Handbuch der Psychotraumatologie 3608948252, 9783608948257

Die 65 Kapitel befassen sich mit den Themen: - Definition und Beschreibung der Psychotraumatologie - Historische Entwick

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German Pages 871 [1054] Year 2015

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Inhalt
Ulrich Venzlaff – Nestor und Wegbereiter der Psychotraumatologie
A Psychologische und biologische Grundlagen der Psychotraumatologie
1. Trauma und Gedächtnis
2. Theorien zum Verständnis von Dissoziation
3. Psychologische Theorien zum Verständnis der Posttraumatischen Belastungsstörung
4. Psychoneuroendokrinologische Befunde zum Verständnis der Posttraumatischen Belastungsstörung
5. Funktionelle Neuroanatomie der Posttraumatischen Belastungsstörung
6. Risikofaktoren, Resilienz und posttraumatische Reifung
7. Genetische Aspekte der Posttraumatischen Belastungsstörung
8. Transgenerationale Traumatransmission (am Beispiel der Überlebenden des Holocaust)
9. Geschlechtsspezifische Aspekte der Posttraumatischen Belastungsstörung
B Die Traumatheorie in den Hauptschulen der Psychotherapie – historische Entwicklung
1. Die Traumatheorie in der Psychoanalyse
2. Posttraumatische Belastungsstörung und Verhaltenstherapie
3. Die Traumatheorie in der Gesprächspsycho­therapie nach Carl R. Rogers
4. Trauma und Systemische Therapie
C Krankheitsbilder und Komorbiditäten
1. Die Posttraumatische Belastungsstörung und die Anpassungsstörungen in der ICD-10, im DSM-IV und DSM-5
2. Diagnostik der Posttraumatischen Belastungs­störungen und weiterer Traumafolgestörungen
3. Die Posttraumatische Belastungsstörung
4. Die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung
5. Verbitterungsemotionen und Posttraumatische Verbitterungsstörung
6. Der erlebnisbedingte Persönlichkeitswandel1
7. Anhaltende Trauer­störung
8. Dissoziative Störungen
9. Traumatisierung und Sucht
10. Traumatisierung und Psychose
11. Trauma und Depression
12. Trauma und Demenz
13. Persönlichkeitsstörungen und Trauma
14. Trauma und Schmerz
D Spezifische Ereignisfolgen
1. Traumafolgen nach anhaltender sexueller und anderer krimineller Gewalt Sexuelle und andere kriminelle Gewalt
2. Traumafolgen nach Arbeitsunfällen und Gewalt am Arbeitsplatz Arbeitsunfälle und Gewalt am Arbeitsplatz
3. Erwerbslosigkeit als psychisches Trauma
4. Traumatisierungen nach militärischen Einsätzen
5. Traumafolgestörungen nach Verkehrsunfällen
6. Traumafolgestörungen bei gefährdeten Berufsgruppen
7. Häusliche Gewalt
8. Traumatische Nebenwirkungen der Psychotherapie
8.a Folgen von narzisstischem und sexuellem Missbrauch in der Psychotherapie
8.b Risiken und Nebenwirkungen der Traumatherapie
9. Sexualdelikte im interdisziplinären Fokus – kriminologische, juristische und psychotrauma­tologische Aspekte
E Traumata in der Lebensspanne
1. Belastende Kindheitserfahrungen
2. Belastende Kindheitserfahrungen und körperliche Erkrankungen
3. Traumafolgestörungen bei Kindern und Jugendlichen Kinder und Jugendliche
4. Die Konsequenzen traumatischer Erfahrungen: Eine Lebensspannenperspektive
F Trauma in gesellschaftlichen, kulturellen und medizinischen Kontexten
1. Wer ist ein Opfer? Über Täter- und Opferstereotypien am Beispiel des Geschlechterstereotyps
2. Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs als gesellschaftliche Aufgabe
3. Großschadenslagen als potentiell traumatisierende Ereignisse
4. Traumatisierungen im Kontext schwerer körperlicher Erkrankungen und medizinischer Behandlungen
5. Die traumatisierte Patientin in der Gynäkologie
6. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen im Krieg: Hintergründe, Folgen und Unterstützungsansätze
7. Psychotraumatologische Folgen von Folter
8. Psychotraumatologie im Kontext von Flucht und Migration
9. Holocaust
10. Traumatische Folgen der DDR-Diktatur
11. Traumatische Erfahrungen in der deutschen Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft, 1914 – 1960: Weltkriegsromane, Kriegsgefangene, Zivilopfer, Holocaust-Überlebende
12. Trauma und Ethik
13. Ethische Aspekte in der psycho­traumatologischen Forschung
G Interventionen
1. Beziehungs- und Milieu­arbeit in Trauma­pädagogik, Traumaberatung und Traumatherapie
2. Psychosoziale Traumaarbeit
3. Traumasensibilität und traumapädagogische Konzepte in der Jugendhilfe
4. Stabilisierung
5. Die kognitive Verhaltenstherapie
6. EMDR
7. Psychodynamische Verfahren
8. Die gesprächspsychotherapeutische Behandlung
9. Der systemische Ansatz
10. Ego-State-Therapie
11. Gruppentherapie
12. Arbeit mit körperbezogenen Traumaspuren – ein pragmatischer Ansatz für effektive Körpertherapie
13. Spiritualität und traumatherapeutische Ansätze
14. Situationstypologien der Psychosozialen Notfall­versorgung
15. Webbasierte Interventionen
16. Pharmakotherapie der frühen posttraumatischen Krise, der Akuten und der Posttraumatischen Belastungsstörung
17. Therapie der Posttraumatischen Belastungs­störung bei Kindern und Jugendlichen
H Schnittstellen von Psychotraumatologie und Justiz
1. Trauma und Justiz
2. Die Begutachtung psychisch reaktiver Trauma­folgen im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes
3. Traumafolgestörungen bei Patienten und Patientinnen im Maßregelvollzug und Gefängnis
Anhang
Register
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Handbuch der Psychotraumatologie
 3608948252, 9783608948257

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TRAUMA & GEWALT FORSCHUNG UND PRAXISFELDER

Handbuch der Psychotraumatologie Herausgegeben von Günter H. Seidler, Harald J. Freyberger, Heide Glaesmer und Silke Birgitta Gahleitner 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage

Klett-Cotta

Gründungsherausgeber: Günter H. Seidler Herausgeber der ersten beiden Auflagen: Günter H. Seidler, Harald J. Freyberger und Andreas Maercker Kurz vor Drucklegung dieser 3. Auflage ist Professor Dr. Harald J. Freyberger verstorben. Er hat sie bis zuletzt maßgeblich mitgestaltet. Wir denken an ihn in Dankbarkeit und mit Respekt. Die Herausgeber/innen und der Verlag

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta www.klett-cotta.de © 2011/2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlags Umschlaggestaltung: Bettina Herrmann, Stuttgart unter Verwendung einer Abbildung von © photocase, David Dieschburg Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell Printausgabe: ISBN ISBN 978-3-608-94825-7 E-Book: ISBN 978-3-608-11556-7 PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20425-4 Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, 2019

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

In Erinnerung an Herrn Prof. Dr. med. Ulrich Venzlaff (1921 – 2013), den Nestor der Psychotraumatologie in Deutschland

Inhalt

Ulrich Venzlaff – Nestor und Wegbereiter der Psychotraumatologie . . . . . . . . . . . . . . Hellmuth Freyberger (†) und Harald J. Freyberger

13

7. Genetische Aspekte der Post- traumatischen Belastungsstörung . . . Hans J. Grabe

A Psychologische und biologische Grund­ lagen der Psychotraumatologie 1. Trauma und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . Marie Roxanne Sopp, Anke Kirsch und Tanja Michael 2. Theorien zum Verständnis von Dissoziation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carsten Spitzer und Harald J. Freyberger 3. Psychologische Theorien zum Verständnis der Posttraumatischen Belastungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea B. Horn und Andreas Maercker

6. Risikofaktoren, Resilienz und posttraumatische Reifung . . . . . . . . . . Andreas Maercker, Laura Pielmaier und Silke Birgitta Gahleitner

17

29

87

101

8. Transgenerationale Traumatrans- mission (am Beispiel der Überlebenden des Holocaust) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Hellmuth Freyberger (†), Heide Glaesmer, Philipp Kuwert und Harald J. Freyberger 9. Geschlechtsspezifische Aspekte der Posttraumatischen Belastungs- störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carsten Spitzer, Katja Wingenfeld und Harald J. Freyberger

127

45

4. Psychoneuroendokrinologische Befunde zum Verständnis der Post­ traumatischen Belastungsstörung . . . Katja Wingenfeld, Carsten Spitzer und Martin Driessen

59

5. Funktionelle Neuroanatomie der Post­ traumatischen Belastungsstörung . . . Peter Klaver

72

B Die Traumatheorie in den Hauptschulen der Psychotherapie – historische Entwicklung 1. Die Traumatheorie in der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Werner Bohleber 2. Posttraumatische Belastungsstörung und Verhaltenstherapie . . . . . . . . . . . . 158 Birgit Kleim

3. Die Traumatheorie in der Gesprächs­ psychotherapie nach Carl R. Rogers . . 168 Jochen Eckert und Eva-Maria Biermann-Ratjen 4. Trauma und Systemische Therapie . . Reinert Hanswille

175

C Krankheitsbilder und Komorbiditäten

10. Traumatisierung und Psychose . . . . . . 305 Ingo Schäfer 11. Trauma und Depression . . . . . . . . . . . . 314 Jessie Mahler und Hans J. Grabe 12. Trauma und Demenz . . . . . . . . . . . . . . . 326 Andreas Maercker und Myriam Thoma 13. Persönlichkeitsstörungen und Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Birger Dulz und Johanna Rönfeldt

1. Die Posttraumatische Belastungs- störung und die Anpassungsstörungen in der ICD-10, im DSM-IV und DSM-5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Harald J. Freyberger, Heide Glaesmer und Rolf-Dieter Stieglitz

14. Trauma und Schmerz . . . . . . . . . . . . . . 356 Jonas Tesarz

2. Diagnostik der Posttraumatischen Belastungs­störungen und weiterer Traumafolgestörungen . . . . . . . . . . . . 198 Naser Morina, Julia Müller, Harald J. Freyberger und Heide Glaesmer

1. Traumafolgen nach anhaltender sexueller und anderer krimineller Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Manuela Dudeck

3. Die Posttraumatische Belastungs- störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Frank Wagner 4. Die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Ingo Schäfer und Annett Lotzin 5. Verbitterungsemotionen und Posttrau­ matische Verbitterungsstörung . . . . . 238 Kai Baumann und Michael Linden 6. Der erlebnisbedingte Persönlichkeits­ wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Ulrich Venzlaff (†) 7. Anhaltende Trauer­störung . . . . . . . . . . 270 Rita Rosner und Birgit Wagner 8. Dissoziative Störungen . . . . . . . . . . . . . 281 Carsten Spitzer und Harald J. Freyberger 9. Traumatisierung und Sucht . . . . . . . . . 295 Ingo Schäfer

D Spezifische Ereignisfolgen

2. Traumafolgen nach Arbeitsunfällen und Gewalt am Arbeitsplatz . . . . . . . . 382 Rolf Manz 3. Erwerbslosigkeit als psychisches Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Rosmarie Barwinski 4. Traumatisierungen nach militärischen Einsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Peter L. Zimmermann 5. Traumafolgestörungen nach Verkehrs­ unfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Laura Pielmaier und Ulrich Frommberger 6. Traumafolgestörungen bei gefährdeten Berufsgruppen . . . . . . . . 434 Ulrike Ehlert und Rebecca Brönnimann 7. Häusliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Angelika Treibel und Silke Birgitta Gahleitner

8. Traumatische Nebenwirkungen der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 8.a Folgen von narzisstischem und sexuellem Missbrauch in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Bernhard Strauß, Sophie Kaczmarek, Dominique Schwartze und Harald J. Freyberger 8.b Risiken und Nebenwirkungen der Traumatherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 Frank Neuner 9. Sexualdelikte im interdisziplinären Fokus – kriminologische, juristische und psychotrauma­tologische Aspekte . . . 484 Ursula Gasch und Anja Mack

E Traumata in der Lebensspanne 1. Belastende Kindheitserfahrungen . . . Andrea Knop und Christine Heim

521

2. Belastende Kindheitserfahrungen und körperliche Erkrankungen . . . . . . 532 Harald Schickedanz und Reinhard Plassmann 3. Traumafolgestörungen bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 Annette Streeck-Fischer 4. Die Konsequenzen traumatischer Erfahrungen: Eine Lebensspannen- perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 Heide Glaesmer, Maria Böttche und Susan Sierau

F Trauma in gesellschaftlichen, kulturellen und medizinischen Kontexten 1. Wer ist ein Opfer? Über Täter- und Opferstereotypien am Beispiel des Geschlechterstereotyps . . . . . . . . . . . . 581 Angelika Treibel und Günter H. Seidler

2. Aufarbeitung des sexuellen Kindes­ missbrauchs als gesellschaftliche Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Heiner Keupp 3. Großschadenslagen als potentiell traumatisierende Ereignisse . . . . . . . . 602 Robert Bering, Claudia Schedlich und Gisela Zurek 4. Traumatisierungen im Kontext schwerer körperlicher Erkrankungen und medizinischer Behandlungen . . . 618 Heide Glaesmer und Jenny Rosendahl 5. Die traumatisierte Patientin in der Gynäkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 Silke Schermann und Anette Kersting 6. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen im Krieg: Hintergründe, Folgen und Unterstützungsansätze . . . . . . . . . . . . 642 Monika Hauser und Karin Griese 7. Psychotraumatologische Folgen von Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 Alexandra Liedl und Christine Knaevelsrud 8. Psychotraumatologie im Kontext von Flucht und Migration . . . . . . . . . . . . . . . 660 Yuriy Nesterko, Hans-Jörg Assion und Heide Glaesmer 9. Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Hellmuth Freyberger (†) und Harald J. Freyberger 10. Traumatische Folgen der DDR-Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686 Harald J. Freyberger, Andreas Maercker und Carsten Spitzer 11. Traumatische Erfahrungen in der deutschen Kriegs- und Nachkriegs­ gesellschaft, 1914 – 1960: Weltkriegs­ romane, Kriegsgefangene, Zivilopfer, Holocaust-Überlebende . . . . . . . . . . . . 700 Wolfgang U. Eckart

12. Trauma und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . 727 Werner Theobald

9. Der systemische Ansatz . . . . . . . . . . . . 877 Reinert Hanswille

13. Ethische Aspekte in der psycho­ traumatologischen Forschung . . . . . . 742 Marie Kaiser, Heide Glaesmer und Susan Sierau

10. Ego-State-Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . 893 Jochen Peichl

G Interventionen 1. Beziehungs- und Milieu­arbeit in Trauma­pädagogik, Traumaberatung und Traumatherapie . . . . . . . . . . . . . . . 755 Silke Birgitta Gahleitner, Martin Kühn, Katharina Purtscher-Penz, Christina Rothdeutsch-Granzer, Thomas Wahle und Wilma Weiß 2. Psychosoziale Traumaarbeit . . . . . . . . 768 Silke Birgitta Gahleitner und Lydia Hantke 3. Traumasensibilität und trauma­ pädagogische Konzepte in der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778 Marc Schmid 4. Stabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 Luise Reddemann, Peter Liebermann, Wolfgang Söllner und Astrid Lampe 5. Die kognitive Verhaltenstherapie . . . 825 Frank Wagner 6. EMDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836 Oliver Schubbe und Thomas Gruyters 7. Psychodynamische Verfahren . . . . . . . 848 Luise Reddemann und Wolfgang Wöller 8. Die gesprächspsychotherapeutische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 Eva-Maria Biermann-Ratjen, Jochen Eckert und Silke Birgitta Gahleitner

11. Gruppentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 904 Alexandra Liedl und Christine Knaevelsrud 12. Arbeit mit körperbezogenen Trauma­ spuren – ein pragmatischer Ansatz für effektive Körpertherapie . . . . . . . . 914 Karin Wild und Jochen Binder 13. Spiritualität und trauma- therapeutische Ansätze . . . . . . . . . . . . 928 Julia C. Seidler 14. Situationstypologien der Psycho­ sozialen Notfall­versorgung . . . . . . . . . 938 Robert Bering, Claudia Schedlich und Gisela Zurek 15. Webbasierte Interventionen . . . . . . . . 954 Birgit Wagner und Christine Knaevelsrud 16. Pharmakotherapie der frühen posttraumatischen Krise, der Akuten und der Posttraumatischen Belastungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . 963 Hans-Peter Kapfhammer 17. Therapie der Posttraumatischen Belastungs­störung bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984 Rita Rosner und Rebekka Eilers

H Schnittstellen von Psychotraumatologie und Justiz 1. Trauma und Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . 995 Kirstin Drenkhahn und Manuela Dudeck

2. Die Begutachtung psychisch reaktiver Trauma­folgen im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes . . . 1008 Ferdinand Haenel, Doris Denis und Harald J. Freyberger 3. Traumafolgestörungen bei Patienten und Patientinnen im Maßregel- vollzug und Gefängnis . . . . . . . . . . . . . 1019 Manuela Dudeck

Anhang Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027 Herausgeber, Autorinnen und Autoren . . 1043

Ulrich Venzlaff – Nestor und Wegbereiter der Psychotraumatologie

Ulrich Venzlaff, geb. 1921 in Luckenwalde (Brandenburg), gestorben am 6. September 2013 in Göttingen, begann 1948 seine wissenschaftliche Laufbahn an der Universitäts-Nervenklinik Göttingen, die damals unter dem Direktorat von Gottfried Ewald stand. Ewald hatte im Dritten Reich als einziger deutscher Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Neurologie gegen die Euthanasie Stellung bezogen. So unterstützte Ewald später auch weitestgehend Venzlaffs damals unorthodoxe Gutachteraktivitäten angesichts von ehemaligen Nazi-Verfolgten. In diesem Kontext »ereignete sich 1952 ein Fall, der Geschichte machte« (Pross, 1988): Nachdem Venzlaff bei einem Nazi-Verfolgten eine »verfolgungsbedingte Neurose« an­erkannt hatte, geriet das zuständige Entschädigungsamt in Aufruhr wegen der »Gefahr einer nachfolgenden Lawine von Rentenansprüchen«. Der daraufhin vom Entschädigungsamt für ein Gegengutachten herangezogene Tübinger Lehrstuhl­ inhaber Ernst Kretschmer begründete in seitenlangen, rein theoretischen Ausführungen – ohne den betroffenen Verfolgten persönlich gesehen zu haben –, dass es eine »verfolgungsbedingte Neurose« nicht geben könne, da die Ausgleichsfähigkeit des Organismus bei schwe-

ren psychischen Traumen unbegrenzt sei. Die Entschädigungskammer des zuständigen Gerichtes sorgte danach insofern für eine große Überraschung, als sie das Gutachten des damaligen Assistenzarztes Venzlaff bejahte und jenes von Kretschmer als nicht überzeugend zurückwies. Im Jahre 1956 habilitierte Venzlaff mit einer wissenschaftlich bahnbrechenden Schrift zu den psychoreak­ tiven Störungen nach entschädigungspflich­ tigen Ereignissen. Der von ihm in diesem Kontext geprägte Begriff »erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel« war eine der ersten Konzeptualisierungen für anhaltende Folgen schwerer Traumatisierungen, die we­ ­­sentliche strukturelle Aspekte der Persönlichkeit betreffen und die u. a. in der ICD-10 unter der diagnostischen Kategorie einer ­ anhaltenden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung wieder aufgegriffen wurden. Das Besondere dieser in den 1960er Jahren von ihm vertretenen Position stellt sich für einen jüngeren Leser angesichts der heute unbestrittenen Relevanz der Psychotraumatologie kaum mehr dar. Aber tatsächlich stand einer kleinen Gruppe von wis­ senschaftlich arbeitenden Psychiatern und Psychotherapeuten, zu denen neben Venz­

Ulrich Venzlaff 13

laff u. a. von Baeyer, Häfner, Kisker und Matussek gehörten, eine Mehrheit deutscher Universitätspsychiater gegenüber, die die Relevanz von Traumatisierungen nahezu vollständig verleugneten und die Karrieren ihrer inhaltlichen Gegner zu behindern versuch­ten (Freyberger & Freyberger, 2007). Kurt Eissler, der analoge Verhältnisse in der damaligen psychoanalytischen Community aufgriff, führte dies 1963 zu der dieses besondere affektive Klima kommentierenden Bemerkung, dass die betroffenen traumatisierten Menschen eigentlich eine Entschädigung für die Aufregungen und Erniedrigungen erhalten müssten, die sie im Zuge der entsprechenden Wiedergutmachungserfahrungen erlitten. Von 1969 bis 1986 leitete Venzlaff das Niedersächsische Landeskrankenhaus Rosdorf bei Göttingen. Nach seiner Pensionierung gab er gemeinsam mit Klaus Foerster das umfassende Handbuch Psychiatrische Begutachtung heraus, das mehrere Auflagen erlebte und noch heute als Standardwerk gilt. Der Name Ulrich Venzlaff ist bis heute mit der thematischen Auseinandersetzung mit den Folgen von Realtraumati-

14 Ulrich Venzlaff

sierungen verbunden, so dass er als einer der Nestoren der Psychotraumatologie in Deutschland gelten kann. Hellmuth Freyberger (†), Harald J. Freyberger, Stralsund/Greifswald

Literatur Eissler K. R. (1963). Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Kon­ stitution zu haben? Psyche, 17, 279 – 291. Freyberger H. J. & Freyberger H. (2007). Zur ­Geschichte der Begutachtungspraxis bei Holo­caust-Überlebenden. Trauma & Gewalt, 1 , 286  – 292 . Pross C. (1988). Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer. Frankfurt a. M.: Athenäum. Venzlaff U. (1958). Die psychoreaktiven Störungen nach entschädigungspflichtigen Ereignissen (Die sog. Unfallneurosen). Berlin, Heidelberg: Springer. Venzlaff U. & Foerster K. (2009). Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen. Hrsg. von Foerster K. & Dreßing H. 5., neu bearb. u. erw. Aufl. München, Jena: Elsevier, Urban & Fischer.

A Psychologische und biologische Grundlagen der Psychotraumatologie

MARIE ROXANNE SOPP, ANKE KIRSCH UND TANJA MICHAEL

1.  Trauma und Gedächtnis

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) wird häufig als Störung des Gedächtnisses bezeichnet. Begründet wird dies mit der zentralen Rolle des Traumagedächtnisses bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Symptomatik. In den DSM-5-Kriterien der PTBS (APA, 2014) werden zahlreiche gedächtnisspezifische Veränderungen in Bezug auf das traumatische Ereignis benannt. Zum einen wird ein unwillkürlicher, sensorisch getriebener Abruf von fragmentarischen Inhalten des traumatischen Ereignisses (Intrusionen) beschrieben, der häufig mit existenziellem Angst- und Stresserleben einhergeht. Zum anderen werden Defizite im willentlich gesteuerten Abruf von (Teil-) Episoden des Traumas als Charakteristikum der PTBS beschrieben. Diese Aspekte eines zugleich erhöhten und reduzierten Gedächtnisabrufs erscheinen zunächst gegenläufig. Aufzulösen ist dieser scheinbare Widerspruch durch die Annahme, dass die Konfrontation mit einem traumatischen Ereignis gegenläufige Effekte auf unterschiedliche Gedächtnissysteme (Brewin, 2014) bzw. gedächtnisrelevante Verarbeitungsmodi (Ehlers & Clark, 2000) hat. Dabei berufen sich unterschiedliche Mo­ delle der Störungsgenese auf unterschied­

liche Zweige der gedächtnispsychologischen Grundlagenforschung, um die Entstehung von Intrusionen und Defiziten des expliziten Traumagedächtnisses zu erklären. Im Folgenden wird zunächst die Befundlage zu PTBS-assoziierten Gedächtnisveränderungen dargestellt. Darauffolgend werden drei wichtige Störungsmodelle beschrieben, anhand derer diese Ver­ ände­ run­ gen erklärt werden können. Zuletzt werden ausgewählte Einflussfaktoren auf PTBS-­asso­ ziierte Gedächtnisveränderungen erläu­tert.

1.1  Befunde 1.1.1  Unwillkürliche belastende Erinnerungen (Intrusionen) Eines der Kardinalssymptome der PTBS (Kri­ terium B1) ist das wiederkehrende Auftreten unwillkürlicher, belastender Erinnerungen (Intrusionen) an das traumatische Ereignis (APA, 2014). Der »sich aufdrängende« Charakter dieser Erinnerungen wird durch die Qualität des ungesteuerten Abrufs bedingt, der meist durch sensorische Umgebungsreize initiiert wird. Häufig umfasst dieser ungesteuerte Abruf lediglich das »Einschießen« eines sensorischen Eindrucks oder perzeptueller Bruchstücke des

A 1  Trauma und Gedächtnis 17

traumatischen Ereignisses in das Bewusstsein des Betroffenen (bspw. könnte ein Unfallopfer über wiederkehrende Bilder eines sich nähernden Scheinwerfers berichten). Aufgrund der starken sensorischen Qualität und des damit einhergehenden Wiedererlebens psychischer Empfindungen des Traumas stellt sich häufig ein »Hier-und-Jetzt«Erleben ein. Dies wird von der Wahrnehmung realer Bedrohung und starken Stress­ reak­ tionen begleitet. Folglich zeigt sich, dass insbesondere die »Hier-und-Jetzt«Qualität von Intrusionen den Symptomverlauf be­einflusst (Hackmann et al., 2004) und mit erfolgreicher Therapie reduziert wird (Mi­chael et  al., 2005b). Nächtliche Albträume und sog. Flashbacks werden als Epiphänomene desselben Abrufmechanismus gesehen, der zu intrusivem Wiedererleben führt. Über unterschiedliche Zweige der PTBSForschung hinweg besteht Einigkeit über die Bedeutung intrusiven Wiedererlebens in der Störungsgenese der PTBS. Auch wird mehrheitlich angenommen, dass der Inhalt von Intrusionen kurzen Abschnitten des traumatischen Ereignisses entstammt. Diese Abschnitte sind meist durch eine besondere Intensität des Angsterlebens gekennzeichnet oder markieren einen kritischen Wendepunkt innerhalb des traumatischen Geschehens. Des Weiteren zeigt sich konsistent, dass die subjektiv erlebte Belastung während der Intrusionen ein stärkerer Prädiktor der Symptomentwicklung ist als die Häufigkeit, mit der Intrusionen auftreten (Michael et al., 2005b).

18 Sopp, Kirsch und Michael

1.1.2  Willkürlicher kontrollierter Gedächtnisabruf Kriterium D1 der PTBS beschreibt die »Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des traumatischen Ereignisses zu erinnern« (APA, 2014). Die darin ausgedrückten Defizite im expliziten Gedächtnisabruf des Traumas äußern sich nur selten in einer voll­ ständigen Amnesie (Brewin, 2014). Vielmehr zeigen sich eine geringe Kohärenz und fragmentierte Schilderungen in den narrativen Erzählungen von PTBS-Patienten (Halligan et al., 2003). Dies äußert sich u. a. in Schwierigkeiten, die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse wiederzugeben, und in einem unter­ schiedlich detaillierten Ausmaß der Erinnerung über den Verlauf des Traumas hinweg (Ehlers, 2010). So könnte beispielsweise ein Patient den Ablauf eines körper­ lichen Angriffs schildern, ohne genauer zu beschreiben, wie es zu diesem Vorfall kam. Aus diesen Informationen mit selektivem Ausmaß an Details können in weiterer Folge dysfunktionale Überzeugungen über das Selbst oder die Umwelt abgeleitet werden (z. B. »Ich kann jederzeit ohne Grund angegriffen werden«). Somit können Beeinträchtigungen des expliziten Traumagedächtnisses in direkter Weise auf die Störungsentwicklung Einfluss nehmen, wie auch in ­einer Reihe von Studien nachgewiesen w ­ urde (siehe u. a. Halligan et al., 2003). Die Existenz von Erinnerungsdefiziten bei PTBS-Patienten zeigt sich auch im klinischen Alltag deutlich. Dennoch besteht nach wie vor eine alternative theoretische Position, die davon ausgeht, dass PTBS-Pa­ tienten sowohl unwillkürliche belastende Erinnerungen erleben als auch über einen stärkeren bewussten Gedächtniszugang zu dem Trauma verfügen. Diese Position stützt

sich auf vereinzelte Befunde, die Kohärenz und Fragmentierung des Traumagedächtnisses anhand von globalen Selbsteinschätzungen erfassen (u. a. Rubin et al., 2008). Allerdings belegt die Mehrzahl der Forschungsarbeiten, die diese Charakteristika anhand differenzierter Fremdbeurteilungsmethoden untersuchen, eine reduzierte explizite Erinnerungsleistung für das traumatische Ereignis (zusammenfassend dargestellt in Brewin, 2014). Darüber hinaus zeigt sich, dass PTBS-Patienten im Allgemeinen eine mangelnde Spezifität beim Abruf von negativen Lebensereignissen aufweisen. Diese »Übergeneralisierung« autobiografischer Ge­ dächtnisinhalte ist zudem mit der Symptom­ entwicklung über die Zeit hinweg asso­ziiert (Kleim & Ehlers, 2008).

1.2  Theorien 1.2.1  Furchtstrukturmodell (Foa & Kozak, 1986) Foa und Kozak (1986) erklären PTBS-asso­ ziierte Gedächtnissympome auf Grundlage des bioinformationalen Modells von Lang (1977). Innerhalb dieses Modells wird angenommen, dass eine angstbesetzte Erfahrung zur Bildung einer propositionalen Repräsentation führt, die einerseits Informationen über den angstassoziierten Stimulus umfasst und andererseits Informationen über verbale, physiologische und verhaltensbezogene Reaktionen des Individuums. Des Weiteren wird die interpretative Bedeutung des Stimulus und der Reaktion abgespeichert. Diese drei Arten von Informationen sind über die ihnen zugrunde liegenden Konzepte in einer netzwerkartigen Struktur verknüpft. Durch diese wechselseitigen Verknüpfungen wird bei Aktivierung eines Konzepts die gesamte Struktur reaktiviert.

Die sogenannte Furchtstruktur fungiert damit als Programm zur Initiierung einer Flucht- oder Vermeidungsreaktion bei Konfrontation mit einer der Ursprungserfahrung ähnelnden Situation. Gegenüber rein be­ha­ vio­ristischen Lernmodellen, die Angst­lernen auf die Bildung von Stimulus-Reaktionsund Stimulus-Stimulus Verknüpfungen zurückführen, betonen Foa und Kozak (1986) die Rolle der interpretativen Bedeutung. Insbesondere nehmen sie an, dass die Bedrohungszuschreibung im Kontext der Stimulus- und Reaktionsinformationen für das Furchterleben bei Reaktivierung der Furchtstruktur entscheidend ist. Gestützt wird diese Annahme im Kontext der PTBS durch starke korrelative Zusammenhänge der sub­ jektiv wahrgenommenen Bedrohung während des traumatischen Ereignisses und der nachfolgenden Symptomentwicklung. Das Modell von Lang (1977) beschreibt zunächst die Entwicklung adaptiver Furchtstrukturen, die das Aufsuchen einer eng umschriebenen Gefahrensituation (bspw. Berühren der Herdplatte) verhindern. Die Furchtstrukturen, die im Zuge traumatischer Ereignisse gebildet werden, unterscheiden sich von adaptiven Furchtstrukturen durch die Intensität der Reaktions­elemente, die exzessive Anzahl an Stimuluselementen und die leichte Verfügbarkeit der Struktur (Foa et al., 1989). Diese Besonderheiten werden bedingt durch die einschneidende Bedeutsamkeit des Ereignisses und die damit einhergehenden Verletzungen zahl­ reicher Sicherheitskonzepte (bspw. »Mein Heim ist ein sicherer Ort«). So findet ein traumatisches Ereignis meist in einem komplexen situativen Kontext statt, der viele zuvor mit Sicherheit assoziierten Stimulusinformationen umfasst (bspw. »Bett«, »Decke« und »Fenster« im Falle einer Vergewaltigung im

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Schlafzimmer). Diese Stimulusinformationen werden im Zuge der gebildeten Furchtstruktur mit den Reaktionen (bspw. »Herzrasen«, »Schweißbildung«, »Schreien«) und der interpretativen Bedeutung des Traumas (bspw. »existenzielle Bedrohung«) verknüpft, so dass die Struktur über eine Vielzahl an Kontextreizen reaktiviert werden kann. Aufgrund der Intensität verknüpfter Reaktionselemente führt die Reaktivierung der Furchtstruktur zu einer komplexen Furchtreaktion, die mit intrusivem Wiedererleben einhergeht. Eine natürliche Remission dieser Symptome vollzieht sich durch wiederholte, alltägliche Konfrontation mit Stimuluselementen der Furchtstruktur und daran anknüpfende emotio­ nale Verarbeitungsprozesse (»emotional processing«). Im Zuge dieser emotionalen Verarbeitungsprozesse werden die Reak­ tions­ elemente der Furchtstruktur abgeschwächt und alterna­ tive Verknüpfungen zwischen Stimulus­ elementen und der interpretativen Bedeutung (»Sicherheit« statt »existenzielle Bedrohung«) aufgebaut. Eine Reihe von Faktoren können jedoch die Chronifizierung von intrusiven Wiedererlebenssymptomen begünstigen. Zum einen wird der Umfang der Furchtstruktur durch das Ausmaß bedingt, in dem das traumatische Erlebnis mit vorbestehenden Sicherheitskonzepten konfligiert. So beschreiben Foa und Kollegen (1989), dass bei einer Vergewaltigung im eigenen Schlafzimmer zahlreiche Neuverknüpfungen zu vormaligen Sicherheitskonzepten gebildet werden, während dies im Falle einer Vergewaltigung in einer unsicheren Seitenstraße in geringerem Maße zu erwarten ist. Zum anderen erhöht sich durch eine reduzierte emo­tionale Verarbeitung während des Traumas die Resistenz der Furchstruktur gegenüber nach-

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träglichen Veränderungen. Eine reduzierte emotionale Auseinandersetzung mit dem traumatischen Geschehen sollte folglich mit einer Chronifizierung der Symptomatik einhergehen. Dies wird bekräftigt durch Befunde, die das Ausmaß peritraumatischer Dissoziation als Einflussfaktor der nachfolgenden Störungsentwicklung identifizieren (siehe auch Kap. A2). Foa, Huppert und Cahill (2006) nehmen an, dass eine reduzierte emotionale Verarbeitung während dissoziativer Zustände Auswirkungen auf die Organisation des Traumanarrativs hat. Ein gering kohäsives Traumanarrativ mit unzureichend verknüpften Stimulusinformationen könnte wiederum eine umfassende Reaktivierung der Furchtstruktur im Nachgang des traumatischen Ereignisses verhindern. Folglich wären Sicherheitsannahmen bezüglich spezifischer Stimuluselemente keiner nachträglichen Modifikation zugänglich. Beispielsweise könnte es vor der Vergewaltigung im Schlafzimmer zu einer Auseinandersetzung mit dem Angreifer im Eingangsbereich des Hauses gekommen sein. Wird dieser Anteil der Furchstruktur während der Kon­fron­ta­ tion aufgrund unzureichender Verknüpfungen nicht aktiviert, so können bestimmte Reizmerkmale des Eingangsbereichs (z. B. »Teppich«) keine neue Bedeutungszuschreibung erfahren (z. B. »Sicherheit«). Zuletzt tragen insbesondere Vermeidungsverhalten und kognitive Verzerrungen dazu bei, dass die Neuverknüpfung trauma-assoziierter Stimuluselemente misslingt. So können neue Bedeutungszuschreibungen innerhalb der Furchtstruktur lediglich erfolgen, wenn emotionale Verarbeitungsprozesse nicht durch kogni­ tive oder verhaltensbezogene Strategien vermieden oder vorzeitig abgebrochen werden. Des Weiteren verhindern kognitive Verzerrungen (bspw. »Alle Män-

ner wollen mich angreifen«), dass Betroffene Informa­ tionen ihrer Umwelt wahrnehmen, die inkonsistent zu der existierenden pathologischen Furchtstruktur sind (z.  B. freundliche Kontaktaufnahme eines Mannes bei einer Party).

1.2.2  Das kognitive Modell der PTBS (Ehlers & Clark, 2000) Ehlers und Clark (2000) beziehen sich auf das Prinzip der transfer-angemessenen Verarbeitung (Roediger, 1990), um spezifische Charakteristika des Traumagedächtnisses zu erklären. Dieses Prinzip beschreibt einen erleichterten Abruf unter Verarbeitungsbedingungen, die der ursprünglichen Lern­ situation ähneln. So führt ein »datengetriebener« Verarbeitungsmodus, der auf die perzeptuellen Merkmale einer Lernepisode fokussiert ist, zu einem erleichterten stimulusgetriebenen Abruf. Diese Art des Abrufs lässt sich insbesondere durch implizite Gedächtnistests (bspw. Priming-Aufgaben) erfassen. Eine primär konzeptuelle Verarbeitung während der Lernepisode führt hin­ gegen zu einem verstärkten expliziten Gedächtnisabruf. Begründen lässt sich dies anhand der konzeptuellen Integration der neu gelernten Informationen in vorbestehende Wissenskonzepte. Diese Integration erleichtert nachfolgende Suchprozesse, da bei Reaktivierung der übergeordneten Wissenskonzepte (z. B. »Universität«) eine Koaktivierung der integrierten Informationen (z. B. »Tag meiner Examensfeier«) – und somit ein bewusster Zugang – begünstigt wird. Da ein traumatisches Ereignis meist unerwartet eintritt und einen geringen Bezug zu vorbestehenden Konzepten des autobiografischen Gedächtnisses aufweist, zeigen Betroffene mehrheitlich einen datengetriebe-

nen Verarbeitungsmodus, der folglich einen stimulusgetriebenen Abruf begünstigt. Laut Ehlers und Clark (2000) wirkt sich dieser Verarbeitungsmodus insbesondere auf drei kritische Aspekte des Traumagedächtnisses aus, die gemeinsam zur Entstehung von in­ trusiven Wiedererlebenssymptomen beitragen. So führt eine stark datengetriebene Verarbeitung 1.) zu einer geringen Elaboration und Einbettung des Ereignisses in das autobiografische Gedächtnis. Diese Einbettung besteht bei gewöhnlichen Lebensereignissen in einer Zuordnung zu bestimmten Themenbereichen, die auf unterschiedlichen Ab­ ­straktionsebenen repräsentiert sind (bspw. gliedert sich der Themenbereich »Arbeitstätigkeit an der Universität« in verschie­ dene Unterbereiche, u. a. in das allgemeine Ereignis »Einen Vortrag im Seminarraum halten«, dem wiederum spezifische Episoden zugeordnet werden). Diese hierarchische Struktur ermöglicht einen gezielten Abruf spezifischer Episoden durch intentionale Suchprozesse. Der Abruf geht zudem mit einer raum-zeitlichen Einordnung der Episode innerhalb der Lebensgeschichte des Individuums einher, die als »autonoetisches Bewusstsein« bezeichnet wird (Tulving, 2002). Bei traumatischen Erinnerungen erfolgt durch eine reduzierte konzep­ tuelle Verarbeitung keine solche Einbettung, so dass Teilepisoden des Traumas »zusammenhangslos« abgespeichert werden. Hierdurch lassen sich einerseits Defizite im inten­ tionalen Gedächtnisabruf und zum ande­ ren die Phänomenologie intrusiven Wiedererlebens erklären. So sind Intrusionen insbesondere durch den fehlenden Abruf kontextueller (raum-zeitlicher) Information und ein mangelndes autonoetisches Bewusstsein gekennzeichnet (Ehlers, 2010).

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Übereinstimmend mit der Theorie von Ehlers und Clark (2000) zeigt sich, dass insbesondere kritische Teilepisoden des Traumas, die mit einer starken Gefühlsintensität einhergehen, »zusammenhangslos« abgespeichert werden und dass diese »Zusammenhangslosigkeit« mit der nachfolgenden In­ trusions­häufig­keit dieser Episode assoziiert ist (Ehlers et al., 2004). Des Weiteren geht der datengetriebene Verarbeitungsmodus 2.) mit einer Verstärkung des assoziativen Lernens einher. Dies führt zur Bildung starker Stimulus-Stimulus- und Stimulus-Reaktions-Verbindungen innerhalb des traumatischen Kontexts, die nachfolgend durch perzeptuell ähnliche Umgebungsreize reaktiviert werden können. Es wird angenommen, dass die Reaktivierung dieser Assoziationen über eine komplexe konditionierte Reaktion zur Entstehung intrusiver Wiedererlebensepisoden führt (Streb et al., 2017). Dabei zeigt sich, dass insbesondere Reize, die den Beginn ­eines schwerwiegenden Abschnitts des Traumas ankündigen, zu Auslösern intrusiven Wiedererlebens werden. Dies lässt sich gemäß der »Warnsignal-Hypothese« (Ehlers et al., 2002) auf den hohen Informationswert dieser Reize zurückführen, die trotz eines mangelnden inhaltlichen Bezugs zur Gefahrensituation den Moment existenzieller Bedrohung »ankündigen«. Durch die Beteiligung assoziativer Lernprozesse lassen sich ebenfalls Wiedererlebensphänomene erklären, die nicht (wie Intrusionen) mit sensorischen Eindrücken des Traumas einhergehen. So zeigen Betroffene bei Konfrontation mit traumabezogenen Hinweisreizen – im Sinne einer konditionierten Reaktion – häufig unvermittelt körperliche Bewegungsabläufe oder physiologische Stressreaktionen (»Affekt ohne Erinnerung«, Ehlers & Clark,

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2000). Darüber hinaus zeigt sich, dass PTBS-

Patienten einerseits ein schnelleres Erlernen von konditionierten Furchtreaktionen (Konditionierbarkeit; Orr et al., 2000) und andererseits Defizite im Abbau dieser gelernten Reaktion aufweisen (Extinktions­ lernen; Blechert et al., 2007). Die kritische Bedeutung assoziativer Lernprozesse in der Störungsentwicklung wird ebenfalls durch den Rückgang jener Defizite im Extinktionslernen nach erfolgreicher Traumakonfrontation belegt (Wurtz et al., 2016). Obwohl der erleichterte, unwillkürliche Abruf fragmentarischer Traumaerinnerungen durch assoziatives Lernen erklärt werden kann, existiert vorgeordnet eine weitere Besonderheit, die das Auftreten von Intru­ sionen begünstigt. So zeigt sich, dass Intrusionen durch ein breites Spektrum von Reizen ausgelöst werden, die eine geringe konzeptuelle Übereinstimmung mit dem traumatischen Kontext aufweisen und zudem bei einer sehr geringen Reizintensität wahrgenommen werden. Diese Besonderheit führen Ehlers und Clark (2000) auf eine Verstärkung des perzeptuellen Primings im daten­ getriebenen Verarbeitungsmodus, den dritten kritischen Aspekt, zurück. Priming bezeichnet dabei eine Form des impliziten Lernens, die sich in einer verstärkten Bahnung in der Reizverarbeitung zuvor präsentierter Stimuli äußert. Im Zuge dessen werden »geprimte« Stimuli mit einer graduellen Ähnlichkeit zum ursprünglichen Stimulus unmittelbar im Umfeld detektiert und erkannt. Durch verstärktes Priming könnten trauma-asso­ ziierte Stimuli somit zu hoch­potenten Hinweisreizen werden, die bei ge­ringer Übereinstimmung mit situativen Umgebungsreizen zu einer Reaktivierung der zugrunde liegenden Assoziationen führen. Diese Annahme konnte durch eine Reihe von Experi-

mentalbefunden bestätigt werden (Michael & Ehlers, 2007). Auch zeigt sich in klinischen Stichproben, dass erhöhtes perzeptuelles Priming mit einer stärkeren Symptombelastung über die Zeit hinweg assoziiert ist (Michael et al., 2005a). Ehlers und Clark (2000) nehmen an, dass traumatische Erfahrungen bei einer Mehrzahl der Betroffenen zunächst zu intrusivem Wiedererleben führen. Der Übergang zu ­einer PTBS wird dabei insbesondere durch spezifische Charakteristika des intrusiven Wiedererlebens begünstigt (»Hier-und-jetzt«-­ Erleben, starke emotionale Reaktionen, mangelnde Fähigkeit, Bezug zwischen intrusivem Wiedererleben und Trauma herzustellen; Michael et al., 2005a). Diese Charakteristika resultieren aus den zuvor beschriebenen Veränderungen grundlegender Gedächtnismechanismen und führen bei den Betroffenen zur andauernden Wahrnehmung existenzieller Bedrohung. Weitere kritische Faktoren in der Störungsentwicklung sind die kognitive Bewertung intrusiver Wiedererlebenssymptome (und ggf. des beeinträchtigten, expliziten Abrufs) sowie individuelle Strategien zum Umgang und zur Vermeidung jener Symptome.

1.2.3  Duale Repräsentationstheorie (Brewin, Gregory, Lipton & Burgess, 2010) Übereinstimmend mit dem kognitiven Modell der PTBS beschreiben Brewin, Gregory, Lipton & Burgess (2010) die Entstehung PTBS-assoziierter Gedächtnisveränderungen anhand von grundlegenden Gedächtnisprozessen, die ebenso das Erinnern alltäglicher Begebenheiten unterstützen. Im Unterschied zu Ehlers & Clark (2000) werden Erkenntnisse der neurokognitiven Grundlagenforschung über den Einfluss

von Emotion auf die episodische Gedächtnisbildung herangezogen, um Lernprozesse innerhalb des traumatischen Kontextes zu erklären. Hieraus ergeben sich im Vergleich zum kognitiven Modell abweichende Hypothesen über die Ursachen der PTBS-asso­ ziierten Veränderungen des (un-)willkür­ lichen Gedächtnisabrufs, nicht aber über die Richtung dieser Veränderungen (siehe Brewin, 2014). Der Theorie liegt die Annahme einer dualen Gedächtnisrepräsentation von Ereignissen zugrunde. Die Enkodierung einer überdauernden, flexiblen und semantisch vernetzten Gedächtnisrepräsentation wird durch Interaktionen von subkortikalen (Hippokampusformation) und kortikalen (ventromedialer präfrontaler Kortex, parahippokampaler Kortex, Temporallappen und sensorische Assoziationskortices) Strukturen ermöglicht. Die resultierende Gedächtnis­ repräsentation wird von Brewin und Kollegen (2010) als kontextuelle Repräsentation (C‑rep) bezeichnet und ermöglicht den willentlich gesteuerten Abruf einer vergangenen Episode, einhergehend mit der raumzeitlichen Einordnung des Geschehenen. Zeitgleich wird in einem Netzwerk aus frühen sensorischen Arealen, der Insula und der Amygdala, eine sogenannte sensorische Repräsentation (S-rep) gebildet. Diese enthält eine gering abstrahierte, raum-zeitlich desintegrierte, äußerst erlebnisnahe Repräsentation des Ereignisses, die durch ähn­ liche sensorische Umgebungsreize unwillkürlich reaktiviert werden kann. Im Gegensatz zu der kontextuellen Repräsentation umfasst die sensorische Repräsentation ein sehr genaues Abbild des visuellen Feldes, das auch Merkmale einschließt, die außer­halb des Aufmerksamkeitsfokus liegen. Dieses umfassende Abbild ist jedoch un­

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flexibel und auf die egozentrische Raum­ perspektive beschränkt, während die kon­ tex­tuelle Repräsentation eine abstrakte, blick­ punkt-unabhängige (allozentrische) Dar­stel­ lung enthält. Bei der Enkodierung eines gewöhnlichen Ereignisses werden zunächst beide Repräsentationen gebildet und miteinander verknüpft. Über die Zeit hinweg zerfällt die sensorische Repräsentation, während die kontextuelle Repräsentation den fortlaufenden Abruf des Geschehenen unterstützt. Abweichend dazu wird bei der Enkodierung eines emotionalen Ereignisses über modulierende Einflüsse der Amygdala eine überdauernde sensorische Repräsentation gebildet. Ergänzend zum gesteuerten Abruf der kontextuellen Repräsentation wird so ein sensorisch getriebener Abruf der Erlebnisqualitäten des Ereignisses über die Zeit hinweg aufrechterhalten. Unter extrem stressreichen Bedingungen (bspw. während eines traumatischen Ereignisses) wird die sensorische Enkodierung durch starke Aktivierung der Amygdala um ein Vielfaches potenziert. Zugleich wird durch hemmende Einflüsse auf hippokampale Enkodierungsprozesse die Bildung der kontextuellen Repräsentation eingeschränkt. Aus diesem Zusammenspiel ergeben sich eine starke sensorische und eine reduzierte kontextuelle Repräsentation des traumatischen Ereig­ nisses, die unzureichend miteinander verknüpft sind. Die starke sensorische Repräsentation führt zu einem fortwährenden, erlebnisnahen Abruf des Traumas in Form von intrusivem Wiedererleben. Diese Episoden intrusiven Wiedererlebens werden aufgrund der mangelnden Verknüpfung zwischen sensorischer und kontextueller Repräsentation nicht von einem kontrollierten Abruf des Ereignisses begleitet, so dass die »Hier-

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und-jetzt«-Qualität des Erlebens ununterbrochen bestehen bleibt. Während dieser Wiedererlebensepisoden wird durch PTBStypische kognitive Vermeidungsstrategien eine nachträgliche Verknüpfung zwischen beiden Repräsentationen und damit eine Anreicherung der kontextuellen Repräsentation verhindert. Intrusionen reflektieren somit das anhaltende Streben des Systems nach einer rückwirkenden Kontextualisierung der sensorischen Repräsentation des Traumas und sind – übereinstimmend mit Ehlers und Clark (2000) – nicht per se als Ausdruck einer psychopathologischen Entwicklung zu verstehen. Ob eine PTBS entsteht, ist u. a. abhängig von individuellen Umgangsstrategien während dieser intru­ siven Wiedererlebensepisoden (und den sekun­ dären Auswirkungen auf Aufmerksamkeit und Stimuluselaboration). Insbesondere beeinträchtigen kognitive und verhaltensbezogene Vermeidungsstrategien eine nachträgliche Kontextulaisierung der Gedächtnisspur.

1.3  Einflussfaktoren PTBS-assoziierter Gedächtnisveränderungen Im Rahmen der psychopathologischen Grundlagenforschung wurden verschiedene modellübergreifende Faktoren identifiziert, die auf peri- und posttraumatische Gedächtnisprozesse Einfluss nehmen. Obwohl jene Faktoren mit einer verstärkten Symp­ tom­ent­wick­lung korreliert sind, ist bei einigen Faktoren nicht abschließend geklärt, inwiefern sie in direkter Weise auf die Symptomatik Einfluss nehmen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll im Folgenden ein kurzer Überblick mit Verweisen auf weiterführende Literatur gegeben werden. Unter den prätraumatischen Einflussfak-

toren sind insbesondere eine niedrige Intelligenz und eine reduzierte Arbeitsgedächtnisleistung mit intrusiven Wiedererlebenssymptomen assoziiert (Breslau et al., 2013; Scott et al., 2015). Dies wird einerseits auf eine reduzierte verbale Gedächtnisleistung (Brewin, 2011) und eine verstärkte datengetriebene Verarbeitung (Sündermann et al., 2013) bei niedriger Intelligenz zurückgeführt. Andererseits wird angenommen, dass eine reduzierte Arbeitsgedächtnisleistung mit einer Beeinträchtigung von Gedächt­ niskontrollprozessen einhergeht und dass dies intrusives Wiedererleben begünstigen könnte (Brewin & Beaton, 2002). Gedächtniskontrollprozesse werden als Facette der exekutiven Kontrolle verstanden, die u. a. automatische Abrufprozesse hemmt. Übereinstimmend mit dieser Annahme belegen die Ergebnisse einer prospektiven Studie einen negativen Zusammenhang zwischen Gedächtniskontrolle und intrusivem Wieder­ erleben (Streb et al., 2016). Zwar scheinen prätraumatische kognitive Faktoren die Entstehung von intrusivem Wiedererleben zu begünstigen, jedoch zeigt sich übergeordnet ein stärkerer Einfluss periund posttraumatischer Faktoren (Ozer et al., 2003). Insbesondere nimmt man modellübergreifend an, dass dissoziative Episoden während des Traumas die Bildung einer expliziten Gedächtnisspur hemmen. Begründet wird dies mit der Beeinträchtigung von Aufmerksamkeitsprozessen, die maßgeblich an der episodischen Gedächtnisbildung beteiligt sind (siehe auch Kap.  A2). Des Weiteren wird angenommen, dass die Gedächtnisbildung während des Traumas durch endokrine Stressreaktionen beeinflusst wird (siehe auch Kap. A4). Dies wird auf die gedächtnismodulierende Wirkung des Steroid­ hormons Cortisol zurück­ geführt. Folglich

zeigt sich, dass der Cortisolanstieg während des Traumas mit der nachfolgenden Symp­ tom­ entwicklung in Zusammenhang steht. Die Richtung dieses Zusammenhangs ist bislang nicht vollständig geklärt (Hruska et al., 2014). Jedoch wird die Annahme, dass Cortisol einen spezifischen Einfluss auf intru­ sive Wiedererlebenssymptome hat, durch empirische Befunde bekräftigt. So konnte gezeigt werden, dass Cortisol den impliziten – nicht aber den expliziten – Gedächtnisabruf von trauma-assoziierten Reizen beeinflusst (Holz et al., 2014). Ferner nimmt man an, dass Cortisol ebenfalls die Verfestigung der Gedächtnisspur nach dem traumatischen Ereignis (Re-/Konsolidierung) beeinflusst, was zur Aufrechterhaltung intrusiver Wiedererlebenssymptome beitragen könnte (Bentz et al., 2010). Daran anknüpfend wird ebenfalls der Beitrag weiterer Einflussfaktoren der Gedächtniskonsolidierung diskutiert. Insbesondere legen neuere Befunde nahe, dass die Beeinträchtigung schlafabhängiger Konsolidierungsprozesse (im Zuge von komorbiden Ein- und Durchschlafstörungen) zu einer erhöhten Wiedererlebenssymptomatik beitragen könnte (Kleim et al., 2016). Als gut gesicherter posttraumatischer Einflussfaktor gilt hingegen vermehrtes Grübeln im Nachgang des traumatischen Ereignisses. Neuere Befunde legen nahe, dass Grübeln und intrusives Wiedererleben in einem bi­ direktionalen Zusammenhang stehen (Holz et al., 2017). So könnten intrusive Wieder­ erlebenssymptome zu vermehrtem Grübeln führen, was wiederum das Auftreten erneuter Wiedererlebensepisoden begünstigen könnte.

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1.4  Ausblick Gemäß dem aktuellen Forschungsstand sind viele der PTBS-assoziierten Gedächtnisveränderungen auf Beeinträchtigungen grundlegender Lern- und Gedächtnisprozesse zurückzuführen. Daraus resultiert die wichtige modellübergreifende Feststellung, dass traumatischen Erinnerungen (nach aktuel­lem Kenntnisstand) kein gesonderter Gedächtnismechanismus zugrunde liegt. Vielmehr unterliegt das Erinnern traumatischer Erfahrungen denselben Prozessen, die auch unser alltägliches Gedächtnis unterstützen. Gleichwohl befinden sich Teile des Gedächtnissystems in einem »Ausnahmezustand«, in dessen Folge jene grundlegendenden Prozesse in fundamentaler Weise verändert sind. Anhaltende Forschungsbestrebungen der letzten Jahre haben durch die Identifikation vieler Einflussfaktoren (siehe 1.3) zu einem verbesserten Verständnis PTBS-assoziierter Gedächtnisveränderungen beigetragen. Es besteht allerdings weiterer Forschungsbedarf im Hinblick auf die Interaktionen dieser einzelnen Faktoren. Dabei sollte u. a. beleuchtet werden, welche Faktoren von übergeordneter Bedeutung für die Störungsentwicklung sind und bei welchen es sich lediglich um sekundäre Begleitfaktoren handelt. Dies ist besonders wichtig, da während der Expositionstherapie eine neue Lernerfahrung stattfindet, bei der die traumatische Gedächtnisspur in Teilen verändert wird. Somit können Erkenntnisse über kritische Einflussfaktoren in direkter Weise in eine weitere Optimierung bestehender Therapieverfahren durch adjuvante Behandlungsmethoden einfließen.

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CARSTEN SPITZER UND HARALD J. FREYBERGER

2.  Theorien zum Verständnis von Dissoziation

2.1  Einleitung Als Hauptmerkmal der Dissoziation und der korrespondierenden dissoziativen Störungen beschreibt das DSM-5 »eine Störung und/oder Unterbrechung der normalen Integration von Bewusstsein, Gedächtnis,

Identität, Emotionen, Wahrnehmung, Körperbild, Kontrolle motorischer Funktionen und Verhalten«. Die ICD-10 weitet die Desintegration auch auf die neurophysiologischen Systeme der Motorik, Sensibilität und Sensorik aus. Alternative Ansätze konzipieren Dissoziation als Gegenteil von Assozia­

Tab. 1:  Übersicht zu den Bedeutungsfeldern der Dissoziation (nach Cardena, 1994) I.

Dissoziation als nicht bewusste oder nicht integrierte mentale Module oder Systeme

A.

Dissoziation als fehlende bewusste Perzeption von Wahrnehmungsreizen oder von Verhalten –– Registrieren subliminaler Stimuli –– automatisierte motorische Handlungen

B.

Dissoziation als Koexistenz getrennter mentaler Systeme, die normalerweise im phänomenalen B ­ ewusstsein integriert sind –– zustandsabhängige Amnesie –– zustandsabhängiges Lernen –– Existenz des versteckten Beobachters in Hypnoseexperimenten

C.

Dissoziation als Inkonsistenz der Verhaltens- und Wahrnehmungsebene und der Körperkontrolle –– »repressiver« Copingstil mit mangelnder Übereinstimmung zwischen verbalem Bericht und objektivierbarer körperlicher Reaktionslage –– Hypnose –– Konversionssyndrome

II.

Dissoziation als verändertes Bewusstsein mit einer Entfremdung von Selbst und Umwelt –– Depersonalisation und Derealisation –– Ekstaseerlebnisse, mystische Erfahrungen –– autoskopische Phänomene

III.

Dissoziation als Abwehrmechanismus –– funktionale Abwehr oder grundlegender mentaler Rückzugsmodus vor einer überwältigenden physiologischen oder psychologischen Bedrohung

A 2  Theorien zum Verständnis von Dissoziation 29

tion und damit als Trennung von Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalten im Alltagsbewusstsein (Ross, 1997). Diese Aufzählung heterogener Definitionen – die problemlos zu erweitern wäre – verdeutlicht, dass sich das Konstrukt der Dissoziation bis heute einer begrifflichen Festlegung verweigert ­ (Spitzer & Freyberger, 2017). Bereits 1994 machte Cardena auf die »semantische Offenheit« des Begriffs aufmerksam und arbeitete die vielfältigen Bedeutungsfelder des Dissoziationsbegriffs heraus, der einerseits deskriptiv, andererseits erklärend verwandt wird. Seine Systematik ist zusammenfassend in Tabelle 1 dargestellt. Cardena (1994) plädiert dringend dafür, Phänomene, die aufgrund neurophysiologischer Voraussetzungen per se nicht bewusst­

seinsfähig sind (Punkt I.A), nicht unter dem Terminus Dissoziation zu subsumieren. Mit Blick auf die Phänomenologie können auf der Grundlage der Operationalisierungen des Dissoziationsbegriffs des DSM-5 und der ICD-10 dissoziative Funktionsauffälligkeiten klinisch systematisiert werden (Spitzer et al., 2004; vgl. Tab. 2). Dabei deckt sich diese klinische Systematik nicht vollkommen mit den als dissoziativ klassifizierten Störungsbildern, wie sie in den aktuellen Diagnosemanualen definiert sind, zumal ICD-10 und DSM-5 in ihrer Einteilung differieren (vgl. dazu auch Kap. C8: Dissoziative Störungen). Gleichzeitig verdeutlicht diese Systematik, dass sich der beschreibende und erklärende Aspekt des Dissoziationsbegriffs nicht

Tab. 2:  Klinische Systematik dissoziativer Phänomene Dissoziative Funktionsstörungen1 . . .  des Bewusstseins –– Bewusstseins­verminderung –– Bewusstseinstrübung

–– Bewusstseinseinengung –– Bewusstseins­verschiebung

. . .  des Gedächtnisses –– dissoziative Amnesie –– gesteigerte Erinnerung

–– Déja-vu-Erleben

. . . der personalen Identität –– Besessenheit –– Identitätsunsicherheit

–– Identitätswechsel –– Fugue

. . . der Wahrnehmung von Selbst und Umwelt –– Depersonalisation –– Derealisation

–– verändertes Zeiterleben –– verändertes Raumerleben

. . .  der Körpermotorik –– Bewegungsstörungen –– Koordinationsstörungen

–– Sprachstörungen –– Krampfanfälle

. . . der Sensibilität und Sensorik –– Sensibilitätsstörungen –– Sehstörungen –– Hörstörungen

–– Riechstörungen –– Geschmacksstörungen

Der Begriff (Funktions-)Störung bezieht sich in diesem Kontext nicht auf hypothetische Krank­heits­entitäten, sondern kennzeichnet eine Auffälligkeit im Sinne einer gestörten Funktion auf Symptom- bzw. Syndromebene.

1

30 Spitzer und Freyberger 

immer eindeutig voneinander trennen lassen. Vergleichsweise gut gelingt dies z. B. bei der dissoziativen Amnesie, denn hier finden sich genügend klinische Merkmale, die auf der phänomenologischen Ebene eine Differenzierung zu organisch begründeten Amnesien erlauben. Hingegen ist bei einer Bewusstseinseinengung klinisch zunächst nicht eindeutig zu unterscheiden, ob diese als dissoziativ oder vor einem anderen ätiopathogenetischen Hintergrund zu werten ist. Kurzum: Die Klassifikation als dissoziativ rekurriert implizit auf ein ätiopathogenetisches Modell, welches in den meisten Fällen jedoch nicht explizit gemacht wird. Gemeinsam ist dabei allen Theorien, dass Dissoziation als Prozess bzw. klinisches Symptom respektive Syndrom von psychosozialen Belastungen im weiteren Sinne bzw. traumatischen Erlebnissen im engeren Sinne bedingt wird. Während jedoch das DSM-5 in seinen diagnostischen Kriterien nur bei der dissoziativen Amnesie einen direk­ten Bezug zu traumatischen oder belastenden Erlebnissen herstellt, fordert die ICD-10 hingegen für alle dissoziativen Störungen einen zeitlichen Zusammenhang mit einer psychosozialen Belastung – auch wenn diese vom Patienten selbst geleugnet wird. Insgesamt besteht Konsens darüber, dass die Dissoziation mit psychosozialen Belastungen bzw. traumatischem Stress assoziiert ist (Eckhardt-Henn, 2017; Krause-Utz & Elzinga, 2017). Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass dissoziative Symptome als wichtige diagnostische Kriterien bei der akuten und Posttraumatischen Belastungsstörung und der Borderline-Persönlichkeitsstörung, die von manchen Autoren als Variante der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung verstanden wird (Lewis &

Grenyer, 2009), aufgeführt werden. Wie der Zusammenhang im Einzelnen zu verstehen ist, wird jedoch in den diversen theoretischen Modellen sehr unterschiedlich kon­ zipiert (Eckhardt-Henn, 2017; Krause-Utz & Elzinga, 2017). Vor einer genaueren Erläuterung dieser Theorien werden zunächst mit Hilfe eines historischen Rückblicks die Grundlagen des Dissoziationsbegriffs dargelegt.

2.2  Historischer Rückblick Vermutlich war es der französische Psychiater Jacques Joseph Moreau de Tours, der den Begriff Dissoziation erstmals benutzte. Er verstand darunter eine Abspaltung oder Isolation mentaler Prozesse von einem ›Ich‹. Seine Untersuchungen standen im Zusammenhang mit dem damals weitverbreiteten Interesse an Mesmerismus und künstlichem Somnambulismus, also Momenten der dynamischen Psychiatrie, die letztendlich genauso zentral waren wie das Hysterie­ konzept (Ellenberger, 2005). Dabei beobachtete man bei den Patienten veränderte Bewusstseinszustände mit ihren eigenen Gedanken und Erinnerungen, die außerhalb des normalen Wachbewusstseins zu existieren schienen. Zur Beschreibung dieser Beobachtungen wurden dafür sowohl in der französischen als auch in der deutschen Psychiatrie in der zweiten Hälfte des 19 . Jahrhunderts Termini wie Teilung, Spaltung oder Verdoppelung eingeführt. Die Grundlagen für unser heutiges Dis­ soziationsverständnis wurden jedoch von ­Pierre Janet geschaffen, der in seiner Dissertation L’automatisme psychologique von 1889 ein elaboriertes Modell vorlegte.

A 2  Theorien zum Verständnis von Dissoziation 31

2.2.1  Janets Ausarbeitung des Dissoziationsbegriffs Während seiner Lehrtätigkeit als Philosophieprofessor arbeitete Pierre Janet auch im Krankenhaus von Le Havre und unternahm selbständig psychiatrische Forschungsarbeiten über Patienten mit Hysterie und Neur­ asthe­ nie, welche die Grundlage für seine Doktorarbeit bildeten. Später studierte er Medizin und arbeitete auf Jean-Martin Charcots Stationen am Hôpital Salpêtrière. Charcot ließ für Janet ein Forschungslabor für Experimentalpsychologie einrichten, wo er seine Forschungen zur Hysterie und Hypnose fortsetzte (Hantke, 1999). Ähnlich wie wenig später Freud entwickelte Janet in seiner Auseinandersetzung mit hysterischen Patienten nicht nur ein Erklärungsmodell für diese Erkrankung, sondern vielmehr eine generelle Theorie zur Funktionsweise des psychischen Apparates. Dabei ging er davon aus, dass sich das mentale Leben aus psychischen Elementen, die er als »psychologische Automatismen« bezeichnete, zusammensetze. Jedes dieser Elemente bestehe aus einer komplexen Handlungstendenz, die auf eine definierte Reizsituation gerichtet sei und sowohl eine Vorstellung als auch eine Emotion umfasse. Diese Automatismen seien das Resultat der größtenteils automatischen Integration von Umwelt- und Körperinformation. Die Anpassung an eine sich ständig verändernde Umwelt macht es nach diesem Modell erforderlich, dass neue Informationen in Abgleich und ständiger Überarbeitung der alten Automatismen verarbeitet werden können. Bei gesunden Menschen gelingt diese Synthese, und die Automatismen sind mit­ einander verbunden, gewissermaßen in einem dominanten Bewusstseinszustand ver-

32 Spitzer und Freyberger 

eint und damit zumindest potentiell der Wahrnehmung und willentlichen Kontrolle zugänglich. Durch eine Einengung des Bewusstseinsfeldes kann es zu einer Schwächung der Syntheseleistung kommen und damit zu einer Emanzipation einzelner Elemente bzw. psychischer Funktionen. Genau diese Verselbständigung nennt Janet Dissoziation. Diese dissoziierten Elemente, in denen kognitive und affektive Informationen gespeichert seien, bezeichnet er als »idées fixes«. Weil sie eben nicht angemessen synthetisiert und damit in das Bewusstsein integriert werden können, wirken sie eigendynamisch und unterliegen nicht mehr oder nur noch partiell der willentlichen Kontrolle. Die Ursache für eine geschwächte Syntheseleistung sieht Janet in intensiven emotionalen Reaktionen auf belastende respektive traumatische Erlebnisse. Durch die überwältigenden Affekte kommt es also in Janets Modell zu einem Verlust der integrierenden Kapazität des Bewusstseins, der wiederum zu einer Einengung des Bewusstseinsfeldes als Grundlage für Dissoziation führt. Dabei hängen die Auswirkungen traumatischer Ereignisse jedoch nicht nur von ihrer Intensität und Dauer ab, sondern eben auch von der Intensität der emotionalen Reaktion der Betroffenen. Diese wird ihrerseits von lebens- und lerngeschichtlichen, persönlichkeitspsychologischen, genetischen und situativen Faktoren wesentlich determiniert (Hantke, 1999). Damit formuliert Janet ein psychotraumatologisch orientiertes Dissoziationskonzept, das letztendlich jedoch auf einem DiatheseStress-Modell fußt. Der prämorbiden Vulnerabilität kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Keineswegs muss eine Dissoziation immer durch ein intensives äußeres Trauma ausgelöst werden. Vielmehr ist es oft die

persönlichkeitsinhärente Reagibilität einer Person zu überschießenden Emotionen, die traumatogen wirkt und zur Psychopathologie führt. Trotz seines Differenzierungsgrades und seiner hohen Erklärungskraft konnte sich Janets Dissoziationskonzept nicht durch­ setzen. Obwohl um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Frederic Myers in England und William James, Morton Prince und Boris Sidis in den USA dem Modell eine zentrale Stellung beimaßen, geriet es ab etwa 1910 zunehmend in Vergessenheit. Dazu haben vor allem die Einführung des Schizophreniebegriffs durch Eugen Bleuler, das Aufkommen des Behaviorismus mit seiner Vernachlässigung innerpsychischer Vorgänge und die Dominanz psychoanalytischer Erklärungen für die Hysterie beigetragen (Kihlstrom, 1994). Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass Sigmund Freud gerade zu Beginn seiner Auseinanderset­ zungen mit hysterischen Patienten durchaus Be­­ zug auf Janets Dissoziationskonzept nahm, wobei er es allerdings vermied, dessen Überlegungen hervorzuheben. In Freuds weiterer Theoriebildung wurde dann die Bedeutung real-traumatischer Erfahrungen zugunsten triebbedingter, konflikthafter intrapsychischer Prozesse relativiert, und Janets Dissoziationsmodell wird in Freuds Metapsychologie durch das Konzept der Verdrängung ersetzt. Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um eine bloße Veränderung in der Begrifflichkeit; vielmehr unterscheiden sich Janets und Freuds Vorstellungen über die Funktionsweise des psychischen Apparates fundamental (Hantke, 1999). Während das Interesse am Dissoziationskonstrukt zwischen 1920 und Mitte der 1960er Jahre regelrecht abebbte, kam es

spätestens seit Anfang der 1970er Jahre zu einer Renaissance. Dazu haben verschie­ dene Entwicklungen beigetragen: nn die Betonung der epidemiologischen und klinischen Bedeutung von Kindesmisshandlung, vor allem intrafamiliärem Inzest, durch die zweite Welle der Frauenbewegung; nn die zunehmende Anerkennung der kli­ nischen Relevanz von traumatischem Stress für die Psychopathologie von Kriegsveteranen des Vietnamkrieges; nn die Veröffentlichung und Rezeption des epochalen Werkes Die Entdeckung des Unbewussten von Henry F. Ellenberger im Jahre 1970, in dem die zentrale Rolle von Pierre Janet bei der Entwicklung der dynamischen Psychiatrie detailliert herausgearbeitet und sein Dissoziations­ konzept in Erinnerung gerufen wird; nn die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit experimentellen und therapeutischen Ansätzen zur multiplen Persönlichkeitsstörung; nn die Popularisierung der multiplen Persönlichkeit über die Medien, beispielsweise durch das Buch The three faces of Eve von Corbett H. Thigpen und Hervey M. Cleckley (Dt.: Die 3 Gesichter Evas, 1957) oder das Buch Sybil (Dt.: Sybil. Persönlichkeitsspaltung einer Frau, 1974/77) und dessen Verfilmung; nn die Einführung der sogenannten Neodissoziationstheorie durch Ernest R. Hilgard (1974) im Kontext experimenteller Psychopathologie mittels Hypnose. Diese verschiedenen Strömungen können an dieser Stelle nicht im Detail nachgezeichnet werden. Um aktuelle Modellvorstellungen zur Dissoziation angemessen zu verstehen und einzuordnen, erscheint ein kurzer

A 2  Theorien zum Verständnis von Dissoziation 33

Exkurs zu Hilgards Neodissoziationstheorie als sinnvoll.

2.2.2  Neodissoziationstheorie Hilgard interessierte sich nicht nur für harte Daten, beobachtbares und messbares Verhalten, sondern auch für subjektives Erleben und damit für Bewusstsein, so dass sein Ansatz als subjektiver Behaviorismus bezeichnet wurde. Im Unterschied zu Janet ging er davon aus, dass Dissoziation ein normales kognitives Phänomen darstelle, das sich in Hypnose zeige. Als Arbeitshypothese diente die Annahme, dass unter Hypnose als einem veränderten Bewusstseinszustand eine Inkongruenz zwischen physiologischen Befunden und verbalen Berichten der Versuchspersonen bestehe. Diese konnte experimentell bestätigt werden. So berichteten beispielsweise hypnotisierte Probanden, dass sie keine Schmerzen hätten, obwohl physiologische Messungen das Gegenteil bewiesen. Die Tatsache, dass die Abspaltung der Schmerzempfindungen unter Hypnose besser gelingt als im Wachbewusstsein, wird mit einem bestimmten Kontrollmechanismus erklärt. Hilgard nahm dazu eine Hierarchie kognitiver und somatischer Sub­sys­ teme an und postulierte eine Exekutivkon­ trolle. Diese regle das Zusammenwirken der einzelnen Mechanismen und garantiere so Konsistenz, aber auch Übereinstimmung mit gewissen Kontextnormen und ermög­ liche letztendlich ein Identitätserleben der Persönlichkeit. Unter Hypnose werde nun diese oberste Kontrollinstanz zurückgedrängt und die einzelnen Subsysteme könnten größere Autonomie entfalten. Hilgard hat das getrennte Nebeneinander  unterschiedlicher autonomer Instanzen durch seine Experimente zu dem sogenann-

34 Spitzer und Freyberger 

ten »heimlichen Beobachter« (hidden observer) nachzuweisen versucht. Dabei wird der Hypnotisand instruiert, sich quasi in zwei Personen aufzuspalten, deren Trennung der Hypnotiseur durch eine Berührung signalisiert. Die beiden »Personen« können unterschiedliche Informationen aus der Hypnosesitzung wiedergeben. Der hidden observer kann dabei als der Teil verstanden werden, der die übergreifende beobachtbare Perspektive in der Hypnosesituation einnimmt. Hilgard nennt ihn deshalb »hidden«, weil diese Instanz nur durch die spezielle Instruktionstechnik evident wird. Bei hypnotischen Experimenten, in denen den Probanden durch die hypnotische In­ struktion Analgesie suggeriert wurde, war es durch den hidden observer möglich, die ­volle subjektive Schmerzstärke, z. B. beim Eiswassertest, zu ermitteln. Ungeachtet der Frage, ob solche Experimente generalisierbar sind, scheint die Annahme einer hier­ archischen Struktur von in sich relativ autonomen Subsystemen mit eigenen Kontrollmechanismen innerhalb des kognitiven, aber auch des somatischen Systems durchaus sinnvoll zu sein. Nach der Neodissoziationstheorie gibt es eine Exekutivkontrolle, die ganz oben in der Hierarchie angesiedelt ist und unter Hypnose ihren Einfluss zurücknimmt. Unter dieser Bedingung sind dann Informationen und prozedurale Programme ansprech- und abrufbar, die im normalen Wachbewusstsein nicht zugänglich sind. Dissoziative und hypnotische Zustände sind insofern ähnlich, als in ihnen die Exekutivkontrolle als oberste Stufe der hierarchischen Regulationssysteme weniger Einfluss nimmt als im Wachbewusstsein und so die darunter stehenden Subsysteme in anderer Form zur Geltung kommen.

2.3  Aktuelle Weiterentwicklungen des Dissoziationsmodells Obwohl Janet in seiner Ausarbeitung des Dissoziationsbegriffs wesentliche Grundlagen geschaffen hat, zeigt seine wechselvolle Geschichte doch auch, dass ganz heterogene Einflüsse der verschiedensten theoretischen Strömungen das Konzept beeinflusst haben. Nicht zuletzt dadurch erklärt sich die eingangs erwähnte »semantische Offenheit«. Der ›scientific community‹ ist diese Problematik in den letzten Jahren zunehmend bewusst geworden, so dass es von diversen Seiten Bemühungen der Präzisierung gegeben hat. Die meistversprechenden Ansätze sind nn die Unterscheidung zwischen normaler und pathologischer Dissoziation; nn die Differenzierung zwischen ›detachment‹ und ›compartmentalization‹; nn Entwicklungsreihen von Dissoziation und das Modell der peritraumatischen Dissoziation; nn die Theorie der strukturellen Dissozia­ tion.

2.3.1  Normale versus pathologische Dissoziation Während Janet davon ausging, Dissoziation stelle einen diskontinuierlichen Prozess dar, der nur bei Kranken, insbesondere bei Hysterikern, vorkomme, konzeptualisierten seine Zeitgenossen William James und Morton Prince Dissoziation als dimensional, d. h. dissoziative Phänomene lassen sich auf ­einem Kontinuum von alltäglichen Erfahrungen wie etwa Tagträumereien bis zu schwersten und klinisch relevanten Formen wie der multiplen Persönlichkeitsstörung anordnen. Diese sogenannte »Kontinuumshypothese«

prägt bis heute den klinischen und wissenschaftlichen Diskurs (Spitzer et al., 2007). In jüngster Zeit ist erneut gefragt worden, ob es nicht doch einen qualitativen Unterschied zwischen ›normaler‹ und ›pathologischer‹ Dissoziation gebe. Aus klinischer Perspek­ tive sind drei Momente hervorgehoben worden, um dissoziative Phänomene als pathologisch zu charakterisieren: nn Dissoziative Symptome von klinischer Relevanz gehen bei den Betroffenen mit einem veränderten Identitätsgefühl einher, nn bei pathologischen Formen der Dissoziation bestehen typischerweise Erinnerungslücken und nn subjektives Leiden bzw. objektivierbare psychosoziale Funktionseinschränkungen treten in der Regel nur bei pathologischer Dissoziation auf. Auch die empirische Forschung ist dieser Frage nachgegangen, indem die Datensätze der Dissociative Experiences Scale (DES) (Bernstein & Putnam, 1986) von je 228 Pa­ tien­ten mit einer Dissoziativen Identitätsstörung und gesunder Kontrolle mit Hilfe taxometrischer Verfahren reanalysiert wurden (Waller et al., 1996). Die DES ist das international gebräuchlichste und am besten evaluierte Selbstbeurteilungsverfahren zur Erfassung dissoziativer Phänomene, welches als Fragebogen zu Dissoziativen Symptomen (FDS) auch in einer deutschen Fassung vorliegt (Spitzer et al., 2015). Verschiedene taxometrische Ansätze kommen dabei übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass eine Unterscheidung zwischen einem dimensionalen, nicht-pathologischen und einem diskontinuierlichen, pathologischen Typus dissoziativer Phänomene empirisch gerechtfertigt ist (Waller et al., 1996). Zudem konnten

A 2  Theorien zum Verständnis von Dissoziation 35

acht der ursprünglich 28 Items der DES extra­ hiert werden, die als Indikatoren für patho­ logische Dissoziation gelten und als DES-Taxon (DES-T) bezeichnet wurden. In einem weiteren Schritt konnte gezeigt werden, dass die DES-T deutlich besser zwischen verschiedenen diagnostischen Kategorien differenziert als die Originalfassung der DES; insbesondere fand sich pathologische Dissoziation fast ausschließlich bei Patienten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder dissoziativen Störung. In einer unabhängigen Untersuchung konnte die Unterscheidung zwischen dimensionaler, nicht-pathologischer und diskontinuierlicher, pathologischer Dissoziation an einem DES-Datensatz aus der Allgemeinbevölkerung bestätigtet werden (Waller & Ross, 1997). Interessanterweise wurde in einer nichtklinischen Stichprobe eine Assoziation zwischen pathologischer Dissoziation und Kindheitstraumata, vor allem körperliche Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch, gefunden, die für eine nicht-pathologische Dissoziation nicht bestand (Irwin, 1999). Allerdings waren die berichteten Effektstärken eher niedrig, so dass auch anderen Faktoren eine wichtige Rolle bei der Genese pathologischer Dissoziation zugeschrieben wurde (Irwin, 1999). Der Zusammenhang zwischen Kindheitstraumata und pathologischer Dissoziation wurde auch in anderen Untersuchungen repliziert, so bei delinquenten Jugendlichen und bei Patienten mit einer Depersonalisationsstörung. Hingegen lässt sich kritisch einwenden, dass pathologische Dissoziation zeitlich wenig stabil ist und möglicherweise ein empirischstatistisches Artefakt darstellt (Übersicht bei Spitzer et al., 2007).

36 Spitzer und Freyberger 

2.3.2  Detachment und compartmentalization Auch von klinisch-therapeutischer Seite ist die Dissoziation in zwei qualitativ unterschiedliche Formen unterteilt worden. In einer sehr gelungenen Übersicht führen Holmes und Mitarbeiter (2005) die bisherigen Versuche der Differenzierung und Präzisierung sinnvoll und klinisch relevant zusammen. Dabei zeigen sie auf, dass die meisten Autoren sich – mit unterschiedlicher Begrifflichkeit – an der Einteilung der eingangs dargestellten Systematik von Cardena (1994) orientieren und Dissoziation entweder als Desintegration mentaler Subsysteme oder aber als verändertes Bewusstsein verstehen. Bei der letztgenannten Form, dem sogenannten detachment, besteht das zentrale Merkmal in einem veränderten Bewusstseinszustand, der mit einem Gefühl der Entfremdung (oder des Losgelöstseins  =  detachment) einhergeht. Die Entfremdung kann sich dabei auf die eigene Person (Depersonalisation) oder die Umgebung (Derealisation) beziehen; oftmals findet sich in solchen Zuständen auch eine veränderte affektive Beteiligung oder diese fehlt gar völlig, so dass die Betroffenen kein Gefühl der »Meinhaftigkeit« des Erlebten haben. Ähnlichkeiten des detachment mit anderen Konzepten aus dem Bereich der Psychotraumatologie wie etwa dem emotional numbing oder der peritraumatischen Dissozia­ tion sind offensichtlich. Der zweite Typus der Dissoziation wird als compartmentalization bezeichnet; hier resultieren die dissoziativen Phänomene aus einer Störung des Wechselspiels von normalerweise miteinander in übergeordneten Funktionseinheiten interagierenden Syste-

men und Modulen. Diese Modellvorstellung weist dabei eine große Nähe zu Hilgards Neodissoziationstheorie auf. Compartmentalization ist durch die Unfähigkeit charakterisiert, prinzipiell bewusst kontrollierbare oder bewusstseinsfähige mentale Prozesse angemessen zu steuern. Der heuristische Wert und die klinische Relevanz dieser Zweiteilung lassen sich beispielhaft an der dissoziativen Amnesie aufzeigen. Amnestische Phänomene im Kontext des detachment sind – häufig durch traumatische Erlebnisse bedingt – als Störung der Encodierung zu verstehen. Hin­ gegen sind Amnesien im Rahmen des compartmentalization als Abrufstörung zu werten. Auf der Ebene klinischer Diagnosen stellt die Depersonalisationsstörung den Prototyp des detachment dar, während Konversionsstörungen klassische Beispiele für compartmentalization sind; bei der Posttraumatischen Belastungsstörung treten beide Formen der Dissoziation auf (Holmes et al., 2005).

2.3.3  Entwicklungsreihen und peritraumatische Dissoziation Diese Konzeption hebt weniger auf qualitative Unterschiede als auf den zeitlichen Bezug zur Traumatisierung und die Eigen­ dynamik dissoziativer Prozesse ab. Aus dieser Perspektive lässt sich festhalten, dass Dissoziation sowohl unmittelbar während des traumatischen Ereignisses als auch posttraumatisch und gar als eine LangzeitKonsequenz bei Mehrfachtraumatisierung vorkommen kann. Somit kann Dissoziation als drei unterschiedliche, aber in Beziehung stehende mentale Phänomene verstanden werden (Van der Kolk et al., 2000).

Primäre Dissoziation Abhängig von der Intensität des Traumas und den persönlichen Voraussetzungen kann angesichts einer überwältigenden Bedrohung die individuelle Reizverarbeitungs­ kapazität überschritten werden. Dann sind die Betroffenen nicht in der Lage, die traumatischen Erfahrungen als Ganzes in ihr Bewusstsein zu integrieren. Sensorische und emotionale Elemente werden als Fragmente und isoliert von den normalen Bewusstseinsinhalten gespeichert und können nicht in ein persönliches Narrativ integriert werden. Diese Fragmentierung wird von IchZuständen begleitet, die sich von normalen Bewusstseinszuständen unterscheiden.

Sekundäre Dissoziation Befindet sich eine Person einmal in diesem veränderten Bewusstseinszustand, kann eine weitere Desintegration des persönlichen Erlebens auftreten. Eine »Dissoziation zwischen beobachtendem Ich und erlebendem Ich« (Fromm, 1965) wird von traumatisierten Personen vielfach geschildert. Diese Personen berichten beispielsweise, dass sie im Moment der Traumatisierung mental ihren Körper verlassen und das Geschehen aus einer Distanz beobachten. Dieses Distan­ ­ zierungsmanöver der sekundären Dissoziation erlaubt es den Personen, die traumatische Erfahrung als ein Beobachter zu betrachten und somit den Schmerz oder die Angst zu begrenzen. Während die primäre Dissoziation eine Einschränkung des kog­ nitiv-perzeptiven Bezugs hinsichtlich des Traumas mit sich bringt und somit die Betroffenen in die Lage versetzt, zunächst weiter zu funktionieren, als ob nichts geschehen wäre, trennt die sekundäre Dissoziation die Betroffenen von den aversiven Affekten, die mit der Traumatisierung verknüpft sind,

A 2  Theorien zum Verständnis von Dissoziation 37

und fungiert quasi als Anästhetikum. Mittlerweile werden die Begriffe der sekun­dä­ ren und peritraumatischen Dissoziation synonym benutzt. Neben Derealisation und Depersonalisation zählen Verwirrung, Desorientierung, Veränderungen in der Schmerzwahrnehmung und des Körperbildes, Einengung des Gesichtsfeldes und anderer Sinneskanäle sowie ein verändertes Zeitgefühl zu den typi­schen peritraumatischen dissoziativen Symptomen (Krause-Utz & Elzinga, 2017). Zur psychometrischen Erfassung genau dieser Merkmale wurde der Peritraumatic Dissociative Experiences Questionnaire (PDEQ) entwickelt, der auch in einer autorisierten deutschen Fassung als Peritraumatische Dissoziative Erfahrungen – Fragebogen vorliegt (Übersicht bei Spitzer & Wirtz, 2017). Die Funktionalität dissoziativer Symptome zum Zeitpunkt der akuten Traumatisierung scheint darin zu bestehen, dass über eine De-Kontextualisierung des Gesamt­ zusammenhangs basale und für das Über­ leben notwendige psychische Funktionen aufrechterhalten werden können. Trotz dieser initialen Funktionalität legen viele Arbeiten nahe, dass die peritraumatische Dissoziation einen hohen prädiktiven Wert in Bezug auf die spätere Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung hat. Eine Metaanalyse zu dieser Problematik kommt hingegen zu dem Ergebnis, dass der kausale Zusammenhang zwischen peritraumatischer Dissoziation und Posttraumatischer Belastungsstörung nicht eindeutig posi­tiv zu beurteilen ist (Lensvelt-Mulders et al., 2008).

Tertiäre Dissoziation Unter tertiäre Dissoziation ist die Entwicklung unterschiedlicher Ich-Zustände, die

38 Spitzer und Freyberger 

traumatische Erinnerungen beinhalten, zu verstehen. Diese Ich-Zustände bestehen aus komplexen Identitäten mit unterschiedlichen kognitiven, affektiven und behavioralen Mustern. Einige dieser Ich-Zustände repräsentieren spezifische Aspekte der Traumatisierung, etwa Angst, Schmerz oder Aggression. Hingegen haben andere Ich-Zustände keinen Zugang zu den traumatischen Erfahrungen und den damit verbundenen Affekten; dadurch bleibt die Aus­führung routinemäßiger Funktionen des täglichen Lebens unbeeinträchtigt.

2.3.4  Theorie der strukturellen Dissoziation Eine für die Psychotraumatologie wichtige Konzeption des Dissoziationsbegriffs hat die Arbeitsgruppe um Onno van der Hart und Ellert Nijenhuis vorgelegt, wobei sie zum Teil direkt auf andere Theorien rekurriert (Van der Hart et al., 2008). Mit Bezug auf Janet und Charles Myers entwickeln sie folgendes Modell einer traumabezogenen strukturellen Dissoziation: Misslingt in der Folge akuter Traumatisierungen eine Bewältigung und Integration des Erlebten, kann es zu einer Teilung der Persönlichkeit in verschiedene Anteile mit jeweils eigener psychobiologischer Basis kommen. Diese Aufspaltung kann rudimentär oder deut­ licher ausgeprägt sein; auch können die Persönlichkeitsanteile unterschiedlich stark miteinander interagieren, wobei klinisch ein Wechsel zwischen dem Wiedererleben der Traumatisierung und einer Abspaltung bzw. einem relativen Unbewusstsein des Traumas und der damit verbundenen Af­ fekte auffällt. Dissoziation beschreibt diesen Wechsel zwischen dem sogenannten emo­ tionalen Persönlichkeitsanteil (EP) – fixiert

in der traumatischen Erinnerung und den damit verbundenen Erfahrungen – und dem anscheinend normalen Persönlichkeitsanteil (ANP), welcher in einer phobischen Vermeidung der traumatischen Erinnerung fixiert ist und sich durch Abspaltung, emotionale Betäubung sowie in einer teilweisen oder kompletten Amnesie des traumatischen Erlebens äußert. Die traumabezogene strukturelle Disso­ ziation hat sich im Laufe der Evolution als psychobiologisches Überlebens- oder Ak­ tions­system mit dem Ziel der Anpassungsregulation entwickelt. Einige Aktionssysteme sind defensiv und beziehen sich auf das Überleben des Einzelnen bei direkter Bedrohung, während andere für das Alltags­ leben und für das Überleben der Spezies von Bedeutung sind. Der emotionale Persönlichkeitsanteil (EP) verkörpert das anima­ lische Verteidigungssystem mit festgelegten Reaktionen angesichts tatsächlicher oder vermuteter Bedrohungen, mit korres­pondie­ renden Subsystemen, die z. B. zu Hyper­ vigilanz, Kampf, Flucht oder Unterwerfung führen. Der EP zeigt eine Bewusst­seins­ein­ engung mit einem Aufmerksamkeitsfokus auf reale oder antizipierte Bedrohungen, die (wieder-)erlebt und als aktuelles Ereignis behandelt werden. Somit kann der EP sowohl einzelne wie kombinierte Reaktionsmuster aufzeigen, die dem Verteidigungsverhalten von Tieren ähneln, als auch komplexe und elaborierte Verhaltens- und Erlebnismuster entwickeln. Im Gegensatz dazu hat der anscheinend normale Persönlichkeitsanteil (ANP) die Funktion, jene Alltagsaufgaben zu erfüllen, die für das (Über-) Leben der Art notwendig sind, wie beispielsweise Bindung, Regulation des Energiehaushaltes und Fortpflanzung. Dies gelingt jedoch nur, wenn dem ANP die traumati-

schen Erinnerungen des EP nicht zugänglich sind bzw. diese streng vermieden werden. Dieses Vermeidungsverhalten ist insoweit angepasst, als dem Betroffenen eine Integration der traumabezogenen Erinnerungen nicht möglich ist. Die Alltagsfunk­ tionen des ANP wären gefährdet, wenn die traumatischen Erinnerungen zugänglich würden. Bei der ungenügenden Bewältigung eines akuten und einmaligen Traumas kann es zu einer primären strukturellen Dissoziation kommen, die durch eine Aufteilung der Persönlichkeit in einen einzelnen ANP und ­einen einzelnen EP charakterisiert ist. Als klinisches Beispiel sei die ›einfache‹ Posttraumatische Belastungsstörung genannt. Wenn traumatische Ereignisse zunehmend als überwältigend erlebt werden und/oder über einen langen Zeitraum andauern, kann das eine weitere Aufspaltung des EP zur Folge haben, während ein einfacher ANP unversehrt bleibt. Diese sekundäre strukturelle Dissoziation findet sich klinisch bei der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung oder bei vielen Fällen mit disso­ ziativen Störungen, vor allem den nicht näher bezeichneten dissoziativen Störungen. Schließlich kann eine Aufspaltung des ANP geschehen, wenn unvermeidbare Aspekte des Alltagslebens auf spezielle Weise mit dem traumatischen Ereignis verknüpft werden, wenn also beispielsweise Bindungsverhalten mit traumatischen Erinnerungen verbunden ist. Zusätzlich können sich neue ANPs entwickeln, wenn der ANP ein so schlechtes Funktionsniveau hat, dass der normale Alltag nicht bewältigt werden kann. Weitere Dissoziationen des ANP als Reaktion auf fortgesetzte Traumatisierungen können sich zur ›normalen‹ Lebens­ weise entwickeln. Diese tertiäre strukturelle

A 2  Theorien zum Verständnis von Dissoziation 39

Persönlichkeit

Persönlichkeit

Persönlichkeit ANP ANP

ANP EP

EP a)

b)

ANP

EP

EP EP

EP ANP

EP

EP

EP

c)

Abb. 1a) – 1c):  Illustration des Modells zur strukturellen Dissoziation a) primäre strukturelle Dissoziation (akute oder einfache posttraumatische Belastungssituation) b) sekundäre strukturelle Dissoziation (komplexe PTBS, Borderline-Persönlichkeitsstörung) c) tertiäre strukturelle Dissoziation (multiple Persönlichkeitsstörung bzw. Dissoziative Identitätsstörung) ANP: Anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil – Funktionen des Alltagslebens EP: Emotionaler Persönlichkeitsanteil – trauma-assoziierte Verteidigungssysteme (z. B. Flucht)

Dissoziation umfasst also neben der Aufspaltung des EP noch die des ANP und liefert so ein sinnvolles Modell zum Verständnis der multiplen Persönlichkeitsstörung respek­ tive der Dissoziativen Identitätsstörung.

2.4  Neurobiologische Befunde In vielfältigen Forschungsbemühungen ist den neurobiologischen Korrelaten von dissoziativen Symptomen nachgegangen worden. Dabei sind Auffälligkeiten der Hypothalamas-Hypophysen-Nebennieren-Achse (vgl. auch Kap. A4 in diesem Band), Alterationen im serotonergen, noradrenergen, glutamatergen und im endogenen Opioidsystem sowie strukturelle und funktionelle Auffälligkeiten in zentralnervösen Netzwerken gefunden worden (Winter & Schmahl, 2017; Gebauer & Daniels, 2017). Diese mannigfaltigen, zum Teil inkonsistenten Ergebnisse können hier nicht im Detail referiert werden. Die Befunde aus funktionellen Bildgebungsstudien sollen kurz dargestellt werden, da diese aus neurobiologischer Perspektive zentrale Annahmen der oben dargestellten

40 Spitzer und Freyberger 

Theorien untermauern. Trotz vieler funktioneller MRT-Untersuchungen, in denen Pa­ tienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung einer Symptomprovokation unterzogen wurden, konnte kein einheitliches Bild der beteiligten Hirnareale gezeichnet werden. Erst mit einer an klinischen Merkmalen orientierten Unterteilung der PTBSPatienten gelang es, zwei distinkte Verarbei­ tungsmodi in der Folge eines traumatischen Ereignisses neurobiologisch zu charakterisieren. Das klinisch führende Merkmal der einen Gruppe ist ausgeprägte Dissoziation, weshalb diese auch als dissoziativer Sub­ typus der PTBS bezeichnet wird (Lanius et al., 2012). Bei der anderen Form stehen Übererregung und Intrusionen im Vordergrund; allerdings können beide Verarbeitungsmodi bei ein und derselben Person gleichzeitig und/oder nacheinander vorkommen. Diese beiden Gruppen zeigen bei Konfrontation mit einem trauma-assoziierten Hinweisreiz genau gegenläufige Muster der Aktivierung in Hirnregionen, die für die Erregungsmodulation und Emotionsregulation verantwortlich sind. Dazu zählen der mediale präfrontale Kortex, das vordere Cingulum und das limbische System.

In verschiedenen Studien zeigten Patienten mit dem dissoziativen Subtypus der PTBS eine außergewöhnliche starke Aktivität des dorsalen vorderen Cingulums und des medialen präfrontalen Kortex, die mit der klinischen Dissoziation eng korrelierte. Gleichzeitig bestand eine negative Korrelation mit der Aktivität der vorderen Insel­re­ gion und der Amygdala als wichtige Strukturen des limbischen Systems, insbesondere bei der bewussten Wahrnehmung und Verarbeitung von Angstreizen. Aufgrund dieser Befunde wurde ein Modell der emotionalen Dysregulation als Antwort auf traumabezogene Stimuli entwickelt, wobei der dissoziative Subtypus mit einer Überregulation, der übererregt-intrusive Typus mit einer affek­ tiven Unterregulation einhergeht. Für die Dissoziation wird letztendlich von einer Topdown-Regulation im Sinne einer kortikolimbischen Inhibition ausgegangen: Wird ein bestimmtes Maß an Angst erreicht bzw. überschritten, hemmt der mediale präfrontale Kortex limbische Strukturen, vor allem die Amygdala, und damit die weitere Emo­ tions­verarbei­tung. Klinisch manifestiert sich dies als veränderte bis fehlende affektive Beteiligung, die typischerweise mit De­rea­ lisation und Depersonalisation vergesellschaftet ist. Dieses neurobiologische Modell liefert zum einen überzeugende Hinweise auf die Mechanismen, die dissoziativen Symptomen zugrunde liegen, zum anderen verweist es auf die eminent wichtige Rolle intensiver aversiver Affekte als potentielle Auslöser für diese Mechanismen (Lanius et al., 2012).

2.5  Resümee und Versuch einer Integration In der tradtionsreichen Begriffsgeschichte hat es vielfältige Bemühungen hinsichtlich einer präziseren Ausdifferenzierung des Dissoziationskonstruktes gegeben. Dennoch werden weiterhin viele Aspekte kontrovers diskutiert und nicht zuletzt der kausale Zusammenhang zwischen dissoziativen Symptomen und traumatischen Erfahrungen in Frage gestellt (Lynn et al., 2014). Auch wenn alternative Erklärungsmodelle wichtige Erkenntnisse zu weiteren Determinanten geliefert haben, so kann aus psychotraumatologischer Perspektive kein Zweifel an dem Zusammenhang zwischen Trauma und Dissoziation bestehen. Allerdings ist auch klar, dass dieser Zusammenhang keineswegs monokausal und insgesamt sehr komplex ist (Eckhardt-Henn, 2017; Krause-Utz & Elzinga, 2017). Weiterhin offen ist die Frage, ob Bewusstseinsveränderungen im Kontext von Dissoziation ein eigenständiges und von anderen dissoziativen Symptomen distinktes Syndrom darstellen oder ob diese Phänomene letztendlich eng assoziiert sind. Im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Trauma stellen Bewusstseinsveränderungen die typische Konstellation dar, so wie dies im ­Konzept der peritraumatischen Dissoziation ausformuliert ist. Für ein Modell, das die verschiedenen Strömungen und Befunde weitestgehend zu integrieren versucht, erscheint zunächst die Unterscheidung zwischen dissoziativen Symptomen und Störungen als akute Zustände (state) im Gegensatz zu einer als Dissoziationsneigung zu bezeichnenden Prädisposition als sinnvoll. State- und Trait-Dissoziation interagieren dabei im Sinne eines

A 2  Theorien zum Verständnis von Dissoziation 41

Vulnerabilitäts-Stress-Modells: Während es bei einer hohen Dissoziationsneigung für die Symptomauslösung, also die Manifestation von dissoziativen Zuständen respektive Störungen, nur geringer psychosozialer Belastungen bedarf, können massive Traumatisierungen auch bei psychisch Gesunden ohne entsprechende Disposition dissoziative Phänomene hervorrufen. Zur Symptomauslösung kommt es immer dann, wenn die Belastung den individuellen Reizschutz überfordert bzw. die Reizverarbeitungskapazitäten übersteigt. Der bewusst weit gefasste Begriff der Belastung kann ein Realtrauma, aber eben auch einen interpersonellen oder intrapsychischen Konflikt betreffen. Die Dissoziation fungiert dabei – zumindest in der Akutsituation – als Möglichkeit, die mit der Belastung verbundenen aversiven Affekte nicht zu spüren bzw. über eine subjektive Dekontextualisierung die Belastung zu ›bewältigen‹. Gelingt diese Bewältigungsstrategie, kommt es zu einer kurzfristigen Entlastung. Qua operanter Konditionierung kann in der Folge die Schwelle für dissoziations-

auslösende Hinweisreize sinken, also eine Generalisierung eintreten. Auf diese Weise beeinflusst die State-Dissoziation die Dissoziationsneigung. Darüber hinaus wird diese Prädisposition von vielen anderen Faktoren wie genetischen Einflüssen, persönlichkeitspsychologischen Merkmalen, der individuellen Lebens- und Lerngeschichte inklusive früheren Realtraumatisierungen oder fortgesetzter emotionaler, psychischer und physischer Deprivation in vulnerablen Phasen der psychosexuellen Entwicklung sowie neurobiologischen Dysregulationen, etwa des SchlafWach-Rhythmus, determiniert. Führen diese Determinanten in einem komplexen Wechselspiel zu einer hohen Dissoziationsneigung, können bereits alltägliche psychosoziale Belastungen, die eindeutig nicht als Trauma zu qualifizieren sind, dissoziative Phänomene oder gar Störungen auslösen. Abbildung 2 versucht, dieses Modell graphisch zu veranschaulichen. Dieses Modell erlaubt es, die oben dargestellten und partiell widersprüchlichen Be-

Intensität der Belastung Aversive Affekte

State-Dissoziation

Dissoziationsneigung Operante Konditionierung Biografie: Traumata Deprivation Bindungsmuster usw., usw.

Genetik: Temperament Gen-Varianten Epigenetik

Neurobiologie: Neuroendokrine & zentralnervöse Dysregulationen

Abb. 2:  Integratives Modell zur Erklärung von Trait- und State-Dissoziation

42 Spitzer und Freyberger 

funde sinnvoll zu integrieren. Aus therapeutischer Sicht bietet es überdies den Vorzug, dass die Hauptschulen der Psychotherapie es mit ihrer Begrifflichkeit ›füllen‹ und somit für den klinischen Alltag nutzbar machen können.

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ANDREA B. HORN UND ANDREAS MAERCKER

3.  Psychologische Theorien zum Verständnis der Posttraumatischen Belastungsstörung

Die Posttraumatische Belastungsstörung ist definiert als eine Störung von diversen psychischen Prozessen infolge eines traumatischen Erlebnisses. In diesem Kapitel soll ein kurzer Überblick über die in diesem Zusammenhang relevanten Prozesse und deren konzeptionellen Fassung im Rahmen der Forschung zur Posttraumtischen Belastungsstörung (PTBS) und zur komplexen PTBS (kPTBS) gegeben werden. Dabei wird zunächst kurz auf die konstituierenden psychischen Phänomene eingegangen und dann eine Reihe psychischer Risiko- und Schutzfaktoren vorgestellt, die im Rahmen der Entwicklung dieser Störungen diskutiert werden. Dieses Kapitel schließt mit e ­ inem kurzen Überblick über bestehende psychologische Modelle der Störungen. Einige dieser Modelle werden dann in den Kapiteln »Posttraumatische Belastungsstörung und Verhaltenstherapie« von Birgit Kleim (Kap. B2) sowie »Trauma und Gedächtnis« von Marie Roxanne Sopp et al. (Kap. A1) in diesem Handbuch vertieft beschrieben.

3.1  Psychische Phänomene im Rahmen der Posttraumatischen Belastungsstörung Die PTBS und die kPTBS zeichnen sich durch vielschichtige Muster von Störungen diverser psychischer Prozesse aus. Neben Störungen des affektiven Erlebens, sind spezifische Konditionierungs- und Gedächtnisphänomene zu beobachten. Dissoziative Phänomene sind für die PTBS und kPTBS – im Unterschied zu vielen anderen psychischen Störungen – charakteristisch, während ihr mit anderen Störungen gemein ist, dass kognitive Bewertungsprozesse eine ätiologisch zentrale Rolle spielen. Zudem ist eine Veränderung der sozialen Wirklichkeit infolge des Traumas durch Einflüsse auf soziointerpersonelle Prozesse eine wichtige weitere Ebene psychischer Prozesse, die es im Rahmen dieser Störungen zu beachten gilt.

3.1.1  Affekte und Emotionsregulation Nach dem früher maßgeblichen DSM-IV war eine Voraussetzung für die Diagnose einer PTBS das Erleben von Furcht bis Todesangst, Hilflosigkeit oder Horror während des Traumas. Die Begrenzung auf diese Kri-

A 3  Psychologische Theorien 45

terien wird diskutiert, denn in der neueren Forschung ergibt sich, dass auch Scham, Ärger und Ekel vorherrschende Affekte im Rahmen von durchaus als im engeren Sinne als traumatisch zu bezeichnenden Ereignissen sein können (siehe zusammenfassend Brewin & Holmes, 2003). Entsprechend hat man im DSM-5 – wie auch im ICD-Klassifikationssystem – auf die emotionalen Reak­ tionen als Voraussetzung für die PTBS verzichtet, was der beobachteten Vielfalt möglicher emotionaler Reaktionen auf ein Trauma Rechnung trägt. Weiterhin hat sich der affektiv geprägte Zustand der völligen Selbstaufgabe, mental defeat, während des Traumas als wichtiger Risikofaktor für eine schwerere Ausprägung der PTBS erwiesen (Ehlers et al., 2000). Traumatische Erlebnisse sind aber auch dadurch gekennzeichnet, dass ihre emotionalisierende Wirkung über die Situation des Traumas selber hinaus wirksam wird – eine Erkenntnis, der in den neueren Konzepten über die Ausprägung und Aufrechterhaltung von psychischen Folgeerscheinungen eines traumatischen Erlebnisses immer mehr Raum gegeben wird. Hier spielen insbesondere Ärger, Scham, Schuld-, Rache- und Ungerechtigkeitsgefühle eine wichtige Rolle, weil sie häufig im Rahmen der Störungen auftreten. Diese affektiven Erlebensweisen zählen zu den sogenannten sozialen Affekten, da ihr Erleben immer in einem sozialen Bezugsrahmen stattfindet (siehe zusammenfassend Maercker & Horn, 2013). Weiterhin wird in der aktuellen PTBS-Forschung ein unspezifisches Cluster dysphorischer Affekte infolge eines Traumas als ein bisher vernachlässigter Symptombereich der PTBS, der einer depressiven Symptomatik nahe ist, diskutiert (Yufik & Simms, 2010). Neuerdings wird hierbei zwischen unterschied­

46 Horn und Maercker 

lichen Aspekten klinisch bedeut­samer Ausprägung negativen Affekts unterschieden: Armour et al. (2015) schlagen vor, ängst­ liche und dysphorische Erregung (arousal) im Rahmen der posttraumatischen Symptomatik ebenso getrennt zu betrachten wie Anhedonie (der Mangel an Freude) und den Anstieg an negativem Affekt. Der verstärkte Fokus auf genuin affektive Prozesse im Kontext der Traumafolgen macht den Umgang mit diesen Affekten, der zu Aufrechterhaltung, Verstärkung oder eben Abflachung dieses affektiven Erlebens führt, zu einem zentralen Mechanismus für die Erklärung von einigen posttraumatischen Phänomenen. Dieser Umgang mit eige­ nen emotionalen Reaktionen wird als Emotionsregulation begrifflich gefasst (Aldao et al., 2010) und ist von transdiagnostischer Bedeutung; d. h., es handelt sich um einen grundlegenden Mechanismus, der in unterschiedlichen Problemen psychischer Gesundheit eine Rolle spielt. Die in der ICD‑11 eingeführte Diagnose der kPTBS beinhaltet affektive Dysregulation, also die ungünstig funktionierende Regulation von Gefühlen, als Diagnosekriterium. Gestörte Emotionsregulation kann als wichtiger grundlegender Mechanismus im Kontext insbesondere der komplexen posttraumatischen Symptomatik angesehen werden. Eine theoretische Annahme hierbei ist, dass die Entwicklung und Aufrecht­ er­ hal­ tung eines funktionalen Umgangs mit Emo­ tionen und Stimmungen, deren Grundlagen in der sozio-affektiven Entwicklung der Kindheit und Jugend liegt, nachhaltig durch traumatische Erlebnisse beeinträchtigt wird, insbesondere, wenn diese früh in der Entwicklung und gehäuft auftraten (Cloitre et al., 2009). Aus entwicklungspsychologischer Perspektive sind dabei die Entwick-

lung sozialer und emotionaler Kompetenzen untrennbar miteinander verbunden. Eine Störung des Aufbaus dieser Kompetenzen lässt entsprechend nicht nur af­fek­tive, sondern auch soziale Einschränkungen erwarten, was bei der kPTBS-Diagnose auch in deren Diagnosekriterien berücksichtigt wird (Maercker, 2017).

3.1.2  Konditionierung Die PTBS wurde ursprünglich den Angststörungen zugerechnet, da in Reaktion auf die zunächst in der traumatisierenden Situation spontan auftretenden Angst Prozesse vermutet werden, die denen bei Angststörungen vergleichbar sind. Eine zentrale Theorie in diesem Zusammenhang ist die Zwei-Faktoren-Theorie von Mowrer (1960). Der erste Faktor repräsentiert die klassische Konditionierung. Ein zunächst neutraler Reiz wird aufgrund zeitlich und räumlich kontigenten Auftretens mit einem Aspekt der traumatisierenden Situation assoziiert, der direkt – also ohne vorherige Lernerfahrung – Angst oder andere vegetativ geprägte Reaktionen auslöst, wie beispielsweise die direkte Bedrohung von körperlicher oder physischer Unversehrtheit. Dies führt im ungünstigen Fall zu einer Generalisierung der Reaktion auf verschiedene Reize, die während der Traumatisierung mit der Reaktion gekoppelt waren oder konditioniert wurden (z. B. Alarmsirenengeräusche mit Angst und Schrecken bei Fliegerangriffen). Nach Mowrers ZweiFaktoren-Theorie spielt aber auch eine operante Konditionierung bei der Entstehung und insbesondere Aufrechterhaltung von Angststörungen eine Rolle: Die Vermeidung von konditionierten angstauslösenden Stimuli (z. B. der Ort, wo die Traumatisierung stattfand) führt zeitlich kontigent zu einer

sogenannten negativen Verstär­kung, da ein negativer Zustand (ängstlich, unruhig) unterbrochen wird. So wird das Vermeidungsverhalten operant verstärkt und eine Löschung der klassischen Konditionierungsprozesse höchst unwahrscheinlich. Für die Therapie von Angststörungen im Allgemeinen aber auch der PTBS ist diese frühe Theorie sehr einflussreich. Vermeidung und vegetatives Hyperarousal als konstituierende Merkmale bei der Diagnose e ­ iner PTBS sind über die genannten Prozesse gut erklärbar, während komplexere Wiedererlebensphänomene sowie kognitive und sozioaffektive Prozesse bei einer Reduktion auf Konditionierungsprozesse nicht befriedigend konzeptionalisiert werden können. Entsprechend erscheint es als wichtig, höherstehende kognitive Prozesse wie Gedächtnis und kognitive Bewertungsprozesse im Zusammenhang mit der PTBS zu diskutieren.

3.1.3  Gedächtnis Die PTBS ist durch ein verstärktes Auftreten von beunruhigenden intrusiven Erinnerungen gekennzeichnet, gleichzeitig werden häufig Amnesien in Bezug auf die Details des traumatischen Ereignisses berichtet. Dieses als widersprüchlich erscheinende Muster konnte in einer Vielzahl von Stu­dien repliziert werden: Hoch emotionalisierte traumatische Erinnerungen tendieren dazu, in der Folge häufig und lebendig wieder­ erlebt zu werden (Pillemer, 1998), sind aber eben auch disorganisierter und mit Lücken behaftet (Foa et al., 1995). Eine besondere Form von Gedächtnisphänomenen sind sogenannte Flashbacks, die durch das unmittelbare Wiedererleben sensorischer Details wie lebendiger Bilder oder Geräusche aus dem Traumakontext gekennzeichnet sind,

A 3  Psychologische Theorien 47

die aber auch sehr fragmentiert auftreten können. Sie sind besonders belastend, da sie nicht das Ergebnis von gezielten Versuchen des Wiedererinnerns (unwanted trauma memories) sind, sondern sich unvermittelt aufdrängen. Sie gelten als klinisches Phänomen, das charakteristisch für die Symptomatik einer PTBS ist und zu dessen Kennzeichen ein gestörtes Zeiterleben (nowness der wiedererlebten Erinnerungen) und eine Kontextlosigkeit in Bezug auf den Zusammenhang sonstiger autobiographischer Erinnerungen gehören (siehe dazu die Übersicht bei Ehlers, 2010, und das duale Repräsentationsmodell von Brewin et al., 2010, siehe Abschnitt 3.3.2).

3.1.4  Dissozation Dissoziation kann definiert werden als jede Art von zeitweisem Zusammenbruch dessen, was wir als relativ kontinuierliche, aufeinander bezogene Prozesse des Erlebens der Welt um uns herum, der Vergangenheit sowie der eigenen Identität – als kontinuitätstiftende Instanz zwischen der eigenen Vergangenheit und Zukunft – wahrnehmen (Spiegel & Cardeña, 1991). Als dissoziative Phänomene im Rahmen der PTBS sind folgende Symptome zu nennen: emotionale Taubheit (numbing), Derealisierung, Depersonalisierung und out of body-Erfahrungen. Die Dissoziation wird häufig als evolutionär sinnvolles, defensives Reagieren des Organismus auf eine massive Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit konzeptionalisiert, eine Reaktion, die insbesondere dann auftritt, wenn die Bedrohung als nicht – etwa durch kämpferische Verteidigung – beeinflussbar erlebt wird und mit Phänomenen vergleichbar ist, wie sie bei Tieren in Bedrohungssituationen als freezing auftauchen.

48 Horn und Maercker 

3.1.5  Kognitive Bewertung Die genannte Bewertung des Bedrohungsgehalts und der eigenen Ressourcen, damit umzugehen, ist ein Beispiel für kognitive Bewertungsprozesse (appraisal, Lazarus & Folkman, 1984). Die Bewertung erlebter Ereignisse als nicht kontrollierbar und vorhersagbar führt in der Folge zum Auftreten von Passivität und Ängstlichkeit, ein Zusammenhang, der im Tierversuch wiederholt belegt worden ist (Erlernte Hilflosigkeits­ theorie; vgl. Peterson & Seligman, 1983); eine solche Bewertung wurde später als Erklärung zumindest für Taubheits- und Pas­ sivitäts­phänomene im Rahmen einer PTBS angenommen (siehe zusammenfassend Foa et al., 1989). Der Komplexität der als Folge eines Traumas auftretenden kognitiven Prozesse eher gerecht werden spätere Ansätze wie das kognitive Modell von Ehlers und Clark (2000): Die nach dem Trauma vorherrschende negative Bewertung des Traumas und seine Konsequenzen (»Ich bin nirgends sicher«, »Ich habe es nicht anders verdient«) führen zu einer anhaltenden Wahrnehmung von Bedrohung und Beschädigung und den entsprechenden affektiven Korrelaten, was als Faktor interpretiert wird, der die posttraumatischen Symptome aufrechterhält. Auf diese Modelle wird im Folgenden und in weiteren Kapiteln dieses Handbuchs (Kap. A1 und B2) noch eingegangen werden. Dabei steht die Bewertung des Traumas im Zusammenhang mit allgemeinen Einstellungen im Vordergrund. Schon in den frühen theoretischen Fassungen posttraumatischer Phänomene haben JanoffBulman (1985) und Horowitz (1976/1997) auf die Wichtigkeit der Folgen von Traumaerlebnissen für allgemeine Einstellungen – wie den Glauben an eine gerechte, kon­

trollierbare, bedeutungsvolle Welt und die ­eigene Unverletzlichkeit – verwiesen, Grundannahmen, die im Rahmen von Bewertungsprozessen nach dem Trauma empfindlich gestört werden (siehe den Begriff der shattered assumptions bei Janoff-Bulman, 1985).

3.1.6  Sozio-interpersonelle Prozesse Welch große Bedeutung es für die psychische Gesundheit insbesondere nach dem Erleben eines Traumas hat, ob die Welt, das Selbst und insbesondere die soziale Umgebung als freundlich bzw. positiv oder feindlich bzw. negativ gesehen wird, ist schon seit den ersten Konzeptionalisierungen der PTBS diskutiert worden (Horowitz, 1976/ 1997). Neuere Metaanalysen unterstreichen die Wichtigkeit von sozio-interpersonellen Prozessen: Soziale Unterstützung erweist sich in der Metaanalyse von Brewin und Kollegen (2000) als protektiver Faktor in Bezug auf die Ausprägung einer klinisch signifikanten PTBS und zeigt dabei eine Effektstärke, die größer ist als bei »harten« Krite­ rien, zu denen Charakteristika des Traumas oder im Rahmen der Theorie erwartete Phänomene wie bestimmte kognitive Vulnerabilitäten gehören. Soziale Unterstützung wird meistens über das subjektive Erleben erhoben, dass man sich unterstützt und nicht allein fühlt, wenn es darauf ankommt. Somit spiegelt dieses Maß so etwas wie das Erleben eines allgemeinen sozio-interpersonellen Eingebettetseins wider, und was tatsächlich eine Vielzahl von Aspekten be­ inhaltet. In neuerer Zeit wird entsprechend dafür plädiert, differenziertere Maße für derartige Prozesse zu entwickeln (Bolger et al., 2000) und auch in der PTBS-Forschung einzusetzen (Maercker & Horn, 2013). Eine aktuelle konzeptionelle Fassung von sozio-­

interpersonellen Prozessen im Rahmen der PTBS stellt das Modell der Autoren dar (Maer­cker & Horn, 2013; Maercker & Hecker, 2016). Hier wird auch darauf hingewiesen, dass Emotionsregulation nicht nur in der Kindheit, sondern in der ganzen Lebensspanne mit sozio-interpersonellen Prozessen verbunden ist, wie neuere Erkenntnisse aus der Attachmentforschung zeigen (Mikulincer & Shaver, 2018), die das Wechselverhältnis zwischen der sozialen Wirklichkeit (z. B. dem Paarverhalten) und dem individuellem emotionalen Erleben der Betroffenen erklären (z. B. Horn & Maercker, 2016; Krutolewitsch et al., 2016 ). Auf Symptomebene kann man starke interpersonelle Probleme als Zeichen für eine besonders komplexe Symptomatik interpretieren – entsprechend werden persistierende Probleme im sozialen Bereich als ein Krite­rium für eine komplexe PTBS, wie sie in der ICD‑11 eingeführt wurde, angesehen.

3.2  Psychische Risiko- und

Schutzfaktoren in Bezug auf die Entwicklung einer PTBS Da die komplexe PTBS nach ICD-11 noch sehr neu ist, bezieht sich die hier und in den folgenden Abschnitten referierte Literatur auf die »klassische« PTBS. Zum Verständnis des Phänomens PTBS kann mittlerweile eine Vielzahl von Studien, die im Rahmen ihrer psychosozialen Erforschung durchgeführt wurden, beitragen. Die Frage nach Risiko- und Schutzfaktoren in Bezug auf die Entwicklung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen stellt sich generell im Rahmen von entwicklungspsychopathologischen Fragestellungen. Aber bei der PTBS drängt sich die Frage ganz besonders auf, da hier ein eindeutiger ätiologischer

A 3  Psychologische Theorien 49

Faktor – das Trauma – als Bedingung für die Diagnose definiert ist. Die Reaktion auf ein Trauma ist immer emotionalisierend und tiefgreifend, aber nicht jede Exposition gegenüber einem Trauma führt zu einer psychischen Störung. Die Frage, welche Faktoren hier protektiv wirken und welche Vulnerabilitäten für die Entwicklung einer späteren psychischen Störung verstärken, ­ erscheint hier besonders zentral, auch für präventive und therapeutische Ansätze. Das Rahmenmodell von Maercker (1998) schlägt eine Struktur für die konzeptionelle Einordnung der bestehenden empirischen Befunde vor und fasst diese zusammen (siehe in diesem Handbuch Kap. A6: Risikofaktoren, Resilienz und posttraumatische Reifung). Einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung der empirischen Evidenz auf diesem Gebiet stellen die vorliegenden Metaanalysen dar, insbesondere die von Brewin und Kollegen (2000). Im Vergleich zu den sogenannten Ereignis- (wie Traumadauer und -schwere) und Aufrechterhaltungsfaktoren (wie kognitive Veränderungen) war in der Metaanalyse von Brewin et al. (2000) der Zusammenhang zwischen Risiko- und Schutzfaktoren, die zur Person gehören (wie niedriges Alter zum Zeitpunkt der Traumatisierung, weibliches Geschlecht, niedriger Bildungsstand und niedriger IQ), und der Entwicklung einer PTBS weniger ausgeprägt. Ein weiterer relevanter Bereich sind prätraumatisch be­ stehende Persönlichkeitseigenschaften, die aber methodisch schwer zu untersuchen sind, da man eine Erhebung vor dem Erleben des Traumas durchführen müsste, um trauma­induzierte Persönlichkeitsveränderungen auszuschließen. Zusammenfassend kann man aber sagen, dass es Hinweise darauf gibt – wie diese Hinweise erfasst wur-

50 Horn und Maercker 

den, ist auf unterschiedliche Weise um­ stritten und damit kritikwürdig –, dass prä­ traumatische Persönlichkeitseigenschaften wie niedri­gere emotionale Reife (Lee et al., 1995), Neigung zur Rumination (gedankliches »Wiederkäuen«, ein Konzept ursprünglich aus der Depressionsforschung, wie nachzulesen bei Nolen-Hoeksema & Morrow, 1991), niedrige Selbstwirksamkeit und stärkere Tendenzen zur Feindseligkeit gegenüber anderen Menschen (Heinrichs et al., 2005) sowie höherer Trait-Ärger (d. h. Ärger als Persönlichkeitseigenschaft; Meffert et al., 2008) Risikofaktoren darstellen, dass nach einem Trauma eine stärkere PTBS-Symptomatik entwickelt wird. Die objektivierbaren Aspekte der Trauma­ schwere (Dauer, Schadensausmaß, Verletzungsgrad, Anzahl der Toten) stehen, wie eine Vielzahl von Studien zeigt, erwartungsgemäß in einer direkten Beziehung zur Schwere der posttraumatischen Symptomatik; die Effektstärken liegen jedoch nur im niedrigen bis mittleren Bereich, was die Wichtigkeit subjektiver Bewer­tungs­pro­zesse und sozialer Faktoren einmal mehr unterstreicht (Brewin et al., 2000). Denn das subjektive Erleben – das von psycho-sozialen Faktoren mit abhängt – während des Traumas scheint sehr zentral zu sein: Zeigen sich beispielsweise stärkere Initialreaktionen (Maercker et al., Schützwohl & Beauducel, 2000), Selbstaufgabe (siehe oben, Ehlers et al., 2000) oder peritraumatische Dissoziation (Marmar et al., 1998), ist die Wahrscheinlichkeit infolge des Traumas eine stärkere Symptomatik zu entwickeln, größer.

3.2.1  Aufrechterhaltungsfaktoren nach dem Trauma Wie ein traumatisches Erlebnis verarbeitet wird, ist zu einem großen Teil von Aspekten abhängig, die erst nach dem Trauma relevant werden. So ist ganz allgemein eine erhöhte Stressbelastung (z. B. familiärer, beruflicher, finanzieller Stress) ein Risikofaktor für die Entwicklung einer PTBS (Brewin et al., 2000). Zentral für die Psychotherapie und deren zugrunde liegende Modelle der PTBS (siehe das erwähnte Kapitel von B. Kleim) sind kogni­tiv-emotionale Veränderungen infolge des Traumas. Schon in den ersten Formulierungen des Störungsbildes durch Horowitz (1976) wurde dem Erleben von Schuld, insbesondere der sogenannten Überlebensschuld (survivor guilt), eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung von Belastungssymptomen zugesprochen: Kognitive Bewertungen wie »Ich habe Mitschuld an dem, was vorfiel. Ich hätte vielleicht andere, die nicht überlebt haben, retten können …«, implizieren, dass eine Kontrollmöglichkeit über die traumatische Situation bestand, die altruistisch zu nutzen gewesen wäre. Solche Bewertungen, die zum ersten Mal im Zusammenhang mit Holocaust-Überlebenden beschrieben wurden, sind sehr belastend und werden häufig bei Überlebenden zahlreicher ganz unterschiedlicher traumaauslösender Situationen berichtet, bei denen andere zu Tode kamen. Im Weiteren werden die wichtigsten Aspekte der das Trauma aufrechterhaltenden Faktoren noch näher beschrieben, die im Zentrum von Ehlers’ und Clarks Modell (2000) stehen und die im sozio-interpersonellen Modell von Maercker und Horn (2013) diskutiert werden.

3.3  Wichtige Modelle Die psychologischen Modelle der PTBS mussten und müssen sich immer auch dem Anspruch stellen, das klinische Phänomen der PTBS hinlänglich zu beschreiben und dabei heuristisch wertvoll und für die therapeutische Behandlung handlungsleitend zu sein. Die nun kurz vorzustellenden Modelle werden, entsprechend vertieft, auch in den erwähnten Kapiteln zu PTBS und Verhaltenstherapie bzw. Trauma und Gedächtnis (Kap. B2 und A1) vorgestellt werden. Im Folgenden werden die wichtigsten Modelle kurz dargestellt, wobei auf die anfangs dargestellten grundlegenden psychischen Phänomene der PTBS Bezug genommen wird.

3.3.1  Gedächtnismodelle Erste Konzepte Wegweisend für die Theoriebildung der Traumafolgestörung waren die Reflexionen von Mardi Horowitz (1976/1997): Von Haus aus Psychoanalytiker, hob er die große Bedeutung hervor, die das Ringen um eine Integration des erschütternden traumatischen Erlebnisses in die vorher bestehenden Gedächtnisrepräsentanzen vom Selbst, den anderen und der Welt im Rahmen des posttraumatischen Geschehens hat. Häufig überfordert dieser Prozess das psychische System, so dass zur Reduktion der Spannung, die entsteht, weil mit dem Trauma kein zu bisherigen Sichtweisen passender Sinn verbunden werden kann, vermeidende Abwehrmechanismen zum Zuge kommen. Gleichzeitig besteht ein fundamentales Bedürfnis nach Assimilation des Geschehenen, was wiederum die Phänomene des Wiedererlebens erklären könnte.

A 3  Psychologische Theorien 51

Lerntheoretische Ansätze: das Furcht­ strukturmodell

Die Dual Representation Theory (duales Repräsentationsmodell)

Aus lerntheoretischer Perspektive wurde von Foa und Kozak (1986) zur Erklärung der PTBS das Furchtstrukturmodell vorgeschlagen, auf dem die Expositionsbehandlung bei einer PTBS beruht: Unter Berufung auf die Zwei-Faktoren-Theorie von Mowrer (1960) wird hier eine konditionierte Kopplung von Angst an kognitive Repräsentanzen von traumarelevantem Gedächtnismaterial angenommen. Bezugnehmend auf die Studien von Lang (1979) wird darüber hinaus von einem Netzwerkmodell des Traumagedächtnisses ausgegangen. Die sogenannten Knoten des semantischen Netzwerks des Gedächtnisses repräsentieren neben den konditionierten emotionalen und physiologischen Reaktionen auf das Ereignis auch Gedächtnisinhalte – inbesondere bezüglich des Bedrohungsgehalts des Traumas. Dieses Gedächtnismodell geht also von einer integrierten Repräsentation von emotionalen und kognitiven Informationen aus, die Teil eines allgemeinen Reaktionsprogramms ist: Je umfassender das Furchtnetzwerk, von desto mehr Schlüsselreizen – sensorischer wie inhaltlicher Art – kann es aktiviert werden, und desto ausgeprägter ist die Symptomatik. Foas Furchtstrukturmodell integriert damit neben den basalen kondi­ tionier­ten Reaktionen auch die subjektive Bedeutung, die dem Trauma zugeordnet wird, und öffnet sich somit gegenüber konzeptionell kognitiven ätiologischen und therapeutischen Ansätzen (siehe auch die vertiefende Darstellung in Kap. A1 von Sopp et al. in diesem Handbuch).

Während in den bisher dargestellten Gedächtnismodellen keine qualitativen Unterschiede zwischen normalen und trauma­ bezogenen Gedächtnisstrukturen postuliert wurden, geht die Dual Representation Theo­ry (Brewin et al., 2010) von zwei qualitativ distinkten, parallel arbeitenden Gedächtnissystemen aus. Sogenannte VAMErinnerungen (»verbally accessible memory«) sind, wie der Name sagt, verbal zugänglich und in den Kontext anderer auto­ biografischer Erinnerungen eingebettet. Bei traumatischen Erinnerungen im VAM-System wäre also von einer Repräsentation innerhalb des Kontexts von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Person auszu­gehen. Diese Erinnerungen sind aufgrund ihrer verbalen Kodierung kommunizierbar und Bewertungen und Umbewertungen zugänglich, aber insofern limitiert, als sie nur die bewusst zugänglichen Anteile der traumatischen Erfahrung abspeichern. Dahingegen sind die Erinnerungen im SAMSystem (»situational accessible memory«) nicht im verbalen Code abgespeichert, sondern repräsentieren die auf basaler Ebene und nicht notwendigerweise bewusst wahrgenommenen Sinneseindrücke aufgrund internaler und externaler Stimuli. Im Rahmen eines traumatischen Erlebnisses kann es sich hierbei genauso um körperliche Angst- und Erregungssymptome wie um visu­ elle, akustische, olfaktorische Details des Ereignisses handeln. Diese Erinnerungen sind weitgehend dekontexualisiert und nicht in die autobiografische Erinnerung integriert, was die sensorische Unmittelbarkeit und den gestörten Zeitbezug im Rahmen des Erlebens von Flashbacks erklären kann. Auch die häufig nicht bewusst zu-

52 Horn und Maercker 

gänglichen Assoziationen zwischen Auslöserreizen und Flashbacks wären so nachvollziehbar. Brewin und Kollegen (2010) formulieren in der aktuellen Form der Dual Representation Theory auch Hypothesen über die neuroanatomischen Korrelate der beiden Systeme und ­ ihrer Mechanismen. Klinisch impliziert das Modell, dass die PTBS eine hybride Störung ist, bei der sowohl im VAM-System verbal zugängliche, kontextualisierte Bewertungsprozesse zu modifizieren sind wie auch sich in Flashbacks äußernde, rein sensorisch gespei­ cherte SAM-Erinnerungen mit neuen SAMs überschrieben werden müssen, wenn eine Symptomreduktion angestrebt wird. Diese Sicht auf post-traumatisches Wiedererleben informierte auch die Veränderungen zu DSM-5 und ICD -11 , bei denen Flashbacks nun sauberer getrennt von kognitiven Intrusionen als exklusiv posttraumatisch definiert und bewertet wurden (Brewin, 2015).

3.3.2  Kognitive Modelle Kognitive Schemata sind im Gedächtnis vorliegende Informationsmuster, welche die Informationsverarbeitung steuern und organisieren. Wie bereits erwähnt, spielen sie bereits bei den ersten Konzeptionalisierungen der PTBS von Horowitz eine Rolle (Horowitz 1976/1997), der auf die Wichtigkeit der Integration neuer Erfahrungen in die bestehenden Strukturen der Sicht von sich selbst, Welt und Mitmenschen hinwies. Auch im ursprünglichen Furchtstrukturmodell von Foa war die Bedeutung von kognitiven Bewertungsprozessen bereits theoretisch angelegt. Folgerichtig entwickelten Foa und Rothbaum (1998) ihr Furchtstrukturmodell weiter: In dem erweiterten Modell werden bereits vor dem Trauma vorliegende ri-

gide positive kognitive Schemata bezüglich eigener Kontrollmöglichkeiten und einer Sicht auf die Welt als sicheren Ort als Faktoren mit einbezogen, welche die Vulnerabi­ lität für die Entwicklung einer klinisch signifikanten PTBS und insgesamt eine ungünstige Entwicklung posttraumatischer Symptome wahrscheinlicher machen. Diese rigiden Annahmen, die schon vor dem Trauma bestanden, werden dann durch bestimmte kognitive Bewertungsmuster nach dem Trauma noch verstärkt und führen letztlich zum anderen Extrem, dem Erleben von andauernder Schwäche, Verletzlichkeit und Bedrohung. Janoff-Bulman (1985) spricht in diesem Zusammenhang von erschütterten Einstellungen (shattered assump­ tions), die einen chronischen Verlauf der posttraumatischen Symptomatik begünstigen. Das Modell von Ehlers und Clark (2000) baut auf diesen Überlegungen auf. Die Autoren weisen besonders auf das Paradox hin, dass sich bei der PTBS, obwohl das Trauma in der Vergangenheit liegt, die starke Angst oft auch auf die Zukunft erstreckt. Sie erklären dies durch eine bestimmte Tendenz der Informationsverarbeitung, die zu der Bewertung führt, dass weiterhin eine akute Bedrohung für die Person und deren Zukunft besteht. Der Beitrag des Modells von Ehlers und Clark hinsichtlich der Relevanz bestimmter negativer Bewertungen der Situation (»Ich bin und bleibe ein Opfer«), der eigenen Person (»Ich verdiene es, dass mir schlimme Sachen passieren«), aber auch der posttraumatischen Symptomatik (»Meine Symptome werden nie vergehen, mein Leben ist ruiniert«) ist von großer klinischer Bedeutung. Weiterhin weisen Ehlers und Clark (2000) auf die Gefahr des »Nicht-zuEnde-Denkens« aufgrund kognitiver Ver-

A 3  Psychologische Theorien 53

meidung hin und sehen die Integration der fragmentierten traumabezogenen Gedächtnisinhalte – neben der Überschreibung von konditionierten Stimulus-Antwort-Assoziationen – als wichtiges therapeutisches Ziel an.

3.3.3  Das sozio-interpersonelle Kontextmodell Alle bisher vorgestellten psychologischen Modelle gehen von einem primär indivi­ duen­zentrierten Ansatz aus. Im Mittelpunkt stehen innerpsychische Prozesse wie gedankliche Bewertungen und Repräsentationen, Gedächtnis, Affekt und Dissoziation. Diese Prozesse passieren aber nicht im luftleeren Raum, vielmehr ist das Individuum eingebettet in einen sozio-interpersonellen Kontext. Ein Beispiel mag dies verdeut­ lichen: Eine Person wird aus politischen Gründen inhaftiert und wird gefoltert, was sie stark traumatisiert. Sie kehrt aus der Haft in ihren vorherigen sozialen Kontext zurück und wird dort von einem liebenden, verständnisvollen Partner unterstützt, von einem Freundeskreis voll Anerkennung für ihr mutiges Verhalten willkommen geheißen und mit aufrichtigem Interesse eingeladen, über ihre Erfahrungen und Erlebnisse zu sprechen, wenn sie das möchte. In den Medien wird währenddessen unterstrichen, wie wichtig die Zivilcourage der ehema­ ligen politischen Häftlinge war. Ein Gegenbeispiel könnte folgendermaßen aussehen: Nach der exakt selben Art der Traumatisierung kehrt der ehemalige Häftling zurück, fühlt sich von seinen nahestehenden Vertrauten missverstanden, die ihn »überbeschützen« und wegen seiner Traumafolgesymptome für wunderlich und nicht wirklich lebensfähig halten. Seine

54 Horn und Maercker 

Umgebung scheint nicht gut auszuhalten, wenn er von seinen Erlebnissen spricht. Er erlebt dies als ungerecht, schämt sich für seine Symptome und gewöhnt sich ab, über seine Erlebnisse und deren Folgen zu sprechen. Gleichzeitig muss er um eine Rente kämpfen, während seine Peiniger selbstverständlich berentet werden, und die gesellschaftlichen Reaktionen und Haltungen, die er gegenüber politisch Gefangenen wahrnimmt, sind sehr heterogen.

Die genannten Faktoren – sozialer Affekt auf individueller Ebene, interperpersonelle Prozesse wie soziale Unterstützung und Disclosure auf der Ebene der nahen Beziehungen sowie Haltungen und Tendenzen auf der Ebene von Gesellschaft und Kultur – spielen eine zentrale Rolle für die Ausprägung einer posttraumatischen Symptomatik (siehe Abb. 1).

Das von Maercker und Horn (2013) vorgeschlagene sozio-interpersonelle Modell legt einen Fokus auf die beschriebenen Pro­ zesse. Deren Bedeutung verdeutlichen die genannten Beispiele: Die soziale Wirklichkeit der Betroffenen beeinflusst und formt nicht nur genuin interpersonelle Prozesse, die in bisherigen Modellen häufig gänzlich vernachlässigt wurden. Sie steht auch in engem Wechselspiel mit intrapsychischen Prozessen wie kognitiver Umstrukturierung, Unterbrechung von vermeidenden kognitiven, verhaltensbezogenen und emotionsregulatorischen Strategien und damit Ermöglichung von Habituation sowie der Integra­ tion fragmentierter Gedächtnisinhalte. Ein Gedanke, der naheliegend ist, wenn man die interaktionellen Prozesse einer Psycho-

therapie betrachtet, die ebenso in interpersonellen Interaktionen des Alltags von Betroffenen zu erwarten sind, der allerdings konzeptionell bisher unterrepräsentiert war. Zentrale Begriffe des Modells sind Abbildung 1 zu entnehmen. Es folgt einem Kontextebenenansatz, der zwischen individueller Ebene und der Ebene der nahen Beziehungen und entfernterer Gruppenzugehörigkeit unterscheidet. Soziale Affekte gelten in diesem Zusammenhang als wichtige Phänomene auf individueller Ebene. Auf der Ebene der nahen Beziehungen wird – unter Bezugnahme auf die bestehende Forschung – neben der sozialen Unterstützung besonderer Wert auf die Rolle von Disclosure (Selbst-

öffnung) und empathiebezogenen Prozessen gelegt (Müller & Maercker, 2006). All diese Prozesse finden zwischen mindestens zwei Personen in Interaktion statt; diesen interaktionellen Charakter interpersoneller Prozesse gilt es zu berücksichtigen, was konzeptionelle wie methodische Implikationen hat. Wie am Beispiel neuerer Forschung zur sozialen Unterstützung schon dargelegt, ändert sich das Bild sozialer Einflüsse auf Traumafolgephänomene, wenn man beide Perspektiven – die des empfangenden Traumatisierten und die des gebenden Nahestehenden – berücksichtigt. Auf der Ebene distanter Gruppenzugehörigkeit können der kollektive Charakter von Trau-

transformiert

formt

Distante soziale Kontexte: Kultur & Gesellscha • Kollektive Erfahrung des Traumas in der Gruppe • Wahrgenommene Ungerechtigkeit • Gesellschaftliche Wertschätzung

Traumatische Erlebnisse

bietet an

Ergebnis

erhält

Nahe Beziehungen

Interpersonell (man-made) oder Unfall

(close relationships) • Disclosure • Soziale Unterstützung/negativer Austausch • Empathie

induziert

erhält

Individuell: Socialaffective response • Scham • Schuld • Ärger • Rachegefühle

• Individuum

– Symptome/ Wohlbefinden • Nahe Beziehungen – Beziehungsqualität • Distante soziale Kontexte – Soziale Integration

(Aus: Maercker & Horn, 2013)

Abb. 1 :  Das sozio-interpersonelle Kontextmodell der PTBS

A 3  Psychologische Theorien 55

maerfahrungen, neben anderen kulturellen Einflüssen aber auch gesellschaftliche Wertschätzung (social acknowledgement, Maercker & Müller, 2004) und Ungerechtigkeitserleben eine wichtige Rolle für die Symptom­ entwicklung infolge eines Traumas spielen. Neuere durch das Modell informierte Studien belegen dessen Annahmen auf der Ebene des nahen sozialen Umfelds (z. B. Krutolewitsch et al., 2016) wie auf der Ebene »traumatisierter Gesellschaften« (Maercker & Hecker, 2016) und erweitern es auch auf die Anpassungsreaktion auf starke Stressoren (Lorenz et al., 2018). Für die künftige Traumafolgenforschung möchte das Modell weiterhin dazu inspirieren, die genannten Prozesse über die Zeit und auf ökologisch valide Art und Weise zu erfassen, um durch die Forschung Einblicke in soziale Wirklichkeiten zu bekommen, die eine zentrale Rolle für die Befindlichkeit aller Menschen, aber insbesondere auch traumatisierter Individuen spielen.

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KATJA WINGENFELD, CARSTEN SPITZER UND MARTIN DRIESSEN

4.  Psychoneuroendokrinologische Befunde zum Verständnis der Posttraumatischen Belastungsstörung

Die Psychoneuroendokrinologie untersucht die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen Verhalten und Erleben einerseits und endokrinen Funktionen andererseits. Im Rahmen der psychotraumatologischen Forschung gilt das Interesse vorwiegend jenen endokrinen Prozessen, die mit der psychobiologischen Stressreaktion assoziiert sind. Eine besondere Rolle spielen dabei die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA) und das noradrenerge System. Ein wichtiges Anliegen ist es, endokrinologische Veränderungen spezifischen Symptomen der PTBS, wie der erhöhten Erregbarkeit oder intrusiven Erinnerungen, zuzuordnen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit endokrine Veränderungen Vulnerabilitätsfaktoren sind, die bereits vor einer Traumatisierung bestehen, oder eher als Folgen der Traumaexposition bzw. als Epiphänomene der PTBS verstanden werden können. Ein wichtiges Thema für die Zukunft ist es, die Ergebnisse aus der klinischen Grundlagenforschung für die Therapie nutzbar zu machen.

4.1  Die hormonelle Stressreaktion Grundlage für das Verständnis zentraler endokriner Dysfunktionen bei der PTBS ist die Kenntnis der physiologischen Stress­reak­tion. Die Aktivierung der Stresssysteme führt normalerweise zu einer adaptiven Stressreaktion auf der Verhaltens- und körperlichen Ebene, die die Überlebensfähigkeit eines Individuums steigert. Die Stressreaktion wird größtenteils durch zwei interagierende Systeme, die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA) und das Locus-coeruleus/Noradrenalin-System (LC/ NA -System) gesteuert. In der ersten Phase, unmittelbar nach Auftreten des Stressors, wird Noradrenalin vom Locus coeruleus im Hirnstamm und Adrenalin vom Nebennierenmark in den Blutkreislauf ausgeschüttet. Einige Minuten später wird das CorticotropinReleasing Hormon (CRH) von parvocellulären Neuronen im Nucleus paraventri­cularis des Hypothalamus in das Pfortadersystem freigesetzt, was im anterioren Hypophysenlappen die Ausschüttung von adrenocorticotrophem Hormon (ACTH) stimuliert. ACTH wiederum bewirkt die Ausschüttung von Glucocorticoiden, insbesondere von Cortisol, aus der Nebennierenrinde. Diese als

A 4  Psychoneuroendokrinologische Befunde 59

Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA) beschriebene hormonelle Kaskade stellt die zweite Phase der Stressreaktion dar. Die Aktivierung der HHNA wird durch ein negatives Feedback über die Bindung von Cortisol an Glucocorticoid-Rezeptoren in der Amygdala, im Hippocampus, im Hypothalamus und im vorderen Hypophysenlappen reguliert, was zu einer Wiederherstellung des hormonellen Gleichgewichts führt. Kommt es durch eine wiederholte Stressexposition jedoch zu einer anhaltenden starken Aktivierung des Stresssystems, kann dies zu Veränderungen im negativen Feedback-System und in der Stresshormonkonzentration führen.

4.2  Veränderungen des endokrinen

Systems bei einer PTBS

Mit Übernahme der Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung« in das DSM-III zu Beginn der 80er Jahre gewann die Erforschung biologischer Ursachen der PTBS zunehmend an Bedeutung. Epidemiologischen Studien, die zeigten, dass 1.) nur eine Minderheit von Personen nach einem Trauma eine PTBS entwickelte und dass 2.) traumatische Ereignisse allgemein häufiger auftreten als angenommen, führten zu einem Paradigmenwechsel bezüglich des konzeptuell vermuteten Zusammenhangs zwischen Traumaexposition und der Entwicklung einer PTBS. Anstelle einer gewöhnlichen Reaktion auf ein Trauma wurde die PTBS nun als eine Störung solcher biologischen Reaktionen beschrieben, die mit Genesung und physiologischer Homöostase assoziiert sind (Yehuda, 2009). Endokrinologische Studien zur PTBS können wie folgt unterteilt werden: 1.) Beobachtungen unter Ruhebedingung (baseline)

60 Wingenfeld, Spitzer und Driessen

mit Messung der endokrinen Parameter im Blut, Urin, Speichel oder Cerebrospinalflüssigkeit (CSF); 2.) Provokationsstudien mit Aktivierung des Stresssystems durch traumaspezifische Stimuli (z. B. Traumaskripte) oder durch biologische Substanzen (z.  B. CRH-Stimulation). Von besonderem Interesse ist auch die Einschätzung der Feedbacksensitivität der HHNA.

4.2.1  Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse (HHNA) Die ersten Studien zum Zusammenhang zwischen der Funktion der HHNA und einer PTBS in den 60er Jahren ergaben, dass chronischer Stress mit niedrigen Cortisolspiegeln assoziiert ist. Diese Befunde erschienen den Forschern rätselhaft, da sie dem damaligen zentralen von Hans Selye begründeten Paradigma – Stress verstärkt die Ausschüttung von Cortisol – widersprachen. Erst in den 80er Jahren gewannen die damaligen Befunde einer reduzierten Cortisolkonzentration wieder Beachtung, als nämlich eine Reihe von Studien mit Kriegsveteranen, Holocaust-Überlebenden und anderen Traumaopfern überraschenderweise verringerte Cortisolwerte im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden zeigten. Die Befundlage war jedoch nicht konsistent, die deutlichste Evidenz niedrigerer Cortisolspiegel fand sich bei Patienten mit chronischer PTBS, bei denen zudem das Trauma vor der Cortisolmessung schon viele Jahre zurücklag. Dennoch war ein Muster niedriger Cortisolspiegel so verbreitet, dass einige Forscher begannen, es als ein einzigartiges endokrines Merkmal der PTBS zu betrachten (Miller et al., 2007). Mittlerweile liegen ausreichend Studien vor, um die gefundenen Veränderungen der

Cortisolausschüttung bei PTBS metaanalytisch zu betrachten. Eine solche Metaanalyse fand jedoch zunächst keine klaren Unterschiede im basalen Cortisolspiegel bei Pa­ tienten mit PTBS und Kontrollprobanden ohne PTBS (Meewisse et al., 2007). Eine Subgruppenanalyse brachte allerdings interessante Ergebnisse zutage: Erniedrigte Cortisolspiegel bei PTBS-Patienten – im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden – fanden sich in Studien, a) die nur Frauen untersuchten, b) zu physischem oder sexuellem Missbrauch, und c) die Cortisolproben am Nachmittag erhoben. Andere Autoren berichten in einem Überblicksartikel ebenfalls über verringerte Cortisolwerte primär am Nachmittag (Morris et al., 2012). Darüber ­hinaus zeigten sich erniedrigte Cortisolspiegel bei Patienten mit einer PTBS im Vergleich zu nicht traumatisierten gesunden Kontrollpersonen, jedoch nicht im Vergleich zu traumatisierten gesunden Kontrollpersonen (Meewisse et al., 2007). Es scheint also, dass Unterschiede in der Cortisol-Konzen­ tration eher allgemein mit einer Traumaexposition und nicht per se mit der Diagnose einer PTBS assoziiert sind. In einer weiteren Metaanalyse wurden dementsprechend PTBS-Patienten, traumatisierte gesunde Kontrollprobanden und nicht-traumatisierte gesunde Kontrollprobanden hinsichtlich der Funktion der HHNA miteinander verglichen (Klaassens et  al., 2012). Zwischen den drei untersuchten Gruppen fanden sich keine bedeutsamen Unterschiede in der basalen Cortisolkonzentration. Auch eine Subgruppenanalyse hinsichtlich der Methode der Cortisolmessung (Plasma, Urin, Speichel), der Art des Traumas, Geschlecht und Alter erbrachte keine signifikanten Unterschiede. Die Autoren schlussfolgern, dass Traumata im Er-

wachsenenalter im Gegensatz zu einer frühen Traumatisierung die basale HHNAFunktion offenbar weniger deutlich beeinflussen. Neben basalen Messungen der HHNAAktivität ist die Überprüfung der Feedbacksensitivität der HHNA von großem Inte­resse. Provokationsstudien mit niedrig dosiertem Dexamethason, einem synthetisierten Cortisolpräparat, und Metyrapon, einem Cortisol-Synthesehemmer, ergaben, dass Hypocortisolismus bei einer PTBS möglicherweise infolge einer verstärkten Sensitivität der HHNA für ein negatives Feedback durch Glucocorticoide auftritt. Befunde zu erhöhter Glucocorticoid-Rezeptorbindung und -funktion unterstützen die Vermutung einer sogenannten erhöhten negativen FeedbackSensitivität der HHNA bei einer PTBS. Eine erhöhte Cortisolsuppression nach Dexamethasongabe und eine damit erhöhte HHNAFeedback-Sensitivität fanden sich jedoch auch bei im Erwachsenenalter traumatisierten Personen ohne PTBS (Klaassens et al., 2012). Verschiedene Studien fanden zudem verringerte Cortisolwerte im kombinierten DEX/CRH-Test, der ebenfalls einen Marker für die Feedbacksensitivität der HHNA darstellt, bei Frauen, die lebensgeschichtlich früh traumatisiert waren (Baes et al., 2012). Auch diese Befunde können im Sinne einer verstärkten Sensitivität der GlucocorticoidRezeptoren und somit der HHNA interpretiert werden. Mittels Stimulation der HHNA kann die Funktionalität auf verschiedenen Ebenen überprüft werden. So erlaubt die Gabe von exogenem CRH eine Einschätzung der Reaktivität der Hypophyse. Wiederholt konnte eine abgeschwächte ACTH-Reaktion nach einer CRH-Stimulation gefunden werden, was die Hypothese unterstützt, dass die

A 4  Psychoneuroendokrinologische Befunde 61

PTBS mit einer erhöhten hypothalamischen CRH-Aktivität und einer entsprechenden

(kompensatorischen) Down-Regulation von hypohysären CRH-Rezeptoren assoziiert ist. Mit dieser Hypothese übereinstimmend wurden erhöhte CRH-Konzentrationen in der Cerebrospinalflüssigkeit von Patienten mit einer PTBS gemessen. CRH ist ein wichtiger zentraler Botenstoff und Veränderungen im CRH-System stehen möglicherweise im Zusammenhang mit der PTBS-Symptomatik. So weisen Tierstudien darauf hin, dass erhöhte CRH-Spiegel in der Cerebrospinalflüssigkeit zu einigen Hauptsymptomen der PTBS – wie konditionierte Furchtreaktionen, erhöhte Schreckreaktion, Sensitivierung bei Stressexposition und Hyperarousal – beitragen könnten. Im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden wurden bei PTBS-Patienten höhere Fluktuationen von Cortisol über einen 24-StundenZeitraum berichtet, was vermuten lässt, dass die HHNA bei einer PTBS »hyperdynamisch« ist und mit klinischen Befunden wie Hypervigilanz und Hyperarousal korreliert. Darüber hinaus zeigen Studien einen negativen Zusammenhang zwischen dem Cortisolspiegel und der Schwere der PTBS-Symptome (Heim & Nemeroff, 2009; Olff et al., 2006). Während Cortisolspiegel bei Patienten mit einer PTBS intensiv untersucht wurden, wurden einem weiteren Hormon der HHNA, Dehydroepiandrosteron (DHEA), welches nach Stimulation von ACTH synchron mit Cortisol von der Nebennierenrinde abgesondert wird, sowie seinem Sulfat-Derivat DHEA-S bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt. DHEA und DHEA‑S werden Anti-Glucocorticoid-Effekte zugesprochen und sie wirken so schäd­lichen Folgen von Stress entgegen und sind neuropro-

62 Wingenfeld, Spitzer und Driessen

tektiv. Über die Auswirkungen von längerfristigen Veränderungen dieser Hormone weiß man jedoch wenig. Die Befundlage zu DHEA-Konzentrationen bei Patienten mit einer PTBS ist inkonsistent. Eine a ­ ktuelle Übersichtsarbeit zeigte, dass Patienten mit einer PTBS, aber auch traumatisierte Personen ohne PTBS im Vergleich zu nicht-traumatisierten Kontrollpersonen höhere DHEAund DHEA-S-Konzentrationen aufwiesen (van Zuiden et al., 2017): ein weiterer Hinweis darauf, dass die Traumaexposition an sich möglicherweise einen stärkeren Einfluss auf Veränderungen der HHNA-Regulation hat als das Vorliegen einer manifesten PTBS. Wie oben erwähnt, gibt es Hinweise, dass endokrinologische Veränderungen Vulnerabilitätsfaktoren für die Ausbildung einer PTBS darstellen. So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass Soldaten mit einer geringen basalen Cortisolaktivität ein größeres Risiko hatten, in Folge einer Kriegs­ traumatisierung eine PTBS zu entwickeln (Steudte-Schmiedgen et al., 2015). Auch im Rahmen der Therapieforschung beginnt man zunehmend auch endokrine Marker zu betrachten. Ein Ziel ist es, Marker für den Therapieerfolg zu identifizieren. So konnte z. B. eine Studie zeigen, dass eine stärkere Cortisolsuppression im Dexamethason-Hemmtest mit einer verstärkten Symptom­reduk­ tion nach traumafokussierter Psychotherapie assoziiert war (Nijdam et al., 2015). Erste Hinweise existieren zudem, dass die Gabe von Hydrocortison vor einer Exposi­ tions­ sitzung den Psychotherapieerfolg positiv beeinflusst (Yehuda et al., 2015). Allerdings ist hier die Literatur widersprüchlich und weitere Forschung ist dringend notwendig.

4.2.2  Locus-coeruleus-NoradrenalinAchse (LC/NA-Achse) Wegen seiner vielfältigen Funktionen bei der Regulation der autonomen Stressreak­ tion und seiner Wirkung für die Enkodierung von emotionalen Gedächtnisinhalten gilt dem Hormon und Neurotransmitter Noradrenalin ein besonderes Interesse bei der Erforschung der Pathophysiologie der PTBS. Noradrenalin, das zur Klasse der Katecholamine gehört, wird in Neuronen des Locus coeruleus synthetisiert, der zu verschiedenen Hirnarealen wie dem präfrontalen Cortex, der Amygdala, dem Hippocampus und Hypothalamus projiziert. In der Interaktion mit CRH fördert Noradrenalin die Furchtkonditionierung und die Enkodierung emotionaler Gedächtnisinhalte und erhöht die Erregbarkeit und Vigilanz. Im peripheren Nervensystem führt Stress zur Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin im Nebennierenmark und leitet eine adap­ tive Alarmreaktion ein. Der konsistenteste Befund in neuroendokrinen Studien der PTBS ist eine erhöhte basale noradrenerge Aktivität, sowohl zentral als auch peripher. Die meisten Studien konnten zeigen, dass die Konzentration von Adrenalin und Noradrenalin im 24-Stunden-Sammel-Urin bei PTBS-Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden oder Patienten mit anderen psychischen Erkrankungen höher ist, während basal im Plasma keine Unterschiede nachgewiesen werden konnten (Pervanidou & Chrousos, 2010; O’Donnell et al., 2004). Die Effekte von Noradrenalin werden vermittelt über postsynaptische α1-, β1- und β2Rezeptoren, während der α2-Rezeptor als präsynaptischer Rezeptor die Ausschüttung von Noradrenalin hemmt. Eine nachgewie-

sene verminderte Anzahl an α2-adrenergen Rezeptoren auf Thrombozyten lässt eine Hyperaktivität des noradrenergen Systems bei Patienten mit PTBS vermuten (Pervanidou & Chrousos, 2010; O’Donnell et al., 2004). In Provokationsstudien rief die Verabreichung des selektiven noradrenergen α2-Re­ zeptor­anta­go­nis­ten Yohimbin (welcher nor­ adrenerge Neurone durch Blockierung der α2-Rezeptoren aktiviert) bei Pa­tien­ten mit einer PTBS Symptome wie Intru­ sionen, Flashbacks und erhöhte autonome Reaktionen hervor. Patienten mit einer PTBS reagierten außerdem – im Vergleich zur Kon­ troll­gruppe – mit einer höheren Zunahme der Plasma-Noradrenalin-Metaboliten. Da Noradrenalin die Enkodierung von Furchterinnerungen fördert, Cortisol dagegen den Abruf emotionaler Gedächtnisinhalte blockiert, könnte die Konstellation aus erhöhter noradrenerger Aktivität und relativem Hypocortisolismus zu einer verstärkten Enkodierung und einem Mangel an Hemmung des Abrufs traumatischer Erinnerungen führen, wodurch möglicherweise Intrusionen bei einer PTBS begünstigt werden. Übereinstimmend mit dieser Hypothese konnte gezeigt werden, dass der Noradrenalin-Spiegel im 24-Stunden-Sammel-Urin positiv mit der Schwere intrusiver Erinnerungen korrelierte (Heim & Nemeroff, 2009; Yehuda, 2009; O’Donnell et al., 2004). Zudem konnte nachgewiesen werden, dass eine Blockierung des β-adrenergen Rezeptors mit Propanolol die Konsolidierung von emotional erregendem Material, jedoch nicht von neutralem Material aufhebt (Delahanty & Nugent, 2006). Inwieweit eine (erhöhte) noradrenerge Aktivierung während eines Traumas die Ausbildung einer PTBSSymptomatik begünstigt, ist unklar. In einer

A 4  Psychoneuroendokrinologische Befunde 63

Studie wurde gesunden Frauen ein emotional belastender Filmausschnitt gezeigt. Zuvor wurde das noradrenerge System mittels Yohimbin-Gabe pharmakologisch aktiviert. Es zeigte sich, dass spontane Erinnerungen an diesen Filmausschnitt in der YohimbinGruppe länger auftraten als bei Frauen in der Kontrollgruppe. Dieser Effekt zeigte sich nicht nach einer Aktivierung des HHNASystems (Rombold et al., 2016a, b). Dies kann als weiterer Hinweis darauf interpretiert werden, dass insbesondere eine verstärkte noradrenerge Aktivierung mit dem Symptomkomplex intrusiver Erinnerungen assoziiert ist. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Befunde zu Abweichungen in der endokrinen Stressreaktion bei einer PTBS findet sich in Tabelle 1.

Verlauf endokriner Veränderungen Biologische Systeme verändern sich im Zeitverlauf. Dies ist insbesondere bei hoch­

gradig adaptiven Systemen wie denen zur Regu­ lation der Stressantwort von großer Wichtigkeit. Langzeitstudien sind jedoch aufwendig und daher relativ selten. Eine prospektive Studie untersuchte neuroendokrine Veränderungen über die Zeit in Bezug auf die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer PTBS bei 60 Kindern und Jugendlichen nach einem Autounfall (Pervanidou et al., 2007). Hinsichtlich der Cortisolausschüttung zeigten sich innerhalb der ersten 24 Stunden nach dem Unfall erhöhte Werte (insbesondere am Abend) bei den­ jenigen, die im Verlauf eine PTBS entwickelten. Zudem war die zirkadiane Rhythmik der Cortisolausschüttung verändert. Diese Veränderungen schienen sich im Verlauf von sechs Monaten zu normalisieren. Hinsichtlich der Noradrenalinausschüttung zeigte sich ein konträres Bild: Hier stieg die Noradrenalin-Konzentration im Zeitverlauf an. Diese erhöhte noradrenerge Aktivierung könnte eine wichtige Rolle bei der Auf-

Tab. 1:  Zentrale neuroendokrinologische Befunde bei der PTBS A.

Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse

1.

erhöhte CRF -Werte in der Cerebrospinalflüssigkeit

2.

veränderte 24-h-Cortisolausschüttung im Urin

3.

veränderte 24-h-Cortisolkonzentration im Plasma

4.

erhöhter zirkadianer Rhythmus der Cortisolausschüttung

5.

erhöhte Anzahl an Glucocorticoid-Rezeptoren auf Lymphozyten

6.

verstärkte Cortisolsuppression nach Dexamethason-Gabe

7.

erhöhte Cortisolausschüttung nach CRH und ACTH

8.

erhöhte ACTH -Ausschüttung nach Metyrapon-Gabe

B.

Locus coeruleus/Noradrenalin-Achse

1.

erhöhte 24-h-Katecholaminausschüttung im Urin

2.

erhöhte 24-h-Katecholaminkonzentration im Plasma

3.

verringerte Anzahl adrenerger Rezeptoren auf Thrombozyten

4.

erhöhte Reaktion der Plasma-Noradrenalin-Metaboliten nach Yohimbin-Gabe

5.

abgeschwächte Prolaktin-Ausschüttung nach Clonidin-Gabe

64 Wingenfeld, Spitzer und Driessen

rechterhaltung einer PTBS-Symptomatik spielen. Möglicherweise begünstigt die fehlende Hemmung von Glucocorticoiden auf die noradrenerge Aktivität diese Entwicklung (Pervanidou & Chrousos, 2010).

4.2.3  Hypothalamus-HypophysenSchilddrüsen-Achse (HHSA) Der HHSA wurde in der psychotraumatologischen Forschung bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Sie besteht wie die HHNA aus einem sich selbst regulierenden Regelkreis. Das vom Hypothalamus aus­ geschüttete Thyreotropin-Releasinghormon (TRH) regt die Adenohypophyse zur Sekretion des Thyreoidea stimulierenden Hormons (TSH) an. TSH bewirkt infolgedessen in der Schilddrüse die Ausschüttung von Trijodthyronin (T3) und Tetrajodthyronin (T4, Thyroxin). Umgekehrt hemmen die Schilddrüsenhormone T3 und T4 im Sinne einer Gegenkopplung (negatives Feedback) die Produktion und Ausschüttung von TSH, so dass sich normalerweise ein Gleichgewicht in den Spiegeln der Schilddrüsenhormone im Blut einstellt. Für Patienten mit einer PTBS wurden erhöhte Werte an freiem Trijodthyronin (T3) im Verhältnis zu freiem Thyroxin (T4) und damit ein Anstieg der T3/ T4 -Rate berichtet (Friedman et al., 2005 ). Außerdem wurde eine Erhöhung an Thyroxin bindendem Globulin (TBG) bei PTBSPatienten gefunden. Die deutliche Erhöhung an freiem T3 und eine erhöhte T3/T4Rate führten zu der Vermutung, dass die Synthese von T3 aus T4 gesteigert ist. Diese Umwandlung wird durch erhöhte periphere Katecholamin-Werte beeinflusst, die ein charakteristisches Merkmal der PTBS darstellen. Im standardisierten TRH-Sti­mula­ tions-Test wurde eine verstärkte Reaktion

des TSH bei Patienten mit einer PTBS beschrieben. Das klinische Bild des Hyperthyreoidismus ist gekennzeichnet durch Schlafstörungen, Unruhe, Angst, Reizbarkeit, Wutausbrüche, Nervosität, Schreckhaftigkeit und Konzentrationsprobleme – mit anderen Worten, kognitive und affektive Störungen, die auch bei PTBS-Patienten beobachtet werden. Die Schwere der PTBS-Symptome, insbesondere Hyperarousal, korreliert signifikant mit dem Gesamt-T3, freiem T3 und Gesamt-T4; außerdem korreliert das Gesamt-T3 signifikant mit Vermeidung und das freie T3 mit Wiedererleben. Zudem korrelieren Gesamt- und freies T3 signifikant positiv mit dissoziativen Symptomen (Newport & Nemeroff, 2003).

4.2.4  Neuropeptid Y Neuropeptid Y (NPY) ist ein Neuropeptid mit anxiolytischen und stress-dämpfenden Eigenschaften. Es hemmt sowohl die Interaktion von CRH und Noradrenalin als auch die Ausschüttung von Noradrenalin. Bei Patienten mit einer PTBS wurden im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen verminderte Konzentrationen von NPY im Plasma und der Cerebrospinalflüssigkeit (CSF) wie auch abgeschwächte NPY-Reaktionen auf die Gabe von Yohimbin, eines α2-Rezep­tor­anta­ gonis­ten, nachgewiesen (Rasmusson et al., 2000, Sah et al., 2009). Dies legt die Vermutung nahe, dass eine verminderte NPY-Aktivität die noradrenerge Hyperaktivität bei einer PTBS begünstigt (Heim & Nemeroff, 2009). Zudem scheint verringertes NPY mit der Symptomschwere der PTBS in Zusammenhang zu stehen. Interessanterweise waren NPY-Konzentrationen bei Vietnamveteranen positiv assoziiert mit einer Symptomverbesserung sowie positivem Coping-Stil

A 4  Psychoneuroendokrinologische Befunde 65

(Yehuda et al., 2006). Inwieweit diese Erkenntnisse therapeutisch nutzbar gemacht werden können, wird diskutiert und muss weiter erforscht werden (Kautz et al., 2017).

4.2.5  Oxytocin Die CSF-Konzentration von Oxytocin, einem Neuropeptid von überragender Bedeutung für eine Vielzahl weiblicher Reproduktionsprozesse sowie für mütterliches Bindungsverhalten, Geburt und Stillen, das einen hemmenden Einfluss auf die Aktivität der HHNA hat, war bei erwachsenen Frauen verringert, die in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch erlebt hatten. Darüber hinaus wird ein signifikant negativer Zusammenhang zwischen der Oxytocin-Konzentration und der Cortisolausschüttung und ein positiver Zusammenhang zwischen OxytocinKonzentration und subjektivem Stresserleben berichtet. Demnach wird Oxytocin eine protektive Wirkung unter Stress zugeschrieben (Neigh et al., 2009). Oxytocin scheint prosoziales Verhalten zu verstärken und Angst zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund untersuchen in neuerer Zeit verschiedene Forschergruppen, inwieweit die Wirkungen von Oxytocin therapeutisch nutzbar gemacht werden könnte, z. B. ob die Gabe von Oxytocin die Effektivität einer Expositiontherapie verstärken kann. Erste positive Hinweise liegen bereits vor (z. B. Flanagan et al., 2018), jedoch fehlen größere kontrollierte Studien.

4.2.6  Moderierende Einflussgrößen Die zum Teil inkonsistente Befundlage zur Endokrinologie der PTBS, insbesondere der HHNA -Funktion, mit einerseits erhöhten oder normalen und andererseits verringer-

66 Wingenfeld, Spitzer und Driessen

ten basalen Cortisolspiegeln führte zu der Frage, welche Faktoren den Zusammenhang zwischen Veränderungen im Stresshormonsystem und einer PTBS beeinflussen. Es werden dabei im Wesentlichen zwei Faktoren diskutiert: genetische und Umweltfaktoren – insbesondere lebensgeschichtlich früher Stress – sowie deren Interaktion.

Genetik Eine wichtige Methode der genetischen Forschung sind Zwillingsstudien. Eine neuere Studie an Vietnamveteranen schätzt die Heritabilität der PTBS auf 49 %. In dieser Studie wurden auch Resilienzfaktoren betrachtet. Interessanterweise scheinen Umweltfaktoren einen stärkeren Einfluss auf die Resilienz auszuüben, der Effekt wird auf 60 % geschätzt (Wolf et al., 2018 ). Es gibt zudem Hinweise aus Zwillingsstudien, dass prämorbide Risikofaktoren, wie z. B. ein reduziertes Volumen des Hippokampus, die Entwicklung einer PTBS möglicherweise begünstigen. Hier wurden Zwillinge untersucht, von denen jeweils nur einer traumatischen Kriegserfahrungen ausgesetzt war (Gilbertson et al., 2002). Häufig untersucht wurden genetische Variationen von FKBP5, einem wichtigen Regulator des Glucocorticoid-Rezeptors. Es wurde wiederholt gezeigt, dass das Risiko der Entwicklung einer PTBS (in Abhängigkeit vom Vorliegen eines Missbrauchs in der Kindheit) durch eine veränderte Expression von FKBP5 beeinflusst wird (Watkins et al., 2016; Yeo et al., 2017) . Auch Personen, die nach den Anschlägen auf das World Trade Center eine PTBS entwickelten, wiesen eine verstärkte Expression von FKBP5 auf. Auch Gene des Glucocorticoid-Rezeptor-Systems sowie des Immunsystems scheinen involviert zu sein (Kuan et al., 2017). Neben dem

FKBP5-Gen wird eine Vielzahl an anderen

FKBP5-Genotyp war darüber hinaus mit ei-

Genen untersucht. So wurden Polymorphismen des α2-adrenergem Rezeptorgens identifiziert, die mit der Intensität der stress­ induzierten Aktivität des noradrenergen Systems und der Rate des Absinkens des Katecholamin-Spiegels zur Baseline nach Stressexposition in Zusammenhang stehen und ebenfalls eine Rolle bei der Entwicklung einer PTBS spielen könnten (South­ wick et al., 2005). Ein weiteres Beispiel ist ein Polymorphismus des Oxytocin-Rezeptor-Gens, der ebenfalls mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer PTBS in Zusammenhang gebracht wurde (Sippel et al., 2017). Allerdings ist nicht allein die genetische Ausstattung eines Individuums verantwortlich für die Entwicklung einer Erkrankung, vielmehr spielen Umweltfaktoren und eben ihre Interaktion mit den Genen eine entscheidende Rolle. Dies soll zunächst am Beispiel des Serotonintransportergens (5-HTT) verdeutlicht werden, eines Gens, welches bei vielen psychischen Erkrankungen eine wichtige Rolle zu spielen scheint. In einer bahnbrechenden Studie konnten Caspi und Kollegen (2003) zeigen, dass das Vorliegen der »Risikovariante« des 5-HTT-Gens erst dann mit einem erhöhten Risiko für eine Depression assoziiert ist, wenn zusätzlich Missbrauchserfahrungen in der Kindheit vor­ lagen. Ohne diesen zusätzlichen Umweltstressor konnte kein erhöhtes Krankheits­ risiko gefunden werden. Einen ähnlichen Zusammenhang konnten Binder und Kollegen (2008) für die PTBS zeigen. In einer Studie mit 900 nicht-psychiatrischen Patienten konnte ebenfalls die Interaktion von FKBP5Polymorphismen und kindlichem Missbrauch die Entwicklung von PTBS-Symptomen im Erwachsenenalter voraussagen. Der

ner erhöhten Glucocorticoid-Rezeptor-Sensitivität assoziiert.

Effekte früher Stresserfahrungen Die individuelle Vulnerabilität für die Entstehung verschiedenster Erkrankungen ist von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Stresserfahrungen und Traumata im frühen Leben spielen dabei eine wichtige Rolle. Zunehmend Beachtung finden dabei auch sehr frühe Lebensphase (z.  B. Säuglings­ alter) wie auch die pränatale Stress­exposi­ tion. Epigenetische Mechanismen scheinen hier eine entscheidende Rolle zu spielen. Eine gute Einführung in dieses spannende Forschungsfeld bietet eine Überblickarbeit von Entringer und Kollegen (2016). Auch für die PTBS konnte ein Zusammenhang zwischen pränatalem traumatischem Stress, einer damit verbundenen erhöhten Cortisolausschüttung und der Vulnerabilität für die Entwicklung einer PTBS gezeigt werden (Yehuda et al., 2005). Dabei wurden nach den New Yorker Anschlägen auf das World Trade Center 9 bis 12 Monate alte Kinder von Müttern, die infolge des 11. Septembers an einer PTBS erkrankten, untersucht. Diese wiesen niedrigere Cortisolspiegel im Speichel auf, verglichen mit Kindern von Müttern, die keine PTBS entwickelten. Dieser Effekt war am stärksten bei Kindern, deren Mütter während der Anschläge im letzten Drittel der Schwangerschaft waren. Es fand sich außerdem ein signifikant negativer Zusammenhang zwischen der Schwere der mütterlichen PTBS-Symptomatik und dem Cortisolspiegel der Kinder. Die Rolle transgenerationaler Effekte soll an einem weiteren Beispiel verdeutlicht werden: Kinder von Holocaust-Überlebenden zeigten geringere 24-Stunden-Sammel-

A 4  Psychoneuroendokrinologische Befunde 67

Urin-Cortisolspiegel im Vergleich zu Kon­ trollprobanden. Zudem hatten Kinder von an einer PTBS erkrankten Holocaust-Überlebenden geringere Cortisolspiegel und eine verstärkte Feedbacksensitivität der HHNA, verglichen mit Kindern von nicht an einer PTBS erkrankten Holocaust-Überlebenden. Ein ähnliches »endokrines Muster« also wie ihre traumatisierten Eltern, obwohl die Kinder nicht selbst traumatisiert waren (Neigh et al., 2009; Yehuda, 2009). Inwieweit diese Veränderungen Folge der Traumatisierung oder ein prämorbider Risikofaktor für die Entwicklung einer Traumafolgestörung sind, bleibt jedoch noch ungeklärt.

4.3  Fazit Es konnte gezeigt werden, dass zahlreiche biologische Systeme in die Entstehung und Aufrechterhaltung der PTBS involviert sind. Dabei sind die physiologischen Stress­ sys­ teme von besonderer Bedeutung. Während eine verstärkte Aktivität des noradrenergen Systems gut belegt ist, ist die Datenlage bezüglich der HHNA uneinheitlicher. Es existieren aber einige Befunde, die auf eine erhöhte negative Feedback-Sensitivität der HHNA sowie erniedrigte Cortisolspiegel hinweisen. Dabei kommt frühen (gegebenenfalls schon pränatalen) traumatischen Stresserfahrungen möglicherweise eine entscheidendere Bedeutung für die Dysregulation psychoendokrinologischer Systeme zu als solchen in späteren Lebensphasen. Jedoch ist noch viel Forschung notwendig: Prospektive Längsschnittstudien könnten neue Erkenntnisse in Bezug auf die Frage erbringen, ob neuroendokrine Dysregulationen Teil der PTBS-Symptomatik infolge eines Traumas darstellen oder ob bereits vor dem Trauma existierende hor­monelle Ver-

68 Wingenfeld, Spitzer und Driessen

änderungen das Risiko der Entwicklung einer PTBS erhöhen. Außerdem sollte der Zeitverlauf endokriner Veränderungen weiter untersucht werden. Von besonderem Interesse ist aber die Frage, inwieweit sich die Ergebnisse aus der Grundlagenforschung in verbesserte Präventions- und Behandlungsstrategien überführen las­sen.

4.4  Literatur Baes C. V. W., Tofoli S. M. C., Martins C. M. S. & Juruena M. F. (2012). Assessment of the hypothalamic-pituitary-adrenal axis activity: Glucocorticoid receptor and mineralcorticoid receptor function in depression with early life stress – a systematic review. Acta Neuropsychiatrica, 24, 4 – 15. Binder E. B., Bradley R. G., Liu W., Epstein M. P., Deveau T. C., Mercer K. B., Tang Y., Gillespie C. F., Heim C. M., Nemeroff C. B., Schwartz A. C., Cubells J. F. & Ressler K.J. (2008). Association of FKBP 5 polymorphisms and childhood abuse with risk of posttraumatic stress disorder symptoms in adults. JAMA, 299 (11), 1291  – 305 . Caspi A., Sugden K., Moffitt T. E., Taylor A., Craig I. W., Harrington H., McClay J., Mill J., Martin J., Braithwaite A. & Poulton R. (2003). Influence of life stress on depression: moderation by a polymorphism in the 5-HTT gene. Science, 301 (5631), 386 – 389. Delahanty D. L. & Nugent N. R. (2006). Predicting PTSD prospectively on prior trauma history and immediate biological responses. Annals of the New York Academy of Sciences, 1071, 27 – 40. Entringer S., Buss C. & Heim C. (2016). Frühe Stresserfahrungen und Krankheitsvulnerabilität, Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz, 59 (10), 1255 – 1261 . Flanagan J. C., Sippel L. M., Wahlquist A., Moran-Santa Maria M. M. & Back S. E. (2918). Augmenting prolonged exposure therapy for PTSD with intranasal oxytocin: A rando-

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A 4  Psychoneuroendokrinologische Befunde 69

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A 4  Psychoneuroendokrinologische Befunde 71

PETER KLAVER

5.  Funktionelle Neuroanatomie der Posttraumatischen Belastungsstörung

Seit etwa 25 Jahren werden bildgebende Verfahren eingesetzt, um neurobiologische Grundlagen der PTBS zu untersuchen. Ähnlich wie bei anderen psychischen Störungen haben Ergebnisse dieser Studien nicht nur gezeigt, welche Hirnareale beim Entstehen der PTBS betroffen und beteiligt sind, sondern vor allem haben diese Studien Ärzten, psychologischen Beratern, Patienten und Familienangehörigen gezeigt, dass das psychische Leiden mit objektiven Veränderungen im Gehirn einhergeht. Dieses Kapitel gibt eine Übersicht über die wichtigsten Studien zu hirnstrukturellen und hirn­funk­ tionellen Störungen, welche mit der PTBS in Zusammenhang gebracht wurden. Auch wird deutlich gemacht, wo die Stärken und Schwächen der jeweiligen Methoden liegen, die ein vertieftes Verständnis neurobiologischer Korrelate der PTBS ermöglichen. Obwohl akute und chronische Belastungsstörungen diagnostisch (gemäß DSM-IV) getrennt werden, werden in diesem Kapitel beide Störungen zusammen betrachtet. Der Grund hierfür ist, dass für die frühen Phasen nach dem Trauma deutlich weniger auf bildgebenden Verfahren beruhende Studien vorhanden sind und es auf systemischer Ebene wenig Befunde gibt, dass die Phäno-

72 Klaver 

mene, die bei akuten und chronischen Belastungsstörungen zu beobachten sind, sich stark unterscheiden, obwohl auf endokrinologischer und zellulärer Ebene durchaus neurobiologische Modelle aus Tierstudien existieren, die eine Erklärung für einen Übergang von akutem Stress zu chronischem Stress bieten (McEwen, 2001). Wei­ tere Studien zu psychoneuroendokrinologischen Befunden werden in diesem Buch in Kapitel A4 besprochen. Das vorliegende Kapitel ist folgendermaßen gegliedert: Zuerst wird ein Modell vorgestellt, welches die PTBS mit veränderten neuronalen Netzwerken in Verbindung bringt. Im Anschluss wird berichtet, welche hirnstrukturellen Veränderungen im Gehirn in der Kindheit und im Erwachsenenalter nach einer Traumatisierung gefunden wurden. Danach wird auf metabolische und funktionelle Befunde eingegangen, welche mittels bildgebender und elektrophysiologischer Verfahren erfasst wurden. Schließlich wird diskutiert, inwiefern diese Befunde neurobiologische Voraussetzungen oder Folgestörungen widerspiegeln und welchen Einfluss eine Therapie auf die neurobiologischen Veränderungen haben kann.

5.1  Ein psychologisch-neuro­

anatomisches Modell der PTBS Die neuroanatomischen und neurophysiologischen Veränderungen, welche meist mit einer PTBS in Verbindung gebracht werden, stehen in Zusammenhang mit limbischem System und Hirnarealen, die damit verbunden sind. Hierzu gehören neben den beiden

Hippokampi und Teilen des anterioren Cingulum subkortikale Areale und die Amygdala (Mandelkern). Diese Regionen werden oft mit Gedächtnisfunktionen in Verbindung gebracht. Brewin et al. (2010) haben dazu ein psychologisch-neuroanatomisches Modell vorgeschlagen, das versucht, zwei Gedächtnisphänomene bei Patienten mit PTBS zu erklären (Abb. 1 ).

Gesund

Pathologisch

Pfa

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Abb. 1:  Funktionell-neuroanatomisches Modell der PTBS nach Brewin und Kollegen (2010) In dieser Abbildung wird die revidierte duale Repräsentationstheorie visueller Intrusionen schematisch dargestellt (Brewin et al. 2010). Links sind neuronale Netzwerke der gesunden Personen und rechts solche der Patienten mit PTBS dargestellt. Die Gedächtnisstrukturen, welche sensorische Repräsentationen festhalten, sind schwarz markiert und stellen das SAM-System dar. Kontextuelle Repräsentationen sind grau gefärbt und stellen das VAM-System da. In dunkelgrün sind Regionen und Verbindungen dargestellt, welche sonst mit Gedächtnis und visueller Vorstellung zu tun haben. Bei gesunden Personen sind die VAM- und SAM-Systeme im Gleichgewicht. Bei Patienten mit PTBS sind die Verbindungen zwischen Regionen im SAM-System stärker (dickere Pfeile) und die Verbindungen im VAM-System schwächer (gestrichelte Pfeile) ausgeprägt als bei gesunden Probanden. Dieses Ungleichgewicht kann dazu führen, dass sensorische Reize schneller mit emotionalen Assoziationen aus der egozentrischen Perspektive als mit abstrakten und allozentrischen Konzepten über vergangene Ereignisse in Erinnerung gerufen werden. Das wiederum führt zu einem starken emotionalen Wiedererleben mit dem Gefühl, sich wieder in der Situation von damals zu befinden (sogenannte »Flashbacks«). Die Abkürzungen und Funktionen der Hirnregionen: Ins (Insula: introzeptive sensorische Repräsentation), Am (Amygdala: affektive Wahrnehmung), HF (Hippokampale Formation: konzeptuelle Repräsentation mit allozentrischer räumlicher Repräsentation), SAA (sensorische Assoziationsareale: konzeptuelle Repräsentation mit allozentrischer sensorischer Information), FSA (Frühe sensorische Areale: extrazeptive sensorische Repräsentation), Precun (Precuneus: mentale Vorstellung), Rsp (Retrosplenialer Kortex und posterior parietaler Kortex: allozentrisch-egozentrische Umsetzung), PHC (parahippokampaler Kortex: allozentrische Szenen-Information). Die anatomische Zuordnung ist durch die zweidimensionale Abbildung nur als ungefähr zu interpretieren.

A 5  Funktionelle Neuroanatomie 73

Erstens leiden Patienten mit PTBS unter Intrusions­störungen. Diese Intrusionen sind unwillkürliche Erinnerungen, welche durch sensorische Reize oder Assoziationen ausgelöst werden können. Sie kommen auch bei gesunden Personen vor, sind aber bei Patienten mit PTBS oft emotional belastend. Brewin und Kollegen ordnen diese unwillkürlichen Erinnerungen einem separaten Gedächtnissystem und einem separaten neuronalen Netzwerk zu und nennen dies »si­ tua­ tionally accessible memory« (SAM, zu Deutsch »situationell zugängliche Erinnerungen«). Ein zweites Problem bei Patienten mit einer PTBS ist, dass die Fähigkeit, freiwillige Erinnerungen abzurufen, geschwächt ist. Traditionell wird der Abruf willkürlicher Erinnerungen mit einem anderen neuronalen Netzwerk in Verbindung gebracht, von Brewin und Kollegen »verbally accessible memory« (VAM) genannt (zu Deutsch »verbal zugängliche Erinnerungen«). Die Grundannahme der revidierten dualen Repräsentationstheorie der pathologischen Intrusionen ist, dass im Vergleich zu gesunden Personen die SAM-Netzwerke überrepräsentiert und die des VAM unterrepräsentiert sind (Brewin et al. 2010). Das Ungleichgewicht in der Wechselwirkung beider neuronaler Netzwerke kann zum Verständnis der Gedächtnisphänomene bei Patienten mit PTBS beitragen.

(MRT),1 um strukturelle (T1-gewichtete Bildgebung) wie auch mikrostrukturelle Vergleiche (diffusionsgewichtete Bildgebung, DTI) zwischen Patienten mit PTBS und Vergleichsgruppen durchzuführen. Mittels MRT ist es möglich, hochauflösende Aufnahmen von Hirnstrukturen zu machen, ohne dabei die Patienten oder gesunden Probanden einer Strahlung auszusetzen, Kontrastmittel zu geben oder invasive Maßnahmen zu ergreifen (Jäncke, 2005).

5.2  Neuroanatomische

1

Veränderungen bei einer PTBS Mithilfe bildgebender Verfahren wurden einige Belege gefunden, welche das Mo­ dell von Brewin und Kollegen unterstützen. Im Hippokampus beispielsweise wurden Volumen und Zellverlust gemessen. Viele Stu­dien nutzen den Kernspintomographen

74 Klaver 

5.2.1 Veränderungen des Hippokampus und andere Strukturveränderungen Studien, die mit bildgebenden Verfahren arbeiten, haben häufig gezeigt, dass beide Hippokampi bei Patienten mit einer PTBS kleinere Volumina aufweisen als bei Kontrollprobanden. Dies zeigt sich vor allem im posterioren Teil des Hippokampus (Bonne et al., 2008). Die Volumenunterschiede variieren zwischen 5 und 25 % und können unilateral oder bilateral auftreten (Gurvits et al., 1996; Stein et al., 1997; Bremner et al., 1995, 1997 ). Der Schweregrad der PTBSSymptome hängt auch mit dem Hippokampusvolumen zusammen, wobei sich kleine Volumina vor allem mit Intrusionssymptomen assoziiert zeigen (Hara et al., 2008). Die ersten Theorien zur Neurobiologie der PTBS postulierten, dass Kortison eine Die Magnetresonanztomographie (MRT oder MRI) basiert auf den magnetischen Eigenschaften von Protonen. Hiermit ist es möglich, die Protonendichte und die Bewegungseigenschaften von Protonen zu messen (z. B. Wasserstoffprotonen). Meistens wird über voxelbasierte Morphometrie ein Vergleich zwischen Versuchspersonen durchgeführt, welcher darauf hinweist, wo Probanden sich im Hinblick auf die graue und weiße Substanz anatomisch unterscheiden.

schädigende Wirkung auf den Hippokampus habe (Sapolsky, 2000). Viele Studien weisen darauf hin, dass als Antwort auf ein Trauma die Kortisonregulierung in der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA) gestört ist (siehe auch Kap. A4 zu psychoneuroendokrinologischen Befunden), was dann eben zur Schädigung des Hippokampus führe. Neuere Studien kritisieren aber dieses neurobiologische Modell des schädigenden Einflusses von Kortison auf die Hippokampi. Erstens haben weder querschnittliche noch Längsschnittstudien gezeigt, dass die Dauer der PTBS einen Einfluss auf die Hippokampusatrophie hätte. Mit anderen Worten: PTBS-Pa­ tien­ten haben nicht automatisch ein größeres Risiko, eine Hippokampusatrophie zu entwickeln, wenn sie länger Stresshormonen ausgesetzt sind. Die Art (z. B. bei Kriegsveteranen oder nach sexuellem Missbrauch) und Häufigkeit des Traumas scheint auch keinen Effekt zu haben (Bonne et al., 2001; Karl et al., 2006a). Zweitens weist nicht nur der Hippokampus Volumenunterschiede auf, sondern auch andere Hirnareale, was das Postulat der zentralen Rolle des Hippokampus im Kortisonregulationskreis schwächt. Drittens: Die größten Unterschiede im Hippokampusvolumen werden gefunden, wenn Patienten mit Kontrollprobanden, welche kein Trauma erlebt haben, verglichen werden. Die Unterschiede sind deutlich kleiner, wenn PTBS-Patienten mit Kontrollprobanden verglichen werden, welche nach Erleben eines Traumas keine PTBS entwickelt haben. Das deutet darauf hin, dass Volumenunterschiede bereits vor dem Trauma vorlagen. Diese Hypothese wird nochmals durch Befunde unterstützt, die darauf hinweisen, dass PTBS-Patienten bereits vor dem Trauma Episoden mit Hirnentwick-

lungsstörungen aufweisen (Gurvits et al., 2000). Weiterhin zeigten Gilbertson und Kollegen, dass sich eineiige Zwillinge im Hippokampusvolumen nicht voneinander unterschieden, egal ob eines der beiden Geschwister nach der Kriegserfahrung in Vietnam eine PTBS entwickelte oder nicht. Zudem korrelierte das Hippokampusvolumen negativ mit dem Schweregrad der PTBSSymptome des traumatisierten Geschwisters, während aber das nicht-traumatisierte Geschwister bei gleichem Hippokampus­ volumen keine PTBS entwickelte. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein prä­ trauma­tisch größerer Hippokampus vor der Entwicklung einer PTBS schützt (Gilbertson et al., 2002). Diese Annahme würde auch zu der Arbeitshypothese passen, dass akuter und chronischer Stress biphasische Effekte auf die funktionellen und strukturellen Veränderungen des Hippocampus haben (­McEwen, 2001). In einer ersten Phase schützen Stress und die damit einhergehende Zunahme der Kortisonausschüttung vor Schädigungen an den Nervenzellen im Hippokampus. In e ­ iner zweiten Phase, bei chronischer Aussetzung gegenüber Stresshormonen, kann es zu einer dauerhaft reduzierten Plastizität im Hippo­kampus kommen (vor allem im Gyrus dentatus), die die Regenerationsfähigkeit der Nervenzellen verringert und Vulnerabilität gegenüber externen Stressoren vergrößert. In diesem Kontext würde die PTBS erst dann nach traumatischen Erlebnissen auftreten, wenn entweder der Hippokampus bereits durch Stress geschädigt ist, welcher mit Ereignissen in einem Zusammenhangt steht, die sich weit vor den traumatischen Erlebnissen abgespielt haben, insbesondere frühkindliche belastende Ereignisse (Engl. Adverse Childhood Experience, ACE;

A 5  Funktionelle Neuroanatomie 75

Schalinski et al., 2016), oder der Hippokampus, biologisch bedingt, geringere Reserven hat (Gilbertson et al., 2002). Neben den Unterschieden in Bezug auf den Hippokampus wurden vor allem noch Volumenunterschiede im anterioren Cingulum und im Nukleus caudatus diskutiert, welche mit dem Schweregrad von PTBSSymptomen zusammenhingen (Yamasue et al., 2003; Cohen et al., 2006). Obwohl nur wenige Studien Unterschiede im Amyg­ dala­volumen gezeigt haben, hat eine Metaanalyse gefunden, dass die linke und die rechte Amygdala bei PTBS-Patienten kleiner sind (Karl et al., 2006a). Auch wurden strukturelle und mikrostrukturelle Unterschiede im Corpus callosum und in anderen Regionen in der weißen Substanz des Frontalkortex gefunden, welche unweit des anterioren Cingulums liegen und Gebiete im limbischen System miteinander verbinden (Jackowski et al., 2008; Abe et al., 2006; Kim et al., 2006). Diese Befunde werden zudem durch beobachtete metabolische Veränderungen im Hippokampus, anterioren Cingulum und den Basalganglien ergänzt (Karl & Werner, 2010).

5.3  Die Hirnfunktion bei einer PTBS 5.3.1  Befunde mittels bildgebender Verfahren Ähnlich wie bei den vorgestellten hirnanatomischen Studien zeigen funktionelle Studien bei Patienten mit einer PTBS ein ver­ ändertes Aktivierungsmuster in Hirnarealen, welche mit dem limbischen System in Zusammenhang stehen (Francati et al., 2007). Neuere Methoden, welche Aktivierungsmuster in neuronalen Netzwerken abbilden, legen zudem nahe, dass nicht nur selektive Areale betroffen sind. Vielmehr scheinen

76 Klaver 

diese Aktivierungen eine störende Wirkung auf die Aktivität in neuronalen Netzwerken zu haben, welche mit Konzentrationsfähigkeiten und Arbeitsgedächtnis in Zusammenhang stehen. Daneben konnten auch elektrophysiologische Veränderungen nachgewiesen werden, welche auf spezifische Veränderungen in der Reizverarbeitung hindeuten.

Anteriores Cingulum, Amygdala und andere Regionen Die meisten Studien, welche die Hirnaktivität bei einer PTBS messen, benutzen SPECT (single photon emission computed tomo­ graphy, auf Dt. Einzelphotonen-Emis­sionsTomographie), PET (Positronenemissions­ tomographie) oder funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), um die Hirn­ aktivität zu visualisieren (Jäncke, 2005). In diesen Studien wird häufig versucht, Symptome während der Messung zu provozieren. Dazu werden beispielsweise während der Messung traumabezogene Skripte präsentiert (vorgelesen oder auf einem Bildschirm gezeigt), um spezifische Erinnerungen auszulösen. Die neuronale Aktivität bei dieser und die bei einer neutralen Bedingung werden verglichen. In anderen Paradigmen werden auch Wortlisten, emo­tionale Bilder oder Varianten des Stroop-Tests mit traumabezogenem Material verwendet. Häufig wird in diesen Studien eine erhöhte Aktivierung bei PTBS-Patienten in der rechten Amyg­ dala – als neuronale Antwort auf emotionale oder traumabezogene Reize – berichtet, und zwar selbst dann, wenn diese Reize nicht bewusst wahrgenommen wurden (Rauch et al., 2000; Hendler et al., 2003). Das Aktivierungsniveau hängt direkt mit den Symptomen und der wahrgenommenen Intensität von Flashbacks und Angstzuständen zu-

sammen (Shin et al., 2006). Manchmal wurde auch eine erhöhte neuronale Aktivität in anderen Hirn­arealen gefunden, wie im Precuneus, sensomotorischen Gebieten oder visuellen Arealen (Rauch et al., 1996). Andere Hirnareale, wie z. B. das anteriore Cingulum, subcallosaler Gyrus, Thalamus, Hippokampus und Insula, zeigten – im Vergleich zu Kontrollprobanden – eine eher geringere Aktivierung (Lanius et al., 2001; Shin et al., 2001; Liberzon et al., 1999). Vor allem im anterioren Cingulum wurde ein negativer Zusammenhang zwischen Symptomstärke und neuronaler Aktivität gefunden. Daraus wurde die Hypothese entwickelt, dass die me­ dialen frontalen Hirnareale die AmygdalaAktivität nicht gut unterdrücken können und daher verstärkt Angst- und Stressreaktionen entstehen (Shin et al., 2006). Gilboa und Kollegen überprüften diese Hypothese in einer funktionellen Konnektivitäts-Studie (Gilboa et al., 2004). Sie fanden aber, dass bei PTBS-Patienten vom anterioren Cingulum auf die Amygdala keine hemmende Wirkung ausging, sondern dass die Amygdala eine verstärkte aktivierende Wirkung auf mediale frontale und andere Areale hat. Das deutet darauf hin, dass die Emotionskontrolle bei einer PTBS zwar vermindert ist, aber dass dies nicht mit einer reduzierten Wirksamkeit des anterioren Cingulum zusammenhängt.

»Default mode« und andere neuronale Netzwerke Seit einigen Jahren wird immer häufiger auch das »Default mode«-Netzwerk (DMN) mit verschiedenen psychischen Störungen in Zusammenhang gebracht. Das DMN wird definiert durch eine Mehraktivierung bei einer Messung ohne Aufgabe (Ruhe) im ­ Vergleich zur neuronalen Aktivität, wenn

eine kognitive Aufgabe gestellt ist. Es hat sich herausgestellt, dass nur ein Teil des Gehirns im Kontext einer kognitiven Aufgabe aktiv an der Reizverarbeitung beteiligt ist. Andere Hirnareale, verteilt über große Teile des Gehirns, sind hingegen während der Ruhebedingung aktiver oder werden während der Ausführung einer Aufgabe aktiv unterdrückt (McKiernan et al., 2003). Dieses Netzwerk von Hirnarealen scheint also an internen Vorgängen und mentalen Prozessen beteiligt zu sein, die weniger auf die Außen­welt, sondern eher auf autobiografische Erinnerungen und selbstreflektierende Prozesse gerichtet ist (Gusnard & Raichle, 2001). Außerdem hat sich gezeigt, dass diese Areale anatomisch und funktionell mit Arealen des limbischen Systems verbunden sind. Bei Patienten mit einer PTBS ist die funktionelle Konnektivität innerhalb des DMN weniger stark (Lanius et al., 2010; Bluhm et al., 2009). Eine Erklärung dafür könnte sein, dass anatomische Verbindungen oder Hirnareale innerhalb dieses Netzwerkes Defizite aufzeigen. Eine andere Erklärungsmöglichkeit für dieses Phänomen ist, dass die Hirnareale, welche das Netzwerk bilden, weniger gut funktionieren und dass deshalb mehr »Rauschen« im Netzwerk entsteht und die enge Kooperation innerhalb des Netzwerkes verlorengeht. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass Hirnareale außerhalb des Netzwerkes für Störungen sorgen. Tatsächlich haben Studien Belege für jede dieser Möglichkeiten gefunden. Auf der einen Seite wurde gefunden, dass bei von ­einer PTBS Betroffenen die Verbindungen zwischen den Arealen im Netzwerk nicht so stark sind wie bei Patienten ohne PTBS (Kim et al., 2006). Die funktionellen und anatomischen Verbindungen standen sowohl mit

A 5  Funktionelle Neuroanatomie 77

der Symptomstärke als auch mit der Art des Traumas in Zusammenhang (Reuveni et al., 2016). Auf der andere Seite wurde, wie oben bereits berichtet, festgestellt, dass bestimmte Areale im Netzwerk (u. a. anteriores Cingulum) im Vergleich zu Kontrollgruppen einen Volumenverlust aufweisen (Jatzko ­ et al., 2005). Es wurde auch berichtet, dass während einer Aufgabe, die das Arbeitsgedächtnis fordert, die funktionelle Konnektivität zwischen Arealen im DMN bei PTBSPatienten höher ist. Gesunde Kontrollprobanden sind anscheinend besser in der Lage, die neuronale Aktivität im DMN zu unterdrücken und zwischen Zuständen der Hinwendung zu internen und externen Prozessen zu wechseln (Daniels et al., 2010). Zudem wurde berichtet, dass neben einer Reduktion von Konnektivität innerhalb des DMN auch eine erhöhte Konnektivität innerhalb des Salienznetzwerks und eine erhöhte Konnektivität zwischen dem DMN und dem Salienznetzwerk gefunden wurden (»salient«, auf Deutsch hervorstechend) (Sripada et al., 2012). Die erhöhte Konnektivität könnte mit einer Hyperarousal-Symptomatik assoziiert sein (d. h. einer erhöhten Wachsamkeit während einer Ruhephase). Obwohl die Ursachen dieser dysfunktionalen Netzwerkaktivität innerhalb und zwischen Netzwerken unklar sind, lässt sich dennoch feststellen, dass die PTBS-Symptomatik mit einer Dysbalance zwischen Netzwerken zu tun hat, die für die nach innen und außen gerichteten (egozentrischen und allozentrischen) Informationsprozesse zuständig sind.

5.3.2  Elektrophysiologische Befunde Eine Vielzahl von psychophysiologischen Studien hat ereigniskorrelierte Potentiale

78 Klaver 

(EKP) verwendet, um die neurobiologischen Grundlagen der PTBS zu erforschen. EKPs sind kleine, aber systematische Fluktuationen im elektrischen Signal (EEG), welche an der Schädeloberfläche gemessen werden können. Diese systematischen Fluktuationen können herausgefiltert werden, wenn viele gleichartige Reize den Probanden zuerst z. B. visuell auf einem Bildschirm oder akustisch über einen Kopfhörer angeboten werden und die Probanden diese dann unter systematische Bedingungen verarbeiten. Das elektrische Signal, welches währenddessen gemessen wird, kann dann gemittelt werden, und positive und negative Poten­ tialänderungen können gegenüber einem Referenzpotential aufgezeigt werden. Diese Potentialänderungen haben eine Amplitude in der Größenordnung von selten mehr als wenigen Mikrovolt. Im Vergleich zu PEToder fMRT-Studien haben EKPs eine deutlich bessere zeitliche Auflösung (in der Größenordnung von Millisekunden), aber eine schlechtere räumliche Auflösung, d. h. Rückschlüsse auf die Lokalisation der neuronalen Quellen im Gehirn sind nur beschränkt möglich (Michel et al., 2009). Drei EKPs wurden oft in Zusammenhang mit der PTBS gebracht: der P50, P200 und P300. Wie der Name schon andeutet, bezieht sich der P50 auf eine positive Amplitude im EEG, welche etwa 50  ms nach Stimuluspräsentation auftritt (ca. 40 – 80 ms). Wenn ein akustisches Stimuluspaar mit festen Zeit­ intervallen (ca. 5 – 10 Sekunden) kurz nacheinander präsentiert wird (Doppelklick zwischen 250 und 1000 ms), dann zeigt normalerweise der zweite Stimulus im Paar eine gegenüber dem ersten Stimulus reduzierte Amplitude. Dies spiegelt eine inhibitorische Antwort oder eine sensorische Ausblendung (engl. gating) des zweiten Stimulus

wider. Wenn aber diese Unterdrückung nicht sehr ausgeprägt ist, wird dies als atypisch verstanden. Diverse Studien zeigen, dass bei einer PTBS die P50 auf dem zweiten Stimulus im Paar weniger stark reduziert ist (Karl et al., 2006b). Die Interpretation dieser Befunde ist noch unklar. Da bei PTBS-Pa­ tien­ten eine atypische P50 mit der allgemeinen psychopathologischen Symptombelastung korreliert ist, eine atypische P50 aber bei mehreren Störungen gefunden wurde, ist es fraglich, ob die P50 tatsächlich mit PTBS-spezifischen Symptomen in Zusammenhang steht (Metzger et al., 2002). Ein weiteres EKP ist die P200. Wie der Name schon andeutet, bezieht sich die P200 auf eine positive Amplitude, welche etwa 200 ms nach der Reizdarbietung auftritt. Typischerweise werden in Studien mit PTBSPatienten intensiver werdende Reize dargeboten. Eine Veränderung der P200-Amplitude wird mit einem Tuning der sensorischen Reizverarbeitung in Zusammenhang gebracht (Karl et al., 2006b). Bei einer Steigerung der P200-Amplitude wird dies als Hinweis auf eine verstärkte Reizverarbeitung verstanden, bei einer Reduzierung der P200-Amplitude scheint die Reizverarbeitung gehemmt. Die Ergebnisse bezüglich des Zusammenhangs zwischen PTBS und P200 sind heterogen. Die P200-Amplitude nimmt bei Patienten oder Kontrollprobanden ohne PTBS mit zunehmender Reizintensität zu. Karl und Kollegen (2006b) berichten in einer MetaAnalyse, dass Männer mit einer PTBS eine reduzierte P200-Amplitude zeigen, verglichen mit anderen Patientengruppen und Kontrollprobanden ohne PTBS. In diesen Studien wird die reduzierte P200-Amplitude als ein Verarbeitungsweg interpretiert, der Schutz vor einer Reizüberflutung bietet. An-

dere Studien zeigen hingegen, dass Männer und Frauen mit einer PTBS eine Erhöhung der P200-Amplitude aufweisen können. Die letztere Gruppe von Studien ist sehr heterogen und deren Ergebnisse sind schwierig zu interpretieren (Karl et al., 2006b). Als drittes Potential unter den mit der PTBS in Zusammenhang gebrachten EKPs ist die P300 zu nennen. In den meisten Studien wird P3 oder »Oddball-P3« synonym für P300 verwendet: In diesen Studien wird eine Reihe von gleichartigen Reizen präsentiert, unter die seltene Reize (10 – 20 % Auftretenswahrscheinlichkeit) gemischt werden. Meistens lautet die Instruktion, auf diese seltenen Reize zu reagieren (z. B. mit dem Drücken eines Knopfes). In einer anderen Version des Paradigmas werden seltene Distraktoren angeboten. Die P300 auf Zielreize wird auch P3b genannt, die P300 auf Distraktoren heißt auch P3a und wird im Gegensatz zur parietalen P3b hauptsächlich auf frontozentralen Elektroden registriert. Bei von einer PTBS Betroffenen werden häufig eine reduzierte P300-Amplitude und eine verzögerte P300-Latenz gefunden (Felmingham et al., 2002). Diese Befunde sind auf der P3a und der P3b zu beobachten, wenn Zielreiz und Distraktoren neutrale Valenz aufweisen. Wenn aber die Distraktoren traumabezogen sind und die Zielreize neu­ tral, dann wird bei PTBS-Patienten eher eine größere P3b und P3a gefunden. Die Studien deuten darauf hin, dass ein traumabezogener Kontext nicht nur die spezifische Reizverarbeitung traumarelevanter Stimuli, sondern auch die nicht-traumabezogene Reizverarbeitung verändert. Während eine redu­ zierte P300-Amplitude und eine verzögerte Latenz auf eine allgemeine Ineffizienz in der Informationsverarbeitung oder auf eine geringere Fähigkeit hindeuten, relevante Reize

A 5  Funktionelle Neuroanatomie 79

von irrelevante Reize zu unterschieden, kann eine erhöhte P300-Amplitude im Kontext traumabezogener Reize als eine allgemein erhöhte Aufmerksamkeit interpretiert werden, welche durch den Kontext ausgelöst werden kann (Karl et al., 2006b). Diese Aussagen wurden auch in neueren Berichten ähnlich dargestellt (Ja­ van­ bakht et al., 2011). Neuere Studien erwähnen auch die mögliche Bedeutung von veränderten Fluktuationen im EEG Spektrum, insbesondere im Alpha-Band (8 – 12 Hz), die mit einer PTBS-Symptomatik in Verbindung stehen (Lobo et al., 2015). Die Ergebnisse aus Spektralanalysen des EEG sind bisher noch dürftig, aber es können sich in der Zukunft interessante Erkenntnisse ergeben, da die Kohärenz und Stärke von Fluktuationen im EEG-Spektrum relevanter für das Verständnis der neurobiologischen Mechanismen und zugrunde liegenden Netzwerkaktivität sind als die auf die Informationsverarbeitung fokussierten EKP-Studien. Zusammenfassend zeigen diese Studien, dass Patienten mit einer PTBS eine veränderte Reizverarbeitung haben, vor allem dann, wenn der Kontext traumabezogen ist. Auf der einen Seite werden bestimmte irrelevante Reize nicht gut ausgefiltert, mög­ licher­weise weil die Unterscheidungsfähigkeit bei PTBS-Patienten beeinträchtigt ist, während auf der anderen Seite bestimmte Reize verstärkt wahrgenommen werden, vor allem dann, wenn sie in einem Kontext präsentiert werden, welcher mit dem Trauma in Zusammenhang steht. Die neuralen Generatoren dieser verschiedenen EKPs sind vermutlich in verschiedenen Hirngebieten zu suchen. Sowohl für die P50, die P200 als auch die P300 wurde ein breites Netzwerk an Hirnarealen gefunden, in denen diese Potentiale generiert werden kön-

80 Klaver 

nen. Daher ist es schwierig, die Elektrophysiologie direkt an Hirnstrukturen zu koppeln. Es gibt nur sehr wenige Studien, bei denen ein direkter Zusammenhang zwischen elektrophysiologischen Korrelaten und hirnanatomischen Befunden hergestellt werden konnte. Eine Ausnahme ist hier eine Studie von Araki und Kollegen (2005). Sie haben Patienten in Japan untersucht, die Opfer von traumatischen Erlebnissen beim Terroranschlag auf die Tokyoter U-Bahn (1995) wurden. Araki et al. haben gezeigt, dass die Patienten, welche eine PTBS entwickelten, zum einen niedrigere P300 aufweisen und zum anderen das anteriore Cingulum ein geringeres Volumen hat und dass ein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß, in dem der eine, und dem Ausmaß, in dem der andere Faktor auftritt, besteht.

5.4  Risikofaktoren, Folgestörungen und Therapie In der Regel werden psychosoziale Faktoren und eine traumabezogene Biografie als Risikofaktoren beschrieben (siehe in diesem Buch Kap. A3: Psychologische Theorien). Psychophysiologische Merkmale oder anatomische Charakteristika sind bisher nur wenig untersucht und als Prädiktor in Modellen erfasst worden. Dennoch hat die obige Beschreibung der bildgebenden Studien nahegelegt, dass eine neurobiologische Vulnerabilität auch als Risikofaktor für eine PTBS betrachtet werden kann. Vor allem wird in diesem Zusammenhang ein kleinerer Hippokampus als möglicher Risikofaktor diskutiert (Gilbertson et al., 2002), und im Rahmen des biphasischen Modells des Stress (McEwen, 2001) könnten auch frühkindliche belastende Ereignisse die Vulnerabilität des Hippokampus erhöhen, da sich

dieser im Alter zwischen 3 und 6 Jahren stark entwickelt (Schalinski et al., 2016). Es gibt aber auch Hinweise, dass kleinere Hippokampi nicht automatisch mit einer PTBS assoziiert sind. Zum Beispiel wurden kleinere Hippokampi und eine verkleinerte Amygdala auch bei anderen psychischen Störungen gefunden, die im Zusammenhang mit Missbrauch auftreten, etwa bei Erwachsenen, die bei einer Vergangenheit mit frühkindlichem Missbrauch unter dissoziativer Identitätsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung oder Depression litten (Schmahl et al., 2004; Vermetten et al., 2006; Vythilingam et al., 2002). Auch haben traumatisierte Kinder mit einer PTBS selten kleinere Hippokampi, während aber bei Erwachsenen, die eine traumatisierende Erfahrung entweder in der Kindheit oder im Erwach­se­nen­ alter hatten, oft eine Verminderung des Hippokampusvolumens gefunden wurde. Stattdessen wurde bei Kindern gefunden, dass globale anatomische Parameter – wie z. B. frontale graue und weiße Substanz – geringere Volumina aufwiesen. Erklärungsmodelle wie das von McEwen (2001, 2004), welches eine biphasisches Modell von akutem und chronischem Stress nahe­legt, können diese hirnanatomischen Veränderungen nur teilweise erklären. Auch wurde in diesem Kontext ein Unterschied zwischen den Geschlechtern gefunden, dass nämlich Jungen in Bezug auf neuroanatomische Veränderungen vulnerabler waren als Mädchen (De Bellis & Keshavan, 2003; De Bellis et al., 2002). Dieser Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen und zwischen den Geschlechtern kann damit zusammenhängen, dass sich das Gehirn in der Kindheit und Adoleszenz besonders in den frontalen Hirngebieten stark entwickelt (Fair et al., 2008; Giedd et al., 1999).

Die Frage, ob spezifische Symptome mit anatomisch vulnerablen Hirnarealen zu tun haben, ist ebenso ungeklärt. So könnte man meinen, dass der Hippokampus und die Amygdala eher mit Intrusion und Angst­ störungen zu tun haben (Hara et al., 2008), während ein vulnerables anteriores Cingulum möglicherweise mit einer dysfunktionalen kognitiven Kontrolle von sich aufdrängenden affektiven Gedanken in Zusammenhang steht. Brewin und Kollegen legen nahe, dass die Kopplung und Wechselwirkung zwischen dem limbischen System und der sensorischen Wahrnehmung bzw. exekutive Funktionen bei der PTBS gestört sein dürften. Dieses Modell erklärt nicht nur, dass affektive (traumabezogene) Reize nicht im richtigen Kontext gesehen werden, sondern auch, dass spontane autobiografische Erinnerungen nicht gut kontrolliert werden können (Brewin et al., 2010). Gute neurobiologische Modelle, welche Symptome der Vermeidung und des Hyperarousal (oder exzessiver Wachsamkeit) erklären, lassen noch auf sich warten. Dennoch darf man vermuten, dass eine verminderte Aktivität des dorsolateralen präfrontalen Kortex und des anterioren Cingulums vermutlich eine wichtige Rolle in den Modellen spielen wird und das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Netzwerken, wie dem DMN, dem Salienznetzwerk und dem Aufmerksamkeitsnetzwerk, in diesem Kontext an Bedeutung gewinnen werden. Die Frage schließlich, ob PTBS-Symptome und neuroanatomische Veränderungen durch eine Intervention rückgängig gemacht werden können, kann zum Teil positiv beantwortet werden. Relativ erfolgreich sind medikamentöse Interventionen mit Anti­ depressiva. Diese Therapien bauen auf der positiven Wirkung von Antidepressiva bei

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der Neurogenese im Hippokampus auf. In Tierstudien wurde gezeigt, dass der Sero­to­ nin-Wiederaufnahmehemmer Paroxetin eine Hippokampusatrophie rückgängig machen kann (Malberg et al., 2000). In mehreren Studien mit PTBS-Patienten wurde dieses Medikament eingesetzt, und es wurde berichtet, dass das Hippokampusvolumen nach der Behandlung ca. 5 % größer wurde. Die verbale Gedächtnisleistung verbesserte sich, während die Symptome Intrusion, Vermeidung und Arousal bei PTBS-Betroffenen geringer wurden (Vermetten et al., 2003). In einer ähnlichen Studie wurde auch festgestellt, dass sich die neuronale Aktivität durch eine Therapie mit Paroxetin verändert hat (Seedat et al., 2004). Es hat sich aber auch gezeigt, dass manche nicht-medikamentösen Behandlungen neurobiologische Mechanismen verändern. Studien über Therapien, welche den Abruf von traumatische Erinnerungen in Zusammenhang mit Augenbewegungen kombinieren (EMDR, »Eye Movement Desensitiza­tion and Reprocessing«), zeigen eine Normalisierung der Hirnaktivität im linken präfrontalen Kortex und im anterioren Cingulum (Levin et al., 1999; Ohtani et al., 2009). Auch die P3a-Reaktion auf traumabezogene Reize wurde nach einer EMDR-Behandlung verringert (Lamprecht et al., 2004). Schließlich konnte nach einer achtsamkeitsbasierten Expositionstherapie auch eine Erhöhung der Konnektivität zwischen dem dorsolateralen präfrontalen Kortex und dem anterioren und posterioren Cingulum festgestellt werden, die mit einer Reduzierung der PTBS-Symptome in Verbindung stand (King et al., 2016). Die Assoziation zwischen eine Symptomreduzierung und einer Verbesserung der Konnektivität bezog sich auf Vermeidung und Hyperarousal und nicht auf

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Intrusionen. Somit kann diese nicht im Kontext des Modells von Brewin und Kollegen (2010) interpretiert werden. Dieses Modell sagt eine Verbesserung der Kontrolle über Gedächtnisinhalte mit der Verstärkung des VAM-Netzwerkes vorher. Es lässt sich vermuten, dass der dorsolaterale präfrontale Kortex keine direkte Verbindung zum VAM hat und dass PTBS-Symptome der Vermeidung und des Hyperarousal durch ein oder mehrere andere dysfunktionale Netzwerke erklärt werden müssen, wie z. B. in der Interaktion mit dem Salienznetzwerk oder Netzwerken der Emotionsregulation (King et al., 2016). Eine Studie, in der der Effekt einer Psychotherapie auf das Hippokampusvolumen getestet wurde, zeigte keine signifikanten Unterschiede bei PTBS-Patienten vor und nach der Behandlung (Lindauer et al., 2005), während eine andere Studie zeigte, dass ein größeres Hippokampusvolumen vor der Behandlung eine höhere Wahrscheinlichkeit eines Behandlungserfolgs vorhersagte, was die These einer protektiven Eigenschaft eines größeren Hippokampusvolumens stützt (Rubin et al., 2016). Ähnliche Befunde wurden auch in einer neueren Meta-Analyse aufgeführt, die besagt, dass eine erhöhte Aktivität in der Amygdala und eine reduzierte Aktivität im anterioren Cingulum vor der Behandlung prädiktiv für einen Behandlungserfolg sind und dass ein Behandlungserfolg auch mit eine Erhöhung der Aktivität im Hippokampus, im dorsolateralen präfrontalen Kortex und dem anterioren Cingulum und einer Reduktion der Aktivität in Amygdala und Insula einhergeht (Malejko et al. 2017). Zusammenfassend gesagt, können bisherige Studien kein komplett einheitliches Bild in der Frage bieten, ob neurobiologi-

sche Veränderungen eine Folge oder ein Risikofaktor für das Entstehen einer PTBS sind. Verbesserte Tiermodelle liefern aber bedeutende Erklärungsansätze. Die verstärkte Anwendung von integrativen bildgebenden Verfahren sowie auch die ersten Hinweise darauf, dass neurobiologische Veränderungen rückgängig zu machen sind, lassen hoffen, dass in der Zukunft neurobiologische Mechanismen der PTBS besser verstanden werden und wirkungsvollere Methoden gefunden werden, um Folgen von traumatischen Erfahrungen zu verringern.

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ANDREAS MAERCKER, LAURA PIELMAIER UND SILKE BIRGITTA GAHLEITNER

6.  Risikofaktoren, Resilienz und posttraumatische Reifung

Durch die Betonung eines ätiologischen Moments als notwendiges Störungskriterium nimmt die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) eine Sonderstellung unter den psychischen Störungen ein. Dass jedoch eine traumatische Erfahrung keineswegs eine hinreichende Bedingung für die Störungsentwicklung darstellt, wird nicht zuletzt durch die in vielen epidemiologischen Studien bestätigte Tatsache deutlich, dass die meisten Personen nach einem Trauma keine PTBS entwickeln (Brewin et al., 2000; Steinert et al., 2015). Vielmehr ist vom Zusammenwirken einer Reihe biopsychosozialer und kultureller Faktoren auszugehen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten (prä-, periund posttraumatisch) und mit unterschied­ licher Dauer einwirken und von denen es abhängt, ob das Störungsbild ausgebildet bzw. aufrechterhalten wird. Dabei können bestimmte Einflüsse das Risiko für die PTBS erhöhen (Risikofaktor), während andere trotz Exposition mit extrem aversiven Bedingungen protektiv wirken (Schutzfaktor). Als Resilienz bezeichnet man allgemein die Widerstandskraft gegenüber Belastungen, d. h. die Fähigkeit, dem Schädigungspotential diverser biopsychosozialer Risikokonstellationen zu widerstehen bzw. diese

unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu überwinden und als Anlass für Entwicklung zu nutzen (Welter-Enderlin & Hildenbrand, 2006). Mit diesem Begriff wurde zunächst in der Ent­ wicklungspsychopathologie untersucht, unter welchen Bedingungen trotz aversiver Lebensumstände eine unbeschadete, gesunde Entwicklung erfolgen kann (u. a. Werner, 2000). Der frühere Fokus auf genetische und angeborene Eigenschaften oder einmal erlernte Fähigkeit hat sich inzwischen in ein dynamisches und flexibles Verständnis von Resilienz gewandelt, eine »dynamischen Fähigkeit, die sich im Lebenslauf verstärken oder abbauen und in verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich stark aus­ geprägt sein kann« (Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2011, S. 719). Fingerle (2011, S. 213) spricht von »Bewältigungskapital«. Auch Southwick und Kollegen positionieren das Konzept 2014 als Kontinuum und »de­ fined differently in the context of individuals, families, organizations, societies, and cultures« (S. 1). Bei Aufkommen der PTBS als neues Störungskonzept Anfang der 1970er Jahre spielte zunächst auch der salutogenetische Ansatz von Antonovsky (1987) eine wichtige

A 6  Risikofaktoren, Resilienz und posttraumatische Reifung 87

Rolle. In der Folgezeit wurde dieser jedoch zugunsten einer eher störungsspezifischen Perspektive zunächst in den Hintergrund gedrängt. Im Zuge einer allgemeinen Per­ spektiv­ände­rung im Bereich der Psychopathologie – weg von einer rein defizitorientierten, hin zu einer verstärkt kompetenzund ressourcenfokussierenden Orientierung – werden in neuerer Zeit auch in Bezug auf Traumafolgen positive Veränderungen im Sinne psychischer Reifung in den Blickpunkt gerückt – darauf nimmt seit einigen Jahren der Begriff der posttraumatischen Reifung Bezug. Im Folgenden werden zunächst einige methodisch hochwertige Studien vorgestellt, die die Befunde zu Einflussfaktoren der PTBS metaanalytisch auswerteten. Anschließend wird das multifaktorielle Rahmenmodell der PTBS mit seiner Unterscheidung zwischen dem Trauma vorausgehenden (prätraumatischen), gleichzeitigen (peri­trau­ matischen) und nachfolgenden (posttraumatischen) Faktoren (Maercker, 2013) erläutert, das weitere Befunde integriert. Abschließend soll das Konzept der posttraumatischen Reifung im Mittelpunkt stehen.

6.1  Risiko- und Schutzfaktoren der PTBS 6.1.1  Vorbemerkung zur Forschungsmethodik Um Faktoren zu identifizieren, die das Auftreten der Symptomatik bzw. die Chronifizierung der PTBS bedingen oder verhindern, bedarf es aufwendiger prospektiver Längsschnittstudien. Für Aussagen über ätiologisch relevante prätraumatische Bedingungen wäre sogar ein Studienbeginn vor Eintritt des Traumas erforderlich. Derartige Daten liegen jedoch nur für sehr wenige

88 Maercker, Pielmaier und Gahleitner

Merkmale und für eng umgrenzte Traumapopulationen vor (z. B. Feuerwehrleute oder Militär). Die meisten Studien sind dagegen Querschnittstudien mit retrospektiver Erfassung potentieller Einflussfaktoren der PTBS. Die Ergebnisse können daher möglicherweise verzerrt sein, was u. a. durch störungsbedingte kognitive Veränderungen bewirkt sein kann. Auch ist es meist nicht möglich, zwischen Risiko- und Schutzfaktoren zu unterscheiden bzw. deren komplexes biopsychosoziales Zusammenwirken (Überblick bei Gahleitner et al., 2013) nachzuvollziehen. Das Fehlen eines risikoerhöhenden Einflusses kann schützend sein, muss es aber nicht. Ein Beispiel hierfür ist der Einfluss sozialer Unterstützung. Negative Interaktionen scheinen viel stärker positiv mit der PTB-Symptomatik verknüpft zu sein, als unterstützende Interaktionen negativ assoziiert sind (Guay et al., 2006). Nichtsdestotrotz steht inzwischen fest, »that the empirical study of this construct needs to be approached from a multiple level of analysis perspective that includes genetic, epigenetic, developmental, demographic, cultural, economic, and social variables« (Southwick et al., 2014, S. 1).

6.1.2  Risikofaktoren der PTBS – Ergebnisse aus Metaanalysen Brewin und Kollegen (2000) fassen mit ihrer Metaanalyse 77 Studien zu Risikofaktoren der PTBS zusammen. Es wurden für 14 potentielle Risikofaktoren, zu denen mindestens vier Studien vorlagen, Effektstärken berechnet (vgl. Tab. 1). Sämtliche Variablen zeigten einen hochsignifikanten Zusammenhang mit der PTB-Symptomatik, wenn auch meist mit kleinen Effekten. Die stärksten Assoziationen wurden festgestellt für:

Tab. 1:  Ergebnisse der Metaanalysen von Brewin et al. (2000) und Ozer et al. (2003) zu Risikofaktoren der PTBS Metaanalyse von Brewin et al. (2000) Risikofaktor

Anzahl Studien

Stichprobengröße

Range der Effektstärke r

Gewichtetes mittleres r

Frühere Traumata

14

 5147

-.05 – .36

.12

Frühere psych. Auffälligkeiten

22

 7307

  .00 – .29

.11

Kindesmissbrauch

 9

 1746

  .07 – .30

.14

Andere negative Kindheitserfahrungen

14

 6969

  .09 – .60

.19

Psych. Auffälligkeiten in der Familie

11

 4792

  .07 – .28

.13

Traumaintensität

49

13653

-.14 – .76

.23

Mangel an sozialer Unterstützung

11

 3276

-.02 – .54

.40

Lebensbelastung

 8

 2804

  .26 – .54

.32

Weibliches Geschlecht

25

11261

-.04 – .31

.13

Geringes Alter

29

 7207

-.38 – .28

.06

Niedriger sozioökonom. Status

18

 5957

  .01 – .38

.14

Geringe Bildung

29

11047

-.11 – .37

.10

Geringe Intelligenz

 6

 1149

  .08 – .38

.18

Ethnische Minderheit

22

 8165

-.27 – .39

.05

Risikofaktor

Anzahl Studien

Stichprobengröße

Range der Effektstärke r

Gewichtetes mittleres r

Frühere Traumata

23

5308

  .00 – .46

 .17

Frühere Anpassungsleistung

23

6797

-.13 – .47

 .17

Psych. Auffälligkeiten in der Familie

 9

 667

-.06 – .43

 .17

Wahrgenommene Lebensbedrohung

12

3524

  .13 – .49

 .26

Peritraumatische Emotionen

 5

1755

  .15 – .55

 .26

Peritraumatische Dissoziation

16

3534

  .14 – .94

 .35

Wahrgenommene Unterstützung

11

3537

-.57 – .07

-.28

Metaanalyse von Ozer et al. (2003)

nn Mangel an sozialer Unterstützung, nn belastende Lebensbedingungen nach

dem Trauma, nn Traumaintensität. Für einige Faktoren variierten die Effektstärken stark zwischen den Studien, wobei die vergleichsweise geringen Effektstärken für frühere psychische Auffälligkeiten, Missbrauch in der Kindheit und familiäre Vorbelastung durch psychische Störungen am ho-

mogensten waren. Sehr starke Variabilität zeigte sich zwischen Studien mit Stichproben aus dem Militär im Vergleich zu Stichproben nach zivilen Traumata. Die Metaanalyse von Ozer, Best, Lipsey und Weiss (2003) betrachtet sieben verschiedene Risikofaktoren der PTBS aus insgesamt 68 Studien. Auf die Untersuchung demografischer Merkmale wurde verzichtet. Auch bei dieser Metaanalyse zeigten sich für alle betrachteten Faktoren signifikante

A 6  Risikofaktoren, Resilienz und posttraumatische Reifung 89

Assoziationen mit der PTB-Symptomatik, am stärksten ausgeprägt für peritraumatische Dissoziation, gefolgt von wahrgenommener Unterstützung. Prätraumatische Faktoren zeigten geringere Effektstärken, die jedoch weniger stark zwischen den Studien variierten. Auch diese Metaanalyse stellte gewisse Unterschiede der Zusammenhangsstärken in Abhängigkeit vom Untersuchungsdesign fest. In einer systematischen Überblicksstudie von Steinert, Hofmann, Leichsenring und Kruse (2015) wurden die Risikofaktoren für den Verlauf untersucht. Am häufigsten bestätigte sich die Bedeutung sozialer Faktoren (acht Studien) sowie komorbider psychischer Störungen bzw. einer psychiatrischen Vorgeschichte (sechs Studien). Für das PTBS-Kernsymptom der Intrusionen zu allen Arten schwer belastender Lebensereignisse wurde ein umfassender systematischer Überblick von 106 Studien erstellt (Marks et al., 2018). Dieser fand für die sog. Prä-event-Faktoren wie kognitiv-emotionale Grundeinstellungen (engl.: appraisals) kleine bis mittlere statistische Effekte. Für Peri-event-Faktoren wie die frühere Dissoziationsneigung wurden keine oder sehr kleine Effekte gefunden, für Postevent-Faktoren wie eine katastrophisierende Interpretation des traumatischen Erlebnisses mittlere bis hohe Effekte. Damit zeichnen diese sorgfältigen Analysen ein recht übereinstimmendes Bild: Präund peritraumatische Faktoren sind im Vergleich zu posttraumatischen Faktoren die weniger bedeutsamen Risikofaktoren. Der Fokus der weiteren Suche bzw. Beschreibung von Risikofaktoren und der Resilienzentwicklung muss sich daher insbesondere auf die den traumatischen Erlebnissen kurzoder längerfristig nachfolgenden Faktoren

90 Maercker, Pielmaier und Gahleitner

richten – zu denen im weiteren Sinn auch die posttraumatische Reifung (siehe unten) gehört. Im Folgenden werden die methodisch gut abgesicherten Faktoren aller Zeiträume sowie weitere als evident erscheinende Faktoren in ein multifaktorielles Rahmenmodell der PTBS integriert.

6.2  Multifaktorielles Rahmenmodell der PTBS Abbildung 1 teilt die beschriebenen und weitere Risiko- bzw. Schutzfaktoren der PTBS entsprechend dem Zeitpunkt ihres Auftretens in prä-, peri- und posttraumatische Faktoren ein (Maercker, 2013). Die beiden im Modell dargestellten Ebenen der individuell-biografischen sowie der soziokulturellen Faktoren bzw. Kontexte haben sich als weitere fruchtbare Unterscheidung in der Betrachtung des biopsychosozialen Zusammenwirkens herausgestellt. Beispielsweise variiert schon die Häufigkeit des Auftretens traumatischer Erlebnisse in Abhängigkeit vom jeweiligen Kulturraum, und individuelle Verarbeitungsstile werden durch den jeweiligen soziokulturellen Kontext mitbestimmt.

6.2.1  Prätraumatische Faktoren Weibliches Geschlecht Aus epidemiologischen Studien ist bekannt, dass Frauen im Vergleich zu Männern etwa doppelt so häufig eine PTBS entwickeln (vgl. Metaanalyse von Tolin & Foa, 2006). Verschiedene Erklärungen für diesen ausgeprägten Geschlechtereffekt werden diskutiert, möglich ist etwa eine Konfundierung mit der Traumaexposition, denn die Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Traumata variieren stark – Frauen sind zwar ins-

Prätraumatisch:

Risiko-/Schutzfaktoren

Individuell-biografische Faktoren Weibliches Geschlecht Jüngeres Alter Persönlichkeit (Koheränzsinn) Psychische Gesundheit Geringere Intelligenz/Bildung Niedriger ökonom. Status Psychopathologie in Familie Frühere Traumatisierung Negative Erfahrungen in Kindheit (z. B. Missbrauch)

Peritraumatisch:

Posttraumatisch:

Objektive Ereignisfaktoren

Weitere belastende Ereignisse

Ereignisfaktoren

Aufrechterhaltungsfaktoren

Traumadauer Verletzungsschwere Traumaart

Mögliche Resultate Veränderungen emotional kognitiv behavioral neuro-biologisch

Subjektive Ereignisfaktoren

Posttraumatische Reifung Psychosoziale Folgen

Partnerschaft, Familie Ausbildung, Beruf

Traumafolgestörungen PTBS Entwicklungstraumastörung Angst-, affektive Störungen Dissoziative Störung u. a.

Dissoziation Interpretation Todesangst

Sozial-interaktive Faktoren Soziale Unterstützung Gesellschaftliche Wertschätzung Offenlegung der Erfahrung

Soziokultureller Kontext

Abb. 1 :  Rahmenmodell zu Risiko- und Schutzfaktoren der PTBS

gesamt seltener traumatischen Erfahrungen ausgesetzt, dafür aber vermehrt den stark pathogenen Traumaarten wie sexueller Missbrauch und Vergewaltigung. Darüber hinaus bleibt das Risiko, PTBS-Symptome zu entwickeln, für Frauen selbst nach Kon­ trolle der Traumaart doppelt so hoch, und diese sind stärker ausgeprägt und bleiben länger bestehen. Als weitere mögliche Erklärungen kommen geringeres Alter bei der Traumatisierung, stärkere Wahrnehmung von Bedrohung und Kontrollverlust, stär­kere peri­ traumatische Dissoziation, mangelhafte soziale Unterstützungsressourcen, verstärkter Missbrauch von Alkohol als Bewältigungsstrategie, geschlechtsspezifische akute psychobiologische Reaktion in Frage. Zudem muss berücksichtigt werden, dass Trauma­ phänomene »vergeschlechtlicht« wahrgenommen werden (Bange, 2000). Einige neuere Studien mit Kriegs­veteranen legen die

Vermutung nahe, dass sich bei sehr extremen Traumatisierungen kaum noch ein Geschlechter­ effekt zeigt (Nemeroff et al., 2006). In qualitativen Prozessstudien zeigt sich überdies, dass es zu verschiedenen Zeiten im Bewältigungsverlauf traumatischer Belastungen zu großen Unterschieden, aber auch Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern kommen kann, die sich in querschnittlichen Untersuchungen nicht auffinden lassen (Gahleitner, 2005; Kimerling et al., 2002).

Alter Die Metaanalyse von Brewin und Kollegen (2000) konnte für das Alter bei der Traumatisierung eine nur geringe, aber dennoch signifikante Effektstärke von .06 finden. Demnach besteht mit geringerem Alter ein erhöhtes Risiko, nach einer traumatischen Erfahrung eine PTBS zu entwickeln. Maer-

A 6  Risikofaktoren, Resilienz und posttraumatische Reifung 91

cker (1999) fand zudem einen weiteren Anstieg des relativen Risikos im höheren Alter. Dies legt die Vermutung einer U-förmigen Beziehung zwischen Alter und PTBS nahe.

Intelligenz Die wenigen Untersuchungen, die eine geringere Intelligenz als Risikofaktor identifizierten, stammen aus Militärstichproben, bei denen vor Kriegseinsätzen und damit vor potentiell traumatischen Erfahrungen zu Rekrutierungszwecken Testungen durchgeführt wurden. Neuerdings bemühen sich Kognitionsforscher, genauer zu spezifizieren, welche Aspekte der Intelligenz zu einer erhöhten Vulnerabilität führen. Dabei wird verstärkt der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses eine große Rolle zugeschrieben, meist operationalisiert als die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Aufgaben zu verteilen sowie »hin- und herpendeln« zu lassen und dabei ungewollte Inhalte zu unterdrücken.

Frühere Psychopathologie und Traumatisierungen Eine Vorgeschichte mit Traumaerfahrung oder chronischem Stress gilt als unspezifischer Risikofaktor für affektive und Angststörungen im Allgemeinen. Insbesondere wenn derartige Erfahrungen in frühen Lebensjahren stattfanden, werden vulne­rabi­ lisierende Auffälligkeiten in den für die Stressbewältigung relevanten neurobiologischen Systemen beobachtet (vgl. Kap. A5 von P. Klaver in diesem Band). In Bezug auf prätraumatische Risikofaktoren ist festzuhalten, dass von einer Überlappung der Einflüsse untereinander und mit weiteren biologischen Faktoren auszugehen ist. Dass eine familiäre Vorbelastung durch psychiatrische Auffälligkeiten einen

92 Maercker, Pielmaier und Gahleitner

Risikofaktor darstellt, kann z. B. teilweise über genetische Vorgänge vermittelt sein, etwa weil eine gewisse neurobiologische Vulnerabilität bereits vor dem Trauma bestand. Andererseits ist auch denkbar, dass sich psychische Erkrankungen bei einem oder beiden Elternteilen negativ auf den sozioökonomischen Status und erreichbaren Bildungsstand und die psychosoziale Entwicklung auswirken sowie einen Risikofaktor für aversive Erfahrungen in der Kindheit darstellen.

Chancenstruktur und soziokulturelle Einflüsse Die Bedingungen des Aufwachsens haben sich verändert. Die Anforderungen und Erwartungen an Kinder und Jugendliche bei gleichzeitiger Enttraditionalisierung, Säkularisierung und Leistungsverdichtung (Beck, 1986) bergen eine Reihe von Risiken und haben einen zunehmenden Verlust kultureller Einbettung und sozialer Einbindung zur Folge (Keupp, 2012). Wer mit einer guten Ressourcenausstattung die rasant wechselnden Lebensumstände und Lebenskon­ stellationen beim Aufwachsen flexibel nutzen kann, sieht sich einem attraktiven Angebot an Lebensgestaltungsmöglichkeiten gegenüber. »Über Bewältigungskapital zu verfügen bedeutet, Ressourcen zu identifizieren, zu nutzen und über sie zu reflek­ tieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Potential von Problemen und Krisen weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen« (Fingerle, 2011, S. 213; vgl. auch Rönnau-Böse & FröhlichGildhoff, 2015). In der Gruppe benachteiligter Kinder und Jugendlicher jedoch verdichten sich mul­tiple sozioökonomische Problemlagen, die Akkumulation biologischer und sozialer Risikofaktoren und ein Mangel an Ressourcen und

Bewältigungsmöglichkeiten zu einem hochgradigen Entwicklungsrisiko. »Die Wahrscheinlichkeit, psychische Auffälligkeiten zu entwickeln, wird […] in hohem Maße vom Sozialstatus und der Kumulation biologischer und sozialer Risikofaktoren moduliert« (Beck, 2012, S. 115). Das Ergebnis des beschriebenen Prozesses kommt in umfassenden nationalen und weltweiten Studien zum Ausdruck (u. a. Mielck, 2011; Wilkinson & Pickett, 2010). Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey KiGGS (Ravens-Sieberer et al., 2007) spricht in diesem Kontext von der sog. »neuen Morbidität«. Der Zusammenhang gilt auch umgekehrt, bekannt geworden durch die ACE-Studie: Kinder, die ein frühes Trauma erlitten haben, geraten ungleich häufiger in Armut, Arbeitslosigkeit, Mittellosigkeit, Krankheits­risiken, unzureichende oder unsichere Unterkunft bzw. Wohnungslosigkeit und soziale Gefährdung (Felitti, 2002; Bellis et al., 2014).

Schutzfaktoren Egle und Hardt (2005) stellen eine Übersicht zu individuell-biografischen Schutzfaktoren zusammen: Sind die psychische und körperliche Gesundheit allgemein gut, die Stress­ toleranz groß und bestehen adäquate Kon­ trollüberzeugungen und Selbstwirksamkeitserwartung, die garantieren, dass in Extremsituationen die Handlungsfähigkeit bewahrt bleibt, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass eine potentiell trauma­ tisierende Erfahrung ohne fortbestehende Symptome verarbeitet werden kann. Dies ist ebenso der Fall bei geringer psychosozialer Gesamtbelastung und dem Bestehen posi­tiver sozialer Kontakte, im Sinne einer dauerhaften Verfügbarkeit von verlässlichen Bezugspersonen, familiärer Stabilität und sicherem Bindungsverhalten.

Bei berufsbedingt vorhersehbarer, wiederholter Exposition mit Extremsituationen, wie u.  a. bei Rettungskräften, Feuerwehr und militärischem Personal, sind umfangreiche Berufserfahrung und Wissen in Bezug auf potentiell traumatische Situationen und mögliche Belastungsreaktionen von protektivem Wert.

Kohärenzgefühl Antonovsky (1987) beschreibt das Konstrukt des Kohärenzsinns als überdauerndes Persönlichkeitsmerkmal, das die Fähigkeit umfasst, belastende Ereignisse geistig einzuordnen, zu verstehen und als sinnhaft zu bewerten. Personen mit einem ausgeprägten Kohärenzsinn nehmen Situationen prinzipiell als handhabbar wahr und fühlen sich den jeweiligen Anforderungen gewachsen. Obwohl das Konzept theoretisch sehr sinnvoll erscheint und sich in autobiografischen Berichten von Traumaüberlebenden Hinweise auf derartige Persönlichkeitszüge finden, liegt zur Erfassung des Kohärenzsinns lediglich ein eher unvalides empirisches Messkonzept (Fragebogen) vor. Daher konnten bisher keine überzeugenden Belege für die protektive Wirkung des Kohärenzgefühls erbracht werden. Eine Fragebogenneuentwicklung wurde jüngst von Bachem und Maercker (2018) vorgelegt.

6.2.2  Peritraumatische Faktoren Während des Traumas auftretende Einflussfaktoren kann man in objektive und subjektive Ereignismerkmale einteilen. Ein sogenannter Dosiseffekt in Bezug auf Charakteristika des traumatischen Ereignisses wurde in vielen Studien bestätigt (Brewin et al., 2000). Demnach sind wiederholte und längerdauernde Ereignisse, Unfälle, die mit er-

A 6  Risikofaktoren, Resilienz und posttraumatische Reifung 93

heblichen physischen Verletzungen einhergehen, und Situationen, die von Menschen verursacht wurden und eine absichtliche Schädigung beinhalten, pathogener als einmalige, zufällige und weniger bedrohliche Ereignisse.

Subjektive Ereignismerkmale Subjektive Ereignismerkmale spielen eine mindestens ebenso große Rolle wie die genannten objektiven Faktoren. Die drei Emotionen intensive Furcht, Hilflosigkeit und Schrecken waren als sogenanntes subjek­ tives Traumakriterium Teil der Störungs­ definition der PTBS im DSM-IV, dem Klassifikationssystem psychischer Störungen der American Psychiatric Association. Des Weiteren sind während des Traumas erlebte Todesangst oder mentale Selbstaufgabe mit einer späteren PTB-Symptomatik assoziiert. Auch die subjektive Interpretation des Ereignisses und die zugeschriebene Bedeutung für das folgende Leben sowie dys­funktio­ nale Gedanken bezüglich initialer Reaktionen auf das Ereignis können unter subjektiven Charakteristika des Traumas subsumiert werden.

Dissoziation Dissoziatives Erleben ist durch Derealisa­ tion und/oder Depersonalisation gekennzeichnet. Einige Personen fühlen sich während eines traumatischen Ereignisses als Beobachter des Geschehens, als steckten sie nicht mehr im eigenen Körper oder wären betäubt. Häufig wird ein derartiges Erleben als Verteidigungsreaktion zur Abwehr der überwältigenden Belastung einer Situation beschrieben. Die längerfristige Adaptivität von peritraumatischer Dissoziation wird dagegen angezweifelt, denn in vielen Studien zeigte sich ein positiver Zusammenhang mit

94 Maercker, Pielmaier und Gahleitner

einer späteren PTB-Symptomatik (z. B. Breh & Seidler, 2007). Einen ausführlichen Überblick zum Zusammenhang zwischen PTBS und dissoziativen Phänomenen gibt Kapitel C3 von Frank Wagner.

6.2.3  Posttraumatische Faktoren Nach der Exposition gegenüber einem poten­tiell traumatisierenden Ereignis treten bei den meisten Personen anfänglich akute Belastungsreaktionen auf (siehe Kap. C3: Die Posttraumatische Belastungsstörung). Im günstigen Fall kommt es nachfolgend zu einer Wiederherstellung der prätraumatischen Gesundheit und zur Integration des Erlebten oder es entwickelt sich eine manifeste posttraumatische Belastungsreaktion. Posttraumatische Faktoren, die zur Gesundung oder aber zur Manifestation beitragen, werden allgemein auch als Aufrechterhaltungsfaktoren bezeichnet. Zum einen sind das Lebensereignisse, die eine zusätzliche Belastung für den Traumaüberlebenden bedeuten. Beispielsweise kann eine während des Traumas erworbene körperliche Behinderung dauerhaft zu Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung beruflicher und familiärer Rollenfunktionen führen. Eventuell darauf folgende Probleme am Arbeitsplatz und zu Hause werden zu chronischen Stressoren und behindern den Erholungsprozess oder verstärken die Belastungssymptomatik zusätzlich. Sichtbar wird dabei immer wieder: »In order to develop effective interventions to enhance resilience, it is critical to understand that humans are embedded in families, families in organizations and commu­ nities, and communities in societies and cultures« (Southwick et al., 2014, S. 12). Luthar (2006, S. 780) folgert daraus: »Resilience

rest fundamentally on relationship«. Fröhlich-Gildhoff und Rönnau-Böse (2017) sprechen von »kompensatorischen Beziehungen« (S. 64; vgl. auch bereits Keilson, 2005; vgl. auch Kap. G1 zu »Beziehungs- und Milieuarbeit in Traumapädagogik, Trauma­ beratung und Traumatherapie«). Wahrgenommene soziale Unterstützung erwies sich auch in den beiden Metaanalysen als einer der wichtigsten Prädiktoren für das Ausmaß an posttraumatischer Belastungssymptomatik. Bei der metaanalytischen Auswertung von Ozer und Kollegen (2003) wurde deutlich, dass sich dieser Zusammenhang mit zunehmender Zeit nach dem Trauma verändert. Das belegen auch neuere Längsschnittuntersuchungen, die zeigten, dass eine kurze Zeit nach dem Trauma wahrgenommene Unterstützung aus dem Umfeld protektiv gegenüber PTBS wirkt, während zu einem späteren Zeitpunkt eine chronifizierte Symptomatik zu einem Mangel an (wahrgenommener) so­zialer Unterstützung führen kann (z. B. Kaniasty & Norris, 2008). Das sozio-interpersonelle Modell der PTBS von Maercker und Horn (siehe ausführlich Kap. A3) stellt eine Reihe von zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Faktoren heraus, die ebenfalls zur Aufrechterhaltung der Symptomatik beitragen. In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass Personen, die sich nach einem traumatischen Ereignis weniger wertgeschätzt und anerkannt sowie von Familie, Freunden und dem weiteren sozialen Umfeld unverstanden fühlten, Schwierigkeiten mit der Bewältigung des Erlebten hatten. Ebenso hing der Erholungsprozess von der Art und Weise, über das Trauma zu sprechen, ab. Im Vergleich zum breiten Konzept der wahrgenommenen sozialen Unterstützung ermögli-

chen diese Konzepte – soziale Anerkennung als Traumaopfer und Offenlegen des Traumas – detailliertere Einblicke in zwischenmenschliche Prozesse, die sich nach dem Trauma vollziehen. Der soziokulturelle Kontext und die sich aus ihm ergebenden Risikofaktoren wurden in den letzten Jahren in steigendem Maße untersucht. Dabei wurde insbesondere den Werteorientierungen als Risiko- und Schutzfaktoren in mehreren Ländern und verschiedenen Betroffenengruppen (z. B. Soldaten im Auslandseinsatz) Aufmerksamkeit geschenkt. Aus der Menge vieler Einzelbefunde zeichnete sich ab, dass eine hohe Ausprägung in den Wertegruppen Bewahrung des Bestehenden und Selbststärkung wie ein (indirekter) Risikofaktor für eine PTBS wirkt und auf der anderen Seite die Wertegruppen Offenheit für Wandel und Selbstüberwindung als Schutzfaktoren wirken; allerdings können längerfristige Traumatisierungen dazu führen, dass die erstgenannten Wertegruppen auf Kosten der zweitgenannten ansteigen (Maercker et al., 2009, Zimmermann et al., 2015).

6.3  Posttraumatische Reifung Berichte von Überlebenden extremer Traumatisierung dokumentieren häufig neben negativen Auswirkungen auch subjektiv erlebte Wachstumsprozesse in Bezug auf ­ eine neue Sinnfindung, Identitätsentwicklung oder gar das Erlangen von »Weisheit«. Das Konzept der posttraumatischen Reifung hat im Gegensatz zum Resilienzbegriff einen direk­ ten Traumabezug; es wurde durch die klinische Beobachtung geprägt, dass manche Betroffene nach einer traumatischen Erfahrung von einer positiven Transformation berichten, im Sinne einer Umdeu-

A 6  Risikofaktoren, Resilienz und posttraumatische Reifung 95

tung des Erlebten sowie der Folgen und von darüber hinausgehenden psychischen Reifungsprozessen. Beiden Konzepten ist gemeinsam, dass im Zusammenhang mit Gesundheitsrisiken eine kompetenz- und ressourcenfokussierende Haltung eingenommen wird. In der Konzeptualisierung von Tedeschi und Calhoun, die den Begriff in die Psychotraumatologie einführten, wird die posttraumatische Reifung nicht als Epiphänomen, sondern als Resultat der Auseinandersetzung mit der traumatischen Erfahrung beschrieben (z. B. Calhoun & Tedeschi, 2006). Dieser Prozess geht über die Wiederherstellung des prätraumatischen Funktionsniveaus hinaus, denn die subjektiv erlebte Reifung des Traumaüberlebenden beinhaltet eine neue positive Selbst- und Weltsicht sowie ein Wachstum in verschiedenen Lebensbereichen: nn Intensivierung der Wertschätzung des Lebens, nn Intensivierung persönlicher Beziehungen, nn Bewusstwerden der eigenen Stärken, nn Entdecken neuer Möglichkeiten, nn Intensivierung eines spirituellen Bewusstseins. Diese Mehrdimensionalität bedingt auch die Sichtweise, dass zwischen einer Krisenfokussierung einerseits und einer Wachstumsorientierung andererseits nicht polarisiert werden sollte, vielmehr handelt es sich bei den psychopathologischen Folgen traumatischer Erfahrungen einerseits und der posttraumatischen Reifung andererseits um unabhängige Dimensionen, die nicht linear aufeinander bezogen werden können. Entwickelt ein Traumaüberlebender keine Traumafolgestörung, so bedeutet das nicht,

96 Maercker, Pielmaier und Gahleitner

dass sich subjektiv ein Gefühl der Reifung eingestellt haben muss. Polarisiert werden sollte hier auch deshalb nicht, weil Begrifflichkeiten wie posttraumatische Reifung sonst in der Gefahr sind, missbraucht zu werden. »Fehlende« Resilienz oder nicht sichtbares posttraumatisches Wachstum ist jedoch nicht als Defizit zu verstehen, wie das Konzept zuweilen missverstanden wird, sondern unterliegt dem Einfluss zahlreicher äußerer Bedingungen im gesamten Lebensverlauf (Gabriel, 2005; Opp & Fingerle, 2007), die sich in der Regel unserer vollständigen Einschätzung entziehen. Zwar beschreiben die meisten Autoren die posttraumatische Reifung als adaptiven Prozess, im Sinne einer gelungenen Anpassung und Integration des Erlebten, ein­deu­ tige empirische Belege für einen positiven Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit stehen jedoch noch aus. Zoellner und Maercker (2006) leiten aus der Forschungsliteratur ab, dass lediglich die wenigen bisher vorliegenden Längs­ schnitt­ stu­ dien Hinweise auf einen längerfristigen posi­tiven Gesundheitseffekt einer subjektiv erlebten posttraumatischen Reifung geben, während eine Vielzahl an querschnittlichen Untersuchungen keine Zusammenhänge mit der PTB-Symptomatik und Gesundheitsmaßen aufzeigen. Zur Erklärung dieser heterogenen Befundlage und klinischer Erfahrungen schlugen die Autoren ein Zweikomponentenmodell vor, das Janus­kopf­ modell posttraumatischer Reifung. Danach haben Aussagen zum subjektiven Wachstum nach einer Traumatisierung zwei Seiten, die unter Berücksichtigung zeitlicher Aspekte beide adaptiv sein können: nn positive psychische Anpassung im Sinne des ursprünglichen Konzepts posttraumatischer Reifung,

nn illusorische Komponente, bei der sich

eine posttraumatische Reifung als Wunschdenken zur Selbsttäuschung oder -beruhigung ausdrückt (»Es muss doch für etwas gut gewesen sein«). Die zweite Komponente scheint als palliative Bewältigungsstrategie unmittelbar nach dem traumatischen Ereignis hilfreich zu sein, um extreme emotionale Reaktionen zu ertragen, jedoch längerfristig als Form kognitiver Vermeidung die Auseinandersetzung mit dem Erlebten zu behindern. Zoellner und Maercker (2006) schlussfolgern, dass das Konstrukt zum jetzigen Zeitpunkt theoretisch nur unzureichend differenziert beschrieben ist und dass weitere Langzeitstudien notwendig sind, bei denen Wachstumsprozesse auch multimethodal erfasst werden, um die Funktionalität subjektiver posttraumatischer Reifung abschließend beurteilen zu können. Trotz dieser konzeptuellen Schwierigkeiten sollte in der klinischen Praxis eine offene und achtsame Haltung gegenüber möglichen Wachstumsprozessen eingenommen werden, ohne diese Prozesse zu forcieren. Neuere Beobachtungen und Forschungen haben zudem gezeigt, dass die individuelle posttraumatische Reifung eher ein Phänomen westlicher Gesellschaften mit stark individualisierten Lebensformen zu sein scheint. Im Gegensatz dazu ist in anderen Regionen der Welt eher die Gemeinschaft im Blick und nicht das Einzelindividuum, wenn es um das Wahrnehmen und Berichten möglicher positiver Veränderungen nach einer Traumatisierung geht. Meili und Maercker (2019) zeigen, dass es eine sehr große Anzahl von metaphorischen Ausdrücken gibt, die nicht nur wie »Reifung« und »Wachstum« individuelle Phänomene

beschreiben, sondern auch Metaphern, die das Familien- und das Gruppenwohl zum Inhalt haben (z. B. sich wiederaufrichtende Bambus-Haine).

6.4  Ausblick In den vergangenen Jahrzehnten haben zahlreiche Studien dazu beigetragen, Faktoren zu identifizieren, die das Risiko für eine PTBS nach einer Traumatisierung beeinflussen. Die Ergebnisse fanden ihren Niederschlag in der Ätiologie und Behandlung der PTBS. Dabei liefern prä- und peri­ traumatische Faktoren wertvolle Hinweise darauf, welche Personen möglicherweise verstärkt betroffen sein könnten, während insbesondere posttraumatische Faktoren direkte Ansatzpunkte für unterstützende und therapeutische Maßnahmen bei einer bereits aufgetretenen Symptomatik darstellen. Viele der berichteten Befunde sind jedoch nur vorläufig und bedürfen weiterer empirischer Untermauerung, denn sie beruhen auf querschnittlichen Untersuchungen mit eng umgrenzten Traumagruppen. Weiterhin sind daher prospektive Längsschnittuntersuchungen mit möglichst vielen Überlebenden unterschiedlicher Traumata und die Anwendung fortgeschrittener wissenschaftlicher Methoden erforderlich, um das komplexe Wirkungsgefüge aus einzelnen Schutz- und Risikofaktoren zu verstehen. Die aktuell verstärkte Beachtung resilienzbasierter Forschungsansätze ist besonders im Hinblick auf den Ausbau präventiver Interventionen sehr fruchtbar.

6.5  Literatur Antonovsky A. (1987). Unraveling the mystery of health. San Francisco: Jossey-Bass.

A 6  Risikofaktoren, Resilienz und posttraumatische Reifung 97

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HANS J. GRABE

7.  Genetische Aspekte der Posttraumatischen Belastungsstörung

7.1  Einleitung Das Erleben eines traumatischen Ereignisses konfrontiert Menschen per definitionem mit einer Situation, deren objektive Charakteristik ihre subjektiven Bewältigungsmöglichkeiten überschreitet und die bei ihnen mit einem intensiven Gefühl von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Entsetzen verbunden ist. Oftmals führen Traumata zu einer erheblichen Erschütterung des Selbst- und auch des Weltbildes und hinterlassen substanzielle Beeinträchtigungen, die die weitere Lebensgestaltung überschatten. Die Asso­ zia­tion zwischen dem Erleben eines Traumas und dem Auftreten einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist gut belegt, allerdings entwickeln nur 15 bis 50 % der Traumatisierten tatsächlich eine PTBS. Welche spezifischen Faktoren ein Individuum prädisponieren, nach einer Traumatisierung an einer PTBS zu erkranken, ist eine wesentliche, bisher noch nicht vollständig beantwortete Fragestellung. Möglicherweise können jüngste Forschungsansätze, die die genetische Prädisposition eines Individuums und deren Interaktion mit Umweltfaktoren untersuchen, einen detaillierten Aufschluss bezüglich die-

ser Problematik geben. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass bestimmte genetische Polymorphismen hierbei wahrscheinlich von erheblicher Relevanz sind, da diese in der Wechselwirkung mit Traumata das spezifische Erkrankungsrisiko eines Individuums moderieren. Insgesamt wird eine multifaktorielle Ätiopathogenese angenommen, bei der traumaspezifische Faktoren mit genetischen, biologischen und psychosozialen Faktoren interagieren (Abb. 1).

7.2  Genetik und Gen-UmweltInteraktion der PTBS Die biologische Vulnerabilität eines Individuums wird nicht nur durch die beschriebenen neuroendokrinen Prozesse und neurodegenerativen Veränderungen (siehe Kap. A4 in diesem Handbuch), sondern auch von genetischen Faktoren bestimmt, die einen erheblichen Anteil an der Varianz bei der Entstehung psychischer Erkrankungen erklären. Mit Hilfe von Familien-, Zwillingsund Adoptionsstudien konnte eine Beteiligung familiär-genetischer Faktoren bei der Entstehung einer PTBS nach einer Traumatisierung belegt werden. Vor allem die Zwillingsstudie von Stein et al. (2002) zeigte eine

A 7  Genetische Aspekte der Posttraumatischen Belastungsstörung 101

Stressor z. B. frühkindliche Traumatisierungen, adulte Stressoren

Gen

s/s; s/l

Gen x Umwelt

l/l

Risiko einer Erkrankung

z. B. soziale Unterstützung, Resilienz, Kohärenzsinn

Protektion Abb. 1 :  Modell der Gen-Umwelt-Interaktion

signifikant höher korrelierte Symptomausprägung der PTBS bei monozygoten im Vergleich zu dizygoten Zwillingspaaren, die gleichermaßen einer Traumatisierung ausgesetzt waren. Bislang ist es kaum gelungen direkte Geneffekte bei der Entstehung einer PTBS nachzuweisen. Dies ist nicht wirklich verwunderlich, denn gerade die PTBS stellt ja paradigmatisch eine Erkrankung dar, die ohne den einschneidenden Umweltfaktor gar nicht erst entstehen könnte. Von daher bieten sich hier Untersuchungen zur GenUmwelt-Interaktion zwingend an. Neuere Studien untersuchen gezielt die Wechselwirkung zwischen genetischer Prädisposition und Traumatisierungen, wobei sie die Hypothese verfolgen, dass das Risiko traumatisierter Personen für die Entwicklung einer PTBS in Abhängigkeit von spe­ziellen Genotypen signifikant variiert (Abb.  1). Hierbei zeigten sich Studien vor allem zu depressiven Störungen als Wegbereiter dieser Forschungsrichtung.

102 Grabe 

7.2.1  Promoterpolymorphismus des Serotonintransportergens (5-HTTLPR) Bei der Analyse von Gen-Umwelt-Inter­ak­ tio­nen bei depressiven Störungen konzen­ trierte man sich zu Beginn bevorzugt auf das serotonerge System. Einer der wesentlichen Indikatoren für die Bedeutung dieses Systems ist die Wirksamkeit der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) in der Pharmakotherapie depressiver Patienten, wobei die Wirkung der SSRI bei Angst­ erkrankungen einschließlich der PTBS ebenfalls gut belegt ist. Inzwischen ist es gelungen, Kandidatengene zu identifizieren, die über eine derartige Gen-Umwelt-Interaktion die Entstehung einer psychischen Beschwerdesymptomatik moderieren. Ein vielfach untersuchtes Kandidatengen für eine solche Gen-Umwelt-Interaktion ist das auf Chromosom 17q befindliche Serotonintransportergen (SLC6A4). Ein Polymorphismus in der Promoterregion

des Serotonintransportergens (5-HTTLPR) beeinflusst maßgeblich seine Transkrip­tions­ aktivität, was zu einer veränderten Funk­ tionalität des Serotoninsystems führt. Der 5 -HTTLPR-Polymorphismus besteht in einer durch Deletion verursachten Längen­varia­ tion von 44 Basenpaaren, so dass genotypisch zwischen zwei Allel-Varianten, einem s- bzw. short-Allel und einem l- bzw. longAllel, unterschieden werden kann. Erstmals wurde die Interaktion zwischen 5-HTTLPRPolymorphismus und Umweltbelastungen von Caspi et al. (2003) empirisch bestätigt, und auch in weiteren Untersuchungen konnte eine erhöhte depressive Symptombelastung durch diese Interaktion nachgewiesen werden (Grabe et al., 2005, 2011). In der Untersuchung einer Stichprobe aus der Allgemeinbevölkerung konnten Grabe et al. (2009) aus 3045 Probanden 1663 Probanden identifizieren, die im Rahmen eines strukturierten Interviews zur PTBS mindestens ein Trauma angegeben hatten. Diese 1663 Probanden wurden bezüglich des 5 -HTTLPR Locus vollständig charakterisiert. Interessanterweise zeigte sich schon ein direkter, risikoerhöhender Effekt des l‑Allels bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer PTBS. In der nachfolgenden Gen-Umwelt-Interaktionsanalyse konnte dies eindrucksvoll bestätigt werden. In Abbildung 2 ist das Maß zur Einschätzung des Risikos (Odds Ratio [OR]) der Probanden für das Vorliegen einer PTBS dargestellt. Die erste Säule zeigt Probanden ohne Risikogenotyp, jedoch mit einer Traumarate von > 3. Hier liegt die OR bei 2, was eine Verdopplung des PTBS-Risikos im Vergleich zu Probanden mit niedriger Traumarate (