt der Antwort, sondern die Thatsache des Antwortens selbst umfasst. Es kommt bei Eigenthumsdelicten nicht selten vor, dass dem Beschädigten das ihm entzogene zurückverschafft wird gegen seine Zusage, dass er über die Art, wie er es zurückerhielt, Schweigen beobachte. Aehnliches könnte man sich namentlich bei Entführungsfallen, bei Warnungen vor bevorstehenden Mordversuchen u. dgl. denken.

§ 50.

Entgegennahme unci Ablegung des Zeugnisses.

sieh um die Befreiung

von der Pflicht,

der L a d u n g nachzukommen,

bei Gericht zu erscheinen u. s. w., h a n d e l t , auftauchender theilungen schuldigung

Zweifel

der

w i r d die Lösung

der Regel nach auf G r u n d schriftlicher

Geladenen

zu erfolgen haben.

des Ausbleibens

und

der

539

Fälle,

Bezüglich der wo

es

sich u m

etwa MitEntdie

W a h r u n g des Amtsgeheimnisses handelt (§ 53 deutsche StPO), ist oben schon das

wichtigste besprochen.

In

den

übrigen F ä l l e n k o m m t i n

Betracht : 1.

Ob die Zeugen über das ihnen zukommende Recht zu b e -

l e h r e n sind1?

Ausdrücklich ist dies i m Abs. 2 § 51 StPO (bezüglich

der Angehörigen des Beschuldigten), u n d zwar m i t dem Beisatz :

„vor

j e d e r V e r n e h m u n g " 2 , vorgeschrieben ; dagegen wurde dies offenbar vorsätzlich unterlassen bei § 52 (berufsmässige Verschwiegenheit), w e i l hier vorausgesetzt w i r d , dass cler Zeuge vermöge seiner Stellung über sein Recht unterrichtet u n d darauf vorbereitet ist, es auszuüben, woraus nicht f o l g t , dass es untersagt sei, eine darauf abzielende H i n w e i s u n g zu machen, wenn Zweifel über das Zutreffen dieser Voraussetzungen 1

V o i t u s , Controversen I I 153 ff. S c h w a r z e in cler Sachs. Gerichtszeitung 1881 S 97 ff. D e r s e l b e im Commentar Bern 11 zu § 51, Bern 20 zu § 52. T h i l o Bern 5 zu § 51, Bern 8 zu § 52. D a l c k e Bern 5 zu § 51, Bern 12 zu § 52, Bern 3 zu § 54. K e l l e r Bern 6 ff. zu § 51, Bern 9 zu § 53, Bern 5 zu § 54. L ö w e Bern 9 if. zu § 51, Bern 3 zu § 52, Bern 7 zu § 54. G e y e r in HH I S 278. D e r s e l b e , Lehrbuch S 519—521. J o h n , StPO S 552 ff. Mayer Bern 65 if. zu § 152 österr. StPO. H a s l s w a n t e r in der Allgem. österr. Gerichtszeitung 1857 Nr 73. 2 Darin liegt zunächst die ausdrückliche Bestätigung des übrigens vermöge des letzten Satzes des Abs. 2 des § 51 unbestreitbaren Rechtes, in jedem Stadium des Verfahrens, bei jeder Erneuerung der Vernehmung (also bei wiederholter Vernehmung im Vorverfahren, bei Wiedervorrufung eines bereits entlassenen Zeugen in der Hauptverhandlung, bei Erneuerung cler Hauptverhandlung, im Berufungsverfahren) das Zeugniss zu verweigern, den Verzicht zu widerrufen; ferner ergiebt sich daraus die Notwendigkeit jedesmaliger Wiederholung der Belehrung, was wohl nur darauf gerichtet ist, dass eben darüber dem Zeugen kein Zweifel bleiben soll, dass der Verzicht widerruflich ist; im übrigen steht nichts entgegen, dass auf die frühere Belehrung Bezug genommen werde. Dagegen würde bei der Bestimmtheit der gesetzlichen Vorschriften nicht gestattet sein, die erste Belehrung, auch wenn sie clas Recht des Widerrufes mit umfasste, als für die späteren Vernehmungen wirksam zu betrachten, wie dies unzweifelhaft bezüglich der Belehrung über das Recht der Eidesverweigerung selbst in Fällen geschehen kann, wo die Beeidigung der Vernehmung nachfolgt. — Die Belehrung darf übrigens nicht sich auf die Darlegung der abstracten Rechtsregeln oder auf die Constatirung des Rechtes beschränken ; sondern sie muss clem Zeugen die concrete Thatsache, auf welcher sein Recht beruht (also dass d i e s e r bestimmte Angehörige in dieser Sache als Beschuldigter erscheint), bekannt geben.

540

§ 50.

Entgegennahme un

Ablegung des Zeugnisses.

sich ergeben. Wo es sich um die Anwendung des § 54 StPO handelt, ist die Belehrung nicht vorgeschrieben ; sie wird auch in vielen Fällen ganz unmöglich, in anderen Fällen sehr misslich sein, weil sie einen bedenklich suggestiven Charakter annehmen kann. In anderen Fällen wird es dagegen ganz im Geiste des Gesetzes liegen, sie nicht zu unterlassen. Die Belehrung erstreckt sich auch auf das Recht der Angehörigen des Beschuldigten, den Eid zu verweigern. Die Thatsache, dass die vorgeschriebene Belehrung erfolgt ist, muss protokollirt werden; wenn dies nicht geschehen ist, fehlt der Beweis dafür, class einer imperativen Vorschrift des Gesetzes Genüge geschehen sei; es kann nicht angenommen werden, dass der Zeuge freiwillig ausgesagt oder auch nur freiwillig seine Aussage wiederholt habe, und es ist daher Revision wegen Verletzung cles Rechtes der Vertheidigung begründet, wenn das Urtheil auf dem Zeugniss beruht 3 . 2. Die Folgen der unterlassenen Belehrung sind jedoch sehr verschieden, je nachdem es sich um die auf § 51 StPO beruhende Befreiung der Angehörigen des Beschuldigten oder um die anderen Fälle handelt. I n diesen letzteren Fällen ist eben nur eine Vorsichtsmaassregel, die sich empfiehlt, wenn sie überhaupt ausführbar ist, nicht beobachtet worden 4 . Anders verhält es sich dagegen bezüglich des ersten Falles, in welchem das Gesetz keineswegs gestattet, es auf die Initiative des Zeugen ankommen zu lassen. Nach der österr. StPO (§ 152 letzter Abs.) ist cler prozessuale Vorgang bei Vernehmung von Angehörigen cles Beschuldigten so geregelt, dass der Richter sie „vor ihrer Vernehmung, oder doch sobald ihm das Verhältniss zu dein Beschuldigten bekannt wird, über ihr Recht, sich cles Zeugnisses zu entschlagen, zu belehren und ihre darüber erfolgte Erklärung in das Protokoll aufzunehmen" hat. „Hat cler Zeuge auf sein Recht . . . nicht ausdrücklich verzichtet, so ist seine Aussage nichtig". Die Folge hievon ist insbesondere, dass die Verlesung des Protokolles in cler Hauptverhandlung, wenn sie nicht ohne Widerspruch erfolgt, oder die Ablegung der Aussage in der 3

RGE v. 5. Juli und v. 2. Sept. 1880 Rspr I I 161 u. 217. Das erstere Erkenntniss bemerkt sehr richtig, „dass, wenn auch die Befreiung der Angehörigen des Beschuldigten von der Zeugnisspflicht zunächst ein Recht derselben bildet, doch der Angeklagte auch ein Recht darauf hat, dass kein nach den Gesetzen unzulässiges Beweismittel gegen ihn vorgeführt werde". Vgl. K e l l e r Bern 11 zu § 51; J o h n , StPO S 554 ff. 4 And. Mein, ist Geyer, Lehrbuch S 519, der aus der „unabweisbaren Analogie" zwischen den verschiedenen Fällen zu folgern scheint, dass dieselbe sich auch auf die Consequenzen der unterlassenen Belehrung erstrecke (s. Anm 1 das.).

§ 50.

Entgegennahme un

Ablegung des Zeugnisses.

541

Hauptverhandlung selbst, N i c h t i g k e i t der Hauptverhandlung herbeiführt (§ 281 Z. 2). — Es ist somit „ a u s d r ü c k l i c h e r Zeugen Bedingung nehmung

ohne

der Verwendbarkeit

diesen

Verzicht

Verzicht"

des

seiner Aussage; ob die V e r -

erfolgte,

weil

der

Angehörige

des

Zeugen noch nicht Beschuldigter war, w e i l das Verhältniss noch nicht erkannt w a r , oder weil cler Richter regelwidrig vorging, macht dabei keinen Unterschied. — D i e

deutsche

m i t einem s t i l l s c h w e i g e n d e n

StPO

Verzicht,

begnügt sich unter der

setzung der vor ausgegangenen B e l e h r u n g 5 .

dagegen Voraus-

Ist daher die

Belehrung unterblieben, so t r i t t N i c h t i g k e i t cler Aussage unci cles V e r fahrens, i n welchem von i h r Gebrauch gemacht wurde, ein. —

Dabei

darf aber nicht übersehen werden, dass die Belehrung n u r M i t t e l zum Zweck ist.

Sie ermöglicht es dem Zeugen,

sich frei zu entscheiden,

u n d giebt die Beruhigung, class clas Zeugniss ein freiwilliges ist. diese Beruhigung

auf andere Weise gewonnen i s t ,

jene

Gewicht

das 5

gleiche

nicht

gelegt

werden:

k a n n daher der

Mangel

Wo auf cler

Dieser Ansicht ist auch V o i t u s a. a. 0. P u c h e l t Bern 11 zu § 51. S c h w a r z e Bern 10 das. spricht sich eigentlich nur über die Erfordernisse einer ausdrücklichen Erklärung des Zeugen aus und wird daher von V o i t u s für seine Meinung angeführt, von K e l l e r Beni 8 den Anhängern der folgendermaassen von ihm formulirten Gegenmeinung beigezählt: „Der Verzicht. . . muss ausdrücklich festgestellt sein und kann nicht aus der Thatsache der" (nach vorausgegangener und constatirter Belehrung?) „erfolgten Vernehmung abgeleitet werden". Geyer in HH a. a. 0. L ö w e Bern 10 zu § 51 und T h i l o Bern 6 zu § 51 fordern eine bestimmte Erklärung des Zeugen und deren Protokollirung. L ö w e fügt aber hinzu, was das vorausgegangene abzuschwächen scheint : „Der Richter hat sich zu vergewissern, dass der Zeuge die Belehrung richtig verstanden". Sofern übrigens diese Schriftsteller davon ausgehen, dass der Richter die Pflicht habe, zur Vernehmung nicht eher zu schreiten, als er clie Gewissheit erlangt hat, dass cler Zeuge aussagen wolle, und dass es vorsichtig ist, eine ausdrückliche Erklärung darüber zu verlangen und zu protokolliren, ist ihnen gewiss beizustimmen. Die Frage ist aber, ob die Vernehmung n i c h t i g ist, wenn der Zeuge, gehörig belehrt, unweigerlich aussagt. Für die Bejahung d i e s e r Frage bietet ein Gesetz, das clem Zeugen nur das Recht giebt, clas Zeugniss zu verweigern, und dem Richter nur vorschreibt, ihn darüber zu belehren, keinen Anhaltspunkt. — Das RGE v. 28 Januar 1881 Entsch I I I 325 spricht sich ganz in diesem Sinne aus : „Es kann unter Umständen zweckmässig erscheinen, von dem Zeugen eine ausdrückliche Erklärung darüber, ob er von clem Ablehnungsrechte Gebrauch machen wolle, zu erfordern und auf diese Weise jeden Zweifel, ob der Zeuge clen Sinn der Belehrung richtig verstanden habe, auszuschliessen. Das ist aber in das Ermessen des Vorsitzenden gestellt. Denn clas Gesetz forciert nur eine Belehrung des Zeugen über sein Ablehnungsrecht; es reicht mithin aus, wenn aus dem Hergänge selbst erhellt, dass cler Zeuge sein Recht nicht gebrauchen wolle, wenn er sich also nach der Belehrung zur Sache auslässt". \ r gl. J o h n , StPO S 354 ff.

542

§ 50.

Entgegennahme un

Ablegung des Zeugnisses.

Belehrung w i r d also durch die ausdrückliche, deutliche Kenntniss der Sachlage beweisende E r k l ä r u n g des Z e u g e n , beseitigt6. blieb; war,

dass er aussagen wolle,

Dagegen ist es g l e i c h g i l t i g , warum die Belehrung unter-

auch w e n n es beim besten W i l l e n dem Richter nicht möglich den Zeugen zu belehren,

Nichtigkeit

ist

die Aussage n i c h t i g ,

nicht eine Strafe für den R i c h t e r ,

da j a diese

sondern der Ausdruck

des Widerstrebens des Gesetzes gegen die Benutzung solcher Aussagen ohne die erklärte Z u s t i m m u n g des Zeugen ist. I n letzter L i n i e k o m m t es nicht

auf die B e l e h r u n g ,

sondern auf die durch diese gesicherte

freie Entschliessung des Zeugen a n 7 . 3.

Kann

nachträglicher Verzicht auf die Befreiung

der V e r n e h m u n g

ohne Belehrung

(d. h.

stillschweigenden Verzicht) beseitigen? diese Frage

ohne

oder

Es ist k e i n G r u n d vorhanden,

verneinend zu b e a n t w o r t e n 8 .

D e r Zeuge weiss, was er

t h u t , nach cler Aussage besser als vor der V e r n e h m u n g ; 6

den Mangel

ausdrücklichen

die W i e d e r -

Wenn ein Angehöriger etwa freiwillig vor Gericht erscheint und verlangt, als Zeuge vernommen zu werden, dabei das Motiv anführend, das ihn — ungeachtet der gegen seinen Angehörigen schwebenden Untersuchung — dazu bestimmt, so wäre die Belehrung kaum ernst zu nehmen, jedenfalls aber kann kein Gewicht darauf gelegt werden, dass sie fehlt. Damit erledigt sich namentlich auch die Frage, ob der A n z e i g e r anders zu behandeln ist, als andere. (Vgl. S c h w a r z e Bern 7 zu § 51.) Die Anzeige selbst ist ein ordnungsmässig an das Gericht gelangtes Aktenstück, wie nicht minder ein Strafantrag. Beider Geltung ist von einer vorausgegangenen Belehrung nicht abhängig. Soll nun aber zur Vernehmung des Anzeigers oder Antragstellers geschritten werden, so ist dies eine Zeugenvernehmung (nach deutschem Recht wird die \^ernehmung des Privatklägers allerdings nicht als solche behandelt werden dürfen); und die vorausgegangene Anzeige entbindet nicht von der Notwendigkeit, sich des Umstandes zu versichern, dass der Zeuge mit seinem Recht der Zeugniss Verweigerung bekannt ist und darauf verzichtet. Ebenso muss ihm gleich jedem anderen Angehörigen das Recht bleiben, im Verlauf der Vernehmung seinen Verzicht zu widerrufen. (S. dagegen M a y e r a. a. 0. Nr 73, der daneben Nr 74 auch den Fall bespricht, wo der Angeklagte vollkommen geständig ist, was natürlich nichts an dem Recht des Zeugen ändert, wodurch nach deutschem Recht aber vielleicht die Vernichtung des in diesem Falle nicht auf der Zeugenaussage „beruhenden" Urtheils verhindert wird.) Allerdings aber kann sich aus der Anzeige schon deutlich ergeben, dass der Anzeiger auf das Recht verzichten will, und es kann sich dann die Belehrung darauf beschränken, daran zu erinnern, dass die in jener enthaltene Erklärung nicht bindend ist. 7 And. Mein. L ö w e Bern 11 zu § 51; wenigstens erklärt er, der Fall der „zu Unrecht unterbliebenen Belehrung" verlange eine besondere Behandlung; die Folgerung, die er daraus zieht, trifft allerdings nur den Fall, wo der Angehörige des Zeugen noch nicht Beschuldigter war, nicht aber clen, wo clas Angehörigkeitsverhältniss des Zeugen zum Beschuldigten nicht bekannt war. 8 S c h w a r z e im GS 1869 S 66; Bern 9 zu § 51. Geyer in HH I 278. M a y e r a. a. 0. Bern 67 (s. aber freilich auch Bern 71 das.).

50.

Entgegennahme un

Ablegung des Zeugnisses.

543

holung der Vernehmung selbst auf Grund des nun ausgesprochenen \7erzichtes wäre im Vorverfahren, wo sie meist nur in der nochmaligen \ r orlesung und Genehmigung (etwa gar Copirung) des schon niedergeschriebenen bestünde, eine leere, in cler Hauptverhandlung eine lästige und dem Ernst der Verhandlung nicht entsprechende Förmlichkeit, die überdies, wenn man gar fonnstreng sein w i l l , an der Thatsache nichts ändern könnte, dass auch die erste nichtige Aussage in cler Hauptverhandlung erfolgte. Nachträgliche Genehmigung nach Schluss der Hauptverhandlung würde allerdings die in dieser begangene Formverletzung nicht mehr heilen. 4. Dass sowohl der Verzicht auf die Befreiung als die Ablehnung der Aussage jederzeit widerrufen werden können und dass dieser Widerruf selbst wieder widerruflich ist, ergiebt sich aus dem oben § 48 I I Nr 4 gesagten, wobei allerdings der wesentliche Unterschied zwischen clem Recht der Angehörigen des Beschuldigten und dem der übrigen Privilegirten auf gleiche Weise hervortritt, wie bei eleni Erforderniss der Belehrung 9 . Aber erst im Zusammenhange mit cler hier dargestellten prozessualen Entwickelung kann die Frage erörtert werden, inwiefern diesen Wandlungen gegenüber die Verwerthung schon erlangter Aussagen möglich ist. Vor allem ist es hier nothwendig, a. diese Fälle zu unterscheiden von den früher erwähnten, wo die erfolgte Vernehmung an sich nichtig war. Die Aufzeichnung über die nichtige Aussage darf nicht gebraucht werden, so ferne nicht durch eine nachträgliche Genehmigung im oben bezeichneten Sinne die Nichtigkeit geheilt ist. Dabei ist aber e i n e r s e i t s zu beachten, dass die nachträglich angenommene Eigenschaft als Zeuge an der rechtlichen. Natur cler Aussagen nichts ändert, welche dieselbe Person als Beschuldigter oder Mitbeschuldigter abgelegt hat, — a n d e r e r s e i t s , dass der nachträgliche Verzicht auf die Befreiung immer auf die früher bereits abgelegten Aussagen heilend zurückwirkt 1 0 . 9

S c h w a r z e in der Sachs. Gerichtszeitung 1881 S 99 if. geht zwar in Bezug auf die Anerkennung der Angemessenheit der Belehrung nicht so weit, wie im vorstehenden geschah; im Hauptpunkt aber hebt er mit Recht den Unterschied der oben auseinandergehaltenen Fälle hervor, den ich darin finde, dass im § 51 die Initiative des Richters vorgeschrieben, in den übrigen Fällen sie eben nur nicht untersagt ist und daher unter Umständen sich dringend empfiehlt, class ferner im ersten Fall die Aussage nichtig ist, wenn die Freiwilligkeit derselben auch nur zweifelhaft ist, im letzteren Fall nur, wenn clem Recht des Zeugen die verlangte Anerkennung versagt ward. 10 Wenn der ohne Belehrung in der Voruntersuchung vernommene Zeuge in der Hauptverhandlung regelrecht zur Aussage sich bereit erklärt, so kann unter den im § 252 bezeichneten Voraussetzungen auch die frühere Aussage in der

544

50.

Entgegennahme un

Ablegung des Zeugnisses.

b. Den im § 51 genannten Personen ist gestattet, bei jeder neuerlichen Vernehmung neuerdings sich über den Gebrauch ihres Rechtes der Zeugnissverweigerung zu entscheiden und selbst während der Vernehmung auf dasselbe zurückzugreifen. W e n n dies geschieht, so ist die vorausgegangene regelrechte Aussage allerdings nicht fonnwidrig geworden, allein es würde unzulässig sein, sie gegen den erklärten Willen des Zeugen statt der von ihm verweigerten neuen Aussage zu gebrauchen, selbst wo sich die zur Wahrung des Grundsatzes der Mündlichkeit ertheilten Normen dem nicht widersetzen würden. Diesen Hauptfall regelt § 257 StPO, welcher die \ r erlesung der früheren Aussage verbietet, wenn der Zeuge in der Hauptverhandlung das Zeugniss verweigert. (Dasselbe ergiebt sich aus § 252 Z. 3 der österr. StPO.) Nach den Bestimmungen der deutschen StPO wird der Fall, dass die Aussage des Zeugen verlesen wird, wenn er nicht zur Hauptverhandlung geladen war, ohnehin nicht leicht vorkommen ; und andrerseits ist daselbst die u n b e r e c h t i g t e Verweigerung des Zeugnisses in der Hauptverhandlung kein Grund, welcher die Vorlesung der Aussage des Zeugen rechtfertigt. Uebrigens ist aus § 251 noch ferner zu folgern, dass auch eine schriftliche Verwahrung des etwa gar nicht geladenen Zeugen ein Hinderniss der Vorlesung seiner Aussage bildet 1 1 . Wenn dagegen die durch Zurücknahme des Verzichts unterbrochene Aussage in der Hauptverhandlung abgelegt wurde, so könnte darin, dass das Gericht sein Urtheil auf das kraft gesetzmässigen Vorganges Hauptverhandlung verlesen werden ; und sie kann nicht blos in dieser, sondern auch in cler nach dem Tode des Zeugen stattfindenden wiederholten Hauptverhandlung und im Berufungsverfahren benutzt werden. Der Zeuge, der auf sein Privilegium verzichtet, hat nie clas Recht, die Controle zu verhindern, die durch Vergleichung seiner neuesten Aussage mit früheren geübt werden muss. 11 Siehe namentlich L ö w e Beni 1 zu § 250 und Bern 5. 6. 12 zu § 251. P u c h e l t Beni 1 Abs. 3 zu §§ 251 if.; K e l l e r Bern 4 das., welche beide meines Erachtens mit Unrecht S c h w a r z e Bern 4 zu § 251 eine andere Meinung beimessen. Vgl. We s che im GS 1870 S 369 ff. M a y e r a. a. 0. Nr 54-57. 97. \'gl. auch M i t t e r m a i e r im GS 1859 S 97 und H a a g er im GS 1871 S 90 und die dort enthaltene Anführung aus clen Berathungen über die letzte b a d i s c h e Strafprozessordnung. — Ganz verschieden von dem Gebrauch der Aussage als Beweismittel ist die Benutzung derselben in der Anklageschrift, ganz abgesehen davon, dass die künftige Haltung des Zeugen in cler Hauptverhandlung da noch nicht bekannt ist. Vgl. Sitzungsberichte der bayerischen Strafgerichte I I 219. (Die Frage ist für Oesterreich, wo die Anklageschrift in der Hauptverhandlung zu verlesen ist, wichtig. Der Cassationshof hat mit Erkenntniss v. 29. Mai 1880 Samml. der Gerichtszeitung Nr 258 ausgesprochen, dass die Möglichkeit einer bevorstehenden Zeugnissentschlagung nichts an der Nothwendigkeit der Verlesung auch des die Aussage erwähnenden Theiles cler Anklageschrift ändere.)

S 50.

Entgegennahme und Ablegung des Zeugnisses.

545

bereits vernommene stützt, ein Niehtigkeitsgrancl nicht gefunden werden. c. Die regelrecht entgegengenommene Aussage kann im späteren Verfahren als Beweismittel benutzt werden, wenn und so lange dem nicht der ausdrücklich erklärte Wille des Zeugen entgegensteht. Bei der Erörterung dieser vielbestrittenen Frage muss man indess die andere nicht einmischen, ob überhaupt die Bedingungen gegeben seien, unter welchen die Vorlesung eines Vernehmungsprotokolles in der Hauptverhandlung gestattet ist; diese Bedingungen sind allerdings auch für unsere Frage wichtig, da sie gegen willkürliche Unterlassung der Ladung des Zeugen (vermöge der Berechnung, dass so die Gefahr der Zeugnissverweigerung ferngehalten werde) schützen. Hier ist nur zu erörtern, ob der s o n s t g e s t a t t e t e n Verlesung der Umstand entgegenstehen kann, dass der Zeuge vielleicht, wäre er jetzt anwesend, von dein Recht der Verweigerung cler Aussage Gebrauch gemacht h ä t t e 1 2 . Der Hauptfall ist hier der cles eingetretenen Todes des Vernommenen oder eines anderen Hindernisses cler Vernehmung im Sinne des § 250 1 3 . Die Aussage im Vorverfahren (oder bei einer früheren Hauptverhandlung) ist regelrecht entgegengenommen ; die erklärte Einwilligung des Zeugen in ihre Benutzung ist nicht widerrufen die Verlesung also zulässig. 12 Siehe namentlich L ö w e Beni 1 zu § 250. S c h w a r z e Bern 4 zu § 251. M a y e r 1 722. 723 I I Bern 90 zu § 152 ö s t e r r . StPO. M i t t e r b a c h e r Bern 6 zu § 152 österr. StPO. Entscli. des Wiener Cassationshofes v. 2. März 1877 Samml. der Gerichtszeitung Nr 118; s. aber auch Entscli. v. 17. Sept. 1881 Samml. Nr 370. Auf die Einzelheiten des österreichischen Hechtes kann hier nicht eingegangen werden, weil die Bestimmungen desselben über die Zulassung von Verlesungen in der Hauptverhandlung und über die Folgen unzulässiger Verlesungen (namentlich über die Zustimmung dazu) abweichende sind, und sich daraus für die vorliegenden Kragen andere Consequenzen ergeben. Die im Text vertretene Ansicht findet eben darum im österreichischen Strafprozess umfassendere Anwendung, ist aber für diesen mit den gleichen Gründen zu vertreten, wie für den deutschen Strafprozess, jedoch allerdings auch mit der gleichen Einschränkung, dass die Vorlesung nicht gegen den mündlich oder schriftlich erklärten AVillen des Zeugen stattfinden darf. Gerade dies übersieht M a y e r a. a. Ο. Beni 90 (wo sich übrigens eine sehr nützliche Uebersiclit der bezüglichen Controverseli findet), indem er den Fall der Verlesung ohne Zustimmung des Zeugen der g e g e η den Willen desselben erfolgenden gleichstellt. Mit Unrecht polemisirt M a y e r übrigens daselbst gegen die Ansicht P e y r e r s , dass die Verlesung unzulässig sei, wenn der Zeuge bei seiner Vernehmung im Vorverfahren sich gegen die Verlesung in der Hauptverhandlung verwahrt hat. Eine solche Erklärung sollte allerdings als Verweigerung der Aussage behandelt werden; hat man aber die letztere trotzdem entgegengenommen, so steht cler Benutzung in der Hauptverhandlung dennoch der erklärte Wille des Berechtigten entgegen. 13 S c h w a r z e Bern 4 zu § 251.

Binding, Handbuch. IX. 4. I : G l a s e r . Strafprozess. I.

35

546

50.

Entgegennahme und Ablegung des Zeugnisses.

d. Ist die Verlesung der Aussage in der Hauptverhandlung unzulässig, so wäre es — ungeachtet es zulässig ist, dass durch Zeugen aussergeriehtliehe Mittheilungen eines Angehörigen des Beschuldigten erwiesen und benutzt werden (wie schon oben § 48 I I Nr 4 a bemerkt worden) — doch eine unzulässige Umgehung des Gesetzes, das Protokoll über die Vernehmung des Zeugen, nach Widerruf seines Verzichtes, durch die mündliche Aussage über seine Vernehmung zu ersetzen u . (Bedenken erregt da nur der Fall der Confrontation, wo sicher nicht dem Beschuldigten, aber auch kaum einem Zeugen verwehrt werden kann, anzuführen, Avas der mit ihm confrontirte Angehörige des Beschuldigten ihm ins Gesicht gesagt habe.) — e. Was nun die a n d e r e n B e f r e i u n g e n von der Zeugenaussage (§§ 52 54) betrifft, so ist ihre Behandlung in den bezeichneten Richtungen eine mehrfach abweichende. Auch in diesen Fällen ist daran festzuhalten, dass in der Hauptverhandlung das Recht des Zeugen gewisserniaassen neu auflebt. Der Zeuge kann sich von der Ansicht leiten lassen, welche er in dem Augenblicke der erneuten Vernehmung hat, und die Wiederholung dessen verweigern, was er im Vorverfahren ausgesagt hat, zumal nicht behauptet werden kann, dass in der Beantwortung, einer Frage der Verzicht auf das Recht, dieselbe später zu verweigern, liege 1 5 . Allerdings aber kann durch die er14 S c h w ä r z e Bern 1 zu Nr 3 des § 51. D e r s e l b e im GS 1881 S 270 ff. (gerichtet gegen Gösch in der Mecklenb. Ζ I Heft 2). L ö w e Bern 3 zu § 291. K e l l e r Beni 2 das. und Bern 13 zu § 51. G l a s e r in HRLex I I I 1413 Nr 5. An dieser dort etwas schärfer ausgesprochenen Ansicht muss ich auch jetzt noch trotz entgegengesetzter Entscheidungen des Reichsgerichtes festhalten. Mit RGE ν. 1. Nov. 1881 Rspr I I I 678 ff. wurde nämlich ein Erkenntniss aufgehoben, weil dem Antrag der Staatsanwaltschaft nicht stattgegeben wurde, es möge, nachdem eine Zeugin in der Hauptverhandlung ihr Recht der Verweigerung der Aussage ausgeübt, deren in der Voruntersuchung ordnungsmässig entgegengenommene Aussage durch Vernehmung des Untersuchungsrichters als Zeugen bewiesen werden. Denn § 251 StPO verbiete nur die V e r l e s u n g der Aussage, eine darüber hinausreichende Absicht des Gesetzgebers lasse sich so wenig darthun, als ein Recht des Zeugen auf Nichtbenutzung dieser Aussage. Warum hätte denn aber das Gesetz die sonst übliche Methode des Nachweises einer im Vorverfahren abgelegten gerichtlichen Aussage gerade hier durch eine unbequemere und unverlässlichere ersetzen sollen? S. auch RGE v. 30. Juni 1881 Rspr I I I 450 f. (dagegen Geyer in D o c h o w und L i s z t ' s Ζ I 324 ff.) und RGE v. 23. März 1882 Rspr IV 271. 15 G e y e r in HH I 278 Anm 9. L ö w e Bern 2 zu § 251 und Beni 11 zu §§ 51—54. Theilweise abweichender Ansicht ist S c h w a r z e in der Sächs. Gerichtszeitung 1881 S 102 ff. Die Differenz ist geringer als sie scheint, weil sie meines Erachtens unrichtig unter den Gesichtspunkt des V e r z i c h t e s gebracht ist. Der Verzicht hat nur bei § 51 Bedeutung, wo das Zeugniss in seiner Totalität, und nur dieses, Gegenstand der Verweigerung ist, nicht aber bei den anderen Fällen, wo

§ 50.

folgte A n t w o r t

Entgegennahme und Ablegung des Zeugnisses.

das Gericht

in

eine

bessere Lage

547

gesetzt

sein,

die

Grundhältigkeit der W e i g e r u n g zu beurtheilen, u n d dem Zeugen vielleicht die Berechtigung hiezu absprechen, wenn dies ohne die i n den Akten

befindliche

kann namentlich geworden s e i n 1 6 .

frühere A n t w o r t der Zweck

nicht möglich gewesen w ä r e ;

der Antwortsverweigerung

es

unerreichbar

Denkbar ist es ferner, dass i m Falle des § 53 die

Behörde sich einmischt,

welche über das von dein vernommenen Be-

amten (zumal von einem nicht mehr i m Dienst stehenden) zu wahrende Geheimniss verfügt u n d gegen die W i e d e r h o l u n g der Aussage W i d e r spruch erhebt, wozu sie meines Erachtens berechtigt i s t ; während es allerdings richtig ist, dass die von der Dienstbehörde einmal ertheilte Genehmigung weder von i h r

selbst noch von einer höheren Behörde

widerrufen werden k a n n 1 7 . — E b e n aber weil es sich hier u m ein Recht handelt,

das von F a l l zu F a l l auszuüben i s t , u n d die Aussage nicht

einen Verzicht e n t h ä l t ,

k a n n auch von einem W i d e r r u f nicht i n dem

Sinn die Rede sein, dass die abgelegte Aussage rechtsunwirksam würde ; ihrer Verlesung innerhalb der durch §§ 250 ff. bezeichneten Grenzen steht daher nichts i m W e g e 1 8 . es sich immer nur um bestimmte Aussagen handelt, die bestimmten Fragen gegenüber verweigert werden können (was freilich S c h w a r z e a.a.O. S 105 für § 53 nicht gelten lässt). Ein ausdrücklicher Verzicht wird kaum vorkommen, und käme er vor, selten anders widerrufen werden, als wegen Aenclerung der Verhältnisse, welchen Fall S c h w a r z e ohnehin ausnimmt. Der regelmässige Fall ist eben der, dass der Zeuge auf bestimmte Fragen antwortet, olme sich zu weigern ; daraus folgt noch nicht, dass er ein anderesmal auf andere oder auf dieselben Fragen wieder antworten werde, obgleich er das Recht hat, die Antwort zu verweigern. 16 Aehnliche Gesichtspunkte sind es, welche S c h w a r z e a. a. 0. S 104 vor Augen hat; nur geht er von dem Gedanken des Widerrufes eines Verzichtes und von der Notwendigkeit aus, diesen Widerruf zur Befriedigung des Gerichtes zu begründen und zu bescheinigen, während ich umgekehrt glaube, dass mit jeder Frage sich das Recht der Antwortsverweigerung erneuert, dass aber das Gericht durch die früher auf die gleiche Frage ertheilten Antworten in die Lage gesetzt sein kann, die Verweigerung als nicht im Gesetz gegründet zu erkennen. Nur muss man dabei nicht voraussetzen, dass nothwendig der Zeuge dieselbe Antwort geben würde, welche er das erstemal ertheilte; vielmehr wird der Grund der Weigerung oft eben darin liegen, dass der Zeuge unter Eid die frühere Aussage nicht zu erneuern wagt, die Wahrheit aber gerade die Interessen gefährden würde, deren Schonung ihm die §§ 51—54 gestatten. 17 L ö w e Bern 2 zu § 251. 18 Hierin ist allerdings der Fall des § 53 anders zu behandeln (Löwe a. a. 0.) ; denn er statuirt ein \ r erbot, für dessen Einhaltung zunächst der Zeuge zu sorgen hat ; er giebt dem Zeugen die Möglichkeit, aber nicht das Recht, dasselbe zu übertreten ; aus letzterem folgt aber nicht, dass der Richter die constatirte Uebertretung weiter wirken lassen darf. 35*

548

50.

Entgegennahme und Ablegung des Zeugnisses.

5. Wenn der Zeuge die Befreiung in Anspruch nimmt·, so muss er, sofern das Vorhandensein des Befreiungsgrundes einem Zweifel unterliegt, den Richter in den Stand setzen, darüber sich ein Urtheil zu bilden. Nach § 55 StPO hat er sogar die Thatsache, auf welche er die Verweigerung des Zeugnisses stützt (ausser dem Falle, wo es sich um das Amtsgeheimniss handelt), glaubhaft zu machen. „Es genügt die eidliche Versicherung" 1 9 . Bei all dem ist aber daran festzuhalten, dass der Zeuge zu keiner Angabe genöthigt werden darf, durch welche sein Recht schon vereitelt würde. Ueber die Statthaftigkeit der Zeugnissverweigerung entscheidet der Richter, welcher die Vernehmung leitet, also auch der requirirte Richter 2 0 . I I I . Die Z e u g e n v e r n e h m u n g selbst richtet sich nach verschiedenen Grundsätzen, je nachdem sie in oder ausserhalb der Hauptverhandlung vor sich geht; in letzterem Falle muss nach deutschem Recht wieder unterschieden werden, ob eine Vernehmung stattfindet, welche bestimmt ist, die Stelle der Vernehmung in der Hauptverhandlung zu ersetzen ( c o m m i ss a r i s che V e r n e h m u n g ) . Bezüglich der formalen Unterschiede s. oben § § 3 9 und 44. In sachlicher Hinsicht muss sich im Vorverfahren der Richter den Gegensatz der Zwecke dieses Verfahrens und des Hauptverfahrens vor Augen halten. Im einzelnen ist folgendes zu bemerken: 1. Die Vernehmung der Zeugen muss stets in Gegenwart des 19

Dies kann nur die unter dem Zeugeneid abgegebene Versicherung sein. L ö w e Beni 3 zu § 53. (Vgl. auch bezüglich der österr. StPO die speciellen Motive zu § 153 bei M a y e r I 557 f.) Das durch § 55 StPO geschaffene Verhältniss ist folgendes: Dem Zeugen zu g l a u b e n ist in das Ermessen des Gerichtes gestellt und es bedarf dafür keiner Motivirung, BGE v. 9. Oct. 1880 Rspr I I 305; selbst wenn das Gericht der blossen unwidersprochenen Angabe des Zeugen Glauben schenkt, kann daraus, zumal für den mit den Verhältnissen vertrauten Angeklagten, kein Revisionsgrund folgen, RGE v. 2. Juli 1880 Rspr I I 156. (Gegen dieses RGE polemisirt J o h n , StPO S 547.) K e l l e r Bern 5 zu § 51. Versagt das Gericht dem Zeugen den Glauben, so kann dieser jede Art der Bescheinigung beibringen; doch muss sich das Gericht (allerdings ein Bruch des Principe der freien Beweiswürdigung) mit dem Eid begnügen. K e l l e r Bern 1. 2 zu § 55. P u c h e l t Bern 3 u. 4 zu § 55. ( V o i t u s zu diesem Paragraphen äussert einige Bedenken.) S c h w a r z e ebenda. — Fraglich bleibt, wie es hinsichtlich der E i d e s u n f ä h i g e η zu halten sei? Eben weil der Eid des § 55 Zeugeneid ist, darf der Zeuge dazu nicht zugelassen werden, wenn er vom Zeugeneid ausgeschlossen ist; und es bleibt also hier dem Gericht überlassen, ihm mit oder ohne Bescheinigung zu glauben oder Glauben zu versagen. Vgl. übrigens noch oben § 48 Anm 19; ferner S c h w a r z e Beni 3 zu Nr 3 des § 51 (über die Stellung des O b e r r i c h t e r s zur Thatfrage und dessen Beschränkung aufs Protokoll). 20 S c h w a r z e Bern 2 zu Nr 3 des § 51.

50.

Richters und des Schriftführers handlung ergiebt des Vorganges. an,

ob

die

549

Entgegennahme und Ablegung des Zeugnisses.

stattfinden;

bezüglich der

Hauptver-

sich die Zulassung weiterer Zuhörer aus der N a t u r I m Vorverfahren

Prozessbetheiligten

kommt

es zunächst auf die Frage

der V e r n e h m u n g

beiwohnen

dürfen

(s. hierüber oben $ 39 I I I ) . 2.

Jeder Zeuge ist e i n z e l n

zu v e r n e h m e n 2 1 .

nächst eine Collectivabhörung u n t e r s a g t , fällen denkbar w ä r e , trugen22. mender

die sich i n Gegenwart zahlreicher Personen zu-

D e r Zeuge ist ferner i n Abwesenheit anderer

Zeugen

noch

zu

verneh-

zu vernehmen, was i n der H a u p t v e r -

handlung besondere Veranstaltungen nöthig m a c h t 2 3 . 21

Damit ist zu-

wTie sie i m m e r h i n bei V o r -

Der Hauptgrund

T i t t m a n n im NA I I I 478. Z a c h a r i ä , Grundlinien S 113. Eine Art Collectivabhör mag unter Umständen, wenn der Richter sich an Ort und Stelle begiebt, ein geeignetes Mittel sein, die erste Auswahl unter den zu vernehmenden Personen zu treffen, die Reihenfolge der Vernehmung zu bestimmen u. s. w., die V e r n e h m u n g selbst darf aber nie so geführt werden, dass es möglich wäre, anzunehmen, der Zeuge bestätige, Avas andere sagen, nur weil sie es sagen. 23 Die österreichische Strafprozessordnung (§ 162) schreibt vor, der Zeuge sei von dem Untersuchungsrichter „ohne Beisein des Anklägers, des Privatbetheiligten, Beschuldigten oder anderer Zeugen einzeln" zu vernehmen. Die Anwesenheit anderer Personen, welche ohnehin nicht immer zu vermeiden ist, ist nicht unbedingt ausgeschlossen. Die Fassung des deutschen Gesetzes (§ 58), die auch auf die Hauptverhandlung berechnet werden musste („in Abwesenheit der später abzuhörenden Zeugen"), steht ebenfalls der Anwesenheit von anderen Personen, welche nicht als Zeugen abzuhören sind, nicht geradezu entgegen; sie würde sogar gestatten, dass auch in der Voruntersuchung bereits vernommene Zeugen anwesend seien, müsste man diese nicht mit Rücksicht auf die bevorstehende Hauptverhandlung trotzdem auch als „später abzuhörende Zeugen" ansehen. (Vgl. S c h w a r z e Beni 1 zu § 58.) Dass die Heranziehung anderer Personen zur Vernehmung auch ausser dem Fall der Gegenüberstellung oft nöthig oder doch wünschenswertli sein kann, ist nicht zu bezweifeln; z. B. bei Bestätigung cler Identität oder wenn eine Verständigung über zahlreiche Details nöthig ist, bezüglich welcher gegenseitige Unterstützung des Gedächtnisses*. eine Vergleiehung und Ausgleichung cler Angaben nöthig ist. Solche Fälle scheint C a r n o t vor Augen zu haben, wenn er zu beweisen sucht, bei der Procedur auf frischer That gelte die Vorschrift der Einzelvernehmung nicht. Dass die Anwesenheit der S a c h v e r s t ä n d i g e n oft dringend nöthig ist, ergiebt sich aus dem oben § 44 IV Nr 2 gesagten. Ganz unhaltbare Einwendungen erhebt dagegen Jaques in einem Vortrag in der Wiener juristischen Gesellschaft (Juristische Blätter 1881 Nr 49). Er verlangt die Verlegung des Schwerpunktes in die Hauptverhandlung; aber wenn der Sachverständige im \'orverfahren ein Gutachten abgeben s o l l , kann doch nicht unterlassen werden, ihm für dieses Gutachten verlässliche Grundlagen zu verschaffen ; oder soll man in der Voruntersuchung Missverständnisse schaffen, damit die Hauptverhandlung ihren Schweipunkt in deren Aufhellung linde? — K i n d e r in sehr zartem Alter werden fast nie anders vernommen werden können, als in Anwesenheit einen· ihnen nahe stehenden Person ( D u v e r g e r I Nr 351.352; O p p e n h o f f , 22

550

50.

Entgegennahme und Ablegung des Zeugnisses.

dafür ist, dass es zu den wichtigsten Mitteln der Erprobung des Werthes cler Zeugnisse gehört, dass mehrere Zeugen über die gleichzeitigen oder gleichartigen Wahrnehmungen und über Gegenstände, über welche sie unerwartet befragt werden, auch übereinstimmend aussagen. Steht dieses Erprobungsmittel ausser Frage, so kann die Anwesenheit noch zu vernehmender Zeugen sogar nützlich sein. Der Hauptfall ist der der G e g e n ü b e r s t e l l u n g , welche einen dreifachen Zweck verfolgen kann: a. die blosse Vorzeigung zum Zweck der Wiedererkennung (Recognition); b. clen Austausch von Einzelangaben behufs Herstellung einer vollkommenen Uebereinstimniung unter Umständen, wo an der Aufrichtigkeit keines cler beiden Zeugen gezweifelt, dagegen erwartet wird, dass sie sich gegenseitig die Erinnerung auffrischen und ergänzen; c. die Erprobung der Festigkeit unci cles Beharrens auf einander widersprechenden Behauptungen. Die letztere Form der Gegenüberstellung, welche (zumal gegenüber eleni Beschuldigten) unverkennbar etwas peinliches mit sich bringt, wird jetzt in der Regel in der Hauptverhandlung in einfacherer und minder verletzender Weise durchgeführt und kann fast immer auf diese verspart werden (deutsche StPO § 58 Abs. 2, österr. StPO §§ 168 u. 205), Avas bezüglich der beiden anderen Formen der Gegenüberstellung wohl nicht „ohne Nachtheil für die Sache" möglich i s t 2 4 . 3. Die Zeugenvernehmung ist stets eine m ü n d l i c h e . Es wird nicht gestattet, dass der Zeuge seine Aussage statt mündlich in einer Rechtsprechung IX 84); soll auch letztere vernommen werden, so muss dies allerdings vor Vernehmung des Kindes geschehen. Im allgemeinen sollte aber darauf gesehen werden, dass ausser clem Zeugen niemand anwesend sei, dessen Anwesenheit nicht durch einen aktenmässig zu machenden Grund gerechtfertigt ist, schon um zu verhindern, dass die Aussage von anderen eingegeben erscheine. 24 Die Gegenüberstellung war von jeher ein zweischneidiges Mittel. Im alten inquisitorischen Prozess war sie zunächst das naturgemässe, durch die Gerechtigkeit selbst gebotene Correctiv gegen die sonstige Ausschliessung der Parteienöffentlichkeit; jeder entschieden leugnende Angeschuldigte verlangt, dass die gegen ihn sprechenden Zeugen ihm dies ins Gesicht sagen sollen. Eben darum liegt in der Gegenüberstellung eine Art von psychischer Kraftprobe, und auch hier ist diese Kraft keineswegs immer auf Seite der Wahrheit; das gleiche gilt namentlich auch bei einander widersprechenden Zeugen ; und darum mahnen selbst Schriftsteller aus der Zeit des inquisitorischen Prozesses zu höchst behutsamem Gebrauche. A y r a u l t (Instruction judiciaire I I I § 40) meint, „die Zeugen zusammenführen, sie mit ihren Abweichungen und Widersprüchen bekannt machen, damit sie endlich alle zusammenstimmen und gemeinschaftlich angreifen (charger d'un pied plus vivement), das heisst das Geschäft eines Anklägers, nicht eines Richters besorgen, das heisst, es darauf anlegen, zu verurtheilen, aber nicht freizusprechen". Siehe au^h K i t k a ,

50.

Entgegennahme und Ablegung des Zeugnisses.

551

schriftlichen Eingabe mache 2 5 oder sie aus einem mitgebrachten Aufsatze vorlese 26 . Wenn es sich aber um sehr verwickelte Sachen oder um zahlreiche Details handelt oder wenn der Zeuge unmittelbar nach dem Vorfalle bei noch frischer Erinnerung eine Aufzeichnung gemacht hat, kann es im ersten Falle dienlich sein, dass er Notizen benütze, im zweiten, dass die ganze Aufzeichnung entgegengenommen und dem Protokolle beigelegt werde; in beiden Fällen aber muss die Aufzeichnung des Ganges der \ 7 ernehmung deutlich erkennen lassen, unter welchen Umständen die Benützung der Notizen stattfand, und es ist Sache des Richters, durch Erprobung der Beziehung des Zeugen zu dem Schriftstück dafür zu sorgen, dass er nicht durch eine eingelernte oder dictirte Aussage irregeführt werde. Im Vorverfahren ist es nicht selten, dass eine schriftliche Aussage schon überreicht ist, ehe der Zeuge vernommen wird; ganz besonders gilt das von Anzeigen, die der Beschädigte, gewöhnlich der Hauptzeuge, erstattet hat. Wenn sich im besonderen Falle keine Bedenken dagegen ergeben, ist es nicht unzulässig, dass der Inhalt dieses Schriftstückes durch Vorlesung und ausdrückliche Genehmigung im mündlichen Verhöre in eine Zeugenaussage umgewandelt wird. Nur muss der Richter sich völlig davon überzeugen, dass das niedergeschriebene der freie und treue Ausdruck dessen ist, was der Zeuge sagen w i l l , dass er sich der rechtlichen Wirkung dieser Bestätigung und seiner Verantwortlichkeit bewusst sei ; auch muss der Richter sich zu dem vorgelesenen im übrigen verhalten, wie zu jeder anderen zusammenhängenden Erzählung des Zeugen. Eben daraus ergiebt sich, dass dem Zeugen nicht gestattet werden kann, seine Aussage auf Grund eines mitgebrachten Schriftstückes zu d i c t i re 11. — Eine Ausnahme von der Regel Thatbestand 8 168 ff. ; Jage m a n n , Untersuchungskunde 1 §§ 153 ff. — Der wirkliche Nutzen der Gegenüberstellung ist nur da zu erwarten, wo der Richter sie nicht als geistige Tortur behandelt, nicht gegen einen der Gegenübergestellten Partei nimmt, sondern darauf hinwirkt, dass sich die Zeugen gegenseitig Detailpunkte vorhalten, welche geeignet sind, den im guten Glauben irrenden zu überzeugen, die Erinnerung des minder gedächtnissstarken aufzufrischen. Vgl. noch Κ l e i η s c l i r od, Ueber die Notwendigkeit, den Gebrauch der Confrontationen im peinlichen Prozess einzuschränken. Abhandlungen 1. Th. Abb. I I I S 117 ff. 25 L 3 § 4 I) de testib. (23, 5): Alia est auetoritas praesentium testium, alia testimoniorum, quae recitari soient. Can. 15 causa 3 qu. 9: Testes per quamciunque scripturam testimonium non proférant, sed praesentes de his, quae noverunt et viderunt, veraciter testimonium dicant. Vgl. auch F a r i n a c c i us qu. 80 arg. I I η 27 sq. F i l a n g i e r i 1.3 p. I c. 15. Z a c h a r i ä , Handbuch I I 198. H é l i e V 601. 26 F a r i n a c c i us 1. c. η 37 sq. schon mit Hinweisung auf zulässige Ausnahmen. Z a c h a r i ä , Handbuch I I 200. Schwarze Beni 1 zu § 68. L ö w e das. Bern 2. Geyer § 140 I. Roscoe ρ 134. G r e e n l e a f I § 436.

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Entgegennahme und Ablegung des Zeugnisses.

der mündlichen Befragung und mündlichen Antwort tritt bei der Verhandlung mit tauben oder stummen Personen e i n 2 7 (§ 188 deutsches GVG), in welchem Falle die Fragen schriftlich gestellt und die Antworten schriftlich ertheilt werden (§ 169 österr. StPO). 4. Ist bei stummen oder tauben Personen die Verständigung durch die Schrift nicht möglich, oder macht die Verschiedenheit der Sprache 2 8 den directen amtlichen Verkehr des Richters mit dem Zeugen (oder bei Anwesenheit anderer Betheiligten deren Theilnahme ani Verhör) unmöglich, so muss durch Beiziehung eines D o l l m e t s c h die Vermittelung erzielt werden. Bei Verschiedenheit der Sprache gilt als Regel, dass das Protokoll in beiden Sprachen aufgenommen werde (§§ 187 u. 188 des deutschen GVG: §§ 163 u. 164 österr. StPO). 5. Die V e r n e h m u n g 2 9 selbst beginnt mit der Feststellung der Persönlichkeit des Zeugen und seiner Verhältnisse, soweit es des letzteren für die Zwecke des Verfahrens bedarf (§ 67 deutsche. § 1 6 5 österr. StPO). Die mitunter vorkommende (in P r e u s s e n übliche) Unterscheidung zwischen P e r s o n a l - und G e n e r a l f r a g e n , von denen letztere die Beziehungen des Zeugen zur Sache und zum Beschuldigten aufklären sollen, ist ohne Bedeutung. Wichtig ist dagegen der Umfang der zu solchem Zwecke zn stellenden Fragen. An der Spitze steht hier das Verhältniss zum Beschuldigten und Verletzten; danach muss gefragt werden, wenn es nicht ganz ausser Zweifel steht, dass nichts vorliegt, was entweder das Recht zur Zeugnissverweigerung begründen oder Lieht über die Glaubwürdigkeit des Zeugen verbreiten könnte. In letzterer Hinsicht nachzuforschen kann übrigens der Fortsetzung des Verhöres. dem Verhör zur Sache, vorbehalten werden. Was insbesondere die Frage nach dem Vorleben des Zeugen, nach erlittenen Verurtheilungen u. s. w. betrifft, so deutet das deutsche Gesetz mit den Worten : „ e r f o r d e r l i c h e n f a l l s sind 27

GA 1864 S 801-804. Eine Entscheidung des Berliner Obertribunals (GA. 1854 S 540) erklärt die Bestimmungen über Sprachverschiedenheit für unanwendbar, wo es sich nur um durch Verschiedenheit cler deutschen Dialekte entstandene Schwierigkeiten handelt, deren Beseitigung dem Ermessen des Richters überlassen sei. 29 Z a c h a r i ä , Grundlinien S 111 ff. K i t k a , Thatbestand S 104 ff. H e n k e IV 663 ff. Jag e m a n n , Untersuchungskunde J 495 ff. M i t t e r m a i e r , Strafverf. I 570 ff. Bauer, Lehrbuch § 147. W. M ü l l e r , Lehrbuch § 150. W a l t h e r , Bair. StrP S 213 ff. Z a c h a r i ä , Handbuch Π 206 ff. (§ 100). Geyer § 140. U l i m a n n § 81 S 400. K a y s er, Strafgerichts Verfassung S 192. 193. H é l i e , Instr. § 359, vol. V ρ 606 ss. M a n g i l i , Instruction écrite Nr 116 ss., I 195 ss. D u v e r g e r Nr 282—312 vol. I I ρ 350-398. B o r s a n i e C a s o r a t i §§ 757. 743—745, vol. I I ρ 387. 404 sq. Bezüglich der Hauptverhandlung s. noch oben § 44. 28

S 50.

Entgegennahme und Ablegung des Zeugnisses.

553

dem Zeugen Fragen über solche Umstände, welche seine Glaubwürdigkeit in der v o r l i e g e n d e n Sache betreffen, vorzulegen", hinlänglich an, dass der Zeuge nach Möglichkeit geschont werden s o l l 3 0 . Dies gilt namentlich von der öffentlichen Hauptverhandlung; aber auch schon bezüglich der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter ist in § 166 der ö s t e r r . StPO angeordnet, dass nach vorausgegangenen strafgerichtlichen Untersuchungen und deren Ergebniss nicht gefragt werden soll, wenn es nicht „nach den besonderen Umständen des Falles unumgänglich nothwendig ist". 6. \ r o r Beginn der Vernehmung zur Sache muss dem Vernommenen vollkommen klar gemacht sein, dass er als Zeuge in einer Strafsache und unter der hiemit verbundenen Verantwortlichkeit aussage. Es genügt nicht , dass der Erschienene dies schon aus der Ladung wissen soll und kann. Nach der ö s t e r r . StPO (§ 165) geht eine Mahnung, unter ausdrücklicher Hinweisung auf die eventuell bevorstehende Beeidigung, selbst den allgemeinen Fragen voran. Für die Vernehmung im Vorverfahren schreibt § 68 der deutschen StPO vor, dass vor derselben dem Zeugen „der Gegenstand der Untersuchung und die Person des Beschuldigten, sofern ein solcher vorhanden ist, zu bezeichnen ist", eine Anordnung, deren unbedingte Geltung auch für clas Vorverfahren doch unter Umständen die Sicherung cler Wahrheit erschweren, namentlich clen Zeugen zum Nachtheil des ihm namhaft gemachten Beschuldigten, auf welchen vielleicht sein Verdacht sich noch nicht gelenkt hatte, beeinflussen oder von der Angabe solcher Umstände, clie er sonst für wichtig gehalten hätte, abhalten k a n n 3 1 . 7. Die Vernehmung zur Sache ist eine wesentlich verschiedene, je nachdem sie im Vorverfahren oder in cler Hauptverhandlung (zumal als wiederholte) erfolgt. Im allgemeinen aber zeichnen unsere :K) A h e g g im GS 1856 S 62-85. K r ä w e l in GA 1861 S 807-809. J o h n , St PO S 539. " 31 Die Einfügung dieser Bestimmung erfolgte (Prot der Reichstagsconimission S 74. 75) lediglich in Folge der Besorgniss, (lass der Zeuge über ein etwaiges Recht, (las Zeugniss zu verweigern, im unklaren bleiben könnte. — Uebrigens folgt aus der Berathung in der Commission, dass der „Gegenstand (1er Untersuchung", was dasselbe wie Gegenstand des Strafprozesses ist, zugleich als gleichbedeutend mit dem „Gegenstande der Vernehmung" angesehen wurde, was keineswegs immer der Fall ist; bei der Vernehmung über ein behauptetes A l i b i wäre die Aussage gewiss unbefangener und verlässlicher, wenn der Zeuge nur den unmittelbaren Gegenstand seiner Vernehmung erfährt; ein gleiches tritt ζ. B. ein, wenn die Art, wie der Beschuldigte in den Besitz einer Waffe u. dgl. gelangte, durch Vernehmung des Ladenbesitzers festgestellt werden soll u. dgl. mehr. — In der Hauptverhandlung wird die Angabe des Gegenstandes der Verhandlung meist überflüssig sein.

554

.

Entgegennahme und Ablegung des Zeugnisses.

Gesetze derselben den Gang vor, dass zunächst dem Zeugen zu zusammenhängender Darlegung des Gegenstandes seiner Vernehmung Gelegenheit gegeben werden s o l l 3 2 , und dass erst wenn dies geschehen oder nicht zu erreichen ist, einzelne Fragen (besondere Fragen) an ihn gerichtet werden sollen (§ 68 deutsche, § 167 österr. StPO). Der Zweck dieser Fragen ist zunächst Ergänzung der spontanen Aussage und Aufklärung dessen, was in derselben dunkel oder widersprechend scheint, sodann Gewinnung von Anhaltspunkten für d i e B e u r t h e i l u n g des W e r t h e s d e r Z e u g e n a u s s a g e . Dabei handelt es sich in erster Linie darum. Klarheit darüber zu erlangen, dass die Aussage wirklich ein Zeugniss, eine Aussage über eigene Wahrnehmung des Zeugen ist; zu diesem Zweck ist der Grund seines vermeintlichen Wissens zu ermitteln. Unbedingt unzulässig sind sog. c a p t i o s e oder verfängliche Fragen, deren Zweck dahin geht, den Aussagenden dahin zu bringen, dass er unvermerkt eine Thatsache als wahr zugiebt, von welcher angenommen wird, dass er sie freiwillig nicht aussagen würde, und ihn dann durch Vorhalt des Widerspruches an dem abgezwungenen Zugeständniss festzuhalten 33 . Anders verhält es sich mit sog. S u g g e s t i v f r a g e n . Sie bilden eine Abweichung von der Regel, dass das \ r erhör so einzurichten ist, dass das Gericht vom Zeugen erfahre, was er weiss, nicht dieser vom Gericht, was für Aussagen von ihm erwartet werden. Die Suggestivfrage (leading question) enthält vielmehr concrete Umstände, deren Bejahung oder Verneinung vom Zeugen erwartet w i r d 3 4 . Das 32

Es ist dies keineswegs so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick scheint; im römischen Prozess war vielmehr die entgegengesetzte Methode, nach welcher dem Zeugen formulirte Behauptungen vorgehalten wurden, die er dort nicht einmal bestimmt, sondern mit einem vorsichtigen „arbitror" zu beantworten hatte (s. hierüber namentlich C a r m i g n a n i , Teoria IV 151), eingebürgert, und sie hat sich durch den gemeinen Civilprozess hindurch hie und da (z. B. im schriftlichen österr. Civilprozess) bis in die Gegenwart erhalten. In England werden zwar Suggestionen dieser Art für unzulässig angesehen, aber andererseits werden ganz spontane Erzählungen ebenso wenig zugelassen; es ist Sache des Vernehmenden, dem Zeugen Fragen vorzulegen, die ihn dahin führen, sich über bestimmte Thatumstände, die aber in der Frage selbst nicht angegeben sind, auszusprechen. 33 Allerdings haben diese Fragen grössere Bedeutung im \ 7 erhör des Angeklagten. Vgl. z. B. Z a c h a r i ä , Grundlinien S 117. Oesterr. StPO § 200. 34 Oesterr. StPO § 167. „Fragen, durch welche ihm Thatumstände vorgehalten werden, welche erst durch seine Antwort festgestellt werden sollen, sind möglichst zu vermeiden, und wenn sie gestellt werden müssen, im Protokoll ersichtlich zu machen". R u l f , M a y e r und M i t t e r b a c h e r zu diesem Paragraphen und U11 m a n n §81 S 401. — Vgl. Geyer § 140 I I I ; Z a c h a r i ä a. a. 0. S 115. — Ueber das in diesem Punkte sehr sorgsame englische Recht s. Roscoe ρ 130. 131,

50.

Entgegennahme und Ablegung des Zeugnisses.

555

Verbot solcher Fragen kann nicht unbedingt hingestellt werden; am wenigsten Bedeutung hat es für die wiederholte Vernehmung desselben Zeugen über denselben Gegenstand. Aber auch sonst lassen sich sehr entschiedene Vorhalte bei bedenklich zurückhaltenden Zeugen gar nicht vermeiden. 8. So wenig sieh sonst feste Regeln über den Inhalt der Fragen aufstellen lassen, so wichtig ist es, dass festgehalten werde, was d e r Z w r e c k d e r F r a g e s t e l l u n g ist, weil nur auf diese Weise die aus dem Fragerecht der Parteien unvermeidlich entspringenden Streitigkeiten vom Gericht entschieden werden können. Insofern hat clie T h e o r i e des Z e u g e n b e w e i s e s 3 5 , als clie Darstellung der Gründe, auf denen die Beweiskraft des Zeugnisses ruht, und derjenigen, welche diese schwächen und untergraben, auch für das geltende Recht, trotz der Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung und der meist ausgeschlossenen Ueberprüfung derselben, eine sehr grosse Bedeutung. Hier kann in dieser Hinsicht mehr nicht als die allgemeinste Andeutung gegeben werden: Die Beweiskraft cler Zeugenaussage, als der Angabe über des Zeugen eigene Wahrnehmung, beruht darauf, class wenn jemand bestimmt versichert , eine Thatsache selbst wahrgenommen zu haben, die Thatsache sich auch zugetragen haben m u s s , sofern jene Person nicht bewusst oder unbewusst die Unwahrheit aussagt. Beides ist nach allgemein menschlichen Verhältnissen nicht zu vermuthen, weil es beschwerlicher und gefährlicher ist, die Unwahrheit zu sagen und zu behaupten, und weil im allgemeinen der Mensch über seine sinnlichen Wahrnehmungen sich nicht täuscht, sich derselben erinnert und auch fähig ist, sich bezüglich derselben verständlich auszudrücken. Daraus folgt: A. Das Zeugniss hat Beweiskraft, wenn und soweit der Zeuge a. zu der Zeit, wo er die Wahrnehmung gemacht haben will, die volle geistige und körperliche Befähigung für dieselbe hatte; b. seine volle Aufmerksamkeit clem wahrzunehmenden Gegenstände zuwendete ; c. die gemachte Wahrnehmung treu im Geclächtniss bewahrt hat; cl. die Fähigkeit besitzt, über die gemachten Wahrnehmungen treu und in einer jedes Missverständniss abschliessenden Weise zu berichten; e. dies auch zu thun entschlossen ist; und dies hängt wiederum davon ab, ob sich nicht aus seinen Beziehungen zu den an der B e s t §§ 641—643, insbesondere aber über den Einfluss des Unterschiedes zwischen Haupt- und Gegenverhör S t e p h e n , General view eli. V ρ 160. 3Γ> G l a s e r , Zur Kritik des Zeugenbeweises. GS 1881 S 1—100.

556

50.

Entgegennahme und Ablegung des Zeugnisses.

Strafsache b e t h e i l i g t e n P e r s o n e n oder zu dem G e g e n s t a n d e s e i n e r A u s s a g e für ihn Motive ergeben, die Wahrheit zu verschweigen oder selbst die Unwahrheit anzugeben. B. Ein ferneres Mittel, die Wahrheit der Aussage zu erproben, liegt in der sorgfältigen Beachtung ihrer i n n e r e n B e s c h a f f e n h e i t und der Art und Weise ihrer Ablegung. Es kommt darauf an, ob sie nicht selbst etwas enthalte, oder in einer Weise abgelegt werde, wodurch der Beweis dafür erbracht wird, dass die unter A erwähnten Voraussetzungen bei clem Zeugen nicht zutreffen. C. Ferner ist das Augenmerk darauf zu richten, ob der Inhalt der Aussage ganz oder theilweise isolili: ist, oder ob er durch Uebereinstimmung mit den Ergebnissen anderer Erkenntnissquellen bestätigt, durch bei dieser Vergleichung sich zeigende Nichtübereinstimmung zweifelhaft gemacht werde. D. Endlich kommt es auch auf die s t a a t l i c h e n V e r a n s t a l t u n g e n für die Sicherung des Werthes der Zeugenaussage an; diese betreffen namentlich die B e s t r a f u n g des f a l s c h e n Z e u g n i s s e s , die Aufstellung der schon besprochenen Normen für die Auswahl, Heranziehung und Vernehmung der Zeugen, insbesondere aber die nunmehr eingehend zu besprechende B e e i d i g u n g der Zeugenaussage. § 51.

D i e B e e i d i g u n g der

Zeugenaussage

I. Zu allen Zeiten ward auf die Beeidigung des Zeugnisses ein entscheidendes Gewicht gelegt, sowohl wegen der Ueberzeugung, dass 1 H e n k e IV 528. 529. M i t t e r m a i e r , Beweis 291. 292; Strafverfahren II 133 ff. v. Jage m a n n , Untersuchungskunde II 512 ff. K i t k a , Thatbestand S 187—193. 197—200. D e r s e l b e , Beweislehre S 132 ff. Z a c h a r i ä I I 208 ff. P l a n c k , Systematische Darstellung S 364 Nr 4. 366. 367. Η ο 1 z i η g e r , Württemb. StPO I I 626—629. W a l t h e r , Bair. StPR S 210. 211. W u r t h S 268 ff. R u l f . StPO v. 1853 I 225 ff. v. H y e - G l u n e k , Leitende Grundsätze S 193 ff. Oppen h o f f S 276 ff. Schwarze", StPO v. 1855 I 305 ff. M i t t e r m a i e r im GS 1859 S 93 ff. W i r k im GS 1866 S 221 ff. A h e g g im GS 1867 S 257 ff. S c h w a r z e in den Neuen J f. sächs. Strafr. IX 39 ff. P e y r e r in Haimerls Magazin V 244 ff. P e t e r s e n in GA 1881 S 285 ff. (Beeidigung cler Zeugen im Vorverfahren). G e y e r in HH I 281 ff., Lehrbuch §§ 136 — 139. B i n d i n g , Grundriss S 81 I I Ι), V C. U l i m a n n § 82 S 402 ff. H é l i e , Insti·. § 358 V, vol. V ρ 598 ss. § 639, vol. V I I I ρ 737 ss. B o r s a n i e C a s o r a t i §§ 738—740, vol. I l ρ 397 ss. §§ 1525—1532, vol. IV ρ 389—407. van L e eu we η, De eed en de moderne staat. Utrecht 1882. V. J e a n v r o t , La question du serment. Paris 1882. Mittheilungen über die Eidesfrage bei T e i c h m a n n im GS 1882 S 307 ff., G a r r a u d in Liszts Ζ I I I 166. Rechtsgeleerd Magazijn I ρ 1—13 (van S w i n d ere η): ρ 138—142.

S 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

557

weitaus die Mehrzahl selbst derjenigen, welche vor einer Lüge sich nicht scheuen, vor der Beeidigung derselben zurückschrecken, als auch weil der Eid die Gewähr dafür bietet, dass der Zeuge das, was er so aussagt, nicht mit gewöhnlichem leichtfertigen Gerede verwechseln könne, dass es ihm Ernst mit seiner Aussage sei. Die Vorstellung also, dass nur eine beeidete Aussage ein wirkliches Zeugniss ist, wurzelt so tief, dass sie sich selbst im materiellen Strafrecht ausprägt. Auf der anderen Seite aber ist der Eid das einzige äusserliche Merkmal des Zeugnisses, welches willkürlich hinzugefügt oder abgeschnitten werden kann; an die Seite der faetischen Unmöglichkeit der Beschaffung eines beeideten Zeugnisses tritt dadurch die juristische. Statt der Verbürgung der Wahrhaftigkeit des Zeugen durch den Eid wird die Wahrhaftigkeit des Eides durch die verniuthete Wahrhaftigkeit des Zeugen verbürgt, das Misstrauen gegen letztere bewirkt die Ausschliessung vom Eide 2 . Gleichviel aber, ob der Eid factisch nicht zu erlangen oder gesetzlich ausgeschlossen ist, es musste die Frage entstehen, ob deshalb die Aufklärung über den Sachverhalt ganz verloren gehen soll, welche durch eine nicht beeidigte Aussage zu erlangen wäre. Die gemeinrechtliche Praxis bahnte dieser Aufklärung durch die Vermischung von Information und Beweisaufnahme den Weg, und s i e konnte es, ohne clen Fundamentalsatz völlig zu verleugnen. Der französische Strafprozess übertrug, trotz cler Einführung freier Beweiswürdigung und cler Sonderung cler Stadien cler Information und der Beweisaufnahme, jenes Auskunftsmittel in sein neues System in der doppelten Gestalt: dass einerseits clie Unzulässigkeit cler Beeidigung cles Zeugen der Grund für seine Behandlung als blossen Informativzeugen ist, andrerseits umgekehrt die Unterlassung cler Beeidigung das Mittel für die Herabdrückung cles Zeugnisses zu einer blossen Auskunft (renseignement), aber auch für die Benutzung von durch gesetzliche Bestimmungen ausgeschlossenen Beweismaterialien i s t 3 . - A h e g g im Ci S 1867 S 263: „Indem die Person zum Schwur verstattet wird, bürgt vielmehr sie selbst für den Eid, als dieser für sie". A h e g g führt dafür ein Wort aus A i s c h y l o s an: „Nicht macht der Eid den Mann, es macht der Mann den Eid verbindlich". Die Nichtbeeidigung der kraft der discretionären Gewalt des Präsidenten vernommenen hat nicht ihren Grund im Misstrauen gegen die Aussage; sie soll gewissermaassen einen Ersatz dafür bieten, dass dieselben nicht in der gesetzlichen Form und unter Umständen geladen wurden, welche den Parteien die Vorbereitung ermöglichten. Aber man benutzte dies, um Personen, die clas Gesetz vom Zeugniss ausschloss, trotzdem vernehmen zu können, indem man nur unterliess, sie zu beeidigen ; ja man kam endlich zu einer rückwirkenden Vernichtung des Eides unter

558

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

Das Beweissystem

unserer

dass k e i n äusserliches M e r k m a l stattet,

einem Zeugniss

Gesetze beruht

auf dem

gefunden werden k a n n ,

noch vor cler Prüfung

Gedanken, welches ge-

seines Inhaltes

den

Glauben unbedingt zu versagen oder zu gewähren, — dass auch der Eid

nur

ein solches äusseres M e r k m a l i s t . dessen Mangel,

wenn er

nicht durch g e s e t z w i d r i g e W i l l k ü r herbeigeführt ist, das Zeugniss nicht unbedingt entwerthet, wohl aber zu doppelt vorsichtiger Prüfung desselben mahnt, — u n d dass es i n Folge dessen rathsam ist, durch die Ausschliessung des Eides

diese M a h n u n g

i n solchen F ä l l e n ein-

t r e t e n zu lassen, wo andere äusserliche M e r k m a l e Misstrauen gegen das Zeugniss erregen.

Eben darum

aber g i l t

dass das Zeugniss beeidet werden muss,

als gesetzliche Regel,

wenn nicht eine ausdrück-

liche B e s t i m m u n g des Gesetzes davon befreit oder ausschliesstA II.

Befreit

vom Zeugeneid sind

1. nach § 57 Abs. 2 diejenigen Personen, welche als Angehörige des

Beschuldigten

das

Zeugniss

verweigern

können5;

sie

sind

einerseits berechtigt, „auch nach cler V e r n e h m u n g die Beeidigung des Zeugnisses zu verweigern" ; andererseits hängt es (Abs. 1 das.) „von dem richterlichen Ermessen ab, ob sie unbeeidigt zu vernehmen oder Aufrechthaltung der Aussage. Siehe namentlich die Aufzählung hei A n s p a c h ρ 160. 161. Siehe auch M i t t e r m a i e r GS 1859 S 94. 96. GA 1863 S 464 ff. Diese zumeist durch die Willkür der Praxis gezogenen Consequenzen sind es, welche die deutsche Gesetzgebung zur Abschaffung der discretionären Gewalt (§ 243), oder vielmehr zur Uebertragung derselben vom Vorsitzenden auf das Gericht, die ö s t e r r e i c h i s c h e (§ 254 Abs. 2) aber zu der Anordnung bestimmten, dass über die Beeidigung der neuen Zeugen und Sachverständigen das Gericht nach deren Abhörung und nach Vernehmung der Parteien zu entscheiden hat. 4 Dieses System billigt im allgemeinen G e y e r , HH I 282. 283 und Lehrbuch § 136. Für die gänzliche Ausschliessung unbeeidigter Zeugnisse namentlich P l a n c k , Darstellung S 366. 367, dem ' J o h n , Kritik S 180 beistimmt. Siehe auch W i r k im GS 1866 S 221 ff. Umgekehrt bekämpft Schwarze Bein 2 zu § 56 die entschiedene Ausschliessung des unbeeidigten Zeugnisses Eidesfähiger als Abweichung vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung und „Festhalten an den Sätzen der alten Beweistheorie", m. E. mit Unrecht. Die Strafprozessordnung verbietet dem Richter nicht, „sein Urtheil auch auf unbeschworene Aussagen eidesfaliiger Zeugen" zu stützen, da dies vollkommen zulässig ist, wenn die im Vorverfahren entgegengenommene unbeeidigte Aussage in der Hauptverhandlung verlesen wird. Sie verbietet dem Richter nur, willkürlich von der gesetzlichen Regel des Verfahrens abzugehen. Die von S c h w a r z e hier angeknüpfte Frage des V e r z i c h t e s wird unten noch zu besprechen sein. — Principiell verschieden von der im Text dargelegten Anschauung ist die J o h n s , StPO S 582 ff., der es als einen durch das Princip der freien Beweiswürdigung nur modificirten Satz hinstellt: „Die Zeugen, denen der Richter nicht glauben darf, sind die unbeeidigten Zeugen". B G e y e r in HH I 286. 387; Lehrbuch § 139 IV.

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

zu beeidigen s i n d " . Diese letztere Bestimmung reiht sie der Sache nach i n die Kategorie der verdächtigen Zeugen, u n d würde erst unter I I I zu besprechen sein, wäre es nicht des Zusammenhanges wegen geboten, sie Mer zu berücksichtigen.

I m Sinne der deutschen StPO liegt es offenbar,

dass den Angehörigen des Angeklagten die Aussage möglichst erleichtert 6 , dass aber auch die naheliegende V e r f ü h r u n g zu Meineiden möglichst vermieden werde. Die Sache k a n n also den V e r l a u f nehmen, dass bei V e r n e h m u n g von solchen Personen die Beeidigungsfrage gar nicht berührt w r i r d ,

was u m

so eher ausführbar i s t , weil das „richterliche

Ermessen", von welchem des Vorsitzenden

7

§ 57 Abs. 1 spricht,

i n erster L i n i e

das

ist, unbeschadet der A n r u f u n g des Gerichtes durch

ü Auf diesen meines Eraehtens entscheidenden Grund weist K e l l e r Bern 1 zu § 57 hin; er ist auch im Bericht der Commission S 15 ausgesprochen, welcher die aus deren Initiative hervorgegangene Einfügung des jetzigen Abs. 2 des § 57 (Prot 8 53) auch damit begründet, dass die Angehörigen „aus einer gewissen Scheu vor der Eidesleistung" diese ablehnen, obgleich sie sich wohl selbst dazu verstehen, ein dem Verwandten nachtheiliges Zeugniss abzulegen. Den dort weiter geltend gemachten Grund: es könne der Angehörige „durch die Beeidigung leicht in eine gleiche Collision der Pflichten ge rath en", „wie diejenige ist, welche den Anlass zur Befreiung von der Zeugnisspflicht gegeben" — kann ich mir nicht recht erklären, da doch das Gesetz unmöglich den Zeugen ermuntern wollen kann, Aussagen zu machen, welche so beschaffen sind, dass cler Eicl zur Aenderung derselben zwingen würde. — Ebensowenig ist es richtig, dass die Befreiung vom Eid als eine selbstverständliche Folgerung aus cler Befreiung vom Zeugniss, als ein in dem grösseren mitenthaltenes geringeres anzusehen sei ( P l a n c k S 234, Z a c h a r i ä I I 209, K e l l e r Bern 1 zu § 57), als eine „nothwendige Ergänzung des § 51" (Geyer in HH I 286). Gewiss entfällt mit der Aussage auch deren Beeidigung; etwas anderes aber ist das Vorrecht, auszusagen und doch das allgemeine Beglaubigungsmittel nach Belieben anwenden zu lassen oder auszuschliessen; das ist nicht ein Weniger, sondern ein Mehr. (Vgl. übrigens was gegen die Einräumung dieses Privilegiums W i r k im GS 1866 S 227 vorbringt.) Auch bei Berathung cler österr. Strafprozessordnung schwankten die Ansichten hier zwischen Einräumung des Hechtes, den Eid zu verweigern , Ausschliessung vom Eicl und unbedingter Auferlegung desselben. ( M a y e r , Handb. I 574—581.) Zuletzt gab für letzteres, wie es in den Mot der letzten Regierungsvorlage heisst, die Erwägung den Ausschlag, class die den Angehörigen des Beschuldigten gewährten Rechte diesem unter Umständen auch gefährlich werden können. 7 Gleicher Ansicht K e l l e r Bern 5 zu § 237, P u c h e l t Bern 2 zu § 57, J o h n StPO S 547 (analog E h m ei er Bern 3 zu § 161 der preuss. StPO v. 1867. welche nur ausnahmsweise die „Belegung mit clem Zeugeneide" gestattete, „wenn es sich um eine That handelt, welche gegen Angehörige cler Familie begangen wurde"). In gleichem Sinne RGE v. 18. Nov. 1880 Entscli I I I 46, clas gleiche Erk. Rspr I I 520, wo es das Datum des 15. Nov. 1880 führt. „Erst im Falle der Beanstandung muss die Entscheidung des Gerichtes herbeigeführt werden" ; sonst übt der Vorsitzende das ihm nach § 237 zukommende Recht aus. And. M. L ö w e Beni la zu § 57. Gerade cler Umstand, class die Nichtbeeicligung als Regel

560

§ 51.

irgend

welche

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

Betheiligte.

Sache, wenn es auch verfolgenden dass

Worten

regelmässig

(manche

nicht „nach

Ohnehin gerade der

die Beeidigung

meinen selbst

liegt

es

in

der

Natur

aus d e n , einen andern

Vernehmung" bis

im

Abs.

nach vollendeter

bis gegen Ende

2

der

Zweck folgt 8,

Vernehmung

des Beweisverfahrens)

aus-

gesetzt w e r d e 9 . D i e Hauptsache ist,

dass man dem Zeugen gegenüber die Frage

seiner Geneigtheit, den E i d zu leisten, nicht zur Sprache bringen soll, wenn m a n nicht beabsichtigt, sich dies ä n d e r n ,

i h n dazu zuzulassen;

allerdings k a n n

wenn etwa der Zeuge selbst, ehe er darüber Be-

schluss fasst, ob er clas Zeugniss verweigert, sich danach

erkundigt,

ob er auch schwören müsse, oder wenn der Vorsitzende der Ansicht ist,

dass die Belehrung

über

das Recht

der Eidesverweigerung

Fassung jenes Entschlusses förderlich sein könnte.

der

W a n n i m m e r aber

das Gericht den Zeugen zur Leistung des Eides auffordert, muss dieser über sein Hecht, den Eicl zu verweigern, ausdrücklich belehrt werden. So sehr sich n u n auch diese Belehrung von der i m § 51 Abs. 2 erwähnten u n t e r s c h e i d e t 1 0 ,

so stellt

das Gesetz beide

einander

voll-

vorausgesetzt wird, wie L ö w e bemerkt und die Mot zu § 57 bestätigen, spricht dafür, dass so lange nicht von irgend einer Seite die Beeidigungsfrage angeregt ist, der Vorsitzende, ohne sie zu berühren, zur Vernehmung schreiten kann. Ueberhaupt bedarf es, da der Grund der Nichtbeeidigung im Protokolle ohnehin ersichtlich ist, da für dieselbe weitere Gründe nicht angeführt zu werden brauchen, irgend einer positiven Action nicht (s. unten Anm 9). — Eine andere Frage bezüglich des „richterlichen Ermessens" betrifft das Verhältniss des Untersuchungsrichters, des ersuchten und beauftragten Richters zum erkennenden Gericht. Greifen diese nicht, indem sie selbständig entscheiden, dem Ermessen des erkennenden Gerichtes vor? In erster Linie wird anerkannt werden müssen, dass von letzterem ersuchte oder beauftragte Richter sich an etwa über die Beeidigung der Angehörigen ertheilte Aufträge zu halten haben (soweit eben nur das Ermessen entscheidet), wo aber diese fehlen, nach ihrem eigenen Ermessen und zwar in einer Weise handeln müssen, welche der des Gerichtes möglichst wenig vorgreift, d. h. sie werden im Zweifel nicht beeidigen, weil die Aussage sonst als eine beeidete verlesen würde. 8 Wie K e l l e r Bein 5 zu § 57 meint. 9 Dass das Gericht vollkommen freie Hand hat, selbst wenn die Aussage im Vorverfahren bereits beeidet ist, anerkennt das RGE v. 16. Febr. 1880 Rspr I 358. Daselbst heisst es auch (vgl. Anni 7): „Die Entscheidung, welche aus richterlichem Ermessen fliesst, bedarf nothwendig nur insofern einer Begründung, als die gesetzlichen Voraussetzungen . . . als vorhanden festgestellt werden müssten". Siehe auch RGE v. 4. März 1881 Entsch I I I 370. 10 Die Belehrung darüber, dass die Aussage nicht beeidigt zu werden brauche, kann nur zu leicht den Eindruck hervorrufen, dass der Zeuge es mit der Wahrheit· derselben nicht genau nehmen müsse.

51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

kommen gleich; die Abnahme des Eides ohne vorausgegangene Belehrung ist daher ein Revisionsgrund n . Das Gesetz hebt ausdrücklich hervor, dass dem Zeugen das Recht der Eidesverweigerung „auch nach der Vernehmung" zukomme; damit sollte wohl angedeutet werden, dass der Zeuge nicht ausdrücklich vor der Einwilligung in die Vernehmung sich die Nichtbeeidigung zu stipuliren brauche, dass ein stillschweigender Verzicht darin nicht liegt ; allein auch cler ausdrückliche Verzicht muss als widerruflich angesehen werden. Auch die ausdrückliche Versicherung, die § 66 forciert, kann bei einer späteren Vernehmung verweigert werden 1 2 . — Das Recht der Eidesverweigerung hält gleichen Schritt mit clem Recht, das Zeugniss zu verweigern ; bei einer Mehrzahl von Mitbeschuldigten genügt daher die Beziehung des Zeugen zu einem derselben, um ihm beide Rechte zu geben, also auch clas Recht, clen Eicl ganz zu verweigern; allein mit clem Recht der Zeugnissverweigerung entfällt das Recht cler Eidesverweigerung, und niemals darf zugelassen werden, dass der Zeuge nur einen Theil seiner Aussage unter Eicl stellt, etwa weil dieser den ihm verwandten Mitbesehulcligten nicht betreffe 13 . 2. Ausserdem kommen nur p a r t i e l l e B e f r e i u n g e n von cler Eidespflicht in Betracht, d. i. solche, welche nur den Nachlass sonst obligatorischer Formen cler Beeidigung mit sich bringen, die Eidespflicht als solche aber nicht berühren. Hieher gehört: 11 L ö w e Beni 6 zu § 57 ; S e li w arz e Beni 4, I) a 1 ek e Bern 2 das. — Diese Belehrung kann natürlich dann entfallen, wenn aus den Erklärungen des Zeugen deutlich hervorgeht, dass er in voller Kenntniss seines Rechtes ist; nur ist nicht ohne weiteres anzunehmen, dass ihm auch bekannt ist, dass das Recht bei jeder neuen Vernehmung neu ausgeübt werden kann. Mir scheint, dass das Schwergewicht hier nicht dorthin fällt, wohin es fallen sollte. Der unweigerlich wenn auch ohne Belehrung geleistete Eid macht das Verfahren gewiss weniger bedenklich, als umgekehrt die von der Belehrung nicht begleitete Aufforderung zum Eid, welche eine Aenderung der Aussage und eben darum clen Wegfall des Eides zur Folge hatte — ein Vorgang, der kaum einen Revisionsgrund bilden dürfte. 12 L ö w e Bein 5 zu § 57. Das Missliche einer solchen Vernehmung, die die Aussage theils als eidliche, theils als nicht eidliche erscheinen lässt, tritt hier deutlich hervor. 13 Vgl. L ö w e Bern l b zu § 57. K e l l e r Beni 3 das. Das RGE v. 12. Febr. 1880 Rspr I 347 würde eine meines Erachtens unzulässige Ausdehnung des Privilegiums enthalten, beruhte es nicht auf der Specialität, dass die Verhandlung nur als F o r t s e t z u n g einer früheren, bei welcher die Angehörigen des Zeugen mitangeklagt waren, anzusehen war. Das RGE v. 24. Oct. 1880 Entsch I I I 161 bringt den Grundsatz der Untheilbarkeit der Aussage in der Richtung zur Geltung, dass die Beziehung zu e i n e m Angeklagten genügt, um die Beeidigung in das richterliche Ermessen zu stellen.

Binding, Handbuch. IX. 4. I : G l a s e r , Strafprozess. I.

36

562

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

a. die oben im § 47 V schon erwähnte Vorschrift des § 71, welche an die Stelle der Eidesleistung die Unterschrift der Eidesformel setzt ; b. die sog. amtseidliche Versicherung 14 . Auf Grund des § 3 des Einf.Ges zur deutschen Strafprozessordnung kann diese Befreiung die Landesgesetzgebung für als Zeugen in Forst- und Feldrügesachen auftretende Forst- oder Feldbeamte verfügen 1 5 . Nach der österr. StPO (§ 453) sind im Verfahren wegen Uebertretungen „Beamte und beeidete Diener der öffentlichen Gewalt, welche eine Aussage über Thatsaehen oder Umstände ablegen, welche sie in Ausübung ihres Amtes wahrgenommen haben, . . . . nur unter Erinnerung an ihren Diensteid als Zeugen zu vernehmen". c. Die Modification cler Eidesförmlichkeiten mit Rücksicht auf religiöse Bedenken ist unten zu besprechen. I I I . D i e A u s s c h l i e s s u n g v o m Z e u g e n e i d e 1 6 (abgesehen von cler dem Ermessen des Richters überlassenen facultativen — oben I I 1) beruht entweder darauf, dass der Zeuge e i d e s u n f ä h i g ist, oder auf einem erheblichen V e r d a c h t (testes suspecti) gegen die Glaubwürdigkeit cler Aussage. Wann dies cler Fall sei, bestimmt § 56 kategorisch („unbeeidigt sind zu vernehmen") und in t a x a t i v e r , nicht blos exemplificativer, daher auch einer Erweiterung durch richterliches Ermessen nicht fähiger Aufzählung 17 . Die so vom Zeugeneid ausgeschlossenen sind: 14 Bezüglich des früheren Rechtes s. Z a c h a r i ä I I 215. GA 1858 S 252. v. B u t t e l , Bedeutung und Werth s. g. amtseidlicher Versicherungen, ANF 1844 S 213 if. M i t t e r m a i e r , Beweis S 369. Oppen ho f f Bern 32—37 bei § 55. 15 Prot d. RtC S 825 if. L ö w e Bern 10 zu § 3 EStPO. 16 M i t t e r m a i e r , Beweis S 314 if. Strafverfahren I I S 381 ff. Z a c h a r i ä § 101 III. Geyer in HH I 284 ff., Lehrbuch § 137 I. U l i m a n n § 82 S 402—404. 17 Es ergiebt sich dies schon aus der Fassung des § 60, der eben so kategorisch lautet wie § 56. AVer nicht unter das Verbot des § 56 fällt, fällt unter das Gebot des § 60. And. M. V o i t u s , Controversen I 176 ff. 295 ff, wobei jedoch die Frage des Verzichtes eingemischt ist, aufweiche sich das, was Schwarze de lege lata bei § 56 Bern 2 sagt, beschränkt, und auf welche unten zurückzukommen ist. V o i t u s beruft sich zunächst auf die Bemerkung Geyers in HH a. a. O.: es sei selbstverständlich, dass der Richter von der Beeidigung eines Zeugen abzustehen habe, wenn der physische oder psychische Zustand desselben der Art sei, dass eine irgend werthvolle Aussage unmöglich erscheine. In diesem Falle soll aber überhaupt keine Zeugenvernehmung stattfinden (vgl. oben § 46 I und G l a s e r im GS 1881 S 12 ff.). Im übrigen macht V o i t u s Gründe de lege ferenda (die „sehr ernsten Bedenken, welche sich im Hinblick auf die Heiligkeit des Eides und die Würde des richterlichen Amtes" an die Zulassung der Beeidigung offenbar unglaubwürdiger Aussagen knüpfen) und den Vorgang anderer Gesetze, zumal cler früheren deutschen Strafprozessordnungen geltend und leitet daraus ab, dass es einer a u s d r ü c k l i c h e n Bestimmung im

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

1. T h a t s ä c h l i c h eidesunfähige; als solche sieht das Gesetz alle Personen an, welche das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben ( E i d e s u n m ü n d i g e ) ; ausserdem aber noch diejenigen, welche „wegen mangelnder Verstandesreife oder wegen Verstandesschwäche entgegengesetzten Sinne bedurft hätte, um ein so bedenkliches System der Auslegung aufzunötliigen. Diese ausdrückliche Vorschrift ist aber im § 60 ertheilt: wenn der 2. Absatz dieses Paragraphen den Aufschub der Beeidigung bis nach Abschluss der Vernehmung gestattet, so genügt das nicht, um daraus abzuleiten, dass die Beeidigung auch dann ganz unterbleiben könne, wenn sie nicht gesetzlich unzulässig ist; zumal Voitus dem \7erzicht der Parteien keinen Einfluss einräumen will. Was aber V o i t u s a. a. 0. S 297 if. über die Entstehungsgeschichte der Worte: „Jeder Zeuge" im § 60 vorbringt, lässt zwar erkennen, dass diese Worte nicht zur Entscheidung der von ihm angeregten Frage eingefügt wurden, nicht aber, dass irgend ein Zweifel darüber auftauchte, ob es rathsam sei, Worte zu gebrauchen, welche die von ihm vermisste ausdrückliche Entscheidung enthalten. Uebrigens mögen verschiedene Gesetze dem Richter einen gewissen Spielraum für gewisse Fälle einräumen; aber es bedurfte gewiss einer ausdrücklichen und sehr deutlichen Erklärung des Gesetzes — von dem bestimmten Ausspruch der Mot S 45 zu §§ 56. 57 StPO ganz abgesehen —, um die Annahme zu rechtfertigen, dasselbe habe die wichtigste äussere Form des Zeugnisses gänzlich und ohne jede andere Einschränkung als welche in den Worten „aus besonderen Gründen" liegt, dem Ermessen des Gerichtes anlieinistellen wollen. — Das System der österr. StPO, auf welches sich Voitus beruft, ist ein anderes ; es schliesst allerdings ausser clen wegen geistiger und leiblicher Gebrechen zeugnissunfähigen (§ 150 Z. 8) eine beträchtliche Zahl anderer Personen vom Zeugeneide aus, indem § 170 lautet: „Folgende Personen dürfen bei sonstiger Nichtigkeit des Eides nicht beeidet werden: 1. Welche selbst überwiesen sind oder in Verdacht stehen, dass sie die strafbare Handlung, wegen welcher sie abgehört werden, begangen oder daran Theil genommen haben; 2. die sich wegen eines Verbrechens in Untersuchung befinden oder wegen eines solchen zu einer Freiheitsstrafe verurtheilt sind, welche sie noch abzubüssen haben; 3. diejenigen, welche schon einmal wegen falschen Zeugnisses oder falschen Eides verurtheilt worden sind; 4. die zur Zeit ihrer Abhörung das vierzehnte Lebensjahr noch nicht überschritten haben ; 5. welche an einer erheblichen Schwäche des Wahrnehmungsocler Erinnerungsvermögens leiden; 6. die mit dem Beschuldigten, gegen welchen sie aussagen, in einer Feindschaft leben, welche nach Maassgabe der Persönlichkeiten und mit Rücksicht auf die Umstände geeignet ist, die volle Glaubwürdigkeit der Zeugen auszuschliessen; 7. welche in ihrem Verhöre wesentliche Umstände angegeben haben, deren Unwahrheit bewiesen ist, und worüber sie nicht einen blossen Irrthum nachweisen können". Aber diese Bestimmungen lassen keineswegs cler Willkür des Gerichtes Spielraum, gestatten ihm nicht, wegen Widerspruches mit den Aussagen anderer oder wegen Unerheblichkeit die Beeidigung zu unterlassen. Allerdings bieten, was letzteres betrifft, die Bestimmungen cler §§ 247 Abs. 3 und 254 Abs. 2 Anhaltspunkte dafür, dass dann, wenn die Beeidigung bis nach Abhörung der Zeugen ausgesetzt ist, das Gericht freieren Spielraum hat (Erk. cles Wiener Cass.-Hofes v. 8. Mai 1880 Samml. Nr 255); allein die Aussetzung der Beeidigung ist eben darum genau auf bestimmte Fälle beschränkt. Siehe übrigens gegen V o i t u s auch Cohn in den Beiträgen zur Erläuterung des deutschen Rechts XXV 172. 173. 36*

564

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

von dein Wesen und der Bedeutung des Eides keine genügende Vorstellung haben". Nur darauf, nicht auf den grösseren oder geringeren "Werth des Zeugnisses kommt es an, und daher ist die Feststellung selbst einer Geisteskrankheit für sich allein nicht ausreichend, die Unterlassung der Beeidigung zu rechtfertigen 18 . — Es kommt dabei natürlich nur auf den Zeitpunkt der Eidesleistung, nicht auf den der gemachten Wahrnehmung an. Die Beurtheilung, ob die thatsächlichen Verhältnisse die Annahme eines der vorstehend erwähnten Zustände rechtfertigen, ist dem Gericht überlassen und der Regel nach der Ueberprüfung entzogen. 2. R e c h t l i c h u n f ä h i g e , d. i. „Personen, welche nach den Bestimmungen der Strafgesetze unfähig sind, als Zeugen eidlich vernommen zu werden". Diese Fassung hatte unverkennbar zunächst § 1 6 1 StGB vor Augen, wonach bei jeder Verurtheilung wegen Meineids (abgesehen von den Milderungsbestinimungen der §§ 156—159) „auf die dauernde Unfähigkeit des Verurtheilten, als Zeuge oder Sachverständiger eidlich vernommen zu werden, zu erkennen ist". Eben daraus folgt, dass auf Grund dieses Gesetzes die Unfähigkeit nicht ipso jure eintritt, sondern dass darauf erkannt worden sein und dass das Urtheil rechtskräftig sein muss 1 9 . — Der Plural „die Strafgesetze" soll aber erkennen lassen, dass auch die kraft anderer Strafgesetze eingetretene Unfähigkeit zu berücksichtigen ist; u n b e s t r i t t e n ist dies bezüglich der f r ü h e r e n deutschen Gesetze 2 0 , gleichviel in 18

S c h w a r z e Bern 5 zu §56 u. S 168. Z i m m e r m a n n im GS 1880 S 170. RGE v. 24. Januar 1880 Rspr I 269. Siehe dagegen J o h n , StPO Bein 1 zu § 56 Nr 2. Ueber die nicht liieher gehörige Frage, in welchem Umfang nach § 161 StPO auf die Unfähigkeit zuerkennen ist, s. insbesondere L i s z t , Die falsche Aussage S 229 if. und die bei Geyer, HH S 285 Anni 2 angeführte I jiteratur. 20 G e y e r , I I I ! I 284. 285, nicht ohne lebhaften Tadel darüber, dass unterlassen wurde, den § 161 wenigstens in der Weise zu verbessern, dass dem Prozessrichter überlassen würde, den Zeugen dennoch zu vereidigen, und noch mehr, dass „mit den wenig ehrwürdigen Ueberresten früherer Zeiten" nicht aufgeräumt wurde. In letzterer Hinsicht scheint mir der Fehler darin zu liegen, dass bei Einfühlung des Reichsstrafgesetzes nicht für die angemessene Beseitigung der Folgen früherer Verurtheilungen auf Grund strengerer Gesetze gesorgt wurde. So lange aber die Unfähigkeit zu Rechte besteht, ist es undenkbar, dass dem Richter überlassen werde, trotzdem dem Zeugen einen Eid abzunehmen, zu dem er unfähig ist. — Von ganz unzweifelhaftem Gewicht ist die Bemerkung de lege ferenda, dass die Ausschliessung vom Eid „den verurtheilten Meineidigen von einer lästigen Bürgerpflicht" befreit ( L i s z t a. a. Ο. S 229, G e y e r a. a. Ο. S 284) da, wo die unbeeidigte falsche Aussage nicht bestraft werden kann. Dass jene auch die freie Beweiswürdigung beeinträchtige, ist dagegen dann nicht richtig, wenn die Unterlassung 19

51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

welchem Umfange kraft derselben die Unfähigkeit eintrat, ob von Rechtswegen oder ob darauf erkannt sein musste; soweit vermöge ihrer der Zeuge unfähig wurde, als Zeuge eidlich vernommen zu werden, und diese Unfähigkeit fortzudauern hat, gilt sie auch bei Anwendung der StPO. — Eine andere, schwierigere Frage ist die, in wie fern a u s w ä r t i g e Gesetze die gleiche Wirkung hervorbringen 21 ? Meines Erachtens ist zu unterscheiden: gegen einen Deutschen kann die Ehrenfolge des ausländischen Urtheils nur unter Anwendung des § 37 StGB aufrecht erhalten werden; bei einem Nichtdeutschen besteht dieses Hinderniss nicht, und der Wortlaut des § 56 Ζ . 2 umfasst auch ausländische Strafgesetze. 3. V e r d ä c h t i g e Zeugen, jedoch nur solche, „welche hinsichtlich der den Gegenstand der Untersuchung bildenden That als Theilnehiner. Begünstiger oder Hehler verdächtig oder bereits verurtheilt sind". All die anderen zahlreichen Gründe, welche gegen die Aufrichtigkeit oder Verlässlichkeit des Zeugnisses Bedenken erregen, fallen somit lediglich in das Gebiet der Beweiswürdigung. Dies muss man sich vor Augen halten bei Beantwortung der zahlreichen bei der Auslegung der eben angeführten Gesetzesstelle entstehenden Schwierigkeiten. Der Grund, warum gerade nur diese Classe cler verdächtigen Zeugen ausgeschlossen ist, liegt offenbar darin, dass einerseits der Zeuge sehr leicht ein materielles, oder doch psychisches Interesse haben kann, die Unwahrheit auszusagen, und dass andrerseits die schroffe Unterscheidung zwischen ihm und dem Beschuldigten, die sich in der Zulassung zum Eide ausdrückt, hier um so mehr verletzen muss, als es oft nur von zufälligen oder selbst der Willkür nicht entrückten Umständen abhängt, ob dieselbe Person als mitbeschuldigt der Zeugeneigenschaft unbedingt entkleidet oder als Zeuge zuzulassen ist. H i e r handelt es sich indess weder um die Ausschliessung vom Zeugniss (s. oben § 46), noch um die Wahrung der Interessen des Zeugen und seiner Angehörigen (s. oben §§ 48. 49), sondern in erster Linie um das oben angedeutete öffentliche Interesse und uni clas des Angeklagten; der Beeidigung kein Ilinderniss der Vernehmung ist. — J o h n Beni 2 zu § 56 Nr 2 StPO beschränkt die Wirksamkeit der früheren Gesetze auf Fälle, wo die „Unfähigkeitserklärung" wegen Meineides ausgesprochen wurde; seine Begründung geht aber viel weiter: ein Gesetz könne nur durch noch in Wirksamkeit stehende Gesetze, also die StPO nur durch am 1. Febr. 1877 in Geltung befindliche Gesetze ergänzt werden; das träfe aber formell nicht einmal auf das Strafgesetzbuch fluden Norddeutschen Bund von 1870 zu. 21 P u c h e l t Abs. 3 der Beni 6 zu § 56 bejaht die Frage, die L ö w e verneint (Beni 10c zu § 56); J o h n Bein 2 zu § 56 Nr 2 spricht nur von dem Falle der Anwendung des § 37 StGB.

566

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

dabei ist allerdings nicht ausgeschlossen, die Gesetzwidrigkeit, Sprache

die i n

bringen kann, u n d

dass auch der Zeuge selbst

seiner Beeidigung

liegen w ü r d e ,

dass auch dies genügt,

zur

u m das Gericht

zur Prüfung cler Frage zu verpflichten u n d dem Zeugen ein Beschwerderecht zu g e b e n 2 2 .

I m einzelnen ist zu bemerken:

a. Das Gesetz fordert eine Beziehung des Zeugen

zu cler

„den

Gegenstand der Untersuchung bildenden T h a t " , vermöge welcher derselbe

als

eines

der Subjecte

H a n d l u n g erscheinen'würde. ist

der

dadurch

Identität

daher das erste Erforderniss,

begründeten

strafbaren

der m a t e r i e l l e n

u n d daraus f o l g t ,

dass

Thatsache ähnliche

T h a t e n des Zeugen nicht i n Betracht k o m m e n 2 3 ; aber auch I d e n t i t ä t cles D e l i e t e s ist erforderlich,

weshalb ein blosser materieller

Zu-

sammenhang keineswegs genügt, wie er bei gegenseitigen Verletzungen ,

bei

Meineidsuntersuchungen

ziehungen des Gegenstandes tritt,

vermöge

deren

jenen Verneinung deren 22

That

und

überhaupt

der Verhandlung

solchen

Be-

zu clem Zeugen

bei

ein-

die Bejahung cler Schuld des Angeklagten

eines i h n treffenden Verdachtes wegen einer

ist24;

z. B . wenn die Sache so l i e g t , dass

für an-

entweder

L ö w e Beni 5, P u c h e l t Bern 11 zu § 56. K e l l e r Bern 6 zu § 56; L ö w e Bern I I a das. 24 Im allgemeinen gleicher Ansicht Geyer HH I S 285. Anderer Ansicht (im wesentlichen im Anschluss an eine Entsch. des Berliner OTr) M a y e r I I Bern 15 u. 16 zu § 170 österr. StPO; es wird hier Gewicht gelegt auf einen so untrennbaren Zusammenhang, dass ein Interesse des Zeugen, die Freisprechung oder Verurtheilung herbeizuführen, besteht. Dieser Grund ist einer Ausdehnung ins unendliche fähig; hat z. B. der Zeuge in einer anderen Sache oder vor dem Civilgericht schon dieselbe Thatsache beeidet, so besteht das gleiche Interesse. — Während das RGE v. 5. Nov. 1881 Rspr I I I 686 ausspricht: „dass der Zeuge eines mit dem Gegenstand seiner Aussage zusammenhängenden, von dem Gegenstand der schwebenden Verhandlung verschiedenen Delictes verdächtig ist, schliesst ihn nicht vom Eid aus", hielt das RGE v. 31. März 1880 Rspr I 523, dem sich L ö w e Bern I I b und K e l l e r Bern 6 anschliessen, einen ähnlichen Zusammenhang in dem Fall für ausreichend, wo A u. Β bei unberechtigtem Jagen betreten wurden, aber nur A Widerstand leistete, Β dagegen wegen unberechtigten Jagens bereits abgeurtheilt war. „Der geleistete Widerstand lässt sich von der Gesammtheit der Vorgänge, welche zu demselben Anlass gegeben haben, nicht trennen" ; dieser Grund trifft aber bei einer grossen Zahl anderer Fälle auch zu; ζ. B. wenn A allein zur Verdeckung eines von ihm und Β gemeinschaftlich begangenen Verbrechens einen Mord begeht. Es wäre dann ζ. B. auch M vom Eide ausgeschlossen, wenn dieser, von L angegriffen, die Hilfe eines Polizeiorgans anrief, gegen welches dann L Widerstand leistete u. dgl. Entweder war im oben erwähnten Fall Β verdächtig, zum Widerstand gegen den Förster mitgewirkt zu haben: dann war er Theilnehmer an der den Gegenstand der Untersuchung bildenden That; oder es ist dem letzteren Begriff eine ausdehnende Auslegung widerfahren, deren Trag23

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

der Angeklagte falsch geschworen hat, eine gewisse Zahlung aus der Hand des Zeugen nicht erhalten zu haben, oder der Zeuge der Unterschlagung schuldig i s t 2 5 . Anders allerdings, wenn die Betheiligung an d e r s e l b e n That nur aus in der Person des Thäters liegenden Gründen für ihn eine juristisch verschiedene Qualification begründet; (denn dies ist ja schon das gewöhnliche Verhältniss der Theilnehnier, Begünstiger u. s. w.); solche Fälle können ζ. B. eintreten, wenn dieselbe That für den einen Mitwirkenden sich als Anits-Delict, für den andern als gemeines darstellt; oder wenn ein deutscher Bundesfürst ausser seinem Lande von einem diesem angehörigen und einem andern, bei dem dies nicht der Fall ist, genieinsam beleidigt wird; sie sind Theilnehmer an derselben That, obgleich nicht desselben Delietes schuldig. b. Das Gesetz erwähnt „Theilnehmer, Begünstiger und Hehler" der That, welche den Gegenstand der Verhandlung bildet; dass hier die „Theilnehmer" auch Mitthäter sein können, ergiebt sich aus der Stellung des § 47 StGB und aus der Natur der Sache ; also sind insbesondere auch die Mitthäter beim concursus plurium ad delictum necessarius (s. Anm 24) vom FAcle ausgeschlossen. Aber auch der Thäter ist gegenüber dem Theilnehmer im engeren Sinne und gegenüber dem Begünstiger und Hehler Theilnehmer im Sinne des § 56 2 6 . Alle diese weite schwer zu bestimmen ist. Erklärlicher ist es, wenn das RGE v. 4. Febr. 1880 Ann I 381 es gerechtfertigt fand, dass man bei einer und derselben Untersuchung und Verhandlung wegen gegenseitiger Verletzungen in derselben Schlägerei keinen der Urheber dieser Verletzungen unter Zeugeneid stellen lässt. Ganz abgesehen davon, dass das Erk. sich auf §§ 227 u. 367 Nr 10 StGB beruft, um ein einheitliches Delict der Schlägerei zu construiren, fehlte hier beiden Angeklagten, eben weil sie gleichzeitig angeklagt waren, die Zeugenqualität. (Ohne diese Einschränkung schliesst hier den Eid aus L ö w e Bein 12b; and. Mein. G e y e r in I I I ! I 285.) — M a y e r a. a. 0 Nr. 16 geht noch weiter und schliesst vom Eide aus, wenn A, der Zeuge bei der Rauferei, bei welcher der Angeklagte den C misshandelte, seinerseits dem D eine „davon unabhängige Misshandlung" zufügte. Dagegen hat er (a. a. 0. Bern 33) merkwürdigerweise Bedenken gegen die Ausschliessung des Eides im Falle der notwendigen Theilnahme (Blutschande), und zwar in Fällen, wo nicht etwa einer der Mitwirkenden aus subjectiven Gründen straflos bleibt. 25 P e y r e r in Haimerls Magazin V 222. 26 L ö w e Bern 12 b u. c; T h i l o Bern 5; D a l c k e Bern 5; P u c h e l t Bern 8 Abs. 2; K e l l e r Bern 8 (mit Aenderung seiner in der 1. Auflage ausgesprochenen .Ansicht); Geyer § 137 I Nr 3. Dass der Dieb in der gegen den Hehler stattfindenden Hauptverhandlung nicht als Zeuge zu beeiden ist, spricht aus RGE v. 9. Juli 1880 Rspr I I 177. — Wer der Thäterschaft verdächtig ist, darf aber selbstverständlich ebenso wenig in dem Strafprozess gegen einen anderen der Thäterschaft angeklagten beeidet werden. L ö w e Bern 12 b; K e l l e r Bern 7; RGE v. 11. März

568

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

Personen muss der Verdacht treffen,

etwas gethan zu haben, was sie

als der T h a t i m bezeichneten Sinne s c h u l d i g Voraussetzung, nicht m i t können27;

die nicht

eintrifft,

erscheinen lässt, eine

wenn sie nur für materiell, aber

strafrechtlichem Verschulden m i t w i r k e n d e soweit

diese

Voraussetzung

zutrifft,

gehalten ändert

es

werden dagegen

nichts, wenn sie wegen Vorhandenseins von prozessualen Hindernissen der Verfolgung oder von Strafaufhebungsgründen zeihung u. s. w.) nicht gestraft handlung mehrere

werden k ö n n e n 2 8 .

strafbare H a n d l u n g e n ,

Verdacht n u r bezüglich einer derselben,

(Begnadigung, V e r Umfasst die V e r -

u n d trifft den Zeugen der so ändert dies nichts daran,

dass er bei dieser V e r h a n d l u n g nicht beeidet werden darf: die Aussage4 k a n n nicht zugleich eine beeidete u n d eine nicht beeidete sein, und es lässt sich — zumal vorher — nicht bestimmen, ob der Zeugt 4 nicht etwas aussagen w e r d e , Bezug h a t 2 9 .

was auf die T h a t ,

deren er verdächtig ist.

Legt m a n AVerth auf den E i d des Zeugen,

so ist es

1882 Rspr IV 237 ( G e y e r in HH I 285 scheint der entgegengesetzten Ansicht, die er im Lehrbuch nicht reproducirt). Das RGE v. 4. Oct. 1881 Rspr I I I 589 erklärt, dass derjenige, welcher die verhehlte Sache durch seine strafbare Handlung erlangt hatte, in Betreff des Hehlers als Theilnehmer im Sinne des S 56 Nr 3 StPO trotz seiner Freisprechung angesehen werden kann. Gründe: „Die Hauptthat ist in der Untersuchung gegen den Hehler regelmässig zugleich die den Gegenstand der Untersuchung bildende That", die für das Gesetz maassgebende Rücksicht „dauert fort, auch wenn der Theilnehmer als solcher freigesprochen worden ist, indem auch nach dieser Freisprechung nicht blos dessen moralisches Interesse fortbesteht . . . sondern hieran sich auch ein directes rechtliches Interesse knüpft, weil nach § 402 Z. 4 auf Grund eines bei solcher Gelegenheit abgelegten Geständnisses die Wiederaufnahme der Untersuchung möglich wäre". 27 Vgl. oben § 46 I I Nr 2a. Geyer in HH I 284. 285, im Lehrbuch § 137 I 3 S 528. L ö w e berührt Bern 12b, auf die G e y e r Lehrbuch S 528 Anm 3 hinweist, die vorliegende Frage nicht; die Worte: „eine unter das Strafgesetz fallende Mitwirkung" gelten nur clem Gegensatze zu einem Falle, wo dem Zeugen auch nicht etwas objectiv strafbares zur Last fällt. M a y e r a. a. 0. Bern 18 eignet sich dieselbe an und polemisirt daneben gegen die im Texte und von G e y e r vertretene Meinung; auch derjenige, meint er, höre nicht auf, Theilnehmer zu sein, der nur wegen jugendlichen Alters nicht gestraft werden kann: freilich verlangt er gleich darauf Bern 19 „ w i s s e n t l i c h e Betheiligung". 28 G e y e r a. a. 0.; L ö w e Bern 13c: K e l l e r Bern 9: S c h w a r z e Beni 9; T h i l o Bern 6 zu § 56. Bezüglich des österreichischen Rechtes M a y e r , Handbuch I 578. 29 S c h w a r z e Bern 11, der allerdings die Frage nicht von der anderen sondert, ob jemand in derselben Verhandlung in einer Sache Zeuge, in der anderen Angeklagter sein könne; diese Frage verneint er zwar mit Recht (s. oben § 46 II); allein damit entfällt auch die Frage der Beeidigung, die erst auftaucht, wenn aus irgend einem Grunde der Zeuge nicht mitangeklagt ist. In dem von ihm citirten Falle, GA 1859 S 520, hatte dagegen das OTr, Urth. v. 1. Juli 1859, eine Appell-

51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

nothwendig. die Verhandlungen zu sondern, in welchem Fall derselbe abgenommen werden muss, wrenn die That, deren auch jener verdächtig ist. nicht der Gegenstand der Verhandlung ist. c. Die Beziehung zwischen dem Zeugen und cler That muss eine solche sein, dass er cler Betheiligung an derselben mindestens verdächtig ist ; das Gesetz sagt „verdächtig oder bereits verurtheilt" und wollte damit jeden Zweifel daran aussehliessen, dass auch cler durch U r t h e i l b e s t ä t i g t e Verdacht noch als solcher fortwirke. Die Bemerkung war nicht überflüssig 30 , weil cler Gedanke nahe liegen konnte, es sei mit dem Urtheil clie Frage für clen Yerurtheilten erledigt und dieser könne und werde jetzt unbefangen aussagen. Allein abgesehen davon, dass die Voraussetzung nicht immer zutrifft, ist die Besorgniss des Zeugen vor cler Bückwirkung seiner Aussage auf sein eigenes Schicksal nicht das einzige Motiv des § 56 Nr 3 (siehe oben S 565). Die Erwähnung des Urtheils hatte daher nur einen negativen Zweck; sie erweitert clen Kreis der Verdächtigen nicht, ausser indem dem Richter clie Pflicht auferlegt wird, den Verurtheilten als mindestens verdächtig anzusehen; auf die Rechtskraft cles Urtheils 3 1 würde es daher nur insofern ankommen, als der Richter, cler clen dadurch bekräftigten Verdacht als völlig beseitigt ansieht, durch ein noch nicht rechtskräftiges Urtheil nicht gehindert wird, den Zeugen zum Eide Verhandlung vernichtet, weil daselbst zwei von drei in erster Instanz verurtheilten nach Rechtskraft des gegen sie ergangenen Urtheils gegenüber dem allein berufenden Dritten eidlich vernommen worden waren. Der Fall betraf also gar nicht eine Mehrheit von Delicten. Ein ebenfalls citirtes Urtheil des Münchener Cass.-Hofes v. 8. Januar 1858, Ζ für Bayern Y 21, entspricht der letzteren, im Text gemachten Voraussetzung; allein auch in diesem Falle war die Vernommene bezüglich einzelner Delicte mitangeklagt, und es ward mit Recht ausgesprochen, dass sie darum gar nicht als Zeuge zu behandeln war. Vgl. auch noch P e v r e r a. a. 0. S 243—245 und die daselbst angeführten älteren Entscheidungen des Wiener Cassationshofes. 30 Ganz ähnlich verhält es sich mit der analogen Bestimmung des § 170 Ζ . 1 der österr. StPO („welche selbst ü b e r w i e s e n s i n d oder in Verdacht stehen"). Die hervorgehobenen Worte wurden eingeschaltet, weil der Wiener Cassationshof die früher allein stehenden übrigen Worte so ausgelegt hatte, dass sie auf Verurtheilte nicht Anwendung finden. Vgl. namentlich die speciellen Motive bei M a y e r I 581. 31 P u c h e l t Beni ΊΟ zu § 56 sagt, „auch durch die nicht rechtskräftige Verurtheilung werde die Beeidigung ausgeschlossen"; L ö w e Beni 13e ist offenbar derselben Ansicht, da er sagt, die „erfolgte Verurtheilung verliere ihre Wirkung, sobald das verurtheilende Erkenntniss in der höheren Instanz aufgehoben wird". Allein so gewiss das auch nicht rechtskräftige Urtheil einen ausreichenden Anhaltspunkt dafür bietet, den Zeugen für der That v e r d ä c h t i g zu erklären, so gewiss ist er auf Grund desselben noch nicht als „verurtheilt" zu behandeln.

570

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

zuzulassen. Aber auch umgekehrt steht es so mit clem f r e i s p r e c h e n d e n Urtheil. Der Antrag, „Mitbeschuldigte, welche ausser Verfolgung gesetzt oder freigesprochen sind", ebenfalls von cler Beeidigung auszuschliessen, ist in cler Reichstagseommission zur Sprache gebracht, aber unter ein falsches Licht gestellt und unter dein Eindruck der dabei vorgekommenen „Verwechselung zweier Punkte" zurückgezogen worden 3 2 . Aber daraus folgt nicht, und noch weniger ist es in der Natur cler Sache gelegen, dass dem Richter durch ein freisprechendes Urtheil untersagt sei, den Zeugen als verdächtig anzusehen und daher vom Eide auszuschliessen33. Nicht blos kann die Freisprechung ganz andere Gründe haben, als welche sich aus cler Prüfung des Verdachtes ergeben, sondern das freisprechende Urtheil hat an und für sich nicht die Bedeutung eines Ausspruches über die Entkräftung des Verdachtes; cler blos verdächtige muss ja freigesprochen werden. Die Freisprechung eines Mitbeschuldigten aus Rechtsgründen hindert clen Richter nicht und befreit ihn nicht davon, That- und Rechtsfrage bezüglich anderer Mitbeschuldigten neuerdings selbständig zu prüfen ; und er kann es dabei doch unmöglich übersehen, wenn das erste Urtheil clen jetzigen Zeugen für thatsächlich überwiesen ansah und nur aus Rechtsgründen freisprach. Das freisprechende Urtheil und ebenso clie anderen Formen der Befreiung von cler Verfolgung hindern also clen Richter nicht, die Verclachtsfrage zu stellen, und sie wie in andern Fällen nach eigener Meinung zu bejahen oder zu verneinen. Ueberall nämlich, wo nicht eine rechtskräftige Verurtheilung clie Frage direct entscheidet, ist es Sache des Gerichtes, in freier Würdigung cler Verhältnisse sich seine Meinung über clen Umstand, ob cler Zeuge „verdächtig" ist, zu bilden. Die Freiheit cler Würdigung der Beweismomente macht sich auch hier geltend ; dabei muss aber beobachtet werden, dass clas Gericht nicht auszusprechen habe, ob es für wahrscheinlich halte, dass der Zeuge schuldig sei, sondern ob er „verdächtig" ist; letzteres kann sich in äusseren Verhältnissen, ζ. B. in dem Umstände, dass eine Untersuchung gegen den Zeugen geführt wird, hinlänglich ausdrücken ; aber auch sie binden den Richter nicht, wenn er Gründe hat (zumal erst neu aufgekommene), den Verdacht für völlig beseitigt anzusehen, und umgekehrt ändert 32 Prot 8 815. AVie sehr häufig in dieser Materie, war man sich über den Unterschied zwischen Befreiung von der Zeugenpflicht und Ausschliessung vom Eide nicht klar; dies bemerkt treifend L ask er. 33 Gleicher Ansicht L ö w e S 241, zum VI. Abschnitt Bern 3 b «. Anderer Meinung G e y e r in I U I I 286 und Lehrbuch a. a. 0. S 529 ; B i n d i n g , Grundriss S 81 I I D 8 114.

§ 51.

Die B e e i d i g g der Zeugenaussage.

die Unterlassung der E i n l e i t u n g eines Strafprozesses oder dessen E i n stellung

nichts

an

dem

Recht

einen vorhandenen Verdacht

zu

des

beweisaufnehmenden

constatiren.



Gerichtes,

I n ähnlicher Weise

verhält es sich m i t dem F a l l , wo der Zeuge selbst das G e s t ä n d n i s s der T h a t ablegt; auch dies fällt n u r unter das W o r t „ v e r d ä c h t i g " , da das Geständniss nicht unbedingt bindet, w o h l aber begründet dasselbe einen sehr wichtigen Verdachtsgrund, den das Gericht nicht w i l l k ü r l i c h bei Seite schieben kann,

ohne dass Gründe

nicht unwahrscheinlich anzusehen, schuldigte IV.

34

vorhanden

sind, es als

dass der Zeuge sich fälschlich be-

.

Zeitpunkt

der

Beeidigung35.

Auf

diesen beziehen

sieb verschiedene, einander theilweise bedingende F r a g e n : 1.

Der Eid

soll

in

der Regel

erst i n

der

Hauptverhandlung

34 Geyer in HH I S 286, Lehrbuch S 529; L ö w e Beni 13a—e; K e l l e r Bern 10; S c h w a r z e Bern 9; P u c h e l t Bern 10 Abs. 2 zu § 56. (Dass, wie dieser bemerkt, der Ausspruch nicht „revisibel" sei, ist nur insoweit richtig, als derselbe so lange unanfechtbar ist, als er nicht auf Anwendung eines falschen allgemeinen Satzes zurückgeführt werden kann.) RGE v. 24. Jan. 1880 Rspr I 269; M a y e r I I Bern 25 ff. und 35, dagegen Bern 37 zu § 170 österr. StPO. 35 Ueber die verschiedenen Seiten dieser Frage, namentlich aber darüber, ob der Eid schon in der Voruntersuchung, und ob er vor oder nach der Vernehmung abgelegt werden soll, ist eine ganz unverhältnissmässig umfangreiche und zum Theil erregte Literatur angewachsen. M i t t e r m a i e r , Strafverfahren I I § 133; H e n k e , Darstellung S 195; K i t k a , Thatbest. S 187 ff.; Z a c h a r i ä , Grundlinien S 151 ff.; d e r s e l b e , Handbuch I I 211 ff.; F i l a n g i e r i cap. XV can. 8, vol. I I ρ 404: Il testimonio dovrà giurare di non tradire il vero, prima di essere interrogato. C a r r a r a I.e. §955, vol. I I ρ 521—523 (mit dem dem alten toscanischen Civilprozess entnommenen Vorschlag, die Beeidigung stets der Vernehmung vorangehen zu lassen, in wichtigen Fällen aber dem Richter zu gestatten, am Schlüsse der Aussage eine nochmalige Eidesleistung zu fordern). — P e s c h e l in der Ζ f. d. Strafverfahren NF I 331 ff. (vgl. das. S 86 ff.). A h e g g , Die Frage über den Zeitpunkt der Vereidigung der Zeugen im strafrechtlichen \Terfahren. Leipzig 1864. D e r selbe in GA 1868 S 313 ff. J o h n in StRZ 1864 S 555 ff. O. W a l t h e r in der Sächs. GZ 1858 S 311. 312. Verhandlungen des deutschen Juristentages IV Β 2 S 111. 262 — 275, V Β 1 S 29 ff. ( G a r e i s ) , S 111 ff. (Ed. v. L i s z t ) , S 209, VI Β 2 S 153 ff. 351 ff. O p p e n h o f f bei § 55 Nr 7. 38. 39. 40. V o i t u s , Controversen I 305. Mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses der Voruntersuchung zur Hauptverhandlung: M i t t e r m a i e r , NA I I 412 ff., X I 463 ff.; H ü t t e m a n n in GA 1853 S 619. 620; S t e m a n n im GS 1852 I 87; D i e t e r i c i in GA 1856 S 195 f.; H a a g e r im GS 1871 S 81 ff. — V o r e i d o d e r N a c h e i d ? (S. die Literaturangaben bei Z a c h a r i ä I I 208; Geyer in HH I 281; M a y e r , Handbuch I I 600—602.) S c h w a r z e in StRZ 1862 S 797 fi'. ; W i c k im GS 1866 S 243; GA 1874 S 21 ff. ( S c h ü t z e ) , S 228 ff. ( D r e y e r ) , S 465 ff. ( S c h ü t z e ) , 1875 S 81 ff. ( S c h w a r z e ) , S 308 u. 309 ( S c h ü t z e ) ; v. W a s e r in der Allg. österr. GZ 1872 S 229.

572

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

(oder doch erst im Hauptverfahren) abgelegt werden. Die Beeidigung in der Voruntersuchung bildet die Ausnahme und ist möglichst zu beschränken. Die Gesetzgebung hat auch hier zwischen zwei Hebeln hindurchzuschiffen. Stellt man die Beeidigung im Vorverfahren als Regel auf, so muss eine Menge von Eiden abgelegt werden, die sich schliesslich als überflüssig erweisen, und die Häufung wächst in erschreckender Weise, wenn man, wie in England, Frankreich und in mehreren der dem Code d'Instruction sich eng anschliessenden deutschen Strafprozessordnungen 36, in der Hauptverhandlung die Zeugen neuerlich beeidet. Thut man letzteres n i c h t 3 7 , dann beeinträchtigt man sowohl den Charakter cler Hauptverhandlung als clie Feierlichkeit und Wirksamkeit der Eidesleistung selbst. Verlegt man die Beeidigung in die Hauptverhandlung allein, so ist einerseits zu besorgen, dass die Beeidigung dann nicht mehr möglich sein wird, andrerseits, dass die unmittelbaren Zwecke des Vorverfahrens durch clie verhältnissniässig geringe Verlässlichkeit seiner Materialien leiden. Sowohl clie d e u t s c h e (§ 65) als die ö s t e r r e i c h i s c h e (§ 169) Strafprozessordnung stellen daher den Grundsatz der Beeidigung in der Hauptverhandlung als entscheidend für die Gliederung cles Verfahrens voran und gestatten nur die durch die erwähnten Rücksichten unbedingt gebotenen Ausnahmen von cler Regel. Bei cler Abgrenzung dieser Ausnahmen in der deutschen StPO muss man vermöge der Fassung, 3(i

Vgl. namentlich v. W u r t h , Oesterr. StPO S 268 ff. — Im Gegensatze hiezu standen die badische StPO v. 1845, die preuss. V v. 1849 und die österr. StPO v. 1853, welche die Beeidigung in der Voruntersuchung als Kegel hinstellten. Den Uebergang zu dem die Beeidigung für die Hauptverhandlung aufsparenden System bildeten die Vorgänge der n i e d e r l ä n d i s c h e n und wa a dt lä r i d i s e l i e η StPO und die aus der Beobachtung der französischen Einrichtung hervorgegangenen Vorschläge R u p p e n t h a ï s (Materialien zur Revision der rheinpreuss. StPO S 127 ff.), welche zunächst in der ö s t e r r e i c h i s c h e n und t h ü r i n g i s c h e n StPO v. 1850 und dann in allen späteren Eingang fanden. S. auch Mot zu § 65 d. StPO ; ferner, und zwar nicht blos bezüglich I t a l i e n s , wo ebenfalls die Beeidigung in der Hauptverhandlung die Regel bildet, B o r s a n i e C a s o r a t i §§ 738 ss., vol. II ρ 397 ss. Für die Doppelbeeidigung spricht sich nachdrücklich aus J o h n . StPO S 615 ff. 37 Dies nämlich und nicht die Beeidigung in der Voruntersuchung an und für sich ist entscheidend, da man kaum behaupten kann, dass in England das Vorverfahren die Hauptverhandlung erdrücke. Immerhin sagt auch von dem System der Doppelbeeidigung C a r r a r a 1. c. ρ 521, dass es die Zurücknahme oder Aenderung von Aussagen in der Hauptverhandlung erschwert und das erkennende Gericht unmerklich dahin bringt , aus der mündlichen Verhandlung eine Wiederholung des Vorverfahrens zu machen. ,,Γοη questo sistema può dirsi che si mantenga il processo inquisitorio".

§ 51.

welche

namentlich

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

die Reichstagscommission

dem

§ 65

gab38,

die

Stadien des Verfahrens auseinander h a l t e n : a. I n dem Verfahren zur V o r b e r e i t u n g ist die Beeidigung n u r zulässig, wenn G e f a h r oder wenn die Beeidigung als M i t t e l

der öffentlichen K l a g e im Verzuge

obwaltet

zur Herbeiführung einer wahr-

heitsgemässen Aussage über eine Thatsache, v o n d e r d i e E r h e b u n g der

öffentlichen

Klage

abhängig

ist,

erforderlich

erscheint".

Gefahr i m Verzuge ist hier n u r dann vorhanden, wenn nach Lage der Umstände zu besorgen i s t ,

dass wenn auch n u r bis zur E i n l e i t u n g

der Voruntersuchung gewartet würde, der E i d nicht mehr zu erlangen sein würde.

Eine Combination dieses Grundes m i t dem anderen liegt

darin, wenn zu besorgen ist, „dass die E r m i t t e l u n g der W a h r h e i t durch das Säumniss werde u n t e r d r ü c k t werden" F a l l denken, kunftsperson

wo man besorgt,

39

; m a n muss also an einen

dass entweder eine vernommene Aus-

zur Aenclerung ihrer Aussage bew r ogen, oder eine rück-

hältige, wenn i h r nicht rasch durch den Eicl die Aussage würde,

zur Z u r ü c k h a l t u n g

der W a h r h e i t bestimmt

abgenöthigt

werden

I n diesen F ä l l e n ist nämlich die Beeidigung als M i t t e l

könnte.

zur Herbei-

führung einer wahrheitsgemässen Aussage an sich schon zulässig,

im

38 AVichtig ist folgende, nicht durchaus endgiltige Abstimmung, Prot S 72: ,,1. Soll im v o r b e r e i t e n d e n V e r f a h r e n die Vereidigung des Zeugen zulässig sein: a. wenn Gefahr im Verzuge ist? b e j a h t ; b. wenn voraussichtlich der Zeuge am Erscheinen in der Hauptverhandlung verhindert sein wird? v e r n e i n t ; c. wenn seine Ladung zu letzterer voraussichtlich wegen grosser Entfernung unterbleiben wird ? v e r n e i n t ; d. wenn die Beeidigung als Mittel zur Herbeiführung einer wahrheitsgemässen Aussage erforderlich erscheint? v e r n e i n t ; e. wenn die Aussage des Zeugen die Grundlage für einen Haft- oder Verwahrungsbefehl bildet? v e r n e i n t ; f. wenn von der Aussage des Zeugen die Eröffnung der Voruntersuchung abhängt? v e r n e i n t . 2. Soll in der V o r u n t e r s u c h u n g die Vereidigung des Zeugen zulässig sein: a. im oben sub b erwähnten Falle? b e j a h t ; b. im oben sub c erwähnten Falle? v e r n e i n t ; c. im oben sub d erwähnten Falle? b e j a h t " . — Vgl. Bericht der Commission S 21, aus welchem hervorzuheben : . . „die Beweisaufnahme erfolgt erst in der Hauptverhandlung. Ein wesentlicher Theil dieser Beweiserhebung ist die Beeidigung der Zeugen. A n k l a g e u η d V e r t h e i d i g u η g li a b e η e i 111111 e r e s s e, d e r s e 1 b e η b e i z u w ο li η e η ". Prot S 63 ff. 820 ff. 924 ff. 983 ff. — Dass in dem die Erhebung der öffentlichen Klage vorbereitenden Verfahren die Beiziehung des Verdächtigen zur Beeidigung der Zeugen nicht ausführbar ist oder doch nicht für alle Fälle hätte vorgeschrieben werden können, und dass die Staatsanwaltschaft hier die eigentlich bestimmende Potenz ist, veranlasste die Commission, die Bedingungen der Beeidigung in diesem Verfahren enger zu begrenzen, während andererseits auf die nach § 222 stattfindenden Zeugenvernehmungen hingewiesen wurde. 39 L ask er S 822 der Prot der RtC. Vgl. über die Gefahr im Verzuge Schwarze Bern 9 zu § 65; K e l l e r Bern 3; P u c h e l t Bern 5; L ö w e Bein 2a; J o h n , StPO S 623 ff.

574

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

Vorbereitimgsverfahren aber nur wegen cler Unentbehrliehkeit der festzustellenden Thatsache für die Erreichung des unmittelbaren Zweckes dieses Verfahrens, also namentlich für die Frage, ob eine strafbare Handlung vorliege und gegen wen die Verfolgung zu richten s e i 4 0 : nur wenn Gefahr im Verzug im obigen Sinne hinzukommt, fällt letztere Beschränkung weg, also ζ. B. für E11 t i a s t u n g s t h a t s a e h e n . Der zur Vernehmung des Zeugen schreitende Amtsrichter 4 1 kann, ohne dass ein Antrag gestellt ist, auch zur Beeidigung schreiten; liegen specielle Anträge auf Vornahme der Beeidigung vor, so hat er darüber zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen derselben, wie sie § 65 Abs. 2 aufstellt, vorhanden seien, und braucht meines Erachtens sich auch nicht mit der nicht substantiirten Erklärung des Staatsanwalts zu begnügen, dass von der Thatsache die Erhebung cler öffentlichen Klage abhängig ist (§ 160) 4 2 . Auch der Verdächtigte kann 1111 Sinne des § 164 clen Antrag auf Beeidigung stellen. b. In der Voruntersuchung kommen die unmittelbaren Zwecke dieses Prozessabschnittes, aber auch schon die Rücksichten auf die Hauptverhandlung in Betracht, Mit den e r s t e r e η erweitern sich auch die Anlässe, welche die Beeidigung „als Mittel zur Herbeiführung einer wahrheitsgeinässen Aussage" als erforderlich erscheinen lassen können ; insbesondere was clie Gegenstände der zu beeidenden Aussage betrifft , ergiebt sich dies aus der Vergleichung der Absätze 2 und 3 des § 65; es kann sich ζ. B. um Umstände handeln, von welchen die H a f t des Beschuldigten bedingt ist. I n cler z w e i t e n Hinsicht ist es Sache des Untersuchungsrichters, dafür zu sorgen, dass jede 40

K e l l e r Beni 3 b ; S c h w a r z e Bern 10. Das gleiche gilt für Erhebungen in Uebertretungsfällen, K e l l e r Bern 6. 42 S c h w a r z e Bern 4 zu § 65; L ö w e Bern 4, P u c h e l t Bern 5, T h i l o Bern 3, K e l l e r Bern 8 das. und Bern 5 zu § 160; Geyer §138 I I 3, welcher jedoch aus § 163 mit Unrecht ableitet, dass der Amtsrichter von Amtswegen nur bei Gefahr im Verzuge die Beeidigung vornehmen kann: er kann dies bei einer nicht beantragten Vernehmung, die nach § 163 zulässig ist, sobald den Erfordernissen des § 65 Abs. 3 entsprochen ist, und er kann es bei einer beantragten Vernehmung, wenn ihm clas Vorhandensein derselben sich dabei aufdrängt. Auch bezüglich des Prüfungsrechtes gegenüber einem Antrag cler Staatsanwaltschaft ist Geyer nicht der im Texte vertretenen Ansicht, er kann sich dabei immerhin auf die sich durchkreuzenden Erörterungen stützen, aus denen Abs. 2 des § 164 hervorging. S. auch Da I c k e Bern 3 zu § 65. — Nach österr. Recht kann die Schwierigkeit nicht entstehen, weil der die Vorerhebungen pflegende Richter dieselbe Stellung einnimmt, wie der Untersuchungsrichter, und weil auch für jenes Stadium des Verfahrens besondere Bedingungen für die Zulässigkeit der Beeidigung nicht aufgestellt sind, dagegen aber das specielle Recht der Parteien auf Beachtung ihrer Beeidigungsanträge im § 169 anerkannt ist. 41

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

Aussage, von welcher zu erwarten ist, dass sie in der Hauptverhandlung wieder benutzt werden müsse, und bezüglich welcher anzunehmen ist, dass ihre Verlesung die mündliche Vernehmung werde ersetzen müssen, beeidigt werde. Eben dämm stimmt hierin Abs. 2 des § 65 mit § 191 Abs. 2, § 222 und § 250 überein; und der Richter kann sich um so leichter in zweifelhaften Fällen für die Beeidigung entschliessen, weil die Vornahme cler Beeidigung die Nichtladung cles Zeugen keineswegs zur notwendigen Folge hat, während allerdings die Unterlassung der Beeidigung und cler Beobachtung der Vorschriften des § 191 als Hinderniss cler Verlesung der Aussage gelten kann. Was speciell die Entfernung betrifft, so ist alles darüber einig, dass sie als Erschwerung des Erscheinens bei cler Hauptverhandlung nicht für sich allein, sondern in Vergleiehung der Wichtigkeit cler Sache und Aussage einerseits und cler Kosten und Belästigung andrerseits in Betracht kommt. Bei cler „voraussichtlichen Verhinderung des Erscheinens" ist natürlich auch an die Fälle gedacht, wo Lebensweise und \7erhältnisse des Zeugen clie Besorgniss erregen, dass er nicht rechtzeitig werde gefunden oder nicht ordnungsmässig werde geladen werden können (Hausirer, durchreisende Ausländer u. s. w . ) 4 3 . Die Beeidigung kann sich auch hier b e i der Vernehmung als nothwendig herausstellen, ζ. B. weil cler Untersuchungsrichter ernste Zweifel an der Wahrheit der bisher gemachten Angaben h e g t 4 4 : sie kann aber auch unter clen Gesichtspunkt einer speciell beantragten Ergänzung des Verfahrens fallen. (Der ersuchte Richter hat, wenn er ausdrücklich um Beeidigung angegangen ist, dieselbe vorzunehmen, sofern sich nicht ein offenbar unvorhergesehenes Hinderniss zeigt 4 5 .) c. Eben darum kann auch in Anwendung des § 200 das zur Beschlussfassung über die Eröffnung des Hauptverfahrens berufene Gericht die Beeidigung eines Zeugen anordnen, wenn es sich davon „bessere Aufklärung der Sache" verspricht 4 6 . 43

Schwarze Bern 5; K e l l e r Bern 2a. Nach österr. Recht darf andererseits bei erwiesener Unwahrheit bereits abgelegter Aussagen zur Beeidigung nicht geschritten werden. § 170 Z. 7, vgl. M a y e r Bern 11 zu § 169 österr. StPO. 45 L ö w e Bern 4 zu § 60. 46 Geyer, Lehrb. S 531 Anm 2; K e l l e r Bern 9, P u c h e l t Bern 7, L ö w e Bern 7 zu § 65. Der Streit darüber, ob das Gericht an die Voraussetzungen des § 65 Abs. 2 gebunden ist oder nicht, scheint mir ziemlich gegenstandlos. Als eine Vorbedingung seiner eigenen Entscheidung wird das Gericht die Beeidigung sicher nur verfügen, wenn es sie als Mittel zur Herbeiführung einer wahrheitsgemässen 44

576

51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

d. Die im Haupt-verfahren, aber ausser der Hauptverhandlung stattfindende Vernehmung von Zeugen (§ 222) „erfolgt, soweit die Beeidigung zulässig ist, eidlich". e. I n dem Verfahren gegen Abwesende gilt die eidliche Zeugenvernehmung als Regel (§ 328 Abs. 2 ) 4 7 , ebenso bei der Erhebung der zum Zweck der Wiederaufnahme des Verfahrens angebotenen Beweise (§ 409 und M o t i v e hiezu). 2. Wenn sonach ausnahmsweise schon ausser cler Hauptverhandlung eine Beeidigung erfolgte, so wird zunächst zu erwägen sein, welcher Gebrauch von der beeidigten Aussage als solcher in der Hauptverhandlung zu machen ist? — Der Umstand, dass die Beeidigung erfolgte, entbindet nicht von cler Verpflichtung zu unmittelbarer Vernehmung des Zeugen, soweit dieselbe nach § 250 stattzufinden hat. Sind clie Bedingungen dieses § erfüllt, so muss clas Protokoll mit Einschluss der Bestätigung über clie erfolgte Beeidigung verlesen werden; aus demselben müssen auch die Gründe ersehen werden, wegen welcher die Beeidigung vor cler Hauptverhandlung erfolgte. Fehlt diese Angabe oder sind clie Gründe nicht ausreichend, so darf von der Aussage nicht a l s v o n e i n e r b e e i d i g t e n Gebrauch gemacht w e r d e n 4 8 , weil dies Vernichtung cler Hauptverhandlung zur Folge haben könnte; dagegen steht cler Verlesung der Aussage selbst der blosse Umstand, dass sie nicht hätte beeidigt werden sollen, nicht entgegen 49 . Aussage ansieht und als Vorbereitung der Hauptverhandlung gewiss nicht, wenn es nicht der Meinung ist, der Zeuge könnte dort fehlen. 47 L ö w e Bern l b zu § 65. — Vgl. M a y e r Bern 8 zu § 169 österr. StPO. 48 S c h w a r z e Beni 11, T h i l o Beni 7, D a l c k e Bern 4 zu § 65; Geyer in HH 1 289 Xr 4; M a y e r Bern 13 zu § 169 österr. StPO. And. Mein. L ö w e Beni 7 zu § 65. Selbstverständlich kann auch dann die Beeidigung in der Hauptverhandlung geltend gemacht werden, wenn die Gründe der Eidesanticipation zwar nicht im Protokoll angegeben, aber in der Hauptverhandlung selbst constatili; sind. 49 L ö w e Beni 6; K e l l e r Beni 11 zu § 65. Das RGE v. 24. April 1880 Jvspr I 655 sagt nur, class die Thatsache der ungerechtfertigten Beeidigung „zur Aufhebung des ergangenen Urtheils an sich nicht habe führen können, da die Thatsache . . . nachher nicht wieder aufgehoben werden konnte". Aber allerdings lässt sich vermeiden, dass die Beeidigung in der Hauptverhandlung zur Sprache gebracht wird. (P u c li e 11 Beni 3 zu § 65 scheint das Gewicht statt darauf auf die Entscheidungsgründe legen zu wollen — und im Schwurgerichtsverfahren?) — Zur Vermeidung ä h n l i c h e r Zweifel wurde dem § 170 österr. StPO die Fassung gegeben: „dürfen bei sonstiger Nichtigkeit des E i d e s nicht beeidet werden". M a y e r , Handbuch I 578; vgl. I I Bern 12 zu § 169. Die Folge davon ist, dass Nichtigkeit cler Hauptverhandlung nur dann eintritt, wenn gegen den Widerspruch des Beschwerdeführers das Protokoll des Beeidigungsaktes in der Hauptverhandlung

§ 51.

3. Findet

die

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

nochmalige

Vernehmung

eines

bereits

beeideten

Zeugen i n cler H a u p t v e r h a n d l u n g statt, so entsteht clie weitere Frage, ob die Beeidigung

zu

wiederholen

sei?

Hier

gehen clie

deutsche

und die österreichische Strafprozessordnung grundsätzlich auseinander ; die letztere setzt an die Stelle cler W i e d e r h o l u n g des Eides die E r innerung

an die

Heiligkeit

des abgelegten E i d e s 5 0 .

Die

deutsche

StPO dagegen gestattet,

dass cler Richter

clen Zeugen, welcher

demselben Vorverfahren

oder i n demselben Hauptverfahren nochmals

„in

vernommen" wird, clie „ R i c h t i g k e i t seiner Aussage unter Berufung auf den früher

geleisteten E i d versichern"

lasse.

Beide

also davon aus, class unter gewissen Umständen der

Gesetze

gehen

vorausgegangene

Eicl durch ausdrückliche Bezugnahme f o r t w i r k e n d gemacht w i r d , ohne dass es dabei auf clie A n w e n d u n g einer bestimmten F o r m e l a n k o m m t 5 1 . Zunächst zeigt sich

aber

eine Differenz

darin,

dass während beide

Vorgänge bewirken, dass die neue Aussage als beeidigt anzusehen ist, verlesen wird. Die ungerechtfertigte Anticipation der Beeidigung ist zwar dort an sich kein Nichtigkeitsgrund, wohl aber würde die gegen den Widerspruch der Partei erfolgte Verlesung des Eidesvermerkes nach g 281 Ζ . 4 und § 844 Ζ . 5 angefochten werden können. 50 § 247 Abs. 1, wobei übrigens nur von Zeugen clie Rede ist, „welche im Vorverfahren beeidigt wurden". Das Vorverfahren umfasst nach österr. Recht jedenfalls auch das der Hauptverhandlung vorhergehende Zwischenverfahren; allerdings aber lässt der A u s d r u c k die Frage unentschieden, ob das gleiche auch von Aussagen gilt, die in derselben Strafsache bei einer Hauptverhandlung abgelegt wurden, wenn später eine neue Hauptverhandlung nothwendig wird. Dabei ist aber nicht das auf diese nicht anwendbare „Vorverfahren" entscheidend, sondern es kommt darauf an, dass das Gesetz die Wiederholung des Eides in derselben Sache unverkennbar vermeiden wollte und die Eidesleistung durch blosse Hinweisung auf den schon geleisteten Eid wirksam ersetzen zu können meinte. Das gilt sicher von der abgebrochenen, vernichteten oder durch ein wiederaufgenommenes Verfahren zu ersetzenden Hauptverhandlung; wird das Verfahren wider Mitschuldige gesondert geführt, so hängt alles davon ab, ob nach Lage der Sache noch von Identität des Strafprozesses gesprochen werden kann. Vgl. P e y r e r in Haimerls Magazin V 244. 245. (Dieser erklärt die Verweisung auf einen im Verfahren gegen einen Mitschuldigen geleisteten Eid in der Hauptverhandlung gegen einen anderen für zulässig, erklärt es dagegen für bedenklich, auf einen Eid, der den Bestandteil einer vernichteten Hauptverhandlung bildete, zu verweisen.) S. ferner Erk. des Wiener Cass.-Hofes v. 9. Jan. 1877, Samml. Nr 137, und dessen Besprechung bei R u l f , Praxis S 6 1 - 6 3 ; M i t t erb ach er Bern 3 zu § 247 österr. StPO. 51 RGE v. 8. Jan. 1881 Rspr I I 704. — Da die Berufung auf einen früheren Eid die Aussage unter Eid stellt, muss dieser Vorgang Nichtigkeit begründen, wenn die Beeidigung selbst das gethan hätte ( M a y e r I I 613 Bern 30 und die dort angeführte b a y e r i s c h e Entscheidung); wenn der frühere Eid an sich nichtig war, kann natürlich die Berufung auf ihn die erforderliche Beeidigung nicht ersetzen. Binding. Handbuch. IX. 4. I: G l a s e r , Strafprozess. I.

37

578

51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

die österreichische StPO dies lediglich durch den Richter „erinnern" lässt, die deutsche dagegen eine ausdrückliche Versicherung des Zeugen fordert, weshalb hier auch eine cler Eidesverweigerung gleichzuhaltende Ablehnung cler Versicherung denkbar ist. Der Text des Gesetzes, dessen Entwurf hier in clen Berathungen cler RtConnn. 5 2 Abänderungen erfuhr, hat bereits erhebliche Controversen hervorgerufen 5 3 : a. Ist der Ersatz des Eides durch die Berufung auf einen früheren unter den im Gesetz bezeichneten Voraussetzungen o b l i g a t o r i s c h 5 4 oder in das Ermessen des Richters gestellt 5 5 ? Für die letztere Ansicht wird die Entstehungsgeschichte des Textes oder vielmehr die Fassung des Entwurfes in Verbindung mit clen Motiven angerufen, da sich nicht leugnen lässt, dass die im Gesetz angenommene Fassung nicht der Absicht, die hier besprochene Frage anders zu lösen, als im Entwurf geschah, entsprungen ist. Allein wenn es im Entwurf hiess: „so g e n ü g t es, wenn der Zeuge" u. s. w., so liegt auch darin keine ausdrückliche und zweifellose Entscheidung cler Frage; man müsste denn annehmen, es habe cler Entwurf in erster Linie clas Maass der Eidespflicht bestimmen wollen. Das „genügt" des Entwurfes und das „kann der Richter" des Gesetzes finden beide eine ungezwungene Auslegung doch nur darin, dass dem Gesetze Genüge geschehen ist. wenn die Berufung auf den abgelegten Eicl eintritt; ein Verbot der Wiederholung des Eides kann aus clen Motiven allein — die zu diesem Zweck erst wie ein Gesetzestext gedeutet werden müssten —, nämlich aus den Worten, dass cler Zeuge „nicht von neuem beeidigt w e r d e n s o l l e " , ungezwungen gewiss nicht herausgelesen werden. Immerhin aber ist dem Richter der Wille des Gesetzes zu erkennen gegeben, dass der einfachere Vorgang genüge, und er wird davon nicht willkürlich, sondern nur aus sachlichen Gründen eine Ausnahme machen dürfen. b. Der Ausdruck „dasselbe V o r v e r f a h r e n " wurde gewählt, um zu bewirken, dass der im Verfahren zur Vorbereitung cler öffentlichen Klage abgelegte Eicl auch für die Voruntersuchung gelte ; „ d a s s e l b e " Vorverfahren bezeichnet nur den Gegensatz zu cler im Vorverfahren 52 Siehe die Motive S 51 zu § 66 StPO, ferner Prot S 72. 73. 825. 826. 1117, H a h n S 1494, Bericht S 22. 23. 63 S. insbesondere Λ7 ο i t u s , Controversen I I 1 if. 16 if. mit Angaben über die bisher in der Literatur und theilweise auch in der Rechtsprechung aufgetauchten Meinungsverschiedenheiten. 54 V o i t u s Bern 2 zu § 66 und Controversen I I 16 ff. 55 L ö w e Bern 7, P u c h e l t Bern 6, J o h n Beni 6 zu § 66; Dochow S 164 Anni 3.

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

über eine a n d e r e Strafsache abgelegten Aussage. Die Voruntersuchung hängt mit dem sie vorbereitenden Verfahren sichtlich zusammen: doch kann aus letzterem eine Mehrheit selbständiger Voruntersuchungen erwachsen; in diesem Falle hängen sie alle mit d e m s e l b e n Erniittelungsverfahren zusammen, aber n i c h t untereinander, sofern sie nicht einheitlich geführt werden. Beim Verfahren gegen mehrere Mitschuldige oder wegen mehrerer Delicte kommt es also auf die thatsächliche V e r b i n d u n g der Voruntersuchungen a n 5 6 . c. Viel mehr Schwierigkeiten bereitet der Ausdruck „in demselben Hauptverfahren". Es tauchen hier folgende Fragen auf: Ist die commissarisehe Vernehmung, welche cler „Eröffnung des Hauptverfahrens" nachfolgt, als ein Theil des letzteren anzusehen, so dass die Wiederholung des Eides i n cler Hauptverhandlung ausgeschlossen istV Ist es noch d a s s e l b e Hauptverfahren, wenn die Hauptverhandlung abgebrochen und nach einiger Zeit von neuem begonnen, — wenn sie in Folge cler Aufhebung oder einer Wiederaufnahme wiederholt wird, — wenn auf Grund desselben Eröffnungsbeschlusses verschiedene Hauptverhandlungen wider verschiedene Mitschuldige gefühlt werden, — wenn eine Berufungsverhandlung stattfindet? Hält man sich an die Bedeutung des Woites „Hauptverfahren", die aus dem technischen Ausdruck „Eröffnung des Hauptverfahrens" sich ergiebt, so scheint es, dass a l l e diese Fragen bejaht werden müssen: immerhin aber ist es erklärlich, dass man principiell hieran sich hält und doch Gründe vorbringen zu können glaubt, einzelne dieser Fragen verschieden zu beantworten δ τ . r> 6 Siehe I) a 1 c k e Beni 3 zu § 66 u. die das. angeführten älteren preussischen Entscheidungen. Die RGE v. 24. April 1880 u. v. 28. Juni 1882, Rspr I 655 u. IV 632, erklärten es für unzulässig, dass bei einer nach Eröffnung des Hauptverfahrens erfolgten conimissarisclien Vernehmung auf den in der Voruntersuchung abgelegten Eid Bezug genommen werde; ersteres Erkenntniss begründet das nicht mit dem technischen Begriffe des Vorverfahrens, zu dem jene commissarische Vernehmung allerdings nicht mehr gehört, sondern damit, dass die Verlesung des Protokolles über eine solche Vernehmung „der Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung gleichzustellen, daher bei dieser Vernehmung die blosse Verweisung" auf den im Vorverfahren geleisteten Eid „unstatthaft erscheint und der allgemeinen Regel des § 60 widerspricht". S. jedoch unten Anm 64. 57 Das RGE v. 27. Juli 1881 Rspr I I I 490 erklärt es für genügend, wenn die Aussage in der Hauptverhandlung bei dem Eide versichert wird, unter welchem der Zeuge bei seiner conimissarisclien Vernehmung nach Eröffnung des Hauptverfahrens ausgesagt hat. Dies wird aus dem jene Vernehmung mitumfassenden Begriffe des Hauptverfahrens gefolgert; den entgegengesetzten, in verschiedenen „Stellen der Protokolle der Commission enthaltenen Aeusserungen und Anträgen" sei kein Gewicht beizulegen; „jene Ansicht ist in das Gesetz nicht aufgenommen 37*

580 Aber

§ 51.

es entwickelt

der i m § 66 für

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

sich daraus eine solche Einengung

„clas Hauptverfahren"

des Gebietes

zugelassenen Ausnahme,

dass

gerade sie zu einem G r u n d für die vertheidigte Ansicht benutzt werden kann.

Sieht

m a n nicht wenigstens die nach § 222 StPO erfolgten

Beeidigungen als cler W i e d e r h o l u n g entzogen an, so bleiben j a k a u m noch vereinzelte F ä l l e denkbar, wo wiederholte

Vernehmung

„ i m selben Hauptverfahren"

eines Zeugen

stattfinden

kann,

eine

besonders

w e n n m a n (wie b i l l i g ) Bedenken trägt, clas blosse Zurückberufen eines noch nicht definitiv entlassenen, bei Beginn der V e r n e h m u n g beeidigten Zeugen zu den F ä l l e n zu rechnen, auf clen früher clie F ä l l e ü b r i g ,

AVO es einer förmlichen Berufung

abgelegten Eicl noch b e d a r f 5 8 .

Es bleiben also n u r

wo i n derselben Hauptverhandlung ein Zeuge noch-

mals vernommen werden soll, welcher schon entlassen war oder welcher worden". Die connnissarische Vernehmung solle ja eben die in der Hauptverhandlung ersetzen. — L ö w e Bern 2 a u. b zu § 66 geht von dem gleichen Begriffe des Hauptverfahrens aus und gelangt zum gleichen Resultate bezüglich der commissarisehen Vernehmung. Viel mehr als darum ist es ihm aber um die Fälle des A b b r u c h e s und der Erneuerung der Hauptverhandlung zu thun, bei welchen er die Wiederholung des Eides ausgeschlossen wissen will, während er in den anderen im Texte erwähnten Fällen die Identität des Hauptverfahrens bestreitet. T h i l o , dessen Ansicht nicht deutlich ausgesprochen ist, bezeichnet als Ergebniss der von der Commission angenommenen Fassung, dass „bei mehreren Vernehmungen des Zeugen im Vorverfahren eine körperliche Eidesleistung nur einmal, wenn sie überhaupt erforderlich erscheint, stattfindet, dagegen im Hauptverfahren die Eidesleistung, wenn der Zeuge erschienen ist, wiederholt werden muss und nur bei späterer nochmaliger Vernehmung i n d e m s e l b e n S t a d i u m des H a u p t v e r f a h r e n s eine Versicherung der Richtigkeit der Aussage auf den früher geleisteten letzten Eid statthaft ist". D a l c k e missbilligt offenbar principiell den Beschluss der Commission; er stellt sich bezüglich des Begriffes des „Hauptverfahrens" L ö w e zur Seite, stimmt ihm auch bezüglich des vertagten Hauptverfahrens bei; allein er rechnet zu demselben auch die späteren Verhandlungen gegen Complicen (Bern 1 zu § 66) und ist geneigt, dies auch bezüglich der wiederholten Hauptverhandlung zu thun (Bern 5 das.). D o c h o w S 164 Anm 40 stimmt mit L ö w e bezüglich aller Fälle, ausser dem der Vertagung, überein. B o m h a r d Beni 1 das. bestreitet nur, dass die wiederholte Hauptverhandlung oder die ΒerufungsVerhandlung demselben Hauptverfahren angehören, aeeeptirt den Begriff des letzteren, wie er aus dem § 201 sich ergiebt, verhält sich aber trotzdem unentschieden zur Frage der commissarischen Vernehmung. — Sehr ausführlich im Sinne möglichster Beschränkung der Geltung des früheren Eides J o h n , StPO S 629—637. Das RGE v. 12. Mai 1880 Rspr I 756 erklärte es fur unnöthig, dass der Zeuge, welcher unter Voreid ausgesagt hat und in derselben Hauptverhandlung später noch einmal abgehört wird, ausdrücklich auf den Eid sich berufe. „Der § 66 spricht von einer nochmaligen Vernehmung des Zeugen in demselben Hauptverfahren, n i c h t i n d e r s e l b e n H a u p t v e r h a n d l u n g " . Immerhin wird aber die Möglichkeit zugegeben, dass das entgegengesetzte Verfahren zweckmässig sei.

51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

am Schluss seiner ersten Vernehmung beeidigt w u r d e 5 9 ; da kaum anzunehmen . dass § 66 nur dieser wenigen Fälle wegen gegeben sei, meint man, es rechtfertige sich die Ausdehnung auf die ausser der Hauptverhandlung aber nach Eröffnung des Hauptverfahrens erfolgten Vernehmungen. Auf der anderen Seite nimmt man hier „Hauptverfahren" als gleichbedeutend mit „Hauptverhandlung" 6 0 . Es wird geltend gemacht, dass der Entwurf einfach gelautet hatte: „Wird der Zeuge . . . . i n d e r s e l b e n U n t e r s u c h u n g nochmals vernommen" u. s. wr., dass das so aufgestellte Princip aber bekämpft wurde, eben weil man Werth darauf legte, dass die Beeidigung „ i n cler H a u p t v e r h a n d l u n g " erfolge und durch ihre Wiederholung die Feierlichkeit der letzteren hebe. Zwischen zwei gewiss als solche gleichmässig erkannte Uebel (Schniälerung cler Feierlichkeit der Hauptverhandlung und Entwerthung des Eides durch die Wiederholung) gestellt , hat die Commission das letztere, als clas kleinere, gewählt und auch im Bericht ausgesprochen, dass die Beeidigung „jedenfalls dann nicht ersetzt werde. wenn in cler Hauptverhandlung die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, clen Zeugen zu beeiden". Um unter diesen Umständen mit dem Reichsgericht den hierauf abzielenden in verschiedenen „Stellen der Protokolle der Commission enthaltenen Aeusserungen unci Anträgen" jedes Gewicht absprechen und erklären zu können, „jene Ansicht ist in das Gesetz nicht aufgenommen worden" 6 1 , müsste die allein hierzu Grunde liegende Deutung des Woites „Hauptverfahren" eine weit festere sein, als sie wirklich i s t 0 2 . Aber auch dann würde die so gewonnene Auslegung einen inneren Widerspruch in clas Gesetz tragen, weil sie dahin führt, den zufälligen Umstand, ob die eidliche Vernehmung eines Zeugen vor oder nach Eröffnung des Hauptverfahrens stattfand, Verschiedenheiten hervorbringen zu lassen, clie in der Natur cler Sache gar nicht gegründet sind, weil zwischen den Vernehmungen nach § 191 und nach § 222 gewiss viel mehr Analogie besteht, als zwischen letzteren und den in der Hauptverhandlung selbst vorgenommenen. 59

RGE v. 25. Febr. 1880 Rspr 1 398. K e l l e r Bern 3 zu § 66. G e y e r in UH I 289, Lehrbuch § 138 I V ; S c h w a r z e Bern 2 zu § 66: Puche It Beni 4 das., der den Ausdruck. „Hauptverfahren" auf einen Redactionsfehler zurückführt; Me ν es, Strafverfahren 2. Aufl. 1880 S 81 Anm 52, der aber selbst wieder die Zulassung der conimissarisclien Vernehmung als Widerspruch gegen das nach seiner Auffassung im Gesetz ausgedrückte Princip ansieht ; V o i t u s Bern 1 zu § 66 und Controversen I I 1 ff. 01 S. oben Anm 57. 62 Dies gesteht namentlich L ö w e zu. Beni 2a; s. dessen Bern 10 zu §23. ü0

582

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

Erwägt man nun, dass in dem Entwurf einfach die wiederholte Beeidigung „in derselben Untersuchung" beseitigt werden sollte, — dass in der Commission der Hauptgrund gegen die Annahme dieses einfachen Grundsatzes darin gefunden wurde, dass durch die Beeidigung „im Zimmer des Untersuchungsrichters die Feierlichkeit sowohl des Eides als der Hauptverhandlung leide", dass dieses Argument insbesondere auch von G n e i s t , dessen Fassung angenommen wurde, hauptsächlich 63 betont wurde, im übrigen aber von all den früher hervorgehobenen, durch den Entwurf gar nicht angeregten Unterscheidungen nicht die Rede war: so muss man wohl annehmen, dass als entscheidend der Gegensatz zwischen Hauptverhandlung und anderen Vernehmungsfonnen einerseits, und zwischen Identität und Xichtidentität der S t r a f s a c h e andererseits, in zweiter Linie aber auch die Anwesenheit des Angeklagten bei der Beeidigung angesehen wurde, der Ausdruck „Hauptverfahren" statt des näherliegenden „Hauptverhandlung" eben darum gewählt wurde, weil man nicht übersah, dass in derselben Sache auch mehrere Hauptverhandlungen stattfinden können. Daraus würde folgen : Der bei einer Vernehmung nach § 222 StPO abgelegte Eid ersetzt den in der Hauptverhandlung abzulegenden n i c h t 6 4 . Der in einer Hauptverhandlung über dieselbe Strafsache in Gegenwart des Angeklagten abgelegte Eid braucht weder in einem späteren Abschnitte derselben Hauptverhandlung, noch bei einer Erneuerung derselben, gleichviel aus welchem Anlass sie stattfinde, wiederholt zu werden ΰ 5 , auch nicht bei einer Berufungsverhandlung. 03

Allerdings spricht er auch (Prot 8 72) davon, dass die Beeidigung „vor Monaten" erfolgte, und legen andere wieder Gewicht darauf, dass sie in Gegenwart des Angeklagten erfolge. Merkwürdig ist übrigens, dass neben der ins Gesetz aufgenommenen Fassung eine andere von H e r z vorgeschlagen war, welche die Ausnahme auf wiederholte Vernehmungen „im vorbereitenden Verfahren oder in der Voruntersuchung" beschränken wollte, dass aber eben dieser Abgeordnete dem Protokoll zufolge gesagt hätte : „In einem und demselben Vorverfahren oder Hauptverfahren sei die nochmalige Beeidigung allerdings überflüssig". 64 Geht man in dieser Weise davon aus, dass für die Auslegung des § 66 nicht die durch den Beschluss auf Eröffnung des Hauptverfahrens gezogene Grenzlinie maassgebend ist, so wird man es vielleicht auch wagen dürfen, es als überflüssig anzusehen, dass bei einer Vernehmung nach § 222 der im Vorverfahren abgelegte Eid wiederholt werde, wie der Ausdruck „Vorverfahren" zu fordern scheint (s. oben Anm 56). Es ist doch zu widerspruchsvoll, dass die Vernehmung nach § 191 die nach § 222 ganz soll ersetzen können (s. S c h w a r z e Bern 2 zu § 222 und die daselbst dargestellte Geschichte der AVeglassung des Abs. 3 des im Entwürfe dem § 222 entsprechenden § 186), nicht aber bezüglich der Beeidigung allein. 65 Dies scheint auch in dem RGE v. 12. Mai 1880, s. oben Anm 58, anerkannt zu sein.

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

Dagegen seheint es mir nicht zulässig, die wiederholte Beeidigung zu unterlassen, wenn getrennte Verhandlungen gegen verschiedene Mitschuldige wenn auch auf Grund desselben Eröffnungsbeschlusses stattfinden 6 6 . 4. Nach österr. Recht erfolgt die Beeidigung der Zeugen im Vorverfahren n a c h , in der Hauptverhandlung v o r der Vernehmung (§ 171 und 247). Die deutsche StPO sagt im § 60, dass der Zeuge v o r seiner Vernehmung zu beeidigen ist. Beide Gesetze lassen von der Regel des \ r o r e i d e s 6 7 Ausnahmen zu. Nach § 247 Abs. 3 der österr. StPO kann die Beeidigung „unterbleiben oder bis nach erfolgter Abhörung des Zeugen ausgesetzt werden, wenn Ankläger und Angeklagter darüber einig sind" ; und nach § 254 das. hat bezüglich der Zeugen, welche der Vorsitzende in der Hauptverhandlung kraft seines Rechtes vernimmt, der Gerichtshof nach der Vernehmung über die Beeidigungsfrage zu entscheiden. Dieser Zusammenhang lässt deutlich erkennen, dass der Gerichtshof, nach der Vernehmung, sich frei über die Beeidigung entscheidet und dass dafür die Ergebnisse der Vernehmung maassgebend sind, also einerseits die Unerheblichkeit, andererseits die offenbare Unwahrheit der Angaben 6 8 . Nach § 60 der deutschen StPO ist clem Richter in Bezug auf den Z e i t p u n k t ein viel weiterer Spielraum gelassen: „die Beeidigung kann . . aus besonderen Gründen, namentlich wenn Bedenken gegen ihre Zulässigkeit obwalten, bis nach Abschluss der Vernehmung ausgesetzt üü

Wie schon gesagt, wurde in der Commission auf das Recht der Parteien, der Beeidigung beizuwohnen, ein sehr grosses Gewicht gelegt, m. E. ein übertriebenes; es ist für die Partei sehr wichtig, der V e r n e h m u n g beizuwohnen; was aber den Eindruck der Beeidigung betrifft, so kommt dabei mehr der Zeuge als der Angeklagte in Betracht. — Aber auch abgesehen hievon liegt m. E. in der Trennung der Verhandlungen wider mehrere Mitangeklagte die Auflösung der künstlich hergestellten Verbindung einer thatsächlich vorhandenen Mehrheit von Strafsachen. 07 Auch ich halte zum richtigen Ausdruck der Verschiedenheit die Worte: V o r e i d und N a c h e i d für die geeignetsten. Die Bezeichnung assertorisch und promissorisch, welche, von den Motiven zur deutschen Strafprozessordnung ausgehend, sich über diese Literatur weit ausgebreitet hat, leitet irre; jeder Eid, der zur Betheuerung der Wahrheit einer Behauptung abgelegt wird, ist ein assertorischer ; oder vielmehr: jede Aussage, die unter Eid abgelegt wird, gleichviel ob die Betheuerungsformel am Anfang oder am Ende der Aussage steht, ist eine beeidete Assertion und begründet, wenn unwahr, Meineid. Promissorische Eide sind im Gegensatz hiezu solche, welche ein künftiges Verhalten versprechen und deren Bruch Eidbruch im Gegensatz zum Meineid ist. Vgl. namentlich M i t t e r m a i e r im NA I I 87-91. 104-106. Siehe auch Z a c h a r i ä , Handbuch I I 208 Anm 1; Schütze in G A 1874 S 22. 08 M i t t e r b a c h e r Beni 7 u. 8 zu § 247 österr. StPO.

584

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

werden". Die Aussetzung aus letzterem Grunde hat gerade das zum Zweck, dass am Schluss der Vernehmung darüber entschieden werden könne, ob die Beeidigung „zulässig" sei, d. h. ob ein g e s e t z l i c h e s Hinclerniss gegen dieselbe obwalte. Sie kann daher meines Erachtens nicht dahin führen, dass nach Ermessen auch aus anderen Gründen die Beeidigung unterbleibe 6 9 . Hat der Zeuge völlig unerhebliches ausgesagt, so fehlt zur Unterlassung der Beeidigung die gesetzliche Handhabe sicher 7 0 , wenn eine der Parteien auf der Beeidigung besteht; wenn dies 60

Α. M. scheint L ö w e Beni 2 a zu § 60 zu sein, wenn er sagt, es seien im Strafprozess die Fälle viel häufiger als im Civilprozess, „in denen sich die Zulässigkeit oder A n g e m e s s e n h e i t der B e e i d i g u n g erst nach der Vernehmung beurtheilen lässt". In die gleiche Richtung deutet es, wenn S c h w a r z e Bern 4 clas. unter den Gründen der Aussetzung der Beeidigung den Fall anführt, wo es zweifelhaft ist, „ob der Zeuge etwas erhebliches aussagen werde", und wenn L ö w e a. a. 0. und V o i t u s Bern 2 auf die Notwendigkeit einer Confrontation als Grund der Aussetzung hinweisen. AVenn letzterer d a b e i auf den Bericht der Commission (S 20) sich beruft, so ist zu bemerken, dass diese Stelle lediglich den Zeitpunkt betrifft, bis zu welchem die Beeidigung ausgesetzt werden kann. Es heisst nämlich: „Erfolgt die Beeidigung n a c h der Vernehmung, so soll durch die Worte: »bis nach Abschluss der Vernehmung« ausgesprochen sein, dass die Beeidigung ausgesetzt werden kann, bis das erforderliche Gegenverhör des Zeugen mit anderen Zeugen erfolgt und somit ein Anlass zu weiteren Vernehmungen des Zeugen nicht mehr vorhanden ist". Im gleichen Sinne sprach sich auch der Referent S c h w a r z e im Reichstage aus. Verhandlungen S 443. 444. H a h n S 1766. 1767. Ein Hauptfall der Aussetzung der Beeidigung ist der, von dem es im RGE v. 20. Sept. 1881 Rspr I I I 514 heisst: „Es mag sich empfehlen, die im § 51 genannten Personen erst nach ihrer Vernehmung zu beeidigen, wegen der Widerruflichkeit des Verzichtes und wegen ihrer Berechtigung, den Eid zu verweigern" ; allein „keinesfalls ist in der fraglichen Unterlassung" (der Eidesaussetzung) „eine Gesetzesverletzung zu erblicken, auf welche . . . der Beschwerdeführer sich gemäss § 376 StPO berufen könnte". 70 Von der Voruntersuchung muss hier ganz abgesehen werden, denn für diese verkehrt sich die gesetzliche Regel des Voreides unvermeidlich in eine Ausnahme. Denn die Beeidigung im Vorverfahren soll ja selbst eine Ausnahme bilden, deren Zulässigkeit theils von dein Benehmen des Zeugen während der Vernehmung, theils von der Frage abhängt, ob dessen Aussage als bei der Hauptverhandlung zu benutzendes Beweismittel erhalten werden muss. Was aber die Hauptverhandlung betrifft, so ist nichts bedenklicher, als die Notwendigkeit einer Entscheidung über den Werth v o r l i e g e n d e r Beweisergebnisse während der Hauptverhandlung. Es ist im Text die Erörterung der legislativen Frage des Voreides mit Bedacht unterlassen worden; es ist hier nicht der Ort, den Einfluss, den der Zeitpunkt der Beeidigung auf die Beweiswürdigung übt, weiter zu besprechen (vgl. G l a s e r im (4S 1881 S 63). Die in den Motiven für den deutschen Entwurf geltend gemachten Gründe beziehen sich alle ebenfalls auf diese Seite der Frage. Hier sind aber zwei Gründe anzuführen, welche damit nicht zusammenhängen. 1. Die gesetzliche Regel ist, dass der Zeuge unter Eid aussage; verweigert er vor der Aussage den Eid, so wird er zur Ablegung der Aussage nicht zugelassen werden dürfen; geschieht es aber erst

§ 51.

Die Beeidigung der Zeugenaussage.

nicht geschieht,

k o m m t es eben überhaupt auf clen Einfluss an,

i n dieser Frage

dem Verzicht

dieses Paragraphen).

eingeräumt w i r d (worüber

Noch viel bedenklicher

wäre es,

cler

am Schluss clas

Gericht

seine Entscheidung lediglich auf die U n w a h r h e i t des ausgesagten oder umgekehrt darauf basiren zu lassen, dass dem Zeugen auch ohne E i d zu glauben s e i 7 1 . richt

nach

der

M a n käme bei der grossen Freiheit, die das Ge-

deutschen StPO

bezüglich

cler Aussetzung

der

Be-

eidigung hat, wenn man letzterer die W i r k u n g beilegt, dass clie obligatorische Vorschrift gilt,

der Beeidigung eigentlich

nur

für den

Voreid

dahin, die ganze Frage der Beeidigung einfach i n das Ermessen

cles Gerichtes zu stellen. Allerdings spricht § 60 neben den Gründen, die aus cler vorauszusehenden oder zu verniuthenclen U n z u l ä s s i g k e i t abgeleitet werden, „aus besonderen

cler Beeidigung

auch davon, dass die Beeidigung auch sonst noch Gründen"

bis nach Schluss

gesetzt werden könne. Ist vorstehendes

richtig,

cler V e r n e h m u n g

aus-

so können die sonstigen

Gründe sich n u r darauf beziehen, dass nach Lage des Falles von clem Zeugen eine verlässlichere Aussage zu erwarten ist, wenn die F o r n i nach der Vernehmung, so ist eine gesetzlich unzulässige Aussage zur Kenntniss der Spruchrichter gebracht worden; solches darf aber nicht vorkommen, wo es Mittel giebt. es zu verhindern. 2. drängt die Abnahme des Eides am Schlüsse der Vernehmung Gesetzgebung und Praxis dazu, der Entscheidung über die Zulassung zum Eid eine Art Sichtung und Kritik vorausgehen zu lassen, und die daran sich knüpfenden Verhandlungen sind von grossem Nachtheil für die Wahrung der Objectivität des Gerichtes und in hohem Grade empfindlich für den Zeugen, dem die Erfüllung seiner ohnehin gewöhnlich drückenden Bürgerpflicht nicht noch erschwert werden sollte. Letzteres ist in den Motiven zur österr. StPO (E I Nr 3) als der „entscheidende Grund" für die Rückkehr zum Voreid genannt (vgl. M a y e r , Handbuch I 721—725, K a s e r e r I I 66). Ist nun auch dieser Grund in den Motiven der deutschen Strafprozessordnung nicht angegeben, so liegt (las bedenkliche eines entgegengesetzten Vorganges zu deutlich vor Augen. Die Partei kann verlangen, (lass das Gericht sein Urtheil über die Thatsachen auf das Ergebniss der gesammten Beweisaufnahme gründe und daher (lie Bildung dieses Urtheils aufschiebe, bis jenes vorliegt. Die Ordnung des Verfahrens fordert, dass (lie E r ö r t e r u n g der Ergebnisse des Verfahrens ebenfalls bis dahin aufgeschoben werde; es kann aber natürlich den Parteien nicht versagt werden, dieser Discussion vorzugreifen, wenn über die Erheblichkeit oder gar über die Glaubwürdigkeit der Aussagen per incidens früher entschieden wird. S. auch Geyer in HH I 283. 284. (Trotzdem ist es allerdings möglich, dass wenn die Aussage wegen Unerheblichkeit unbeeidigt gelassen wurde und das Revisionsgericht bezüglich der Unerheblichkeit der gleichen Ansicht ist, das Urtheil der Vernichtung entgeht, weil es nicht als auf der eingetretenen Formverletzung b e r u h e n d angesehen wird.) 71 RGE v. 16. Febr. 1880 Rspr I 359 (der Fall trat nach Aussetzung der Beeidigung ein).

586

§ In den Fällen, wo die Verurtheilung eines Abwesenden überhaupt möglich ist, wird dieselbe durch Zweifel bezüglich des Vorhandenseins der erforderlichen Einsicht jedenfalls erschwert sein; dass es dem Gericht unbedingt unmöglich oder verboten sei, sich die nöthige Gewissheit durch Vernehmung von anderen Auskunftspersonen oder aus dem vorzulesenden Vernelnnungsprotokoll zu verschaffen, lässt sich nicht behaupten; es ist auch dies eine Frage der Beweiswürdigung. Anderer Meinung F u c h s , HH I I 68. (i H o l t z e n d o r f f in seinem Handbuch I 383 Nr. 6. 7 S c l i a u b e r g , Vergleiehung des Geständnisses etc. S 54. 8 Vgl. ö s t e r r . StPO § 455 Abs. 2 (für Uebertretungsfalle).

§ 53.

Die Entgegennahme

er Aussage

es Beschuldigten.

sitives Zugeständniss ist dem ganzen System der Strafprozessordnung fremd; der Ausdruck kann sehr wohl auf „Zugeständnisse", wie solche in der Zustimmung zum Wegfall einer Beweisaufnahme oder in der Unterlassung der Bekämpfung von Parteibehauptungen oder dem Verzicht auf solche, in dem Fallenlassen einer Einrede u. dgl. liegen, bezogen werden; in keinem Fall kann aus jener Stelle der Motive m e h r abgeleitet werden, als dass das Gericht aus dein „Zugeständniss" des Vertreters den Umstand folgern könne, dass ihm gegenüber der Angeklagte die Wahrheit der fraglichen Thatsache eingeräumt habe 9 , eine Beweisfrage, wie sie in ganz ähnlicher Weise auch entstehen kann, wenn sonst dem Angeklagten nahestehende Personen, insbesondere solche, clie in der Geschäftsangelegenheit, aus welcher die Strafsache erwuchs, ihm zur Seite standen oder ihn vertraten, Erklärungen abgeben, die einen Rückschluss auf von ihm gethane Aeusserungen gestatten; es handelt sich da um durch Indicien bewiesene Indicien. I I I . Die Vernehmung des Beschuldigten a u s s e r d e r H a u p t v e r h a n d l u n g richtet sich stets nach denselben Grundsätzen, wenngleich \7eranlassung und Zweck derselben wechseln. Die deutsche Strafprozessordnung bringt die Vernehmung zunächst mit clen Fällen der Freiheitsentziehung in Verbindung (§§ 115, 128, 132 und 135), wo es sich also in erster Linie darum handelt, über deren Beendigung oder Fortdauer zu entscheiden. Wenn nicht dadurch, kann eine richterliche Vernehmung im Verfahren zur Vorbereitung cler öffentlichen Klage nur durch speeiellen Antrag cler Staatsanwaltschaft veranlasst werden (§160, vergi. § 164); in cler \ 7 oruntersuchung „ i s t d e r A n g e s c h u l d i g t e zu v e r n e h m e n 1 0 , auch wenn er schon vor deren 9

Vgl. F u c h s , HH II 68. Wie weit diese Verpflichtung reicht, ist nach der deutschen StPO streitig. In den Mot zu § 190 wird die Vernehmung als ein „nothwendiger Bestandtheil der Voruntersuchung" bezeichnet und dies aus der Notwendigkeit, den Beschuldigten über die nunmehr erhobene öffentliche Klage zu hören, abgeleitet. Dennoch ist die Frage aufgeworfen worden, ob dem Gesetz nicht durch die blosse Ladung Genüge geschehen sei oder der Richter das Erscheinen des Angeschuldigten erzwingen müsse? „Erscheint er nicht sagt K e l l e r Bern 2 zu § 190, so entscheidet das Ermessen des Untersuchungsrichters, ob-von einem Vorliihrungsbefehl Umgang zu nehmen ist", was von der Beschaffenheit der früher schon abgegebenen Erklärungen des Angeschuldigten, von den Aussagen der Zeugen, welche erkennen lassen, dass er sich nicht zu vertheidigen gedenke u. s. w. abhängen soll. Die Mittheilung der Eröffnung (1er Voruntersuchung könne allenfalls schriftlich geschehen. Alles dies lässt sich de lege ferenda sehr wohl hören, und selbst im alten inquisitorischen 10

Binding, Handbuch. IX. 4. I : G l a s e r ,

Strafprozess. I.

40

626

§ 53.

Die Entgegennahme cler Aussage des Beschuldigten.

Eröffnung vernommen worden ist" (§ 140); und während das sog. Präsidentenverhör des französischen Rechts in die deutsche StPO nicht Aufnahme fand, hat diese nach der Analogie der sog. connnissarischen Vernehmung der Zeugen und Sachverständigen auch eine solche finden Angeklagten eingeführt, dem gestattet wird, von der Hauptverhandlung wegzubleiben (§ 232 Abs. 2). Für alle diese Vernehmungen gelten dieselben Formen und sie können demselben Zweck dienstbar gemacht werden; das letztere kann übrigens auch bei G e l e g e n h e i t von Erklärungen geschehen, welche etwa der Beschuldigte aus Anlass seiner Anwesenheit bei der connnissarischen Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen abgiebt, 1. Abgesehen von den zuletzt erwähnten Fällen, in welchen der Vernehmung des Angeklagten Staatsanwalt und Vertheidiger anwohnen können, erfolgt die Vernehmung des Angeschuldigten „in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft und des Vertheidigers" (§ 190) 1 1 ; dagegen kann dem Beistande einer Beschuldigten (§ 149) die Anwesenheit gestattet werden. 2. Der Z e i t p u n k t der Vernehmung ist durch die vorstehend bezeichneten Veranlassungen bestimmt; im übrigen ist dessen Wahl der Beurtheilung des Richters überlassen; im Geiste des heutigen Verfahrens liegt es, dass mit der Vernehmung des Beschuldigten so lange gewartet wird, bis man ihm alles, was gegen ihn vorliegt, in demselben Verhöre mittheilen kann. Selbsverständlich kann diese Rücksicht nicht maassgebend sein, wenn entweder über die Freiheit des Beschuldigten zu entscheiden ist oder wenn man hoffen kann, bei dessen Vernehmung Aufklärungen zu erlangen, welche die Einstellung Prozess hielt man es tur zulässig, wenigstens die Vernehmung in der Generaluntersuchung durch Abforderung einer schriftlichen Erklärung zu ersetzen (bayerisches Strafgesetz v. 1813 Art. 99), während im heutigen Strafprozess eine Vernehmung zwecklos erscheinen kann, wenn der Angeschuldigte schon vorher erklärt, er werde von seinem Hecht Gebrauch machen, die Antwort zu verweigern. Allein Gründe, welche der kategorischen Erklärung des Gesetzes Stand hielten, bringt K e l l e r nicht vor, ausgenommen die Hillweisung auf die aus der entgegengesetzten Auffassung sich ergebende Notwendigkeit, clen Abschluss cler \'oruntersuchung bis zur Ausführung des Vorführungsbefehles auf sich beruhen zu lassen; der hier vorausgesetzte Fall ist aber der der Abwesenheit des Angeschuldigten, welchen das Gesetz ausdrücklich regelt. Jedenfalls hat der Untersuchungsrichter die ihm zur Verfügung stehenden Mittel zu erschöpfen, ehe er unterlässt, was das Gesetz kategorisch vorschreibt. Siehe L ö w e Bern 4 zu § 190 (cler mit Recht hinzufügt, über wiederholte Vernehmungen entscheide das Ermessen des Untersuchungsrichters); P u c h e l t Bern 2 Abs. 2. 11 Ausgesprochen ist dies nur für die Vernehmung in der Voruntersuchung; allein clie Ausdehnung auf clas Vorbereitungsverfahren ergiebt sich aus § 167 Abs. 1 (Löwe zu diesem Paragraphen Beni 3).

§ 53.

Die Entgegennahme cler Aussage cles Beschuldigten.

(527

des Verfahrens gestatten oder sonst weitläufige Nachforschungen entbehrlich machen; in diesem Fall wird der Zweck cler Vernehmung, dem Beschuldigten volle Gelegenheit zu geben, alles gegen ihn sprechende zu erfahren und zu bekämpfen, selten schon bei der ersten Vernehmung erreicht werden; um so freier bewegt sich dann cler Richter bei Bestimmung des Zeitpunktes cler zweiten. Uebrigens ist dabei auch auf die Wünsche des Beschuldigten, zumal wenn er verhaftet ist, möglichst Rücksicht zu nehmen 1 2 . 3. Die erste Aufgabe des Richters bei der Vernehmung ist die Sicherstellung der Identität des Beschuldigten. Dieses Geschäft kann eine doppelte Richtung nehmen. ' Wo gegen eine bestimmte Person ein Ladungs- oder ein Vorführungsbefehl erging, fragt· es sich — und wird im ersten Falle der Regel nach durch clen Vorweis der Ladung, im zweiten durch den vorführenden Beamten festgestellt —, ob die erschienene Person dieselbe ist, auf welche sich die Ladung oder der Vorführungsbefehl bezieht? Umgekehrt kann eine Festnahme ohne richterlichen Befehl erfolgt sein, in welchem Fall einerseits jeder Zweifel darüber beseitigt werden muss, dass bei der Festnahme keine Personenverwechslung stattfand, und andrerseits die persönlichen Verhältnisse des so festgenommenen aufzuklären sind. Für gewöhnlich genügen wohl zunächst die persönlichen Angaben des zu vernehmenden, und es liegt in der Natur cler Sache, class zumeist die Befragung über den Zweck cler Feststellung der Identität hinausgeht und diejenigen Angaben sammelt, die regelmässig im Strafprozess benöthigt werden oder etwa in dem besonderen Falle wünschenswerth sein können. Namentlich muss schon im ersten Augenblick auf solche persönlichen Verhältnisse Bedacht genommen werden, welche die Zulässigkeit strafgerichtlicher Verfolgung oder die Zuständigkeit des Gerichtes (speciell Militärgerichtsbarkeit, Exterritorialität) berühren könnten. Das alles hindert natürlich nicht, dass es im einzelnen Falle zweckmässiger sein kann, mit dem Hauptgegenstand cler Vernehmung zu beginnen, die persönlichen Verhältnisse gar nicht oder nur leicht zu berühren und sie erst später eingehend zu Sprache zu bringen 1 3 . Die Frage, ob der Beschuldigte verpflichtet sei, über seine persönlichen 12

Löwe Bern 3 zu § 190; H o l t z e n d o r f f in seinem Handbuch I 383 Nr 7. Siehe Schwarze Bern 8 zu § 136. Dass „bei der ersten Vernehmung des Beschuldigten zugleich auf die Ermittelung seiner persönlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen" ist, bestimmt Abs. 3 des § 136. Die Mot sagen darüber (S 80): „Namen, Geburtsort, Wohn- und Aufenthaltsort, Religion, Stand oder Gewerbe, sowie etwaige Vorbestrafungen des Beschuldigten werden regelmässig festzustellen sein. Daneben können die Militärverhältnisse, der Besitz von Rechten, welche im 40* 13

53.

Die Entgegennahme

er Aussage des Beschuldigten.

Verhältnisse Auskunft zu geben, kann als eine müssige angesehen werden, da jedenfalls kein Zwangsmittel zur Verfügung steht 1 4 . Allein es besteht in cler That kein Grund, zwischen dem hierauf abzielenden Theile der Vernehmung und dein übrigen Inhalt derselben zu unterscheiden; unter Umständen kann das Zugeständniss der Identität der Selbstverurtheilung gleich kommen, und umgekehrt weiss jeder, dass er sich durch Zurückhaltung in diesem Punkt verdächtig und die Untersuchungshaft fast unvermeidlich macht 1 5 . 4. Die Vernehmung muss nach § 136 Abs. 1 damit beginnen, dass dem Beschuldigten eröffnet wird, welche strafbare Handlung ihm zur Last gelegt wird. Bei der ersten Vernehmung in der Voruntersuchung muss ihm die Verfügung, durch welche die Voruntersuchung eröffnet worden ist, bekannt gemacht werden (§ 190) 1 6 , welche Verfügung sich auf den die Bezeichnung der ihm zur Last gelegten T h a t enthaltenden Antrag (§ 170) beziehen muss. Wird die schon eröffnete Voruntersuchung auf eine andere That ausgedehnt, so muss bei der nächsten Vernehmung dies ebenfalls dem Beschuldigten eröffnet werden. Die Mittheilung bezieht sich, wie schon aus dem Zusammenhang zwischen § 170 und 190 sich ergiebt , auf die T h a t , nicht blos auf die „generisehe Bezeichnung" 17 der strafbaren Fall einer Bestrafung verwirkt werden, endlich auch der frühere Lehenslauf des Beschuldigten sowie seine Familien- und Vermögensverhältnisse Gegenstand der Erörterung werden". Die Motive verweisen auch noch auf die Herbeischaffung der etwa in Betracht kommenden Urkunden (Geburtszeugnisse, frühere Strafurtheile) und auf die Prüfung des Geistes- und Gemüthszustandes des Beschuldigten. (Ueber Erforschung des Leumundes und der Vorbestrafungen s. S c h w a r z e Bern 10 u. 11 zu § 136.) Für möglichste Einschränkung beider Nachforschungen (weil sie „den Traditionen des Untersuchungsprozesses, welcher den ganzen Menschen zum Gegenstande der Nachforschung macht", entspringen) spricht sich Geyer § 144 I I I aus. Während er nur die Unverlässlichkeit der sog. Leumundszeugnisse betont, will P u c h e l t Bern 5 zu § 136 dieselben auch im Vorverfahren nicht einholen lassen, weil sie in der Hauptverhandlung nicht verlesen werden dürfen. Das geht aber doch wohl zu weit, da sie für die unmittelbaren Zwecke des Vorverfahrens, schon als Anhaltspunkte für die Beschaffung von Leumundszeugen, sehr werthvoll sind. Ueberdies liegt rasche Erwirkung eines Leumundszeugnisses oft sehr im Interesse des unschuldig verdächtigten. Die Erforschung der GesundheitsVerhältnisse betont besonders Η ο 1 tz e η d ο r ff in seinem Handbuch I 382. 14 L ö w e Bern 7 zu § 136. Siehe dagegen P u c h e l t Bern 4 Abs. 4: V o i t u s Bern 2; D a l c k e Bern 2 das. 15 Geyer § 144 I I I a. E. 16 Diese Eröffnung wird wohl überflüssig, wenn ein Beschluss erging, der ihm nach § 35 Abs. 2 zugestellt werden muss. L ö w e Bern 6 zu § 190. 17 So mit Recht Geyer § 144 II. Im § 199 österr. StPO heisst es zwar, der Untersuchungsrichter habe „das λ7erbrechen oder Vergehen, dessen er beschul-

§ 53.

Die Entgegennahme cler Aussage

es Beschuldigten.

Handlung. Die Bestimmung hat einen doppelten Zweck: es soll der Vernommene nicht einen Augenblick darüber in Zweifel sein, dass er als Verdächtiger vernommen wird und nicht als Zeuge, und es soll auch nicht eine Verhör-Methode eingeleitet werden, welche sein Recht, die Antwort zu verweigern, dadurch vereitelt, dass er zum Reden veranlasst wird, ehe er weiss, um was es sich handelt. Diese Einleitung des Verhöres bildet den schroffsten Gegensatz zu der Gestaltung desselben im s p ä t e r e n Inquisitionsprozess (denn bei den ersten Anfängen desselben ordnete das kanonische Recht die Mittheilung des Anlasses zur Inquisition a n ) 1 8 , wo - zum Theil aus löblicher Scheu vor Suggestionen — der grösste Werth darauf gelegt wurde, dass der Beschuldigte zunächst gefragt werde, ob ihm der Anlass seiner Vernehmung bekannt sei und so, wo möglich, dahin gebracht werde, unter Umständen auszusagen, wo keinerlei Eingebung stattfinden konnte 1 9 . Allein diese Beruhigung ist aus dem Vorgang nicht zu gewinnen, weil der Beschuldigte fast immer, namentlich wenn eine Verhaftung stattgefunden hat, den Anlass zu seiner Vernehmung anderweitig erfährt. Allerdings aber ist es in diesem Stadium cler Vernehmung weder nothwendig noch wünsehenswerth, dass dem Beschuldigten Einzelheiten angegeben werden. 5. An diese Mittheilung knüpft sich nun nach § 136 die Frage, ob cler Vernommene auf die Beschuldigung etwas erwidern wolle, und je nach cler Antwort richtet sich cler Gang der weiteren Vernehmung. Erklärt der Beschuldigte sich bereit, sich vernehmen zu lassen, so soll ihm Gelegenheit gegeben werden, in zusammenhängender Weise clen Vorfall zu erzählen, um clen es sich handelt. Er soll dabei so wenig als möglich unterbrochen werden, d. h. höchstens durch kurz hingeworfene Zwischenfragen, welche darauf abzielen, Missverständnisse fernzuhalten. Auslassungen zu meiden, die später unbeachtet bleiben könnten. Nach Beendigung der Erzählung muss cler Richter F r a g e n an clen Beschuldigten richten, welche, gleichviel ob dessen Aussage ein Geständniss enthält oder nicht, darauf abzielen, dieselbe so zu gestalten, dass sie wo möglich diejenigen Eigenschaften bietet, welche vom Standpunkt der Kritik von einer Aussage, auf clie sich eine Ueberzeugung gründen soll, digt ist, im a l l g e m e i n e n zu bezeichnen"; allein dies bildet nur den Gegensatz zu der „umständlichen Erzählung", zu welcher er nach den unmittelbar folgenden Worten veranlasst werden soll. M a y e r Bern 10—12 zu § 199. 18 „Et exponenda sunt ei Illa capitula, de quibus fuerit inquirendum, ut fäcultatem habeat defendendi se ipsuni" sagt I n n o c en ζ III. c. 24 X de accus. 5. 1. 19 So noch § 174 der österr. StPO v. 1853.

630

§ 53.

Die Entgegennahme

er Aussage des Beschuldigten.

gefordert werden müssen; die Fragen müssen darauf abzielen, solche Ergänzungen und Aufklärungen herbeizuführen, welche geeignet sind, Dunkelheiten und Widersprüche 20 zu beseitigen, den Grund des Wissens und das Motiv der Angaben klarzulegen; die Möglichkeit zu bieten, die Wahrheit oder Unwahrheit der Angaben durch \ 7 ergleichung mit den vorhandenen Ergebnissen der Untersuchung oder durch neue Forschungen zu erproben. 6. Legt cler Beschuldigte nicht ein rückhaltloses Geständniss ab, so wird regelmässig eine Anzahl von gegen die Wahrheit seiner Angaben sprechenden Beweisgründen vorhanden sein, und es führt also die unter 5 bezeichnete Aufgabe ohnehin darauf, dass diese dem Beschuldigten mitgetheilt werden und ihm Gelegenheit wird, sich darüber auszusprechen, wie sich angesichts derselben seine Erzählung aufrechthalten, deren Wahrheit darthun, die Unstichhaltigkeit der Gründe für eine andere Annahme beweisen liesse? Je aufrichtiger der Untersuchungsrichter dabei zu Werke geht, je geduldiger er die Erklärungen des Beschuldigten herbeiführt und entgegennimmt, je bereitwilliger er nach Mitteln objectiver Bewährung dieser Angaben forscht, desto besser entspricht er dem Willen des Gesetzes, das als Hauptzweck cler Vernehmung die Rechtfertigung des Beschuldigten bezeichnet. Je sorgfältiger er aber alles anwendet, was geeignet ist, die Angaben des Beschuldigten glaubhaft zu machen (und dazu gehört allerdings auch, dass jener veranlasst wird, sich unbefangen über Umstände zu äussern, ehe ihm Beziehungen bekannt sind, die ihm ein Motiv zu Angaben in bestimmter Richtung einflössen können), desto deutlicher wird, ohne dass jener es darauf abgesehen hat, dasjenige hervortreten, was solche Angaben etwa unwahr oder unwahrscheinlich erscheinen lässt. Im Gegensatz zum inquisitorischen Verfahren, welches den Richter zum Träger der erhobenen Beschuldigung und es so unvermeidlich machte, dass er aus dem Munde cles Inquisiten die Bestätigung der von ihm bereits amtlich ausgesprochenen Vermuthung der Schuld herauszuinquiriren suchte, muss cler Untersuchungsrichter im heutigen Verfahren im Verhör sich jeder vorgefassten Meinung fern 20

Sind die Erklärungen des Beschuldigten zweideutig oder dunkel, so ist ihm dies darzulegen, nöthigenfalls die Verschiedenheit der möglichen Deutungen hegreiflich zu machen und er zu einer deutlicheren Antwort aufzufordern. Verweigert er sie, so wird es in der Regel zu seinem Nachtheile gedeutet werden ; ist dagegen ihm keine Gelegenheit geboten gewesen, sich deutlicher auszusprechen, dann wird man bei der Auslegung sich an die Regel U1 p i a η s halten müssen : Si quid intentione ambigua vel oratione usus sit, id quod utilius ei est, accipiendum est; 1 66 D de judiciis 5. 1.

§ 53.

Die Entgegennahme

er Aussage

es Beschuldigten.

halten, sieh ganz auf den Standpunkt des Beschuldigten und seines Interesse an der möglichsten Beglaubigung seiner Angaben stellen und ihn darin unterstützen oder anleiten. Wenn dieses Vorgehen, das dem U n s c h u l d i g e n nur vortheilhaft sein kann, die Unhaltbarkeit der Angaben des Beschuldigten hervortreten macht, so beruht das auf dem innigen Zusammenhange aller Wahrheiten und kann dem Richter nicht zum Vorwurf gemacht werden. Aber eben dämm hat er auch keinen Anlass, sich in ein geistiges Ringen, in Versuche der Ueberlistung einzulassen. Dieser Gesichtspunkt ist auch maassgebend für den Umfang der Mittheilungen über die vorhandenen Verdachtsgründe. Vor Schluss des Verhöres sollte der Richter dem Beschuldigten alles mitgetheilt haben, was ihm zur Zeit an b e r e i t s f e s t g e s t a l t e t e n Verdachtsgründen bekannt i s t 2 1 . Alles gleichzeitig zu gemeinschaftlicher Beantwortung dem Beschuldigten vorzuhalten, empfiehlt sich schon deshalb nicht, weil der Beschuldigte dadurch in Verwirrung gebracht wird und leicht wichtiges unbeantwortet lassen kann; es kann auch aus den oben angegebenen Gründen in seinem Interesse liegen, manche Angaben zu machen, ehe er alles weiss, Avas dem Richter bekannt ist; umgekehrt ziemt es dem Untersuchungsrichter nicht, Fallen zu legen, um den jedenfalls in bedrängter Lage sieh befindenden darin zu fangen. Das Motiv der Zurückhaltung ist daher für deren Beurtheilung entscheidend. Am meisten empfiehlt sich, eine möglichst aus der Natur der Dinge selbst sich ergebende Ordnung in Bezug auf die Mittheilung der Belastungsbeweise und der gegen die Vertheidigungsgründe sprechenden Beweise einzuhalten. Dass in den einzelnen Mittheilungen die strengste Wahrheit herrschen und jede Zweideutigkeit vermieden werden muss, versteht sich von selbst. 7. So wie vorstehend das \ r erhör des Beschuldigten dargestellt wird, beruht es vielfach auf einem Austausch von Mittheilungen und nicht n o t h w e n d i g auf F r a g e n des Richters und A n t w o r t e n des Beschuldigten. Immerhin aber wird sich an jede Mittheilung die mehr oder weniger ausgesprochene Frage knüpfen, ob der Beschuldigte darauf etwas zu antworten habe ; und manche der oben unter 5 erwähnten Zwecke sind gerade nur durch Fragen zu erreichen, welche eine Antwort in ganz bestimmter Richtung, die Angabe einer Thatsache, eines Grundes, eines Beglaubigungsmittels hervorzurufen berechnet sind. Man hat daher zumal unter der Nachwirkung der Formen des articulirten Verhörs des älteren gemeinen Prozesses sich 21

Geyer § 144 II.

632

§ 53.

Die Entgegennahme

er Aussage des Beschuldigten.

gewöhnt, vorzugsweise die A i t der Fragen des Untersuchungsrichters zu besprechen, und es kann an dieser Tradition festgehalten werden, sobald nur nicht übersehen wird, dass manche der dabei zu vermeidenden Fehler ebenso wohl durch Mittheilungen und Aeusserungen begangen werden können, die nicht gerade Fragen sind. Die österr. StPO enthält in § 200 noch eine Bestimmung über die wichtigsten der bei der Befragung zu vermeidenden Fehler; die deutsche überlässt alles der Einsicht des Richters und damit wohl auch der gemeinrechtlichen Tradition, soweit sie mit dem bestehenden Becht in Einklang gebracht werden kann. Man erklärt danach, indem man allerdings zumeist an Fragen denkt, die darauf berechnet sind, einfach bejaht oder verneint zu werden, für unzulässig: a. D u n k l e , zweideutige Fragen; und zu diesen muss man insbesondere auch Fragen rechnen, die nicht zur Sache gehören (nicht p e r t i n e n t sind) oder wenigstens zu einer Zeit vorgebracht werden, wo ihr Zusammenhang mit den Gegenständen der Vernehmung nicht erkennbar ist. In solchen Fällen entstehen nicht blos sehr leicht Missverständnisse beim Vernommenen, sondern es kann auch eine gerechtfertigte Beunruhigung bei ihm hervorgerufen werden. welche seinen Antworten die Klarheit und Verständlichkeit r a u b t 2 2 . b. C a p t i o s e 2 3 oder verfängliche Fragen, welche darauf abzielen, den Beschuldigten zu Antworten zu bringen, deren volle Bedeutung er nicht übersieht. Der Grund der Gefährlichkeit der Antwort wird manchmal darin liegen, dass die Frage u n v o l l s t ä n d i g ist, indem sie einen herausgerissenen Theil eines Vorganges hervorhebt und den unbeholfenen Beschuldigten, der nicht sofort selbst die Ergänzung hinzufügt. um den Vortheil bringt, den die anderen nicht erwähnten Umstände für ihn bedingen, oder ihn wenigstens der Gefahr aussetzt, dass es später auffallend gefunden wird, dass er den Umstand nicht schon bei der Gelegenheit. wo er das übrige angab, erwähnte 24 . Umgekehrt liegt er noch häufiger darin, dass die Frage c o n i ] ) l e x ist, zu viel umfasst, und den Unbeholfenen in die Lage bringt , dass 22

Z a c h a r i ä I I § 105 V ; J e n u l l IV 147; D u ν erger §§ 340. 341. H e n k e , Handbuch IV 480. 481; Z a c h a r i ä a. a. O.; J e n u l i a. a. 0. S 149; M i t t e r m a i e r , Strafverfahren I § 108; M ü l l e r § 102 Anm 10: J ä g e rn an η §§ 564—567. 24 Nach ö s t e r r . Recht macht es ζ. B. einen Unterschied, ob an dem versperrten Beliältniss, aus dem etwas entwendet wurde, der dazu gehörige Schlüssel stak. Eine Frage, die unter solchen Umständen nur das Versperrtsein erwähnt, den andern Umstand aber übergeht, ist captiös durch Unvollständigkeit. 23

Die Entgegennahme

er meint,

entweder

er Aussage

es Beschuldigten.

alles zugeben oder alles

leugnen zu m ü s s e n 2 0 :

wobei dann nicht selten noch geradezu eine V e r l e i t u n g zu einer bestimmten Aussage d a r i n liegen kann,

dass der Beschuldigte den E i n -

druck gewinnen muss, dieselbe sei i h m g ü n s t i g 2 6 — jedenfalls aber handelt es sich nicht innner blos u m den i n der österr. StPO (§ 200) hervorgehobenen Fall, dass „eine von clem Beschuldigten noch nicht zugestandene Thatsache als bereits zugestanden angenommen c. S u g g e s t i v f r a g e n Umstände so vorhalten, gefasst zu sein, welchen er eine soll.

27

class er sie n u r zu bejahen braucht, statt so

dass sie i h m nur

wird".

sind solche, welche clem Beschuldigten blos den Gegenstand bezeichnen, über

aus seinem Wissen geschöpfte Aussage ablegen

H i e r sind aber ebenfalls mancherlei Abstufungen denkbar.

weitesten geht clie Suggestion, 25

welche dem zu vernehmenden

Am eine

Ein schönes Beispiel findet sich hei B e a u m a r c h a i s , Mémoires (éd. Paris 1859 ρ 313 ff.). Als er vor dem versammelten Pariser Parlament durch dessen ersten Präsidenten verhört wurde, verweigerte er die Antwort auf eine an ihn gestellte Frage und sagte darüber: „Je ne puis répondre par oui ou non, comme on me l'a ordonné, qu' à une question fort simple, et non lorsqu' elle est complexe comme celle-ci. M. le premier président me demande: »N'avez-vous pas remis ou fait remettre à Le-Jay une somme de cent louis, pour être présentée à madame Goezmann, dans la vue de gagner le suffrage de son mari?« Si je dis oui, j'avoue la corruption; si je dis non, je nie le sacrifice". 26 Ein allerdings sehr grobes Beispiel ist eine von einem französischen Assisenpräsidenten an einen des Vatermordes angeklagten gerichtete Frage: „Wie, Sie wollen nicht sagen, dass Sie im Zorn den Schlag geführt?" GS 1849 I S 243. 27 Κ l e i η s eli r o d , Abhandlungen 1. Theil S 61 ff. (2. Abhandlung: Ueber Suggestionen im peinlichen Prozess). G r a t t e n a u e r , Ueber den Begriff der Suggestivfragen. Berlin 1803. D e r s e l b e im A A V I Stück 3 S 25—27. M ü l l e r § 102 Anm 11; H e n k e , Handbuch IV 479. 480; K i t k a , Thatbestand S 136 ff.; M i t t e r m a i e r , Strafverfahren I 617 ff. § 107; J a g e m a n n §§ 569 — 572; G l a s e r im ANF 1851 S 195 (Kleine Schriften S 422); S c h w a r z e Beni 5 zu § 136; Z a c h a r i ä a. a. O. Anm 163; U l i m a n n § 84 S 415; M a y e r I S 616 (mit (1er Entstehungsgeschichte des Textes des § 200 österr. StPO, welcher an die Stelle des Verbotes der Suggestivfragen deren Einschränkung setzt), I I zu § 200; M i t t e r h a c h e r und R u l f zu § 200; G e y e r § 144 II. Letzterer stellt die Forderungen einander gegenüber: dass „suggestive Fragen so viel thunlich zu vermeiden sind", und dass andererseits der Richter „dem Beschuldigten bei der Vernehmung a l l e gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe vorzuhalten und nicht etwa aus inquisitorischen Absichten einen unci clen anderen Verdachtsgrund noch einstweilen verschweigen und durch solche Verzögerung möglicherweise clen Verlust eines Beweismittels für den Beschuldigten bewirken" dürfe. Dagegen meint L ö w e Bern 5 zu § 136, die Mittheilung müsse nicht gerade bei der er sten Vernehmung erfolgen, „wenn die Lage der Sache eine solche einstweilige Zurückhaltung bedingt". C a r m i g n a n i IV 135; C a r r a r a § 939 1. c. ρ 503; D u v e r g e r § 344, I I 435 ss.

634

§ 53.

Die Entgegennahme

er Aussage des Beschuldigten.

Aussage fertig zur Annahme oder Ablehnung mit Ja oder Nein in der Weise vorlegt, dass schon die Frage eine umständliche Erzählung enthält. Das nächste ist dann eine Frage, die alternativ gefasst ist und den Antwortenden zwischen mehreren ihm vorgehaltenen Angaben wählen lässt. Aber auch sonst sind Suggestionen denkbar, die sich in cler Frage oder in deren Beziehung auf vorausgegangene Mittheilungen verbergen. Im allgemeinen ist es richtig, dass die Angabe an Verlässlichkeit zunimmt, wenn keine Suggestion stattgefunden hat, und dass durch letztere sehr wichtige Kennzeichen der Wahrheit verloren gehen. Allein die Suggestion k a n n nicht vermieden werden, wenn cler Zweck des Verhöres vollständig erreicht werden soll und cler Beschuldigte nicht ohne weiteres mit einem erschöpfenden Geständniss entgegenkommt; es soll nur darin nicht weiter gegangen werden und nicht mehr geschehen als im gegebenen Moment nöthig ist, und es soll aus dem Protokoll auch erkennbar sein, dass eine Suggestion stattfand und wodurch cler Richter zu ihr veranlasst war. Die Suggestion ist unbedenklich, avo deutlich erkennbar ist, dass ein sich völlig frei bewegender Beschuldigter nur durch sie zu bestimmten Erklärungen gebracht werden konnte; je gefügiger dagegen cler Beschuldigte ist, je mehr die Neigung vorauszusetzen ist, dem ihn vernehmenden zu Gefallen zu reden, desto bedenklicher wird die Suggestion, und clen höchsten Grad cler Bedenklichkeit erreicht sie, wenn der suggerire Thatumstand dem Beschuldigten n i c h t z u m N a c h t h e i l gereicht, also insbesondere bei der Namhaftmachung von Mitschuldigen und Belastung von M i t b e s c h u l d i g t e n 2 8 . 28 Bei cler Berathung der deutschen Strafprozessordnung Mar die Frage aufgeworfen worden, ob dem Beschuldigten mit (1er Verfügung über die Eröffnung der Voruntersuchung auch die Namen der Mitbeschuldigten bekannt gemacht werden müssten; es wurden zwei Anträge gestellt, von welchen einer die „Person etwaiger Mitbeschuldigten", der andere nur diejenigen zum Gegenstande hatte, gegen welche die öffentliche Klage ebenfalls erhoben sei. F ü r die Anträge ward geltend gemacht, sie entsprächen der Forderung der Loyalität und seien oft für die Verteidigung des Beschuldigten entscheidend; dagegen: ein kategorisches Gebot könne den Untersuchungsplan stören, den Mitbeschuldigten Warnungen zuführen und andererseits für sie bedenklich werden, namentlich Ausdehnung der Collusionshaft nöthig machen. Der Antrag wurde in seiner weiteren Fassung sofort, in der engeren und zwar selbst mit Beschränkung der Anordnung auf den „Verlauf cler Voruntersuchung" in der zweiten Lesung abgelehnt (Prot S 278. 279. 923). P u c h e l t Bern 1, K e l l e r Bern 5, D a l e k e Bern 1 zu § 190 ziehen daraus mit Recht die Folgerung, dass die Bekanntmachung des Eröffnungsbeschlusses die Mitschuldigen nicht mitumfassen müsse; allein dies ändert nichts daran, dass die Sache liegt, wie sie ohne jene Anträge gelegen wäre, und dass cler Beschuldigte ein Recht ciarauf hat, vor Schluss der Voruntersuchung volle Klarheit über seine Lage und die Ergebnisse des

§ 53.

Die Entgegennahme cler Aussage

es Beschuldigten.

8. Wenn der Beschuldigte die Erklärung abgiebt, dass er überhaupt nicht antworten w o l l e 2 9 , wenn er die Antwort auf eine bestimmte Frage ausdrücklich verweigert, wenn er schweigt oder selbst wenn er eine der Antwortsverweigerung gleichkomnieMe Antwort giebt (ζ. B. „Ich weiss nicht", avo er wissen muss; „Ich weiss nicht, was ich sagen soll" u. dgl.), so muss einerseits jede Zudringlichkeit, jedes Eindrängen und Einstürmen auf sein Gemüth vermieden, andererseits die rflieht erfüllt werden, die das Gesetz im Interesse der Vertheidigung dem Richter auferlegt. Es wird sich hier empfehlen, die Form der eigentlichen Frage ganz zu verlassen, die gesetzlich vorgeschriebenen Mittheilungen in zweckmässiger Aufeinanderfolge nach und nach zu machen und absatzweise dem Beschuldigten Gelegenheit zu geben, sich darüber auszusprechen, letzteres am besten in der gesetzlich überhaupt vorgeschriebenen Form d e r Frage, ob er hierauf etwas erwidern wolle? Lässt er sich dann in Angaben oder Erörterungen ein, so lenkt das Verhör in die vorstehend bezeichneten Bahnen wieder ein, und es ist dafür zu sorgen, dass clem möglichst wenig vorgegriffen werde. 9. Dass diese Vorgänge in cler Form cles Protokolles zu beurkunden sind, hängt mit clen allgemeinen Vorschriften über Beurkundung von Untersuchungshandlungen (§ 186 deutsche, §§ 104—107 öst. StPO) zusammen. Hier genügt es, zu verlangen, class das Protokoll ein genauer Bericht über den Hergang bei der Vernehmung sei, nicht blos eine Zusammenfassung der Ergebnisse cler Aussage, sondern auch eine Darstellung der Art gebe, wie sie erlangt wurden, ohne class darum nothwendig ist, unwesentliches aufzunehmen. Zu erörtern ist hier nur noch, wie sich der Richter in Bezug auf die W a h r n e h ni u n g e η zu verhalten hat, die er bei der Vernehmung macht und die nicht durch die Aufzeichnung cler gesprochenen Worte wiedergegeben werden können. Hier ist nun ohne weiteres zuzugeben, dass cler Werth Prozesses, sie mögen ihn nun unmittelbar oder mittelbar betreffen, zu erhalten. Vgl. K e l l e r a. a. 0. 29 Es ist, wie H o l t z e n d o r f f , Handbuch I 384 Nr 8 bemerkt, auch noch der Fall denkbar, dass der Beschuldigte seine Auslassungen von Bedingungen abhängig macht. Da es nun im Geiste des Gesetzes liegt, dass die von demselben tur nöthig erachtete Vernehmung des Beschuldigten wirklich erfolge, so ist ein solches Verlangen nicht ohne weiteres abzuweisen ; vielmehr ist den Wünschen des Beschuldigten, wenn dies an sich zulässig ist, zu entsprechen, ohne dass man sich dabei auf ein Feilschen einzulassen hat. — Was insbesondere die Forderung einer Frist zur Besinnung betrifft, so kann sie nicht wohl verweigert werden, da der Beschuldigte zu sofortiger Antwort nicht gezwungen werden kann ; handelt es sich um die nach der Vorführung oder Festnahme stattfindende Vernehmung, so ist wohl an sich durch die dem Beschuldigten jedenfalls zu machende Eröffnung des Grundes

636

53.

Die Entgegennahme

der sog. G e b e r d e n p r o t o k o l l e

er Aussage des Beschuldigten. 3 0

einst vielfach überschätzt w u r d e ;

an u n d für sich handelt es sich dabei oft u n i Erscheinungen, aus denen keine unzweideutige Folgerung gezogen werden k a n n 3 1 ; jedenfalls aber lassen sie sich nicht so wiedergeben, dass der V o r f a l l selbst, unbeeinflusst durch den persönlichen E i n d r u c k u n d daher auch durch die etwaige Geneigtheit, den Beschuldigten zu begünstigen oder zu schädigen, zur Kenntniss der Nichtanwesenden käme, u n d damit w i r d der W e r t h solcher M i t t h e i l u n g e n noch mehr herabgedrückt. wenn H o l t z e n d o r f f

3 2

Doch geht es wieder zu weit,

— allerdings nicht ohne zuzugeben, dass die

Frage zweifelhaft ist — sich gegen die Zulassung solcher Aufzeichnungen seiner Vernehmung und die ihm gebotene Gelegenheit, sich zu verantworten, die gesetzliche Frist gewahrt. Sollte der Richter die Freilassung des Verhafteten von der Aufklärung einer bestimmten Thatsache abhängig wissen, so darf er sich allerdings nicht abhalten lassen, sofort den Versuch zu machen, vom Beschuldigten diese Aufklärung zu erlangen. 30 Ueber Geberdenprotokolle siehe insbesondere Jage mann §§ 586—593: B a u e r , Anleitung zur Criminalpraxis § 20; K i t k a , Erhebung des Thatbestandes S 178—185; M i t t e r m a i e r im ΝΑ I 327 ff.; d e r s e l b e , Strafverfahren § 106. 1 614 ff.; M ü l l e r § 149 Anm 42: M a r t i n § 115 B. Siehe auch CCC Art. 71 ; preuss. CO § 281; österr. Ges von 1803 § 362, StPO v. 1853 § 178; bayerisches Ges v. 1813 Art. 196. 216; D u v e r g e r § 331. 31 Man führt gewöhnlich 1 10 § 1 D de quaestionibus (48. 18) an und folgende Stellen aus Cicero (gegen deren übertriebene Ausbeutung schon K i t k a S 178 Anm *). De officiis I c. 41 : Saepe ex parvis magna intelligimus : ex oculorum obtuitu. superciliorum aut remissione aut contractione, ex moestitia, ex hilaritate, ex risu, ex locutione, ex reticentia, ex contentione vocis, ex submissione, ex caeteris similibus facile judicabimus quid apte eoruni fiat, quid ab officio naturaque discrepet. (Die ganze Stelle betrifft nur die Anständigkeit des Benehmens.) I n C a t i l . I I I c. 5: Ac mihi quidem, Quirites, quum illa certissima sunt visa argumenta atque indicia sceleris, tabellae. signa, manus, denique uniuscujusque confessio; tum multo ilia certiora, color, oculi. vultus, taciturnitas : sie enim obstupuerant, sic terrain intuebantur, sie furtim unumquemquam inter se adspiciebant, ut non jam ab illis indicari, sed indicare se ipsi viderentur. (Einen interessanten Beitrag zur Lehre vom Geständniss bildet übrigens die im Eingang dieses Kapitels enthaltene lebendige Schilderung der Art, wie Lentulus durch Vorführung überwältigender Beweise zum Geständniss bestimmt ward: Namque ille primo quidem negavit . . . Tum ille subito, scelere demens, quanta conscientiae vis esset, ostendit. Nam quum id posset infìtiari, praeter opinionem omnium confessus est.) 32 Handbuch I 382 (noch kräftiger Geyer S 144 I I I Anm 0). Die vorgebrachte Begründung halte ich für unzutreffend: „Niemand kann in demselben Augenblicke die Functionen des Richters und des Zeugen gleichzeitig wahrnehmen oder über den AVerth seiner eigenen Wahrnehmungen ein unparteiisches Urtheil abgeben". Letzteres nimmt der Richter hier auch nicht für sich in Anspruch, ersteres thut er während des ganzen Vorverfahrens, in welchem er stets zugleich handelt und seine Thätigkeit und das hieraus hervorgegangene beurkundet. Dass sich hier leichter Urtheile einmischen, die nicht aufgelöst werden können, ist richtig.

§ 53.

Die Entgegennahme

e

Aussage

es Beschuldigten.

ausspricht. Die Art der Ablegung der Aussage, der Tonfall, das Zögern oder Herausrücken mit einer Antwort, ob sie weinend oder lachend, ernst oder höhnisch, drohend oder bittend vorgebracht, von A c h s e l z u c k e n , Faustballen, einem Kniefall und dergl. begleitet wird, kann sogar den S i n n der Aussage ändern, jedenfalls ihre Beweiskraft sehr bestimmen; dergleichen unterdrücken, wo es in prägnanter, unzweifelhafter Gestalt auftritt, wo es offen constatili werden kann, würde die Wahrhaftigkeit des im Protokoll niedergelegten Berichts beeinträchtigen. Wohl aber soll sich dabei der Richter auf dasjenige beschränken, was sich so aufdrängt, nicht aber lauern und spähen und zweideutige Regungen und Bewegungen, die sich nicht exact beschreiben lassen und über welche das Urtheil leicht fehl gehen kann, zum Gegenstande der Aufzeichnung machen. Uebrigens werden solche Aufzeichnungen auch mit der Constatirung der V e r l i e h 111 u η g s f ä h i g k e i t der Beschuldigten zusammenhängen, deren Noth wendigkeit gerade H o l t z e n d o r f f 3 3 mit Recht betont. IV. D i e V e r n e h m u n g i n d e r H a u p t V e r h a n d l u n g 3 4 hat, wie bereits gezeigt, einen ganz anderen Charakter als die in dem Vorverfahren. Es handelt sich vor allem nicht mehr darum, dem Beschuldigten niitzutheilen, wessen er beschuldigt ist und was an Beweismitteln gegen ihn aufgeboten wird; clas ist in der Anklageschrift bereits geschehen, und es kann unter Umständen nur nöthig sein, sich seines Verständnisses zu versichern und demselben nachzuhelfen. Eben darum kann hier die Besorgniss vor S u g g e s t i o n e n für die Regel bei Seite gesetzt werden und ist hier manche Zurückhaltung übel angebracht, die sich im Vorverfahren rechtfertigen lässt. Es ist auch nicht mehr Aufgabe des Richters, clen Angeklagten in der kommt aber für den Richter auch beim Augenschein vor und ebenso bei der Thätigkeit der Sachverständigen. Allerdings ist der Richter nicht befugt, „sein eigenes Zeugniss in formloser Weise mit der Vernehmung des Beschuldigten zu v e r m i s c h e n " ; vielmehr hat er sehr genau zu sondern, was er als seine Wahrnehmung, was als Angabe des Vernommenen beurkundet — selbstverständlich bezeugt er stets nur seine Wahrnehmungen, ob sie sich nun auf das gesprochene Wort oder auf Ton und Haltung des Vernommenen beziehen. Im Gegentheil darf vielmehr die Absonderung nicht zu weit gehen, wie wohl sonst vorgeschlagen wurde: die Angaben des Untersuchungsrichters über seine Wahrnehmungen gehören nicht in besondere Protokolle, sondern bilden Tlieile des Vernehmungsprotokolles und dürfen dem Beschuldigten nicht vorenthalten werden. 33 A. a. 0. S 388 Nr 6. 34 Deutsche StPO §§ 242 u. 256; österr. §§ 245 u. 248 Abs. 4 und die Commentare hiezu. D o c h o w S 224; F u c h s in HH I I 67. 68; M eve s Strafverf. S 77; Ivayser S 228; U l l m a n n § 113; G l a s e r in HRLex I I 282—285.

638

§ 53.

Die Entgegennahme

er Aussage des Beschuldigten.

Vorbereitung des Beweismaterials, soweit es gegen das schon vorliegende Anklagematerial gerichtet ist, zu unterstützen, höchstens, ihm die Auffassung des letzteren zu erleichtern. Dafür endlich, dass dasselbe vollständig zu seiner Kenntniss kommt, ist in der Hauptverhandlung ganz anders und besser gesorgt als in dem Vorverfahren, während umfassende Vorhalte über erst vorzuführendes Beweismaterial gegen den Grundsatz der Mündlichkeit Verstössen, der die Hauptverhandlung beherrscht. Endlich muss schon bei Beginn der letzteren vorausgesetzt werden, dass der Angeklagte im allgemeinen weiss, was gegen ihn vorliege, und dass er sich für sein Verhalten einen Plan gebildet habe, und es handelt sich in erster Linie darum, dass er diesen Plan darlege. damit bei dem weiteren Verfahren darauf Bücksicht genommen werde. Es können sich dabei hauptsächlich folgende Varianten ergeben : 1. D e r A n g e k l a g t e l e g t e i n G e s t ä n d n i s s a b , sei es ein wiederholtes oder ein unerwartetes. In beiden Fällen ist nach unseren Prozessgrundsätzen damit kein Urtheilssurrogat, nur ein allerdings meist entscheidendes Beweismittel gegeben. Der Vorsitzende muss sich gegenwärtig halten, dass die Urtheiler zu einem Schuldspruch nur schreiten können, wenn das Geständniss sie überzeugt, und daher die Vernehmung so einrichten, dass sie zu einer Erprobung der Freiheit, Ernstlichkeit und inneren Standhaftigkeit des Geständnisses führe und dass die etwa vorhandene Möglichkeit einer Bestätigung durch von der Aussage des Angeklagten unabhängige Beweismoniente nicht unbenutzt bleibe. 2. Der Angeklagte erklärt sich n i c h t s c h u l d i g , zeigt sich aber geneigt, auseinanderzusetzen, wie sich nach seiner Behauptung die Sache zugetragen habe. Hier wird das Augenmerk in erster Linie auf die Sonderung der P a r t e i b e h a u p t u n g e n von den A u s s a g e n zu richten, und werden erstere auf den Zeitpunkt der Vorführung der Beweise und auf die Schlussvorträge zu verweisen sein. Bezüglich der Aussagen muss ihm jedenfalls möglichste Freiheit zu zusammenhängender Erzählung gegeben werden. Die weiteren Fragen sollten dann hauptsächlich den Zweck haben, ihn zu Erklärungen über solche Thatumstände, über wTelche er sich überhaupt nicht oder nur zweideutig ausgesprochen hat, zu veranlassen. Als Zweck ist im Auge zu behalten, dass mit den Behauptungen der Anklage die des Angeklagten verglichen werden können und daraus ein übersichtliches Bild der Prozesslage gewonnen werde. Auf Antworten zu dringen, sobald einmal feststeht, dass der Angeklagte nicht etwa aus Uebersehen, sondern vorsätzlich schweige, wäre hier ebenso wenig am Platze, wie der

§ 53.

Die Entgegennahme

er Aussage

es Beschuldigten.

Vorhalt cler Einzelheiten der erst zu erwartenden Beweisführung. Widersprüche, in welche der Angeklagte geräth, müssen ihm, wenn sie nicht blos Details betreffen, die noch im Beweisverfahren zur Sprache kommen, sondern wirkliche Zweifel über seinen Vertheidigungsplan lassen, vorgehalten und es muss ilnn Gelegenheit geboten werden, sich definitiv auszusprechen, bei welcher Behauptung er beharre, und die abweichenden Aeusserungen zu erklären. Alles, was darüber hinausgeht, was nicht mehr den Zweck verfolgt, dem Angeklagten Gelegenheit zu Erklärungen zu geben, sondern sie ihm abzuringen, ihn zu Zugeständnissen zu nöthigen sucht, ist um so gewisser zu unterlassen, weil es unverträglich ist mit eleni Princip der contradictorischen Verhandlung vor einem Gericht, das sich seine Meinung erst bilden soll, und weil hier nicht wie im Vorverfahren der Richter das Ergebniss des Belastungsbeweises dem Angeklagten vorzuhalten braucht. Auf das Detail der kommenden Beweisführung, auf Vorhalte über die dem Vorsitzenden aus den Akten bekannten, aber erst vorzuführenden Beweise darf in diesem Stadium nicht eingegangen werden, weil dadurch der Grundsatz cler Mündlichkeit verletzt und die Oekonomie der Hauptverhandlung beeinträchtigt wird; liegt es im Interesse des Angeklagten, dass er auf clas Gewicht eines Beweismoinentes, über welches er sich nicht ausgesprochen, aufmerksam gemacht werde, so ist dies clem Zeitpunkt nach cler Vorführung des Beweises selbst vorzubehalten (§ 256 deutsche, § 248 Absatz 4 österr. StPO). 3. Wenn cler Angeklagte ausdrücklich a b l e h n t , über die gegen ihn erhobene Beschuldigung sich auszusprechen, so besteht unzweifelhaft kein Recht, ihn dazu anzuhalten ; physischer Zwang ist von selbst ausgeschlossen; es soll aber auch nicht p s y c h i s c h e r Zwang durch Eindringen und Zureden geübt werden. Für clen Zweck, clen die Gesetze vor Augen haben, genügt es vollkommen, wenn etwa, wo die Sachlage es wirklich begründet erscheinen lässt, cler Angeklagte auf die Gefahren, die sein Schweigen ihm bereiten kann, ruhig und wohlwollend aufmerksam gemacht wird, und wenn dann später im Laufe des Beweisverfahrens auf die Wichtigkeit cler Aufklärung eines hervorgetretenen Uinstandes allenfalls noch speciell hingewiesen wird. 4. Soweit der Angeklagte sich auf clie Vernehmung einlässt, wird der Vorsitzende dabei auch den Zweck verfolgen, sich selbst und die Urtheiler mit der Persönlichkeit, dem Charakter cles Angeklagten bekannt zu machen und dasjenige hervortreten zu lassen, was maassgebend

640 ist für die selbst für bestimmte Gesinnung

53.

Die Entgegennahme

er Aussage des Beschuldigten.

Frage der Zurechnungsfähigkeit, der Strafzumessung und die Schuldfrage, sofern es darauf ankommt, ob eine dem Angeklagten beigemessene Handlung, Aeusserung oder seinem wahren Charakter entspricht,

δ. Die Frage, ob dei* Angeklagte während seiner Vernehmung sich mit seinem Veitheidiger besprechen dürfe, ist in der österr. StPO (§ 245 Abs. 3) dahin entschieden: „Es ist ihm nicht gestattet, sich mit demselben unmittelbar über die Beantwortung der an ihn gestellten Fragen zu berathen". I n der deutschen StPO ist die Frage nicht entschieden, und die blosse Bemerkung L o w e s 3 5 , dass ein solches Verbot umgangen werden könne, weil der Angeklagte die Antwort ablehnen und dann in einem späteren Stadium des Verfahrens, nachdem er mit dem Vertheidiger gesprochen, die Antwort nachtragen könne, genügt wohl nicht zur Entscheidung der Rechtsfrage. Gerade weil clas \ 7 erhör cler Vertheidigung cles Angeklagten dienen soll, muss es so eingerichtet werden, dass nicht blos die Zugeständnisse desselben als glaubwürdig erscheinen; überdies kann unmöglich verlangt werden, dass die öffentliche Gerichtsverhandlung zum Stillstand komme, so oft der Angeklagte eine Privatbesprechung mit seinem Vertheidiger wünscht. — Hier ist auch die Frage zu erwähnen, ob cler x\ngeklagte bei seiner Vernehmung Notizen und Schriftstücke benützen dürfe; die Stellung cles Angeklagten ist hier ganz die gleiche, wie die eines Zeugen (§ 50 I I I Nr 3), nur mit dem Unterschied, dass, da cler Angeklagte nicht antworten muss, hier oft zu wählen sein wird zwischen \ 7 erzicht auf die Beantwortung einer Frage und Gestattung der Benutzung 3? ' Bern 7 zu § 242. Gleicher Ansicht Geyer § 144 IV, S 75; D o c h o w S 224. Anderer Meinung Κ ays er S 228. 229; Schwarze Bern 10: K e l l e r Bern 11 das. — dieser unter Berufung auf eine Stelle der Motive, welche sich auf das nicht in das Gesetz aufgenommene Recht des \"ertheidigers bezieht : „hiemächst die thatsächlichen Angaben des Angeklagten zu vervollständigen". „Er wird dieselben nicht ändern, sondern nur erläutern dürfen, da die eigenen Angaben des Angeklagten entscheiden". Das dürfte wohl nicht ausschlaggebend sein: allein eben weil der Angeklagte durch sein Recht, die Antwort zu verweigern und sie allenfalls später nach Besprechung mit dem Vertheidiger nachzutragen, gegen jeden Nachtheil geschützt ist, braucht er kein Recht, zu verlangen, dass die Hauptverhandlung stillstehe, bis diese Besprechung stattgefunden hat. Dieses R e c h t hätte ihm das Gesetz ausdrücklich einräumen müssen: ob der Vorsitzende es im einzelnen Falle nützlicher findet, statt die Verweigerung der Antwort, wie er muss, einfach hinzunehmen, dem Angeklagten eine Unterbrechung der Verhandlung zu gestatten, liegt nach der deutschen Strafprozessordnung in seiner Beurtheilung. Die ö s t e r r . Strafprozessordnung, die dies nicht gestattet, geht darin weiter als nöthig ist.

§ 53.

Die Entgegennahme

er Aussage

es Beschuldigten.

von Notizen; ohnehin wird bei Würdigung der Aussage der Umstand mit berücksichtigt werden müssen 36 . 6. Die Vernehmung des Angeklagten übertragen die Gesetze ausdrücklich dem V o r s i t z e n d e n (§ 237 Absatz 1; österr. StPO § 245 erster Satz). Die Fassung des deutschen Gesetzes über das Fragerecht der P a r t e i e n hebt deutlich nur die Befragung von Zeugen und Sachverständigen hervor (§§ 238—240); ein Recht, Fragen an den Angeklagten zu richten, spricht das Gesetz weder den beisitzenden Richtern, noch der Staatsanwaltschaft oder Vertheidigung ausdrücklich zu. Es scheint daher auch keine Meinungsverschiedenheit darüber zu herrschen, dass ein d i r e c t e s Fragerecht denselben nicht zukomme, und der Fassung des § 239 liegt der in der Reichstagsconmiission bestimmt (von G η e i s t ) ausgesprochene Wille zu Grunde: „Den Angeklagten soll niemand befragen als der Vorsitzende" 3 7 . Es fehlt zwar an jedem Anhaltspunkte, um zu beurtheilen, warum das den b e i s i t z e n d e n R i c h t e r n gegenüber für nöthig erachtet wurde. Man kann aber kaum glauben, dass ein anderes Motiv obwaltete, als die Besorgniss, es könnte den Angeklagten beunruhigen und verwirren, wenn er gewissemìaassen von allen Seiten her von Fragen unischwirrt würde. Dass nun daran wenig sich ändert, wenn an die Stelle des directen Fragerechtes das Recht gesetzt wird, vom Vorsitzenden und eventuell vom Gericht die Stellung einer Frage zu begehren, ist klar. Andererseits ist umgekehrt die Stellung, welche der in § 241 aufgestellten Regel gegeben wurde, eine solche, dass ihre Anwendbarkeit auf Fragen, welche der Vorsitzende an den Angeklagten stellen will, nicht nur nicht ausgeschlossen ist, sondern dass alles dafür spricht, sie sei beabsichtigt gewesen, da sonst die Einreihung als Abs. 3 des § 240 viel näher lag. Das Resultat ist also: dass ein prozessuales Recht irgend einer Person, vom Vorsitzenden die Stellung von Fragen an den Angeklagten zu begehren, nicht besteht, dass dagegen jede an der Verhandlung betheiligte Person Zweifel gegen die Zulässigkeit der Fragen des Vorsitzenden anregen und Gerichtsbeschluss darüber begehren könne. Was man dagegen geltend machen kann, fällt durchaus in 3e T h i l o Beni 5 zu § 242 sagt: „Das Verhör des Angeklagten ist ein mündliches; Benutzung eines schriftlichen Concepts seitens desselben ist daher nicht zu dulden. Der Angeklagte kann schriftliche Aufzeichnungen bei seinen Auslassungen zu Hilfe nehmen, wenn es sich um solche Thatsaehen, welche sich dem Gedächtnisse nicht leicht einprägen, oder um verwickelte Zahlenverhältnisse handelt. Wird (las Verbot der Benutzung schriftlicher Aufzeichnungen als sachleitende Maassregel des Vorsitzenden beanstandet, so entscheidet hierüber das Gericht". 37 Prot S 361.

Binding. Handtuch. IX. 4. I : G l a s e r . Strafprozess. I.

41

642

§ 53.

Die Entgegennahme

er Aussage des Beschuldigten.

das Bereich der E r ö r t e r u n g von Gründen, welche den Gesetzgeber, und zwar i n

beiden Beziehungen, zu anderen Entscheidungen bestimmen

sollten, k a n n aber gegen die aus dem W o r t l a u t u n d cler A r t der A n ordnung

des Gesetzes hervortretende Absicht des Gesetzes nicht auf-

kommen38.

Soweit es sich u m E r g ä n z u n g des Verhöres des A n -

geklagten h a n d e l t ,

wird

übrigens

leicht der Sache die Wendung ge-

geben werden können, dass ohne nähere Angabe der Erhebungsart ein Antrag

gestellt

wird,

hebungen aufzuklären,

bestimmte Thatuinstände u n d hierüber,

durch geeignete E r -

wie über eine Frage der Sach-

leitung, Gerichtsbeschluss gefordert werden k ö n n e n 3 9 . 7. Was die Z e i t

der Vernehmung betrifft, so hat sie das Gesetz

deutlich bezeichnet; die Vernehmung über die persönlichen Verhältnisse

geht

der Verlesung

Hauptverfahrens

des Beschlusses

unmittelbar

„weitere V e r n e h m u n g "

über

die

Eröffnung

des

voran u n d an letztere schliesst sich die

des Angeklagten sofort an (§ 242 Abs. 2 und

3), welche ihre Fortsetzung i n cler jedem Beweisakte folgenden Befragung desselben (§ 216) findet. Vernehmung

Es geht also die zusammenhängende

zur Sache jedem A k t

w i r d besonderer Gründe bedürfen,

der Beweisaufnahme vor, u n d es eine Abweichung von dieser Ord-

n u n g zu r e c h t f e r t i g e n 4 0 . 38

Vgl. oben § 44 IV Nr 5. Die österr. Strafprozessordnung entscheidet zwar die Frage nicht ausdrücklich, wem das Fragerecht dem Angeklagten gegenüber zukomme; allein die Entstehungsgeschichte des Textes (§ 249) zeigt, dass die Absicht bestand, die Befragung ganz der der Zeugen und Sachverständigen gleichzustellen, insbesondere auch den Mitangeklagten gegeneinander das Recht der Befragung einzuräumen, und dass nur dagegen Bedenken laut wurden, dass der Angeklagte von seinem eigenen Vertheidiger befragt werde. Die auf Ausschliessung dieses Vorganges berechnete Fassung ward aber im Ausschussbericht v. 1869 wieder „durch die kürzere Fassung der StPO v. 1853 ersetzt" ( M a y e r I 725. 726). Die Praxis lässt jetzt auch den Vertheidiger zur Ausübung dieses Rechtes zu: M i t t er bac h er Beni 1 zu § 249: wenn dieser Schriftsteller trotzdem Bern 3 zu § 245 sagt: „Die Vernehmung des Angeklagten steht nur dem \rorsitzenden zu", so fügt er auch gleich hinzu: „Den Prozessparteien steht zwar ein Fragerecht an clen Angeklagten zu: doch darf dasselbe niemals, wie es mitunter die Absicht, zu einer förmlichen Vernehmung des Angeklagten missbraucht werden". Diese Unterscheidung entbehrt aber jeder sicheren Grundlage und ist nicht durchführbar; man kann nur behaupten, dass der Vorsitzende den Angeklagten gegen jedes Drängen auf Antwort, das er sich selbst nicht erlauben darf, zu schützen habe. 40 Anlässe dieser Art können sein: Notwendigkeit der Feststellung der Identität und Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten ; dringende Notwendigkeit augenblicklicher Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen; endlich das Nichtausreichen cles Eröffnungsbeschlusses für diejenige Orientirung der Richter und Gesehwornen, deren es bedarf, damit sie die Vernehmung des Angeklagten mit Ver39

§ »53.

Die Entgegennahme cler Aussage des Beschuldigten.

643

V. Die Benutzung von Protokollen über früher abgelegte gerichtliche Aussagen des Angeklagten in cler Hauptverhandlung (über aussergeriehtliehe s. oben I) regelt in cler deutschen StPO § 253. Ausserdem kommt noch § 232 in Betracht. 1. Hat nämlich eine commissarische Vernehmung des Angeklagten, welcher von dem Erscheinen in cler Hauptverhandlung entbunden wurde, stattgefunden, so ist in cler Hauptverhandlung (selbstverständlich nur wenn cler Angeklagte nicht erscheint) das darüber aufgenommene Protokoll zu verlesen; die Verlesung ist hier also obligatorisch; dies geht über die in den Motiven betonte Analogie mit der commissarischen Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen hinaus und erklärt sich daraus, dass das Protokoll nicht blos die Aussage, sondern auch die Parteibehauptungen (die Streiteinlassung) des Angeklagten enthält, und damit, dass clie Aussage nicht nothwendig ein Belastungsbeweis ist, sondern auch Mittel des Entlastungsbeweises sein kann; und darum liegt auch in dieser Bestimmung eine Bestärkung der Auffassung, dass die Aussage des Angeklagten nicht blos insoweit Beweismittel ist, als sie ein Geständniss enthält, 2. Nach § 253 kann in Fällen, wo eine commissarische Vernehmung des Angeklagten nicht vorgeschrieben ist, eine Hauptverhandlung aber in dessen Abwesenheit gefühlt werden darf, immer auch dessen früher abgelegte gerichtliche Aussage verlesen werden; das gleiche kann auch in dessen Anwesenheit geschehen. Das Gesetz scheint zwar diesen \ r orlesungen engere Grenzen ziehen zu wollen, und es liegt clem clas löbliche Streben zu Grunde, zu verhindern, dass der Beweisaufnahme und damit auch dem Verhör in cler Voruntersuchung eine über die natürliche Bedeutung dieses Theiles des Verfahrens hinausreichende Bedeutung beigelegt werde. Allein die Versuche, h i e r Beschränkungen zu erzielen, erweisen sich als illusorisch. Die Thatsache eines früher abgelegten Geständnisses ist zu wichtig für den Beweis, als class man sie unterdrücken könnte; lässt man einmal clen Beweis über ein aussergerichtliches Geständniss zu, so ist es nicht möglich, clen über ein gerichtliches auszuschliessen, und ob etwas dabei gewonnen wäre, wenn man an das Gedächtniss eines vielbeschäftigten Untersuchungsrichters lieber als an die von ihm geleitete amtliche, ständniss anhören können. Ein Fall letzterer Art lag dem RGE v. 24. Januar 1880 Rspr 1 269 zu Grunde, welches ausspricht, dass aus dem angegebenen Grunde der Vernehmung des Angeklagten vorausgeschickte Verlesungen nicht schon an sich einen Verstoss gegen das Gesetz bilden, sondern nur, wenn sie „in einer Art geschehen, die geeignet ist, nachtheilig auf die Vertheidigung des Angeklagten einzuwirken". 41*

644

53.

Die Entgegennahme

er Aussage des Beschuldigten.

gleichzeitige Aufzeichnung sich hielte, ist doch sehr problematisch. I n der That ist gerade die \ 7 orlesung gerichtlicher Aussagen des Angeklagten selbst in England, wo sonst der Gebrauch von Vernehniungsprotokollen in der Hauptverhandlung fast ganz ausgeschlossen ist, zugelassen; und wenn sie in Frankreich nur kraft des pouvoir discrétionnaire stattfindet, so ist dies freilich ein arger technischer Fehler, der insbesondere den Angeklagten beeinträchtigen kann, wenn er selbst sich auf seine frühere Aussage berufen will; aber die Zulässigkeit der Vorlesung ist unbestritten 4 1 . Der leitende Gedanke muss auch hier sein, dass die mündliche Vernehmung in der Hauptverhandlung die beste und verlässlichste Grundlage des Urtheils bildet, dass es daher besonderer Gründe bedarf, die es rechtfertigen, wenn auf die Protokolle des Vorverfahrens zurückgegangen wird. und dass insbesondere auch hier es sich nicht darum handeln kann, ängstlich sich an 'das geschriebene zu klammern und jedes Detail, das sich dort vorfindet, herauszuheben. Andrerseits ist es nicht wünschenswerth, dass durch sogenannte Vorhalte aus den Akten, d. h. durch mündliche Angaben über deren Inhalt, die Verlesung des Wortlautes ersetzt werde, am wenigsten bei der Aussage des Angeklagten 42 . 3. Es soll daher zunächst der Angeklagte vernommen werden; legt er eine Aussage ab, die mit cler früheren nicht in Widerspruch 41 Siehe namentlich R o l l a n d Art. 269 Nr 83 (welcher darauf hinweist, dass das Prot über die Vernehmung des Beschuldigten im Gegensatz zu dem über die Zeugenvernehmungen den Gesehwornen ins Berathungszimmer mitgegeben wird; vgl. bes. Art. 341 Nr 87) und H é l i e , Pratique Nr 645, 1 329 und die daselbst angeführten Entscheidungen des Cassationshofes; ferner C u b a i n Nr 457 (der sehr gut das Urtheil über den AVerth der Verhörprotokolle so zusammenfasst: Ces déclarations, fort utiles comme renseignements, et surtout comme moyen de contrôle, ont une force probante infiniment moindre que celle des déclarations faites à l'audience). Weiter scheint H é l i e zu gehen, wenn er Instr. § 377 vol. V ρ 733 sagt, dass die Richter der Hauptverhandlung (juges du fond) auf das in der Voruntersuchung abgelegte, aber in der Hauptverhandlung nicht wiederholte Geständniss keine Rücksicht nehmen dürfen; allein ein solches Verbot stände im Widerspruch mit der Freiheit der Beweiswürdigung und wäre, sobald einmal die Vorlesung zugelassen wird, auch gar nicht zu handhaben. Das von ihm angerufene CHE v. 2. Januar 1853 verwirft eine Nichtigkeitsbeschwerde, die dagegen gerichtet war, dass ein im Verhör in der Voruntersuchung abgelegtes Geständniss. von welchem nicht erwiesen war, dass es in der Hauptverhandlung vorgelegt und wiederholt (présenté et réitéré) wurde, keine Berücksichtigung gefunden hatte. (Siehe auch bei R o l l a n d A r t 154 Nr 498.)# 42 Dieses Surrogat der Vorlesung, auf welches in der Reichstagscommission hingewiesen wurde (Prot S 962—965), erwähnt auch bereits wieder D a l c k e Bern 1 zu § 253, und zwar bezüglich polizeilicher Protokolle, die gar nicht verlesen werden sollen.

§ 53.

Die Entgegennahme

er Aussage

es Beschuldigten.

steht, so bedarf es des Zurückgehens auf dieselbe in der Regel nicht : es kann sich allerdings aber auch dann als wünschenswerth herausstellen. wenn der Angeklagte Werth darauf legt, dass er gewisse Angaben bereits früher oder dass er sie schon in einem bestimmten Zeitpunkte gemacht habe. — Legt er in der Hauptverhandlung gar keine Aussage ab, so bedarf es des Zurückgehens auf die Vorakten, ebenso dann, wenn es sich darum handelt , die Verlässlichkeit des in der Hauptverhandlung abgelegten Geständnisses zu prüfen, oder wenn das gleiche Bediirfniss bei anderen Aussagen, die vom Angeklagten in der Hauptverhandlung abgelegt werden, hervortritt. In all diesen Fällen genügt wohl auch die Verlesung einzelner Stellen des Verhörprotokolls, aber nur. so lange nicht von irgend einer Seite behauptet wird, dass die Unvollständigkeit den wahren Sinn der Aussagen oder ihre volle Bedeutung zu erkennen verhindere. 4. Vergleicht man niit diesen prozessualen Bedürfnissen die Bedingungen, welche § 253 der Verlesung stellt, so zeigt sich a. Die Verlesung soll erfolgen „zum Zweck der Beweisaufnahme über ein Geständniss" ; man darf aber wohl ohne weiteres annehmen, dass sie auch zum Zweck des Beweises über den Widerruf eines solchen und fiber Aussagen, die der Angeklagte zu seinen eigenen Gunsten ablegte, erfolgen könne. Vergleicht man die §§ 252—253 mit dem ersten Satz des § 250. so findet man. dass die an letzterer Stelle enthaltene Erwähnung der Aussage eines M i t b e s c h u l d i g t e n in den 252, 253 fehlt: und man wird daher auf Gruncl des § 253 Bedenken tragen müssen, die Aussage des anwesenden Mitangeklagten blos zum Zweck der Ueberweisung eines Mitangeklagten vorlesen zu lassen. b. Die Vorlesung soll ferner erfolgen dürfen, „wenn ein in der Vernehmung hervortretender Widerspruch mit der früheren Aussage nicht auf andere Weise ohne Unterbrechung der Hauptverhandlung festgestellt oder gehoben werden kann". Die Bestimmung ist wörtlich gleichlautend mit der die Zeugen und Sachverständigen betreffenden im S 252 und unterliegt- daher dem gleichen Tadel des Mangels an Deutlichkeit, wie diese 4 3 . Der natürliche Sinn für das Verhör des Angeklagten ist wohl der, dass nach Anhörung der mündlichen Erklärung des letzteren über einen bestimmten Punkt der Angeklagte gefragt wird, was er hierüber im Vorverfahren ausgesagt habe. Stimmt die hierüber gemachte Angabe mit dem Protokoll überein. so bedarf 43

Löwe Beni 4 zu § 252; D a l e k e Bern 5 das.

646

53.

Die Entgegennahme

er Aussage des Beschuldigten.

es natürlich einer Verlesung nicht m e h r 4 4 und es handelt sich nur mehr darum, weiter zu fragen, welche cler beiden Angaben der Angeklagte festhalte und warum die von ihm jetzt für richtig erklärte festgehalten werde. Leugnet cler Angeklagte die frühere Aussage ab, behauptet er, nicht verstanden worden zu sein, so ist die Verlesung um so weniger zu vermeiden, wreil ihm die Aussage, deren Existenz er bestreitet, ja schon aus diesem Grunde bekannt gemacht werden muss; und es ist schwer zu denken, auf welche andere Weise dies zweckmässiger geschehen sollte, es wäre denn etwa, dass er die Fälschung des Protokolles behauptet, wozu er aber auch nicht ohne vorausgegangene Verlesung oder doch Vorlage desselben gelangen könnte. Nur in diesem Falle wäre von cler mündlichen Vernehmung des Untersuchungsrichters und Gerichtsschreibers ein besseres Beweisergebniss zu erwarten. Handelt es sieh endlich um die Hebung von Widersprüchen, die bereits festgestellt sind, so muss man zunächst sich davor hüten, unbedeutende Abweichungen in den Einzelangaben unter diesen Gesichtspunkt zu bringen 4 5 . Auch die Hebung des Widerspruches kann, wenn derselbe einmal zugegeben ist, ohne Verlesung bewerkstelligt werden, insofern es sich jetzt nur mehr darum handelt, entweder die scheinbar widersprechenden Angaben mit einander in Einklang zu bringen oder die Gründe cles Widerspruches darzulegen und Gründe für das Fallenlassen einer cler beiden Angaben geltend zu machen. Einer Verlesung, die nicht schon zum Zweck der Feststellung des Widerspruches nöthig ist, bedarf es zum Zweck der Hebung desselben daher nur dann, wenn es sich um Einzelangaben handelt, die genau mit einander verglichen werden müssen, ohne dass dies aus dem Gedächtniss geschehen kann : überhaupt in all den Fällen, wo zum Verständniss und zur Erprobung cler neuen Angaben cles Angeklagten die Berücksichtigung cles Wortlautes cler früheren nöthig ist. Gerade in solchen Fällen muss aber das Protokoll in erster Linie berücksichtigt werden; die Vernehmung cler Personen, welche bei dessen Aufnahme zugegen waren, kann da nur zur Ergänzung und zur weiteren Aufklärung bestimmt hervorgehobener \ 7 orfälle bei cler Vernehmung im Vorverfahren dienen. Diese sachlichen Gründe sind daher für die Frage, ob zur Vernehmung dieser Personen geschritten werden muss, 44 Es ist vollkommen denkbar und kommt sehr oft vor, dass der Angeklagte sofort zugiebt, im Vorverfahren etwas anderes erklärt zu haben, und insofern ist es nicht richtig, dass es zur Feststellung des Widerspruches immer der Verlesung bedarf (wie ζ. B. L ö w e und P u c h e l t a. a. 0. meinen). 45 D a l c k e a. a. 0 ; P u c h e l t Bern 3 Abs. 5 das.: S c h w a r z e Bern Idas.

§ 54.

647

Sachliche Beweismittel.

i n weit höherem Grade entscheidend, als die i m Gesetz allein hervorgehobene Rücksicht

auf eine etwa

nöthig werdende

Unterbrechung

der Hauptverhandlung.

Drittes Kapitel. Sachliche Beweismittel und persönliche Yermittelung ihrer Benutzung. § 54. I.

Sachliche

Der Beweis beruht

Beweismittel1.

(s. oben § 3 7 ) i n letzter

entweder auf der E r z ä h l u n g von Menschen über wahrgenommen

haben

(persönliche

Linie

immer

dasjenige, was sie

Beweismittel,

personal

evidence), oder auf der zur Z e i t der Beweisführung noch wahrnehmbaren Beschaffenheit oder dem Zustande lebender Wesen oder lebloser 1

L i t e r a t u r : M a t h a e u s 1. 48 t. 15 c. 5. R e n a z z i 1. I l l cap. 13. R e i n h a r t h , De eo quod circa probationem delicti per documenta justum est. Erf. 1732. G ü n t h e r , De documenti notione recte constituenda. Lips. 1830. Q u i Storp §§ 707—709. F e u e r b a c h § 578. Grò Iman §§ 446. 447. K l eins ehr od im AA V Stück 2 Nr 3 S 68 if. G l o h i g I I 219 ff. S t ü b e l , Criminalverfahren §§ 1032—1064. D e r s e l b e , Thatbestand § 234. H e n k e , Darstellung S 199. D e r s e l b e , Handbuch IV 541 ff. M i t t e r m a i e r , Theorie S 341 ff. D e r s e l b e , Beweis S 378 ff. D e r s e l b e , Strafverfahren §§ 167—170. H e f f t e r , Lehrbuch §§ 634—637. B a u e r , Lehrbuch §§ 148—152. M ü l l e r §§ 114-119. M a r t i n § 86. K i t k a , Thatbestand S 254 ff. v. J a g e m a n n , Untersuchungskunde §§ 164. 165. 615 ff. Bayer. StG §§ 298-307. Preuss. CGO §§ 382—385. W ü r t t e m b . StPO v. 1843 Art. 320-326. B a d i s c h e StPO v. 1845 §§ 257—260. O e s t e r r . StPO v. 1853 §§ 272-277. Z a c h a r i ä , Grundlagen S 233—236; Handbuch g 147, I I 447 ff. P l a n c k , Systematische Darstellung § 133 S 377—380. G e y e r in HH I 300 ff; Lehrbuch § 211. U l i m a n n § 123 S 592. J o h n , StPR §35. D e r s e l b e , StPO S 500 ff. H e u s l e r im CA 1879 S 280 ff. F r y d m a n n S 238—241. X a r g h a §§ 323—325. Seel, Erörterungen über den Beweis in Strafsachen (1875) S 28-32. GA 1864 S 660 ff. (Anwendung der Photographie im Strafprozess), 1865 S 681 (Ueber den Urkundenbeweis, insbesondere Leumundsatteste), 1867 S 89—104 (Ueber ein \rerfahren, äussere Spuren der Verbrecher plastisch darzustellen), S 160 ff. (Die Telegramme als Urkunden im Strafprozess), 1870 S 137 ff. ( L o h m a n n , Die Verlesung von Schriftstücken), 1880 S 194 ff. ( O r t i ο ff, Telegramme). S eher er im GS 1876 S 601 ff. (Ueber Telegramme). B o n n i e r §§ 576 ss., vol. I I ρ 157 ss. R o s c o e ρ 150 ss. Best §§ 216—247. B e n t h a m Β 4 und Β 5 Kap. 2—6. C a r m i g l i a n i , Teoria IV 167 ss. C a r r a r a §§ 925 bis 928, vol. I I i) 486 ss. E l l e r o cap. 29. 31. 34-36.

648

§ 54.

Sachliche Beweismittel.

Gegenstände ( s a c h l i c h e B e w e i s m i t t e l . Urkunden, documentimi, instrumentum, probatio mortila, real evidence) 2 . Das sachliche Beweis2

Die Terminologie ist freilich sehr schwankend. Schon der Ausdruck: „instrumentum" wird in einem weiteren Sinne gehraucht 1 1 D de fide instrument. 22. 4 (Instrumentorum nomine ea omnia accipienda sunt, quibus causa instrui potest, et ideo tarn testimonia quam personae instrumentorum loco habentur). In der deutschen Literatur spricht man mit Vorliebe von „Urkunden" in drei Abstufungen der Bedeutung: Z a c h a r i ä , Handbuch § 147 I umfasst mit „dem weiteren Begriff von instrumentum alles zur Erörterung der Sache dienliche, omnia, quibus causa instrui potest" ; unter Urkunde, instrumentum, documentimi versteht er „alle körperlichen oder (?) physischen Producte menschlicher Thätigkeit, durch deren sinnliche Betrachtung mit oder ohne Absicht des Urhebers irgend etwas tatsächliches als existirend erkannt werden kann. Im engsten Sinne werden darunter schriftliche Aufzeichnungen verstanden, durch welche etwas schon geschehenes oder beabsichtigtes, wahres oder falsches bekundet oder durch das Mittel der Schrift erkennbar wird". Geyer § 211 I sagt: „Unter U r k u n d e n im weiteren Sinne versteht man alle leblosen Gegenstände, welche dazu dienen können, die Ueberzeugung von einer Thatsache hervorzurufen, in einem engeren Sinne dagegen nur die durch menschliche Thätigkeit erzeugten Gegenstände solcher Art, während man in noch engerem Sinne blos schriftliche Aufzeichnungen, welche etwas tatsächliches bekunden, und im allerengsten Sinne unter Urkunden diejenigen Schriftstücke versteht, welche durch einen maassgebenden Willen i n a 11 g e ni e i η e r k e η η b a r e r W e i s e, d i e B e S t i m m u n g e r h a l t e n h a b e n , zum B e w e i s von r e c h t l i c h e r h e b l i c h e n Thatsachen zu dienen". Man kann dahingestellt sein lassen, ob das Wort „Urkunde" in der weitesten dieser Bedeutungen wirklich heut gebraucht \verden kann: etymologisch richtig ist diese Anwendung nur, wenn sie auch das mündliche Zeugniss mit umfasst. ( Z a c h a r i ä § 147 Anni 1, s. auch Art. 187 CGC: „alle Urkund, Kundschaft, Weisung, Erfahrung und Erfindung".) Es ist aber weder ein Grund vorhanden, die Urkunden im weiteren Sinne auf „Producte menschlicher Thätigkeit·'1, noch sie auf „leblose Gegenstände" zu beschränken; da der Zustand eines lebenden Menschen oder Thieres ganz ebenso gut geeignet ist, „die Ueberzeugung von dem Dasein einer Thatsache hervorzurufen", wie der eines todten oder der eines leblosen Gegenstandes. Allerdings ist bei solcher Auffassung auch die Bezeichnung „sachl i c h e Beweismittel" nicht ganz genau; es dürfte die Grenzlinie am besten durch die im schottischen Beeilt übliche Eintheilung in mündliche Beweise (parole proof), schriftliche Beweise (declarations, confessions and written evidence) und in „Beweisstücke" (productions) getroffen werden. (Ueber eine im englischen .Hecht vorkommende Unterscheidung zwischen verbal oder oral und parole evidence s. B est § 223 Anni a, bei welchem übrigens die Dreitheilung vorkommt: witnesses — real evidence, evidence from things — documents = evidence supplied by material substances, on which the existence of things is recorded by conventional marks or symbols, 1. c. § 123. — Nimmt man „Urkunde" im allerweitesten Sinn als gleichbedeutend mit „sachliches Beweismittel" und lässt das Verhältniss zum A u g e n s c h e i n ausser Betracht, so ist die Definition wohl die zutreffendste, welche H e n k e , Handbuch IV 547 giebt: „ U r k u n d e im w e i t e r e n Sinne bezeichnet alle jene sinnlich erkennbaren Gegenstände, welche, dem richterlichen Augenscheine unterliegend, zur Begründung der Ueberzeugung des Richters von der Existenz oder Beschaffenheit einer Thatsache oder Thathandlung mehr oder weniger beitragen

54.

Sachliche Beweismittel.

649

mittel macht entweder unmittelbar den Beweissatz ersichtlich 3 oder es begründet die Ueberzeugung von der Wahrheit einer Thatsache, von welcher auf clen Beweissatz zu schliessen ist, es begründet ein I n d i c i u m . Zu den sachlichen Beweismitteln gehören aber auch Erzählungen oder sonstige Aeusserungen von Menschen, wenn diese durch Niederschreiben oder ähnliche Vorgänge von ihrem Urheber unabhängig geworden sind und so Dauerbarkeit und sachliche Selbstständigkeit erlangt haben. In diesem Falle kann natürlich die so bekundete Aeusserung eines Menschen wieder ein Z e u g n i s s , ein G e s t ä n d n i s s oder eine sonstige Aussage des Angeklagten, oder endlich ein Indicium begründen. Umgekehrt ist es möglich, dass man den in der Beschaffenheit oder dein Zustande einer Sache liegenden Beweisgrund im Prozess nicht mehr unmittelbar darthun kann, sondern sich zu diesem Zwecke der Erzählung oder Schilderung derjenigen bedienen muss, welche die Sache in ihrem ursprünglichen Zustande beobachteten. So kann also nach Umständen der in einem sachlichen Beweismittel liegende Beweisgrund durch persönliche und der in einem persönlichen liegende durch sachliche Beweismittel vermittelt werden (vergi, oben $ 37 IV). Liegt das sachliche Beweismittel dem Urtheil enden unmittelbar vor, nimmt es lediglich seine Sinnesthätigkeit und Receptionsfähigkeit in Anspruch, dann * steht es in Bezug auf Unmittelbarkeit auf einer Linie mit den persönlichen Beweismitteln ; man spricht daher gewöhnlich nur hier davon, dass die richterliche Ueberzeugung auf einem sachlichen Beweismittel beruhe, nicht aber, wenn können (signa, instrumenta); in e n g e r e r Bedeutung dagegen wird das Wort Urkunde genommen, wenn man darunter nur S ehr i ft en (documenta) versteht, woraus die Wahrheit einer Thatsache erkannt werden kann". 3 H e u s l e r , in dessen Auffassung des historischen Beweises, als der Darthuung einer der V e r g a n g e n h e i t ungehörigen Thatsache, das sachliche Beweismittel allerdings nicht passt, bemerkt im CA 1879 S 291: „Ein Knopf, ein Messer u. s. w. . . . sind überhaupt nicht Beweismittel, denn sie vermögen nichts zu beweisen. Was beweist der Knopf, cler bei dem Ermordeten liegt? Nichts! Er beweist nicht einmal, dass er dort gelegen hat". Dies allerdings nicht, aber wenn es zum Zweck der Feststellung der Identität dieses Knopfes oder seiner Aelinlichkeit mit einem anderen darauf ankommt, ob die beiden (eventuell der blos beschriebene und der vorliegende, angeblich mit ihm identische) genau zu einander passen, so beweist der eine Knopf, dass bei ihm alle Erscheinungen vorhanden sind, von welchen dieses Passen abhängt; d. h. er beweist eine Thatsache, welche ein Glied in der Kette der Beweisführung zu bilden geeignet ist. Ebenso beweist eine Leiche die Thatsache des eingetretenen Todes; eine zertrümmerte Thiire, ein ausgebogenes Fenstergitter beweisen dem, der sie sieht, genau dasselbe, nur überzeugender, als ein Zeuge, der erzählt, dass er die Thür zertrümmert, das Fenstergitter ausgebogen gesehen habe.

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§ 54.

Sachliche Beweismittel.

es der Vermittelung im oben bezeichneten Sinne bedarf, namentlich bei jenen Beweisformen, welche ganz speciell die Aufgabe haben, den in sachlichen Beweismitteln liegenden Beweisgrund dem Urtheiler zugänglich zu machen: diese Aufgabe erfüllen nämlich der richterliche A u g e n s c h e i n und die S a c h v e r s t ä n d i g e n . II. Der Eintheilung der s a c h l i c h e n B e w e i s m i t t e l wird am zweckmässigsten die Unterscheidung zu Grunde gelegt, ob in denselben ein Mensch seinen Gedanken Ausdruck gegeben hat, oder ob sie auf andere Thatsachen schliessen lassen. Die letzteren kommen entweder als Verkörperungen des objectiven Momentes des Thatbestandes oder als Grundlage für Schlussfolgerungen (Indicien) in Betracht; bei ersteren kann dies zwar ebenfalls eintreten, sie werden aber daneben auch sein können, was letztere nicht sein können, Z e u g n i s s e im weitesten Sinne ; am besten wird für erstere der Ausdruck S c h r i f t s t ü c k , für letztere der Ausdruck B e w e i s s t ü c k (§ 147 StPO spricht von „ U e b e r f ü h r u n g s s t i ' i c k e n " ) gebraucht werden. Allerdings gilt auch da: a potiori fit denominatio; da nicht verkannt wird, dass, während man mit dem Wort „ S c h r i f t s t ü c k " gewöhnlich den Begriff einer auf Papier oder ähnlichem Schreibmaterial enthaltenen Aufzeichnung von Worten oder Ziffern verbindet, zu den S c h r i f t s t ü c k e n in dem hier mit dem Wort verbundenen Sinne einerseits auch Zeichnungen, musikalische Noten und plastische Darstellungen und ebendarum andrerseits auch Aufzeichnungen und Darstellungen auf Holz, Erz, Stein u. s. w. gerechnet werden müssen (zu letzteren gehören auch die ehemals üblichen K e r b h ö l z e r und ähnliche mit Conventionellen Zeichen versehene Gegenstände). Das S c h r i f t s t ü c k kann sich als der ursprüngliche Ausdruck der Seelenthätigkeit eines bestimmten Mensehen ( O r i g i n a l ) oder als eine Nachbildung ( C o p i e ) dieses Ausdruckes darstellen. Ebenso kann aber auch ein „Schriftstück" in diesem Sinne angefertigt werden, um den Zustand oder die Beschaffenheit eines „ Β e w e i s s t ü e k e s " durch eine Nachbildung ersichtlich zu machen; dadurch kann trotz der Hindernisse, welche sich der unmittelbaren Anwendung eines solchen Beweisstückes in der Hauptverhandlung entgegen stellen, der aus demselben abzuleitende Beweisgrund zur Geltung gelangen. I I I . Eine etwas eingehendere Besprechung müssen S c h r i f t s t ü c k e finden. 1. Hier ist vor allem der Unterschied zwischen g e l e g e n t l i e h e n Beweismitteln und Schriftstücken, welche zum Zweck der Beweisführung angefertigt wurden, p r ä c o n s t i t u i r t e n Beweismitteln (Urkunden im engsten Sinn), zu beachten. Unter letzteren sind wieder

§ 54.

Sachliche Beweismittel.

651

öffentliche und Privaturkunden zu unterscheiden. Der öffentliche Charakter der Urkunden kann sich auf eine amtliche Gewähr der E c h t h e i t oder auch auf die Bezeugung des I n h a l t e s der Urkunde beziehen, wobei aber immer sehr genau unterschieden werden muss zwischen den mittelbar und den unmittelbar bezeugten Thatsaehen, indem nämlich die Abgabe einer Erklärung oder Aeusserung beurkundet werden kann, ohne dass darum die Wahrheit der so abgegebenen Erklärung oder Aeusserung beurkundet ist (ζ. B. die Erklärung, die Darlehensvaluta empfangen zu haben, im Gegensatze zu der Thatsache des Empfanges selbst). Alle diese Unterscheidungen haben für den Strafprozess fast nur n e g a t i v e Bedeutung: man hat sich davor zu hüten, civilrechtliche Normen als für das Strafrecht wirksam anzusehen, Normen, welche in der Abgabe gewisser Erklärungen, in der in der Unterschrift liegenden Anerkennung u. dgl. D i s p o s i t i v a k t e , Recht erzeugende Thatsaehen erkennen lassen und daher bewirken, dass gewisse Thatsaehen durch die Art, wie die Urkunde zu Stande kam, r e c h t l i c h existent w e r d e η , dass die Fiction, die sie etwa enthalten, durch den ihr zu Grunde liegenden berechtigten Willen der Partei etwas thatsächlich nicht vorhandenes zu etwas rechtlich existirenclem macht. Das gleiche gilt von solchen Bestimmungen, welche im Interesse der Sicherheit des Verkehrs die Beweislast verschieben oder den Gegenbeweis gegen Urkunden ausschliessen oder erschweren. Solche Bestimmungen können den Strafrichter in keiner Weise nöthigen oder auch nur rechtfertigen, Thatsaehen seiner Entscheidung zu Grunde zu legen, lediglich weil dies der Civilrichter thun müsste. Doch bedarf dies allerdings insofern einer Einschränkung, als es sich um einen Beweisgegenstand handelt, welcher l e d i g l i c h n a c h c i v i l r e c h t l i c h e n G r u n d s ä t z e n zu beurtheilen ist ; zwar hat das Strafgericht, wenn „die Strafbarkeit einer Handlung von der Beurtheilung eines bürgerlichen Verhältnisses abhängt, darüber nach den für das Verfahren und den Beweis in Strafsachen geltenden Vorschriften" zu entscheiden (§ 261 StPO), allein dass damit keine durchgreifende, für alle Fälle maassgebende Lösung gegeben ist, haben schon die Motive zu dieser Stelle des Entwurfes anerkannt. Für die B e w e i s f r a g e , um die es sich hier allein handelt, genügt es, zu bemerken : a. Dass es eine Frage des m a t e r i e l l e n Strafrechts ist, ob zum Thatbestand des Delictes die Verletzung eines civilrechtlichen Rechtsverhältnisses (gleichviel, wie es entstanden ist) gehört, oder ob das Wesen des Delictes in etwas anderem liegt und das für dasselbe vorausgesetzte thatsächliche Verhältniss eben nur dadurch gekennzeichnet ist, dass das auf gleicher Grundlage ruhende civilrechtliche Verhältniss erwähnt

652

§ 54.

Sachliche Beweismittel.

wird. So wird ζ. B. hei Vermögensdelicten die Frage des Eigenthums, des verletzten Privatrechts nach civilrechtlichen Grundsätzen beurtheilt werden und die in der Ausstellung einer bestimmten Urkunde liegende Β e c h t e r z e u g e n d e Thatsache dabei berücksichtigt werden müssen (unbeschadet der Frage, ob die Art, wie letztere zu Stande kam, geeignet ist, einen die Strafbarkeit aussehliessenden Irrthum annehmen zu lassen). Dagegen wird bei Beantwortung der Frage, ob das getödtete neugeborne Kincl ein eheliches gewesen, nicht die civilrechtliche Form, sondern das wahre, thatsächliche Verhältniss entscheidend sein. b. Dass mit der Verweisung auf die Grundsätze über den Beweis in Strafsachen, soweit dieser durch Urkunden geführt wird, eine Hegel nicht gewonnen ist, weil das Gesetz (§ 248) Urkunden als Beweismittel anerkennt, ohne etwas anderes zu verfügen, als dass sie in der Häuptverhandlung verlesen werden. Allerdings gilt von diesem Beweismittel, Avie von jedem anderen, die Unterordnung unter das Princip der freien Β e weis Würdigung ; aber immerhin wird der Bichter bestimmte Gründe haben müssen, einen Beweis als durch eine Urkunde nicht erbracht anzusehen, welche im Civilprozess ausgereicht hätte, die gleiche Thatsache zu erweisen. Υ λ· wird sieh eben fragen müssen, ob Gründe vorliegen, eine Fiction anzunehmen, und zwar eine solche, welche nicht eine nach a auch für das materielle Strafrecht wirksame, weil Recht erzeugende Natur hat. 2. Fragen wie die vorstehend erwähnten werden in der Regel bei solchen Urkunden im engeren Sinne auftauchen, aus welchen der Beweis für civilrechtliche Vorfragen abgeleitet werden soll. Unm i t t e l b a r e M o m e n t e des strafrechtlichen Thatbestandes werden selten durch Urkunden zu beweisen sein. Ganz ausgeschlossen ist diese Möglichkeit allerdings nicht 4 . So wird der objective Thatbestand des Meineides, des Wuchers, der falschen Anschuldigung regelmässig durch Urkunden im engsten Sinne bewiesen werden, bei deren Errichtung allerdings nicht geradezu die Absicht auf die Beurkundung der strafbaren Handlung als solcher gerichtet gewesen sein wird. I n anderen Fällen wird die Urkunde nur ein o c c a s i on e i l es Beweismittel sein, aber nichtsdestoweniger eine vollkommen ausreichende Grundlage für die Ueberzeugung des Strafrichters darbieten; ζ. B. wenn aus ihr der Beweis der Anwesenheit einer Person an einem gegebenen Orte zu einer bestimmten Zeit, oder ihrer Kenntniss oder Unkenntniss bestimmter Thatsachen u. dergl. abgeleitet wird. 4

Siehe B o n n i e r § 603, I I 181; dort wird auch der in der Hauptverhandlung begangenen, im Sitzungsprotokoll constatirten strafbaren Handlungen erwähnt.

54.

Sachliche Beweismittel.

653

3. Viel häufiger werden Urkunden im engsten Sinne im Strafprozess dazu benutzt, m i t t e l b a r e Beweise herzustellen. Der Umfang, in welchem ü b e r h a u p t von solchen Urkunden (hauptsächlich Protokolle, ausnahmsweise schriftliche Atteste, Aktenstücke aus anderen behördlichen Verhandlungen, behördliche Gutachten) Gebrauch gemacht werden kann, richtet sich nach den §§ 248—255 der StPO (vgl. österr. StPO § 252). Hier ist die Frage der B e w e i s k r a f t solcher Urkunden zu behandeln, worüber das Gesetz sich aber nicht ausspricht. Die einzige Andeutung, die es bietet, findet sich in der in § 274 enthaltenen doppelten Vorschrift, dass die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden kann und dass gegen den positiven Inhalt dieses Protokolls „nur der Nachweis der Fälschung zulässig" ist 5 . Uni so gewisser stehen alle anderen Urkunden unter der Herrschaft des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung, und es ist daher Gegenbeweis jeder Art gegen dieselben prineipiell zulässig 6 , während andrerseits kein Grund besteht , ihnen nicht bis zur Führung des Gegenbeweises oder doch bis zur Darthuung das Vertrauen beeinträchtigender Thatsaehen vollen Glauben zu schenken 7 . r> Die Bestimmung steht im Einklang mit § 150 (1er CPO. (Vgl. auch Motive zum Entw der StPO S 161 u. 210.) Obgleich der Ausdruck Beweis der Fälschung" an die französische inscription en faux erinnert, kann ihm doch eine technische Bedeutung nicht beigelegt werden; wie E n de m a n n , Der deutsche Civilprozess, Bern I c zu § 150 CPO sagt, „existiren für denselben keine besonderen Vorschriften der Procedur; auch sind Beweismittel aller Art zulässig". Hier ist nur hervorzuheben, dass B e r i c h t i g u n g e n und Vervollständigungen des Protokolles mit Ausnahme des Theiles, aus dessen Inhalt bereits Rechtsmittel abgeleitet sind, zugelassen werden (RGE v. 31. Mai 1880 Rspr I 840, L ö w e Bern 5 zu § 271), dass im Falle cler Zurückweisung eines Antrages auf Protokollirung gewisser Vorgänge sogar eine nachträgliche Vernehmung von Zeugen hierüber für zulässig erachtet wird (L ö w e Beni 6 zu § 273), dass andrerseits aber weder der in dem Inhalt der Entscheidungsgründe, noch der durch übereinstimmende Erklärungen der Parteien hervortretende AViderspruch gegen den Inhalt des Protokolls (L ö w e Bern 3 zu § 274) berücksichtigt werden darf. Vgl. §§ 380. 382. 383 CPO, welche prineipiell den Beweis der Unrichtigkeit der in öffentlichen Urkunden bezeugten Thatsaehen zulassen, soweit er nicht ausdrücklich untersagt ist. AA'as von dem in Bezug auf Urkunden mit Recht formstrengeren Civilprozess gilt, muss umsomehr für den Strafprozess gelten. 7 Die vielerörterte Frage nach der Urkundenqualität der T e l e g r a m m e (s. G A 1867 S 160: Scherer im GS 1876 S 601 ff.; O r t lo ff, GA 1880 S 194 ff.; J o h n . StPO S 507 ff.) hat für den Strafprozess nur sehr geringe Bedeutung.* Die dem Adressaten zugekommene Ausfertigung giebt sich als eine Urkunde über die Thatsache, dass ein Telegramm des mitgetheilten Inhaltes ordnungsmässig eingelaufen ist; dieses ordnungsmässige Einlaufen besteht darin, 1. dass an der bezeichneten

654

§ 54.

Sachliche Beweismittel.

4. Noch häufiger als Urkunden im engsten Sinne werden im Strafprozess andere Schriftstücke als gelegentliche Beweismittel benutzt, und gerade bei ihnen tritt die grösste Mannichfaltigkeit hervor, insofern durch Schriftstücke, die vom Angeklagten herrühren, Geständnisse oder Belastungs- oder Entlastungsanzeigen hergestellt werden, während Schriftstücke, die von Dritten herrühren, entweder — dadurch dass sie beim Beschuldigten gefunden oder sonst mit ihm in Verbindung gebracht werden — Anzeigen der erwähnten Art begründen oder schriftliche Zeugnisse enthalten, die unter Umständen, welche ausser Zweifel stellen, dass sie nicht für die Zwecke der Beweisführung angefertigt, nicht auf Begünstigung oder Schädigung des Angeklagten in seinem Strafprozess berechnet sind, eine höhere Glaubwürdigkeit erlangen können, als welche die mündliche und eidliche \ 7 ernehniung dem gerichtlichen Zeugniss giebt. Um so notwendiger ist es, dass sie, als Beweismittel behandelt, im Beweisverfahren der gemeinsamen Prüfung und später der contradictorischen Erörterung unterzogen werden und dass nicht die Leichtigkeit Nachahmung finde, mit welcher namentlich in Frankreich die Verlesung von Briefen, sei es von dem Vorsitzenden in den verschiedensten Stadien der Hauptverhandlung, sei es von den Parteien in episodischer Einfügung in die Vorfrage, geduldet wird. § 55.

Augenschein1.

I. Die richterliche Ueberzeugung beruht immer auf der Entgegennahme und Verwerthung empfangener Sinneseindrücke. Spricht man Aufgabestation zur angegebenen Zeit ein Beamter unter keinerlei Verdacht erregenden Umständen ein Schriftstück zur telegraphischen Mittheilung entgegen genommen hat, welches sich als im Namen des darin benannten Absenders abgefasst (nicht als von ihm geschrieben oder unterschrieben) giebt; 2. dass der Inhalt dieses Schriftstückes getreu an die Ankunftsstation ab- (und eventuell durch Mittelstationen weiter-) telegraphirt wurde und 3. an der Endstation richtig aufgenommen und wiedergegeben wurde. Also handelt es sich stets um eine Reihe von vorläufig, d. h. bis zum Auftauchen concreter Zweifelsgründe (oben § 36 III), für wahr anzunehmenden Thatsachen, von denen bald die eine, bald die andere für den speciellen Beweiszweck entscheidend sein kann, je nachdem es wichtig ist, dass die Mittheilung gerade von dieser Person ausging, gerade an diese Person gelangte, dass dies gerade zu dieser Zeit, an diesem Orte geschah u. s. w. — Seinem Inhalt nach ist das Telegramm wohl meist o c c a s i o n e l l e s Beweismittel, nur selten Urkunde im engsten Sinne : die Mittheilung einer Thatsache oder Willenserklärung, nicht die Herstellung eines Beweises darüber, ist gewöhnlich der Zweck cles Telegrammes. 1 K l eins ehr o d , AA λ' Stück 3 Nr 1, V I St. 1 Nr 1. H e n k e , Darstellung des gerichtlichen Verfahrens in Strafsachen §§ 102—105. 152. D e r s e l b e , Handbuch IV 428 ff. S t ü b e i , Thatbestand §§ 195-198. 311 — 313. D e r s e l b e ,

§ 55.

aber vom Beweis

durch A u g e n s c h e i n

man sich zwar k l a r

darüber,

655

Augenschein.

dass

(inspectio ocularis),

hiedureh E i n d r ü c k e

Sinne als das Gesicht nicht ausgeschlossen s i n d , man, mehr oder weniger bewusst,

auf

w o h l aber schliesst

die E i n d r ü c k e aus, welche

s a g e n (persönliche Beweismittel) auf den Richter machen. sich also u m sachliche B e w e i s m i t t e l ;

allein wo

so ist andere Aus-

Es handelt

diese i m Augenblick

der Entscheidung dem U r t h e i l e r zu u n v e r m i t t e l t e r Benutzung vorliegen, besteht k e i n G r u n d ,

das s a c h l i c h e B e w e i s m i t t e l

receptiven Thätigkeit

des Richters

mehr

zurücktreten

bei der Anhörung von Zeugen u. s. w. das persönliche.

vor

der r e i n

zu lassen als Selbständige

Criminalverfahren §§ 700—710, 1837 ff. M i t t e r m a i e r , Theorie des Beweises im peinlichen Prozesse (1821) I 137 if. (Literaturangabe S 138 das.). D e r s e l b e , Die Lehre vom Beweise S 161 ff. D e r s e l b e , Das deutsche Strafverfahren I 537 ff., I I 322 ff. M a r t i η , Lehrbuch §§ 87 —89. A h e g g , Lehrbuch des gemeinen Criminalprozesses §§ 96—101. Bauer, Lehrbuch des Strafprozesses §§ 134—140. W . Μ ü 11 e r, Lehrbuch §§ 120—124. J a g e m a n n , Handbuch der gerichtl. Untersuchungskunde §§ 23 ff. D e r s e l b e in der Ζ f. d. Strafverfahren 1 330 ff. K i t k a , Die Erhebung des Thatbestandes S 203 ff. Z a c h a r i ä , Grundlinien S 138—148. 191. 192. D e r s e l b e , Handbuch I I 216 ff. 319. 424. 425. P l a n c k , Systematische Darstellung S 227. 228. W a l t h e r , Bayer. StPR S 196—200. D o l l m a n n , System des baver. StPR §56. W ü r t l i , Oesterr. StPO v. 1850 S 219 ff. R u l f , Oesterr. StPO v. 1853 I 153 ff. Oppen ho ff, Preuss. Ges über . . . Verfahren in Strafsachen S 119. v. S tem a m i , Darstellung des preuss. Strafverfahrens § 28. L ö w e , Preuss. Strafprozess § 48. S c h w a r z e , Commentar zur sächs. StPO v. 1855 1 255 ff. T r é b u t i e n , Cours I I 212. 218. H é l i e , Pratique Nr 171. 172. 317—320. 467. H é l i e , Insti·. §§ 345 ss., V 440 ss.; §§ 501. 557, V I I 324 ss. 734 ss. B o n n i e r Nr 108—110, vol. I ρ 123 ss. Du ν e r g e r Nr 204 ss., vol. I I ρ 178 ss. M a n g i l i , Instruction écrite Nr 79 ss., vol. I ρ 113 ss. R o l l a n d bei Art. 32. 44. 62. 87. 88 Code d'I. crini.. bei Art. 154 das. Nr 241 sq. 531-533. 556. 562. 584. 585. B o r s a n i e C a s o r a t i §§ 670 sq., vol. I I ρ 311 sq. M e i zu Art. 121 sq. des i t a l . Regolamento di proc. pen. — N e u e s t e r d e u t s c h e r u n d ö s t e r r e i c h i s c h e r Strafprozess: D e u t s c h e StPO §§ 86 ff. 224. 248. Oesterr. StPO §§ 98-103. 116 ff. v. B a r , Systematik des deutschen Strafprozessrechts § 56. D o c h o w S 179 — 181. J o h n , Das deutsche Strafprozessrecht § 32. D e r s e l b e , StPO S 494 ff. Geyer in HH I 221 ff.; Lehrbuch §§ 121. 122. 206. B i n d i n g , Grundriss § 79. V a r g h a S 515 ff. U l i m a n n § 77 S 376. M a y e r , Handbuch I I 408-418. S c h a p e r in HRLex Art. „Augenschein". S eel, Erörterungen über den Beweis in Strafsachen (1865) S 27. W e v e l d , Zur Lehre vom gerichtlichen Augenschein im Civilprozess. München 1877. W. B r a u e r im ANF 1846 S 583-607. K l e i n s c h r o d , AA V Stück 3 S 1 ff., V I Stück 1 S 1 ff. ΝΑ I 664 ff. J a g e m a n n in der Ζ f. d. Strafverfahren I 330—356. Sa r a n in GA 1865 S 743 ff. S c h a p e r das. 1866 S 254—256. Siehe auch das. 1867 S 226—229 (Vernehmung der Personen . . . auf deren Aussagen der Sachverständige sich . . gründet). — Aeusserliche Behelfe: Ueber Photographie s. GA 1864 S 660—671 (Od ehr echt), StRZ 1870 S 500 ff. Ueber ein Verfahren, äussere Spuren der Verbrecher plastisch darzustellen, GA 1867 S 89 ff.

656

§ 55.

Augenschein.

W i c h t i g k e i t hat daher der Augenschein für den Strafprozess - nur i n jener specifisehen Bedeutung, welche i h m i n der doppelten Gestalt des r e i n e n Augenscheins

u n d des (durch Beiziehung von

gemischten Augenseheins

Sachverständigen)

die geschichtliche E n t w i c k e l u n g gab,

vermöge welcher er die i n sachlichen Beweismitteln liegenden Beweisgründe für er

den Prozess nutzbar machen hilft.

durchaus

prozesses.

das

Erzeugniss

des gemeinen

I n dieser Gestalt deutschen

ist

Inquisitions-

Dieser ging von den spärlichen Bestimmungen des älteren

Rechtes, welche eine Besichtigung durch Sachverständige oder Diener vorschrieben 3 ,

aus.

machte

aber

später,

mit

seinen

Gewohnheiten

2 Aus clen nachfolgenden Auseinandersetzungen geht hervor, dass im Strafprozess der den Augenschein einnehmende Richter nur selten der erkennende Richter ist, und class er es früher nie war; dies bringt mit sich, dass er nicht blos Eindrücke aufzunehmen, sondern sie durch Beschreibung anderen zugänglich zu machen hat, und dies hat wieder, \vie sich zeigen wird, einen Einfluss auf die Art der Augensclieineinnahme, die sie von blos occasioneller, wenn auch durch amtliche Thätigkeit veranlasster Wahrnehmung sondert. Es genügt hier also gewiss nicht, zu sagen, der Augenschein bestehe darin, „dass cler Richter seine Pflicht thue und die Augen aufmache" ( H e u s l e r im CA 1879 S 257). Bei den im Strafprozess nicht seltenen Fällen, wo clas sachliche Beweismittel dem urtheilenden Richter selbst vorliegt und wo die blosse Vorzeigung desselben in der Hauptverhandlung genügt, um die darin liegenden Beweisgründe kennen zu lehren, entspricht es der Sachlage, lediglich von der Vorführung eines sachlichen Beweismittels zu reden. Im Gegensatz dazu ist meines Erachtens „Augenschein" die V e r m i t t e l un g dieses Prozesses, und nur da zu erwähnen, wo es dieser Vermittelung bedarf. Insofern gewählt der Augenschein allerdings nur mittelbare Vermehrung des Beweismaterials, wie das gleiche, wenn auch mit einer später zu besprechenden Modification, auch vom Sachverständigenbeweise gilt. Im Strafprozess nun, avo es nicht darauf abgesehen ist, dem Richter die Benutzung von Beweismaterialien, die ihm nicht von den Parteien dargeboten sind, zu untersagen, wo es also lediglich darauf ankommt, sowohl die unmittelbare als die mittelbare Benutzung sachlicher Beweismittel in das Beweisverfahren einzufügen und den Grundsätzen des Beweisrechtes unterzuordnen, kann ich der Frage, ob cler Augenschein ein Beweismittel sei, die Bedeutung nicht beilegen, die ihr mit Recht auf dem Boclen des Civilprozesses beigelegt wird und da scharfsinnige Untersuchungen hervorgerufen hat. ( H e u s l e r im CA 1879 S 234 ff. und dagegen W a c h , Vorträge S 55 f. 149 ff., vgl. J o h n , StPO S 494- 504.) 3 Die Nachwirkung liievon findet sich noch in den Art. 173 der s ä c h s. StPO v. 1855 und 1868, § 83 der b a d i sehen StPO v. 1864, Art. 69 der w ü r t t e m b . StPO v. 1868. S. dagegen Z a c h a r i ä , Handbuch 11 218 und die dort angeführte hannoversche Criminalinstruction v. 1736 IV § 12. — Die Motive zum Entw der deutschen StPO S 61 erklären solche Besichtigungen durch andere als den Richter deshalb für unzulässig, weil einem nicht richterlichen Protokolle „eine Beweiskraft für clas Strafverfahren nicht beigelegt werden kann", und deuten daneben an, dass dein Richter überlassen werden kann, durch untergeordnete Personen sich über Besichtigungen mündlich Bericht erstatten zu lassen; offenbar ist gemeint, dass danach der Richter beurtheilen soll, ob die Einnahme eines Augenscheins möglich und nützlich sei.

§ 55.

657

Augenschein.

brechend, dem Untersuchungsrichter die unmittelbare E r h e b u n g des T h a t b e s t a n d es an Ort und Stelle zur Pflicht 4 . I n seiner Eigenart kann der Augenschein des genieinen Strafprozesses nur erkannt werden in richtiger Würdigung dieses Zusammenhanges und durch Sonderung von dem Anlass zur Vornahme des Augenscheines (ζ. B. Hausdurchsuchung) und von den daneben gehenden sonstigen Erhebungen (Vernehmungen). Es handelt sieh beim Augenschein also: 1. Um die e i g e n e sinnliche Wahrnehmung des Gerichts, im Gegensatz zur Entgegennahme von Mittheilungen anderer über ihre Wahrnehmungen. 2. Es handelt sich um sinnliche Wahrnehmungen j e d e r A r t ; die Benennung Augenschein (judicium oculoruni) ist nur von der weit überwiegenden Form cler sinnlichen Wahrnehmungen abgeleitet. 3. Die Wahrnehmung ist keine blos zufällige und nebenhergehende, sondern das Ergebniss einer auf dieselbe abzielenden Thätigkeit, der E i n n a h m e des A u g e n s c h e i n s (inspectio ocularis). Dieser Unterschied berührt geradezu das Wesen des Beweismittels ; denn es ist etwas anderes, ob eine Nachforschung angestellt wird, welche einen bestimmten Zweck verfolgt, auf welche man sich sorgfältig vorbereitet, welche auf Vollständigkeit und Gründlichkeit der Beobachtung abzielt und die Gewähr dafür bietet, dass alles erhebliche wahrgenommen wurde, das nicht wahrgenommene auch nicht wahrzunehmen war, — oder ob man von einem Sinneseindruck überrascht wird, der vielleicht im Augenblick nicht sorgfältig geprüft, dessen Ursache nicht mit anderen maassgebenclen Verhältnissen in Zusammenhang gebracht wird. 4. Es handelt sich bei clem Augenschein, wie ihn cler deutsche Inquisitionsprozess ausgebildet und clem modernen Prozess überliefert hat, niemals b l o s um die Wahrnehmung, sondern auch um die gleichzeitige oder doch möglichst gleichzeitige B e u r k u n d u n g derselben. Auf beides gleichmässig muss clas Augenmerk gerichtet sein. Dies unterscheidet die gelegentliche Wahrnehmung von der methodischen 4

Noch schwerer löste sich in Frankreich cler Augenschein von der Thatbestanderhebung los; die Gesetze sprechen nur von transport oder descente sur les lieux, visite, vérification. Erst in dem neuesten Entwurf hat der Ausdruck C o n s t a t Eingang gefunden, den die Literatur schuf. Z. B.: Le juge lorsqu'il a ressemblé les premiers éléments de son instruction et au fur et à mesure des opérations, auxquelles il procède, dresse son p r o c è s - v e r b a l de c o n s t a t . Ce procès-verbal . . . doit énoncer . . . toutes les vérifications faites . . . Le procèsverbal de constat est suivi du p r o cè s - v e r b al d ' i n f o r m a t i o n , qui recueille les déclarations des témoins présents sur les lieux. H é l i e , Pratique I Nr 172 p 88. Binding, Handbuch.

IX. 4. I : G l a s e r , Strafprozess.

I.

42

658

§ 55.

Augenschein.

Einnahme des Augenscheins, weil für die b e a b s i c h t i g t e Beurkundung immer Anstalten getroffen werden müssen. Es ist ferner eine grosse Gewähr sorgfältiger und vollständiger Beobachtung, dass es nicht genügt, einen Gesammteindmck in sich aufzunehmen, sondern es darauf ankommt, auch anderen die Einzelheiten anschaulich zu machen, die jenen hervorzurufen geeignet sind; indem man genöthigt wird, zu beschreiben, wird man genöthigt, sich selbst genauere Rechenschaft von den gemachten Wahrnehmungen zu geben und eben darum genauer zu beobachten, insbesondere auch den n e g a t i v e n Wahrnehmungen mehr Beachtung zuzuwenden 5 . 5. Der richterliche Augenschein enthält stets eine C o l l e c t i v w ah r η eh in u n g und beruht daher auf einem ausdrücklichen oder stillschweigenden A u s t a u s c h der gemachten Beobachtungen. Im gemeinen Inquisitionsprozess wurde gefordert, dass der Akt vor einem f o r m i r t e η Gericht, also unter Beiziehung von Schöffen, so lange diese nach der Gerichtsverfassung bestanden 6 , und jedenfalls unter Beiziehung und Mitwirkung des Schriftführers stattfinde 7 . Letzteres ist in den neuesten Prozess (§§ 166.185 deutsche, §§ 23.101 österr. StPO) übergegangen, und dazu kommt nun noch das Recht der Parteien, an der Einnahme des Augenscheines sich zu betheiligen. Alles dies bedingt aber, dass die Hauptperson nicht blos stumm die Eindrücke in sich aufnehme, sondern dass der den Augenschein einnehmende richter5 Die Wichtigkeit der Constatirung negativer Wahrnehmungen ist so gross, dass selbst in dem § 86 der deutschen StPO, dem einzigen, den dieses Gesetz dem einfachen Augenschein widmet, vorgeschrieben ist, das Protokoll müsse darüber Auskunft geben, welche Spuren oder Merkmale, deren „Vorhandensein nach der besonderen Beschaffenheit des Falles vermuthet werden konnte, gefehlt haben". Vgl. bezüglich des älteren Rechtes namentlich A h e g g , Lehrbuch § 97; W a l t h er S 199. 200; L ö w e , Preuss. StP S 179. 180. 6 Die in der CCC Art. 149 angeordnete Beiziehung der Schöffen und der Urkundspersonen hat sich gerade bei diesem Untersuchungsakt am längsten erhalten; vgl. M i t t e r m a i e r , Strafverfahren 1 253 ff.; Z a c h a r i ä I I § 10^ Anni 4; sächs. StPO v. 1855 und 1868 Art. 173; w ü r t t e m b . StPO Art. 169 (unter Beschränkung auf vom Gemeindevorsteher beizuziehende Gemeinderäthe). In O e s t e r r e i c h fand sie in alle neuere Codificationen Eingang ; die Gerichtszeugen haben auch nach der StPO v. 1873 §§ 102. 103, „um möglicherweise Zeugniss vor Gericht abzulegen, auf alles, was vor ihnen vorgenommen oder ausgesagt wird, volle Aufmerksamkeit zu verwenden, über die getreue Protokollirung desselben zu wachen". Unrichtig ist es daher, wenn M i t t e r m a i e r (Beweis S 162) ihre Stellung so auffasst, als wären sie die eigentlichen Beobachter, so dass der Richter „nur das Resultat cler Gesammtbeobachtung aufzeichnen lässt". 7 S. über die Grenzen der Selbständigkeit des Protokollführers O . W a l t h e r in der Sächs. Gerichtszeitung 1857 S 272. 297.

§ 55.

659

Augenschein.

liehe Beamte sieh darüber ausspreche, was er als festgestellt und dafür ist die hergebrachte seine Wahrnehmungen, koll

dictirt

und

womöglich von Schritt

dadurch Anlass g i e b t ,

zu Schritt , zu Proto-

dass abweichende E i n d r ü c k e

zur Sprache gebracht werden u n d dass auf übergangenes merksam gemacht

wird.

Mit

erachte;

und zweckmässige F o r m die, dass er

vollem Recht w i r d

dass i n diesem Sinne der Gerichtsschreiber

sofort auf-

namentlich

betont,

nicht blos passiv

mitzu-

w i r k e n habe 8 . 6.

Es giebt auch Fälle, wo der Richter bezüglich der Beobachtung

auf die M i t w i r k u n g

anderer angewiesen ist u n d wo

seine T h ä t i g k e i t

eine n u r leitende u n d beurkundende ist, ζ. B . wenn es g i l t , eine E n t fernung durch Ausschreiten oder m i t einfachen, keine technische V o r b i l d u n g fordernden

Methoden auszumessen, — Fussspuren i n Papier

auszuschneiden oder i n einfacher Weise nachzuformen, — Gegenstände abzuzählen, — die Beschreibung durch eine Zeichnung, photographische 8

In clen Motiven zur deutschen StPO S 61 ist die Nichtbeiziehung von weiteren Urkundspersonen ausser dem Schriftführer damit erklärt: „Gleichwie ein vor dem Richter und Gerichtsschreiher aufgenommenes Protokoll über eine Zeugenvernehmung clen Beweis dafür liefert, dass cler Zeuge clie in dem Protokoll verzeichnete Aussage wirklich abgegeben, so muss auch clas über den Augenschein aufgenommene Protokoll zum Beweise darüber genügen, dass die darin verzeichneten Wahrnehmungen von clen Gerichtspersonen wirklich gemacht worden sind". Daran schliesst sich unmittelbar die oben Anni 3 angeführte Aeusserung, welche die Beweiskraft des Protokolles lediglich von der Aufnahme durch einen richterlichen Beamten abhängen lässt. — Bezüglich cler Stellung cles Schriftführers ist das Hauptgewicht wohl darauf zu legen, dass die blosse Notwendigkeit cler Anwesenheit und Mitwirkung eines zweiten Beamten die nachträgliche Anfertigung oder Aenclerung von Protokollen unmöglich macht. Zeigt sich beim Dictiren des Protokolles, dass cler Richter eine Wahrnehmung glaubt constatimi zu können, die der Schriftführer für irrig hält, so wird es gewiss Pflicht des letzteren sein, clen Richter darauf aufmerksam zu machen, und in cler Regel wird dies sofortige neuerliche Erprobung und Richtigstellung zur Folge haben. Lässt sich clie Verschiedenheit der Auffassung nicht ausgleichen, so wird diese Thatsache allerdings im Protokoll nicht übergangen werden dürfen. L ö w e Beni l e bei § 86; vgl. auch Geyer in HH I 226 Anni 1. Man kann aber nicht mit diesen Schriftstellern und gestützt auf clie Motive ohne weiteres Aufgabe und Verantwortlichkeit beider Beamten g l e i c h s t e l l e n . Die Leitung, clie Bestimmung des Umfanges cler Beobachtung und die Beurtheilung und Darstellung des Ergebnisses ist wesentlich Sache cles Richters; der Schriftführer wird nothwendig minder beweglich sein, seine Aufmerksamkeit in erster Linie seiner unmittelbaren Aufgabe zuwenden müssen und weder forclern können, dass ihm mit Beeinträchtigung der letzteren ein mehr actives Eingreifen ermöglicht werde (z. B. Nachmessen, Nachzählen u. clgl.), noch für etwas anderes verantwortlich sein, als dass er ihm auffallende Unrichtigkeiten in der Angabe des Richters nicht stillschweigend ins Protokoll aufnimmt. 42*

660

§ 55.

Augenschein.

Nachbildung oder ein plastisches Modell zu ersetzen, — durch Ausschickung von Leuten zu erforschen, ob noch weitere Spuren des Verbrechens in der Nähe wahrnehmbar sind, wobei er mit der Verzeichnung des Berichtes über clas negative Resultat dieser Nachforschung sich begnügt. — Viel wichtiger ist aber eine andere Form der Mitwirkung, wobei es sich nicht blos um die Erleichterung der Thätigkeit des Richters, sondern auch um die Ergänzung der ihm mangelnden Fähigkeit zu richtiger Beobachtung durch Mitwirkung von S a c h v e r s t ä n d i g e n handelt. Ist es auch nicht richtig, dass in solchen Fällen die S a c h v e r s t ä n d i g e n nur „Sehrohre" des Richters seien, wie man sonst gern sagte, so ist es andererseits auch verfehlt, zu behaupten, dass clie Sachverständigen einfach Zeugen gleichzuachten seien. Vielmehr hat der gemeine deutsche Strafprozess auf quellenmässiger Grundlage eine besondere Form des Augenscheines geschaffen, welche auf clem Zusammenwirken des Richters mit den Sachverständigen, oder vielmehr auf cler Einfügung cler letzteren in die den Augenschein einnehmende Colleetivperson beruht, und welche man im Gegensatz zum r e i n e n richterlichen Augenschein clen z u s a m m e n g e s e t z t e n , clen A u g e n s c h e i n u n t e r M i t w i r k u n g von S a c h v e r s t ä n d i g e n genannt hat. 7. Eben darum aber, weil der Richter hier mehr als bei jedem anderen Akt des Verfahrens alles in allem, Handelnder und Berichterstatter, Aussagender und Ueberlieferer cler Aussagen ist, kommt alles auf seine Person an. Man betonte daher stets mit grosser Schärfe die Forderung, dass er nicht blos in amtlicher Eigenschaft, dass er als Richter und selbstverständlich daher auch nicht als in diesem Falle vom Richteramt ausgeschlossener, sondern dass er als f ü r d i e s e S a c h e berufener Richter einschreite. Die Nichtberücksichtigung seiner Privatwahrnehmungen ergiebt sich schon aus dem oben gesagten, da solche jedenfalls auch nur zufällige sind. Andererseits wird cler Augenschein in clen meisten Fällen zu einer Zeit vorgenommen, wo sich das Verfahren noch nicht gegen einen bestimmten Beschuldigten richten konnte, und daraus folgt von selbst, dass man in Fällen, wo etwa ein Wechsel in der Person des Beschuldigten eintrat, clen Satz einschränken musste, dass der Augenschein seine Beweiskraft verliert, sobald der Richter nicht für clie Strafsache als solche zuständig sei 9 . Ebenso wenig konnte die schroffe Ansicht 9

Im Gegentheil wurde früh gewissermaassen eine besondere Zuständigkeit zur Einnahme des Augenscheins tur „jede Untersuchungsbehörde" geschaffen, „in deren Bezirk sich die Spuren eines Verbrechens finden". Bayer. StG v. 1813 I I

§ 55.

Augenschein.

661

S t ü b e l s 1 0 Eingang finden, dass selbst die durch Requisition bewirkte Uebertragung der Competenz nichts daran ändere, dass es doch nicht „der Richter" sei, der den Augenschein einnehme. II. Aus vorstehendem ergiebt sich, dass die Einnahme des Augenscheines im Sinne des gemeinen deutschen Inquisitionsprozesses in der amtlichen Erforschung, Prüfung und Beschreibung s a c h l i c h e r B e w e i s m i t t e l bestand; über die beschriebenen thatsächlichen Verhältnisse und Zustände machte er vollen Beweis, nicht blos über die Thatsache der Wahrnehmung. Dies war von um so grösserer Bedeutung, weil in der Regel eine Ueberprüfung nicht möglich und daher der Gegenbeweis factisch ausgeschlossen war. — Um so nothwendiger ist es, die Einnahme des Augenscheins von anderen Fällen der Bestätigung gemachter Wahrnehmungen des Untersuchungsrichters zu sondern: 1. Selbst der rein schriftliche Strafprozess schloss nie aus, dass diejenigen sachlichen Beweisstücke, bei welchen dies irgend möglich war. den Urtheilsverfassern unmittelbar vorgelegt wurden ; die Aufgabe des Untersuchungsrichters beschränkte sich also hier auf die Beglaubigung der Identität; brachte er. etwa um seinen eigenen Verfügungen. die sich darauf stützten, eine aktenmässige Grundlage, auch nach Ausscheidung der Beweisstücke, zu wahren, eine amtliche Beschreibung zu Papier: so ist es doch klar, dass nicht diese, sondern das von den Urtheilern selbst wahrgenommene. welches nur in den Entscheidungsgründen charakterisirt wurde, die Grundlage der Entscheidung war. 2. Dagegen war die Beweiskraft des Protokolles über den richterlichen Augenschein nur der Ausfluss des eine Grundlage des ganzen Verfahrens bildenden Princips, dass (unbeschadet etwaigen Gegenbeweises) der amtliche Bericht des Untersuchungsrichters, in gehöriger Form zu den Akten gebracht, über die Thatsache der darin bezeugten Wahrnehmungen des Richters vollen Beweis mache. Solche Wahrnehmungen betrafen und betreifen in erster Linie Aussagen, welche vor dem Richter abgelegt wurden und welche unseren Gegenstand nur Art. 23. Später sorgte man auch noch für die Möglichkeit selbst einer Ueberschreitung des Jurisdictionsgebietes; so ζ. B. statuirt die ö s t e r r . StPO eine concurrirende Gerichtsbarkeit für Verbrechen, die auf der Grenze zweier Bezirke verübt sind (§ 51). Vgl. übrigens bezüglich der Verpflichtung unzuständiger Gerichte zu dringlichen Maassregeln § 21 deutsche und § 65 österr. StPO. 10 Criminalverfahren § 708. Dagegen schon M i t t e r m a i e r , Theorie I 176, wo aber allerdings auch das missliche der Requisition gerade in solchen lallen betont ist: „nur der, dem die gesammten bisherigen Erfahrungen und Umstände vorliegen, kann mit Genauigkeit beobachten'·.

662

§ 55.

Augenschein.

nebenher berühren. Soweit es sich dagegen um Vorgänge handelt, welche sich vor den Augen des Richters zutrugen, könnten sie betreffen: a. Zwischenfälle, welche bei Verhören von Beschuldigten und Zeugen, insbesondere bei Gegenüberstellungen hervortreten; b. strafbare Handlungen, welche während einer Amtshandlung des Untersuchungsrichters in seiner Gegenwart begangen werden. Hieher gehören in erster Linie disciplinar zu ahndende Ausschreitungen, welche eben nur durch (las Protokoll festgestellt werden und deren Ahndung auf Grund des letzteren erfolgt. Soweit es sich jedoch um s e l b s t s t ä n d i g e Delicte handelt, mochte es fraglich bleiben, ob das Protokoll für sich allein vollen Beweis mache, sofern nicht das Gesetz dies ausdrücklich aussprach; von einem eigentlichen Beweis durch Augenschein konnte hier nicht die Rede sein, weil es sich nicht tun eine planmässige, sondern um ein zufällige Wahrnehmung handelte, weil das Willensmoment in der Regel noch anderweitiger Feststellung bedarf, und weil ja die ausser dem Gerichtsschreiber beizuziehenden Urkundspersonen entweder gefehlt haben oder nicht für d i e s e Sache in Pflicht genommen waren. Das Protokoll, das der Richter über solche Vorgänge aufnehmen musste, war daher in der Regel nur G r u n d l a g e eines einzuleitenden Verfahrens, das erste Aktenstück der bezüglichen Procedur. c. Eine Yerimuig war es dagegen, wenn manchmal für zulässig erklärt wurde, dass der Richter seine ausseramtlich gemachten Wahrnehmungen dadurch amtlich verwerthete, dass er selbst darüber ein Protokoll dem Aktuar dictirte. 3. Umgekehrt war es nicht gänzlich zu vermeiden, dass in die Akten der Augenscheineinnahme sich die E n t g e g e n n a h m e v o n A u s s a g e n mischte, wie z. B. von Angaben über die örtlichen Verhältnisse, über die Identität der zu besichtigenden Gegenstände, über deren Lage und gegenseitiges Verhältniss in einem gegebenen Augenblick. Andere werden während cler Einnahme cles Augenscheins abgelegt, und es kann ihre augenblickliche Entgegennahme nicht ohne Schaden für die Sache unterlassen werden, wie z. B. Erklärungen, die der zur Anerkennung der zu besichtigenden Gegenstände beigezogene Angeschuldigte darüber oder bei diesem Anlass abgiebt. Dass solche Aussagen und nun gar deren Gegenstand nicht als durch Augenschein bewiesen anzusehen waren, unterlag einerseits so wenig einem Zweifel, als es andererseits auf clem Boden des schriftlichen Verfahrens einem Bedenken unterlag, dass dieselben dem Augenscheinsprotokolle einverleibt wurden 1 1 . 11

I I 275.

Vgl. üher einschlägige Fragen Sitzungsberichte der bayerischen Strafgerichte W a l t lier S 317.

§ 55.

Augenschein.

663

III. In die neuesten Strafprozessgesetze Deutschlands und Oesterreichs ist der Augenschein als eine durch die vorausgehenden Prozessfonnen gegründete und entwickelte Beweisart (fast ohne nähere Bestimmung darüber, zumal bezüglich des reinen Augenscheins) übergegangen. Es erleiden daher die eben dargestellten Grundsätze nur diejenigen Modifieationen, welche sich aus der Einfügung in die neue Prozessfonn ergeben. Im Bahmen der letzteren nimmt der Augenschein insofern eine Ausnahmestellung ein, als er das einzige Beweismittel ist, welches nicht blos ausnahmsweise ausser der Hauptverhandlung in der Absicht aufgenommen wird, dass die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung nur durch \ r erlesung des bezüglichen Protokolles vor sieh gehen soll; umgekehrt begrenzen die Gesetze die hierin liegende Ausnahme vom Grundsatze der Unmittelbarkeit, und es erlangt dadurch die Abgrenzung des Begriffes und Gegenstandes des Augenscheins eine praktische Bedeutung, die sie sonst nicht hätte. Andererseits nämlich kommt in Betracht, dass durch das Princip der freien Beweiswürdigung die einstige bevorzugte Stellung des Beweismittels des Augenscheines beseitigt ist und eben dämm auch jene strengen Anforderungen, welche sonst an die „volle Beweiskraft" 12 des Augenseheines gestellt wurden, ihre frühere Bedeutung verloren haben. IV. Der Augenschein, wie er vorstehend geschildert wurde, ist wesentlich ein Vorgang, welcher dem urtheilenden Richter die ihm versagte unmittelbare Anschauung e r s e t z e n soll. Vom e r k e n n e n d e n Gerichte selbst eingenommen, verändert er schon seine Beschaffenheit; jener aus Beobachtung und gleichzeitiger Beschreibung 13 12

Wenn z. B. K e l l e r sagt: ein Augenscheinsprotokoll, welches den Erfordernissen des § 86 nicht entspricht, „ermangelt der vollen Beweiskraft in der Hauptverhandlung" (Bern 5 zu § 86 in der 1. Auflage, die 2. spricht Bern 6 das. nur mehr von „wesentlichen gesetzlichen Erfordernissen"), so weiss man nicht, was dies bedeuten soll. Auch bei dem correctesten Protokoll ist die Abschätzung seiner überzeugenden Kraft nunmehr lediglich der Beurtheilung von Fall zu Fall überlassen. Die einzige wirklich zu stellende Frage ist, ob das Protokoll überhaupt als Beweismittel gebraucht, d. i. in der Hauptverhandlung verlesen werden darf? 13 Von einem Augenscheinsprotokoll, welches bei Einnahme des Augenscheins durch das erkennende Gericht abzufassen wäre, weiss die d. StPO in der That nichts; nicht nur § 273 Abs. 1 enthält keine darauf bezügliche Andeutung, sondern auch die umfassenderen Aufzeichnungen, welche, der Berufung wegen, Abs. 2 für die Verhandlungen vor dem Schöffengerichte anordnet, betreifen nur „die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen". Wenn in Abs. 3 von der Feststellung „eines \rorganges in der Hauptverhandlung" die Rede ist, so k a n n dies allerdings auch auf Einnahme des Augenscheins bezogen werden, wie es P u c h e l t Bern 3 zu § 86 thut; allein auch damit wäre nur bewiesen, dass die Protokollirung regelmässig nicht erfolgt. Auch die ausführlichen Bestimmungen des

664

§ 55.

zusammengesetzte V o r g a n g ,

Augenschein.

welcher

historisch

das Beweismittel des

Augenscheines ausmacht, ist hier nicht denkbar. W i l l man daher nicht unter Augenschein auch schon

alle F ä l l e

der Benutzung sachlicher

Beweismittel begreifen, wo also i m Gerichtssaal ein Gegenstand dem Gerichte vorgewiesen w i r d 1 4 , oder wo dieses sich zum Zwecke der i n d i viduellen Besichtigung von Oertlichkeiten

oder

Gegenständen an O r t u n d Stelle b e g i e b t 1 5 ,

nicht

übertragbaren

so werden die Fälle wohl

selten vorkommen, wo das erkennende Gericht nicht vorzieht, den A u genschein durch einen beauftragten oder ersuchten Richter einnehmen zu lassen, sondern i h n selbst einnimmt.

M a g zugegeben werden, dass

letzteres nicht untersagt i s t 1 0 , so ist doch auch deutlich, dass die Gesetze den F a l l wenigen

für

nicht

besonders

berücksichtigt

den Augenschein ertheilten

haben

Vorschriften

u n d dass die derselben

auf

i h n nicht p a s s e n 1 7 . § 271 österr. StPO über clen Inhalt cles Protokolles cler Hauptverhandlung enthalten nichts, was auf die Einnahme des Augenscheins in der Hauptverhandlung hindeutet ; vielmehr ist die im § 116 daselbst „stets" — vgl. die Ausnahme bei Uebertretungen § 452 Z. 5 — geforderte Beiziehung von Gerichtszeugen mit einer in der Hauptverhandlung selbst vorzunehmenden Augenscheineinnahme nicht vereinbar. 14 Vgl. ζ. B. L ö w e Bern 3 zu § 243. 15 Dieser Fall kam ζ. B. in dem bekannten Prozess Tourville in Bozen vor. Der Schwurgerichtshof traf die Veranstaltung, dass sich Richter, Geschworne, Staatsanwalt und Vertheidiger an den Ort der That begaben; es ward aber sorgfältig alles vermieden, Avas der Besichtigung den Charakter einer Augenscheineinnahme gegeben hätte. 16 Geyer in HH I 225, im Lehrbuch § 122 1 1 ; L ö w e Bern 1 zu § 86; Ρ u c h e l t Bern 3 das. Die Sache war um so weniger selbstverständlich, weil im früheren preussischen Recht dem erkennenden Gericht die Befugniss zu unmittelbarer Einnahme des Augenscheines, allerdings aus theils unhaltbaren, theils nicht immer zutreffenden Gründen — es war davon die Rede, dass cler Vorgang mit der „Würde" des Gerichtes nicht vereinbar sei — abgesprochen wurde. O p p e n h o f f S 119 Bern 4 bei § 19. Anderer Ansicht auf Grund der StPO für die neupreussischen Provinzen E b m e i e r zu § 118 Bern 2. — Für die geltende deutsche StPO ist wohl der ausdrückliche Ausspruch der Motive zu § 224 ders. (S 126) entscheidend, obgleich dabei auch nur auf die „Unmittelbarkeit der Anschauung" des Gerichtes Gewicht gelegt uud betont wird, es werde „nur selten ausführbar sein", dass „das erkennende Gericht in Begleitung der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten sich selbst an Ort und Stelle begiebt, um unmittelbar den Augenschein einzunehmen". 17 L ö w e erkennt dies an, wogegen sich P u c h e l t auf die Mot S 34 beruft, wonach die „Vorschriften über die einzelnen Untersuchungshandlungen . . . auf alle Stadien des Verfahrens anwendbar" seien. — Es entsteht zunächst die Frage nach der O e f f e n t l i c h k e i t des Aktes, welche unvermeidlich wäre, sobald dieser ein Theil cler Hauptverhandlung ist, nach cler u n b e d i n g t e n Berechtigung des verhafteten Angeklagten (im Vergleich mit § 223 Abs. 2 StPO), der Untersuchungshandlung beizuwohnen, nach der Notwendigkeit cler Protokollführung (s. oben Anm 13), nach der Anwendbarkeit der Bestimmungen über die Beweisaufnahme in der Haupt-

§ 55.

Augenschein.

665

Eine Abgrenzung der G e g e n s t ä n d e des Augenscheins ist nur darin zu finden, dass er bezüglich aller solchen Objecte stattzufinden hat, welche als s a c h l i c h e B e w e i s m i t t e l dienen oder dienen können, und bei welchen es sich eben um die oben geschilderte Art von Feststellungen handelt. Es werden dies Eigenschaften, Beziehungen und Zustände von Personen, beweglichen und unbeweglichen Sachen, ferner Thätigkeiten des Gerichtes selbst oder von diesem veranstaltete Vorgänge sein, welche auf Entdeckung und Prüfung solcher Zustände abzielen und damit zusammenhängen ; andere Handlungen und Vorfälle, welche das Gericht nur bei Gelegenheit der Einnahme des Augenscheines wahrnimmt, bilden nicht mehr den Gegenstand des letzteren, sondern den eines „Zeugnisses einer öffentlichen Behörde" (§ 255). Ihre Aufnahme in das Augenscheinsprotokoll selbst sollte thunlichst vermieden werden, um Schwierigkeiten bezüglich der Verlesung in der Hauptverhandlung zu entgehen; was aber — eben aus diesem Grunde — jedenfalls abgesondert aufzunehmen i s t 1 8 , das sind Aussagen, welche der Beschuldigte oder Auskunftspersonen bei Gelegenheit des Augenscheines ablegen, soweit solche nicht untrennbar mit der Einnahme des letzteren verbunden sind (s. oben I I Nr 3). Den Fall, dass i n d e r S i t z u n g eines Gerichtes eine strafbare Handlung begangen wird oder doch etwas sich zuträgt, was den Thatbestand einer solchen zu begründen scheint, hat die deutsche Reichsgesetzgebung gleichmässig für alle Sitzungen erkennender Gerichte geregelt und eben darum es unterlassen (nach den Motiven ward auch kein Bedürfniss dafür gefunden), die auf Sitzungen der Civilgerichte doch nicht recht passende Bestimmung der Art. 330. 505—508 des Code d'Instr. nachzubilden. Nach § 185 des GVG kann niemals eine sofortige Verurtheilung stattfinden; wohl aber „hat das Gericht den Thatbestand festzustellen und der zuständigen Behörde das Verhandlung. Alle diese Fragen müssen, sobald eine eigentliche Augenscheineinnahme als Theilakt der Hauptverhandlung stattfindet, in dem Sinne beantwortet werden, dass die für diese geltenden Bestimmungen auch auf jenen anzuwenden seien. 18 Der Grund, welcher W a l t h e r (a. a. 0. S 198) bestimmte, davon abzumahnen, Wahrnehmungen des Gerichtes und entgegengenommene Aussagen zu vermengen, die Notwendigkeit der Sonderung bei der Mitgabe von Akten in das Berathungszimmer der Gesehwornen, trifft weder für die deutsche noch für die österr. StPO mehr zu: denn nach der ersteren werden den Gesehwornen nur „Gegenstände in das Berathungszimmer verabfolgt, welche ihnen zur Besichtigung vorgelegt wurden" (§ 302), und nach der letzteren werden ihnen auch in der Hauptverhandlung verlesene Aussagen mitgegeben (§ 325). — Ueber die Grenze der Vermischung von Augenschein und Zeugenbeweis Schwarze Bern 9 zu § 86; J o h n in StRZ 1863 S 384 ff. und Kritiken S 160 ff.

666

§ 55.

Augenschein.

darüber aufgenommene Protokoll mitzutheilen" 1 9 . Dieses Protokoll kann allerdings eben so wohl Aussagen des Beschuldigten und der Zeugen, als auch die Beurkundung der Wahrnehmungen enthalten, die das Gericht als Behörde gemacht hat. In letzterem Falle wird es, obgleich nur über eine gelegentliche Wahrnehmung aufgenommen, einem Augenscheinsprotokoll wohl gleich zu achten sein 2 0 , obgleich dies nicht ausgemacht ist, da die Bestimmung des § 185 auch dann nicht zwecklos wäre, wenn das Aktenstück nur als Grundlage zur Einleitung der Untersuchung zu dienen hätte. — Bei einer Hauptverhandlung wegen Meineids oder falscher Beschuldigung wird das Protokoll, welches clen geleisteten Eid oder die Aussage bezeugt, als „Urkunde" verlesen werden können, als ein „Augenscheinsprotokoll" wird es im zweiten Falle niemand ansehen ; aber auch im ersten kann es als solches nicht anerkannt werden. V. Der Augenschein, wird eingenommen: im V o r b e r e i t u n g s v e r f a h r e n durch clen Amtsrichter, auf Antrag des Staatsanwaltes, clem jener, sofern er nicht „unzulässig" erscheint, stattgeben muss, oder in dringenden Fällen aus eigener Initiative (§§ 160. 163. 164) — in der V o r u n t e r s u c h u n g von dem Untersuchungsrichter oder dem von ihm ersuchten Amtsrichter (§§ 191, 193 und 183 Satz 2) — in s p ä t e r e n S t a d i e n des Verfahrens „durch einen beauftragten oder ersuchten Richter" (§§ 183. 200. 223. 224) — stets also durch einen Einzelrichter. Durch Beschluss des Gerichtes kann auch der Vorsitzende der Hauptverhandlung mit der Einnahme cles Augenscheines 19

Die österr. StPO hat sich den Satzungen des französischen Rechtes theilweise angeschlossen; sie unterscheidet: in cler Sitzung vorgefallene strafbare Handlungen des Angeklagten selbst, welche den auf andere Weise neu auftauchenden Delicten desselben gleichgestellt werden (§ 279), — Verdacht, dass eine in der Sitzung abgelegte Aussage eines Zeugen falsch sei, in welchem Falle der Vorsitzende „über dessen Aussage ein Protokoll aufnehmen und nach geschehener Verlesung und Genehmigung von clem Zeugen unterfertigen lassen" kann (§ 277), — endlich den Fall einer sonstigen in dem Sitzungssaale verübten strafbaren Handlung, bei welcher der Thäter „auf frischer That betreten wird", worüber je nach Lage der Sache entweder „mit Unterbrechung cler Hauptverhandlung oder am Schlüsse derselben auf Antrag des dazu berechtigten Anklägers, sowie nach Vernehmung des Beschuldigten und der vorhandenen Zeugen von dem versammelten Gerichte sogleich abgeurtheilt" werden kann, oder es lässt der Vorsitzende den Thäter dem Untersuchungsrichter vorführen. In beiden Fällen ist „über einen solchen Vorgang ein besonderes Protokoll aufzunehmen" — dessen Verlesung in einer späteren Hauptverhandlung nach § 252 letzter Absatz, soweit es sich um die gerichtlich beurkundeten Vorgänge handelt, nichts entgegensteht. Vgl. auch noch Ruspo l i , I testimoni falsi in pubblico dibattimento, in der Riv. pen. V I 29 sq. 20 Geyer in HH I 228.

§ 55.

Augenschein.

667

beauftragt werden, was jedoch angesichts des ausgesprochenen Widerwillens der d. StPO gegen Untersuchungshandlungen des Vorsitzenden ausser der Hauptverhandlung besser unterbleibt 2 1 . Sowohl im § 86 als im § 248 spricht die StPO nur von „richterlichem" Augenschein, und die Motive (s. oben Anni 3 u. 8) erklären es für ganz unzulässig, dem von einem nichtrichterlichen Beamten aufgenommenen Protokolle irgend eine Beweiskraft für das Strafverfahren einzuräumen. Es finden daher beide Bestimmungen wreder auf polizeiliche, noch auch auf solche Besichtigungen und Untersuchungen Anwendung, welche cler Richter durch untergeordnete Personen vornehmen lässt, soweit dieselben nicht einen Bestandtheil des von ihm selbst geleiteten Augenscheines bilden (vgl. oben I I Nr 6). Dies hat jedoch nur die Bedeutung, dass Protokolle über solche Augenscheineinnahmen nicht in der Hauptverhandlung verlesen werden dürfen 2 2 . Es ist dem Staatsanwalt aber vollkommen gestattet, selbst Besichtigungen vorzunehmen oder sie durch Polizei- und andere Behörden vornehmen zu lassen (§ 159), und die darüber gemachten Aufzeichnungen werden nach Einleitung der Voruntersuchung zu den Akten derselben gelangen, in der Hauptverhandlung aber durch Vernehmung der Personen, welche die Wahrnehmungen machten und denen nicht wird versagt werden können, dabei zur Unterstützung ihres Gedächtnisses die früheren Aufzeichnungen zu benutzen, verwerthet werden 2 3 . 21 L ö w e Beni 11 zu § 222 besorgt Verdächtigung der Unbefangenheit des Vorsitzenden. 22 Geyer § 122 I ; L ö w e Bern l b zu § 86; S c h w a r z e Bern 3 zu § 86; T h i l o Bern 5 das.; P u c h e l t Bern 3 das. Nach ö s t e r r . Recht tritt eine solche Beschränkung bezüglich der B e h ö r d e n nicht ein; vgl. § 252 letzter Absatz, § 88 Abs. 3 und §§ 24 u. 26. Eine Augenscheineinnahme durch untergeordnete Organe, soweit sie nicht integrirender Bestandtheil einer Hausdurchsuchung ist, kennt dagegen die österr. StPO nicht. — Nach § 88 österr. StPO darf der Staatsanwalt Augenschein und Haussuchung nicht selbst vornehmen und durch die Sicherheitsbehörde nur dann („unter Beobachtung der für gerichtliche Akte dieser Art vorgeschriebenen Förmlichkeiten") vornehmen lassen, „wenn sich in Abwesenheit einer zur Amtshandlung berufenen Gerichtsperson (lie Notwendigkeit unverzüglichen Einschreitens herausstellt". „Die hierüber aufgenommenen Protokolle können jedoch bei sonstiger Nichtigkeit nur dann als Beweismittel benutzt werden, wenn sie unverweilt dem Untersuchungsrichter mitgetheilt worden sind, welcher deren Form und Vollständigkeit zu prüfen und nötigenfalls die Wiederholung und Ergänzung der Verhandlung zu bewirken hat". 23 Bezüglich der Abgrenzung der Augenscheinsprotokolle von den „ein Zeugniss . . . enthaltenden Erklärungen öffentlicher Behörden" vgl. oben IV. Ueber die Notwendigkeit der Beiziehung des Gerichtsschreibers, dessen Stellung und die Frage der Urkundspersonen s. oben I Nr 5.

668

§ 55.

Augenschein.

Was die Art der Vornahme des Augenscheines betrifft, so ist der oben beschriebene Zweck und die Natur der zu lösenden Aufgabe allein maassgebend für dieselbe. Die Gesetze lassen der Einsicht des Richters und der Fortwirkung der früheren Theorie und Praxis ganz freien Spielraum (und zwar mit geringen Ausnahmen selbst bezüglich der Frage, ob ein Augenschein überhaupt nöthig und am Platze sei). I m § 86 deutsche StPO ist nur vorgeschrieben, es sei „im Protokolle der vorgefundene Sachbefund festzustellen und darüber Auskunft zu geben, welche Spuren oder Merkmale u. s. w. (vgl. oben Anm 5) gefehlt haben". Die österr. StPO schreibt vor (§117): „Das über den Augenschein aufzunehmende Protokoll ist so bestimmt und umständlich abzufassen, dass es eine vollständige und treue Anschauung der besichtigten Gegenstände gewähre. Es sind demselben zu diesem Zwecke erforderlichenfalls Zeichnungen, Pläne oder Risse beizufügen; Maasse, Gewichte, Grössen und Ollsverhältnisse sind nach bekannten und unzweifelhaften Bestimmungen zu bezeichnen". — Besonderes Gewicht ist darauf zu legen, dass die die Beschreibung ersetzenden Zeichnungen, Pläne, Risse u. dgl. als Bestandtheile des Protokolles behandelt, mit demselben in deutlich erkennbare und nicht willkürlich zu lösende Verbindung gebracht und gleich demselben beglaubigt werden. Bezüglich solcher Beweisstücke, die bei Einnahme des Augenscheines vorgefunden und in gerichtliche Verwahrung genommen werden, kommt es zunächst darauf an, dass der Hergang, vermöge dessen sie als sachliche Beweismittel erscheinen, dargestellt und ihre Verwechselung untereinander und die Unterschiebung fremder Stücke durch genaue Beschreibung und Bezeichnung verhindert werde (vgl. § 98 österr. StPO). VI. Die B e w e i s a u f n a h m e i n d e r H a u p t v e r h a n d l u n g erfolgt bezüglich der durch Augenschein festgestellten Thatsachen in der Regel durch V o r l e s e n des bezüglichen Protokolles 24 . Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass die Personen, welche den Augenschein einnahmen, unmittelbar vom erkennenden Gericht vernommen werden, allein diese ihre Aussage wäre ein Zeugniss wie jedes andere: 24 G e y e r sagt /war in HH 1 229, „das Beweismittel, dessen sich das erkennende Gericht in diesem Falle bedient", sei „nicht Augenschein, sondern Zeugniss. Das Protokoll ist ein amtliches schriftliches Zeugniss, eine Aussage über gemachte Wahrnehmungen. Ausnahmsweise" (vgl. auch das. 8 225 § 14 Nr 3) „wird dieses schriftliche Zeugniss verlesen". Diese Bemerkung bildet jedoch nur den Ausgangspunkt einer Untersuchung über die innere Beschaffenheit des Beweismittels und soll also clen im Text dargelegten speciiischen Charakter des Beweismittels, den dieses durch die Mittelbarkeit nicht verliert, nicht in Abrede stellen.

§ 55.

Augenschein.

669

und das zur Zeit der Wahrnehmung aufgenommene Protokoll ist hier das in erster Linie niaassgebende Beweismittel, welches in der Regel das Zeugniss überflüssig macht, aber nicht durch dasselbe überflüssig gemacht· wird. — In der Regel ist daher wohl eine Kritik, aber keine Erprobung des Protokolles möglich; Gegenbeweis ist zwar nicht unbedingt unmöglich, aber er wird unter allen Umständen mit grossen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, und die Geneigtheit, dem Inhalt des Protokolles unbedingt Glauben zu schenken, auch jetzt, wo keine Rechtsregel dazu nöthigt oder zu nöthigen scheint, eine sehr grosse sein. Eben deshalb ist es um so wichtiger, dass der Augenscheinsakt und das Protokoll von wesentlichen Gebrechen frei geblieben seien. Sind solche vorhanden, so liegt der Gedanke nahe, dem Akt den Charakter eines gesetzlichen Augenscheines abzusprechen und die Verlesung des Protokolles zu verweigern 2 5 . Der Satz wird wohl auch nicht bestritten werden können, wenn der Mangel eines wesentlichen, gesetzlich anerkannten Erfordernisses sofort erkennbar ist ; wenn ζ. B. der Augenschein gar nicht von einem Richter eingenommen wurde oder dessen Unterschrift auf dem Protokoll nicht erscheint, — wenn erwiesen ist, dass eine Augenscheineinnahme nicht stattfand und das Protokoll auf der Aneignung gar nicht an Ort und Stelle gesammelter Angaben beruht. Wenn ein Gerichtsschreiber nicht beigezogen wurde, wird Verletzung einer gesetzlichen Vorschrift sicherlich behauptet werden können ; aber es wird doch zweifelhaft sein, ob damit das Schriftstück den Charakter eines „Protokolles über die Einnahme des richterlichen Augenscheines" verliert, und wo das n i c h t der Fall ist, ist dasselbe nach § 248 StPO zu verlesen oder wenigstens nicht positiv von der Verlesung ausgeschlossen. Dazu kommen dann die Fragen nach dem Einfluss der N i c h t z u s t ä n d i g k e i t des Richters, welcher den Augenschein einnahm, und der Umstände, welche ihn als ausgeschlossen erscheinen lassen. In ersterer Hinsicht ist nun durch § $ 2 0 und 21 StIO jeder Zweifel daran beseitigt, dass der Augenschein „nicht schon wegen dieser 25

P l a n c k , Systematische Darstellung S 225. Vgl. thüring. StPO Art. 158. — L ö w e Bern 5h zu § 248; K e l l e r Bern 6 zu § 86, vgl. oben Anm 12. S. auch clas RGE v. 9. März 1880 Entsch I 256. Dort heisst es : „Nachdem cler Vertheidiger gegen die Verlesung des AugenscheinspiOtokolles . . . protestili hatte, war clas Schwurgericht verpflichtet, die gerügten Mängel zu prüfen und musste von der Verlesung Abstand nehmen, wenn sich diese Mängel herausstellten. Erachtete clas erkennende Gericht unter solchen Umständen die betreffende Beweisverhandlung . . . erforderlich, so musste unter Aussetzung cler Hauptverhandlung jener Akt in correcter Weise wiederholt werden".

670

§ 55.

Augenschein.

Unzuständigkeit u n g i l t i g w e r d e 2 6 .

Dagegen fehlt bezüglich der Aus-

schliessung eine heilende E r k l ä r u n g dieser A r t i m Gesetze, u n d sie wäre auch nicht zu rechtfertigen, da der ausgeschlossene Richter, wenn er einschreitet, das Gegentheil von dem thut, was das Gesetz w i l l ; daher sind solche A k t e als nichtig zu erklären, Avas zur Folge hat, dass das sog. P r o t o k o l l nicht verlesen werden d a r f 2 7 . Andere, nicht sofort äusserlich erkennbare Mängel können bewirken, dass der Augenschein als nichtig zu behandeln ist. Formstrenge ist i m geltenden Prozess nicht n ö t h i g , zur Sprache gebracht,

nicht Solche

weil die Mängel,

die W i r k u n g haben k ö n n e n ,

die

Beweiskraft

des Protokolles abzuschwächen, j a i h m allen Glauben seitens der U r theiler

zu entziehen, andererseits

Mängel vor sprechen,

es aber sehr schwer

dem erkennenden Gericht

ohne dass von dem I n h a l t

wäre,

diese

auch n u r verständlich zu bedes Protokolles Kenntniss

ge-

nommen wird. § 56. - S a c h v e r s t ä n d i g e 1 . I.

Sachverständige

(Kunstverständige,

scientific witnesses) sind Personen,

periti, experts,

welche durch ihre Ausbildung für

26 Mot zu § 20 (S 15) und die berichtigende Bemerkung Schwarzes zu diesem Paragraphen. Vgl. auch Prot S 790. 791. J o h n , StPO Bern 2 zu § 20. — In gleichem Sinne österr. StPO § 66, welcher das zuständige Gericht anweist, zu prüfen, ob eine Wiederholung oder Ergänzung des Aktes nöthig sei. 27 L ö w e Bern 2a zu § 22; S c h w a r z e Bern 2 das.; D a l c k e Beni 1 das. — And. M. P u c li e 11 Bern 3 zu § 22, welcher sich darauf beruft, dass die StPO, abweichend von anderen Gesetzen, diese wichtige Folge nicht ausspricht (allein das zu thun, liegt überhaupt nicht im System der d. StPO), und weil sie, falls sie dies getlian hätte, die nöthige Beschränkung für unaufschiebliche Akte beigesetzt hätte, wie solches clie österr. StPO thue, endlich weil § 377 Z. 2 clie Folge der Nichtigkeit nur bei U r t h e i l e n eintreten lasse, an denen ein ausgeschlossener Richter Theil genommen. — Die ö s t e r r . StPO enthält einerseits clie Bestimmung, dass das Urtheil nichtig sei, wenn in cler Hauptverhandlung ein Schriftstück über einen nichtigen Akt der Voruntersuchung verlesen wurde (§ 281 Z. 2), andererseits aber verpflichtet sie den Richter, sich, bei s o n s t i g e r N i c h t i g k e i t , des Einschreitens von dem Zeitpunkte an zu enthalten, wo ihm ein Ausschliessungsgrund bekannt wird. Nur bei Gefahr im Verzuge darf er clie dringend nöthigen Amtshandlungen vornehmen, sofern nicht seine nächsten Angehörigen in Frage kommen (§ 71). 1 G r o s s , Beweisverfahren im kan. Prozess S 29 if. H e n k e , Darstellung des gerichtlichen Verfahrens in Strafsachen S 218 if. D e r s e l b e , Handbuch IV 435 ff. B a u e r , Lehrbuch S 218 if. Κ 1 e η ζ e, Lehrbuch S 103—105. Z a c h a r i ä , Grundlinien S 194—198. W. M ü l l e r S 235 — 247. M i t t e r m a i e r , Strafverfahren I 543 ff. I I 324-332. Z a c h a r i ä , Handbuch I I 219 — 225. 319 — 330. 425-430. P l a n c k , System. Darstellung S 229—231. 376. K i t k a , Beitrag zur Lehre über

§ 56.

einen bestimmten B e r u f u n d durch

die bei Ausübung desselben ge-

sammelten Erfahrungen die Befähigung Auskünfte zu e i l h e i l e n ,

671

Sachverständige.

erlangten,

dem Gerichte

die

ohne welche dasselbe sachliche Beweismittel

nicht benutzen oder prüfen kann, weil dazu die allgemeine Befähigung nicht ausreicht.

Es handelt sich

dabei keineswegs

nothwendig

um

Wissenschaft oder Kunst i m eigentlichen S i n n e 2 , oft u m blosse K u n s t fertigkeit, u m ein ein ganz empirisches Wissen, i m m e r aber u m jene Ueberlegenheit regelmässige gegenüber,

des Könnens u n d Wissens,

Beschäftigung

mit

den

welche j e d e r

gleichen

durch

Gegenständen

welchen diese nicht zu statten k o m m t ,

erlangt.

die

denen Eben

darum können Sachverständige aus den verschiedensten Berufskreisen die Erhebung des Thatbestandes S 203 ff. M i t t e r m a i e r , Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafverfahren §§ 26 ff. S 181ff. ; zahlreiche Nachträge in der ital. Uebersetzung von A m b r o s o l i , Mailand 1858, S 225 ff. v. J a g e mann, Untersuchungskunde I 27—47. W u r t h , Oesterr. StPO von 1850 S 219 ff. v. H y e G l u n e k , Leitende Grundsätze S 182 ff. R u l f , Commentar zur StPO von 1853 I 153 ff. I I 68—70. W a l t h e r , Lehrbuch des bayer. StPR S 196—207. ν. Stern a nn, Darstellung des preuss. Strafverfahrens S 65—76.150. L ö w e , Der preuss. Strafprozess S 178 —183. S c h w a r z e , Commentar zur sächs. StPO von 1855 I 257 ff. Hitzigs Ζ I 189 ff 374 ff., IV 35, IX 369. X 253. 331, X I 413. NA XIV 182 ff. ( B i r n b a u m ) . ANF 1845 S 295. 479. 651 ( M i t t e r m a i e r ) , 1855 S 497 ( A r n o l d ) . Ζ f. deutsch. Strafverfahren NF I I I 32, IV 108. 308 ( S c h ü r mayer). GA 1853 S 7. 107. 279 ( M i t t e r m a i e r ) , S 480 (Paschke), S 435, 621 und 1854 S 3 ( I d e l e r ) , 1854 S 482. 588. 750 ( L ö w e n h a r d t ) , 1863 S 137 ff. 1864 S 22 und 73 ( M i t t e r m a i e r ) , 1866 S 256 ( S c h a p e r ) , 1867 S 226 ff. GS 1851 I I 446 f. ( S c h w a r z ) , 1852 I 355 ff. ( K r ä w e l ) , 1853 I 248 ( H o h n baum), 1860 S 321—356, 401—436 und 1861 S 157 ff. ( M i t t e r m a i e r ) , 1861 S 202 ff. 371 ff. ( S c h ü r m a y e r ) . Haimerls Mag I 442 und I I 338 ( S n e t i w y ) , I I 1 ff. ( M i t t e r m a i e r ) , V 1 ff. 219 ff. S c h w a r z e in WrRLex X I I 770. 771. — B o r s a n i e C a s o r a t i §§ 699 sq. 1533, I I 358 sq. IV 407. — E l l e r o c. 32 ρ 194 ss. V l a d i m i r o w in d. Revue de droit international IV 1872 ρ 111—122. L u c c h i n i in d. Rivista penale XV 452. — Die Commentare zu §§ 72—93 der d e u t s c h e n und §§ 116—138 der österr. StPO; ferner Geyer in HH I 231 ff. und im Lehrbuch §§ 123—129. 207. 208; J o h n , StPR § 34; v. B a r , Systematik des deutschen StPR S 48; D o c h o w , Der Reichsstrafprozess S 173 ff.; B i n d i n g , Grundriss § 80; F r y dm an η, Vertheidigung S 226—229; \ r a r g l i a , Vertheidigung §§ 300—303; G l a s e r in HRLex 3. Aufl. I I I 517 ff.; Seel S 2 5 - 2 7 ; K r a f f t E b i n g , Grundzüge der Criniinalpsychologie (2. Aufl. 1882) S 50 ff.; U l i m a n n , Das österr. StPR §§ 78. 114. 2 H é l i e , Pratique I Nr 185 ρ 95, fordert des notions scientifiques ou i n d u s t r i e l l e s speciales. S t e p h e n in seinem Digest of the law of evidence, art. 40 spricht von persons specially skilled in any such matter (of science or art), und letztere Worte sollen umfassen all subjects on which a course of special study or experience is necessary to the formation of an opinion. Nach S c h a p e r in GA 1866 S 256 handelt es sich um eine der Formen der „Ergänzung des eigenen durch fremdes Wissen".

672

56.

Sachverständige.

— eigentlich nur die Kenner des inländischen Rechtes ausgenommen — in den Fall kommen, dass das Gericht ihrer Mitwirkung bedarf. Die prozessualische Verwendung von Sachverständigen ist eine ausserordentlich mannichfache ; denn das Bedürfniss, specielle Kenntnisse und Fertigkeiten für die Zwecke des Strafverfahrens zu verwerthen, kann in clen verschiedensten Formen auftreten und beschränkt sich keineswegs auf das Beweisverfahren. So können zwar Dollmetsche, Stenographen, Dechiffreure, Personen, welche zwar in der Gerichtssprache, aber mit hebräischen oder anderen fremdartigen Buchstaben geschriebenes übertragen, jene Beweise clem Gerichte zugänglich machen; aber viel häufiger wird ihre Unterstützung andere Seiten des Strafverfahrens berühren. Mancherlei Erleichterungen der Thätigkeit des Richters bei Aufnahme des Augenscheines können sieh so abstufen, dass von clen Personen, welche unzweifelhaft ausserhalb des Gebietes des Saehverständigenbeweises wirksam sind (man denke an den Schlosser, der die Thür des Zimmers öffnet, in welchem die Leiche eines Erschlagenen verniuthet wird, oder den Uhrmacher, der die bei einem Ertrunkenen gefundene Uhr vom Schlamme reinigt, damit sie möglichst unverändert vom Richter besichtigt werden könne, an den Photographen, cler die Stätte des Verbrechens aufnimmt), zu denjenigen, welche als Auskunftspersonen auf Gruncl ihres Fachwissens Beweismaterial beschaffen, ein sehr allmählicher Uebergang entsteht. Auf dieser Uebergangslinie stehen diejenigen, welche lediglich Hilfsmittel zur richtigen Beurtheilung cler vorhandenen Beweismittel bieten 3 : Rechenverständige, Geometer, Buchhalter, welche bestimmte, vom Gericht ihnen gestellte Aufgaben zu lösen haben, Personen, wrelche vor clen Augen des Gerichtes Versuche unter Umständen anstellen, wo es einer speciellen Sachkenntniss nicht bedarf, um das Ergebniss dieser Operationen und Versuche richtig aufzufassen und zu verwerthen 4 . 3

Französische Entscheidungen scheiden vom Begriffe der Expertise aus: den Waffenschmied, welcher die als Beweisstück dienende Flinte in der Hauptverhandlung vorsichtshalber entlädt, sowie diejenigen, welche beim Augenschein Pläne und Risse aufnehmen. R o l l a n d de V i 11 argues Art. 44 Nr 13—15. 4 Das Gericht bedarf ζ. B. einer Zinsenberechnung oder der Anfertigung einer Zusammenstellung aus Geschäftsbüchern — ein Schlosser zeigt, wie mit einem bestimmten Werkzeug ein Schloss geöffnet werden könne, — ein Büchsenmacher, dass eine bestimmte Kugel in den Lauf eines bestimmten Gewehres nicht gebracht werden könne, — ein Reitender oder Fahrender macht den Versuch vor, in welcher Zeit der Weg zwischen zwei Oertlichkeiten zurückgelegt werden kann. In all diesen Fällen kann man von einem Sachverständigenbeweise nicht sprechen; es wird sich fast immer zeigen, dass es sich nur um Operationen handelt, die von einem

§ 56.

673

Sachverständige.

Handelt es sieh um den B e w e i s d u r c h S a c h v e r s t ä n d i g e , so wird von diesen zweierlei gefordert: 1. die sachverständige Untersuchung von Gegenständen (sachlichen Beweismitteln) und der Bericht über das Ergebniss derselben, B e f u n d (Kunstbefund, visum repertuin δ , rapport) ; 2. die Darlegung und Begründung der aus festgestellten Thatsaehen oder Zuständen nach den Regeln ihrer Wissenschaft gezogenen Folgerungen, clas G u t a c h t e n im engeren Sinne (Kunsturtheil, parere, avis). Die umfassendste und zugleich die normale Verwendung der Sachverständigen tritt in cler Form des sog. / u s a ni m e n g e s e t z t e n o d e r g e m i s c h t e n A u g e n s c h e i n e s ein, wenn nämlich die vom Richter beim Augenschein zur Ergänzung seiner Untersuchungen und Wahrnehmungen bei gezogenen Sachverständigen B e f u n d und G u t a c h t e n sofort abgeben. Es treten aber auch beschränktere Verwendungen der Sachverständigen ein. Es kann Fälle geben, wo der B e f u n d genügt, ohne dass es eines Gutachtens bedarf. Unter clen Feststellungen, welche an der früher bezeichneten Grenzlinie des Sachverständigenbeweises liegen, giebt es wohl manche, die als das Ergebniss fachmännischer Untersuchung erkannt werden müssen, die aber einer weiteren Erläuterung oder fachmännischen Folgerung gar nicht bedürfen, z. B. Aufnahme eines Planes oder Risses, Feststellung des eingetretenen Todes eines Menschen, des Verlustes eines Gliedes u. dergl. Aehnliches kann bei Veranstaltung wissenschaftlicher Experimente vor dem Gerichte geschehen: wenn z. B. die Wirkung oder Wirkungslosigkeit einer als Gift angesehenen Substanz unmittelbar vor Gericht demonstrirt wird. Viel häufiger ist cler umgekehrte Fall, dass der Befund nicht aufgenommen werden konnte, dennoch aber das Gutachten der Sachverständigen einzuholen ist; es ist dann den letzteren clie Aufgabe gestellt, die Grundlage ihres Gutachtens in clen sonstigen Prozessmaterialien zu finden. Es giebt überdies Fälle, wo ein Befund gar nicht in Betracht kommt, wo es sich blos um Beurtheilung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit bestimmter \ 7 orgänge handelt, und wo das Gutachten über blosse Hypothesen abgegeben werden muss. Noch viel häufiger aber ist cler schon angedeutete Fall, wo ein sachkundiger Geübteren l e i c h t e r als von einem Unkundigen vorgenommen werden, keineswegs aber unbedingt einen Fachmann erfordern. 5 Schon bei A l b e r t u s G an d i nus findet sich dieser Ausdruck: Judex non procedere potest, nisi sibi constet, delictum esse commissum, et de hoc visum et repertum concipitur. S. B i e n er, Beiträge S 111. Vgl. auch die Anführung aus H i p p ol y tu s de M a r s i l i i s bei G e y e r in HH 1 251, wonach der Ausdruck für die Relation des Notarius gebraucht wurde. Binding, Handbuch. I X . 4. i :

G l a s e r , Strafprozess. I.

43

674

§ 56.

Sachverständige.

Befund vorhanden ist, wo das Gutachten aber nicht oder nicht blos von denen, welche ersteren abgaben, erstattet wird, sondern andere auf Grund des vorhandenen Befundes eine somit auf das Gutachten sich beschränkende Aussage erstatten. I I . Betrachtet man diese Aufgaben der Sachverständigen, so ist man in der Lage, sich über das Verhältniss klar zu werden, welches zwischen ihren Aussagen und denen der Z e u g e n 6 , denen sie so vielfach an die Seite gestellt werden und denen sie ja auch insoweit wirklich nahe stehen, als sie einen Befund abgeben, besteht: 1. Der gewöhnliche Zeuge ist durch die Ereignisse und Vorfälle gegeben, welche er wahrzunehmen meist zufällig und fast niemals durch gerichtliche Veranstaltung in die Lage gekommen ist; er kann je nach dem Stande der Sache durch andere Personen, welche in derselben Lage waren, controlirt, widerlegt, bestätigt und selbst ersetzt werden, aber auch diese Personen sind gegeben und können nicht ausgewählt werden. Dagegen wird der Sachverständige, soweit er über Wahrnehmungen auszusagen hat, eigens berufen, damit er diese Wahrnehmungen mache. Die Sachverständigen können ausgewählt werden, und zwar unter ihre Unbefangenheit möglichst verbürgenden Umständen. Auch auf einen bedenklichen Zeugen kann man nicht verzichten, ohne unersetzliche Mittel der Aufklärung zu verlieren ; der Sachverständige kann in der Begel leicht ersetzt werden. 2. Der Zeuge ist sich im Augenblick, wo er den Gegenstand seiner späteren Aussage wahrnimmt·, nur selten dessen bewusst, dass er darüber ein Zeugniss abzulegen habe, während beim Sachverständigen schon die Wahrnehmung unter den Gesichtspunkt einer berufsmässigen und zielbewussten Thätigkeit, der Beobachtung und Untersuchung, fällt und daher nicht der des Zeugen, sondern der des den Augenschein einnehmenden Richters gleichkommt. 3. Der Zeuge soll über nackte Thatsachen aussagen, die er wahrgenommen hat, und sich darauf beschränken. Dies ist zwar nicht unbedingt zu erreichen; unsere Erlebnisse haften in uns selbst schon in der Gestalt von Urtheilen. Allein wenn der Zeuge unter den vor Gericht an ihn gestellten Fragen diese Urtheil e wieder auf ihre Elemente zurückgeführt und dieselben dem Gerichte dargelegt hat, ist letzteres auch vollkommen in der Lage, sich an seine Stelle zu setzen und unter Anwendung der allgemeinen Denkgesetze und Lebenserfahrungen jene Urtheile zu überprüfen. Dies ist beim Sachverständigen, schon soweit 6

Ueber die Parallelisirung von Zeugen und Sachverständigen s. insbesondere Geyer in HH I 233; B i n d i n g , Grundriss § 80; H é l i e , Instr. S 364 II, vol. V ρ 650 ss.; M o r i n , Repertoire s. v. „Expertise" Nr 3—6.

§ 56.

675

Sachverständige.

es sich um die Wiedergabe seiner Wahrnehmungen handelt, nicht der Fall; er hat eine besondere Befähigung zur Beobachtung und Untersuchung, seine Beschreibungen des unmittelbar wahrgenommenen enthalten bereits die Anwendung fachwissenschaftlicher Kategorien, sie bilden Urtheile, die der Richter nicht ohne sachverständige Beihilfe in ihre Elemente auflösen und deren Elemente, auch wenn sie aufgelöst vor ihm liegen, er nicht innner unmittelbar verwerthen kann. 4. Kann der Richter manchmal in den Fall kommen, den Zeugen um die Folgerungen zu fragen, welche er aus seinen Wahrnehmungen zog, so wird dies seinen Grund nur darin haben, dass dies oft allein die Möglichkeit bietet, die Wahrnehmungen selbst wieder aufleben zu machen und den Zeugen zu deren Wiedergabe zu zwingen. Dagegen soll der Sachverständige in der Regel die Folgerungen aus seinen oder anderer Wahrnehmungen ziehen und dem Richter darlegen, und zwar durch Anwendung der ihm allein, nicht aber dem Richter bekannten allgemein giltigen Gesetze seiner Wissenschaft oder Kunst auf clie vorliegende Frage. In beiden Fällen muss cler Richter in die Lage gebracht werden, die Richtigkeit cler Folgerung zu prüfen ; allein während er vom Zeugen nur in Bezug auf die Wiedergabe der Wahrnehmungen abhängig ist, muss er vom Sachverständigen auch die Darlegung der Gesetze der Natur und cler Regeln der Wissenschaft oder Kunst entgegennehmen und kann daher nur die Anwendbarkeit derselben auf die concreten Thatsaehen prüfen. 5. Dem Sachverständigen muss an Gebühren mehr als dem Zeugen gewährt werden, nämlich auch eine angemessene Vergütung für seine Mühewaltung (§ 84 StPO). 6. Die eigenthüinliche Combination, welche zu cler Aufstellung des Begriffes „ s a c h v e r s t ä n d i g e r Z e u g e n " geführt hat, kann erst später besprochen werden. I I I . Auch mit der Stellung cles R i c h t e r s hat die cles Sachverständigen einige Aehnlichkeit, und es bedarf daher einer Auseinandersetzung auch nach dieser Richtung : 1. Bei Aufnahme des Befundes e r s e t z t der Sachverständige die Thätigkeit des den Augenschein einnehmenden Richters; er selbst liefert statt des Richters clas Beweismaterial, cler Befund ersetzt den Augenschein, und eben darum ist der sogenannte zusammengesetzte Augenschein eine Art des Sachverständigenbeweises. Noch deutlicher tritt die Selbständigkeit des letzteren hervor, wenn cler Untersuchungsrichter der Untersuchung der sachlichen Beweismittel gar nicht beiwohnt. Ist also der Sachverständige in solchen Fällen nicht G e h i l f e , sondern eher Stellvertreter des Richters, so ist doch seine 43*

676

§ 56.

Sachverständige.

Stellung eine von der des letzteren sehr verschiedene, namentlich weil die Leitung und Aufsicht des Richters nicht entbehrt werden kann, wenn das Ergebniss der Thätigkeit des Sachverständigen für den Prozess verwerthbar sein soll. 2. Soweit es sich dagegen um das G u t a c h t e n der Sachverständigen handelt, besteht durchaus keine Analogie weder mit Zeugen, noch mit Richtern; denn Avas sie in dieser Function dem Gerichte leisten, besteht nicht in cler Feststellung von Thatsachen, wie beim Zeugniss und beim Augenschein, sondern in der Mittheilung der Gesetze und Regeln einer bestimmten Kunst oder Wissenschaft, deren Anwendung auf die entweder durch Befund oder auf andere Weise bewiesenen Thatsachen Sache des Richters ist. Wenn eine Analogie für diese ganz eigenartige Function gefunden werden soll, so läge sie allenfalls in cler Aufgabe, die cler Vorsitzende des Schwurgerichts bei der den Gesehwornen zu ertheilenden Reehtsbelehrung zu lösen hat. Auch der schon hervorgehobene Umstand, dass es nicht immer angeht, die anzuwendenden Gesetze blos abstract zu formuliren, und class auch hier manchmal gemischte Fragen auftauchen, die nur gestatten, die Grundsätze darzulegen, von welchen man bei Würdigung der Individualität cles Falles ausgeht und zu einem bestimmten Urtheil geleitet wird, vermehrt nur noch die Analogie. Und wenn auch der Schwurgerichtsvorsitzende dieses Urtheil clen Gesehwornen auch materiell überlassen, cler Sachverständige aber regelmässig (freilieh viel häufiger bei Abgabe des Befundes als des Gutachtens) es selbst aussprechen wird, ist doch in dem einen Fall wie in clem andern das „Urtheil" nur im logischen, nicht im juristischen Sinne ein solches, und cler Ueberprüfung, cler Annahme oder Ablehnung seitens cles wahren Urtheilers unterworfen, also der Erfolg nicht von clem „Urtheil", sondern von der überzeugenden Darlegung cler Grundlagen desselben abhängig. Die Regel aber ist, class cler Begutachter dem Richter die propositio major, der Zeuge oder Befunderstatter die propositio minor bietet: die eigentlich richterliche Function, die Ziehung cler Schlussfolgerung, ist ausschliesslich Sache cles Urtheilers, und der Begutachter daher nicht mehr „Gehilfe" des Richters als der Zeuge, dessen Aussage auch sehr häufig Urtheile umfasst, deren Ueberprüfung und Auflösung Aufgabe cles Richters (Geschworenen, Schöffen) ist. Von clem Richter sondert clen Sachverständigen aber hauptsächlich des letzteren Pflicht und Recht, sich — wenn er die Sache zweifelhaft findet — jedes Urtheils zu enthalten, sich auf die Darlegung der Vermuthungen und ZweifelsgTünde zu beschränken und die Entscheidung clen Urtheilern zu überlassen.

§ 56.

Sachverständige.

677

IV. Die vorstehende Auseinandersetzung· macht es erst möglich, darzulegen, welche Aufgaben der neuesten Gesetzgebung über Sachverständige aus der geschichtlichen Entwicklung erwuchsen. Wie auf so vielen Gebieten des Strafrechts und Strafprozesses die Verfolgung der Tödtung den Ausgangspunkt bildet, so auch hier. Die Beiziehung der A e r z t e zur Untersuchung über Tödtungen und Verwundungen, für welche man Anknüpfungen im römischen Recht suchte 7 , ist jedenfalls im k a n o n i s c h e n zuerst erwähnt , und bei dieser Erwähnung tritt sofort dei* Ausdruck peritoruin medicorum j u d i c i u m hervor (c. 18 X de homicid. vol. 5, 12), welcher auf die Auffassung der Glossatoren und der sogenannten italienischen Praktiker einen so grossen Einfluss übte 8 . Sehr bezeichnend ist der Uebergang, der sich bei der Vergleichung des Art. 229 der Banibergensis mit dem entsprechenden Art. 149 der Carolina zeigt. Erstere ruft noch lediglich Richter und Schöffen an, sie sollen dem Herkommen gemäss „von dem erschlagenen oder ermördten von stund an, wo der begraben würdet, l e i b ζ e i che η nemen lassen", während die letztere die g e m e i n s c h a f t l i c h e B e s i c h t i g u n g durch das Gericht und einen oder mehrere Wundärzte anordnet. Dadurch ist die Form des z u s a m m e n g e s e t z t e n A u g e n s c h e i n s typisch geworden für die Verwendung der Sachverständigen im genieinen deutschen Strafprozess, und die vorzugsweise Berücksichtigung gerade dieser Form wurde begünstigt durch die Grundform des Prozesses, durch die Entwickelung der gesetzlichen Beweistheorie, welche ja eben darauf abzielte, dem Urtheiler fertige, gewissennaassen schon geprägte, auf den ersten Blick erkennbare Wahrheit darzubieten, während sich hier die Möglichkeit zu eröffnen schien, dass dem Richter ganze Partien seines Urtheiles, wie behauene Quadersteine fertig und zur einfachen Einfügung bereit, 7

Dem Versuch der Nachweisung der Spuren des Beweises durch Sachverständige im römischen Recht war gewidmet G e r i c k e s Progr. quo inspectio cadaveris apiul Romanos in usu fuisse ostenditur. Heimst. 1784. Vgl. übrigens G e i h im ANF 1839 S 125 ff. und d e s s e l b e n Geschichte S 611. 612. s Vgl. die Anführungen bei Z a c h a r i ä , Grundlinien S 139. 140 und in dess e l b e n Handbuch I I 219 Anm 10; M i t t e r m a i e r , Beweis S 166 u. 185; d e r selbe, Strafverf. I 547. 548: Geyer in HH I 223. 233.348. Letzterer fühlt aus Β arto lus, Tractatus de testibus die Aeusserung über die Sachverständigen an: Non enim sunt proprie testes, seel niagis ut judices assumuntur etc. — ebenso bezeichnend wie der unbedingte Glaube, den schon G a n d i n us für den Ausspruch der Sachverständigen selbst gegenüber der widersprechenden Aussage von 10 oder 20 Zeugen in Anspruch nimmt; und aus Angel. A r e t i nus: Et advertas tu judex, ut semper mittas medicos peritiores in loco ad vi den dum, j u d i candii m et ref e r e n d u m cum juramento.

678

56.

abgeliefert

w ü r d e n ; endlieb

Sachverständige.

durch die mehr u n d mehr

zunehmende

Anstellung amtlicher Aerzte, durch die Aufstellung ärztlicher Behörden u n d Collégien, durch die vom Zeugenbeweis herübergenommene

Plau-

sibilität der F o r d e r u n g des übereinstimmenden Ausspruchs zweier Sachverständigen u n d die aus all dem abzuleitenden, auf Stimmenmehrheit u n d Instanzenzug beruhenden formellen Merkmale eines

verlässlichen

u n d entscheidenden Spruches 9 . Der

Streit

über

das

gegenseitige

\ 7 erhältniss

der Richter

und

Sachverständigen, über die Beziehung des BewTeises durch letztere zum Augenschein und zum Zeugenbeweis,

welcher seit dem Anfang

des

19. Jahrhunderts geführt wurde, konnte daher, solange nicht die negat i v e Beweistheorie

sieh geltend zu machen begann, eine grosse Be-

deutung nicht i n Anspruch nehmen. als „Sehrohre"

oder „Gehilfen"

Mochte man die Sachverständigen

des Bichters

oder als

„Zeugen" er-

klären, dem Beweis durch Sachverständige Selbständigkeit zuerkennen oder i h n n u r 9

als eine F o r m

des Augenschein

behandeln10



die

Daher die immer wieder auftauchende Neigung, die Sachverständigen nach der Art der römischen judices oder arbitri partielle Urtheile ( M i t t e r m a i e r , Beweis S 184 spricht von Präjudicialurtheilen) fällen zu lassen (s. B i r n b a u m im ΝΑ XIV 215 if. und die Anführungen aus der älteren Literatur bei Geyer H I I I 233 Anm 1). Die daran anknüpfende Idee einer medicinischen Specialjury ist in neuer Zeit selbst in England aufgetaucht; s. deren Bekämpfung bei S t e p h e n , General view ch. V I ]) 212 sq. (s. gegen diesen wieder V i a d i m i r o w — vgl. oben Anni 1 — ρ 114). Viel congenialer war dem der gemeine deutsche Strafprozess, der ja überhaupt mehr den Inquirenten als den Urtheiler im Auge hatte, und die anderen oben angedeuteten Beziehungen der Aerzte, welche es gestatteten, möglichst viel äusserliche Kriterien der Beweiskraft des Ausspruches der Sachverständigen aufzustellen. Bezeichnend ist hiefür namentlich das bayerische StG v. 1813, welches die Beiziehung eines einzigen Sachverständigen für hinreichend erklärt, wenn derselbe zur Ausübung seiner Wissenschaft oder Kunst „mittels öffentlichen Amtes bestellt ist", sonst aber in allen Fällen, wo es sich um das Straferkenntniss selbst handelt, „mindestens zwei derselben erforderlich" erklärt (Art. 236) und „unter mehreren Sachverständigen die Stimmenmehrheit entscheiden" lässt, bei gleich getheilten Stimmen „die Entscheidung anderer Sachverständigen von höherer Ordnung", und wo dies nicht möglich ist, Verdoppelung der Zahl der Sachverständigen eintreten, bei neuerlich hervortretender Stimmengleichheit aber die dem Angeschuldigten günstigere Meinung entscheiden lässt (Art. 265). (Gegen diese übel angebrachte Berücksichtigung der Stimmenmehrheit s. M i t t e r m a i e r , Strafverf. I I 328; Z a c h a r i ä , Handbuch I I 429 Anm 1.) 10 Es ist unverkennbar, dass man sich nieist blos an äusserliches einseitig hielt und daher mancher Streit über blosse Worte gefühlt wurde. S t ü b e l , Criminalverfahren § 705 sagt: „Der richterliche Augenschein durch Sachverständige ist eine contradictio in adjecto". „Man will die Sachverständigen bei dem richterlichen Augenschein als Sehrohre des Richters betrachten. Dieser sieht in dem Falle aber den Gegenstand der Untersuchung gar nicht. Die Lehre von dem Augenschein

§ 56.

Sachverständige.

679

einzig entscheidende Frage, ob dem Ausspruch der Sachverständigen, wenn er gewissen formellen Anforderungen entspricht, unbedingt Glauben geschenkt werden müsse, ob der Urtheiler ihn ohne Prüfung der Gründe hinnehmen dürfe, konnte nur in dem eben angedeuteten Zusammenhange zur Lösung gebracht werden. Die nächstliegende Consequenz der „Zeugentheorie", der Einfluss der Parteien auf die Berufung der Sachverständigen, ward bei j e n e n Controversen nicht berücksichtigt. Der factische Zusammenhang mit dem Augenschein sicherte aber im Ganzen dem Sachverständigenbeweis die Anerkennung seiner Eigenart und eben damit die günstige Entwickelung, die er dank den Fortschritten der Wissenschaft der gerichtlichen Medicin zumal auf deutschem Boden gefunden h a t 1 1 . Es konnte nicht zweifelhaft sein, dass die neue Gesetzgebung dieses Vennächtniss des älteren Prozesses, noch werthvoller geworden durch die grossen Fortschritte in der S p e c i a l i s i r u n g d e r F ä c h e r , sorgfältig zu übernehmen habe. Ueber den Hauptpunkt, die Beziehung des u r t h e i l e n d e n Sachverständigen zum urtheilenden Richter, war ebenfalls kein Zweifel mehr möglich: auf dem Boden der freien Beweiswürdigung kann nicht davon die Rede sein, dass der Ausspruch des Sachverständigen den Urtheiler bindet. Zur Beachtung, zu sorgsanier Prüfung ist dieser verpflichtet; er hat sich davor zu hüten, sich eine selbständige Meinung auf die Gefahr hin zu bilden, dass sich der schlechter unterrichtete über den besser unterrichteten stellt. Aber der Spruch des Sachverständigen kann den des Richters nui durch Sachverständige gehört in die Lehre von dem Zeugenbeweise". Ihm stimmt H e n k e vollkommen bei (I)arst. § 104), indem er annimmt, dass der Richter „höchstens die Wahrnehmungen der Sachverständigen beobachtet". Dem setzte unter Anlehnung an G ö n n e r (aber unter vorsichtiger Zurückhaltung gerade bezüglich des Civilprozesses, den jener im Auge hatte) M i t t e r m a i e r schon früh (Theorie I 145) eine Ausführung entgegen, bei welcher augenfällig ist, dass man immer nur die Untersuchungsschritte und nicht das Urtheil ins Auge fasst, dass man nicht so sehr fragt, ob der erkennende Richter an die M e i n u n g der Sachverständigen gebunden sei, als vielmehr wclche Stellung letztere bei der Untersuchung einzunehmen haben. So übersehen die einen, dass die Sachverständigen, wenn sie über ihre Wahrnehmungen berichten, nicht mehr und nicht weniger Zeugen sind, als es der Richter selbst ist, welcher über einen aufgenommenen Augenschein berichtet, — die anderen wieder den grossen Unterschied zwischen diesen frei wählbaren Beobachtern und den durch die Verhältnisse gegebenen Zeugen, ein Gegensatz, den H é l i e Pratique I Nr 263, ρ 228 treffend charakterisirt: „Iis ne sont pas, comme les témoins, créés par le délit, ils sont choisis à raison de leur capacité relative, et leur mission est purement volontaire". 11 Siehe ζ. B. das Urtheil bei B o r s a n i e Cas o r a t i §§ 701. 702, vol. I I ]) 361. 362.

680

§ 56.

Sachverständige.

beherrschen, wenn des ersteren Gründe den letzteren überzeugen. Der Sachverständige liefert daher mit Befund und Gutachten nur ein Substrat des Urtheils: er ist A u s k u n f t s p e r s o n 1 2 „ V. Trotzdem ist bei Feststellung des neuesten Strafprozessrechts 12 Der Sachverständige verschafft nach vorstellendem dem Urtheiler Auskunft über Beweisgründe, die sonst für ihn nicht existiren würden; das ist für den Strafprozess, für den es ganz gleichgiltig ist, ob die Beweisgründe dem Richter dargeboten oder von ihm aufgefunden werden, das entscheidende. Ob das Beweismaterial an sich vermehrt wird, scheint mir für den Begriff des Beweismittels überhaupt nicht entscheidend, sondern ob dadurch das be n ü t z b a r e Beweismaterial vermehrt wird. Das letztere tritt bei jeder indirecten Beweisführung ein. Eine Aeusserung, die der Zeuge A bestätigt, kann für den Beweis ganz werthlos bleiben, bis der Zeuge Β den Schlüssel zu ihrem Sinn beibringt; ist darum Β weniger ein Beweismittel? — Man hält bei diesen Erörterungen nicht immer genügend die verschiedenen Functionen des Sachverständigen auseinander. Was den Befund betrifft, so ist es nur consequent, wenn H e u s l e r , der dem Augenschein die Qualität als Beweismittel bestreitet, sie auch den Sachverständigen nicht zuerkennt; aber die Probe, die er (CA 1879 S 243 ff.) vorschlägt, schlägt gegen ihn aus : „dass das Mohnöl für prima Qualität zu roth ist, beweist kein Zeuge". Man wird es, wenn das Mohnöl noch vorhanden ist, durch Zeugen nicht beweisen lassen; aber wenn Zeugen aussagen, sie hätten das neu ankommende Mohnöl gesehen und es sei ihnen aufgefallen, dass es viel röther war, als (las schon vorhandene und regelmässig benutzte — wenn eine Auskunftsperson erklärt, sie handle seit Jahren mit Mohnöl, sie habe das fragliche Oel gesehen und es sei ihr sofort aufgefallen, dass dasselbe viel röther sei, als sonst bemerkbar ist, — sollte das nichts beweisen? Und wenn nun heute eine solche Person zur Besichtigung des noch vorhandenen Oeles entsendet wird, ändert das etwas daran, dass ihre Aussage Beweismaterial herbeibringt? — Jedenfalls wird dies zugegeben werden müssen, soweit es sich um einen gewissen G r a d von Rothe handelt. Was nun die Frage betrifft, ob das Oel „zu roth" war, so liegt in der Beantwortung der Frage ein Urtheil, dessen Untersatz die Bejahung eines gewissen Grades von Rothe und dessen Obersatz der Ausspruch ist: Mohnöl, das einen gewissen Grad von Rothe hat, ist nicht prima Qualität. In Wahrheit handelt es sich hier darum, dass die Auskunftsperson dem Richter ebenfalls eine Thatsache zur Kenntniss bringt, die ihm unbekannt ist oder die ihm nur durch zufällige Erlebnisse bekannt sein könnte. Auch das G u t a c h t e n liefert also dem Richter neues Material für die Schlussfolgerung, die er zu ziehen hat, und zwar selbst thatsächliches Material, das aber nur mehr in der Gestalt der daraus gewonnenen Abstraction erscheint; es ist dies allerdings ein von dem sonst ihm gebotenen der Art nach verschiedenes, da es die propositio major ersetzt, die sonst der Urtheiler aus sich selbst schöpft. Aber es ist doch etwas, Avas ihm als G r u n d l a g e seiner Schlussfolgerung von aussen her dargeboten wird, und soweit es dies bleibt, Beweismittel. Geht der Sachverständige darüber hinaus, und dies scheint B i n d i n g im Sinn zu haben, wenn er (Grundriss § 80 I Nr 2) von „Ausdeutung der Wahrnehmungen" spricht, dann wird er allerdings zum blossen Gehilfen des Richters: er macht diesem die Schlussfolgerung vor, deren Ziehung ihm nicht erspart, aber erleichtert werden kann. Vgl. über diese Materie noch Geyer in HH I 231 ff; J o h n , StPO S 514 ff.

56.

Sachverständige.

681

manche schwierige Frage bezüglich der Stellung der Sachverständigen zu lösen gewesen: 1. Die Auffassung der Sachverständigen als „ G e h i l f e n des R i c h t e r s " fand in den Motiven zum Entwurf cler deutschen Strafprozessordnung, und zwar neben der Betonung vollster Freiheit des Bichters „auch in Bezug auf technische Fragen" 1 3 , eine Art von Anerkennung. Damit sollte aber nur die Lösung begründet werden, welche der Entwurf einigen die Stellung der Sachverständigen zu den Parteien berührenden Fragen gegeben hat. Eine derselben betrifft die Art cler gesetzlichen S i c h e r u n g cler U n b e f a n g e n h e i t cler S a c h v e r s t ä n d i g e n . Die österreichische Strafprozessordnung hält sieh dabei an die Analogie der Z e u g e n , was sie um so leichter thun konnte, weil ihre Bestimmungen über die Nichtbeeidigung cler Zeugen viel weiter reichen. Die deutsche Strafprozessordnung hält sich dagegen an die Analogie der Bestimmungen über die A b l e h n u n g von R i c h t e r n . Eine andere Frage betrifft die Auswahl der Sachverständigen. Der Entwurf hatte diese Auswahl durchaus in die Hand des Richters, unbeschadet des Rechtes der Parteien, A n t r ä g e zu stellen, legen w o l l e n 1 4 ; es hat jedoch in dieser Hinsicht das Gesetz eine von der des Entwurfes wesentlich abweichende Stellung eingenommen, indem es nicht blos gleich diesem die Ladung von Sachverständigen in die Hauptverhandlung den Parteien anheim stellt, sondern damit die Wirkung verbindet, dass die Vernehmung derselben erfolgen m u s s (s. oben £ 41). Noch weiter aber entfernt sich von der Auffassung der Sachverständigen als „Gehilfen des Richters" die Bestimmung des § 193 Abs. 2, welche auch schon im Vorverfahren, sowie überhaupt bei cler Vornahme eines gemischten Augenscheines von cler P a r t e i b e s t e l l t e Sachverständige einschreiten lässt (s. oben § 39 I I I ) . Das Bedürfniss nach Unterstützung cles Angeschuldigten in seiner Vertheidigung durch einen 13

Es heisst dort S 51 : „dass derselbe von der Einholung eines sachverständigen Gutachtens absehen kann, wenn er glaubt, selbst die betreffende Frage entscheiden zu können; sowie ferner, dass er an den Inhalt eines abgegebenen Gutachtens nicht gebunden ist, und dass er beim Widerspruche zwischen mehreren Gutachten ohne weiteres dem einen den Vorzug vor dem anderen geben darf, wenn er eines Obergutachtens oder einer sonstigen weiteren Aufklärung nicht zu bedürfen glaubt'". 14 Gerade bei der Berathung der die Sachverständigen betreffenden Bestimmungen ward von den \ r ertretern der Regierung wiederholt auf das nachdrücklichste im Gegensatz gegen das im § 244 StPO angenommene System betont, dass das im Entwurf den Parteien eingeräumte Recht beliebiger L a d u n g von Auskunftspersonen nicht zur Folge habe, dass das erkennende Gericht die Geladenen auch vernehmen müsse (Prot der RtC S 82. 83).

682

§ 56.

Sachverständige.

Sachverständigen ist in der Natur der Sache gegründet: so wie der Richter in seiner parteilosen Thätigkeit, vermöge der unvermeidlichen Beschränkung seiner Kenntnisse auf bestimmte Gebiete, der Unterstützung durch Kenner der ihm fremden bedarf, so auch der Staatsanwalt und der Vertheidiger bei seiner Parteithätigkeit. Dem Staatsanwalt fehlen die Mittel dazu ohnehin nicht, wenngleich auch bei ihm die richtige Form für die Heranziehung einer solchen Unterstützung mangelt. Bestimmter aber noch tritt das Bediirfniss beim Vertheidiger hervor. Die s ä c h s i s c h e Strafprozessordnung hatte dies berücksicht i g t 1 5 , wenn auch unter Modalitäten, welche mit dem prineipiell eingenommenen Standpunkt nicht vereinbar sind; denn es ist dort dem Angeschuldigten die Beiziehung von Sachverständigen „neben dem Vertheidiger und zur Unterstützung desselben" gestattet, dann aber doch wieder von einem dem Gerichte bekannt gewordenen Gutachten dieses Sachverständigen die Rede. Bei Vorberathung der ö s t e r r e i c h i s c h e n Strafprozessordnung war eine Anlehnung an diese Bestimmung, jedoch ohne Erwähnung eines Gutachtens, vorgeschlagen worden; man hatte dabei eine Unterstützung des Vertheidigers, namentlich bei der Befragung der amtlich bestellten Sachverständigen vor Augen; der Antrag ward aber abgelehnt 16 . — Ein grosser Theil der Gründe, welche dafür maassgebend waren, dass bei Berathung der deutschen Strafprozessordnung trotz zweimaliger Erfolglosigkeit des Versuches und trotz des fortgesetzten Widerstandes der Regierung der zweite Absatz des § 193 Aufnahme fand, trifft mit den eben bezeichneten Tendenzen zusammen, ja es ward sogar ein ähnlicher Antrag gestellt 1 7 . Die An15 Art. 41 (41c der Rev. StPO) Abs. 2 u. 3. — Die Anregung zur Gewährung des Redites, Sachverständige heizuziehen, reicht schon in die Zeit der Berathung der w ü r 11 e m b. StPO von 1843 zurück. M i 11 e r m a i e r , Strafverfahren 1 548 : S c h w a r z e in WllLex X I I 770. 771. Vgl. auch R o l l a n d λΊ· 29 bei Art. 44 Code d'Instr. 16 Siehe M a y e r , Handbuch 1 394. 395. 17 Im Laufe der Verhandlungen über den Antrag, aus welchem § 193 StPO hervorging, betonte G r i m m (Prot S 294) die Wichtigkeit „der Vertheidigung des Angeschuldigten durch einen Sachverständigen" und kündigte einen Antrag für die Partie „Von der Vertheidigung" an, der auch (Prot S 490 ff.) gestellt, aber abgelehnt wurde. Dabei handelte es sich um die Verallgemeinerung des in Baden thatsächlich eingebürgerten \Torganges, „dass Aerzte als Vertheidiger neben den rechtsgelehrten Vertheidigern zugelassen würden". (Wie es scheint hatte man dabei Plaidoyers in der Hauptverhandlung vor Augen.) Schwarze bemerkte mit Bezug auf die oben Anm 15 angeführte Bestimmung der sächsischen StPO, es sei von derselben in Sachsen nur ein einzigesmal Gebrauch gemacht worden, „und in diesem Falle sei es nur dem verständigen Auftreten des vom \ r ertheidiger adhibirten Sachverständigen zu danken gewesen, dass nicht geradezu die Sache in Verwirrung

§ 56.

683

Sachverständige.

sichten und Absichten waren aber i n fortwährenden] Schwanken begriffen;

es k a m namentlich die A n h ö r u n g der Parteien über die W a h l

der Sachverständigen, die F o r d e r u n g

eines imperativen Einflusses der

Parteien auf letztere, die Controle des Vorganges cler officiellen Sachverständigen und der T h ä t i g k e i t cler letzteren bei einem Augenschein und i n der H a u p t v e r h a n d l u n g ,

die V o r b e r e i t u n g

gewählten Sachverständigen für

seine Aussage i n cler Hauptverhand-

des von der Partei

lung und dessen E i n w i r k u n g auf den Augenscheinsakt selbst —

alles

dies neben und durcheinander i n Betracht, u n d noch ganz zuletzt w a r d die (iestattung der „ V o r n a h m e

der

zur V o r b e r e i t u n g

cler H a u p t v e r -

handlung erforderlichen Untersuchungen" — welcher Satz sagen sollte, „die Sammlung Sachverständigen nahine"

des Materials gestattet

für die H a u p t v e r h a n d l u n g

sein" —

in

die Gestattung

an den Untersuchungshandlungen

Sachverständigen 1 8

der

müsse der

gerichtlich

dem

„Theil-

berufenen

umgewandelt.

gerathen". Kr widerrieth die Annahme des Antrages, der zu Collisionen in der Hauptverhandlung führe und den Standpunkt verrücke, den der Beweis durch Sachverständige einzunehmen habe. Offenbar dachte man dabei an das unmittelbare Auftreten des Sachverständigen in der Hauptverhandlung, wofür allerdings die „Zuziehung dieses Sachverständigen zu den Beweiserhebungen der Voruntersuchung" als unerlässliche Vorbereitung angesehen wurde. 18 Prot der RtC S 79 ff. 294 ff. 927 ff. Prot v. 12. Nov. 1876 S 8 u. 9 ( H a h n S 1632). Zuerst war beantragt worden, dem Beschuldigten in allen Stadien des Verfahrens (also auch beim Augenschein) das Recht einzuräumen, „auf seine Κ osten andere Sachverständige laden zu lassen". S c h w a r z e , R e i c h e η s p e r g e r , M a r q u a r d s e η und G η e i s t (die beiden ersten befürworteten später den § 193) bekämpften diesen Antrag, soweit derselbe nicht blos für die Hauptverhandlung gelten sollte. S c h w a r z e betonte dabei die „Gehilfen des Richters", Re ich ens ρ er geidie „Ergänzung der subjectiven Erkenntniss des Richters". S c h w a r z e und G n e i s t fanden die unbeschränkte Zuziehung der von der Partei bestellten Sachverständigen bedenklich, namentlich G n e i s t sagte: „Die einseitig von der Partei in ihrem Interesse ausgewählten Sachverständigen seien nur geeignet, das Verfahren zu verwirren und die Rechtsfindung zu erschweren". Aus den Kreisen der b a y e r i s c h e n Regierung ward gegenüber der Berufung auf die in Bayern, jedoch nur bezüglich der Hauptverhandlung, bestehenden Einrichtungen bezeugt, es sei von „namhaften Vertretern der Wissenschaft bei dem bayerischen Justizministerium mehrfach Klage über den Missbrauch erhoben worden, der mit dem Rechte, solche Männer oft ganz unnöthiger Weise als Sachverständige vernehmen zu lassen, getrieben werde" ; und B ä h r , der sich „nicht entschliessen" konnte, in dem Vorverfahren, wo Expertisen vorkommen, die später sich nicht wiederholen lassen, dieses Recht zu versagen, sprach dabei die Ueberzeugung aus, „dass die von cler Partei gewählten Sachverständigen in der Regel kein für den Richter brauchbares Resultat liefern" werden. — Nach Ablehnung dieses Antrages ward später die Einfügung des jetzigen § 193 beantragt und bei der zweiten Lesung auch beschlossen. Der Antragsteller W o I f f son legte das Gewicht auf die Wert-hlosigkeit des Rechtes, Sachverständige in der

684

§ 56.

Es k a n n nicht fehlen,

Sachverständige.

dass aus der

ungenügenden' B e s t i m m u n g

der Stellung dieser Sachverständigen Zweifel

entstehen19.

Hauptverhandlung vernehmen zu lassen, „wenn nicht die Möglichkeit bestehe, diese Sachverständigen vorher zu instruiren". Von anderer Seite ward betont, nur durch die Beiziehung der vom Vertheidiger für die Hauptverhandlung bestimmten Sachverständigen beim Augenschein könne verhindert werden, dass dieselben ihn als unvollständig anfechten. Ein anderer Befürworter des Antrages sagte: „Mit der Stellung der Sachverständigen als Kichtergehilfen sei ein Recht der Parteien auf V e r n e h m u n g von Sachverständigen nicht vereinbar, wohl aber auf Zuziehung zur Controle und zur Auskunftsertheilung an den Beschuldigten'·, λ^οη Seite der Regierungen ward (in gleichem Sinn sprach sich diesmal noch R e i c h e n s p e r g e r aus) die Nothwendigkeit objectiver," unparteiischer Stellung des Sachverständigen betont, auf dessen Ernennung weder Staatsanwalt noch Beschuldigter einen „directen" Einfluss haben sollten. Bei der ersten Lesung abgelehnt, tauchte der Antrag bei der zweiten wieder auf und ward mit der im Text erwähnten Modification angenommen. Auch diesmal betonte der Antragsteller, dass es „zur Instruction und Vorbereitung der Sachverständigen nöthig erscheine", sie zum Augenschein zuzulassen. Bei einer „eigentlichen Untersuchungsthätigkeit der Sachverständigen — so bei chemischen Untersuchungen, Sectionen — solle nach seinem Antrage die Theilnahme und Thätigkeit der vom Angeschuldigten beigezogenen Experten ausgeschlossen sein, so weit durch sie clie Thätigkeit der vom Richter bestellten Experten behindert werde". Ein Befürworter des Antrages, I)r. Z i n n , interpretirte den Antrag auch dahin, es solle der vom Angeschuldigten beigezogene Sachverständige nicht an der Section Theil nehmen, „sondern er constatire nur den und den Befund und sorge, dass das Material geeignet erhoben werde". In diesem Sinn beantragte dieser Abgeordnete angesichts der Bemerkung des RegierungsVertreters: es sei noch immer zweifelhaft, ob den Experten des Angeschuldigten „selbständige oder selbstthätige Untersuchung oder aber nur Assistenz bei den . . . Untersuchungshandlungen gestattet werden solle", die angedeutete Aenderung des Textes. 19 Etwas klarer regelt die Stellung der Parteienexperten, wie sie wohl genannt werden können, Art. 49 des Entw der französischen StPO v. 1879. Danach dürfen alle Beschuldigten zusammen aus einer vom Untersuchungsrichter aufgestellten Jahresliste e i n e n Experten wählen, welcher b e r e c h t i g t ist, den Operationen beizuwohnen, Anträge zu stellen und seine Beobachtungen (observations) zu Protokoll zu geben. Die österr. StPO geht in beiden im Text bezeichneten Punkten einen anderen Weg. Sie kennt keine anderen als die vom Gericht (wenn auch nicht ohne Berücksichtigung der Anträge der Parteien) berufenen Sachverständigen. Die gesetzliche Sicherung cler Unbefangenheit cler Sachverständigen sucht sie in der Analogie der Bestimmungen über clie Stellung der Zeugen und deren Zulassung zum Eid (§ 120). Uebrigens tritt nicht blos bei Regelung der s t r a f r e c h t l i c h e n Verantwortlichkeit der Sachverständigen im deutschen StGB die Parallelisirung mit dem Zeugenbeweise vielfach hervor, nicht ohne class oft gerade dadurch (ζ. B. bei cler praktisch so wichtigen Gebührenfrage § 84) die Unthunlichkeit völliger Gleichstellung zum \Torschein kommt. An die Spitze des 7. Abschnittes des ersten Buches ist cler allgemeine Satz gestellt, dass soweit nicht abweichende Bestimmungen getroffen sind, „auf Sachverständige die Vorschriften des 7. Abschnittes über Zeugen

§ 56.

2. E i n e weitere Aufgabe die Regelung

des Einflusses

Sachverständige: Aussage

in

der neuen Strafprozessordnungen der M ü n d l i c h k e i t

die Lösung der Frage,

der

685

Sachverständige.

Hauptverhandlung

inwiefern

an

die

war

auf den Beweis durch die

Stelle

mündliche der

Verlesung

schriftlicher Befunde oder Gutachten zu treten habe (s. oben § 44 V ) . 3.

E n d l i c h beschäftigt sich die deutsche Strafprozessordnung aus-

drücklich m i t

cler oben ( I I

Nr 6)

vorbehaltenen Frage

verständigen (oder sachkundigen) Zeugen". erklärt, lediglieh die Vorschriften über U n d dies m i t vollem R e c h t ; gezogen.

Denn

Anwendung

die

finden:

sind"

20

.

die Grenzlinie

über

„insoweit zum Beweise

erforderlich

„sach-

den Zeugenbeweis anwendbar.

ist

Bestimmungen

sachen oder Zustände, Sachkunde

nur

cler

A u f diese sind, wie § 85 nicht

den Zeugenbeweis vergangener

deutlich sollen That-

zu deren W a h r n e h m u n g eine besondere

w a r , - sachkundige

Personen

zu

vernehmen

Allein, die W o r t e buchstäblich genommen, trifft diese Voraus-

setzung i n der Hauptverhandlung

auch bei cler V e r n e h m u n g cler z u m

Augenschein beigezogenen Sachverständigen "zu u n d es gäbe daher i n der Hauptverhandlung überhaupt keine Sachverständigen mehr, sondern nur Zeugen, oder vielmehr erstere

kämen als solche n u r bei Abgabe

entsprechende Anwendung finden" (§ 72). Ferner richtet sich das Recht, das Gutachten zu verweigern, nach den Bestimmungen über den Zeugenbeweis (§ 76), während die Pflicht, sich als Sachverständiger verwenden zu lassen, und die Strafe für Verletzung dieser Pflicht nach anderen Gesichtspunkten sich richten (§§ 75 u. 77). 20 Die Bestimmung entspricht wörtlich der über denselben Gegenstand in der Ci vi l p r o z e s s O r d n u n g (§ 379) gegebenen, für welche natürlich von Einfluss ist, dass sie keine Voruntersuchung und in (1er Regel nur eine vom erkennenden Gericht angeordnete Beweisaufnahme kennt. Durch die im Text erwähnte Bestimmung wird, nach den für beide-Gesetze gleichlautenden Motiven (Mot zum Entw der StPO S 61), „die Hervorhebung des inneren Unterschiedes, welcher zwischen den Sachverständigen, die als Gehilfen des Richters stets aus Thatsachen Schlüsse ziehen, und den sachverständigen Zeugen, die eigene Wahrnehmungen bekunden, unleugbar besteht, zur Beseitigung vielfacher Streitigkeiten für angemessen erachtet". Danach wäre aber die Aufgabe (1er Sachverständigen überhaupt nicht, die eigene Wahrnehmung zu bekunden, sondern nur „aus Thatsachen Schlüsse zu ziehen", wobei sie dann freilich nicht „Gehilfen des Richters", sondern selbst Richter wären. — Die italienische StPO Art. 128 hat den Fall vorgesehen, dass eine Besichtigung einer Leiche oder erlittener Verletzungen nicht mehr möglich ist und durch Zeugenaussagen ersetzt werden muss. Solche Zeugen werden gleich den Sachverständigen (Art. 154) ausnahmsweise schon in der Voruntersuchung beeidigt. (Vgl. noch eine Entscli. d. CH zu Neapel v. 6. Febr. 1882, Riv. pen. XVI 48, welche darüber, dass der in der Voruntersuchung beigezogene Sachverständige, in die Hauptverhandlung zur Ertheilung von Aufklärungen geladen, dort in Zeugeneid genommen ward, sagt : richtiger wäre es allerdings gewesen, ihn auf den abgelegten Eid zu verweisen.)

686

§ 56.

Sachverständige.

des Gutachtens im engeren Sinne in Betracht. Umgekehrt kann zum Nachweis von Thatsaehen der vorgenannten Art auch die Vernehmung von sachkundigen Personen nöthig sein, welche k e i n e Wahrnehmung gemacht haben, sondern die Aussagen von Laien über die hervorgetretenen, von diesen beobachteten Erscheinungen als einzige Grundlage ihres Gutachtens benutzen müssen ; es war gewiss nicht die Absicht des Gesetzes, sie in diesem Falle als Zeugen zu behandeln, obgleich ihre Vernehmung „zum Beweis vergangener Thatsaehen oder Zustände, zu deren Wahrnehmung eine besondere Sachkunde erforderlich war", dient. — Hält man sich an jenen Wortlaut, so wäre derjenige nicht als Sachverständiger zu behandeln, welcher über Wahrnehmungen aussagt, die er als Sachverständiger gemacht hat; besonders gilt dies von Sachverständigen, die als solche dem Augenschein zugezogen wurden. Nähme man aber dies an, so würde dieselbe Function im selben Prozess ihren juristischen Charakter ändern ; vor dem Untersuchungsrichter oder ersuchten Richter abgelegt, fällt die Aussage unter den Gesichtspunkt des Sachverständigenbeweises und unter die Sanction des Sachverständigeneides, in der Hauptverhandlung wiederholt, unter Zeugenbeweis und Zeugeneid. Soll der Sachverständige in der Hauptverhandlung nicht blos den Befund, sondern auch das Gutachten wiederholen, so muss er zwei Eide schwören, denn letzteres fällt wieder nicht unter den Zeugeneid. Die Motive zu g 77 StPO (S 60) erklären die Verschiedenheit der gegen Zeugen und gegen Sachverständige anzuwendenden Zwangsinaassregeln (namentlich das Wegbleiben der an Stelle der Geldstrafe tretenden Haft, der Zwangshaft und der Vorführung) daraus, dass es unangemessen sein würde, wenn man einen Sachverständigen durch derartige Mittel zu einer geistigen Arbeit zwingen wollte. Hält man aber den dem zusammengesetzten Augenschein beigezogenen oder vom Richter entsendeten Sachverständigen für einen Zeugen, sobald er in der Hauptverhandlung zu erscheinen hat, dann wird jene schonende Rücksicht den wenigsten Sachverständigen zu statten kommen. Aehnlich verhält es sich mit dem Unterschied, den Absatz 4 des § 242 zwischen Sachverständigen und Zeugen macht, indem er nur die „Abwesenheit der zu vernehmenden Z e u g e n " vorschreibt; die Absicht aber, welche dabei leitet, wird dann in cler überwiegenden Mehrzahl der Fälle vereitelt, da gewöhnlich doch dieselben Sachverständigen, die über den von ihnen aufgenommenen Befund zu berichten haben, auch zur Erstattung des Gutachtens berufen sind, und wohl in vielen Fällen nur diese. Aber auch ausser der Hauptverhandlung müsste man bei so stricter Auslegung der Worte „vergangene Thatsaehen oder Zustände"

56.

Sachverständige.

687

vom Sachverständigenbeweise so viel ausschließen, dass ein B e f u n d von Sachverständigen gar nicht übrig bliebe ; denn wenn die der Vergangenheit angehörigen Thatsachen auch die Wahrnehmungen des Deponenten einschliessen, so sagt auch der Arzt, der nach vollendeter Leichenöffnung sofort den Befund zu Protokoll dictirt, über eine vergangene Thatsache aus, jedenfalls aber derjenige, welcher sein Gutachten schriftlich und also später erstattet. Allein abgesehen von den wunderlichen Consequenzen, die sich hieraus ergeben, und wozu unter anderem auch gehören würde, dass der in der Hauptverhandlung nur den Befundbericht wiederholende Sachverständige bezüglich der Gebühren nicht nach § 84, sondern als Zeuge behandelt würde, wäre bei dieser Auslegung des Ausdruckes „vergangene Thatsachen" die Erwähnung der „vergangenen Zustände" ganz überflüssig. Es kann also der Ausdruck gar nicht auf die T h a t s a c h e d e r W a h r n e h m u n g , sondern nur auf die w a h r g e n o m m e n e n T h a t s a c h e n u n d Z u s t ä n d e , die. weil sie der Vergangenheit verfallen sind, nicht mehr nach Maassgabe der für Sachverständige ertheilten Normen untersucht werden können, bezogen werden. Was den sachverständigen Zeugen vom Sachverständigen unterscheidet. ist also, dass jener von den zwei Eigenschaften, wrelche der Aussage des Sachverständigen über von ihm gemachte Wahrnehmungen das Gepräge geben: Befähigung zur Wahrnehmung und das bei der Wahrnehmung schon vorhandene Bewusstsein, dass er darüber als Sachverständiger auszusagen haben werde, — die erstere, aber nicht die letztere mitbringt. Der sachverständige Zeuge ist also ein Zeuge, der zu der Wahrnehmung zufällig wie jeder andere Zeuge gelangte, nicht veniiöge seiner Verwendung als Sachverständiger, und bei derselben vom Richter nicht überwacht oder angeleitet wurde, — der sich aber von anderen Zeugen dadurch unterscheidet, dass er durch seine Sachkunde in die Lage versetzt war, das, was er wahrnahm, mit Verständniss aufzufassen, und in der Lage ist, darüber verlässlich zu berichten, während die Aussage eines anders beschaffenen Zeugen des gleichen Vorfalles völlig werthlos oder doch sehr unverlässlich wäre. Ein sachverständiger Zeuge ist also z. B. der Arzt, cler clen angeblich getödteten in seiner letzten Krankheit, oder einen Verwundeten behandelte; wäre dagegen clas Strafverfahren schon eingeleitet und der Arzt vom Gericht mit clem Auftrag entsendet worden, den Verlauf der Krankheit zu beobachten und darüber zu berichten, so wäre er ebensowohl als Sachverständiger zu behandeln, wie cler Chemiker, welcher im Auftrag des Richters Eingeweide u. dgl. auf Gift untersucht hat und über clie zu diesem Zweck vorgenommenen Operationen und

688

§ 56.

Sachverständige.

das von ihm gefundene Ergebniss Berieht erstattet 2 1 . Wie bei jedem anderen Zeugen hängt es auch beim sachverständigen Zeugen vom 21 Anderer Meinung L ö w e Bein 2 h zu § 85, dem Geyer in HH 1 231 Anm 1 (vgl. auch das. S 247) beipflichtet, und P u c h e l t Bern 3 zu §85. Letzterer geht aber in zwei wichtigen Punkten von richtigen Ansichten L o w e s ab: im Gegensatz zu diesem meint er, dass der Sachverständigeneid überhaupt nur den Befund, nie das Gutachten im eigentlichen Sinne decke, und dass der Beweis der „thatsächliclien Unterlagen" des Gutachtens „durch die Protokolle über den Augenschein, Sectionsbefund u. s. w." erbracht werde. In letzterer Hinsicht wird das irrige seiner Auslegung des § 248 unten beleuchtet werden; in ersterer übersieht er, dass des Gesetz das Wort „Gutachten" regelmässig im weiteren Sinne gebraucht und dass daher auch kein Grund vorhanden ist, es im § 79 anders zu verstehen. — L ö w e scheint zu seiner Auffassung hauptsächlich dadurch gelangt sein, dass er für nothwendig hält, einerseits zu verhindern, dass die Sachverständigen, welche dem Augenschein beigezogen wurden, später abgelehnt werden, andererseits dieselben, als unersetzlich, nach den Bestimmunge nder §§ 50 u. 69 zu behandeln. Was das erstere betrifft, so kommt es also darauf hinaus, dass wenn ein Sachverständiger nach Erstattung des Gutachtens mit Erfolg abgelehnt wird und der Untersuchungsrichter nicht angemessen findet, die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen anzuordnen (§ 83 Abs. 2), die \rerhandlung der Grundlage eines Befundes ganz entbehrt, oder vielmehr der „abgelehnte" Sachverständige als sachr verständiger Zeuge nur unter einer anderen Eidesformel gerade die Aussage ablegt, bezüglich welcher eine Controle durch andere nicht möglich ist, und dass die Wirkung (1er Ablehnung sich praktisch nur auf das „Gutachten" bezieht, das ja doch auf seine Gründe geprüft und durch andere Sachverständige widerlegt werden kann. In letzterer Hinsicht ist schon im Text bemerkt worden, dass bei solcher Auslegung das Gesetz den berufsmässigen Sachverständigen mit (1er einen Hand genommen hätte, Avas es ihnen mit der anderen gab. — Die Häufung der Eide und die Collision der Eidesformen mag als geringes Uebel angesehen werden (das L ö w e übrigens zu mildern sucht, Bern 2b zu § 85, und das auch von P u c h e l t Bern 4 das. anerkannt wurde), wenn sie gelegentlich einmal eintritt, nicht aber wenn sie fast zur Regel werden muss, wie die hier bekämpfte Auffassung es mit sich bringt. Der dem RGE v. 29. April 1880 Rspr I 697 zu Grunde liegende Fall, in welchem mit Recht ausgesprochen ist. dass der sachverständige Zeuge, auch wenn er ein Gutachten unter Berufung auf den allgemeinen Sachverständigeneid ablegt, vom Zeugeneid nicht befreit ist, ist kein solcher, in welchem erkennbar ist, dass ein in der Voruntersuchung bereits abgegebener Befund wiederholt wurde. — Dagegen ist allerdings in dem RGE v. 8. Mai 1880 Entsch I I 153 ff. ausgesprochen, dass die bei der Leichenöffnung beigezogenen Aerzte, wenn sie in der Hauptverhandlung über die dabei gemachten Wahrnehmungen aussagen, dies als sachverständige Zeugen thun; auch wird sofort die unvermeidliche (Konsequenz gezogen: sie sollen darüber unter Zeugeneid aussagen. Freilich wird der \rerletzung dieser Regel, aus Gründen, die jedesmal wiederkehren müssen, nicht die Wirkung der Vernichtung der Hauptverhandlung beigelegt. — Noch bezeichnender für die Undurchführbarkeit der von mir bekämpften Abgrenzung des Begriffes der sachverständigen Zeugen ist das RGE v. 8. Oct. 1881 Rspr I I I 611 über die Zulässigkeit des blossen Sachverständigeneides bei Aussagen „über factische Wahrnehmungen, die" die Deponenten „als

57.

Die Berufung

er Sachverständigen.

Zufalle ab, ob sein Zeugniss durch das eines anderen controlirt oder ersetzt werden kann, nur dass auf solchen Zufall hier noch seltener zu rechnen ist; dagegen ist der Sachverständige nicht blos durch Wahl bestimmt, sondern es ist auch die Möglichkeit viel häufiger vorhanden, die von diesem vorgenommene Untersuchung durch die gleichzeitige anderer Sachverständigen controliren oder durch eine nachfolgende ersetzen zu lassen. § 57.

Die Berufung der

Sachverständigen.

I. Ob eine bestimmte Person in einer bestimmten Strafsache als Sachverständiger verwendet werden kann, das hängt von dem Vorhandensein der t e c h n i s c h e n und der j u r i s t i s c h e n Befähigung ab. 1. Die t e c h n i s c h e B e f ä h i g u n g , welche im einzelnen Falle gefordert werden muss, hängt natürlich von der jeweilig gestellten Aufgabe ab. Um die Leistungsfähigkeit eines Fachmannes selbständig beurtheilen zu können, müsste man selbst Fachmann sein. Um so mehr ist es nothwendig, dass durch äusserliche Merkmale eine Gewähr für jene geboten sei. „Sachverständniss" ist gesetzliche Voraussetzung der Thätigkeit als Sachverständiger. Eine blos aus subjectiven Gründen vennuthete Saehkenntniss würde so \venig Gewähr bieten können, als die subjective Meinung des Richters, dass er selbst die erforderliche Saehkenntniss besitze, und es müssen, ehe jemand zu dieser Thätigkeit zugelassen wird, objective Gründe gegeben sein, jene als vorhanden anzusehen. Diese Gründe werden bei bleibender Bestellung als Sachverständiger von der bestellenden Behörde geprüft ; in anderen Fällen werden sie in der Lebensstellung, dem Bildungsgange, dem Berufe oder ähnlichen äusserlich erkennbaren Verhältnissen liegen. Nötigenfalls kann man aber auch zu speciellen Anfragen bei Behörden oder Persönlichkeiten, von welchen hierüber verlässliehe Auskunft zu erwarten ist, Anlass haben. D i e s e n Anforderungen muss stets entsprochen sein, gleichviel Sachverständige gemacht hahen". Das Reichsgericht habe wiederholt ausgesprochen, ;,dass Vernehmlassungen (1er Sachverständigen über solche Wahrnehmungen, welche nach der Natur des abzugebenden Gutachtens eine nothwendige Unterlage des letzteren bilden, so namentlich diejenigen, wrelche von ihnen über den Befund der von ihnen zu beurtheilenden Zustände oder Erscheinungen gemacht sind, nicht unter die Vorschrift des § 85 sondern in das technisch - sachverständige Gebiet fallen". Das RGE v. 28. Sept. 1882 Rspr I I I 545 billigt vollends die Anweisung an einen Zeugen : sich für seine Vernehmung durch „Beaugenscheinigung und Aufnahme einer Handzeichnung sorgfältiger und sachverständiger zu informimi", und dass er demnächst als „sachverständig instruirter Zeuge" abgehört wird. Binding. Handbuch. IX. 4. I :

G l a s e r , Strafprozess.

I.

44

690

§ 57.

Die Berufung cler Sachverständigen.

ob es sich um die Berufung des Sachverständigen durch den Richter oder durch eine Partei handelt l . 2. Die r e c h t l i c h e n B e d i n g u n g e n der Zulassung eines Sachverständigen lassen der Auswahl einen sehr freien Spielraum. Hier tritt a. die Eigentümlichkeit hervor, dass auch C o l l e c t i v p e r s o n e n die Functionen von Sachverständigen üben können 2 . Darüber ist zunächst zu bemerken: Nach aussen ist die Behörde oder Körperschaft als solche Träger des Gutachtens (im weiteren Sinne): für das Zustandekommen des Ausspruches· sind die Bestimmungen maassgebend, welche die Geschäftsordnung derselben regeln, von welcher es namentlich abhängt, ob alle Mitglieder gleichmässig zusammenwirken, oder ob die Aufgabe mit Rücksicht auf die Special i t y der Fächer an einzelne Mitglieder als Referenten vertheilt wird, und wie überhaupt Beschlüsse giltig zu Stande kommen. Immerhin aber sind d e r S a c h e n a c h die so mitwirkenden als Sachverständige thätig; und das, was sie von dieser Thätigkeit unmittelbar vor Gericht ausschliesst, sollte auch die Ausschliessung von dieser Mitwirkung bei der Körperschaft oder Behörde mit sich bringen 3 . b. Weder Geschlecht noch Staatsangehörigkeit 4 üben auf die Fähigkeit, Sachverständiger z*i sein, u n m i t t e l b a r e n Einfluss. Nimmt die dauernde Bestellung die Gestalt der Verleihung eines öffentlichen Amtes an, so sind natürlich die gesetzlichen Bestimmungen über Aemterfähigkeit auch hiefür maassgebend. c. Umstände, welche vom Richteramte ausschliessen würden (§ 22), mit Ausnahme der Vernehmung als Zeuge in derselben Strafsache, bewirken nicht blos, dass der Sachverständige abgelehnt werden kann, 1

L ö w e Beni 4 zu § 244. Vgl. oben § 56 I. S. ausser Abs. 3 § 83 StPO, § 29—31. 49 des Ges ν. 1. Juli 1870, Bundesgesetzblatt S 339 ff., § 16 des Ges v. 9., §§ 9 u. 10 des Ges v. 10., § 14 des Ges v. 11. Jan. 1876. Reichsgesetzblatt S 4, 8 u. 11 (abgedruckt bei L ö w e 3. Aufl. S 779 if.). 3 L ö w e Bern 7 zu § 74 erklärt sich namentlich dafür, dass das Ablehnungsrecht der Parteien auch gegenüber den Mitgliedern cler begutachtenden Körperschaft oder Behörde bestehe. And. Mein. P u c h e l t Beni 5 zu § 89. 4 M i t t e r m a i e r (Strafverfahren I 550, Beweis S 196 f. 197) bemerkt mit Recht: dass die Frage überhaupt aufgeworfen wurde, hängt mit der Neigung zusammen, clen Sachverständigen als Mitrichter zu behandeln. „Der Richter kann nur giltig verhandeln und entscheiden, soweit ihm clas Gesetz eine Gewalt einräumt ; Kunst und Wissenschaft hängen nicht von bestimmten Lanclesgrenzen ab". Vgl. B o r sa n i e Caso r a t i § 713, vol. I I ρ 370. Bezüglich cles f r a n z ö s i s c h e n Rechtes s. R o l l a n d de V i i l a r g i i es Art. 44 Nr 7. Dagegen ist die Abnahme des Eides ein Akt richterlicher, an clas Territorium gebundener Autorität; der im Auslande geleistete Sachverständigeneid ersetzt daher den inländischen nicht. 2

§ 57.

Die Berufung cler Sachverständigen.

sondern auch dass der Ablehnung stattgegeben werden muss. Wenigstens der Richter d a r f daher eine Person, von weicherer weiss, dass sie sich in diesem Falle befindet, nicht als Sachverständigen berufen; für die Behauptung, dass er clem für ihn bindenden Parteiwillen diesen Timstand entgegensetzen könne, findet sich allerdings kein positiver Anhaltspunkt im Gesetze; allein man darf doch annehmen, dass die Verweisung auf die Ablehnung nur aus einer legislativen Abbreviatur 5 hervorging, und dass der Richter nicht gezwungen werden kann, einen Sachverständigen als solchen zu vernehmen, cler in einem der erwähnten Verhältnisse steht 6 . d. Indirect übt auf die Befähigung der Umstand Einfluss, dass bei Sachverständigen der Eid obligatorisch ist, dass also, da vermöge § 72 StPO die Ausschliessung vom Zeugeneide auch die vom Sachverständigeneide mit sich bringt, die im § 56 genannten Personen unfähig sind. Die im § 51 genannten sind fast durchaus der Sache nach ausgeschlossen — es giebt nur wenige Fälle, in welchen sich die §§22 u. 51 nicht decken; ersterer erwähnt den Beschuldigten selbst, die gleichen Beziehungen zum Verletzten wie zum Beschuldigten, und den Vormund, dagegen spricht § 51 auch noch vom Verlobten des Beschuldigten: wenn aber die Ablehnung nicht eintritt und der Richter nicht von dem Rechte Gebrauch macht, von der Beeidigung auszuschliessen, so ist die Aussage der betreffenden Personen nicht anfechtbar 7 . 5

Jedenfalls hat sie die Wirkung, dass die Unterlassung der Ablehnung gegen die nachträgliche Anfechtung der Rechtsbeständigkeit des Verfahrens schützt. L ö w e Bern 2 zu § 74. 6 Praktisch wird darüber freilich leicht hinauszukommen sein, da der Staatsanwalt, wenn ihm das Verhältniss bekannt wird, die von ihm ausgehende Ladung zurücknehmen, gegen den von anderen geladenen sein Ablehnungsrecht gebrauchen wird. Allein es macht § 244 auch hier Schwierigkeiten, an die bei seiner Abfassung sicher nicht gedacht wurde. Der einmal geladene Sachverständige ist gemeinsam geworden. Wenn nun der Angeklagte auf der Vernehmung seines durch Versehen der Staatsanwaltschaft geladenen Verwandten besteht, wird jener nichts übrig bleiben, als den von ihr selbst geladenen Sachverständigen abzulehnen. — Andere Gründe, welche Bedenken erregen könnten, wie ζ. B. die Verwandtschaft der Sachverständigen unter sich (GA 1857 S 252; Schwarze Bern 9; L ö w e Bern 4 a bei § 87), die Nothwendigkeit gleichzeitiger Vernehmung als Zeuge ( H é l i e , Instr. § 646 I I I , vol. V I I I ρ 780, éd. Brüx. Nr 5026) bilden kein r e c h t l i c h e s Hinderniss der Beiziehung von Sachverständigen. 7 L ö w e Bern 1 zu § 79. P u c h e l t Bern 3 zu § 79 sieht das im A b s a t z 1 des § 57 zugelassene richterliche Ermessen als für Sachverständige ausgeschlossen an, d. h. also, dass diese nicht zugelassen werden können. — Der ö s t e r r . StPO war es dadurch, dass sie mehr Ausschliessungen vom Zeugeneide enthält, ermöglicht, 44*

692

§ 57.

Die Berufung

er Sachverständigen.

e. E i n e specielle Ausschliessung trifft denjenigen mittelbar

„Arzt,

welcher

bei der

den Verstorbenen

vorausgegangenen K r a n k h e i t

behandelt hat"

Der dabei vorherrschende Gedanke ist d e r , örterung

der Todesursache

Leichenöffnung

i n der dem Tode un-

durch früher

(§ 87

StPO).

dass dieser A r z t bei E r von i h m

aufgestellte

Dia-

gnosen u n d durch die Besorgniss, eines Kunstfehlers geziehen zu werd e n , befangen gemacht werden k ö n n t e 8 . Krankheiten

nicht a n ,

Deshalb k o m m t es auch auf

deren Behandlung nicht

bis zum E i n t r i t t des

Todes fortdauerte. II.

F ü r die B e s t i m m u n g der als Sachverständige beizuziehenden

Persönlichkeiten ist die der Z a h l derselben eine Vorfrage.

Die deutsche

StPO

unmittelbare

bringt

Verbindung

daher auch beide Fragen m i t einander i n

u n d legt die Bestimmung der Z a h l i n dieselbe

Hand,

wie die Auswahl der Personen (§ 73 StPO), lehnt aber auch i n dieser H i n s i c h t ausdrücklich

die Aufstellung

während das ältere Becht

durch

eines

festen

Grundsatzes

ab,

die Analogie des vollen Zeugenbe-

weises bestimmt worden w a r , die Beiziehung von zwei Sachverständigen vorzuschreiben 9 .

Es ist indess zu erwägen,

dass die gegensei-

die legislative Aufgabe in einfacher Weise zu lösen. Es heisst dort im g 120: „Personen, welche in einem Untersuchungsfalle als Zeugen nicht vernommen oder nicht beeidet werden dürfen, oder welche zu dem Beschuldigten oder dem Verletzten in einem der im § 152 Ζ . 1 bezeichneten Verhältnisse" (Verwandtschaft u. s. w.) „stehen, sind bei sonstiger Nichtigkeit des Aktes als Sachverständige nicht beizuziehen". — Auch die i t a l i e n i s c h e StPO (Art. 158) knüpft an die Bestimmungen über den Zeugenbeweis an. B o r s ani e Cas ο r a t i § 703, I l 363. C a r r a r a § 963, I I 536. 537 rechnet die Sachverständigen zu den Zeugen. 8 Vgl. hierüber M i t t e r m a i e r , Beweis S 196. 198, Strafverfahren I 551 Anm 10 u. 14; W a l t h e r S 200. 201; Geyer in HH I 246. 247, Lehrbuch S 126 Anm 2. Bezüglich des Arztes, welcher den der Autopsie zu unterziehenden Verstorbenen „in der seinem Tode allenfalls vorhergegangenen Krankheit behandelt hat, ist im § 128 der österr. StPO nur vorgeschrieben, dass er in der Regel „zur Gegenwart bei cler Leichenbeschau aufzufordern sei". Allein im § 7 cler noch giltigen Vorschrift über die Vornahme der gerichtlichen Todtenbeschau (v. 28. Jan. 1855) heisst es, er sei „cler Unparteilichkeit des Urtheils wegen, wo es nur immer möglich ist, als beschauender Arzt nicht zu verwenden". Aus clem gleichen Grunde empfiehlt es sich, bei Verletzungen nicht dem behandelnden Arzt die sachverständige Beobachtung des Verlaufes der Krankheit zu übertragen; dass man den Sachverständigen nicht als behandelnden Arzt dem Verletzten auinöthigen kann, wird nur erwähnt, weil M i t t e r m a i e r (Beweis S 196) davor als vor einer Grausamkeit warnt; allerdings mit dem Zusatz, cler Richter solle den behandelnden Arzt als Sachverständigen betrachten und allenfalls den angestellten Arzt gleichfalls abordnen. 9 Vgl. ζ. B. K l e i n s ehr od AA V Stück 3 S 18; K i t k a , Thatbestand S 219 if. Am deutlichsten tritt die Analogie des Zeugenbeweises im bayer. Strafgesetz von 1813 Art. 236 hervor, wo zwei Sachverständige gefordert werden,

§ 57.

Die Berufung cler Sachverständigen.

tige Uebenvachung und Ergänzung hier noch werthvoller als beim Zeugenbeweis und fast immer nach Belieben herzustellen ist. Für die Leichenöffnung schreibt übrigens die deutsche StPO (§ 87) die Beiziehung von z w e i Aerzten ausdrücklich vor; woraus allerdings nicht nothwendig folgt, dass die Aussage beider zur Kenntniss des erkennenden Gerichtes gelangen muss, da der Befund nicht vorgelesen wird und nicht die Vorladung zweier Sachverständigen zur Hauptverhandlung angeordnet i s t 1 0 . I I I . Nach § 73 StPO erfolgt die Auswahl der zuzuziehenden Sachverständigen durch den Richter. Diese Bestimmung unterliegt sehr erheblichen, sofort zu erwähnenden Beschränkungen durch die Rechte der Parteien, und ihre Geltung ist bezüglich des Vorbereitungsverfahrens bestritten, bezüglich der Hauptverhandlung auf den Werth der Ausnahme gegenüber der Regel reducirt 1 1 . Dennoch wird es am Platze sein, die Aufgabe, die dem Richter gestellt ist, w e n n er die Sachverständigen auswählt, mit einigen Worten zu erörtern. Das Gesetz beschränkt zunächst die Freiheit der Wahl durch Abs. 2 des § 73, wonach statt der für gewisse Arten von Gutachten „öffentlich" bestellten Sachverständigen 1 2 andere nur dann „gewählt werden sollen, wenn besondere Umstände es erfordern". Diese Bestimmung (vgl. § 119 ein einziger aber für ausreichend erklärt wird, „wenn derselbe zur Ausübung seiner Wissenschaft oder Kunst mittels öffentlichen Amtes bestellt ist". Die österr. StPO schreibt (§ 118) als Kegel die Beiziehung von zwei Sachverständigen vor. „Die Beiziehung eines Sachverständigen genügt, wenn der Fall von geringerer Wichtigkeit ist" (§ 452 Z. 6 erklärt noch ausdrücklich, dass diese Voraussetzung in Uebertretungsfallen eintritt) „oder das Warten bis zum Eintreffen eines zweiten Sachverständigen für den Zweck der Untersuchung bedenklich erscheint". (Fast wörtlich stimmt Art. 152 der ital. StPO überein.) Bezüglich der Leichenschau und Leichenöffnung ist im § 128 österr. StPO bemerkt, dass einer der zwei Aerzte „auch nur ein Wundarzt sein kann". 10 Geyer in HH I 241. L ö w e Bern 3a zu § 87, Bern 5e zu § 248. Siehe auch B o r s a n i e C a s o r a t i § 711. I I 370. 11 Nach der österr. StPO § 119 steht die „Wahl der Sachverständigen dem Untersuchungsrichter zu". Diese Bestimmung erstreckt sich auch auf die Vorerhebungen (§ 88 Abs. 2). 12 Das Gesetz verlangt nicht, dass die Bestellung cler Sachverständigen durch das Gericht erfolge; es hatte dabei ausser ständig bestellten A e r z t e n namentlich auch die Vorschriften der Reichsgesetze über Sachverständigenvereine und deren Verwendung bei Fragen des Urheberrechtes u. s. w. vor Augen; dann auch behördlich verpflichtete Schätzer, „da und dort auch sogenannte Feldgeschworene". S t a u d i n g e r Bein 2 zu § 72. Bezüglich des Einflusses der L a n d e s g e s e t z g e b u η g auf die ständige Bestellung von Sachverständigen s. P u c h e 11 Bern 4 zu § 73. Nach dem RGE v. 28. Oct. 1881 Rspr I I 657 begründet die Benutzung anderer Sachverständigen als des Sachverständigenvereines nicht die Aufhebung des Verfahrens.

694

§ 57.

Die Berufung

er Sachverständigen.

(1er österr. StPO bezüglich der „für ein bestimmtes Fach b e i d e m G e r i c h t e bleibend angestellten") verbürgt in ähnlicher Weise, wie die Bestimmungen über die Berufung der Richter zu einer bestimmten Strafsache, das Fernbleiben willkürlicher Einwirkung, und sie ist daher nicht blos für den Richter, sondern auch für den Staatsanwalt bindend 13 . Eine Erweiterung eher als eine Beschränkung des richterlichen Ermessens bildet § 83 Abs. 2 , welcher gestattet, dass „in wichtigeren Fällen das Gutachten einer Fachbehörde eingeholt werden könne" ; die Wichtigkeit hängt natürlich weder blos von der Schwere der Strafe, noch davon ab, ob es sich um ein Obergutachten handelt, und steht ganz in cler Beurtheilung des Richters 1 4 . Es giebt übrigens Fälle, in denen die Fachbehörde als der allein mögliche Begutachter erscheint (siehe z. B. $ 92 bezüglich der Münzverbrechen; vgl. österr. StPO 3 136). Ist das Gericht in der Lage, über die Auswahl der Sachverständigen zu entscheiden, so wird es sich, innerhalb der bezeichneten Grenzen, von folgenden Gesichtspunkten leiten lassen, welche auch die Staatsanwaltschaft berücksichtigen muss : 1. Personen, deren Ablehnung, wenn sie erfolgt, stattgegeben werden müsste, darf clas Gericht nicht beiziehen ; auch nicht, wenn es sich um Umstände handelt, welche beim Richter nicht Ausschliessung bewirken, aber die Ablehnung rechtfertigen würden. 2. Das Streben muss darauf gerichtet sein, Männer beizuziehen, welche clen technischen Anforderungen des F a l l e s vollständig gewachsen sind. Umgekehrt müssen die am Strafverfahren betheiligten staatlichen Behörden auch das Interesse derjenigen, welche für die Kosten des Strafverfahrens aufkommen sollen, im Auge behalten und ebenso mit der Zeit hervorragender Männer sparen, die nicht mit Hilfe des Gerichtszwanges für ihrer unwürdige Aufgaben in Anspruch genommen werden dürfen. IV. Die Hegel, dass die Auswahl der Sachverständigen durch das Gericht erfolge, erleidet durch die s e l b s t ä n d i g e n R e c h t e d e r P a r t e i e n solche Einschränkungen, dass sie eigentlich zur Ausnahme verkehrt wird. Der Einfluss der Parteien auf die Auswahl ist zunächst ein n e g a t i v e r , insofern denselben 1. das Recht cler A b l e h n u n g der Sachverständigen zukommt (§ 74 StPO). Wie schon aus dem oben § 56 V Nr 1 bemerkten hervorgeht, ist dieses Recht in der Weise (nicht eben glücklich) geregelt, 13 14

L ö w e Bern 5 zu § 73. P u c h e l t Bern 5 zu § 83 und die das. angeführten.

57.

Di

B e n g

er Sachverständigen.

dass die Bestimmungen über die Ablehnung der Richter sinngemäss angewendet werden. Die Analogie ist unter allen Uniständen nur eine beiläufige; denn das Verhältniss der Ausschliessung zur Ablehnung, welche beim Richter nur nominell jene mitumfasst, lässt sich hier nicht in ganz gleicher Weise festhalten. Der den Richter abschliessende Umstand, dass er als Zeuge vernommen worden (oder noch zu vernehmen) ist, kann keinen Grund abgeben, den Sachverständigen als solchen abzulehnen (2. Satz des 1. Abs. des § 74 — s. im übrigen bezüglich der Ausschliessungsgründe oben I Xr 2). Der wichtigste Unterschied zwischen Richtern und Sachverständigen liegt aber darin, dass einerseits die Ablehnung eines ausgeschlossenen Richters nicht nöthig, dass sie nur die Form ist, in welcher die Partei die Herbeiführung des dem Gesetz entsprechenden Zustandes bewirkt, andererseits aber in den übrigen Fällen die Unterlassung der an sieh zulässigen Ablehnung heilend wirkt, so dass die Versäumniss der dazu im § 25 gesetzten Frist das Recht der Partei hinfällig macht, Im Gegensatz hiezu schreibt bei den Sachverständigen das Gesetz nur vor, dass die Möglichkeit zur Ausübung des Ablehnungsrechtes den Parteien dadurch gewählt werde, dass ihnen die „ernannten Sachverständigen namhaft zu machen sind, wenn nicht besondere Unistände entgegenstehen" (§ 74 Abs. 2 Satz 2 — vgl. S 24 Abs. 3 Satz 2, der den einschränkenden Zusatz n i c h t hat). Mag dies nun aber geschehen sein oder nicht, so ist die Ablehnung des Sachverständigen nicht nur an keine Frist gebunden, sondern das Gesetz erwähnt ausdrücklich eine Ablehnung „ n a c h Erstattung des Gutachtens" (§ 83 Abs. 2). D i e s e Ablehnung hat nach der Absicht cles Gesetzes also die Wirkung, dass weder das erstattete Gutachten selbst benutzt, noch der Sachverständige zu erneuter Abgabe desselben aufgerufen werden solle; allerdings ist dies nicht kategorisch ausgesprochen und dem Richter nur anheimgestellt, aus diesem Anlass die Begutachtung durch einen andern Sachverständigen anzuordnen. Letzteres unbedingt vorzusehreiben war aber auch nicht möglich, weil andere Gutachten zur Verfügung stehen können oder andere Gründe die Benutzung des Gutachtens entbehrlich machen können ; eben darum folgt aus der facultativen Ausdrucksweise des § 83 nicht, dass es dem Belieben des Gerichtes anheimgestellt sei, das Gutachten zu benutzen 1 5 . — Theils aus ausdrücklicher 15 P u c h e l t Bein 4 zu § 83 erklärt das „kann" daraus, dass nur wieder betont werden sollte, dass das Gericht sich auch mit dem Gutachten eines Sachverständigen begnügen könne. Darin stimmt er L ö w e bei, polemisirt aber — mit Recht in der Sache, jedoch etwas inconsequent wegen seiner mit der L ö w e s übereinkommenden Auffassung der sachverständigen Zeugen — gegen L o w e s Ansicht

696

§ 57.

Die Berufung cler Sachverständigen.

Vorschrift des § 74, theils aus der Analogie der Bestimmungen über die Ablehnung cler Richter folgt, class der Ablehnungsgrund glaubhaft zu machen ist, class der Eicl hiefür nicht benutzt werden kann, wohl aber das Zeugniss des abgelehnten Sachverständigen, oder wenn er in Amt und Pflicht steht, dessen dienstliche Vernehmung. Die Entscheidung über die Ablehnung des R i c h t er s ist aber eine für den ganzen Verlauf der Strafsache und für alle an derselben betheiligten giltige, und die Zuständigkeit zur Entscheidung sowie cler Instanzenzug richten sich stets nach der persönlichen Stellung des Richters. Beim Sachverständigen kommen dagegen folgende Abweichungen in Frage: a. Die Entscheidung über die Ablehnung ist eine Incidentalentscheidung, welche sich in das Stadium des Verfahrens einzufügen hat, in welchem sie ergeht. Im Vorverfahren entscheidet darüber der Untersuchungsrichter, und dann ist die Beschwercleinstanz clas Landgericht. Im Stadium der Vorbereitung der Hauptverhandlung und in dieser selbst entscheidet das erkennende Gericht; die Beschwerdeinstanz wäre daher das Oberlandesgericht, insofern es sich um Fälle handelt, über die das Landgericht in erster Instanz erkennt. Bezüglich der Sachverständigen selbst ist darüber kein Zweifel: von den Parteien dagegen können die i n der Hauptverhandlung ergehenden Entscheidungen nur durch Revision angefochten werden ; bezüglich der bei Vorbereitung der Hauptverhandlung ergehenden ist wohl denjenigen beizupflichten, welche sie zu den „Entscheidungen der erkennenden Gerichte, welche der Urtheilsfällung vorausgehen" (§ 347), zählen und sie also den i n der Hauptverhandlung gefällten gleichstellen 16 . b. Dem abgelehnten Richter steht kein Rechtsmittel offen, wohl aber dem abgelehnten Sachverständigen nach § 346 Abs. 1 die Beschwerde. c. Gegen die Zurückweisung der Ablehnung eines Richters findet sofortige Beschwerde statt, welche somit an die im § 353 bezeichnete Frist u. s. w. gebunden ist: da das Gesetz die „Fälle der sofortigen Beschwerde" ausdrücklich aufzählt, ist die analoge Anwendung des (Beni 2 a zu § 85), dass der als Sachverständiger abgelehnte über den von ihm bereits vorher amtlich aufgenommenen Befund als „sachverständiger Zeuge" vernommen werden könne. (Vgl. oben § 56 Anm 21.)— S c h w a r z e Bern 4 zu § 74 macht unter Verweisung auf die Protokolle über die Berathung der CPO (S 142 Sitzung 16) auch darauf aufmerksam, dass der Ablehnungsgrund erst nach der Erstattung des Gutachtens entstanden sein kann, in welchem Falle der Benutzung des Gutachtens nichts entgegenstehe; clas ist nun aber allerdings im Strafverfahren nur bis zur Hauptverhandlung richtig, wenn § 249 die Verlesung des Befundes und die erfolgte Ablehnung die Vernehmung des abgelehnten Sachverständigen verhindert. 16 Vgl. vorläufig P u c h e l t Bern 11 zu § 347 und die das. angeführten.

57.

ie Berufung

er Sachverständigen.

§ 28 auf Ablehnung von Sachverständigen nicht zulässig. Es ist daher auch das Gericht an der Abänderung seiner Entscheidung, sie sei nun durch Beschwerde angefochten oder nicht, nicht gehindert. (1. Eben darum kann die Frage der Ablehnung des Sachverständigen in jedem Stadium des Verfahrens neu zur Sprache gebracht und ohne Bücksicht auf frühere Beschlüsse (vgl. Abs. 2 des § 244) entschieden werden. Dadurch erleichtert sich auch die Lösung der Frage, wie das durch die Ablehnung seitens der einen Partei etwa beeinträchtigte Interesse einer andern Partei gewahrt werden könne; f o r m e l l eröffnet sieh für letztere so ein Weg, sich Gehör zu verschaffen. e. In cler Sache aber muss die als berechtigt erkannte Ablehnung sich auch die Gegenpartei und der Mitangeklagte gefallen lassen. 2. Durch die Ablehnung können nur Gründe geltend gemacht werden, welche sich gegen die Unbefangenheit und Unparteilichkeit des Sachverständigen richten; Einwendungen gegen seine Befähigung nehmen zwar nicht die Form der Ablehnung an, es steht aber clen Betheiligten frei, sie vorzubringen, und das Gericht hat sie gewissenhaft zu prüfen. Das gleiche gilt übrigens von Gründen, die der Sachverständige selbst gegen seine Beiziehung im vorliegenden Straffall vorbringt, auch wenn es sich nicht um solche handelt, die ihn berechtigen, Aussage und Mitwirkung zu verweigern. In der österr. Strafprozessordnung 120) heisst es darüber: „Werden erhebliche Einwendungen vorgebracht und haftet nicht Gefahr am Verzuge, so sind andere Sachverständige beizuziehen". V. Den Parteien steht auch eine p o s i t i v e Einwirkung auf die Bestimmung der Sachverständigen zu, und zwar eine doppelte, indem sie entweder Anträge stellen, welche der Richter zu würdigen hat. oder in Ausübung ihres Rechtes selbst entscheidend eingreifen. 1. Ersteres gilt im gesammten Vorverfahren bis zu den Anstalten zur Beschaffung cles Beweisinaterials zur Hauptverhandlung, und auch bei diesen insofern, als cler Angeklagte nicht auf eigene Kosten unmittelbar Sachverständige laden lässt. Einer besonderen Erörterung bedarf hier nur die Stellung der Staatsanwaltschaft im Vorbereitungsverfahren. Es wird nämlich aus § 160 clie Folgerung abgeleitet, dass im Vorbereitungsverfohren clie Sachverständigen, welche der Staatsanwalt benennt, auch vernommen werden müssen, sofern der Antrag nicht gesetzlich unzulässig i s t 1 7 ; allein mit § 160 geht § 164 zu 17

Löwe Beni 3a zu § 73; P u c h e l t das. Bern 3 Abs. 3. — T h i l o , den P u c h e l t für seine Ansicht anruft, sagt Beni 1 das. im Gegentheil, ohne zwischen Voruntersuchung und Vorbereitungsverfahren zu unterscheiden, der Richter sei

698

§ 5.

Die B e u n g

er Sachverständigen.

Gunsten des Beschuldigten parallel, aus welchem ein gleiches Recht für den letzteren nicht abgeleitet wurde 1 8 . Auch folgt weder das eine noch das andere aus den erwähnten Bestimmungen. Es handelt sich für die Staatsanwaltschaft und clen Verdächtigten, innerhalb der Grenzen der erwähnten Paragraphen, um clas Recht, Untersuchungshandlungen zu begehren und daher das durch dieselben zu erreichende Ziel vorzuzeiehnen, nicht aber auch den Richter in clen Details seines Vorgehens zu ihrem ausführenden Organ zu machen; letzteres würde aber geschehen, wenn der Richter bei der nach $ 73 ihm obliegenden Wahl der Sachverständigen nicht blos Anträge anhören und prüfen, sondern denselben unbedingt stattgeben müsste. Auch war jedenfalls im Entwurf die Absicht nicht darauf gerichtet, da die ATertreter der Regierung wiederholt das Gegentheil nachdrücklich betonten 19 und bei der Berathung des § 160 die Tendenz dahin ging, die Prüfungsbefugniss des Amtsrichters, nicht clie Rechte cler Staatsanwaltschaft, zu erweitern. Das Recht der Parteien geht daher im Vorbereitungsverfahren über die Bezeichnung cler Objecte cler Untersuchung nicht hinaus, und nur insofern mit letzterer auch die Persönlichkeit eines bestimmten Sachverständigen untrennbar zusammenhängt, kann von einem Recht auf Vernehmung des von der Partei benannten gesprochen werden (z. B. wenn gegenüber dem Gutachten der vom Richter vernommenen angeführt würde, dass ein bestimmter Sachverständiger in einer anderen Untersuchung dieselbe wissenschaftliche Frage in anderem Sinne beantwortet habe). 2. I n weitergehendem Maasse macht sich das Parteirecht bei der nicht an den Kreis der vorgeschlagenen Personen gebunden. „Ob aber überhaupt Sachverständige zu vernehmen oder nicht, hängt in dem Verfahren auf Vorbereitung (1er öffentlichen Klage von den Anträgen der Staatsanwaltschaft ab". 18 S c h w a r z e Bern 3 zu § 73; K e l l e r Beni 3 zu § 72. i» Vgl. § 56 Anm 14. Eben bei Berathung des jetzigen § 73 sagte Oberregierungsrath H a n a u e r : „Nach dem Entwurf solle der Sachverständige eine völlig unparteiische Stellung einnehmen und keineswegs einseitig die Belastung des Beschuldigten bezielen. Deswegen solle auch der Staatsanwalt keinen directen Einfluss auf die Ernennung des Sachverständigen haben. Ebenso wenig dürfe von einer Benennung von Sachverständigen von Seite des Beschuldigten die Rede sein". Eine ganz ähnliche Ausführung d e s s e l b e n s. bei H a h n S 1632 (Prot v. 12. Nov. 1876 S 8). Allerdings drang diese Auffassung nicht durch ; ihr ward vielmehr durch Einfügung des § 193 und Annahme des § 244 in seiner jetzigen Fassung entgegengewirkt. ( R e i eli e nsp er g er sagte bei letzterer Gelegenheit, a. a. 0. Prot S 9, H a h n S 1633, die Commission habe sich damit zum französischen Recht in Gegensatz gebracht — vgl. jedoch oben § 40 III). Allein es handelt sich hier um eine Frage, die n i c h t in gleichem Sinne ausdrücklich entschieden ist, und um den Sinn der in diesem Punkte unverändert gebliebenen Regierungsvorlage.

§ 57.

Die Berufung

er Sachverständigen.

Aufnahme eines Augenscheins unter Zuziehung von Sachverständigen geltend (§§ 191, 193, 224; vgl. oben § 39). Hier ist das Recht des Richters, Sachverständige seiner Wahl zuzuziehen, nicht anders als durch die Pflicht, Anträge der Parteien zu würdigen, beschränkt. Allein dem Angeschuldigten ist das weitergehende Recht eingeräumt, dass ausserdem auch die von ihm bezeichneten Sachverständigen, die er nötigenfalls selbst laden lassen kann, zu dem Augensehein zugelassen werden müssen. Die Stellung dieser Sachverständigen zu definirai, unterliegt grossen Schwierigkeiten. Allein aus der Entstehungsgeschichte des Textes (s. oben § 56 Anni 18) muss gefolgert werden, dass diese vom Angeschuldigten berufenen Sachverständigen a l s so 1 che in der Hauptverhandlung vernommen werden und sich die dazu nöthige Anschauung der Gegenstände des Augenscheines und der Vorgänge bei Einnahme desselben verschaffen sollen. Daraus ergiebt sich einerseits, dass ihre Aufgaben und ihre Befugnisse bei Einnahme des Augenscheins und Abgabe des Befundes nicht mit denen der vom Richter bestellten Sachverständigen zusammenfallen (Abs. 2 des § 193), dass sie die Thätigkeit der letzteren nicht behindern können und überhaupt sich auf eine beobachtende Stellung zu beschränken, nicht einmal Anträge zu stellen haben, dass auch eine sofortige Vernehmung derselben nicht stattfindet oder doch nicht stattzufinden braucht. Andererseits aber sind sie nicht etwa sachkundige Gehilfen des Vertheidigers und gleich diesem zur einseitigen Wahrung der Interessen des Beschuldigten berufen und verpflichtet : sondern für die Hauptverhandlung designirte S a c h v e r s t ä n d i g e , und daher auch bei Einnahme des Augenscheines nur zuzulassen, wenn sie als Sachverständige anerkannt und nicht mit Recht abgelehnt sind. 3. Innerhalb der hieniit bezeichneten Grenzen entscheidet auch betreffs Ladung und Vernehmung von Sachverständigen im Hauptverfahren der berechtigte Wille der Parteien über die Persönlichkeit der zu vernehmenden Sachverständigen. Das nähere ist oben in den 40 und 41 erörtert. VI. Eine andere Schranke findet die Willkür cles Gerichtes und der Parteien in der s e l b s t ä n d i g e n B e r e c h t i g u n g d e r cles i g n i r t e n S a c h v e r s t ä n d i g e n . Was zunächst betrifft 1. die V e r p f l i c h t u n g , cler Berufung zum Sachverständigen Folge zu leisten, so haben die Gesetze auch hier die Analogie cles Zeugenbeweises vor Augen, die aber nicht vollständig zutrifft, was jene zu grösserer Zurückhaltung veranlasst 20 . Die Erforschung der Siehe M i t t e r m a i e r , Beweis S 200 VII, Strafverfahren I 555 und im GS 1854 II 1. (Hier ist namentlich darauf hingewiesen, dass die Thätigkeit des

700

§ 5.

Die B e u n g

er Sachverständigen.

Wahrheit ist hier nicht wie beim Zeugniss unbedingt von der Persönlichkeit des Zeugen abhängig 2 1 ; auch wird vom Sachverständigen mehr als vom Zeugen gefordert, der nur auszusagen hat, was er weiss 2 2 , während jener sich oft erst die Kenntniss dessen, Avas er aussagen soll, und mitunter in einer für ihn sehr störenden, ja einen hohen Grad von Aufopferung fordernden Weise, verschaffen soll ; endlich hat der Zwang schon beim Zeugen seine sehr missliche Seite, noch mehr aber beim Sachverständigen, bei dem es sich nicht blos um die Erfüllung der Pflicht zur Wahrhaftigkeit, sondern oft um eine Leistung von wissenschaftlichem Werth und um ein kaum controlirbares Urtheil handelt. Allein sehr oft ist der individuelle Sachverständige in der That unentbehrlich, theils weil ein anderer nicht rechtzeitig beigezogen werden kann, theils weil es sich um die Fortsetzung der begonnenen Thätigkeit des Sachverständigen (Aussage in der Hauptverhandlung über die vor derselben in dieser Eigenschaft gemachten Wahrnehmungen) 23 handelt. Aber wenn selbst der einzelne Sachverständige nicht unentbehrlich ist, so ist es doch nicht ausführbar, die Strafbehörden dem Belieben des einzelnen anheim zu geben, weil sonst Fälle eintreten könnten, wo niemand sich zu cler ja doch unentbehrlichen Mitwirkung als Sachverständiger herbeilässt 2 4 . — Die deutsche und die österreichische Strafprozessordnung 25 haben daher auch eine gleich der des Sachverständigen sogar mit Lebensgefahr verbunden sein kann.) P l a n c k S 229, der den Zwang prineipiell negirt; ebenso Z a c h a r i ä , Handbuch I I 222. Geyer in HH I 241 ff. und die bei beiden ( Z a c h a r i ä Anm 17, Geyer S 242 Anni 1 und 2) angeführte Literatur. M o r i n , Repertoire sub verbo: „Expertise" Nr 2. B o n n i e r § 126, vol. I ρ 148. 149. M a n g i η Nr 86, vol. I ρ 143. B o r s a n i e C a s o r a t i § 704, vol. II ρ 364. M e l zu Art. 154 u. 165 des italienischen Begol. di procedura penale. 21 „Auf die U n e n t b e h r l i c h k e i t des Zeugnisses zur notwendigen Constatirung der Thatsaehen ist die allgemeine Zeugnisspflicht zu stützen, nicht auf den zu weit reichenden Grund, class jeder Staatsbürger schuldig sei, für die Erreichung des Staatszweckes thätig zu sein". Z a c h a r i ä , Handbuch II 181 Anm 1. 22 Vgl. H e i n z e im GS 1862 S 452 ff. und oben § 47 I. II. 23 Allerdings wenn man in diesem lalle die Aussage als die eines sachverständigen Zeugen behandelt, ist die Anwendung des Sachverständigenzwanges nicht nöthig. S. oben § 56 Anm 21. 24 Diesen Gesichtspunkt stellen die Mot zu §§ 75. 76 (S 60) voran. 25 § 119 Abs. 2 stellt lediglich eine Strafbestinnnung für den Fall auf, dass „der Sachverständige der Vorladung nicht Folge leistet oder seine Mitwirkung beim Augenschein verweigert". Bezüglich des Ausbleibens von der Hauptverhandlung steht der Sachverständige dem Zeugen gleich (§ 242). Vgl. österr. StPO v. 1853 §79, avo auch die Verweigerung des Gutachtens mit Strafe belegt war, und hiezu R u l f I 160. S. ferner M a y e r , Handbuch 1 519. 520, I I Beni 39 zu §§ 119. 120. U11 m a η η § 78 S 381. 382.

§ 57.

Die Berufung

er Sachverständigen.

Zeugen erzwingbare Pflicht, sich als Sachverständigen verwenden zu lassen, aufgestellt. Die e r s t e r e beschränkt die Pflicht, „cler ErnennungFolge zu leisten", auf diejenigen, welche a. „zur Erstattung von Gutachten cler erforderten Art öffentlich bestellt sind", oder b. „die Wissenschaft, die Kunst oder das Gewerbe, deren Kenntniss Voraussetzung der Begutachtung ist, öffentlich zum Erwerbe" ausüben, oder e. „zur Ausübung derselben öffentlich bestellt oder ermächtigt" sind, oder d. sich „zur Erstattung des Gutachtens" „vor Gericht bereit erklärt" haben (§ 77). Zur näheren Bestimmung sei bemerkt: 1. Das Gesetz verlangt, dass der „Ernennung Folge geleistet" werde; das scheint auf clen vom Richter ernannten hinzuweisen; es liegt aber in cler Natur cler Sache, dass überall, AVO eine Ladung erfolgen kann, diese unter öffentlicher Autorität geschieht und einen den Geladenen verbindenden richterlichen Befehl vorstellt 2 6 . Dafür spricht auch cler Umstand, dass die Bestimmung aus cler Civilprozessordnung und den über diese1 gepflogenen Berathungen hervorging. Es lässt sieh nicht leugnen, dass dieses in Privathandè gelegte Recht missbraucht werden kann, und es wurde in cler Reichstagscommission bestätigt, dass dasselbe missbraucht· wurde, wo es schon bestand 2 7 ; und selbst wo es sich nicht um bewussten Missbrauch handelt, ist von cler Partei nicht clie gleiche billige Abwägung ihrer Interessen und der der Sachverständigen zu erwarten, wie von clem Richter (s. oben III). Die Geldfrage allein reicht auch zum Schutz nicht aus. Wohl aber bietet der zwreite Satz des § 76, wonach das Gericht nach seinem Ermessen den Sachverständigen von seiner Pflicht entbinden kann — eine Bestimmung, die auf vom Richter berufene Sachverständige nicht beschränkt ist, Anhaltspunkte, um eine Abhilfe zu erlangen 28 , deren Νothwendigkeit die Motive anerkennen und auf deren Berücksichtigung durch den Richter sie rechnen 2 9 . So wie die Beeinträchtigung der Privatinteressen cles Sachverständigen einen Grund abgiebt, ihn zu befreien, so kann dies auch bezüglich cler öffentlichen Interessen eintreten, welche durch allzuhäufige oder zur Unrechten Zeit in Anspruch genommene Verwendung eines öffentlichen Beamten als Sachverständigen leiden können (§ 76 Abs. 2 — vgl. Motive S 60). Daher kommt cler betheiligten Behörde ein „Einspruchsrecht", wie die Motive sagen, 2e

Löwe Beni 1 zu § 75; P u c h e l t Bein 2 daselbst. 2S Prot S 83. P u c h e l t Bern 2 Abs. 2 zu § 76. 29 S. oben Anni 24. L ö w e Bein 4 zu § 76; das. Bern 5 über den Unterschied d i e s e r Verletzung des öffentlichen Interesse und der Collision mit der Pflicht der Amtsverschwiegenheit. 27

702

5.

Die B e u n g der Sachverständigen.

zu, und auch dies gilt ohne Unterschied für die verschiedenen Alten der Berufung der Sachverständigen. 2. Das „Folgeleisten" umfasst nicht blos das Erscheinen in Gemässheit der Ladung, sondern die Erfüllung der an den Sachverständigen aus diesem Anlass gestellten Anforderungen, die Anwesenheit und Mitwirkung bei cler Untersuchung und die Ablegung der Aussage. 3. Die Bestimmung des § 75 und daher auch cles § 77 findet nur auf individuell berufene Sachverständige Anwendung, nicht auf Fachbehörden oder Collectivpersonen und nicht auf deren Mitglieder, insofern es sich um die Mitwirkung zum Collectivgutachten handelt: hier sind die Einrichtungen und die Geschäftsordnung der fraglichen Collectivperson maassgebend. 4. Die ö f f e n t l i c h e B e s t e l l u n g kommt hier nicht blos vermöge der unmittelbar durch ihre Annahme übernommenen Pflichten, sondern als Aequi valent cler anderen im § 75 aufgestellten Merkmale in Betracht; die Verpflichtung, cler Ernennung Folge zu leisten, beschränkt sich daher nicht auf die Fälle, in welchen jene Pflichten eintreten (also z. B. bei einem für einen bestimmten Bezirk bestellten und besoldeten Gerichtsarzt nicht blos auf die Fälle, für welche er vermöge dieses Verhältnisses bestellt ist, sondern auch auf Fälle gleicher Ait, clie sich ausserhalb cles Bezirkes zutragen) 30 . Allerdings kann mit der Aufforderung, sich an einen entlegeneren Ort zu begeben, eine grosse und unbillige Belästigung verbunden sein, gegen welche die entgegengesetzte Auslegung Schutz gewährt ; allein dieses Schutzes bedürfen auch die anderen im § 75 erwähnten Personen, und sie finden ihn im zweiten Satz des § 76 Abs. 1 : in den hier besprochenen Fällen tritt auch noch Abs. 2 daselbst hinzu. 5. Dass die Erwähnung des „Gewerbe" hier nicht die specifische Bedeutung hat, clie demselben die Gewerbeordnung beilegt, ergiebt sich aus der Danebenstellung cler übrigen Merkmale. Als öffentliche Ausübung der Wissenschaft zum Erwerbe sieht V o i t u s auch die Lehrthätigkeit an öffentlichen Schulen unci die Thätigkeit solcher Schriftsteller an, deren WTerke „verkäuflich" sind. Allein A u s ü b u n g einer Wissenschaft steht zur theoretischen Bearbeitung im Gegensatze. 6. Der zweite Absatz des § 76 handelt von demjenigen, welcher sich zur Erstattung des Gutachtens vor Gericht bereit erklärt hat. Hier entsteht die Frage, ob dieses „Bereiterklären" nur angesichts eines bestimmten Falles maassgebend sei, oder ob auch eine allgemeine 30

And. Mein. P u c h e l t Bern 3 zu § 75.

§ 57.

Die Berufung

er Sachverständigen.

Erklärung genüge 31 . Das legislative Motiv unifasst allerdings auch Fälle der letzteren A r t ; denn wenn es gleich richtig ist, dass Weiteningen und Schädigungen hauptsächlich dann entstehen können, wenn der Sachverständige seine Thätigkeit bereits begonnen h a t 3 2 , so kann doch eine kostbare Zeit verloren gehen, wenn die Ladung im Vertrauen auf eine allgemeine Zusage erfolgt und vergeblich bleibt. Für die strictere Ansieht scheint mir jedoch trotzdem der Ausdruck: „vor Gericht" zu sprechen, da die deutsche Gerichtsverfassung den Gerichten eine administrative Thätigkeit nur in sehr beschränktem Maasse einräumt und eine gerichtliche Thätigkeit als solche immer nur angesichts einer b e s t i m m t e n Rechtssache denkbar ist. somit auch nur so eine Erklärung „vor Gericht". Ob übrigens die Erklärung unmittelbar oder mittelbar erfolgt (z. B. in einer zur Vorlage ans Gericht bestimmten, der Partei gegenüber abgegebenen Aeusserung), ist gleich giltig; es kann daher allerdings auch die Staatsanwaltschaft sich die von ihr im Vorbereitungsverfahren beigezogenen Sachverständigen durch Anwendung dieses Mittels sichern. W i d e r r u f l i c h ist die Erklärung nicht (soweit man der Ansicht beistimmt, dass § 75 Abs. 2 nur specielle Fälle vor Augen hatte); die etwa für eine Entbindung sprechenden Gründe geltend zu machen, hindert sie nicht. 7. Die hier erwähnte Verpflichtung des Sachverständigen wird durch § 76 eingeschränkt, welcher in Bezug auf das Recht der Verweigerung des Gutachtens dieses dem Zeugniss gleichstellt 3 3 . Es sind also in dieser Hinsicht die Bestimmungen der §§ 51—55 inaassgebend, soweit überhaupt gleiche Voraussetzungen bei Sachverständigen eintreten können 3 4 . Insbesondere findet auch der letzte Absatz des § 51 31

Der letzteren Ansicht ist P u c h e l t a. a. 0. Bern 5 und D a l c k e Beni 2 zu S 75, der ersteren Geyer in HH I 242. 243; L ö w e Bern 7 zu § 75; V o i t u s Bern 8 das. (Das hier aus der Vergleiehung mit dem Plural bei Erwähnung der Gutachten in Abs. 1 gezogene Argument beweist nichts, da dort der Singular keinen Sinn hätte.) 32 L ö w e Beni 6 das. hebt dies hervor, obgleich nach seiner Auffassung des § 85 in solchen Fällen der Zeugenzwang zur Verfugung stehen und wohl zumeist ausreichen würde. 33 Die österr. StPO s c h l i e s s t in § 120 alle Personen aus, welche in einem bestimmten Untersuchungsfalle als Zeugen nicht vernommen oder nicht beeidet werden dürfen oder welche zu dem Beschuldigten in einem die Befreiung von der Zeugnisspflicht begründenden Verhältniss stehen. Die Fälle der Verletzung der Berufs- oder Amtsverschwiegenheit, soweit sie clas österr. Gesetz für Zeugen anerkennt, und die dem § 51 d. StPO analogen Fälle sind damit bereits getroffen. Ein besonderes Recht der Verweigerung der Aussage ist dem Sachverständigen dagegen nicht eingeräumt. 34 Geyer a. a. 0. S 243 Nr 5 und Anm 6. Die Bemerkung L o w e s , gegen welchen letztere Anmerkung gerichtet ist, blieb in der zweiten Ausgabe weg. Uebrigens

704

§ 58.

Die Beeidigung der Sachverständigen.

Anwendung, sowohl bezüglich der Verpflichtung zur Belehrung, als bezüglich des Rechtes des Sachverständigen, den Verzicht auf das Recht, sich der Aussage zu entschlagen, auch während der Vernehmung zu widerrufen; ebenso sind die Folgen der vorgefallenen Form Widrigkeiten nach den gleichen Grundsätzen wie bei Zeugen zu behandeln. Zu den Gründen, welche den Sachverständigen seiner Pflicht entbinden, gehört auch die Nichtbeobachtung der Vorschrift des § 219 Abs. 2 bezüglich der bei unmittelbarer Ladung darzubietenden oder sicherzustellenden Entschädigung (s. oben S 40 Λ7 und V I Xr 4). $ 58.

Die B e e i d i g u n g der

Sachverständigen.

I. Gleich dem Zeugen muss auch der Sachverständige seine Aussage mit einem E i d e bekräftigen (§ 79 Abs. I ) 1 ; diese Regel, von welcher das Gesetz beim Zeugenbeweis Ausnahmen machen muss, ist hier eine ausnahmlose. Dagegen ist hier die ausdrückliche eidliche Betheuerung von Fall zu Fall entbehrlich, wenn „der Sachverständige für die Erstattung von Gutachten der betreffenden Art im allgemeinen beeidigt" ist (§ 79 Abs. 2). Das Gesetz fordert nicht, dass dieser Eid vor Gericht abgelegt sei, wohl aber, dass er auf das im vorliegenden Falle abzugebende Gutachten sich beziehe. Ist dies zweifellos der Fall, dann „genügt die Berufung auf den geleisteten Eid". Diese Berufung kann sowohl darin bestehen, dass der Richter den Sachverständigen auffordert, zu erklären, er nehme die Aussage auf den abgelegten E i d , als auch darin, dass der Richter erklärt, die Aussage werde in diesem Sinne hingenommen, und der Sachverständige hierauf aussagt2 ; sie ist aber in beiden Fällen im Protokoll zu eonstatiren — wird der Arzt, welcher in den Fall kommen soll, sich auf Z. 3 des § 52 zu berufen, kaum anders denn als sachverständiger Zeuge vernommen werden können. Geyer führt § 53 h i e r nicht mit an, erkennt aber dessen Anwendbarkeit an, S 244 Nr 7. 1 M i t t e r m a i e r , Beweis S 200. D e r s e l b e , Strafverfahren I 553. Gross I I 36. 37. H a a g e r im GS 1871 S 95. P e y r e r in Haimerls Mag V 3 u. 219. H é l i e , Instruct. § 646 IV, vol. V I I I ρ 780 ss., éd. Brüx. Nr 5027. R o l l a n d de V i 11 a r g u e s zu Art. 44 C. d'Instr. Nr 13 ss. T r é b u t i e n I I 410. Bors ani e C a s o r a t i §§ 706. 707. 1533, I I 366. 367 IV 407. Geyer in HH I 248 if. Ob auf den Sachverständigeneid, wo er gesetzlich gefordert wird, verzichtet werden könne, entscheidet sich nach denselben Grundsätzen, wie der \ 7 erzicht auf den Zeugeneid (s. darüber oben § 51 YIII). Vgl. übrigens speciell bezüglich des Sachverständigeneides H é l i e , Instr. § 367, vol. V ρ 660. 661. R o l l a n d Art. 44 Nr 43. 2 Vgl. österr. StPO § 121, welche im gleichen Falle vorschreibt, es seien die „schon im allgemeinen beeidigten" Sachverständigen „an die Heiligkeit des von ihnen abgelegten Eides zu erinnern". Die im Text ausgesprochene Ansicht beruht

§ 58.

Die Beeidigung der Sachverständigen.

und kommt der Wirkung nach der Erneuerung des Eides gleich; wo diese nicht möglich wäre, ist auch jene unzulässig. Es ist nicht blos das Recht des Richters, sich damit zu begnügen; auch das des Sachverständigen, dass dies geschehe 3 ; und das öffentliche Interesse, das sich unnöthiger Häufung von Eidesformeln widersetzt, verlangt es ebenfalls. Aber allerdings ist der Procedurakt nicht ungiltig, wenn das mehrere gefordert und geleistet wird, wo das mindere genügt hätte. I I . Der Eid des Sachverständigen ist nach § 79 darauf gerichtet : „dass er das von ihm geforderte Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstatten werde". Das Gesetz gebraucht den Ausdruck „Gutachten" in der Regel in dem weiteren Sinne, in welchem er auch den „Befund" mitumfasst; die Worte enthalten also auch die Betheuerung der Wahrheit der Angaben über die als Sachverständiger gemachten Wahrnehmungen und der Gewissenhaftigkeit des Vorganges bei der zum Zweck der Abgabe des Gutachtens vorgenommenen oder vorzunehmenden Untersuchung 4 . Die Formel ist offenbar nur darum so knapp gehalten, weil sie für alle Fälle der Vernehmung von Sachverständigen unverändert passen soll 5 . Vergleicht man diesen Eid mit dem des Zeugen, so zeigt sich, dass ersterer cler umfassendere ist, solange es sich um thatsächliche Angaben handelt, die unter clen Begriff des einen Theil des Gutachtens im weiteren Sinne bildenden Befundes gebracht wrerclen können; dagegen deckt cler Saehverständigeneid nichts, Avas darüber hinausgeht, Der Zeugeneid muss also n e b e n dem Sachverständigeneid darauf, dass § 79 deutsche StPO von „Berufung auf den geleisteten Eid" spricht und nicht wie § 66 von „versichern lassen". S. dagegen RGE v. 10. Dec. 1880 Rspr I I 624: L ö w e Bern 14 zu § 79. 3 P u c h e l t Bern 4 zu § 79. Geyer a. a. 0. S 249; die daselbst bekämpfte entgegengesetzte Ansicht L o w e s hat dieser aufgegeben, Bern 12 zu § 79. 4 Die altherkömmliche Formel lautet: se legaliter et bona fide deposituros super re, super qua deponunt (s. Gross I I 36 Anm 19), die im § 121 Abs. 2 der österr. StPO vorgeschriebene : „dass sie den Gegenstand des Augenscheins sorgfältig untersuchen, die gemachten Wahrnehmungen treu und vollständig angeben und den Befund sowie ihr Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen und nach den Regeln ihrer Wissenschaft oder Kunst abgeben wollen" ; die äussere Form der Beeidigung ist hier dieselbe wie bei Zeugen, Ges v. 3. Mai 1868, RGBl Nr 33. In F r a n k r e i c h schwören die Sachverständigen: „de faire leur r a p p o r t et de donner leur avis en leur honneur et conscience". Die Formel des i t a l i e n i s c h e n Eides (obgleich erst in dem cler Hauptverhandlung gewidmeten Abschnitt, Art. 298, bestimmt) lautet: di bene e fedelmente procedere nelle loro operazioni e di non avere altro scopo che quello di far conoscere ai giudici la pura verità. 5 Vgl. clie Bemerkungen von S c h w a r z e zu § 79 Nr 2 und Geyer a. a. 0. S 249 Anm 10. Binding, Handbuch. IX. 4. I :

G l a s e r , Strafprozess.

I.

45

706

§ 58.

Die Beeidigung der Sachverständigen.

gefordert werden, wenn der Sachverständige auch über Thatsaehen aussagen soll, die er nicht kraft der ihm übertragenen amtlichen Untersuchung wahrgenommen hat, gleichviel ob der Gegenstand des Zeugnisses dasselbe als ein sachverständiges erscheinen lässt oder nicht. (Wenn man die oben § 56 V Nr 3 aufgestellte Ansicht über den Begriff der „sachverständigen Zeugen" nicht theilt, muss man allerdings den Eid in der Hauptverhandlung auf das Gutachten im engeren Sinne beschränken und die Befundabgabe immer unter den Zeugeneid stellen.) Um gekehrt muss der sachverständige Zeuge den Eid als Sachverständiger leisten, sobald er mehr geben soll, als eine den Befund ersetzende Aussage, sobald von ihm ein Gutachten im engeren Sinne gefordert wird. Es ist richtig, dass die Grenze nicht immer leicht zu ziehen ist und dass daher einzelne Bemerkungen und Fragen vorkommen können, welche das Gebiet cler Beurtheilung streifen, wie dies ja auch bei der Vernehmung eines gewöhnlichen Zeugen cler Fall sein kann. Allein sobald es klar ist , dass der Aussagende ein Gutachten im engeren Sinne abgiebt, bedarf es unbedingt der Stellung desselben unter den Sachverständigeneid. Die beiden Eidesformeln können natürlich auch miteinander verschmolzen werden. Darüber aber, welche angewendet wurde, darf clas Protokoll keinen Zweifel lassen 6 . 6

Die f r a n z ö s i s c h e Praxis bezüglich des gegenseitigen Verhältnisses des Experten- und des Zeugeneides ist schwankend, aber die Tendenz vorherrschend, die Vernehmung in der Hauptverhandlung unter Zeugeneid zu stellen, wenigstens sofern es sich nicht um eine Expertise handelt, die erst in der Hauptverhandlung angeordnet worden: man nimmt sogar r e i n e Gutachten im engeren Sinne unter Zeugeneid entgegen. Es fehlt aber auch nicht an Entscheidungen, welche von dem über seine früheren Operationen in der Hauptverhandlung aussagenden den Experteneid fordern, ja selbst die Berufung auf den vor Beginn cler Operationen abgelegten Eid für ausreichend erklären. Die reichhaltigste Zusammenstellung bei R o l l a n d Art. 144 Nr 23—43, A. 317 Nr 57—63. Aehnlich ist es in I t a l i e n vorgekommen, dass der Mailänder Cassationshof (5. Jan. 1862) Nichtigkeit nicht annahm, als der im Vorverfahren beeidete Sachverständige, in die Hauptverhandlung berufen, um Aufklärungen (darüber) zu ertheilen, unter (einem mangelhaften) Zeugeneid vernommen wurde. Im übrigen wird dort in bewusstem Gegensatz gegen Frankreich darauf gesehen, dass die für Sachverständige vorgezeichnete Eidesformel angewendet werde, der Sachverständigeneid kann aber den Zeugeneid ersetzen; s. B o r sani e Cas o r a t i §§ 706. 707; M e l bei Art. 154 u. 298 Regol. di proc, pen. — Bezüglich der d e u t s c h e n StPO s. noch P u c h e l t Bern 3 Abs. 3 zu § 79, Beni 2 zu § 82; D a l e k e Bern 3 zu § 79; K e l l e r Beni 3. 4 das.; S c h w a r z e Bern 3 u. 4 zu § 85; RGE v. 29. April 1880 Rspr I 697 if. — L ö w e Beni 3a zu § 85 sucht vergebens gegen die Consequenzen seiner Auffassung der sachverständigen Zeugen anzukämpfen. P u c h e l t Beni 3 zu § 85 geht dagegen so weit, durch den Sachverständigeneid überhaupt nur das „Gutachten" im engeren Sinne decken zu lassen, und dies scheint auch das RGE v. 8. Mai 1880 Entsch I I 153 zu thun, das

§ 58.

707

Die Beeidigung der Sachverständigen.

III. Was den Zeitpunkt der Beeidigung betrifft, so haben die meisten Gesetze vor Augen, dass der wichtigste Theil cler Aufgabe der Sachverständigen und derjenige, wobei von ihrer Gewissenhaftigkeit am meisten abhängt, die an clen Augenschein sich anschliessende oder die denselben ersetzende sachkundige Untersuchung cler sachlichen Beweismittel ist und dass, wreil die Wiederholung derselben häufig unmöglich, oder doch nicht beabsichtigt ist, der Schwerpunkt der Beweisaufnahme in diesen Augenblick fallt. Sie fordern daher den Sachverständigeneid schon v o r dem Beginn cler Thätigkeit der Sachverständigen und a l l e n f a l l s die Wiederholung des Eides in der Hauptverhandlung 7 . Die deutsche Strafprozessordnung geht aber auch hier davon aus, dass cler Schwerpunkt cler Beweisaufnahme in die Hauptverhandlung falle; sie verlangt den Eicl also 1. n i c h t vor der Untersuchung, sondern nur „vor der Erstattung des Gutachtens", womit jedoch clie frühere Beeidigung um so weniger ausgeschlossen sein kann, weil ja selbst eine allgemeine Beeidigung genügt 8 . 2. Weiter verlangt § 79, dass die Beeidigung auch im Vorverfahren erfolge, da sie ja cler Abgabe des Gutachtens vorhergehen soll. Allein dem Wortlaut des § 79 steht die Bestimmung des § 65 gegenüber, nach welcher die Beeidigung cler Zeugen in der Begel erst in cler Hauptverhandlung erfolgt, niemals aber im Vorbereitungsverfahren. Ob diese Bestimmung vermöge § 72 auch auf Sachverständige Anwendung finde, darüber liessen sich unter Hinweis auf die „abweichende Bestimmung" des § 79 Zweifel erheben. Da indess aus clen anderweitigen Bestimmungen der Strafprozessordnung hervorgeht, dass in cler Hauptverhandlung der Befund ebensowenig als das Gutachten abgelesen werden darf (§ 249), dass die Sachverständigen auch über ersteren daselbst mündlich zu berichten haben und in der Hauptverhandlung selbst dann zu beeiden sind, wenn sie in es als das correcte bezeichnet, dass die Obducenten in der Hauptverhandlung Zeugen- und Sachverständigeneid schwören, freilich aber von der Vernichtung absieht, weil letzterer bezüglich des Befundes ersteren ersetze. (Umgekehrt Hess das Erkenntniss des Berliner OTr v. 28. März 1862 ORspr I I 328 den Sachverständigen- durch den Zeugeneid ersetzen.) 7 S. z. B. Art. 44 des Code d'Instr. crini., Art. 154 der italienischen StPO, welche beide den Eid im Vorverfahren und vor Beginn der Thätigkeit fordern. Die österr. StPO § 121 verlangt, dass sie „vor der Vornahme des Augenscheins" erfolge. In der Hauptverhandlung sind dort Sachverständige, welche den Eid bereits abgelegt haben, an die Heiligkeit desselben zu erinnern (§ 247). 8 L ö w e Bern 4 zu § 79. Clever a. a. 0. S 249. 45*

708

§ 58.

Die Beeidigung der Sachverständigen.

der Voruntersuchung beeidet wurden : so verliert der in der Voruntersuchung abgegebene Befund jene entscheidende Bedeutung, welche es unbedingt nöthig machen müsste, dass er nur unter Eid abgelegt wird9. Von der Begel, dass die Beeidigung der Zeugen im Vorverfahren zu unterbleiben habe, macht § 65 eine Ausnahme, welche vermöge des § 72 auch auf Sachverständige Anwendung findet, Da im Vorverfahren der Richter die Sachverständigen auswählt, so wird er dabei auch darauf Bedacht nehmen, die dort erwähnten Ausnahmefälle nicht zu schaffen; er wird also insbesondere nicht Sachverständige wählen, deren spätere Vernehmung oder Beeidigung mit Schwierigkeiten verbunden oder voraussichtlich unmöglich sein würde, und noch Aveniger solche, bei denen es erst einer besonderen Pression bedürfte, um eine wahrheitsgemässe Aussage zu erlangen. Es können aber die im § 65 erwähnten Umstände erst später bemerkbar werden, und dann ist der Fall nachträglicher Beeidigung gegeben, namentlich wenn die Aussage des Sachverständigen unersetzbar ist. Ueberdies kann unter besonders dringenden Verhältnissen selbst die Beiziehung eines Sachverständigen, cler voraussichtlich später nicht vernommen werden kann, nöthig sein; ζ. B. wenn ein durchreisender berühmter Arzt bei der Hand, ein anderer Sachverständiger aber nicht rasch genug zu erreichen ist. 3. Während § 60 von der Regel cler der Vernehmung vorausgehenden Beeidigung der Zeugen Ausnahmen „aus besonderen Gründen" zu machen gestattet, findet sich eine ähnliche Bestimmung in dem die Sachverständigen betreffenden siebenten Abschnitt nicht; und es ist daher streitig geworden, ob sie kraft des § 72 dennoch auch hier gelte. Das letztere hatte V o i t u s in seinem Commentar behauptet; in seinen „Controversen" nimmt er diese Ansicht zurück. S c h w a r z e , der als auf derselben Seite stehend angeführt wird, sagt das G eg e n t h e i l : „der Voreid ist hier unbedingt vorgeschrieben; es ist jedoch zulässig, dass der Sachverständige nachträglieh clen Eid leistet". L ö w e 9

L ö w e Bern 2 zu § 79; and. Mein. Geyer a. a. 0. S 250. Obgleich mit letzterem de lege ferenda einverstanden, und überdies die redactionelle Sonderbarkeit nicht verkennend, die darin liegt, dass in einem allen Theilen des Verfahrens geltenden Abschnitt eine Anordnung enthalten ist, die kaum je im Vorverfahren Anwendung finden kann, muss ich doch gegen Geyers Argument: „Der Richter kann nicht ins Blaue hinein inquiriren" bemerken, dass es ganz ebenso gut auf den Zeugenbeweis passt und dass die Annahme der unbedingten Nullität des unbeeidigten Gutachtens eben auf der dadurch erst zu beweisenden Behauptung beruht·, dass § 65 nicht analog auf Gutachten anzuwenden sei.

§ 58.

Die Beeidigung der Sachverständigen.

erklärt den Nacheid für unzulässig, weil § 79, abweichend von den §§ 60 und 61, eines Nacheides nicht erwähnt und eine „assertorische" Eidesnorm nicht aufstellt; es bleibe daher, wenn bei einer im Vorverfahren erfolgenden Vernehmung eines Sachverständigen die Nothwendigkeit, ihn schon jetzt zu beeidigen, sich erst nach Abgabe des Gutachtens herausstellt, nichts übrig, als nach erfolgter Eidesleistung die Vernehmung zu wiederholen 10 . Es scheint zunächst bei stricter Auslegung, dass § 60 deshalb ausser Betracht zu bleiben habe, weil der dort behandelte Gegenstand, der Zeitpunkt der Beeidigung, im § 79 geregelt, und zwar, da hier keine Ausnahme gemacht wird, a b w e i c h e n d geregelt i s t 1 1 . Das ist auch sachlich begründet, da die Voraussetzungen, von welchen § 60 ausgeht, bei Sachverständigen nicht wohl eintreten können. Beim Zeugen muss sich sehr oft erst aus der Vernehmung ergeben, ob das, was er aussagt, von irgend einem Werth ist; beim Sachverständigen soll Gegenstand der Aussage und Verlässlichkeit des Aussagenden schon vor der Vernehmung feststehen. Es ist der Fall, wo ein ausreichender Grund vorhanden wäre, die Beeidigung des Sachverständigen bis nach seiner Vernehmung a u s z u s e t z e n , in der That nicht denkbar und dazu keine Ermächtigung vorhanden. Wohl aber ist (und mehr behauptet auch S c h w a r z e nicht) kein Grund vorhanden, die Beeidigung nicht nachtragen zu lassen, wenn sich dies — nachdem sie früher gesetzmässig unterblieben — später als nöthig erweist. Der Fall kann aber nicht blos im Verfahren ausser der Hauptverhandlung eintreten, wobei freilich die Anwendung des § 222 aus a n d e r e n Gründen zu einer wiederholten Vernehmung nöthigen kann, sondern auch in der Hauptverhandlung selbst, wenn nämlich bei cler Vernehmung eines sachverständigen Zeugen in unerwarteter Weise die Grenzen cler Zeugenvernehmung überschritten und Aussagen gemacht werden, die unter clen Gesichtspunkt 10

V o i t u s Bern 1 zu § 79. D e r s e l b e , Controversen I 118 ff. L ö w e Beni 3 zu § 79. P u c h e l t Bern 2 daselbst. D o c h o w S 175 Anm 13 (wo die Ansicht L o w e s irrig dargestellt ist). Geyer a. a. 0. S 249 hält selbst im A'orverfahren jedes Gutachten für unzulässig, dessen Ablegung die Beeidigung nicht voranging. 11 Die Veränderung in der Stellung und Fassung des jetzigen § 72, welche V o i t u s , Controversen S 122 ff. erörtert, ist für diese Stellung der Frage ganz einflusslos. Man kann wohl als ausgemacht ansehen, dass man die im Text erörterte Frage sich bei Abfassung der Strafprozessordnung gar nicht gestellt hat. — Auf den Mangel einer „assertorischen" Formel im § 79 ist wohl auch kein Gewicht zu legen; die Mühe, eine solche aufzustellen, hätte man sich schon in § 61 leicht ersparen können, und nachdem dort das Beispiel der Umwandlung gegeben, war eine Wiederholung der Procedur in § 79 unter allen Umständen überflüssig.

710

§ 58.

Die Beeidigung der Sachverständigen.

des Gutachtens fallen. Es darf daher die A u s s e t z u n g der Beeidigung des Sachverständigen nur zur Befolgung der im § 65 Abs. 1 ertheilten Vorschrift eintreten; die Nachtragung des Sachverständigeneides ist aber zulässig, wenn die Notwendigkeit derselben erst später hervortritt. 4. Ist der Eid im Vorverfahren oder sonst in einem früheren Stadium des Prozesses abgelegt, so findet die Bestimmung des § 66 analoge Anwendung: die Wiederholung kann in demselben Vorverfahren und in demselben Hauptverfahren durch Berufung auf den abgelegten Eid ersetzt werden, nicht im Hauptverfahren durch Berufung auf den im \'orverfahren abgelegten u. s. w. (s. oben § 51 I V Nr 3 b. c), was hier um so auffallender ist, weil dem bleibend bestellten Sachverständigen gestattet wird, sich auf einen viel weiter zurück liegenden Eid zu berufen 1 2 . IV. Die M o d a l i t ä t e n der Eidesleistung schliessen sich schon der Natur der Sache nach den für Zeugen geltenden an (§§ 59—64) ; in der deutschen StPO beruht dies überdies auf der Vorschrift des S 72. Weder das eine noch das andere scheint mir aber dafür zu sprechen, dass die Sachverständigen gleich den Zeugen e i n z e l n zu vereiden seien. Vom Standpunkt der Auslegung muss bemerkt werden, dass § 79 die besondere Bestimmung enthält, welche an die Stelle des § 60 tritt, und dass daher das in letzterem enthaltene, im § 79 fehlende Wort „einzeln" nicht dahin übertragen werden k a n n 1 3 . In der Sache lässt sich nicht verkennen, dass die Thätigkeit cler Sachverständigen bei der Untersuchung eine gemeinschaftliche ist, class clie Abgabe eines gemeinschaftlichen schriftlichen Gutachtens zulässig ist, und es ist daher kein Grund vorhanden, im Falle einer a u s s e r cler 12

Das österr. Recht gestattet jederzeit die Berufung auf den in derselben Sache bereits abgelegten Sachverständigeneid, in der Form der vom Richter ausgehenden „Erinnerung an die Heiligkeit des abgelegten Eides". In Italien bestimmt Art. 300 Reg. eli proc. pen., dass die wiederholte Vereidigung der Sachverständigen in der Hauptverhandlung zu unterbleiben habe und durch die Erinnerung an den abgelegten Eid ersetzt werde, wenn es sich um Umstände handelt, über welche sie früher nicht befragt wurden. Die Praxis hat ferner keinen Zweifel darüber, dass bei wiederholten Vernehmungen in derselben Hauptverhandlung die einmalige Beeidigung überhaupt genügt; s. M e i beim angeführten Art. ρ 176. 177. Die Bestimmung des Art. 300 wird analog auch auf wiederholte Vernehmungen im Vorverfahren angewendet, wobei die Unterscheidung zwischen neuen Gegenständen der Vernehmung und neuer Aufklärung über die früheren oft Schwierigkeiten bereitet und dem Scharfsinn manche Aufgabe stellt. B o r s a n i e C a s o r a t i 1. c. § 707. 13 And. Mein. L ö w e Bern 5 zu § 79 und das RGE v. 8. Mai 1880 Entscli II 153 ff., wonach die Einzelbeeidigung als vorgeschrieben, die Verletzung dieser Vorschrift aber als irrelevant erscheint.

§ 59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

711

Haupt-Verhandlung stattfindenden Beeidigung oder ini Falle einer Beeidigung vor einer in der Hauptverhandlung erst angeordneten Untersuchung den Eid nicht gemeinschaftlich ablegen zu lassen. Die im § 54 vorgeschriebene Belehrung über die Bedeutung des Eides wird bei Sachverständigen sehr oft überflüssig, ja verletzend sein; da sie in „angemessener Weise" vorzunehmen ist, wird der Richter mit wenigen andeutenden Worten sich begnügen können. S 59.

Sachverständige Untersuchung Β e w e i s ni i 11 e 1.

sachlicher

I. Bei der oben erwähnten grossen Mannichfaltigkeit der Mitwirkung der Sachverständigen zur Herstellung des Beweises wird es nothwendig, die drei Hauptaufgaben derselben zu unterscheiden; sie sind: die s a c h v e r s t ä n d i g e U n t e r s u c h u n g — die A b g a b e des B e f u n d e s — die A b g a b e des G u t a c h t e n s . Die erstere findet in der Regel im unmittelbaren Zusammenwirken mit dem a n w e s e n d e n Richter statt (Augenschein mit Zuziehung von Sachverständigen , z u s a m in e η g e s e t ζ t e r oder gemischter Augenschein) und man spricht von diesem selbst in dem Fall, wo der Richter bei Einnahme des Augenscheines eine in seiner vorübergehenden Abwesenheit vorzunehmende Besichtigung durch Sachverständige anordnet und sofort das Ergebniss derselben entgegennimmt. Dieser Fall tritt namentlich dann ein, wenn es sich um die Besichtigung von Frauenspersonen und andere Untersuchungen handelt, bei welchen es nicht auf die unmittelbaren Wahrnehmungen des Richters ankommt, andrerseits aber die überflüssige Anwesenheit desselben und des Gerichtsschreibers die Schicklichkeit verletzen würde. Der Fall unterscheidet sich in etwas von demjenigen, wo der Richter oder vielmehr das Gericht der sachverständigen Untersuchung fern bleibt, weil dieselbe fortgesetzte Beobachtungen oder längere Zeit dauernde Versuche erheischt. In diesem letzteren Falle wird man von Augenschein überhaupt nicht mehr sprechen 2 . I n Wahrheit sind die beiden Fälle aber 1 Die Literatur ist bereits oben § 55 Anm 1 und § 56 Anm 1 angefühlt; s. indess noch speciell über den „gemischten Augenschein" Jag e m an η in der Ζ f. deutsches Strafverf. I 356 if. und P l a n c k , Darstellung S 231, wobei bemerkt wird, dass beim zusammengesetzten Augenschein „die für beide Beweismittel geltenden Vorschriften zu beobachten seien". S. ferner M a y e r , Handbuch I I 441 if. 2 Vgl. M i t t e r m a i e r , Beweis S 202 IX, Strafverfahren I 554. Von älteren Bestimmungen namentlich das b a y e r i s c h e StG v. 1813 Art. 78 u. 80. — Die österr. StPO bestimmt darüber im § 122 folgendes: „Die Gegenstände des Augenscheines sind von den Sachverständigen in Gegenwart der Gerichtspersonen zu

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

sachlich gleich und man erkennt gerade an ihrer Vergleichung, dass die Untersuchung durch die Sachverständigen mit dem richterlichen Augenschein nur äusserlich und keineswegs nothwendig zusammenhängt. Wohl aber bleibt in beiden Fällen die Aufgabe des Richters gegenüber der Thätigkeit der Sachverständigen die gleiche. Unter den Augenschein fällt sachlich nur, was der Richter als seine Wahrnehmung hinstellt; dasjenige, was als Wahrnehmung der Sachverständigen hingestellt wird, ist Gegenstand des Beweises durch Sachverständige; der Richter beurkundet hier nicht mehr die W a h r n e h m u n g , sondern die A u s s a g e der Sachverständigen darüber. Er hat daher diese Aussage sachlich nicht zu controliren. Glaubt er dennoch wahrzunehmen, dass thatsächlich unwahr ist, was die Sachverständigen angeben, so kann er nur durch Beiziehung anderer Sachverständigen, oder durch Aufnahme dessen, was er selbst wirklich wahrnehmen und bezeugen kann, in das Augenscheinsprotokoll die Mittel zur Kritik der u n v e r ä n d e r t und u n b e e i n f l u s s t entgegenzunehmenden Aussagen der Sachverständigen bereit halten. Innerhalb des Kreises ihrer Aufgabe, des durch ihre Aussage festzustellenden, haben die Sachverständigen die volle Verantwortung für die Zweckmässigkeit und Richtigkeit ihres Vorganges und die Treue ihrer Aussage allein zu tragen: es muss ihnen daher auch die vollste Freiheit dabei gelassen werden besichtigen und zu untersuchen, ausser wenn letzten; aus Rücksichten des sittlichen Ânstandes für angemessen erachten, sich zu entfernen, oder wenn die erforderlichen Wahrnehmungen, wie bei der Untersuchung von Giften, nur durch fortgesetzte Beobachtung oder länger dauernde Versuche gemacht werden können. Bei jeder solchen Entfernung der Gerichtspersonen von dem Orte des Augenscheines ist aber auf geeignete Weise dafür zu sorgen, dass die Glaubwürdigkeit der von den Sachverständigen zu pflegenden Erhebungen sichergestellt werde. Ist von dem Verfahren der Sachverständigen die Zerstörung oder Veränderung eines von ihnen zu untersuchenden Gegenstandes zu erwarten, so soll ein Theil des letzteren, insofern es thunlich erscheint, in gerichtlicher Verwahrung behalten werden". Auch der 1. Entw der deutschen StPO enthielt eine der des ersten Absatzes des § 122 österr. StPO analoge Bestimmung, welche schon aus dem 2. Entw als selbstverständlich wegblieb, oder wie Geyer a. a. Ο S 247. 248 sagt: „weil man . . . an dem Princip festhalten wollte, den gesunden Menschenverstand nicht durch derartige Instructionen zu gängeln". Allein so leicht ist die Sache im heutigen Prozesse doch nicht zu nehmen ; denn die Abwesenheit des Richters nimmt der Untersuchung clen Charakter einer gerichtlichen Verhandlung und entzieht daher auch den Parteien das Β echt, an derselben sich zu betheiligen. 3 Mit Recht sagt M i t t e r m a i e r , Beweis S 182. 183, und fast wörtlich ebenso Strafverfahren I 544. 545: „Der Richter zieht hier nicht die Sachverständigen bei, damit sie ihn in den Stand setzen, dass er selbst die Thatsaehen beobachten kann".

§ 59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

713

II. Nur mit dieser Einschränkung steht heim zusammengesetzten Augenschein und steht eben darum auch bei Untersuchungen in Abwesenheit des Gerichtes die Thätigkeit der Sachverständigen unter der L e i t u n g des R i c h t e r s . Die letztere ist nur geboten und gerechtfertigt durch die Natur der Aussage der Sachverständigen als eines Beweismittels und die Regel: Judici fit probatio; eben darin aber findet die Leitung auch ihre Grenze. Der Richter muss den Sachverständigen klar machen, worauf es ihm ankomme, Avas er erfahren wolle, und er hat dafür zu sorgen, dass bei dem Vorgang, den die Sachverständigen einschlagen, um ihm die gewünschte Auskunft zu verschaffen, alles beobachtet werde. was die Beweiskraft der zu gewärtigenden Aussage sichert (ζ. B. Feststellung der Identität der zu untersuchenden Gegenstände); allein er ist nicht berufen, auf die technischen Methoden, deren sich die Sachverständigen bedienen, einen Einfluss zu üben, ausgenommen soweit es sich um die Geltendmachung ausdrücklicher Vorschriften handelt , wie sie für einzelne Untersuchungsfälle theils in der StPO. theils in Specialnormen gegeben sind. Andererseits muss er dafür sorgen, dass den Sachverständigen dasjenige zugänglich gemacht wird, dessen sie bedürfen, um ihr Gutachten darauf zu stützen ; dazu gehört die Mittheilung der Akten, die Anwesenheit bei der \ r ernehmung von Zeugen und Beschuldigten, und die Vernehmung dieser Personen über von den Sachverständigen als erheblich bezeichnete Gegenstände. (Deutsche StPO § 80; österr. StPO §§ 123. 241 Abs. 2.) In Bezug auf dieses Recht der Sachverständigen lautet theils § 120 österr. StPO. theils § 80 deutsche StPO etwas bestimmter 4 . Lassen daher auch beide der Beurtheilung des Richters einen gewissen Spielraum, so sollte doch daran nicht gezweifelt werden, dass es unzulässig ist, die Sachverständigen „darauf hinzuweisen, sich ihre Informationen auf aussergerichtlichem Wege zu verschaffen 415 , und dass ihnen daher aus den Akten und durch 4 Beide Gesetze stellen die Gestattung der Akteneinsicht der Beurtheilung des Gerichtes anheim; doch können nach dem österr. Gesetze die Sachverständigen „verlangen, dass ihnen aus den Akten oder durch Vernehmung von Zeugen jene Aufklärungen über von ihnen bestimmt zu bezeichnende Punkte gegeben werden, welche sie für das abzugebende Gutachten für erforderlich halten". Nach § 80 d. StPO „kann dem Sachverständigen auf sein Verlangen durch Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten weitere Aufklärung verschafft werden". Letzteres Gesetz erwähnt ausdrücklich die Zulassung von Sachverständigen bei der Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten. r> Geyer a. a. 0. S 248 warnt davor mit Recht. Schon das bayerische StG v. 1813 Art. 265 hatte die hieraus erwachsende Gefahr der „Einmischung falscher Thatsachen" vor Augen. Vgl. L ö w e Bern 1 zu § 80; Schwarze Beni 10 zu § 86.

714

§ 59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

gerichtliche Erhebungen dieselben zugänglich gemacht werden müssen. Dies w i r d schon hier bemerkt, w e i l die Erschliessung solcher E r k e n n t nissquellen nöthig sein kann, selbst u m auch n u r richtig beobachten zu können, also schon zur V o r b e r e i t u n g blos des Gutachtens. auch hier

nöthig,

beeinflusst

werden,

der Befundabgabe und nicht

E i n gewisses Maass von Vorsicht ist andererseits d a m i t nicht die Sachverständigen

durch Momente

die ihrer B e u r t h e i l u n g nicht unterliegen, so dass

dann ihre Aussage nicht mehr blos das widerspiegelt,

was s i e

ge-

funden haben. III. wird und

Die Thätigkeit

der Sachverständigen bei der Untersuchung

zufolge des oben gesagten Regeln

ihrer

Wissenschaft

Regeln beherrscht ; l e t z t e r e stände und die F o r m e n

ü

der

Sache nach von den Gesetzen

oder K u n s t ,

nicht

von

juristischen

bezeichnen n u r die aufzuklärenden Gegen-

u n d Vorgänge,

welche einzuhalten sind, da-

im Gegensatze hiezu hat der f r a n z ö s i s c h e ('ass.-Hof entschieden (E v. 15. März 1845, R o l l a n d de Y i 11 a r g u e s Art. 44 Nr 49), „es sei den Sachverständigen gestattet, nicht blos durch persönliche Besichtigung (par un examen personel), sondern auch durch Befragung verschiedener Personen (par la bouche de différentes personnes) sich die Auskünfte zu verschaffen, welche ihnen geeignet erscheinen, sie über die ihnen gestellten Fragen aufzuklären". Bei der im Texte enthaltenen Warnung ist allerdings nicht übersehen, dass die sachverständige Untersuchung von Personen oft nicht ohne Befragung d i e s e r Personen ausgeführt werden kann. Man kann dem Arzte nicht verwehren, den angeblich verletzten u. s. w. über seine subjectiven Empfindungen zu befragen; nur ist es nothwendig, dass dann der Befund ausdrücklich diese Mittheilung als Quelle der Angabe bezeichnet oder doch deutlich erkennen lässt. 6 Vgl. Anführungen solcher Anordnungen, die zum Theil auch polizeilicher Natur sind, bei Geyer HH I S 253 Anni 6, S 254 Anni 9 u. 10 und S 255 Anm 1. Hervorzuheben sind namentlich die Vorschriften über Leichenschau und Leichenöffnung,· z. B. das p r e u s s i s c h e Regulativ v. 6. Jan. u. 13. Febr. 1875, JMB1 S 75 ff., die ö s t e r r e i c h i s c h e Verordnung über die „Todtenbeschau" v. 28. Jänner 1855, RGBl Nr 26 (abgedruckt in der M a η ζ'sehen Ausgabe der österr. StPO Anhang III). — Bezüglich (1er Besichtigung und Oeffnung von Leichen für Zwecke des Strafverfahrens siehe übrigens die ausführlichen Literaturangaben in M i t t e r m a i e r s Strafverfahren 11 59 ff. ; Za c h a r i ä, Handbuch JI 120 ; ferner GA 1860 S 194 ff. (Ueber die prozessualische Feststellung des Verbrechens des Mordes), 1858 S 777 ff. (Feststellung des Thatbest. der Tödt. im schwurger. Verfahren), 1874 S 106 ff. ( F u c h s , Ueber die Notwendigkeit eines schriftlichen Obductionsbefundes). Ζ f. deutsches Strafverf. NF I I 282—293: Ueber die Wirksamkeit des Gerichtsarztes und des Untersuchungsrichters bei der Frage über die Tödtlichkeit der Wunden. D u v e r g e r § 222 sq., vol. I I ρ 256 ss. B o r s a n i e ( 1 a s o r a t i § 677, vol. I I ρ 322 ss. \ 7 gl. auch Lucchinis Rivista penale X 1879 ρ 402 ss. 481 ss. (Tarn as si a, Le perizie medico-legali); s. auch in derselben Zeitschrift IX ρ 577 und X I I ρ 91 ss.

§ 59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

m i t die zu erwartenden Aussagen unbedenklich für

715

die Zwecke des

Verfahrens verwerthet werden können. Die

deutsche

Strafprozessordnung

enthält

einige

wenige

Vor-

schriften für folgende einzelne Untersuchungsfälle: 1. I n F ä l l e n ,

wo

ein Mensch

unter

Umständen

gestorben

ist,

welche den Verdacht einer strafbaren T ö d t u n g nicht v ö l l i g ausschliessen (dazu genügt nach § 157 das \ 7 orhandensein von Anhaltspunkten dafür, dass jemand eines nicht natürlichen Todes gestorben sei, oder das „ F i n d e n " des Leichnams eines U n b e k a n n t e n ) 7 , muss von cler Polizeioder Gemeindebehörde Landgericht) der N a t u r

sofort Anzeige

an clie Staatsanwaltschaft (am

oder an clen Amtsrichter erstattet werden, wobei es i n

der Sache l i e g t , dass jene Organe zugleich dafür

müssen, class die etwa einschreitende Behörde ändert f i n d e 8 . Beerdigung

nur

Das Gesetz schreibt auf

Grund

einer

die Sachlage

ausdrücklieh n u r v o r , schriftlichen

sorgen unverdass die

Genehmigung

der

Staatsanwaltschaft oder des Amtsrichters erfolgen dürfe. — Diese Bestimmung ist, obgleich dazu dienend, den Strafbehörden die Gelegenheit zu dem erforderlichen Einschreiten zu sichern, polizeilicher N a t u r . Zunächst ist es dann Sache des Staatsanwaltes (oder Amtsrichters), zu 7 Die Motive zu § 157 weisen auf das ältere preussische Recht als auf die Quelle dieser Anordnung hin; dort ist also Aufklärung zu suchen über die etwas auffallende Bestimmung über das „Finden der Leiche eines Unbekannten" oder wie es im Entwürfe heisst, einer „unbekannten Leiche". In dieser Beziehung heisst es nun im § 149 der preussischen CGO : „Der Körper eines Menschen, dessen Tod nicht unter den Augen seiner Hausgenossen oder anderer unbescholtener Personen natürlicherweise erfolgt, sondern durch Gewalt, Zufall oder Selbstmord oder eine bis dahin unbekannte Ursache bewirkt ist, darf niemals eigenmächtig beerdigt . . . werden". Dagegen im § 174 Z. 2 der StPO v. 1867: „wenn der Tod . . . nicht unter den Augen der Hausgenossen des Verstorbenen oder anderer unbescholtener Personen erfolgt ist". Hieraus ergiebt sich, dass dem gegenüber durch § 157 eine Einschränkung eingetreten ist; um die unbedingte Anzeigepflicht zu begründen, müssen zwei Umstände zusammenkommen: die Leiche muss „ g e f u n d e n " sein, das heisst, es ist keine Person vorhanden, welche die Umstände des eingetretenen Todes aus eigenem Wissen bezeugen kann, u n d es muss sich um die Leiche eines Unbekannten handeln. In allen anderen Fällen kommt es darauf an, ob Anhaltspunkte für die Annahme eines nicht natürlichen Todes, wenngleich n i c h t für die einer strafbaren Handlung vorliegen (§ 174 Ζ . 1 d. preuss. StPO v. 1867 sagt: „wenn die vermuthliche Veranlassung des Todes auf Zufall, Selbstmord oder der Verschuldung eines anderen beruht"). Anderer Meinung V o i t u s Bern 1 zu § 157 und L ö w e Bern 2 b das. 8 L ö w e Bern l b u. 3 zu § 157. Die preuss. StPO v. 1867 (§ 174 letzter Absatz) verpflichtete die Polizeibehörde in solchen Fällen: „die Leiche und die bei derselben gefundenen Gegenstände sicher zu stellen, eine Beschreibung derselben aufzunehmen und den Befund (sie) unverzüglich dem Staatsanwalt anzuzeigen".

716

§ 59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

erwägen und eventuell durch vorläufige Erkundigung oder Besichtigung sich in den Stand zu setzen, zu beurtheilen 9 , ob es einer richterlichen Amtshandlung bedürfe. Ist er dieser Ansicht, so nimmt der Amtsrichter auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder auf Grund des § 163 die r i c h t e r l i c h e L e i c h e n s c h a u vor. Es ist dies die vom Richter unter Beiziehung eines Arztes vorgenommene äusserliche Besichtigung der Leiche, ein Akt des Augenscheines, welcher den doppelten Zweck verfolgt, die auf diese Weise wahrnehmbaren sachlichen Beweise zu erheben und Anhaltspunkte für die Beurtheilung der Frage zu geben, ob es nöthig sei, zur Leichenöffnung zu schreiten. Ausnahmsweise kann „nach dem Ermessen des Richters" selbst die Beiziehung eines Arztes bei dieser Leichenschau unterbleiben (§ 87 — wo übrigens ausdrücklich auch die Ausgrabung einer schon beerdigten Leiche für „statthaft" erklärt w i r d ) 1 0 . 2. Die Frage, ob zur L e i c h e n ö f f n u n g geschritten werden solle, ist der Beurtheilung der Justizbehörden anheimgestellt; der Amtsrichter kann sie, wenn er einmal einschreitet, der Leichenschau auch ohne besondern Antrag anreihen; er darf sie aber nicht verweigern, wenn der Staatsanwalt sie beantragt (§ 160). Sie kann aus dem doppelten Grunde unterbleiben: weil die Leichenschau genügt hat, das N i c h t v o r h a n d e n s e i n einer strafbaren Handlung ausser Zwreifel zu stellen; ausnahmsweise aber auch, weil die Umstände des Falles gestatten, über die Todesursache ein bestimmtes Urtheil auch ohne Leichenöffnung sich zu bilden (ζ. B. bei Verbrennungen, bei Entbindungsfällen, Eisenbahnbeschädigungen, bei einer Enthauptung). Das letztere, welches also dahin führen kann, dass eine Verfolgung und Verurtheilung stattfindet, ohne dass die an sich mögliche Leichenöffnung stattgefunden hat, hat sein sehr bedenkliches 11 . 9

L ö w e Bein 5 u. 6 zu § 157. In Oesterreich sind für die Frage § 127 der StPO und § 2 der oben Anm 6 angefühlten Verordnung v. 28. Jänner 1855 RGBl Nr 26 maassgebend. ferner die Ministerialverordnung v. 8. April 1857 RGBl Nr 75, welche anordnet: „Von allen unnatürlichen T o d e s f ä l l e n , bei denen der Verdacht besteht, dass sie in einer strafbaren Handlung ihren Grund haben, oder bei denen nicht schon aus cler ersten Erhebung und aus der vorläufigen äusseren Leichenbeschau durch die politische Behörde mit voller Gewissheit erhellt, dass der Tod durch blossen Zufall oder Selbstmord herbeigeführt wurde, ist die Anzeige an das Strafgericht sogleich zu machen". Besondere Aufmerksamkeit wendet die i t a l i e n i s c h e StPO der Frage der Leichenbesichtigung zu; s. insbesondere die Art. 128 u. 129. über die Fälle, in welchen dieselbe unterbleibt. Vgl. dazu M e l ρ 94. 11 L ö w e Beni 1 zu § 87; Geyer in HH I 251. 252. Vgl. auch Schwarze Bern 11 zu § 87. 10

59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

717

und es sollte diese Berechtigung uni so zurückhaltender gebraucht werden, weil sie mit der kategorischen Vorschrift des § 89, wonach die Oeffnung der sog. drei Höhlen stattfinden muss, selbst wenn die Oeffnung einer derselben bereits ein entscheidendes Resultat geliefert hat, nicht im Einklang steht. Die Leichenöffnung stellt sich äusserlich als zusammengesetzter Augenschein dar: sie ist unter Beisein des Richters vorzunehmen. Es sind zwei Aerzte, von denen einer ein „Gerichtsarzt" sein muss, beizuziehen. Unter „Gerichtsarzt" ist der für die Thätigkeit als ärztlicher Sachverständiger bei diesem Gerichte öffentlich bestellte (§ 73 Abs. 2) zu verstehen 12 , woraus folgt, dass mindestens e i n solcher öffentlich bestellt werden muss. Der Wortlaut steht nicht entgegen, den verhinderten Arzt des einen Gerichtes durch den eines anderen zu ersetzen. Von der hier bezüglich des „behandelnden Arztes" getroffenen Specialverfügung war schon oben (§ 57 I Nr l e ) die Rede; demselben ist „die Leichenöffnung nicht zu übertragen". Der Wortlaut würde dies auf die Vornahme der Section selbst beschränken, und cler in den Motiven als Vorbild angeführte Art. 189 der sächs. StPO spricht in der That von der „Vornahme der Leichenöffnung", allein sowohl die Motive zu dieser 1 3 , als die zur deutschen StPO S 62 gehen darüber hinaus, und auch der Verlauf der gesetzlichen Bestimmung selbst lässt erkennen, dass der behandelnde Arzt n u r „aufgefordert werden kann, 12

Ganz unzweideutig ist der Ausdruck nicht, da er auch einen Arzt bedeuten könnte, dessen specielle Kenntniss (1er gerichtlichen Medicin dargethan ist. Die Entstehungsgeschichte deutet aber auf einen Angestellten hin. Nach § 178 (1er preuss. StPO von 1867 sollte die Leichenöffnung durch „den Gerichtsarzt und den Gerichtswundarzt" vorgenommen, nöthigenfalls aber statt des einen dieser Aerzte .,ein anderer approbirter Arzt zugezogen werden". Damit stimmt es, dass der 1. Entw der StPO die Ersetzung des behinderten Gerichtsarztes gestattet. Dass e i η Gerichtsarzt" beigezogen werden müsse, beruht auf Beschlüssen der RtC. Vgl. P u c h e l t Bern 1 u. 5 zu § 87; L ö w e Bern 4b u. c das. — Was die V e r t r e t u n g betrifft, so meint L ö w e a. a. 0. (im Gegensatz zu D a l e k e Bern 5 das.), dass die Zuziehung eines anderen Arztes zu diesem Zwecke gestattet sei, wenn die Beiziehung eines anderen Gerichtsarztes nicht thunlich ist. Wenn dafür die Unmöglichkeit unbedingter Befolgung einer gleichwolJ unbedingten Vorschrift des Gesetzes geltend gemacht wird, so ist dagegen wohl nichts zu sagen, wenn letztere nicht blos unthunlich, sondern unmöglich. Allein auf § 73 Abs. 2 darf man sich nicht berufen, denn aus der Fassung des § 87 leuchtet ja eben die Absicht des Gesetzes hervor, hier eine über § 73 hinausreichende Anordnung zu treffen. Gl. A. Geyer in HH I S 253. 13 Schwarze, Commentar zur StPO v. 1855 I 274.

59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

der Leichenöffnung beizuwohnen, u m aus der Krankengeschichte Aufschlüsse zu geben". Ueber den V o r g a n g bei der Leichenöffnung ist noch zu bemerken,

dass i h r

die Feststellung der I d e n t i t ä t , womöglich die Anerken-

n u n g durch clen Beschuldigten, vorangehen muss (§ 88). richtig ist übrigens die Bemerkung,

Vollkommen

clas ersteres auch schon von der

Leichenschau gelten müsse u n d class daher § 88 n u r darauf aufmerksam macht, dass erst nach Feststellung cler I d e n t i t ä t die Vornahme von Veränderungen an der Leiche stattfinden dürfe. des Beschuldigten b e t r i f f t , abhängig

von

so ist

dessen B e c h t

Was die Beiziehung

clie hier gegebene Bestimmung un-

auf

Anwesenheit

beim

Augenscheine

(oben § 39 I I I ) ; sie hat n u r den Zweck, den E r f o l g der Untersuchung zu erleichtern, u n d so kategorisch sie lautet, w i r d sie bei Seite gesetzt werden können, wenn die Zwecke des Strafverfahrens durch ihre Befolgung auf andere Weise i n Frage gestellt Gelegenheit abgelegten Aussagen u n d Beschuldigten gleichzuhalten

würden14.

Die bei dieser

sind anderen Aussagen von Zeugen 1δ

.

Nach § 89 StPO m u s s sich die Leichenöffnung,

soweit der Zu-

stand cler Leiche es gestattet, auf die Oeffnung der Kopf-, Brust- und 14 L ö w e Bern 1 u. 2 zu § 88. Gegen dessen Herabbeziehen der im ersten Satze enthaltenen Einschränkung äussert P u c h e l t Bern 2 zu §§ 88 if. Bedenken; allein die Entstehungsgeschichte des Textes lässt erkennen, dass die Auflösung des im Entwurf enthaltenen Satzes in zwei Sätze aus anderen Gründen erfolgte, als um bezüglich des Beschuldigten etwas anderes anzuordnen (Prot S 89: es sollte illuder Gedanke der Identitätsfeststellung besser ausgedrückt werden), und P u c h e l t selbst betrachtet die Vorschrift als Instructionen und nur für den Fall bindend, dass die Feststellung der Identität überhaupt nicht umgangen werden kann. Entscheidend ist, dass es sich hier nicht um ein Recht des Beschuldigten handelt, sondern um eine im Interesse der Untersuchung angeordnete und daher mit derselben in Einklang zu erhaltende Maassregel. Die ö s t e r r . StPO, welche für alle Fälle des „Augenscheines mit Zuziehung von Sachverständigen die Beiziehung des Beschuldigten vorschreibt, wenn sich dies wegen Anerkennung der zu untersuchenden Gegenstände oder zur Erlangung von Aufklärungen als zweckdienlich darstellt" (§ 116) — ertlieilt bezüglich (1er „Leichenschau und Leichenöffnung" hierüber keine abweichende Vorschrift. Dagegen heisst es § 127: „Ehe zur Oeffnung der Leiche geschritten wird, ist dieselbe genau zu beschreiben und deren Identität durch \'ernehmung von Personen, die den Verstorbenen gekannt haben, ausser Zweifel zu setzen. Diesen Personen ist nötigenfalls vor der Anerkennung eine genaue Beschreibung des Verstorbenen abzufordern. Ist aber der letztere ganz unbekannt, so ist eine genaue Beschreibung der Leiche durch öffentliche Blätter bekannt zu machen". 15 L ö w e Bern 1; V o i t u s Bern 1; P u c h e l t Beni 2 zu § 88. Besondere Sorgfalt wendet die i t a l i e n i s c h e StPO den die Identität bestätigenden Personen zu, die sofort speciell hierüber einen auch für die Hauptverhandlung giltigen Eid abzulegen haben. Art. 126—128. 300.

59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

719

Bauchhöhle erstrecken. Im übrigen ist bezüglich des Zieles der Untersuchung in der deutschen StPO, soweit es sich um Tödtungen im allgemeinen handelt, näheres nicht vorgeschrieben 16 ; nur für den Fall der Oeffnung der Leiche eines neugebornen Kindes ist bemerkt, es sei die Untersuchung „insbesondere auch darauf zu richten, ob dasselbe nach oder während der Geburt gelebt habe und ob es reif oder wenigstens fähig gewesen sei, das Leben ausserhalb des Mutterleibes fortzusetzen" (§ 9 0 ) 1 7 . 3. Bei Verdacht einer V e r g i f t u n g 1 8 , gleichviel ob dieselbe eine tödtliche war oder nicht, verweist das Gesetz (§ 91) auf die Untersuchung der verdächtigen Stoife durch Chemiker oder eine für solche Untersuchungen (in Geinässheit der Landeseinrichtungen) bestehende Fachbehörde ; hervorzuheben ist aber die Hinweisung darauf, dass das Gericht anordnen kann, es solle die Untersuchung unter Mitwirkung oder Leitung eines Arztes stattfinden. Es handelt sich hier um Untersuchungen, welchen das Gericht gewöhnlich nicht anwohnen wird, und bei welchen daher besondere Sorgfalt auf die Sicherstellung der Identität der Gegenstände der Untersuchung zu verwenden i s t 1 9 . — I n 16 Vgl. österr. StPO § 129, dessen Bestimmungen sich an die im § 134 österr. StG enthaltene Casuistik anschliessen. 1T Nach § 130 österr. StPO ist „auch zu erforschen, oh das Kind lebendig geboren sei". Der in früheren Gesetzen (§ 153 StPO v. 1850, § 90 StPO v. 1853) enthaltene Auftrag, auch zu erforschen, ob es „sein Leben ausserhalb der Mutter fortzusetzen fähig gewesen sei", ward nach wiederholtem Ueberwiegen der für die Beibehaltung stimmenden aus dem Grunde weggelassen, weil er „zu der irrigen Deutung Anlass geben könnte, dass die Strafbarkeit (wegen Mordes oder Kindesmordes) entfällt, wenn die Lebensfähigkeit des neugebornen Kindes verneint wird" ( M a y e r I 531). Dass diese Besorgniss nicht oline Grund war, beweist der Umstand, dass zu S 90 d. StPO bereits S c h w a r z e eine vor dieser Folgerung warnende Bemerkung für nöthig hielt, der sich L ö w e und P u c h e l t Bein 4 zu §§ 88 ff. anschliessen, letzterer mit dem Beisatz, die Erforschung des fraglichen Unistandes könne für die Ausmessung der Strafe erheblich sein. Bezüglich der Literatur über die gerichtsärztliche Untersuchung des Kindesmordes vergi, die Angaben bei Z a c h a r i ä , Handbuch I I § 121; M i t t e r m a i e r , Strafverf. I I 73 ff.; B o r s a n i e Caso r a t i § 679, vol II ρ 326. 18 M i t t e r m a i e r , Beweis S 212; d e r s e l b e , Strafverfahren I I 85 ff. und die ausführlichen Literaturangaben daselbst und bei S c h w a r z e zu § 91 StPO und zu § 229 StGB, sowie bei Z a c h a r i ä , Handb. I I § 121 I I ; insbesondere G e η g 1 e r , Strafrechtl. Lehre von der Vergiftung. Bamberg 1842. S 7 ff. M i t t e r m a i e r in GA 1856 S 433. 577. 721; 1857 S 145. P f o t e n h a u e r das. 1865 S 397. 457. 601. B e r n e r GS 1867 S 7. Ferner Hitzigs Ζ IX 402, X 451, X I 208. B ors a n i e Cas o r a t i § 680, vol. I I ρ 328 ss.; Rivista penale XV 152 ss. 19 Schwarze Bern 4 zu § 91; L ö w e Bern 4 das.; Geyer S 254. Vgl. $ 131 österr. StPO, welcher fordert, „der Erhebung des Thatbestandes nebst den

720

§ 59.

Bezug

auf

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

andere

deutsche StPO keine

Fälle

der

Körperverletzung

Specialvorschrift 20;

wohl

enthält

die

aber ergiebt sich aus

§ 255, dass wenn „Körperverletzungen, welche nicht zu den schweren gehören", reichend

durch

„ärztliche Atteste"

angesehen

werden

darf. —

festgestellt A u c h über

sichtigung von Frauenspersonen,

sind,

dies für

aus-

die Fälle der

Be-

bei Untersuchungen wegen

Kindesmord, Kindesabtreibung, Nothzueht u. s. w., ist nichts specielles angeordnet21. 4. Z w e i f e l

über

den

Geisteszustand22

eines Angeschul-

digten sind n u r insofern ausdrücklich erwähnt, als § 81 gestattet, zur Vorbereitung

eines Gutachtens

darüber

„auf A n t r a g

eines

Saehver-

Aerzten nach Thunlichkeit auch zwei Chemiker beizuziehen", aber gestattet, die chemische Untersuchung den letzteren allein „in einem hierzu geeigneten Locale" zu überlassen. Bezüglich der Sicherung der Identität siehe neben dem oben Anm 2 angeführten § 122 österr. StPO auch noch die österr. Υ ν. 2. Aug. 1856, RGBl Nr 145, über die Art der Versendung von Objecten chemischer Untersuchungen (abgedruckt in M a n z ' Ausgabe der österr. StPO bei § 131). 20 S. dagegen § 132 der österr. StPO. 21 § 133 ö s t e r r . StPO weist auf die eventuelle Beiziehung von Geburtshelfern hin und gestattet, „in minder wichtigen Fällen" mit der Untersuchung Geburtshelferinnen zu beauftragen. 22 L i t e r a t u r angab en bei M i t t e r m a i e r , Strafverfahren I I 235 if.; S c h w a r z e bei § 81. Siehe auch Hitzigs Ζ für die Criminalrechtspflege I 265. 326. 334. 367 ( H i t z i g ) ; I I 235 ( M i t t e r m a i e r ) ; V 394 (Immermann); V I I I 95. 154. 385; X 228 ( W ä c h t e r ) ; X I I 1 ff. (Nasse); das. 120 (Jarcke); X V I 104. X V I I 194 u. XIX 297 (Nasse); siehe überhaupt die eingehenden Repertorien zu dieser Ζ I 54 ff. 72 ff. I I 20 ff. 32 ff. I I I 54—57. — Ζ für deutsches Strafverfahren I I 226 — 267 ( J a g e m a n n , Die Exploration zweifelhafter Seelenzustände); NF I 67 — 104 ( N ö l In er, Ueber die richterliche Thätigkeit bei Simulation von Geisteskrankheiten); IV 308—320 (Schür may er). M i t t e r m a i e r in Friedrichs Blättern für gerichtl. Medicin 1863 Heft 1, abgedruckt in GA 1853 S 7. 107. 279, 1863 S 137 ff. 513 ff. 585 ff. 653 ff. 733 ff., 1864 S 22 ff. 73 ff., im GS 1859 S 81 ff. I d e l e r in GA 1853 S 435 ff. 621 ff, 1854 S 7 ff; L ö w e n h a r d t das. 1854 S 482. 588. 750; K n o c k in StRZ 1863 S 608. V i s i n i , Beiträge I S 127 ff. Schletters J I 48. 269 I I 222; Κ r a f f t - E b i n g , Grundzüge der Criminalpsychologie. 2. Aufl. Stuttgart 1882. H. v. W y s s , Die Stellung des Arztes vor Gericht in der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit. Leipzig 1881 (s. übrigens oben § 31 III). Siehe ferner die in der Versammlung des Vereins deutscher Irrenärzte 1865 angenommenen Thesen, abgedruckt im GS 1866 S 318. (Vgl. damit den Ausspruch der englischen Richter in dem Falle M ' N a u g h t e n bei Roseo e ρ 905—910. W h a r t o n ρ 455; A r c h i ) o l d ρ 15 ss.; Ja gem an η , Handbuch der Untersuchungskunde 1 §§ 290—293. 308 — 313; Jessen, Denkschrift über Zurechnungsfähigkeit. Kiel 1878. Siehe auch Schütze, Strafrecht § 32 Anm 7; F r y d m a n n , Vertheidigung S 172 ff.; Z i m m e r m a n n im GS 1880 S 161 ff.

59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

721

ständigen und n a c h A n h ö r u n g des V e r t h e i d i g e r s anzuordnen, dass der Angeschuldigte in eine öffentliche Irrenanstalt gebracht und daselbst beobachtet werde". Die Bestimmung, durch die Reichstagscommission eingefügt 23 , scheint in e r s t e r L i n i e auf den Schutz der persönlichen Freiheit berechnet; allein da sie zwei Fälle einander gleichstellt, die nichts weniger als gleich sind, den, wo es sich um die Ueberführung aus dem Untersuchungsgefängniss in eine Irrenanstalt handelt, und den, wo in diese ein auf freiem Fuss befindlicher gebracht werden soll, schafft sie für letzteren einen eigenen Grund wenn nicht der Haft, so doch der Freiheitsberaubung, was bei der Berathung, die fast nur diesen Fall berücksichtigt zu haben scheint, deutlich hervortrat. Die im § 81 vorgezeichneten Cautelen (Antrag eines „Sachverständigen", der nach clen in der Commission geäusserten Ansichten ein Psychiater sein soll, nothwendige Anhörung eines Vertheidigers, sofortige Beschwerde mit aufschiebender Wirkung, Begrenzung der Anhaltungsfrist) ändern nichts daran, dass dem Hauptinhalt nach der § 81 eine Hinweisung auf die in vielen Fällen geeignetste Art cler Untersuchung des Geisteszustandes enthält, und zwar eine durchaus zweckmässige, allerdings aber vorsichtig zu handhabende. 5. Die Prüfung g e f ä l s c h t scheinender M ü n z e n und P a p i e r g e l d s c h e i n e 2 4 weist § 92 den Behörden zu, „von welchen echte Münzen oder Papiere d i e s e r A r t " in Umlauf gesetzt werden; indem er zugleich g e s t a t t e t , dass bei ausländischen Münzen undPapieren „an Stelle des Gutachtens der ausländischen Behörden dasjenige einer deutschen erfordert" 2 5 werde, giebt er zu erkennen, dass unter ersterem Ausdruck die Behörde gemeint ist, welche das Papier oder die Münze, wäre sie echt, ausgegeben hätte, und nicht blos die, welche Werthzeichen gleicher Gattung auszugeben berufen ist. Wenn daher clas nachgeahmte Papier nicht von einer Behörde ausgegeben ist, bleibt die Wahl zwischen Einziehung cles Gutachtens einer Behörde, welche 23

Prot S 87. 880—833, Bericht S 23. 24. Oesterr. StPO § 136. Vgl. M i t t e r m a i e r , Strafverfahren I I 101. 102; Geyer in HH I 254. 255. 25 Die im Text angeführten Worte lassen es als erlaubt erscheinen, dass das Gutachten der auswärtigen Behörde eingeholt werde, dessen Vorlesung in der Hauptverhandlung § 255 gestattet. Nach Abs. 4 des § 136 der österr. StPO hat sich der Untersuchungsrichter an das Justizministerium zu wenden, welches den zur Beschaffung eines Befundes über ausländische Münzen und Papiere geeignetsten Weg einzuschlagen hat; als der regelmässige ist dabei die Einholung des Gutachtens der ausgebenden fremden Behörde anzusehen. w

Binding, Hancttmch IX. 4. I : G l a s e r , Strafprozess. 1.

46

722

§ 59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

ähnliche Papiere ausgiebt, oder eines Privatgutachtens, am zweckmässigsten desjenigen der mit der Sache vertrauten Angestellten der ausgebenden Privatanstalt. Allerdings steht auch nichts entgegen, im Vorverfahren ein schriftliches Gutachten der Anstalt als solcher (ihres Vorstandes) abzufordern, allein es kann von diesem Gutachten in der Hauptverhandlung kein Gebrauch gemacht werden 2 6 . 6. Die Prüfung der Echtheit von S c h r i f t s t ü c k e n u n d U n t e r s c h r i f t e n durch S c h r i f t v e r g l e i c h u n g (coinparatio litterarum) 2 7 hat zu allen Zeiten Schwierigkeiten bereitet. Oft genügt selbst dem minder geübten Auge ein Blick auf zwei neben einander liegende Schriften, um eine Ueberzeugung zu begründen, die voraussichtlich jeder theilen wird. Die Gefahr der Täuschung ist aber bei sehr gelungenen Nachbildungen und Verstellungen ungemein gross. Das e n g l i s c h e Becht legt noch heute ein grosses Gewicht und legte früher das Hauptgewicht auf die Meinung von Personen, welche mit der fraglichen Handschrift sehr genau bekannt sind und sich deren Typus genau eingeprägt haben. Allein es sind die Fälle keineswegs selten, in denen sich Menschen über ihre eigene Handschrift täuschen 2S . 26

Geyer a. a. 0. S 255; L ö w e Bern 3 zu § 92; P u c h e l t Beni 3 das. Betreffs der Behandlung der bei Reichs- und Landeskassen eingehenden gefälschten Reichsmünzen, Reichskassenscheine und Reichsbanknoten sind vom Bundesrath Reglements am 9. Mai 1876, 6. Juni 1876, 20. März 1877 ergangen (preuss. JMB1 1876 S 114. 119, 1877 S 54; bayer. JMB1 1876 S 291 ff. 1877 S 34 ff). Daneben bestehen Landesreglements für einzelne Länder betreffende Emissionen (Schwarze bei § 92; L ö w e Bern 5 das.; Geyer S 255 Anm 1). 27 M i t t e r m a i e r , Beweis S 394—396, Strafverfahren I I 434; H e n k e , Handbuch IV 548; K i t k a , Erhebung des Thatbestandes S 262 ff.; Jage mann, Untersuchungskunde I 44. 45; Z a c h a r i ä , Handbuch I I § 147 III, S 449. 450; Geyer in HH I 255.256; O s e n b r ü g g e n in StRZ 1867 S 186 ff.; B o n n i e r Nr 721—730. 763. 764, vol. I I ρ 308 ss. 340 ss. L e v èque, Vérification des écritures. Agen 1840 (von Bonnier als das beste französische Werk über den Gegenstand empfohlen). B e n t h a m , Theorie des Beweises Buch IV Kap. 8 u. 9; G r e e n l e a f I §§ 576 bis 581; T a y l o r §§ 1660—1671; S t e p h e n , Digest of the law of evidence art. 51. 52; W i l l s , Circumstantial evidence ch. IV sect. 3 ρ 132. 140; Best §§ 243 — 248; A r c h b o l d ρ 229; Roscoe ρ 165. 166; F i l a n g i e r i , Scienza di legislazione I I I cap. 15, vol. I I ρ 407. 408; C a r m i g n a n i , Teoria della sicurezza sociale lib. IV cap. 10; C a r r a r a 1. c. § 963, vol. I I ρ 537. 28 Interessante Beispiele namentlich bei W i l l s ρ 135 u. 137; dort insbesondere auch der öfter angeführte Fall des Bankbeamten, der seine echte Unterschrift auf einer Banknote bezweifelte, die auf einer gefälschten unbedenklich anerkannte; sowie ein Beispiel von der Verkennung einer dem Zeugen sehr geläufigen Unterschrift. Siehe auch B es t a. a. O. B o n n i e r erwähnt dagegen Nr 720 ein Erkenntniss des Appellhofes in Montpellier, welches ein von den Sachverständigen einstimmig

§ 59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

728

Jedenfalls kann die Vertrautheit mit einer Schrift nur die Benutzung eines Vergleiehungsobjectes ersparen, die weitere Operation der Vergleichung selbst ist dieselbe, ob das Vergleichungsobject nur in der Erinnerung lebt oder dem Vergleichenden gegeben wird. Diese Vergleichung ist nun nicht jedermanns Sache, wenigstens nicht jedermanns in gleichem Grade; darin liegt die Berechtigung der Benutzung von Sachkundigen, wenn auch nicht die unbedingte Notwendigkeit derselben für alle Fälle. Auf cler anderen Seite hat man sich davor zu hüten, blindlings clen sog. Schriftkundigen und ihrer Autorität zu folgen. Es fehlt zunächst hier meist an festen Anhaltspunkten für die Auswahl der Sachverständigen. Man hält sich gewöhnlich an Kalligraphen und Lehrer cler Schreibekunst 29 , und es ist nicht zu leugnen, dass diese der Form der Schriftzüge, ihrer Entstehung, dem Einfluss der gewohnten Haltung oder einer ungewöhnlichen Lage auf die Gestaltung der Schriftzüge mehr Aufmerksamkeit zuwenden, als and e r e 3 0 ; allein diese Aufmerksamkeit gehört nicht zum Wesen ihrer Beschäftigung, ist keineswegs eine Bedingung erfolgreichen Betriebes derselben, und man kann daher leicht, wenn man sich blos an die Hauptbeschäftigung hält, auf Personen stossen, welche gar keine besondere Befähigung zur Beurtheilung der fraglichen Gegenstände haben, welche aber leicht glauben, dass ihr fachmännischer Ruf darunter leiden würde, wenn sie nicht sehr bestimmt sich aussprechen. Daher als gefälscht erklärtes Testament auf Grund der Aussagen zahlreicher Zeugen, die die Schrift erkannten, aufrecht erhielt. 29 In England werden, wie es scheint, Graveure vorzugsweise benutzt; W i l l s ρ 134. 139. Die Berufung auch solcher Sachverständigen im einseitigen Parteiinteresse hat zu ihrer Discreditirung dort und in Schottland wesentlich beigetragen. Es scheint, dass die Heranziehung von Sachverständigen hier der beharrlich widerstrebenden Praxis durch die Gesetzgebung (zuerst durch st. 17 et 18 \ r ict. c. 125 für Civil-, dann durch st. 28 Vict. c. 18 s. 8 für Strafsachen) aufgenöthigt werden musste. 30 B o n n i e r 1. ,c. Nr 731 betont die Notwendigkeit, dass die Sachverständigen im Schreibfach ausgedehnte Kenntnisse über die Manipulationen besitzen, durch welche \'eränderungen des Papiers und der Schriftzüge bewirkt werden, und beruft sich auf interessante Ausführungen in D u v e r g e r , Traité de médecine légale I I I 132 ss. — Ρ r a t o be v e r a , Materialien Ιλ Γ 140 bemerkt: Die Vergleichung der Handschriften sei gewöhnlich ein missliches und trügerisches Beweismittel, weil dasselbe Individuum in den verschiedenen Perioden des Lebens die Schrift häufig ändert ; weil Eile, Affect, Kränklichkeit, ja auch eine vorbeclächtliche Arglist, sowie die AVerkzeuge der Tinte, des Papiers und der Feder, eine scheinbare Verschiedenheit der Schriftzüge des Ausstellers oft irrig darstellen, und umgekehrt eine auffallende Aehnlichkeit der Schriftzüge theils durch Zufall, theils durch absichtliche Nachahmung leicht bewirkt werden könne. 46*

59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

die häufigen schlechten Erfahrungen mit sog. Schriftkundigen 31 . Das muss aber nur dazu mahnen: a. mit grosser Sorgfalt die zu benutzenden Sachverständigen auszuwählen ; in wichtigen Fällen halte man sich an Männer der Wissenschaft, an Archivbeamte, oder an Personen, wrelche das Studium des Charakters von Schriftzügen berufsmässig betreiben, wobei auch nicht zu übersehen ist, dass nicht immer die Schriftzüge allein zu prüfen sind, sondern dass es sich auch um mikroskopische 32 oder chemische Un31

Diese reichen bekanntlich bis in die Justinianeische Zeit und bis zur Entstehungsgeschichte der Nov. 73 zurück. B o n n i e r 1. c. Nr 764 citirt das Wort des Verfassers einer gegen Ende des 17. Jahrhunderts erschienenen Abhandlung über Schriftenvergleichung, L e v a y e r : Comparatio facit dumtaxat funium, und fühi*t aus der alten französischen Praxis drei Fälle an, wo in rascher Aufeinanderfolge achtbaren Geistlichen die Urheberschaft anonymer verleumderischer Briefe zur Last gelegt wurde, und jedesmal vier Sachverständige dies übereinstimmend bestätigten, später aber der wirkliche Urheber entdeckt ward. Umgekehrt erwähnt W i l l s 1. c. ρ 139 einen schottischen Fall, wo ein halbes Dutzend Sachverständige angesichts einer ganzen Serie von Briefen, mit welchen ein Erbanspruch dargethan werden sollte, erklärten, diese seien von verschiedenen Personen geschrieben ; dem Anwalt der Gegenpartei aber war die regelmässige Wiederkehr der gleichen orthographischen Fehler aufgefallen; der Kläger ward veranlasst, die betreffenden Worte vor Gericht zu schreiben, verrieth sich durch die Wiederkehr der gleichen Fehler und gestand dann, alle Briefe selbst geschrieben zu haben. — In dem bekannten Falle La Roncière wurden scharfe Worte gegen die Autorität der Sachverständigen im Schriftfach gerichtet ( H i t z i g und H ä r i n g , N. Pitaval V I 372—374. 379). C a r r a r a nennt als die unverlässlichsten Sachverständigen die Jäger und die Kalligraphen, giebt aber zu, dass bezüglich der Schriftenprüfung grosse Fortschritte neuestens gemacht seien. 32 Sehr mit Unrecht widersetzten sich (einzelne) englische Richter dem Gebrauche der L u p e ( W i l l s ρ 137; B o n n i e r Nr 764), weil sie die Schriftzüge nicht in ihrem wahren Lichte erscheinen lasse. Sie kann jedenfalls Schwankungen, Aenderungen, Ueberschreibungen u. s. w. an den Tag bringen, mitunter auch einen Anhaltspunkt gewähren, dessen Beurtheilung die Sphäre der Schreibverständigen überschreitet. Bei einem im Sommer 1881 in Wien verhandelten Falle, in welchem es auf die Aechtheit gewisser Worte und Zahlen in einem Briefe ankam, war der Ausspruch der Sachverständigen über die Frage, ob die Empfängerin und Vorzeigerin des Briefes eine dort vorkommende Aenderung vorgenommen habe, oder ob sie von der Hand der Absenderin hervorgerufen sei, schwankend. Allein die Besichtigung hatte ergeben, dass unter den geänderten Wrorten, die mit der gleichen Tinte geschrieben schienen, wie der übrige Inhalt des Briefes, ein nachher überschriebener Strich, mit einer anderen Tinte gemacht, sich fand. Das Gericht folgerte, mit Recht, daraus, dass die Aenderung zuerst mit letzterer begonnen und dann zur Vermeidung der Entdeckung mit geeigneterer Tinte fortgesetzt wurde, und dass hiezu für die Empfängerin, nicht aber für die Absenderin ein Motiv vorlag, weshalb es als erwiesen annahm, dass die Aenderung von letzterer eingefügt war.

§ 59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

725

tersuchung des Schriftstückes handeln kann; das wünschenswerteste wäre die Gewinnung von Specialisten der Handschriftenvergleichung ; b. auf genaue Befunde und auf sorgfältige und einleuchtende Begründung der Aussprüche zu dringen und dieselben allenfalls auch durch Versuche (indem man auch Schriftstücke prüfen lässt, deren Urheber dem Gericht zweifellos bekannt ist, nicht aber den Sachverständigen) zu erproben; und c. eben dadurch sich auch Gewissheit darüber zu verschaffen, ob der Ausspruch der Sachverständigen lediglich auf ihrem technischen Wissen oder auf den unmittelbarer Prüfung des Gerichtes unterliegenden Prozessmaterialien (Berücksichtigung etwaiger Motive und sonstiger Indicien) beruht (vgl. ζ. B. oben Anm 31). Je grösser die Vorsicht ist, die man selbst einigennaassen sachkundigen gegenüber anwenden muss, desto mehr sollten die Richter ihrer eigenen Fähigkeit zur Beurtheilung wirklich zweifelhafter Fragen dieser Art misstrauen. Die Ansicht, dass die gewöhnlichen Beschäftigungen der Richter ihnen eine besondere, die der Schöffen und Geschworenen überwiegende Befähigung zur Schriftenvergleichung verschaffen 33 , dürfte kaum zu billigen sein; gerade Richter lesen überwiegend Schriften, bei denen ihnen der Urheber der Handschrift ganz gleichgiltig ist und wobei sie sich um die Echtheit der Unterschrift nicht zu kümmern brauchen, während ζ. B. Kaufleute viel mehr das Bedürfniss und die Uebung haben, auf die Echtheit von Unterschriften zu sehen. Vor allem sollte aber stets darauf geachtet werden, dass das Ergebniss der Schriftenvergleichung, sie geschehe nun mit oder ohne Beiziehung von Sachverständigen, durch sonstige Prozessmaterialien, deren Mitbenutzung den Urtheilern zukommt, möglichst controlirt werde. 33

Die Motive zur deutschen Civilprozessordnung messen dem Bicliter für den Beweis durch Schriftenvergleichung „sachverständige Qualität" hei. B e l l o t in seinem Motivenbericht zur Genfer Civilprozessordnung sagt : Vermuthung gegen Vermuthung schien uns die des Bichters den Vorzug vor jener des Sachverständigen zu verdienen. Vgl. übrigens auch L ö w e Bern 2 zu § 93: P u c h e l t Bern 2 das. Den V^orwurf, den P u c h e l t gegen K e l l e r erhebt, dass er bei seiner Bemerkung, das Gericht könne die Schriftenvergleichung selbst vornehmen, Geschworene und Schöffen nicht berücksichtige, ist unverdient; die Schriftenvergleichung muss stets von den zur Urtheilsfallung berufenen vorgenommen werden; dass sie aber auf das Berathungszimmer beschränkt sei. ist unrichtig ; auch die Schriftenvergleichung ist ein Akt der Beweisaufnahme, und es bleibt den P a r t e i e n unbenommen, die Geschworenen auf maassgebende Momente aufmerksam zu machen; dem Vorsitzenden des Schwurgerichts ist dies allerdings durch die deutsche Strafprozessordnung unmöglich gemacht (nicht so durch die österreichische).

59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

Bei Beschaffung der V e r g l e i c h u n g s o b j e c t e muss natürlich vor allem darauf gesehen werden, dass letztere nicht selbst wieder Bedenken unterliegen ; ihre Herkunft muss vollkommen sicher gestellt sein. Das Mittel, die Person, deren Schrift das Yergleichungsobject bilden soll, ein Schriftstück unter den Augen des Gerichtes herstellen zu lassen, gewährt allerdings volle Gewissheit über den Ursprung der Vergleichungsschrift; allein es erregt andere Bedenken, theils vom Standpunkte der Zweckmässigkeit, weil eine absichtliche Verstellung zu besorgen ist, theils vom Standpunkte cler persönlichen Freiheit, da die Gesetze kein Recht ertheilen, irgend jemand, wäre es auch der Angeschuldigte, zur Herstellung eines Schriftstückes zu zwingen 3 4 , während sie unter Umständen, wo der Schreibende von dem Zweck nicht unterrichtet ist, dem clas Schriftstück dienen soll, oft nur durch ein bedenkliches und unwürdiges Inquirentenkunststückchen zu erreichen i s t 3 5 . Wenn auch Zeugenaussagen oder Indicien im Conflict mit den Aussagen der Sachverständigen über letztere gar oft den Sieg davon trugen, so ist doch die Benutzung der Aussage von Zeugen auf Fälle zu beschränken, wo diese aus eigener Anschauung die Echtheit des Schriftstückes bestätigen 36 , nicht blos auf Grund ihrer Kenntniss der Hand34 L ö w e Bern 3 zu § 93; K e l l e r Bern 2 das.; Geyer HH I 255 Anm 3 S 256. Zwischen der Aufforderung und cler blossen Befragung um die Geneigtheit ist in solchen Fällen kein erheblicher Unterschied, da sich der Angeschuldigte sagen muss, dass aus seiner Weigerung ihm nachtheilige Folgerungen unvermeidlich sich ergeben. Die österr. StPO sagt darüber § 201 Satz 2: „Der Beschuldigte kann, wenn dies zur Beseitigung von Zweifeln über die Echtheit eines ihm beigemessenen Schriftstückes dienlich scheint, veranlasst werden, einige Worte oder Sätze vor Gericht niederzuschreiben, ohne dass jedoch Zwangsmittel angewendet werden dürfen". Aehnliches war vielfach in deutschen Strafprozessordnungen enthalten. Vgl. P l a n c k , Syst. Darst. S 240 Anm 17. Preuss. StPO v. 1867 § 184 Abs. 2: „Der Beschuldigte kann auch aufgefordert werden, einige Worte oder Sätze in Gegenwart der Gerichtspersonen niederzuschreiben. Weigert er sich dessen, so ist dies im Protokolle zu bemerken". Wörtlich gleich lauten die bad. StPO § 102, württemb. § 194, brem. § 249, lübische § 73. Die sächs. StPO Art. 186 bestimmt, es könne „der angebliche oder vermeintliche Urheber" der Schrift — also nicht blos der Beschuldigte — „zur Fertigung einer Niederschrift vor Gericht angehalten werden". In F r a n k r e i c h hat dieses Beeilt der Richter selbst im Civilprozess. B o n n i e r Nr 730. 35 Vgl. K i t k a , Erhebung des Thatbestandes S 265 ff. Ueber die Bedenklichkeit des Mittels nicht blos wegen absichtlicher Verstellung der Handschrift, sondern wegen des Einflusses der Einschüchterung s. B o n n i e r a. a. Ο. 36 Hieher gehören eigentliche Solennitätszeugen, welche die Nov. 73 c. 1 vor Augen hatte : ut non in sola scriptura et ejus examinatione pendeamus, sed sit judicantibus etiam testium solatium — , ferner Personen, welche die Anerkennung

§ 59.

Sachverständige Untersuchung sachlicher Beweismittel.

schrift (ex scriptis o l i m cognitis). Nothbehelf.

Von

noch

grösserer

Diese letztere ist ein k ü m m e r l i c h e r Bedeutung

bei

Echtheit einer U r k u n d e ist der I n h a l t derselben, was bei B e u r t h e i l u n g geschöpft

werden

727

Beurtheilung

der

wobei analog alles,

der W a h r h e i t einer Aussage aus ihrem I n h a l t

kann,

zu

v e r w e i t h e n ist:

darin

Kenntniss oder Unkenntniss gewisser U m s t ä n d e ,

sich

verrathende

die Ausdrucksweise,

die Schreibung u. s. w . 3 7 . 7. U n t e r den Untersuchungen,

welche die deutsche Strafprozess-

ordnung nicht ausdrücklich hervorhebt, verdienen die auf die S e h ä t z u n g v o n Gegenständen abzielenden besondere E r w ä h n u n g , schwerer

und

seltener

als bei anderen

die

weil bei ihnen

Darstellung des

Sach-

befundes von dem Gutachten getrennt werden k a n n 3 8 . eines bestimmten Schriftstückes durch den Urheber u. dgl. bestätigen. Vgl. B o n n i e r Nr 719. 732. 37 B o n n i e r Nr 732 am Schluss; K i t k a S 270 if. Vergi, vor allem die ausführliche Erörterung solcher Verhältnisse bei B e n t h a m a. a. 0. Buch IV Kap. 8 und 9 S 137 ff. Er führt als d i r e c t e Beweise, um die Authenticität herzustellen, an: Zeugnisse 1. der Personen, welche die Schrift mit unterschrieben haben, 2. derjenigen, welche schreiben sahen oder die Anerkennung gehört haben, 3. das Zeugniss des Producenten, 4. die Anerkennung des producten; — als i n d i r e c t e η Beweis Ableitung von Schlüssen aus folgenden Umständen: 1. ex scriptione olim visa, 2. ex scriptis prius cognitis, 3. ex scripto nunc viso et comparato, 4. ex custodia, 5. aus der sachlichen Uebereinstimmung mit einer echten Schrift, ex concordantia, 6. ex visu officiali, 7. aus der Vergleichung des Charakters der Schrift und des Inhaltes mit der Individualität des angeblichen Urhebers und den Umständen ihrer angeblichen Abfassung (ex tenore). — Parallel damit geht di.e Aufzählung der directen und indirecten Beweise gegen die Authenticität; zu ersteren fügt B e n t h a m hinzu das Zeugniss vom Hörensagen, darüber nämlich, dass der Producent das Schriftstück für falsch erklärt habe. Unter den letzteren werden ausser der Unähnlichkeit der Hand angeführt: Verdachtsgründe, die aus der Person des Producenten (dessen Interesse an einer Fälschung) hervorgehen; materielle Anzeichen der Fälschung (Papier, Tinte, Siegel); Anzeichen der Fälschung oder Veränderung, welche sich aus dem Inhalt ergeben (Anachronismen, Anwendung von Worten, die erst nach dem Datum gebraucht sein konnten, Behauptung falscher und als solcher dem angeblichen Urheber cler Schrift bekannter Umstände, Widerspruch mit anderen echten Schriftstücken derselben Person, Nichtübereinstimmung mit Bildungsgrad und Charaktereigenschaften des angeblichen Urhebers, Nichterwähnung von Umständen, die dieser hätte erwähnen müssen, Yerschiedenheit des Styls und der Ausdrucksweise). 38 Die österr. Strafprozessordnung erwähnt noch ausdrücklich Untersuchungen wegen Brandstiftung (§ 137) und Sachbeschädigung (§ 138), Schätzung des durch strafbare Handlungen verursachten Schadens (§ 99), die w ü r t t e m b . StPO v. 1868: Angriffe auf die Sittlichkeit (Art. 189), Kassenverbrechen (Art. 192). Eine Bestimmung über Werthermittelung s. in der sächs. StPO Art. 185 u. s. w.

728 § 60.

Die Aussage der Sachverständigen.

I. Findet eine Untersuchung durch Sachverständige a u s s e r d e r H a u p t v e r h a n d l u n g i m A n s c h l u s s an d e n A u g e n s c h e i n statt, so ist es als das regelmässige und natürliche anzusehen, dass sie über die von ihnen gemachten Wahrnehmungen sogleich, und zwar schrittweise, nämlich jedesmal, wTenn sie die Untersuchung eines Gegenstandes beendigt haben und ehe sie der eines andern sich zuwenden, dem Gericht berichten, und zwar, indem sie ihre Wahrnehmungen zu Protokoll dictiren. Es steht aber nichts entgegen, dass sie die Befundaufnahme auch selbst zu Papier bringen und dass diese als Beilage dem Protokoll angefügt und mit diesem beglaubigt wird. Die Bestimmung des § 82 StPO, nach welcher es im Vorverfahren von der Anordnung des Richters abhängt, ob die Sachverständigen ihr Gutachten schriftlich oder mündlich zu erstatten haben, unterscheidet übrigens weder zwischen Befund und Gutachten \ noch zwischen den Fällen, wo die Aufnahme des ersteren in Gegenwart des Gerichtes stattfindet, und denen, wo dies nicht der Fall ist. Soweit das normale Verfahren, unmittelbare Vernehmung zu Protokoll, eintritt, nähert es sich dem bei der Zeugenvernehmung. Bezüglich der Einzelheiten ist zu bemerken: 1. Die Bestimmung des § 58 der StPO gilt zwar, abgesehen von der Modification durch § 82, vermöge des § 72 auch für die Vernehmung von Sachverständigen. Allein so wie die Natur der Sache und der Wortlaut des zweiten Absatzes des § 58 die dort vorgesehene Gegenüberstellung ausschliessen, so tritt auch die \ 7 orschrift, dass die Vernehmung „einzeln und in Abwesenheit der später abzuhörenden Zeugen" stattfinden soll, ausser Anwendung; die Materialien des Gesetzes lassen zudem den Auslegern 2 keinen Zweifel darüber, es sei selbstverständlich, dass 1

Im Gegensatz hiezu lautet § 124 cler ö s t e r r . StPO: Die Angaben der Sachverständigen über die von ihnen gemachten Wahrnehmungen (Befund) sind von dem Protokollfüln-er sogleich aufzunehmen. Das Gutachten sammt dessen Gründen können sie entweder sofort zu Protokoll geben oder sich die Abgabe eines schriftlichen Gutachtens vorbehalten, wofür eine angemessene Frist zu bestimmen ist. 2 RGE v. 8. Mai 1880 Entscli I I 153 if.; L ö w e Bern 2a, Schwarze Bern 1. P u c h e l t Beni 2 zu § 82; Geyer HH I 251. Das Hauptmotiv für die Ausleger bildet die in den Motiven zur Civilprozessordnung enthaltene Bemerkung, die Zulässigkeit der gleichzeitigen Befragung der Sachverständigen sei selbstverständlich. Schon daraus und aus der bei S c h w a r z e vorkommenden Berufung auf Art. 290 der sächs. StPO (der übrigens von der R e g e l der Einzelvernehmung ausgeht und nur A u s n a h m e n zulässt) ergiebt sich, dass man zunächst an die H a u p t v e r h a n d l u n g denkt. Bezüglich des Vorverfahrens möchte ich, so wenig ich der-

.

Die

u g e r

Sachverständigen.

für die Vernehmung der Sachverständigen die entgegengesetzte Regel gelte. Der dafür geltend gemachte sachliche Grund reicht aber nur aus, um es als zulässig zu erklären, dass in der Hauptverhandlung n a c h cler abgesonderten Vernehmung der Sachverständigen (die bei Ungleichheit der Lebensstellung u. s. w. doch nicht ohne Nutzen ist) auch nötigenfalls eine gleichzeitige Vernehmung, ein Austausch von Erklärungen vor Gericht stattfinde. Ausser der Hauptverhandlung wird aber der Befund gemeinschaftlich aufgenommen ; es ist nicht nur nicht zu verhindern, sondern es soll auch gar nicht verhindert, vielmehr veranlasst werden, dass sich die Sachverständigen ihre Wahrnehmungen sogleich gegenseitig mittheilen, damit etwaige Verschiedenheiten angesichts der zu besichtigenden Gegenstände ausgeglichen und aufgeklärt werden. Unter diesen Umständen dann die Aussagen sondern wäre nicht blos Pedanterie und zwecklose Vielschreiberei, sondern leicht selbst der Anlass zu zufälligem und scheinbarem Auseinandergehen der Aussagen, trotz wirklicher Uebereinstininiung der subjectiven Eindrücke. 2. Die sogen. G e n e r a l i e n haben bei Sachverständigen nicht dieselbe Bedeutung wie bei Zeugen, da bei jenen als Regel angenommen werden kann, dass die bezüglichen Verhältnisse clem Gericht bekannt sind, und dass die Sachverständigen, die so oft in den Fall kommen gleichen Wortauslegungen liehe, darauf hinweisen, dass § 82 die Sachverständigen in cler Mehrzahl und daneben „ihr Gutachten" in der Einzahl erwähnt und daher sichtlich ein einheitliches und gemeinschaftliches vor Augen hat. — Was die Hauptverhandlung betrifft (des Zusammenhanges wegen sei es gestattet, dieselbe schon hier mit zu besprechen), so bringt die mündliche Vernehmung von selbst eine Sonderling mit sich und es tritt dort überhaupt mehr das Gutachten im engeren Sinne und dessen Begründung in den Vordergrund; und eben darum ist dort von der Regel der Einzelvernehmung auszugehen (was freilich leichter wäre, wenn der Befund vorher verlesen würde), von der nur in der im Text angegebenen Weise abzuweichen ist. — Vgl. auch §§ 247 u. 248 öst. StPO, wo es bezüglich cler Hauptverhandlung heisst, dass die Sachverständigen „einzeln vorgerufen und . . abgehört werden", und der Vorsitzende habe dafür zu sorgen, dass „ein noch nicht vernommener Sachverständiger bei der \Ternehmung anderer Sachverständiger über d e n s e l b e n Gegenstand nicht zugegen sei". (Auch nach s c h o t t i s c h e m Recht. A l i s o n ρ 542—545, M a c d o n al cl ρ 558, sollen clie Aerzte der Vernehmung der Zeugen, nicht aber der anderer Aerzte beiwohnen.) Dagegen enthält das der Vernehmung der Sachverständigen in der \'oruntersuchung gewidmete Hauptstück die bezüglich der Zeugen ertheilte Anordnung über Vernehmung in Abwesenheit anderer nicht; vielmehr weist § 124 österr. StPO auf eine gemeinschaftliche Aussage. — Beim zusammengesetzten Augenschein sind die Sachverständigen, wenigstens die vom Gericht berufenen, ein Theil der Gerichtscommission und ihre fortwährende gleichzeitige Anwesenheit liegt daher in der Natur der Sache.

730

§ 60.

Die Aussage der Sachverständigen.

mussten, dieselbe Angabe zu wiederholen, dabei nichts unwahres sagen werden. Handelt es sich um persönliche Verhältnisse, welche eine Ausschliessung oder Ablehnung begründen, so ist dies ein besonders auszutragender Zwischenfall, in welchem allerdings ein förmliches Zeugniss des abzulehnenden abzulegen ist. Sonst aber werden Fragen über persönliche Verhältnisse und solche Umstände, „welche die Glaubwürdigkeit in der vorliegenden Sache betreifen" (§ 67), gewöhnlich erst im Laufe der Vernehmung zur Sprache kommen. Bei dem Sachverständigen wird es sich dabei nicht selten um solche Angaben über seine Vorbildung und über seine Erfahrungen handeln, welche gestatten sollen, zu beurtheilen, welchen Werth seine Ansichten haben. Diese Angaben gehören meines Erachtens zum Gutachten im w. S., das ja alles umfassen muss, was den Richter bestimmen soll, sich von dem Sachverständigen überzeugen zu lassen, und sie fallen daher auch unter den Sachverständigeneid und unter die Zusage, das Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen zu erstatten. Die Aussage über die sogen. Generalien ist daher in der Regel ganz entbehrlich (wie sie sich denn auch in schriftlichen Gutachten nicht finden wird); sind bestimmte Gründe vorhanden, dazu gewöhnlich gerechnete Verhältnisse durch die Aussage des Sachverständigen festzustellen, so bedarf es des Zeugeneides darüber nur bei dem Inciclentfalle der Ablehnung; sonst fällt die Erhebung mit der Vernehmung zur Sache zusammen 3 . 3. Der Gang der Vernehmung selbst wird nur in sehr entfernter Weise der im § 68 enthaltenen Anordnung entsprechen können, selbst schon soweit es sich um die Angabe über wahrgenommene Thatsachen handelt. Insbesondere wird sich hier die der Regel nach zulässige Mitwirkung der Parteien bei der Vernehmung fühlbar machen. I I . Findet schon die Untersuchung in Abwesenheit des Gerichtes statt, so muss der Bericht über die Ergebnisse derselben nicht blos die Wahrnehmungen, welche gemacht wurden, sondern clen ganzen Hergang von dem Augenblicke an, wo die zu untersuchenden Gegenstände clem Sachverständigen übergeben oder überwiesen wurden, unter 3 Die im Text entwickelte Anschauung erspart in der Regel die missliche Doppelbeeidigung, welche L ö w e Bern 2 b und P u c li e 11 Bern 2 zu § 82 wenigstens eventuell für nöthig halten. Allerdings meinen sie, es müsse nur geschehen, wenn die Personalfragen „von besonderer Wichtigkeit sind" ; allein wenn man annimmt, dass § 67 auch für die Sachverständigen gilt, und wenn man so grosses Gewicht darauf legt, dass die Zeugen über die Generalien n a c h der Beeidigung verhört werden, so ist es schwer, für Sachverständige einen Unterschied je nach der Wichtigkeit dieser Antworten zu begründen.

§ 60.

Die Aussage der Sachverständigen.

Hervorhebung aller die Identität feststellenden Umstände sowie Bezeichnung cler Methode der Untersuchung, angeben. I I I . Unter allen Umständen muss dafür gesorgt werden, class der Bericht, die thatsächliche Angabe der Sachverständigen, der B e f u n d , scharf gesondert werde von der Darstellung der daraus gezogenen Folgerungen, dein G u t a c h t e n im engeren Sinne, gleichviel ob letzteres neben clem Befunde von denselben Sachverständigen oder ob es in jeder Hinsicht gesondert abgegeben wird. Das Gutachten muss wieder in zwei Theile zerfallen: clen A u s s p r u c h selbst, welcher gewöhnlich die Antwort auf bestimmte Fragen enthalten w7ird, welche dem Sachverständigen die Umstände und Verhältnisse angaben, auf deren Feststellung es dem Gericht oder den Parteien ankommt, und die in clen meisten Fällen das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines gesetzlichen Merkmals der strafbaren Handlung begründen, — und die Darlegung der G r ü n d e , welche den Sachverständigen zu diesem Ausspruche bewegen. Es besteht hier eine unverkennbare Analogie mit dem Urtheil und den Entscheidungsgründen des Gerichtes, namentlich soweit es sich um Thatfragen handelt; und ebenso wie für das Gericht die Abfassung der Entscheidungsgründe der schwierigste, wenn auch nicht der wichtigste Theil seiner Aufgabe ist, so in noch höherem Maasse die Darlegung cler Gründe seines Gutachtens für den Sachverständigen, der sich gegenwärtig halten soll, dass seine Begründung die Urtheiler überzeugen muss, ehe sein Ausspruch Grundlage des Urtheils zu werden vermag, — dass sie einer Ueberprüfung in derselben und in höherer Instanz ausgesetzt werden kann und dass sie ebenso geeignet sein muss, von Nichtsachkundigen verstanden, als von Sachkundigen beurtheilt zu werden. Es können eben darum clem Sachverständigen hiebei nicht die engen Grenzen gesetzt werden, die dem Zeugen gesteckt sind. Dieser Theil seiner Aussage findet in der Zeugenaussage kaum je ein Gegenstück. Es muss ihm gestattet sein, weit auszuholen: die Grundbegriffe und allgemeinen Gesetze anzuführen und anschaulich zu machen, aus welchen er seine Folgerungen für den besonderen Fall ableitet, — die Richtigkeit dieser sowohl durch Gründe als durch Anführung ähnlicher Fälle, gleichviel ob ihm diese aus eigener Anschauung oder aus der Literatur seiner Wissenschaft bekannt sind, allenfalls auch durch Experimente, welche sich nicht unmittelbar auf clie Untersuchung cler sachlichen Beweismittel beziehen (und daher nicht zum Befund, sondern zum Gutachten gehören), zu begründen, — Einwendungen gegen seine Ansichten vorauszusehen und zu bekämpfen. Er muss aber auch bereit sein, letzteren sowie überhaupt Fragen Rede zu stehen, welche die

732

§ 60.

Die Aussage der Sachverständigen.

Heranziehung der vorerwähnten Moniente und ihre Vorführung vor die Urtheiler bezwecken. — Andererseits versteht es sich von selbst, dass es dem Werth seines Gutachtens durchaus keinen Eintrag thut, vielmehr dessen richtige Benutzung sichert, wenn er die Grenzen seiner Erkenntniss deutlich bezeichnet, genau sondert, was, vom Standpunkt der Wissenschaft oder Kunst aus betrachtet, als feststehend gilt, was nur Sache der Ansicht und persönliche Meinung, was ausser Zweifel gestellt, wahrscheinlich oder zweifelhaft ist. IV. Die Aussage cler Sachverständigen i η d e r H a u p t v e r h a η d l u n g gestaltet sich sehr verschieden, je nachdem es sich um die Herstellung des B e f u n d e s oder um Abgabe eines G u t a c h t e n s handelt. Was das letztere betrifft, so kann ein solches durch schriftliche Abfassung in Ruhe und Sammlung einen Werth erlangen, für den nur seltene Begabung in Bezug auf mündlichen Vortrag einen Ersatz gewähren kann. Immerhin aber handelt es sich hier sehr oft um Formen der Erprobung, um die Ausgleichung von Gegensätzen, Aufklärung von Zweifeln, Behebung von Missverständnissen, welche bei dein Austausch mündlicher Rede und Gegenrede wesentlich gewinnen. Anders steht dies bezüglich cles Befundes, wenn derselbe sofort schriftlich oder zu Protokoll abgegeben wurde. Diese frische und genau controlirte Aufzeichnung steht als Grundlage der Beweisführung (unbeschadet cler Ergänzung und Erprobung durch mündliche Vernehmung) entschieden über der späteren Erzählung aus dem Gedächtniss 4 . Allein nach der deutschen Strafprozessordnung ist in der Hauptverhandlung der Regel nach die gesainmte Aussage der Sachverständigen als eine rein mündliche zu behandeln; die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung erfolgt nicht durch Verlesung der bei Einnahme des Augenscheins aufgenommenen oder schriftlich abgegebenen Erklärungen der Sachverständigen, sondern durch deren mündliche Vernehmung, und zwar gilt dies für den Befund sowohl als für das Gutachten. Letzteres ist unbedingt zu billigen. Vermöge cler oben (§ 56) dargelegten Unterschiede zwischen Befund und Gutachten und vermöge der offenbaren Analogie zwischen der Befundaufnahme 4

Das in Bezug auf Verlesung von Schriftstücken sehr zurückhaltende S c h o t t l a n d f o r d e r t daher, dass der in der Hauptverhandlung erscheinende Sachverständige den von ihm in der Voruntersuchung abgegebenen schriftlichen Bericht (unbeschadet weiterer mündlicher Befragung) vorlese. „Der Gruncl dieser Ausnahme", sagt A l i s o n ρ 541, „ist die Erwägung, dass die von Aerzten oder anderen Fachmännern bezeugten Thatsaehen zumeist so ins einzelne gehen, dass sie dem Gedächtniss nicht mit Beruhigung anvertraut werden können, und dass man sich viel besser auf einen Bericht verlassen kann, den der Zeuge zu der Zeit abfasste, als die Wahrnehmungen noch frisch in seiner Erinnerung hafteten".

§ 60.

Die Aussage der Sachverständigen.

u n d dem Augenschein glaube ich dagegen, ersteren auch

im

auf

Grund

macht aber macht)5,

allgemeinen

den

des §j 252

diesen Unterschied

und

es bleibt

Vorzug erfolgen nicht

dass die Verlesung

verdient wird. (wie

und

Das ihn

i n der

deutsche

das

der

Regel Gesetz

österreichische

bei der Auslegung n u r die W a h l ,

entweder

anzunehmen, dass das ganze Augenseheinsprotokoll m i t Einschluss von Befund u n d Gutachten zu verlesen ist, oder dass beide n u r unter den Ausnahmebedingungen, welche §§ 252 ff. aufstellen, dürfen.

verlesen werden

D a muss man sich n u n wohl für letztere Ansicht entscheiden,

welche zunächst schon clen W o r t l a u t des § 249 für sich hat u n d welche allein die so nothwendige mündliche E n t w i c k e l u n g u n d E r p r o b u n g des Gutachtens i m engeren Sinne sichert, überdies auch i n den i m § 255 gemachten Ausnahmen, die allerdings

auch bei cler entgegengesetzten

Auslegung nicht ganz ohne H a l t w T ären, eine U n t e r s t ü t z u n g

findet 6.

Nach § 252 österr. StPO dürfen die „ G u t a c h t e n der Sachverständigen" nur unter denselben Bedingungen in der Hauptverhandlung verlesen werden, wie Protokolle über die Vernehmung von Zeugen. Dagegen „müssen" „Augenscheinsund Befundaufnahmen" verlesen werden, wenn nicht beide Parteien darauf verzichten. 6 Die Frage, ob und in welchem Umfange mit dem Augenseheinsprotokoll auch die in demselben enthaltenen Erklärungen der Sachverständigen in der Hauptverhandlung verlesen werden dürfen, ist sehr bestritten ; und die Controverse lässt sich um so weniger mit einigen Worten abtliun, weil die doppelte Bedeutung des Wortes „Gutachten", je nachdem es den Sachbefund mit einschliesst oder nicht, das Verständniss der Gesetze und Schriftsteller erschwert. Die beiden wichtigsten Darsteller des deutschen Strafprozesses nach 1848 gehen hier mit der Meinung de lege ferenda auseinander. P l a n c k S 375 will nur „ im Nothfall " und ausserdem „zur Auffrischung des Gedächtnisses" „auch hier wie bei den Zeugen die Verlesung der in der Voruntersuchung gerichtlich niedergeschriebenen Aussage des Sachverständigen oder seines schriftlich abgestatteten Gutachtens" zulassen. Z a c h a r i ä , Handbuch I I 367, hält die Verlesung der Protokolle über die Erhebung des objectiven Thatbestandes „einschliesslich (1er darauf bezüglichen Gutachten der Sachverständigen" für „theils u n e n t b e h r l i c h (und zwar sowohl im Interesse der Anklage als der Vertheidigung) theils unbedenklich". B e i d e constatiren aber die Z u l ä s s i g k e i t der Verlesung nach den damals bestehenden Gesetzen und erwähnen nur zwei Ausnahmen, die in der braunschweigischen Strafprozessordnung (§ 90) angeblich enthaltene Ausschliessung der Gutachten im engeren Sinne (wörtlich: „Angaben der Schätzer und Sachverständigen, jedoch nur wenn diese lediglich den objectiven Thatbestand betreifen", was, wie auch die Motive beweisen — s. Degen er II 66—, nur die Angaben über Zurechnung ausschloss) und das in der h a n n o v e r schen StPO §151 enthaltene Verbot der Verlesung der Gutachten von n i c h t i n der V o r u n t e r s u c h u n g vernommenen Sachverständigen. In O e s t e r r e i c h ward an der Zulässigkeit und theilweisen Nothwendigkeit der Verlesung der Augenscheinsprotokolle mit Einschluss der darin enthaltenen Angaben der Sachverständigen nie gezweifelt (§ 281 StPO v. 1850, § 241 StPO v. 1853). Erst die StPO v. 1873 unterscheidet zwischen „ G u t a c h t e n der Sachverständigen" und „Befundaufnahme" (s. Anm 5).

§ 60.

Die Aussage der Sachverständigen.

V. Die B e d e n k e n , welche sich der Aussage der Sachverständigen entgegenstellen, können hier nur so weit erwähnt werden, als es Dass auch die Bestimmungen des b a y e r i s c h e n Gesetzes so verstanden wurden, class danach „Augenscheinsprotokolle und Gutachten cler Sachverständigen" in der Hauptverhandlung verlesen werden dürfen, bezeugt W a l t h e r S 317. Die Fassung der s ä c h s i s c h e n StPO (Art. 292 — vgl. auch S c h w a r z e , Commentar I I 92; die rev. StPO v. 1868 nahm noch eine erweiternde Bestimmung über S c h ä t z u n g e n auf; vgl. die Motive bei S c h w a r z e , StPGesetze 1869 I 241) lässt keinen Zweifel, da sie von „Gutachten cler vor cler Hauptverhandlung befragten Sachverständigen" spricht. — Minder deutlich ist clie Sache bezüglich der p r e u s s i s c h e n Praxis. Dieser scheint die kategorische Fassung des § 19 der V v. 3. Jan. 1849, nach welcher clas über „eine Beweisaufnahme durch Einnehmung des Augenscheins an Ort und Stelle aufgenommene Protokoll bei clem mündlichen \"erfahren vorgelesen werden muss", Schwierigkeiten nach der entgegengesetzten Seite gemacht zu haben; zur V e r m e i d u n g cler Vernichtung des Urtheils wegen u n t e r b l i e b e n e r Verlesung des Protokolles wurde (Entsch. des OTr v. 26. April 1855 GA I I I 554) geltend gemacht, die Vorschrift beziehe sich nur auf die Besichtigung der Localitäten, nicht auf die Ausgrabung, Besichtigung und Section einer Leiche (v. S te m a n n , Darstellung cles preuss. Strafverfahrens S 151. 152; O p p e n h o f f bei § 19 Nr 5). L ö w e , Der preuss. Strafprozess S 244 beschränkt sich auf die Bemerkung, es werde die Verlesung des Protokolls durch die mündliche Vernehmung cler Sachverständigen „überflüssig gemacht unci es b e d a r f daher z. B. nicht cler Verlesung von Obductions- und Sectionsprotokollen". Die Z u l ä s s i g k e i t derselben wird an keiner der erwähnten Stellen angefochten; wohl aber macht Oppen ho ff, theilweise wohl von clem Bestreben geleitet, Entscheidungen des Obertribunals miteinander in Einklang zu bringen, zwischen B e f u n d und G u t a c h t e n einen Unterschied und erklärt die Vorlesung des letzteren für unzulässig (§ 14 Nr 46, § 22 Nr 14 u. 15, Art. 25 Nr 21). Diesen Unterschied könnte man auch in § 247 der StPO v. 1867 für die neupreussischen Provinzen finden, welcher den Bestimmungen der §§ 248 if. der cl. StPO sichtlich zum Ausgangspunkt gedient hat, und zwischen Augenscheinsprotokollen, die immer, unci „ G u t a c h t e n " , die nur dann verlesen werden können, wenn sie von B e h ö r d e n ausgehen, unterscheiden. Allein schon bei Auslegung dieses Gesetzes ward clas Wort „Gutachten" im weiteren Sinne genommen, in welchem es allerdings andere Stellen dieser Strafprozessordnung verstehen, und es ward angenommen, class das „ s c h r i f t l i c h e Gutachen" (welches auch durch eine schriftliche Versicherung an Eiclesstatt bekräftigt werden konnte und insofern zu dem protokollarisch abgegebenen eine Art Gegensatz bildete) für clie Hauptverhandlung die Abhörung nicht ersetze (Ehm ei er S 112 Bern 1 zu § 172). Unter clen zu der gleichen Gruppe gehörigen jüngsten StPO cler deutschen Einzelstaaten lässt die W ü r t t e m b e r g ! s che von 1868 „die während cler Voruntersuchung oder cles clie Hauptverhandlung vorbereitenden Verfahrens . . . von Sachverständigen abgegebenen Gutachten" verlesen (Art. 312). Die sehr allgemein gehaltene Bestimmung des § 240 cler b a c l i s c h e n StPO v. 1864 steht der Verlesung selbst von Gutachten nicht entgegen; doch erwähnt A m m a n n S 178 neben „Protokollen über clen objectiven Thatbestand" nur Gutachten erschienener Sachverständiger. — Die o l d e n b u r g i s c h e StPO v. 1858 Art. 271, die l ü b i s c h e StPO v. 1862 § 194, Art. 308 cler grossli. h e s s i s c h e n StPO v. 1865 unci § 411 cler b r e m e r StPO v. 1870 lassen „clie während der Voruntersuchung abgegebenen Gutachten von Sachverständigen" verlesen ; dagegen

§ 60.

sich um ä u s s e r l i c h e

735

Die Aussage cler Sachverständigen.

G e b r e c h e n oder u m den V e r n i c h

äusser-

1 i c h e r Abhilfe h a n d e l t : 1. I n

einer

anderen

Strafsache

abgelegte

Aussagen

von

Sachverständigen sollen n u r so weit benutzt werden, als es nicht möglich

ist,

sie durch

andere, i m

gegenwärtigen Prozess abgelegte

zu

ersetzen. 2. Das gleiche g i l t von an äusserlichen M ä n g e l n leidenden, i n derselben Strafsache abgelegten Aussagen. findet

D i e maassgebende A n o r d n u n g

sich i n § 83 Abs. 1 u. 2 ; aus letzterem geht insbesondere her-

v o r , dass selbst die Benutzung der Aussage

eines später m i t E r f o l g

abgelehnten Sachverständigen dem Ermessen des Richters anheimgestellt schliesst § 168 cler hamburgischen StPO, deren § 167 die Verlesung von „Besichtigungsprotokollen" gestattet, für die Regel die Verlesung von „Aussagen und Gutachten" von Sachverständigen aus. Bei Auslegung der Bestimmungen der deutschen StPO kommt es darauf an, ob die im § 248 erwähnte Verlesung von „Protokollen über die Einnahme des richterlichen Augenscheins" auch auf den ganzen Inhalt von Protokollen über den sog. zusammengesetzten Augenschein zu beziehen sei, oder ob diese Auslegung durch die beiden Ausnahmen, welche § 255 für Gutachten von Behörden und für ärztliche Atteste „über (leichte) Körperverletzungen" macht, ausgeschlossen sei. In ersterem Sinne spricht 'sich auf das bestimmteste L ö w e (Bern 5 e zu § 248) aus, welcher die Protokolle über die Leichenschau unter § 248 stellt, dagegen verlangt, dass über das Ergebniss der L e i c li e η ö ff η u η g cler Beweis durch mündliche Vernehmung der betheiligten Aerzte oder doch eines derselben erhoben werde. Der gleichen Ansicht ist auch F u c h s in HH I 64, D a l c k e Bern 3 u. 4 (nicht ohne sichtliche Bedenken), K e l l e r Bern 3 und T h i l o Beni 4 zu § 248. Das gleiche gilt (trotz der entgegengesetzten Angabe P u c h e l t s ) auch von S c h w a r z e (Bern 5 zu § 248), welcher verlangt, dass die „gutachtlichen Aeusserungen eines Sachverständigen bei dem Augenschein" bei Verlesung des Protokolls weggelassen werden — was P u c h e l t missversteht, wenn er sich für seine e n t g e g e n g e s e t z t e Ansicht (Bçjn 4 zu §§ 248 if. und Bern 3 zu § 85) auf diese Worte beruft. Missverständlich ist auch seine Berufung auf die bei Berathung des § 249 (§ 212 Entw) vom Regierungsvertreter abgegebene Erklärung, durch denselben solle „nur die Vorlesung von Vernehmungsprotokollen ausgeschlossen werden" (Prot cler RtC S 381 ; über die Bedeutung der Erklärung und der sie veranlassenden Frage s. oben § 44 Anm 39). Auch die protokollarische Aufzeichnung der Aussagen der Sachverständigen ist ja doch ein „Vernehmungsprotokoll", was die Aufzeichnung über die Wahrnehmungen des Richters n i c h t ist. — Endlich ist noch clas RGE vom 8. Mai 1880 Entsch I I 153 if. zu erwähnen, wo einerseits ausgesprochen ist, dass die Verlesung des Protokolls über Leichenöffnung durch clen § 248 n i c h t gerechtfertigt wird, andererseits unter den Gründen, trotzdem die Verhandlung nicht zu vernichten, der wohl regelmässig wiederkehrende angegeben wird: Es dürfe „als notorisch betrachtet werden, dass nach mehreren Monaten die Einzelheiten eines Sectionsbefundes sich nicht mehr mit solcher Sicherheit und Genauigkeit im Gedäclitniss der Sachverständigen befinden können, dass die im § 252 StPO für solche Fälle als Hilfsmittel dargebotene Maassregel der Verlesung entbehrlich wäre".

736

§ 61.

Indicien.

ist. (Siehe dagegen § 120 österr. StPO.) Unbedingte Hindernisse der Benutzung von Aussagen der Sachverständigen, deren NichtbeachtungAufhebung des Verfahrens begründen kann, gehen lediglich aus den Bestimmungen zur Wahrung der M ü n d l i c h k e i t der Hauptverhandlung und über die B e e i d i g u n g d e r S a c h v e r s t ä n d i g e n hervor. 3. Bedenken gegen die Vollständigkeit und Richtigkeit des Befundes werden zumeist durch erneute Abhör derselben Sachverständigen unter Hervorhebung der Bedenken erregenden Punkte behoben werden können. Wo dies nicht möglich ist, muss die Β e f u n d aufn a h m e , je nach Lage der Sache unter Zuziehung anderer Sachverständiger, wiederholt werden; gestatten dies die Umstände nicht, so erübrigt hier, so wie bei auf dem angedeuteten Wege nicht beseitigten Bedenken gegen das Gutachten, nichts, als dass die Sache anderen, womöglich an äusserlicher Autorität höher stehenden Fachmännern vorgelegt wird (§ 83 deutsche, §§ 125 u. 126 österr. StPO).

Viertes Kapitel. Indicien. § 61.

Indicien1.

I. I n dein Strafprozess, wie er in Deutschland bis ins letzte Viertel des 18. Jahrhunderts galt, konnte eine Verurtheilung nicht un1 L i t e r a t u r : C l a r u s 1. V § fin. η. 20—23. F a r i n a c c i u s , Praxis et theoria crini. 1. I tit. 5 qu. 36—52. T a b o r , De tortura et indiciis. Glessen 1668. Christ. C r u s i i Tractatus de indiciis delictorum. Rintelen 1682. M a t h a e u s , De criminib. 1. 48 tit. 15 c. 6 et tit. 16 c. 3 η. 6 ss. M e n o c h i u s , De praesumtionibus, conjecturis, signis et indiciis. Col. Agr. 1615. Carpzov. Pract. qu. 119 n. 60 ss. qu. 120—123. Canz, De probabilitate juridica seu praesumtione. Tübingen 1751. P ü t t m a n n , De lubrico indicioruni. Opuscula jur. crim. Lips. 1789. ρ 219 ss. Thomae N a n i De indiciis eorumque usu in cognoscendis criminib. Ticini 1781 (Florentiner Ausg. 1823). P a g a n o , Logica dei probabili. Milano 1806. B a r bae ο v i , Degli argomenti ed indizi nei giudizi criminali. Milano 1820. R e n a z z i 1. I I I c. 14. B e c c a r i a c. 7. F i l a n g i e r i 1. c. c. 15 ρ 408—412. C a r m i g n a n i IV 176 ss. C a r r a r a 1. c. § 964 ρ 537 ss. G i u l i a n i , Istituzioni di diritto criminale. Macerata 1840. t. I 1. I I I tratt. IV c. 5 ρ 670 ss. E l l e r o , Critica criminale cap. 12—20 (Trattati crim. ρ 143 ss.). B o n n i e r Nr 807 ss., vol. I I ρ 387 ss. H é l i e , Instr. § 379 VI, vol. V ρ 758 ss. —Umfassende Angabe der älteren deutschen Literatur bei K a p p l e r S 1043—1066. — G l o b i g , Theorie I 1—86 IT 60—94. 305ff.

§ 61.

mittelbar auf I n d i c i e n

Indicien.

(„Anzeigung,

Argwohnswahrzeichen oder V e r -

dacht", wie sich die Carolina ausdrückt) gegründet werden.

Dennoch

hatten die I n d i c i e n für diesen Prozess eine sehr grosse Bedeutung, da vorwiegend von ihnen die Zulässigkeit der U n t e r s u c h u n g ,

der H a f t

und der fast sicher zur V e r u r t h e i l u n g führenden T o r t u r abhing — so vorwiegend,

dass

schon

dies

den Anlass g a b ,

andere die

Vorbe-

dingungen der erwähnten Prozessakte erfüllende Beweismittel, u n v o l l ständige M i t t e l zur E r l a n g u n g historischer Gewissheit, ihnen gleichzustellen oder vielmehr sie m i t ihnen i n die gleiche Classe einzureihen. Jedenfalls war G r u n d genug vorhanden, ihnen grosse Aufmerksamkeit zuzuwenden, und die sorgsame Besprechung u n d möglichst vollständige Aufzählung der überhaupt u n d bei den einzelnen Delicten anzuerkennenden Indicien war eine Hauptaufgabe der L i t e r a t u r u n d Gesetzgebung. Als diese dann nach Abschaffung

der F o l t e r

daran gingen,

den I n -

dicienbeweis, welcher als unmittelbare Grundlage des E n d u r t h e i l s gelten Joh. Sam. Fr. B o e h m e r , Elementa §§ 106 ss. Q u i s t o r p §§ 612—641. P ü t t m a η η, Elementa §§ 785 ss. G r ο 1 m a η §§ 448 if. F e u e r b a c h §§ 544. S t ü b e 1, Thatbestand §§ 243—258. 261 if. D e r s e l b e , Criminalverfahren §§ 936—1031. 1114—1123. 2640 if. H e n k e , Darstellung S 201 ff. D e r s e l b e , Handbuch IV 562 if. M a r t i n §§ 72. 90—97. A h e g g , Lehrbuch §§ 132 if. K l e n z e S 105—111. M ü 11 e r §§ 125 if. Z a c h a r i ä, Grundlinien S 126 —138. 245 — 206. D e r s e l b e , Handbuch I I §148. M i t t e r m a i e r , Theorie S 377 ff. D e r s e l b e , Beweis S 402 ff. (ital. Ausgabe noch insbes. die Zusätze in cap. 54 bis). D e r s e l b e , Strafverfahren §§ 109. 110. 177—183, I 624 ff. I I 440 ff. D e r s e l b e ΝΑ XIV 674 ff.; ANF 1844 S 274 ff. 443ff. 570 ff.; GA 1858 S 145 ff., 1866 S 313—325. 585—607. H e f f t e r §§ 638—641. B a u e r , Lehrbuch §§ 159—172. D e r s e l b e , Theorie des Anzeigenbeweises (Abhandlungen Band 3). Göttingen 1843. J e n u l i IV 61 ff. K i t k a , Beweislehre S 268 ff. D e r s e l b e im ANF 1841 S 571—615. V i s i n i , Beiträge zur Criminalrechtswissenschaft. Wien 1839 u. 1840. I I 15 ff. 121 ff. P r a t o be v e r a in seinen Materialien I 143—168. T o m a s c h e k in der Ζ f. d. Strafverfahren I I 445 ff. (Vergleichung des österr. G ν. 1833 mit dem württ. Entw). R u l f zur StPO v. 1853 §§ 135 ff. 278—282. v. H y e - G l u n e k , Leitende Grundsätze S 202-205. 302—311. Ρ e i t l e r S 147 ff. 231 ff. 248 ff. F a l t i n , Der Anzeigenbeweis in Livland nach Theorie und Praxis. Riga 1857. Do 11 m a n n , System §61. B ö h l a u , Der mecklenburgische Crim.P. 1867. S 185. 186. Geyer in HH I 210. 211. 302—304. D e r s e l b e , Lehrbuch § 212. U l l m a n n § 123 S 593. 594. J o h n , Das deutsche Strafprozessrecht § 36. S eel S 32 ff. S i e g e n , Juristische Abhandlungen. Abh. I I I S 23 ff. AA I I I Stück 1 S 83 ff. ( E i s e n h a r t ) . NA V I I 53 ff. 205 ff. ( K l e i n schrod). ANF 1846 S 55 ff. und 1852 S 468 f. ( W i e k ) . Hitzigs Ζ XV 1 ff. Hitzig und Demme's Annalen I I 215 ff. ( M a r t i n , Gutachtlicher Bericht des OAG zu Jena über gesetzliche Regelung des Indicienbeweises); S 255 ff. ( S t r o m h e c k über das altenburger Gesetz v. 1837); S 415 ff. (ebenfalls über das altenburger Gesetz). Ζ f. deutsches Strafverfahren I I 1—64 ( B a u e r ) , I I I 133—160 ( G e r a u ) , 331—355 ( B a u e r ) ; NF I 389 ff. ( G e r a u ) , I I 3—31 ( A h e g g ) . GS 1868 S 63 ff. (Seel). GA 1866 S 256—262 (Schaper). Die e n g l i s c h e Literatur s. unten Anm 5. Binding, Handbuch. IX. 4. I : G l as o r . Strafprozess. I .

47

§ 61.

Indicien.

kann, zu construiren, eine Aufgabe, welche die gemeinrechtliche Doctrin nicht blos praeter sondern contra legem sich stellte, dienten jene älteren Arbeiten zum Ausgangspunkt. Schon dies erklärt es, dass auch die spätere Doctrin und Gesetzgebung das Hauptgewicht auf die Definirung der einzelnen Indicien legte, statt dass sie, was nun nöthig gewesen wäre, von dem Begriif des Indicienbeweises ausgehend, den der ihm dienenden einzelnen Elemente klarzustellen gesucht hätte. Auch machte sich bei dieser Entwickelung die negative Seite der Indicien vorzugsweise geltend: dass das Indicium nicht u n m i t t e l b a r Gewissheit schaffe, dass es nur V e r m u t h u n g , nicht volle Gewissheit begründe (eine Aufstellung, zu der man allerdings nur durch willkürliche Ausschliessung der seltener, aber doch vorkommenden no t h w e n d i g e η Indicien gelangte), dass es ebendarum, wenn v e r e i n z e l t , nicht ausreiche — was den Indicienbeweis als eine i n d i r e c t e , k ü n s t l i c h e und eigentlich nicht Gewissheit sondern nur einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit begründende Beweisart charakterisirte und es rechtfertigen musste, dass man, um ihn in das System der legalen Beweistheorie einzufügen, nach äusserlichen Merkmalen suchte, deren Eintreffen erst darüber beruhigen könne, dass auf diese Grundlage ein Endurtheil gestützt werde. Führte dies zu willkürlichen Satzungen, die im neuesten Prozess dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung weichen mussten, so ist allerdings zu besorgen, dass unter dem Yorwand der letzteren mit Unrecht die Sorgfalt in Vergessenheit gerathen könnte, mit welcher man sich bemüht hatte, Wesen und Wirksamkeit der Indicien zu ergründen. Hier soll wenigstens mit einigen Strichen clas so aufgestellte System geschildert werden. Im weiteren Sinn umfasst der Begriff der Anzeige — wenn man aus dem schon angedeuteten Grunde einerseits die unvollständigen natürlichen Beweisarten einbezog, andererseits die seltenen Fälle ausser Betracht liess, wo aus einer Thatsache mit G e w i s s h e i t auf eine andere zu schliessen ist, — alles, was zum Beweis dient, aber noch nicht Beweis macht. Im engeren Sinn und von jenen Ungenauigkeiten alisehend, definirte man sie als eine Thatsache, von „deren Existenz auf die Existenz derjenigen Thatsache, welche den Hauptgegenstand des Beweises bildet, mit Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit geschlossen werden kann" 2 . 2 H e n k e , Handbuch IV 563. Vgl. noch M ü l l e r § 125: „Thatsachen und Umstände, welche mit dem concreten Beweissatze in einem m ö g l i c h e n Zusammenhange stehen und je nach den vorliegenden, für die W i r k l i c h k e i t dieses Zusammenhanges sprechenden Gründen mit G e w i s s h e i t oder nur m i t W a h r -

§ 61.

739

Indicien.

Im Bewusstsein, dass damit sachlich nichts aufgeklärt sei 3 , suchte man den Definitionen durch Beispiele, durch Einteilungen und durch Classificirung der Quellen der Indicien nachzuhelfen. Unter den E i n t h e i l u n g e n sind folgende hervorzuheben: die in g e m e i n s c h a f t l i c h e (ind. communia) und einzelnen Delicten e i g e n t h ü m l i c h e (ind. propria) — in unbestimmte oder allgemeine (generalia) und bestimmte (specialia), d. i. nicht blos auf ein Verbrechen überhaupt, sondern auf ein s c h e i n l i c h k e i t auf das Dasein des Beweissatzes s c h l i e s s e n lassen"; B a u e r . Lehrbuch § 160: „ A n z e i g e (Anzeigung, indicium, argumentum) ist eine Thatsache, aus welcher Gründe für die Wahrheit einer anderen Thatsache durch Schlussfolge abgeleitet werden können". Unter den in G e s e t z e n aufgestellten Definitionen seien erwähnt: Das b a y e r i s c h e StG Art. 308: „Anzeigungen (Indicien) sind Thatsaehen, welche mit einem Verbrechen in natürlichem Zusammenhange stehen, so dass hievon auf das Verbrechen selbst oder auf die Person, welche es begangen, vernünftigerweise geschlossen werden kann". — Die w ü r t t e m b e r g i sehe StPO v. 1843 Art. 327 spricht blos von „Thatsaehen, aus welchen ein Verdacht hergeleitet werden kann", vgl. Art. 286, wo es heisst: „Gewissheit in Strafsachen kann sowohl durch unmittelbaren Beweis derjenigen Thatsaehen, von welchen die Entscheidung abhängt, als auch vermittelst des Beweises anderer Thatsaehen, aus welchen sich auf jene mit Sicherheit schliessen lässt, (durch Folgerungen aus zusammentreffenden Anzeigen) erlangt werden". — Die österr. StPO v. 1853 § 135: „Rechtliche Verdachtsgründe sind Umstände, welche zwischen einer Person und einer strafbaren Handlung einen solchen Zusammenhang wahrnehmen lassen, dass daraus nach unparteiischer Ueberlegung wahrscheinlich wird, dass diese Person die strafbare Handlung begangen oder hieran Theil genommen habe". 3 In diesem Bewusstsein hilft B a u e r , Lehrb. § 160 seiner oben angeführten Begriffsbestimmung durch folgende knappe aber meist zutreffende Schilderung des „Wesens der Anzeige" nach: „1. Die Anzeigen gehören nicht zu den Beweismitteln, sondern zu den B e w e i s g r ü n d e n . 2. Die Ueberzeugung ist hiebei nicht unmittelbar aus der Erfahrung, sondern blos aus Urtheilen über Gegenstände der Erfahrung geschöpft. Sie bilden daher einen i n d i r e c t e n (rationalen, künstlichen) B e w e i s , A n z e i g e n b e w e i s . 3. Bei jeder Anzeige kommen z w e i T h a t s a e h e n in Betrachtung: a. die zu beweisende Thatsache — das H a u p t f a c t u m , welches in einem jeden für die Untersuchung oder Beurtheilung erheblichen Thatumstande bestehen kann; b. die Thatsache, aus welcher die Schlussfolge für das Sein oder Nichtsein des Hauptfactums abgeleitet wird (factum indicii, die a n z e i g e n d e T h a t sache). 4. Zwischen diesen beiden Thatsaehen muss ein solches V e r h ä l t n i s s obwalten, welches von der einen auf die andere zu schliessen gestattet. 5. In dem S c h l ü s s e , auf welchem der in der Anzeige liegende Beweisgrund beruht, bildet a. den Obersatz ein auf den Gesetzen des Denkens oder auf Erfahrung beruhender Satz, nach welchem sich von einer gewissen Thatsache wegen ihres Zusammenhanges mit einer anderen auf diese schliessen lässt. Von der Zuverlässigkeit jenes Satzes hängt daher die Haltbarkeit des Schlusses ab. b. der U n t e r s a t z besteht in der indicirenden Thatsache, welche also gewiss sein muss. c. die aus diesen beiden Vordersätzen sich ergebende S c h l u s s f o l g e besteht in der Subsumtion des Thatumstandes unter den Obersatz". 47*

740

§ 61.

Indicien.

bestimmtes hindeutende, — n a h e und e n t f e r n t e (proxima et remota). Die Q u e l l e n der Indicien ins Auge fassend, suchte man die Gesannntheit der Indicien zurückzuführen auf das Verhältniss der C a u s a l i t ä t (so dass die anzeigende Thatsache bald als Ursache, bald als Wirkung des Verbrechens erscheint), auf das C o ë x i s t e n t i a l - und theilweise daneben auf das Β e d i η g u n g s verhältniss. Mit dieser Eintheilung der Indicien nach ihren Quellen steht die auf das Z e i t v e r h ä l t n i s s gegründete in einem gewissen Zusammenhange: die Eintheilung der Anzeigen in vorhergehende (anteeedentia), begleitende oder zusammenhängende ( coexistent]a, concomitantia, eoncurrentia) und nachfolgende (subsequent]a). Mit Rücksicht auf die aus der Anzeige abgeleiteten Folgerungen ergeben sich die Einteilungen in h a r m o n i r e n d e und w i d e r s t r e i t e n d e Anzeigen, in A n z e i g e n und G e g e n a n z e i g e n , endlich in Anzeigen der Schuld und der Unschuld. An diese Eintheilungen knüpften dann die cloctrinären Anweisungen und die gesetzlichen Vorschriften über die Construction des Indicienbeweises an. An Regeln über genaue Prüfung und über die Art der Sicherstellung jeder einzelnen Anzeigung — an Anleitungen zur Schlussfolgerung von der anzeigenden auf die angezeigte Thatsache schlossen sich nämlich die Versuche an, die Bedingungen zu fixiren, unter welchen die Annahme eines vollen Beweises auf Grund von Indicien zulässig sein soll. Ihren festen Kern finden sie in der Forderung einer M e h r h e i t von Indicien, einer Forderung, deren Erfüllung keineswegs so unbedingt ausser Zweifel zu setzen ist, weil es nicht undenkbar ist, dass eine Scheinmehrheit angenommen wird, wo in Wahrheit nur dieselbe Thatsache in verschiedene Beziehungen gebracht wird. Daran schliessen sieh Forderungen, welche darauf abzielen, die Zahl der nöthigen Indicien zu bestimmen oder eine gewisse Mannichfaltigkeit durch Anknüpfung an die angeführten Eintheilungen zu sichern (z. B. Forderung einer gleichzeitigen, einer vorausgehenden und einer nachfolgenden Anzeige). Sieht man von dem, was hievon willkürlich ist und der Vergessenheit verfallen muss, ab, so kann man als den Kern der Forcierungen cler gemeinrechtlichen Theorie bezeichnen: class eine wirkliche, nicht durch künstliche Spaltung geschaffene M e h r h e i t von anzeigenden Thatsachen, deren jede vollkommen erwiesen und schlüssig ist, vorhanden sei — dass die einzelnen Indicien nicht durch Gegengründe widerlegt seien, vielmehr sich gegenseitig unterstützen und — dass aus dieser Combination beweisender Thatsachen eine Ν ö t i l i g u n g zur Annahme des Beweissatzes hervorgehen solle, für die man vielfach, jedoch vergeblich, bemüht war, eine bindende Formel zu finden.

§ 61.

Indicien.

Trotz dor Achtbarkeit und Gewissenhaftigkeit dieser Bestrebungen muss anerkannt werden, class dasjenige, worauf sie behufs Einfügung der Indicien in das Beweissystem des genieinen inquisitorischen Prozesses, abzielen mussten, nämlich die Aufstellung einer Theorie des Indicienbeweises, die auf rechtliche Geltung, auf clen Gehorsam des Richters Anspruch machen konnte, nicht gelungen war. Die G e s e t z e waren allerdings in cler Lage, durch Classification der Indicien und durch Aufstellung numerischer Forderungen eine nicht immer l e i c h t überschreitbare Schranke zu ziehen. Ueberschreitbar war sie indess doch, da sowohl über die Einreihung in die Classen als über die Art cler Zählung cler Indicien Zweifel entstanden, bei deren Lösung die individuelle Ueberzeugung zwar freien Spielraum erlangte, aber nur um clen Preis cler Ablenkung der Aufmerksamkeit vom Wesen der Sache auf eigentlich werthlose Nebendinge. Ueberdies erwiesen sich diese Beschränkungen als willkürliche. Das beweisen die zahlreichen und tiefgreifenden Ausnahmen und Abschwächungen, die ihnen beigegeben werden mussten und für deren Handhabung doch wieder auf clas freie Schalten der richterlichen Beurtheilung gerechnet werden musste. Noch deutlicher aber zeigte dies clie tägliche Erfahrung, das Missverhältniss zwischen clem Grad von subjectiver Ueberzeugung, den einerseits solche Fälle, in welchen jenen äusserliehen Merkmalen entsprochen war, und andrerseits solche, bei welchen es hieran fehlte, erkennen Hessen. Warfen fortschreitende Gesetze, wie die von W ü r t t e m b e r g und B a d e n , solche Normen über Bord, so blieb wenig mehr übrig als der Ersatz der einfachen und rückhaltlosen Hinweisung auf die freie Beweiswürdigung durch zwei oder drei unbestimmte Sätze, clie beachtenswerte Mahnungen enthielten, deren Gesannntergebniss aber doch nur clie gleiche Hinweisung war. In noch höherem Grade gilt dies von clen Theorien der Doctrin, welcher kein Gesetz nachhalf. Sie gingen von der einzelnen Anzeige aus und fanden doch kein anderes Merkmal derselben als clen Eindruck, clen eine bestimmte Thatsache im Geiste des Urtheilers oder Forschers hervorzurufen vermag, einen Eindruck, dessen Bedingungen sich nicht abstract und a priori feststellen lassen, cler vielmehr im gegebenen Falle tatsächlich erprobt werden muss. Ganz ebenso verhält es sich mit der Gegenanzeige, mit clen der überzeugenden Kraft der Anzeige entgegentretenden Umständen, und in noch höherem Grade mit der Formulirung cler Bedingungen für clen Uebergang von cler durch die einzelnen Indicien begründeten Wahrscheinlichkeit zu der Wirkung eines vollen Beweises. Man kann diese Theorie schliesslich in die Sätze zusammenfassen: Eine Anzeige ist eine Thatsache, welche ini

742

§ 61.

Indicien.

gegebenen Fall eine andere wahrscheinlich macht ; ein voller Anzeigenbeweis ist dann vorhanden, wenn aus einer Mehrheit von Anzeigen die Ueberzeugung von der Wahrheit des Bewreissatzes sich ergiebt. Bei directen Beweismitteln verhält es sich zwar, wenn tiefer eingedrungen wird, nicht anders; auch sie bewähren sieli als solche nur durch clen von Fall zu Fall zu erprobenden Eindruck, den sie hervorrufen. Allein sie haben alle clas gemein, dass nur ihre Glaubhaftigkeit zu untersuchen ist, der Beweissatz aber, für den sie sprechen, durch sie gegeben ist; man kann fragen, ο 1) sie beweisen, aber nicht w a s sie beweisen ? Sie lassen sieh ferner durch gewisse greifbare Merkmale eharakterisiren, die sie als zu einer bestimmten Classe zusammengehörig erkennbar machen, und diese Merkmale vertragen eine abstracte Formulirung, so dass sich im concreten Falle untersuchen lässt, ob ihnen entsprochen ist. Und die Selbsttäuschung der gemeinrechtlichen Theorie bestand eben darin, class sie meinte, clas, Avas sie in dieser Richtung mit einem allerdings beschränkten Erfolg für das Zeugniss, clas Geständniss u. s. w. gethan hatte, auch für clen Indicienbeweis thun zu können, während doch die Anzeige sich nur durch clie mögliche Beziehung auf einen bestimmten Beweissatz von cler Masse gleichgültiger Thatsachen unterscheidet, und umgekehrt wieder die Thatsache, auf welche sie hinzeigen soll, nicht von selbst sich darbietet, sondern erst von dem Forscher oder Urtheiler mit ihr in Verbindung gebracht werden muss. Das Zeugniss im weitesten Sinne stellt sich ferner dar als bestimmte Bestätigung einer Thatsache ; von aussen muss die Kritik hinzukommen, welche diese Bestimmtheit in Frage stellt und herabmindert. Das Indicium dagegen verzichtet, von den n o t wendigen Anzeigen abgesehen, von vornherein auf den Anspruch, etwas als wahr darzuthun, und verweist auf die unendlicher Nuancirung fähigen Kategorien cler Möglichkeit, cler Wahrscheinlichkeit und cles Muthinaassens. Die positiv-rechtliche Beweistheorie musste sich nun zur Aufgabe machen, allgemein giltige Bedingungen aufzustellen, deren Erfüllung allein gestatte, zu erklären, dass aus einem Aggregat von Muthniaassungen rechtliche Gewissheit hervorgegangen sei, und es ist bereits gezeigt worden, dass diese Aufgabe eine unlösbare war. Und die Erkenntniss cler Unlösbarkeit dieser Aufgabe bestimmte die neueste Gesetzgebung, noch vollständiger auf jeden Versuch einer Regelung des Indieienbew7eises zu verzichten, als dies angesichts anderer Beweise cler Fall war. Selbst cler Name cles Inclicienbeweises, fast jede Hinweisung auf ihn ist aus clen Gesetzen seit 1848 (soweit sie nicht zu clen früheren Grundlagen überhaupt zurückkehrten, wie die österr. StPO von 1853) verschwunden. Und wie die Gesetze mit Recht sich

§ 61.

Indicien.

darauf beschränkten, die Freiheit der Beweiswürdigung zu proclamimi, so that es mit viel weniger Berechtigung auch die Literatur. Während früher beim Streit über Beweistheorie und Strafprozessreforni der Indicienbeweis den Mittelpunkt aller Controversen bildete, ist es plötzlich ganz still um ihn geworden. I n clen wenig zahlreichen Arbeiten, die sich überhaupt mit ihm beschäftigen 4, ist aber naturgemäss cler Hinblick auf das e n g l i s c h e Recht 5 vorherrschend, welches allein die freie Beweiswürcligung gelten lässt, ohne sie eleni Instinct, dem individuellen Eindruck einfach zu überlassen. II. Ein Indicienbeweis ist dann geführt, wenn entweder 1. die Wahrheit cler zu beweisenden Thatsache aus einer anderen, nicht in ihrer persönlichen Wahrnehmung bestehenden Thatsache oder aus einer Verbindung solcher Thatsaehen n o t h w e n d i g folgt; oder 2. wenn auf die zu beweisende Thatsache aus anderen Thatsaehen der bezeichneten Art mit W a h r s c h e i n l i c h k e i t geschlossen werden kann und sich dieselbe z u g l e i c h als die einzige darstellt, welche zu allen zur Gewissheit erhobenen Umständen des Falles so passt, dass sie sich gegenseitig in befriedigender Weise erklären 6 . 4 Vgl. oben Anm 1. S. insbesondere W i e k , Zur Theorie des Indicienbeweises, ANF 1852 S 468 ff. M i t t e r m a i e r in der ital. Ausgabe seines „Beweis" cap. 54 bis. D e r s e l b e , Beiträge zur richtigen Würdigung des sog. circumstantiellen Beweises, in G A 1858 S 145 ff. D e r s e l b e , Der sog. künstliche Beweis und die zweckmässigste Art seiner Benutzung in dem auf Mündlichkeit . . . gebauten Strafverfahren, das. 1866 S 313—325. 585—607. S c h a p e r das. S 256 ff. S eel, Die Anzeigungen als Grundlage des Wahrspruchs, GS 1868 S 63 ff. Vgl. auch GA 1868 S 394 ff. 5 W i l l s , An essay on the principles of circumstantial evidence. 4. ed. London 1862. S t e p h e n , General view eh. V I I ρ 265 ss. A r c h i ) o l d p. I I eh. 2 sect. 2 ρ 207 ss. A l i s o n I 74. 90. 444. 445 I I 551. G r e e n l e a f I §§ 13—18, I I I 14. 145-147. T a y l o r §§ 54-61. 95—103. 122. 169—171. B e s t §§27. 293 — 303. 439 — 471. W h a r t o n , Criminal law of America book I I ch. I I sect. 7. 8 ρ 264 ss. 6 Auf die Geschichte des Indicienbeweises hat das hieraus abgeleitete Zusammenwerfen des Indicium mit der Vermuthung unter dem gemeinsamen Namen praesumtio wesentlichen Einfluss geübt. Es ist daher auch heute nicht überflüssig, den zwischen beiden bestellenden wesentlichen Unterschied hervorzuheben. Die Vermuthung im herkömmlichen Sinne (im Gegensatze zu demjenigen, in welchem sie oben § 36 I I I gemeint ist) stellt an den Richter eine ganz andere Anforderung als der Indicienbeweis. Sie fordert, dass der Richter eine ein für alle Mal bezeichnete Thatsache, aus welcher anerkanntermaassen eine andere nicht nothwendig folgt, als ausreichenden Grund ansehe, die letztere für wahr anzunehmen, bis das Gegentheil bewiesen oder doch wahrscheinlich gemacht ist. Der Obersatz ist hier eine Generalisirung, die für die darunter fallende Thatsache zwar nur Wahrscheinlichkeit, aber diese i m m e r in Anspruch nimmt. Beim Indicium dagegen ist der

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Dass die e r s t e der oben bezeichneten Beweisführungen als ausreichend anerkannt wird, bedarf keiner Rechtfertigung; eher ist es nöthig, darauf aufmerksam zu machen, dass der Fall nicht blos eintreten kann, sondern sehr häufig eintritt, so namentlich, aber keineswegs ausschliesslich, beim Beweis des objectiven Thatbestands, wo Augenschein und Sachverständige gar oft nur die Mittel bieten, ein oder mehrere Indicien zur Gewissheit zu erheben, und beim Beweis des Dolus. Was dagegen die zweite Art indirecter Beweisführung betrifft, so bedarf einer Rechtfertigung die hier hervortretende Eigentümlichkeit, dass aus blossen Wahrscheinlichkeitsgründen, aus Thatsachen, welche eine andere nur vermuthen lassen, Gewissheit hervorgehen soll. Diese Rechtfertigung, deren übrigens die Beweisführung durch Mittel historischer Gewissheit, die sehr häufig nur durch gegenseitige Ergänzung und Unterstützung ihr Ziel erreichen, ebenfalls bedarf, liegt darin: Es ist an sich nicht zu erwarten, nicht etwas gewöhnliches, dass eine Thatsache eine andere wahrscheinlich macht, während diese doch nicht wahr ist. Noch weniger ist aber zu envarten, dass zu derselben Thatsache eine zweite, dritte u. s. w. in das gleiche Verhältniss trete. Je mehr solcher Thatsachen zusammentreffen, desto weniger wird man geneigt sein, an ein solches täuschendes Spiel des Zufalls zu glauben, wenn nicht conerete Thatsachen für solch wunderbares Zusammentreffen einen plausiblen Erklärungsgrund bieten. Auf dem Widerstreben des menschlichen Geistes, auf Grund einer blossen Möglichkeit, ohne die geringste Verbürgimg ihrer Verwirklichung, an wunderbare Zufalle zu glauben, beruht es, dass man sich von einer Mehrheit von Beweisen, deren jeder einzelne als nicht zureichend erkannt wird, kann überzeugen lassen. Bei natürlichen, directen Beweisen begnügt man sich damit, weil sie mit Bestimmtheit erkennen lassen, w a s sie wenn auch nicht voll verbürgen, doch bestätigen. Bei Indicien, deren jedes einzelne erst durch den Beurteiler als solches anerkannt werden muss, kann dies nicht genügen. Hier muss eine letzte entscheidende Probe hinzukommen, welche in der Analyse des auf synthetischem Wege gewonnenen Resultates besteht. Die Thatsache, welche durch Wahrscheinlichkeitsgründe glaubhaft gemacht ist, wird nun hypothetisch angenommen und in die Gesamnitheit der ein für alle Mal fertige Obersatz eine Illusion, jeder Versuch, gewisse Classen von Thatsachen ein für alle Mal zu Indicien zu stempeln, ein vergeblicher, während freilich andererseits niemals ein Indicium für ausreichend erachtet wurde, den Beweissatz, selbst nur mit Vorbehalt des Gegenbeweises, darzuthun (abgesehen natürlich von den sog. nothwendigen Indicien).

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bekannten Umstände des aufzuklärenden Vorfalles eingefügt gedacht. Zeigt sich nun dabei, dass sie mit ihnen in vollem Einklang steht, dass sie sogar diesen Einklang bekannter Thatsachen unter einander erst herstellt, dass diese durch die Annahme ihrer Wahrheit ihre volle und ausreichende Erklärung finden, während dafür ohne jene eine Erklärung, für welche auch nur einzelne Wahrscheinlichkeitsgründe sprechen, nicht zu finden wäre: dann liegt in diesem Hineinpassen der vorläufig hypothetisch angenommenen Thatsache (und dieser allein) in das Gewebe der mit dem \ T orfall zusammenhängenden bekannten Thatsachen dasjenige, was von der Wahrscheinlichkeit zur Gewissheit hinüberführt: die ü b e r z e u g e n d e K r a f t des I n d i c i e n b e w e i s e s. III. Der im vorstehenden eingehaltene Gedankengang thut zugleich dar, dass die Begriffsbestimmung des Indicienbeweises nicht aus den einzelnen Indicien abgeleitet werden kann ; sondern umgekehrt gelangen wir jetzt erst dazu, die Definition aufstellen zu können: Eine Anzeige oder Anzeigung (indicium, argumentum) ist eine Thatsache, welche dazu beiträgt, eine vorläufig angenommene, also ungewisse Thatsache mit sännntlichen bekannten Umständen eines Vorfalles in eine solche Verbindung zu bringen, vermöge welcher die Wahrheit jener angenommenen Thatsache als die allein denkbare oder doch allein dem regelmässigen Verlauf der Dinge entsprechende Annahme sich darstellt. Hieraus geht schon hervor, dass die Frage, ob eine Classe von Thatsachen ein Indicium für eine andere Classe von Thatsachen abgeben könne, eine falsch gestellte sei. Dennoch haben die hierauf gebauten oben erwähnten Versuche, eine abstracte Indicienlehre aufzustellen, welche der Praxis das Indicium, wie einen behauenen Baustein, zum Einfügen fertig, liefern sollte, manche Aufklärung geboten. Eine eingehende Prüfung derselben und ihre Vergleiehung mit der Natur der Sache liefert das Resultat, dass die Eignung einer Thatsache, als Indicium einer andern zu dienen, aus folgenden zwei Quellen fliesst: 1. Sie muss immer auf das Causalitätsverhältniss, das Wort freilich im weitesten Sinne genommen, zurückzuführen sein: jedes Indicium stellt e n t w e d e r a. die Realisirung einer der Existenzbedingungen d i e s e s Vorfalles, wie er sich nach seinen schon bekannten Uniständen allein zugetragen haben kann, dar, oder es führt durch Folgerung zu einer Thatsache, bei welcher dies zutrifft; o d e r es stellt sich b. in gleicher Weise als die unmittelbare Wirkung des erwiesenen Vorfalles oder als auf eine solche zurückführbar dar. 2. Aus der Betrachtung der bekannten Umstände des Falles ergiebt sich andrerseits eine Anzahl positiver und negativer Anforderungen,

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welchen clie zu erweisende Thatsache entsprechen muss, wenn sie eine zulässige und gar clie jede andere in clen Hintergrund drängende Erklärung cles Vorfalles bieten soll: jede Thatsache, die eine solche positive oder negative Bedingung erfüllt (und es würde bei jeder möglich sein, sie auf das Causalverhältniss im oben bezeichneten Sinne zurückzuführen), wirkt als Indicium, indem sie mindestens dazu beiträgt, die Zahl der möglichen Hypothesen einzuschränken. IV. Die Construction und Prüfung des Inclicienbeweises muss nun in folgender Weise vor sich gehen: 1. Zunächst ist der Bestand jedes einzelnen Indicium sicherzustellen und daran strenge Kritik zu üben, und zwar durch sorgsame Berücksichtigung der p o s i t i v e n und n e g a t i v e n Elemente. Was letztere betrifft, so sind sie allerdings doppelter Art : es können Umstände vorhanden sein, welche die einzelnen Indicien, auf welche der Hauptbeweis gestützt wird, zerstören oder abschwächen (Gegenbeweise gegen Indicien), oder solche, welche sich clem Totalergebniss des unternommenen Hauptbeweises entgegenstellen ( G e g e n an ζ e i g e n ) 7 . Hier sind nur die ersteren zu berücksichtigen und ist vorzugsweise hervorzuheben : a. Die aus einem Thatumstand für die Annahme einer Thatsache sich ergebenden Gründe können durch andere bekannt werdende Thatumstände zerstört oder abgeschwächt werden, sie können dadurch eine Erklärung finden, welche die ihnen auf den ersten Blick beigelegte Wirkung ausschliesst ; b. insbesondere können sie auf täuschende Veranstaltungen zurückzuführen sein. — Es ist daher clie Beweiskraft jedes einzelnen Indicium davon abhängig, dass gegen clas Uebersehen solcher negativer Momente Vorsorge getroffen und also insbesondere clem Angeklagten die Möglichkeit geboten war, solche vorzubringen. 2. Hierauf ist die g e g e n s e i t i g e B e z i e h u n g der einzelnen Indicien ins Auge zu fassen. Ueberall, wo nicht ein sogenanntes nothwendiges Indicium vorliegt, ist eine Mehrheit von Indicien nach cler oben dargelegten Natur cler Sache unerlässlich; im übrigen aber ist auf die Z ä h l u n g als solche gar kein Gewicht zu legen. Von grosser Bedeutung ist dagegen ihre g e g e n s e i t i g e A b h ä n g i g k e i t o d e r U n a b h ä n g i g k e i t (wenn cler eine Umstand nur unter cler Voraussetzung, dass sich ein anderer bewährt, etwas beweist) oder ihre gemeinsame Abhängigkeit von e i n ein Beweiselement (ζ. B. alle Indicien werden durch die Aussage desselben Zeugen bewiesen). 7

Selbstverständlich können Indicien auch als Gegenanzeigen gegen eine auf Mittel historischer Gewissheit sich stützende Beweisführung in Betracht kommen und dem Beweis wie dem Gegenbeweis in Bezug auf Entlastungsthatsachen dienen.

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Indicien.

Endlich kommt das schon oben erwähnte g e g e n s ä t z l i c h e oder h a r m o n i s c h e Verhalten der Indicien zu einander in Betracht. 3. Nun erst, wenn die aus den einzelnen Umständen zu ziehenden Folgerungen als zulässige, aber nicht als nothwendige sich darstellen, ist das Gesannntergebniss zu überschauen und die nach clem früher gesagten entscheidende Probe anzustellen, zu untersuchen, ob die Thatsache, auf welche die einzelnen Indicien hinweisen, hypothetisch angenommen, zu der Gesannntheit der bekannten Thatsaehen des Falles im Verhältniss gegenseitiger Erklärung und Bestärkung steht und ob keine andere Hypothese denkbar ist, bezüglich deren dies in gleicher Weise oder auch nur in annäherndem Maasse der Fall wäre.

Berichtigung. S 229 Anm 18 Ζ . 1 v. ο. lies 47 statt 27.

Sachregister zu Band I. Die Zahlen verweis en auf die Seiten.

A b g a b e η u η d G e f ä 11 e, Zuwiderhand- ' A n k l a g e s c h r i f t , Verlesung der 253. A n k l a g e s t a n d , Versetzung in 46. 151. hingen gegen die Vorschriften über 169. 181. 255. 270. Erhebung (Verfahren bei) 287. A b l e h n u n g von Sachverständigen 681. A n k l ä g e r 30. 54. 62. 85. 135. 148. — Rücktritt des 230. 694 if. A b o l i t i o 62 Anm 8. ! — s. Staatsanwaltschaft, Privatkläger. A n t r a g des V e r l e t z t e n (Verlesung) A c c u s e , Begriff 151. 449. A d h äs i o n s pro ζ ess 179. 192. ; A elmi ni strati ν Strafprozess 283. j A η t r ä g e a u f A u s s e t z u η g der Hauptverhandlung 419 ff. 287. j A d ο p t i ν v e r w a η d t e (Zeugnisspflicht) j — auf B e w e i s e r h e b u n g e n , Stellung des Gerichtes dazu 409 ff. 518. j Antragsberechtigter (als Zeuge) A k t e n des V o r v e r f a h r e n s in der 474. Hauptverhandlung 251 ff. ; s. auch A n w ä l t e (Zeugnisspflicht) 528 ff. V e r l e s u n g und P r o t o k o l l e . A n w e n d u n g s g e b i e t der StPO 300ff. A k t e n ver s e n d u n g 84. 95. A n w e s e n h e i t des A n g e k l a g t e n in A l t e r c a t i o n e s 65. der Hauptverhandlung 456. A m p l i n s 66. A n z e i g e n s. Indicien. A m t s e i d l i c h e V e r s i c h e r u n g 562. A r t i cu I i r t e s V e r h ö r 97. A m t.sg e li e i in η i s s 522. A n a l o g i e 314 ff. ; A r z t , behandelnder (Leichenöffnung) 717. A n g e h ö r i g e des Beschuldigten (Zeug- j nisspflicht) 499 if. j — (Zeugnisspflicht) 528 ff. — Beeidigung 515. 558. j A e r z t l i c h e A t t e s t e 720. — als Mitbeschuldigte 505 f. j A u f k l ä r u n g s. Auskunft. — Pflicht zur Gegenüberstellung 515. j A u f z e i c h n u n g e n der Zeugen 550. A n g e k l a g t e r , Begriff 244. j — des Angeklagten 690. A u g e n s c h e i n 654 ff. — Besprechung mit dem Vertheidiger — Aufgabe 661. während des Verhörs 640. — Beweisaufnahme in der Hauptver— Aufzeichnungen (less. 640. handlung 668. — Schweigen dess. 639. j — Subjectionsverhältniss 610 f. • — Beurkundung 657. — Theilnahme an der Herbeischaffung j — Einnahme 657. des Beweismaterials für die Haupt- j — Gegenstände 665. — Organ des 656 Anm 2. 667. Verhandlung 390. — Stellung der Sachverständigen und — Verhör 612 ff. 637 ff. des Richters 658. 660. — s. Beschuldigter. — im Vorbereitungsverfahren 666. A n g e s c h u l d i g t e r , Begriff 244. A n k l a g e b e w e i s 363. j — zusammengesetzter 656. 660. 673. 711. Α η k l age for m 36. 167. ; A n k l a g e g r u n d s a t z 26ff.209ff. 217ff. ! A u g e n s e h e i n s p r o t o k o l l , Gebrechen des 669. — Einfluss auf die Beweisaufnahme — Gegenbeweis gegen 669. 430 ff. 610. — Verlesung des, in der HauptverhandA n k l a g e j u r y 139. 149. lung 733. A n k l a g e m o n o p o l 195. 227 ff. A u s b l e i b e n des Z e u g e n (EntschulA n k l a g e p r i n c i p s. Anklagegrundsatz, digung) 496. Staatsanklage und Privatanklage.

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Sachregister zu Band I.

B e s c h u l d i g t e r Prozessstellung 43. 86. 95. 103. 154. 610 ff. — Schweigen dess. 635. 639. — Vernehmung ausser der Hauptverhandlung 622 ff. — Vernehmung in der Hauptverhandlung 637 ff. B e s c h w e r d e 256. B e s i c h t i g u n g von P e r s o n e n 464. B e s o n d e r e A r t e n des V e r f a h r e n s 291. B e z i r k s e o l l e g i a l g e r i c h t e (in Oesterreich) 201. B e w e i s 344. — ganzer und halber 91. 349. — vollständiger unci unvollständiger 370. B amb e r g e n s i s 82. B e w e i s a n b i e t u n g 373. B a y e r n , StGB von 1813 120 ff. B e w e i s a n t r i t t 373: B e a m t e , öffentliche (Zeugnisspflicht) Β e w e i s a u f η a h m e 373. 521. — Gang ders. 456 f. — Verfolgung ders. 298 Anm 5. — in der Hauptverhandlung 430 ff. B e e i d i g u n g der Zeugen 466 ff. 556 ff. — durch die Parteien 433 ff. — — ausser der Hauptverhandlung — durch den Vorsitzenden 439 ff. 573. — Schluss der 415. 419. — — in der Hauptverhandlung 576 ff. — Umfang ders. in der Hauptverhand— der Sachverständigen 704 ff. lung 397 ff. — Aussetzung der 583 ff. 709. B e w e i s a u s f u h r u n g 374. — Zeitpunkt der 571 ff. 707. B e w e i s e r h e b u n g e n , Parteienanträge — s. Zeugeneid. 377 f. 380. 390 ff. 406 ff. B e f r e i u n g von der Zeugnisspflicht s. B e w e i s f r i s t 415. 417. Zeugenaussage. B e w e i s f ü h r u n g 345. — von der Aussage über bestimmte — Gegenstand ders. 362. Gegenstände 516 ff. — Arten ders. 368. B e f u n d 673. 731. — Begriff und Stadien 373. — Aufnahme dess. 728. — mittelbare (indirecte) 368. 741 ff. — Herstellung dess. in der HauptverB e w e i s g e g e n s t a n d 358 ff. handlung 732. B e w e i s g r u n d 344. B e i c h t g e h e i m n i s s 525 ff. B e w e i s k r a f t , Maass der 349. B e l g i e n 158. — der Zeugenaussage 555. B e r u f s p f 1 i c h t (Befreiung von der Zeu- — des Geständnisses 604. 609 ff. genaussage) 520 ff. — der Indicien 741. B e r u f u n g gegen den Ausspruch über B e w e i s l a s t 31. 364 f. die Thatfrage 170. 181. 187. 191. B e w e i s m a t e r i a l , Beschaffung für die 200 ff. 213. Hauptverhandlung (deutsch. R) 389 ff. B e s c h ä d i g t e r , Prozessstellung dess. (engl. B) 383 f. 227 ff. 233 ff. (französ.R) 384 ff. — als Zeuge 473. (österr. R) 386 ff. B e s c h u l d i g t e r , Aussage dess. 468. — Mittheilung an die Gegenpartei 416. 599 ff. 620. B e w e i s m i t t e l 55. 71. 76. 81. 87 ff. — Ausschliessung vom Zeugniss 468. 344. 366 ff. — Begriff 244. — Arten ders. 369.

A u s g e b l i e b e n e Z e u g e n 405. 451. A u s k u n f t 354. A u s l e g u n g der R S t P O 314 ff. A u s s c h l i e s s u n g von B e w e i s m i t t e l n 372. — s. Zeugniss, Sachverständige. A u s s e r o r d e n t l i c h e V e r f a h r un gsa r t e n 291. A u s s e r o r d e n t l i c h e S t r a f e 78. 116. 120. A u s s e t z u n g der H a u p t v e r h a n d l u n g 253. 408. — Antrag auf 419. A u s t r ä g a l i n s tanz 285. A v e u 600.

Sachregisterzu Band I.

D i s c r e t i o n a l · e G e w a l t des VorB e w e i s m i t t e l , sachliche 369. 648 ff. sitzenden 151. 386. 388. 394. sachverständige Untersuchung der D i v i n a t i o 62. 711 ff. D r ei t h e i l u n g der strafbaren Hand— Gemeinsamkeit der 425 ff. , hingen 149. 186 f. 211. — Verzicht auf 425 ff. j D r u c k e r (Zeugnisspflicht) 535 f. B e w e i s s a t z 344. B e w e i s s t ü c k e 369. 648 Anm 2. 650. B e w e i s t h e o r i e 122. 127. 140. 346 ff. ! E d i t i o 64. E h e g a t t e n (Zeugnisspflicht) 511. — s. Ueberzeugung, freie. Β e weis ver f a h r en 55. 65. 68. 81. E i d 55. 71. — s. Beeidigung, Zeugeneid. 373 ff. 430 ff. — Form 594. 710. B e w e i s Würdigung 31. 42. — Verweigerung dess. 595. — freie, s. Ueberzeugung, freie. — Religiöse Bedenken des SchwörenB r a s i l i e n 158. den 590. B ü r g e r l i c h e F r e i h e i t , Schutz ders. E i d e s f o r m 588. 45. 47. 176 ff. E i d e s n o r m 587. — s. Staatsrechtliche Momente. E i d e s u n f ä h i g k e i t 562 ff. C a l u m n i a 62. E i d e s u n m ü n d i g k e i t 563. C a p t i ö s e F r a g e n 554. 632. E i d h e l f e r 55. 72. C a r o l i n a 82 ff. E i n d r ü c k e der Z e u g e n 462. C i v i l p a r t e i 148. E i n s p r u c h gegen Versetzung in AnC i v i l r e c h t l i c h e V o r f r a g e n , Beweis klagestand (österr. R) 270. über 651 f. E l b z o l l g e r i c h t e 285. C i v i l r e c h t s p f l e g e , Aufgabe ders. 11. E n d l i c h e r R e c h t s t a g 91. Code d ' i n s t r u c t i o n criminelle E n t k r ä f t u n g s b e w e i s 363. 150. 210. E n t s c h e i d u n g e n ausser der C o l l u s i o n s h a f t 86. H a u p t v e r h a n d l u n g , Grundlage C ο m m i s s a r i s c h e V e r η e h m u η g des ders. 255. Beschuldigten 626. Entscheidungen, thatsächliche, — der Zeugen 450. 452. Begründung ders. 350. — Protokolle über dies, (in der HauptE n t s c h u l d i g u n g des ausbleibenden verhandlung) 643. Zeugen 495 f. Comp e r e n d i n a t i o 66. E r h e b l i c h k e i t herbeigeschaffter C o m p l e x e F r a g e n 632. B e w e i s m i t t e l (Prüfung der) 397 ff. C o m p o s i t i o 54. E r h e b l i c h k e i t von B e w e i s a n t r ä C o n s t i t i ! t i v p r o z e s s 118. gen (Prüfung der) 410. C o n s u e t u d o g e n e r a l i s 78. E v i d e n c e 345. C' ο η sul arge r i cht e 286. 290 Anm 27. — self serving, self disserving, self C o n s u l n , Befugniss fremder, zu Unterregarding 600 f. suchungsakten 305 Anm 9. E x a m i n a t i o n i n c h i e f 431. — Zeugnisspflicht 498. E x c e p t i o (als Einleitung des VerC o n t u m a c i a l v e r f a h r e n 182. fahrens) 73. Cross e x a m i n a t i o n 432. E x c h e q u e r c h a m b e r 142. — s. Kreuzverhör. E x p e r i m e n t e mit oder an Zeugen 464. 468. D ä n e m a r k 160. E x t e r r i t o r i a l i t ä t 303. 498. D é b a t s 212. De l a t i ο no m i n i s 62. D e n u n t i a t i o 75. D i s c i p l i n a r s t r a f r e c h t der Gerichte 280 Anm 7.

F a v o r d e f e n s i o n i s 15. 43. 240. F e h d e 53. F e r d i n a n d e a (LGOFerdinands III. für Niederösterreich) 111 ff.

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Sachregisterzu Band I.

F o l t e r 65. 68. 77. 81. 87. 98. Formvorschriften, Nichtbefolgung ders. 216. F o r s t - u n d F e l d r ü g e s a c h e n 288. F r a g e n an A u s k u n f t s p e r s o n e n , Zurückweisung derselben durch den Vorsitzenden 440. — Zurückweisung derselben durch das Gericht 444. — Verweigerung cler Antwort 516 if. F r a g e r e c h t cler P a r t e i e n 245.380. 441. 641. F r a g e s t e l l u n g an clen Angeklagten 641 f. — an Zeugen 440 ff. F ü r s p r e c h 54. G e b e r d e n p r o t o k o l l e 636. Gefahr s t r a f g e r i c h t l i c h e r Verf o l g u n g (Befreiung von der Zeugenaussage bei) 518 f. G e g e n b e w e i s 363. — Zeit zur Vorbereitung desselben 416 if. — gegen das Augenscheinsprotokoll 669. G e g e n ü b e r s t e l l u n g , Pflicht zur Duldung ders. 486 f. 515. — Zweck ders. 550. G e i s t e s k r a n k e , Vernehmung 467. G e i s t e s z u s t a n d des Beschuldigten (sachverständige Untersuchung) 720. G e i s t l i c h e (Zeugnisspflicht) 524. G e m e i η s a m k e i t der Beweismittel 397. 425 if. G e n e r a l f r a g e n 552. 729. G e n e r a l i n q u i s i t i o n 97. — s. Vorbereitungsverfahren. G e r i c h t , Stellung cless. 52. 80. 83. 216. 218. 242 if. im Beweisverfahren 374. 395 if. bei Augenschein und Sachverständigenbeweis s. Augenschein und Sachverständige. — Controle über die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung 444. — Ergänzung cler Beweissammlung 393. — Verhältniss zur Anklage 238 f. G e r i c h t s a r z t (Leichenöffnung) 717. G e r i c h t s b e s c h l u s s über Beweisanträge in cler Hauptverhandlung 412 ff. — über Verlesungen in cler Hauptverhandlung 455 ff.

G e r i c h t s g e b r a u c h 323. G e r i c h t s o r g a n i s a t i o n 102. 211. G e r i c h t s s c h r e i b er 84. G e r i c h t s v e r f a s s u n g s g e s e t z f. d. Deutsche Reich 186. 188 f. 211. G e r i c h t s z e u g e n 459. G e s a n d t e (Zeugnisspflicht) 498. — s. Exterritorialität. G e s c h w o r e n e (als Zeugen) 476. G e s t ä n d n i s s 88. 103. 600. 604 ff. 638. — Beweiskraft dess. 604. 606 Anm 7. — Subject dess. 623. G e s t e l l i g gemachte Zeugen und S a c h v e r s t ä n d i g e (§ 244 StPO) 401 f. G e w i s s h e i t , subjective und objective 346. — empirisch-historische und moralische 366 ff. G l i e d e r u n g cles V e r f a h r e n s 32. 266 ff. G m un einer LGArtikel (1514) 82. 108. G o t t e s u r t h e i l 56. 72. G r i e c h e n l a n d 158. Gutachten öffentlicher Behörden (Verlesung) 448. G u t a eli ten von Sachvers t ä n d i g e n 673. 705. — Abgabe dess. 728. 732. — Inhalt 731. H a n d h a f t e T h a t , Verfahren bei 57. H a u p t v e r f a h r e n , Begriff 267. 579 ff. — Eröffnung 267. 271. H a u p t v e r h a n d l u n g 212. — Gang der 272 f. — Unterbrechung 253. Hebammen (Zeugnisspflicht) 532 Anm 30. H e i m l i c h k e i t des Verfahrens 85. Herbeigeschaffte Beweismittel (§ 244 StPO) 402 f. H e x e n p r o z e s s e 99. H ö r e n s a g e n , Zeugniss von 447. 463. Identität des Beschuldigten, Sicherstellung ders. 627. I n d i c i e n 367. 737 ff. — Begriff 738. 745. I n d i c i e n b e w e i s 90.99.105.348.737ff. — gemeinrechtliche Theorie dess. 740.

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I n d i c t a b l e offences 134. I n f a m a t i ο 73. I n i t i a t i v e 30, s. Ankläger. I n q u i s i t i o n s p r o z e s s , Ursprung 73. I n q u i s i t i o n s ν e r f a h r e n s. Untersuchungsverfahren. I n s t a n z entb i n d u n g 105. 127. I n t e r i m s w a h r h e i t 360. I n t e r r o g a t i o 63. J o s e f II. CGO von 1788 121. J o s e p h i n a (peinl. (H) Josef I.) 114 f. I t a l i e n 156. 160. I t a l i e n i s c h e Praktiker 78 Anni. J u r a t i 64.

N a c h e i d 583. N a c h e i l e 305 Anni 9. N a c h i n s t r u c t i o n 266 Anm 1. 395. Neb e η k l age 192. 236. N e b e n k l ä g e r als Zeuge 475. Neues V o r b r i n g e n , Aussetzung der Hauptverhandlung bei 422 ff". New t r i a l , motion for 142. N i e d e r l a n d e 157. N o l l e p r o s e q u i 135. N o t a r e (Zeugnisspflicht) 532 Anni 30. N o t o r i s c h e T h a t s a e h e n 358.

Ο e f f e il 11 i c h - r e c h 11 i c h e r Charakter des Strafrechts 20. 33. 53. 60. 67. 79. 101, s. Untersuchungsprincip 'und K i n d e r , Vernehmung 467. Staatsanklage. K i r c h l i c h e G e r i c h t s b a r k e i t 70. O e f f e n t l i c h k e i t 209. 246. 256 If. K r e u z v e r h ö r 245. 380. 432. 435. Ο e r t l i c h e G e l t u n g des StrafprozessK r i e g s g e r i c h t e 286. rechtes 301 ff. L a d u η g, unmittelbare, des Beschuldig- O e s t e r r e i c h , LG Ο für Niederösterten 213. reich 108. 111 f. L a d u n g der Zeugen und Sachverstän— LGO für Oberösterreich 108. digen 385 ff. 389 ff. 400. 538. — StGB von 1803 120 ff. L a d u n g der Zeugen und Sachverstän— StPO von 1850 182. digen, Antrag d. Angeklagten auf 390. — StPO von 1853 167. 183. durch den Angeklagten 392. 699. — StPO von 1873 199 ff'. L a i b a c li e r M a 1 e f i ζ ο r d η u η g 82.108.O f f i c i a l p r i n c i p 24. L a i e η eleni eut 259 ff'. — s. Untersuchungsprincip. — s. Schöffengericht u. Schwurgericht. Ο ρ ρ ο r t u il i t ä t s p r i η c i p 218 ff. 224 ff. L a η d e s g e s e t z g e b u η g e η, Spielraum P a p i e r g e l d , Untersuchung auf Echtders. 297 ff'. heit 721. L a n d e s h e r r (Zeugnisspflicht) 497. ! P a r t e i e n , Anträge auf BeweiserheL e a d i n g q u e s t i o n 554. bungen im Vorverfahren 377 f. 380. Le d i gun g der Strafe 109 f. | L e g a l i t ä t s p r i l i c i ρ 220 ff. j ---- Anwesenheit bei Beweisaufnahmen im Vorverfahren 378 f. L e i c h e n ö f f n u n g 716. j L e i c h e n s c h a u 716. j — Beweisaufnahme durch d. P. in der Hauptverhandlung 433 ff. L e u m u n d s z e u g n i s s e 448. — p]influss auf Bestellung von SachM e d i c i n , gerichtliche 334 ff. verständigen 681 ff. 697 ff. M e n n ο n i t e n e i d 299. 591. — Prozessstellung 9. 14. 215 f. 237 (V. M i l d e r η d e U m s t ä η d e 195.265 Anm 7. — Gleichberechtigung 215. 239. 383. 1 M i l i t ä r g e r i c h t 286. 290 Anm 27. — Stellung im Beweisverfahren 374 f. M i n i s t e r a n k l a g e 284. 290 Anm 27. , 377 ff. 383. 395 ff. 409 ff. 433 ff. M i t b e s c h u l d i g t e (Aussage) 91. 470ff. — Theilnahme an der Sammlung des M ü n d l i c h k e i t 209. 246 ff. 444 ff. j Beweismaterials f. d. Hauptverhand— der Beweisaufnahme durch Sachver- ! lung 382 ff. ständige 732. ' j P a r t e i e n e x p e r t e 681 ff. 684 Anni 19. s. Protokolle, Unmittelbarkeit, Ver- i P a r t e i e n ö f f e n t l i c h k e i t 42. 256 f. lesung. ; 378 ff. M ü n z e n , Untersuchung auf Echtheit 721. | P e r s o n a l f r a g e n 552. Binding, Handbuch. IX. I. I : G l a s e r , Strat'j ozess. I. 48

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Personen als Be w e i s g e g e 11 - R e f o r m a t i o 111 pejus 47. 241. R e i c h s s t r a f p r 0 z e s s 0 r d 11 u 11 g, Ents t ä n d e 464. stehung 188 ff. P o l i c e m a g i s t r a t e 137. R e l e v a n z des Beweisgegenstandes 361. P o l i z e i , Stellung der 269. 293. Résumé s. Schlussvortrag. Ρ ο 1 i ζ e i 1 i c h e Y e r 11 e h 111 u 11 gen, AufRe v i s i o 11 274. zeichnungen über 449 Anni 44. l i li e i η s c h i f f f a h r t s g e r i c li t e 285. P o l i z e i s t r a f s a c l i e n 177. 280. R i c h t e r , Vernehmung als Zeuge 476. Ρ ο 1 i z e i w e s e η 333. — Stellung beim Augenschein 660. P o p u l a r k l a g e 179. 230. P o r t u g a l 158. i — Stellung gegenüber dem SachverP o s t s t r a f s a c h e n 287. ständigen 675 ff. — s. Gericht. P o s t u l a r e 62. R ü c k t r i t t des A n k l ä g e r s 230. Ρ r ä c e cl e η t i e 11 324. R ü c k w i r k u 11 g von Strafprozcssgcsetzen Press s t r a f s a c l i e n , Conipetenz des Schwurgerichts in 297. 307 ff'. — Verfahren 197. R u m ä n i e n 159. R u s s l a n d 158. P r e u s s e n , CGO von 1805 120 if. — Entw von 1851 167. — StPO f. d. neupreuss. Provinzen 167. S a c li ν erst ä 11 d i g e, Ablehnung 690.694ff. P r é v e n u , Begriff 151. — Aufgabe 673. P r i v a t a n k l a g e , principale 233 if. — Beeidigung 704. — subsidiäre 179. 192. 195. 228. — Begriff 670. — Berufung 689. P r i ν a t b e t h e i l i g t e r (österr. Β) (als — Collectivpersonen 690. Zeuge) 473. P r i v a t k l ä g e r als Zeuge 475. — von Parteien bestellte 681 ff. 699. — s. Privatanklage. — Pflicht als S. zu fungiren 699 f. P r o t o k o l l e des Vorverfahrens in der — Stellung beim Augenschein 660. Hauptverhandlung 251 f. — Stellung gegenüber dem Richter 675 if. — über frühere Vernehmungen des An— Unterschied von Zeugen 674. geklagten (Verlesung) 643. — Vernehmung 728 ff. — über frühere Vernehmungen des , — Zahl 692. Zeugen (Verlesung) 454. S a c h v e r s t ä 11 d i g e Z e u g e 11 468.68511'. S a c h v e r s t ä 11 d i g e 11 b e w e i s , geQ u a e s t i o n e s p e r p e t u a e 60. schichtliche Entwicklung 677. Q u e l l e n des deutschen Strafprozess— freie Beweiswürdigung 679. rechtes 296 ff. S cab i n i 53. — des österr. Strafprozessrechtes 3Qü. S c h e l t e n des Urtheils 57. R a e h i m b u r g i 53. S c h l u s s v o r t r a g 141. 152. 197. 266. S c h ö f f e n 53. 79. 83. H a t o l f z e 11 er LGO 82. ' . S c h ö f f e n g e r i c h t 175. 186 f. IUI ff. I l e a t u s 63. 203 ff. 262 ff. Ile ce]) t i ο 11 der f r e m d e n R e c h t e S c h r i f t l i c h k e i t des Verfahrens 84 f. 59. 78 ff. 117. 247 ff. l i e c h t s e i 11 li e i t tur Deutschland 185 ff. R e c h t s h i l f e gegenüber dem Auslande I S c h r i f t s t ü c k e 650. i — Prüfung der Echtheit 722. 305. R e c h t s k r a ft der Entscheidung 10. 17 f.i S c h r i f t e 11 v e r g 1 e i c h u 11 g 722. I S c h w e i z 157 ff. 33. 46. R e c h t s m i t t e l 57. 91. 119. 124, 112. j S c h w u r g e r i c h t 189. 156. 164. 178. 170. 255. 274. : 200 ff. 259 ff. R e d a c t e u r , Zeugnissptiicht 535 ff. j Scli w u r g e r i e l i t i , λ ' e r f a l l r e 11, BcR e e x a m i n a t i o n 432. ! S o n d e r h e i t e n dess. 2 6 4 A n m 6.

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S cru t i ni al v e r f a h r e η s. Vorberei- U e b e r z e u g u n g , freie Beschränkungen tungsverfahren. des Grundsatzes 356 ff. S e η d g e r i c h t 73. — beim Sachverständigenbeweise 679. S o r t i t i ο 64. — beim Urkundenbeweise 652. S p a n i e n 159 f. — s u b j e c t i v e 339. S p e c i a l i n q u i s i t i o n 97. 104. 184. U η a b h ä η g i g k e i t der Gerichte 14. S t a a t s a n k l a g e 214 if., s. UnterU η b e fa η g e η li e i t des Gerichtes 41. 44. suchungsprincip , öffentlich - recht— cler Sachverständigen 681. licher Charakter u. Staatsanwaltschaft. U η g e h ο r s a m s s t r a f e η 104. S t a a t s an w a i t als Zeuge 478. ι U n m i t t e l b a r k e i t des V e r f a h r e n s — Besichtigung durch dons. 667. 246 ff 374. 444 ff. — s. Mündlichkeit, Protokolle, Verlesung. — Stellung zur Beweisaufnahme ausser U n r e c h t , Arten dess. 11. der Hauptverhandlung 376 ff'. U n t e r s c h r i f t e n (Prüfung der EchtS t a a t s a n w a l t s c h a f t 136. 148. 169. heit) 722. 178. 209. 219. 239. 241. U n t e r s u c h u n g s h a f t 86. 96. — s. Staatsanklage, Anklagemonopol. Staatsrechtliche Momente im — Ersatz für unverschuldet erlittene 180. Strafprozesse 43. 48 f. 176 ff. 610. U η t e r s u c h u η g s k u η s t 104. S t a d i e n des V e r f a h r e n s s. GliedeU n t e r s u c h u n g s v e r f a h r e n 21 ff'. rung. U n t e r s u c h u η g s p r i il c i p 85 if. 101 ff. S t a il d g e r i c h 11 i c li e s λΓ e r fa h r e η 121 ff 214 ff. 116. 286. U n W a h r s c h e i n l i c h k e i t 3 4 0 f. S t i m m e η v e r h ä 11 il i s s 240. 264 Anni 6. U n z u s t ä n d i g e r R i c h t e r (beim AuS t r a f e , Begriff 12. genschein) 669. S t r a f p r o z e s s , Begriff 276 ff. U r k u n d e n 370. 648 Anni 2. 650. S t r a f ρ r ο z e s s r e c h t , Begriff 278. U r t h e i l 57. 66. 68. 91. 105. — materielles 279. 309. ' — Wesen dess. 13. S t r a f r e c h t im subjectiven Sinn 12. — Formen dess. 123. — materielles u. formelles 279. — Ueberprüfung von Amtswegen 119. S t r a f r e c h t s p f l e g e , Zweck 13. 124. S t u m in e Zeuge η 552. S t y 1 u s c u r i a e 323. V e r d a c h t 341. Sub sc r i p t i ο H o m i n i s 63. V e r d ä c h t i g e Z e u g e n 467. 565 ff. S u g g e s t i v f r a g e n 554. 633. 637. V e r g i f t u n g (sachverständige, UnterS u m m a r i s c h e s V e r h ö r 97. suchung bei) 719. S u m m a r y c o n v i c t i o n 134. V e r h a η d 1 u η g s ni a χ i m e 10. 26. 217 if. V e r h ö r des Angeklagten 151. 181. T a u b e Zeugen 552. 612 ff. 637 ff. T e l e g r a m m e , Urkundenqualität 653 ; — des Beschuldigten 622 ff. 637 ff'. Anm 7. ! Beurkundung 635. Τ li e i 1 il e h m e r , Eidesunfähigkeit 565 ff 1 V e r h ö r s b e s t ä t i g u η g 119. — als Zeugen 472. V e r l e g e r , Zeugnissptiicht 535 f. T h e r e s i a n a 115 ff. ; V e r 1 e s u η g v on A u s s a gen 1 »efreiter T i r o l i s c h e Ma le f i ζ o r d i n i l i g 82. lUS. j Zeugen 544. T r e n n u n g von S t r a f s a c h e n 254. ; V e r l e s u n g von A u s s a g e n MitangeT r i a l 279 Anni 3. j klagter 645. I I e b e r fu h r u η g s s t i'i c k e 650. — des Augenscheinsprotokolls 667.668 f. U e b e r si ebnen 57. 733, der Befundaufnahnie 733. U e b e r z e u g u n g , f r e i e 243. 346 if. — von Schriftstücken der Vorunter351 ff. 741 ff, s. Beweistheorie. suchung in der Hauptverhandlung — Folgen aus dem Grundsatze 353 ff. ! 251 ff. 446.

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V e r l o b t e , Zeugnisspflicht 510. j Wiederaufnahme des Verfahrens V e r m u t h u n g e n 359 f. 602 Anm *4. ! 182. 743 Anm 6. j W i d e r s p r ü c h e des Angeklagten 639. V e r n e h m u n g s. Angeklagter, Beschul645. digter, Sachverständige, Zeugen. j — der Zeugen 454. — inter reum et testem 469. : W r i t of e r r o r 142. V e r s c h w i e g e n h e i t , Versprechen der I Z e i t l i c h e Grenzen der Wirksamkeit 537. der RStPO 306 ff — Entbindung von pflichtmässiger 521. Z e u g e n in eigener Sache 473. V e r t a g u n g s. Aussetzung der Haupt— Meinungen dess. 461 Anm 3. verhandlung. — sachverständige 463. 685 ff. \ r e r t h e i d i g e r als Zeuge 479. 534. — Vernehmung 548 ff'. 553 ff V e r t h e i d i g u n g 45. 105. 122. 154. Z e u g e il a u s s a g e, I Befreiung von de\· — Stellung der 242. 245 f. V e r t h e i d i g u η g s b e w e i s 364. ! 499 ff. 538 ff. V e r ü b u n g s t r a f b a r e r l l a n d l u n g e n j — Belehrung über die Befreiung 589 ff. in der Gerichtssitzung 665. ' — Verzicht auf die Befreiung 515 ff. 541 ff". V e r w e i g e r u η g der A u s s a g e (Recht ; zur) 516 ff. ! — Nachweis des Grundes der Befreiung 548. — des Z e u g n i s s e s (Verlesung frühe— Beweiskraft 555 ff'., s. Zeugniss. rer Aussagen) 451. V e r z i c h t a u f B e w e i s m i t t e l 425 ff. } Z e u g e n b e w e i s 65. 90. — Gegenstand dess. 460 f. , — auf Beeidigung 597. \ r o r b e r e i t u n g s v e r f a h r e n 96. 213. j Z e u g e n e i d , Ausschliessung vom 467. 562 ff. 223 Anm 12. 267 ff. ! — Beweisverfahren 375 f. I — Befreiung von dems. 558 ff. — Folgen der Verletzung der Vor— (Beeidigung der Zeugen) 573 f. schriften über dens. 595. V o r ei d 583. 586. — Verzicht der Parteien 597. V o r s i t z e n d e r , Ergänzung der Beweis- ! Sammlung durch den 393. | Z e u g e n g e b ü h r 496. — Beweisaufnahme 439 ff. i Z e u g e n v e r n e h m u n g , Form 548 if. — Leitung der Hauptverhandlung 442 ff'. I Z e u g n i s s , Begriff 458. — discretionäre Gewalt 151. 386. 388. ! — Ausschliessung von dems. 465 if. Z e u g n i s s p f l i c h t 197. 488 ff, der 394. Ausländer 490 f. — Schlussvortrag 141. 152. 197. 266. — Ausnahmen 497. V o r u n t e r s u c h u n g 135. 169. 180. 195. — in Disciplinarstrafsachen 491. 212. 267 ff. 271. — Inhalt 485. — Beeidigung der Zeugen 574 ff'. — Organ ihrer Geltendmachung 488. — Beweisverfahren 377 ff. j — sachliche Voraussetzungen 491 ff. V o r v e r f a h r e n 266, s. Vorbereitungs— im Vorverfahren 492. verfahren und Voruntersuchung. — richterliches 270. j Z e u g n i s s e öffentlicher Behörden (Verlesung) 448. 460. 665. — (österr. R) 577 Anni 50. j Z u g e s t ä n d n i s s e 360 f. 602 ff. W a h r h e i t , materielle u. formelle 10. 1 — des Vertreters 624. 16 ff. 34. 329 ff. ΐ Z u l ä s s i g k e i t der herbeigeschafften — objective u. subjective 343. Beweismittel (Prüfung der) 407. W a h r s c h e i n l i c h k e i t 340 f. Z w e i d e u t i g e F r a g e n 632. W a l l rsp ru eli 141. j Z w e i k a m p f , gerichtlicher 56.