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German Pages 1219 [1220] Year 2022
Handbuch Antidiskriminierungsrecht
Handbuch Antidiskriminierungsrecht Strukturen, Rechtsfiguren und Konzepte
herausgegeben von
Anna Katharina Mangold und Mehrdad Payandeh
Mohr Siebeck
Anna Katharina Mangold ist Professorin für Europarecht an der Europa-Universität Flensburg. Mehrdad Payandeh ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationales Recht, Europarecht und Öffentliches Recht an der Bucerius Law School in Hamburg.
Das Handbuch Antidiskriminierungsrecht wurde gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung. ISBN 978-3-16-156881-7 / eISBN 978-3-16-156882-4 DOI 10.1628/978-3-16-156882-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Vorwort 1948 diskutierte der Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates darüber, was Gleichheit bedeute und wie sie sich als Grundrecht in einer deutschen Verfassung formulieren ließe. Auch wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die nicht nur von „equality“, sondern auch von „discrimination“ spricht, dem Parlamentarischen Rat in einer Entwurfsfassung vorlag, fand der Begriff „Diskriminierung“ in den Diskussionen des Grundsatzausschusses nur zweimal und eher am Rande Verwendung. Das zugrundeliegende Problem jedoch, das es zu adressieren galt, stand den Delegierten nach dem rassistischen Wahn des Nationalsozialismus lebhaft vor Augen: die unterschiedliche Behandlung von Personen allein aufgrund ihrer Zuordnung zu kategorial bestimmten Gruppen. Seither hat der Begriff der Diskriminierung wie die rechtliche Adressierung des zugrundeliegenden Problems erheblich an Bedeutung gewonnen. Altbekannte Themen von Gleichheit und Ungleichheit werden heute vielfach als Fragen von Diskriminierung behandelt. Diskriminierungen und die mit ihnen einhergehenden Unrechtserfahrungen und Benachteiligungen bilden den Regelungsgegenstand des Antidiskriminierungsrechts. Antidiskriminierungsrecht ist allerdings weniger ein etabliertes und in sich geschlossenes Rechtsgebiet als vielmehr eine Querschnittsmaterie: Es kann im arbeitsgerichtlichen Verfahren ebenso relevant werden wie vor dem Bundesverfassungsgericht, beschäftigt menschenrechtliche Überwachungsorgane der Vereinten Nationen ebenso wie die Europäische Kommission oder Ministerien in Bund und Ländern und Behörden ebenso wie private Unternehmen oder Einzelpersonen. Es bildet den Gegenstand anwaltlicher Beratung in Großkanzleien und wird von zivilgesellschaftlichen Akteuren eingefordert und eingeklagt. In der Rechtswissenschaft ist es Gegenstand anwendungsorientierter Ausarbeitungen ebenso wie theorieaffiner und interdisziplinär ausgerichteter Forschung: Der Praxiskommentar trifft auf feministische Analysen und Critical Race Theory. Wie wohl kaum ein anderes Rechtsgebiet steht das Antidiskriminierungsrecht dabei für das politisch-emanzipatorische Potential des Rechts, ruft gleichzeitig aber auch erhebliche Abwehrreflexe hervor, nicht zuletzt, weil der Vorwurf der Diskriminierung oftmals als moralisch aufgeladen wahrgenommen wird. Nicht nur diese politische und gesellschaftliche Dimension, sondern auch die Vielseitigkeit der aufgeworfenen Rechtsfragen und wissenschaftlichen Perspektiven sowie die Heterogenität der involvierten Akteure und ihrer Interessen machen das Antidiskriminierungsrecht wissenschaftlich so reizvoll wie anspruchsvoll. Vor diesem Hintergrund möchte das vorliegende Handbuch die Grundlinien des Antidiskriminierungsrechts herausarbeiten: seine Strukturen, die maßgeblichen Rechtsfiguren und die wesentlichen Konzepte, die diese Rechtsmaterie prägen. Es geht damit zugleich der Frage nach, inwieweit das Antidiskriminierungsrecht inzwischen als eigenständiges Rechtsgebiet angesehen werden kann. Im Zentrum stehen die Herausforde-
VI
Vorwort
rungen für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, die mit einem Verständnis von Antidiskriminierungsrecht als umfassendem Querschnittsrechtsgebiet einhergehen. Für die tatkräftige Unterstützung bei der Redaktion des Handbuchs danken wir Julia Bartos, Johannes Gallon, Katia Hamann, Anna Kompatscher und Katharina Wommelsdorff. Für die finanzielle Förderung des Projekts sind wir der Fritz Thyssen Stiftung sehr dankbar. Wesentliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts wie auch des Ansatzes des Handbuchs konnten im Rahmen eines Workshops diskutiert werden, der im März 2019 an der Bucerius Law School in Hamburg stattfand. Den intensiven Austausch mit den Mitwirkenden während des Workshops sowie im Prozess der Erstellung der Beiträge haben wir als ebenso fruchtbar wie bereichernd empfunden. Wir blicken hoffnungsfroh auf das Erscheinen des Handbuchs als Beginn weiteren intensiven Austausches über Grundfragen des Antidiskriminierungsrechts. Flensburg und Hamburg im Sommer 2022
Anna Katharina Mangold Mehrdad Payandeh
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V IX
Erster Teil: Grundlagen des Antidiskriminierungsrechts §1 §2 §3 §4
Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets (Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie (Mathias Hong) . . . . . . . . . . . . . . . 67 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts (Stefan Magen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private (Klaus Ferdinand Gärditz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Zweiter Teil: Kategorien des Antidiskriminierungsrechts
§5 §6 §7 §8 §9 § 10 § 11 § 12 § 13
Das Kategorienproblem und die Herausbildung eines postkategorialen Antidiskriminierungsrechts (Susanne Baer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Diskriminierungskategorien (Nora Markard) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien (Cengiz Barskanmaz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien (Christian Walter/Kathrin Tremml) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behinderung als Diskriminierungskategorie (Julia Zinsmeister) . . . . . . . . . . . . . . Alter als Diskriminierungskategorie (Felipe Temming) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozioökonomische Diskriminierung (Cara Röhner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht (Julian Krüper) . . . . . . . . Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung (Elisabeth Holzleithner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223 261 303 349 387 435 475 503 543
VIII
Inhalt
Dritter Teil: Dogmatische Figuren des Antidiskriminierungsrechts § 14 § 15 § 16 § 17
Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung (Ute Sacksofsky) . . . . . . . . . . . . . . Angemessene Vorkehrungen (Theresia Degener) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Maßnahmen (Margarete Schuler-Harms) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen (Philipp Reimer) . . . . . . . . . . . . . . . .
597 645 677 713
Vierter Teil: Durchsetzung von Antidiskriminierungsrecht § 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierungen (Emanuel Towfigh) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 19 Beweisrecht (Olaf Muthorst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 20 Rechtsfolgen von Diskriminierungen (Michael Grünberger/André Reinelt) . . . . § 21 Strafrechtlicher Schutz vor Diskriminierungen und Hasskriminalität (Anja Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
759 803 835 881
Fünfter Teil: Kontexte des Antidiskriminierungsrechts § 22 Diskriminierungsschutz im Zivilrechtsverkehr (Florian Rödl/Andreas Leidinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext (Torsten von Roetteken) . . . § 24 Diskriminierungsschutz und Migration (Constanze Janda) . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 25 Diskriminierungsschutz im Kontext der sozialen Sicherheit (Maria Wersig) . . . § 26 Diskriminierungsschutz in der Gefahrenabwehr (Alexander Tischbirek) . . . . . . § 27 Diskriminierungsschutz in der Strafrechtspflege (Julia Geneuss) . . . . . . . . . . . . . § 28 Diskriminierungsschutz bei algorithmenbasierten Entscheidungen (Antje von Ungern-Sternberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
927 955 1003 1043 1061 1095 1131
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185
Abkürzungsverzeichnis A. A. a. a. O. ABl. Abs. AcP ADA ADEA a. E. AEMR AEUV a. F. AG AGG AK-GG AöR ArbG ArbRAktuell ArchsozArb Art. AsylG AsylbLG AufenthG Aufl. AuR BAG BAGE BW GBl BayVerfGH BB Bd. BDSG BE AbgH-Drs. BeckOGK BeckOK BeckOK AuslR BeckRS Beschl. BetrVG BFH BFHE BGB
Andere Ansicht am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Union Absatz Archiv für die civilistische Praxis Americans with Disabilities Act Age Discrimination in Employment Act am Ende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Amtsgericht Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Alternativkommentar zum Grundgesetz Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsgericht Arbeitsrecht Aktuell Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit Artikel Asylgesetz Asylbewerberleistungsgesetz Aufenthaltsgesetz Auflage Arbeit und Recht Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Gesetzblatt für Baden Württemberg Bayrischer Verfassungsgerichtshof Betriebsberater Band Bundesdatenschutzgesetz Drucksache des Abgeordnetenhauses Berlin Beck-Online-Großkommentar zum Zivilrecht Beck’scher Online-Kommentar Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht Beck-Rechtsprechung Beschluss Betriebsverfassungsgesetz Bundesfinanzhof Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bürgerliches Gesetzbuch
X BGBl. BGG BGH BMAS BMFSFJ BMJV BR-Drs. BSG Bspw. BT BT-Drs. BtPrax BT-Prot. BWahlG BVerfG BVerfGE BVerfGK BVerwG BvR BZgA bzw. CAT CCPR CED CEDAW CERD CESCR CMW COM CRC CRPD DB DDA DIMR DKP ders. dies. djbZ DÖV DPolBl DRiZ DRV DSGVO DStR DuR
Abkürzungsverzeichnis
Bundesgesetzblatt Behindertengleichstellungsgesetz Bundesgerichtshof Bundesministerium für Arbeit und Soziales Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz Bundesrats-Drucksache Bundessozialgericht Beispielsweise Bundestag Bundestags-Drucksache Betreuungsrechtliche Praxis Bundestags-Protokoll Bundeswahlgesetz Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Aktenzeichen einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung beziehungsweise Committee against Torture Human Rights Committee Committee on Enforced Disappearances Committee on the Elimination of Discrimination against Women/ Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau Committee on the Elimination of Racial Discrimination Committee on Economic, Social and Cultural Rights Committee on Migrant Workers EU Commission Committee on the Rights of the Child/Übereinkommen über die Rechte des Kindes Committee on the Rights of Persons with Disabilities/Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Der Betrieb Disability Discrimination Act Deutsches Institut für Menschenrechte Deutsche Kommunistische Partei derselbe dieselbe Zeitschrift des Deutschen Juristinnenbundes Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Polizeiblatt Deutsche Richterzeitung Zeitschrift Deutsche Rentenversicherung Datenschutzgrundverordnung Deutsches Steuerrecht Demokratie und Recht
Abkürzungsverzeichnis
DVBl. DZPhil EAsR EGHVO EGMR EKMR ELR EMRK EntgTranspG ETS EuGH EuGRZ EuR EUV EuZA EuZW EWiR FA FAZ FluggastdatenG Fn. FPR FS GA GA GFK GG GiP GPR GRCh GS GVBl HH HB-Drs. Hess. GVBl. HGR HK-BGB Hrsg. HSchuG HStR ICERD ICJ Reports IGH info also IPbpR IPwskR i. R. d. i. S. d.
XI
Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Zeitschrift für Philosophie Europäischer Ausschuss für soziale Rechte Eingliederungshilfeverordnung Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Kommission für Menschenrechte European Law Reporter Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Entgelttransparenzgesetz European Treaty Series Gerichtshof der Europäischen Union Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Fachanwalt Arbeitsrecht Frankfurter Allgemeine Zeitung Fluggastdatengesetz Fußnote Familie Partnerschaft Recht Festschrift Generalanwalt/Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Genfer Flüchtlingskonvention Grundgesetz Gleichstellung in der Praxis Zeitschrift für das Privatrecht der Europäischen Union Charta der Grundrechte der Europäischen Union Gedächtnisschrift Gesetz- und Verordnungsblatt Drucksache der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Hessen Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Handkommentar BGB Herausgeber Hessisches Schulgesetz Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination Annual Reports of the International Court of Justice Internationaler Gerichtshof Informationen zum Arbeitslosenrecht und Sozialhilferecht Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im Rahmen des/der im Sinne des/der
XII IAT IZA JA JAS JöR JR JURA jurisPR-ArbR JuS JZ KJ KPD KriPoZ KritV Kf W lit. LADG LAG LGBTQ LG LKV Ls. m. w. N. MMR MLPD MschKrm MüKo MuSchG NJ NJOZ NJW NK NK-AuslR NPD NStZ NRW LT-Drs. NVwZ Nw. NZA NZA-RR NZFam NZG NZM NZS OECD OLG OVG
Abkürzungsverzeichnis
implicit association test Institut zur Zukunft der Arbeit Juristische Arbeitsblätter Journal für Arbeits- und Sozialrecht Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Rundschau Juristische Ausbildung juris PraxisReport Arbeitsrecht Juristische Schulung Juristenzeitung Kritische Justiz Kommunistische Partei Deutschlands Kriminalpolitische Zeitschrift Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Kreditanstalt für Wiederaufbau Buchstabe Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz Landesarbeitsgericht Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer Landgericht Landes- und Kommunalverwaltung Leitsatz mit weiteren Nachweisen Multimedia und Recht Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Münchener Kommentar Gesetz zum Schutz von Müttern bei der Arbeit, in der Ausbildung und im Studium Neue Justiz Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Nomos Kommentar Nomos Kommentar Ausländerrecht Nationaldemokratische Partei Deutschlands Neue Zeitschrift für Strafrecht Drucksache des Landtages Nordrhein- Westfalen Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nachweis Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Rechtsprechungs-Report Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Familienrecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht
Abkürzungsverzeichnis
PartIntG PartMigG PNAS ÖZöR RdA RdJB RGBl. RL Rn. RphZ Rs. RuP RuStAG RZ RW S. SAE SchuG BW SchulG NRW SEV SGB SGb SPT SR SteuK StGB StPO StuW StV SZ taz TH LT-Drs. ThürVerfGH u. a. UAbs. UN UN-BRK UN-Charta UN Doc. UNESCO UNHCR UNTS Urt. v. VG Vgl. VO
XIII
Gesetz zur Regelung von Partizipation und Integration in Berlin Gesetz zur Förderung der Partizipation in der Migrationsgesellschaft des Landes Berlin Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht Recht der Arbeit Recht der Jugend und des Bildungswesens Reichsgesetzblatt Richtlinie Randnummer Rechtsphilosophie Rechtssache Recht und Politik Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz Österreichische Richterzeitung Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung (Rechtswissenschaft) Seite oder Satz Sammlung Arbeitsrechtlicher Entscheidungen Schulgesetz für Baden-Württemberg Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen Sammlung der Europäischen Verträge Sozialgesetzbuch Zeitschrift Die Sozialgerichtsbarkeit Subcommittee on Prevention of Torture Zeitschrift Soziales Recht Steuerrecht kurzgefasst Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Zeitschrift für die gesamten Steuerwissenschaften Strafverteidiger Süddeutsche Zeitung die tageszeitung Drucksache des Landtages Thüringen Thüringer Verfassungsgerichtshof und andere Unterabsatz United Nations/Vereinte Nationen Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Charta der Vereinten Nationen United Nations Document Code United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations High Commissioner for Refugees United Nations Treaty Series Urteil von/vom Verwaltungsgericht Vergleiche Verordnung
XIV VVDStRL WHO WM WRP WRV WuB WZB ZAR ZaöRV ZESAR ZevKR ZfA zfmr ZG ZGR ZIAS ZIS ZIP ZP ZPTh ZPO ZRP ZStW ZTR ZZP
Abkürzungsverzeichnis
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Weltgesundheitsorganisation Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht Wettbewerb in Recht und Praxis Weimarer Verfassung Entscheidungsanmerkungen zum Wirtschafts- und Bankrecht Wissenschaftszentrum Berlin Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Menschenrechte Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zusatzprotokoll Zeitschrift für Politische Theorie Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für Tarifrecht Zeitschrift für Zivilprozess
Erster Teil: Grundlagen des Antidiskriminierungsrechts
§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh* Inhaltsübersicht Rn. A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gleichheitsversprechen und Diskriminierungsrealität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Diskriminierung und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff der Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gleichheitsverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Antidiskriminierungsrecht als Rechtsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 2 2 9 11 13
B. Entwicklungslinien des Antidiskriminierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtswissenschaftlicher Diskurs zum Antidiskriminierungsrecht in Deutschland . . . . . . . II. Unionsrechtliches Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der aktuelle Stand der Debatte zum Antidiskriminierungsrecht in Deutschland . . . . . . . . .
16 17 20 23
C. Rechtsquellen des Antidiskriminierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Universeller Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Besonderheiten und Potential des völkerrechtlichen Antidiskriminierungsrechts . . . . . . II. Recht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Antidiskriminierungsrechtliche Regelungsgehalte der Unionsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unionsgrundrechtliche Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Antidiskriminierungsrechtliches Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Besonderheiten und Potential des unionsrechtlichen Antidiskriminierungsrechts . . . . . . III. Deutsche Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einfaches Bundesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Landesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26 27 28 32 37 39 40 41 43 45 47 48 57 60
D. Strukturmerkmale des Antidiskriminierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Antidiskriminierungsrecht im Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Antidiskriminierungsrecht als intradisziplinäre Querschnittsmaterie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Offenheit des Antidiskriminierungsrechts für interdisziplinäre Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Akteure des Antidiskriminierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Politisierung und Entpolitisierung des Antidiskriminierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61 62 63 65 67 72
Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
E. Kategorien im Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kontingenz von rechtlichen Kategorienkatalogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kategorienkataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Sonderstellung sozio-ökonomischer Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Konstruktion von kategorialen Unterscheidungen zwischen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die doppelte Bedeutung der Konstruiertheit von Unterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Invisibilisierung der rechtlichen Konstruktion von Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausprägungen von Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. „Rasse“ als Kategorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Intersektionalität von Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Erneuerungsvorschläge, insbesondere „postkategoriales Antidiskriminierungsrecht“ . . . . .
76 77 78 79 81 82 84 87 88 91 95
F. Dogmatische Figuren des Antidiskriminierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Reaktive Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbot unmittelbarer Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbot mittelbarer Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Belästigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weiterungen des Diskriminierungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Angemessene Vorkehrungen (reasonable accomodation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Proaktives Gleichstellungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Quotenregelungen als zentrales Problem des proaktiven Gleichstellungsrechts . . . . . . . .
98 102 102 105 111 114 118 122 123 125 127
G. Anlage und Struktur des Handbuches Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Einleitung I. Gleichheitsversprechen und Diskriminierungsrealität 1
Die Gleichheit aller Menschen ist ein hehres Versprechen aller modernen demokratischen Verfassungsordnungen. Sie ist eine prägende Idee seit der Aufklärung. Als normatives Gebot kommt sie prominent in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung („all men are created equal“), der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte („Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits“)1 sowie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte („All human beings are born free and equal in dignity and rights“) zum Ausdruck. Und doch: Nicht alle Menschen sind gleich. Faktische Ungleichheit prägt Gesellschaften weltweit. Ungleichbehandlungen, Diskriminierungsund Ausgrenzungserfahrungen sind ein ebenso alltägliches wie strukturell verankertes Phänomen, das so unterschiedliche Facetten annehmen kann wie ungleiche Chancen auf * Für wertvolle Hinweise und Anregungen danken wir Susanne Baer, Christian Bumke und Felix Hansch-
mann.
1 Zur historischen Beschränkung dieser Erklärungen pointiert Hofmann, Die Grundrechte 1789–1949 –
1989, NJW 1989, S. 3177 (3182): „Die Franzosen reden wie vordem die Amerikaner von Menschen, denken aber zunächst nur an den Mann, und zwar den weißen.“ Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
A. Einleitung
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dem Arbeitsmarkt und Benachteiligung am Arbeitsplatz, unterschiedliche Behandlung durch die Polizei, andere staatliche Behörden oder die Justiz bis hin zu sexistisch oder rassistisch motivierten Anfeindungen und körperlicher Gewalt. Diese so unterschiedlichen Phänomene, die einzelne menschliche Handlungen ebenso wie gesellschaftliche Zustände umfassen, gezielte Übergriffe ebenso wie diskriminierende Wirkungen etablierter gesellschaftlicher oder institutioneller Strukturen, offenen Rassismus ebenso wie unbewusste Vorurteile sowie das Handeln sowohl staatlicher Organe als auch privater Akteure, adressiert das Antidiskriminierungsrecht. Diskriminierungen können die betroffenen Personen in ihrem Anspruch auf Würde und Gleichheit berühren, sie in der Wahrnehmung ihrer Freiheit beeinträchtigen und sich als Hindernis für eine autonome Lebensgestaltung und selbstbestimmte Persönlichkeitsentfaltung und Selbstverwirklichung darstellen. Die grundlegenden Rechtsprinzipien der Würde, Gleichheit und Freiheit bilden deswegen die Tiefenstruktur des Antidiskriminierungsrechts.2 II. Diskriminierung und Gleichheit 1. Der Begriff der Diskriminierung
Begriff und Konturen des Antidiskriminierungsrechts sind alles andere als eindeutig 2 und fest etabliert, was vor allem daran liegt, dass der Begriff der Diskriminierung selbst in sehr unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. Vielfach zeigt sich die begriffliche Verschleifung eines spezifischen Rechtsbegriffes von Diskriminierung mit einem allgemeinsprachlich moralischen Vorwurf, was zu Zurückhaltung in der Benennung von Diskriminierungen führen und sich in der Auslegung und Anwendung von antidiskriminierungsrechtlichen Normen niederschlagen kann.3 Unterschiedliche Verständnisse bestehen zudem bei der Frage, ob der rechtliche Diskriminierungsbegriff notwendig einen spezifischen Gruppenbezug hat,4 was im deutschen Kontext etwa diskutiert wird mit Blick auf das Verhältnis von Art. 3 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 1 GG.5 Unseres Erachtens ist der rechtliche Diskriminierungsbegriff bestimmt durch den 3 Bezug auf kategorial definierte Personengruppen und unterscheidet sich gerade dadurch vom allgemeinen Gleichheitssatz. Die typische Form der Regelung in Diskriminierungsverboten mit Kategorienkatalogen spiegelt die historische Verfestigung bestimmter ka2 Siehe zu diesem Dreiklang nur Baer, Dignity, Liberty, Equality: A Fundamental Rights Triangle of Con-
stitutionalism, University of Toronto Law Journal 4 (2009), S. 417 ff., sowie speziell für das Antidiskriminierungsrecht → Hong, § 2 Rn. 1 ff. 3 Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 12 ff., insbesondere S. 16 ff. 4 So etwa Uerpmann-Wittzack, Strikte Privilegierungs- und Diskriminierungsverbote, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. V, 2013, § 128 Rn. 1; Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 182 Rn. 8; Sacksofsky, Diskriminierung und Gleichheit – aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: Opfermann (Hrsg.), Unrechtserfahrungen, 2007, S. 31; für das Völkerrecht Clifford, Equality, in: Shelton (Hrsg.), The Oxford Handbook of International Human Rights Law, 2013, S. 420 (438). 5 Kingreen, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand: Februar 2020, Art. 3 Rn. 84 ff.; zur Diskussion auch Sachs (Fn. 4), § 182 Rn. 9 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
tegorialer Ungleichbehandlungen. Das Aufkommen neuer kategorialer Unterscheidungen wird rechtstechnisch verschieden verarbeitet, je nachdem, ob offene Kategorienkataloge normiert sind oder ein Rückgriff auf den allgemeinen Gleichheitssatz erforderlich ist. Der Begriff der Diskriminierung impliziert die Einbeziehung von und einen Fokus auf die Diskriminierungsverbote, die ihren Ursprung im US-amerikanischen Recht finden, schon früh im Wirtschaftsrecht verankert waren und dann insbesondere im Völkerrecht rezipiert wurden.6 Im deutschen Recht sind sie insbesondere in Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG7 und unter dem Begriff des Benachteiligungsverbots in § 7 und § 19 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) normiert. 4 In dogmatischer Hinsicht erscheint es daher ebenso erforderlich wie gewinnbringend, im Sinne eines engen Begriffsverständnisses zwischen Diskriminierungsverboten und allgemeinem Gleichheitssatz zu unterscheiden. Das Erfordernis der Anknüpfung an eine diskriminierende Kategorie führt nicht nur dazu, dass der Anwendungsbereich der Diskriminierungsverbote enger ist als derjenige des allgemeinen Gleichheitsgebots, sondern impliziert auch strukturelle Unterschiede, insbesondere auf Rechtfertigungsebene: Während der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz zunächst nur willkürliche Ungleichbehandlungen untersagt bzw. Ungleichbehandlungen aus sachlichen Gründen für gerechtfertigt erachtet,8 greift das Diskriminierungsverbot bereits ein, wenn eine Ungleichbehandlung auf einem verbotenen Grund beruht.9 Auch in struktureller Hinsicht lässt sich die Frage aufwerfen, ob die grundgesetzlichen Diskriminierungsverbote sich nicht – vergleichbar den Freiheitsrechten – als Abwehrrechte gegen Diskriminierung begreifen lassen.10 5 Gleichwohl beschränkt sich das Antidiskriminierungsrecht nicht auf die Diskriminierungsverbote im engeren Sinne, sondern greift auch Fragen auf, die sich unter dem allgemeinen Gleichheitssatz stellen. In dogmatischer Hinsicht ergibt sich dieses Erfordernis für das deutsche Recht schon daraus, dass der allgemeine Gleichheitssatz als Auffanggrundrecht für die Diskriminierungsverbote der besonderen Gleichheitssätze fungiert, etwa im Hinblick auf die nicht explizit in Art. 3 Abs. 3 GG verankerten Kategorien der sexuellen Orientierung11 oder des Alters.12 6 In vergleichender Perspektive verblasst der Unterschied zwischen allgemeinen Gleichheitssätzen und Diskriminierungsverboten, da antidiskriminierungsrechtliche Regelungen nicht nur die Form abschließender enumerativer Kataloge verpönter Diskrimi6 Dazu Altwicker, Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, 2011, S. 103 ff.; Mangold (Fn. 3), S. 45 ff. 7 Weitere verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbote finden sich in Art. 6 Abs. 5, Art. 33 Abs. 2 und
Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. 8 Zur entsprechenden Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes und zum Wandel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom Willkürverbot zur sog. „Neuen Formel“ etwa Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 1 Rn. 89 ff.; ausführlich → Reimer, § 17 Rn. 100 ff. 9 Siehe Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 41 f.; Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 527. 10 Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 404 f. 11 Dazu → Markard, § 6 Rn. 8 ff., 23 ff., 36 ff., 42 ff. 12 Dazu → Temming, § 10 Rn. 3. Offen ist auch, ob politische Anschauungen als Diskriminierungsgrund geschützt werden sollten, dazu → Krüper, § 12 Rn. 56 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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nierungskategorien annehmen können, sondern auch die flexiblere Form offener, nicht abschließender Listen,13 wie sie zum Teil im internationalen Recht wegen der schweren Abänderbarkeit völkerrechtlicher Verträge vorherrschen.14 In der Europäischen Union verfolgt insbesondere das zentrale Diskriminierungsverbot des Art. 21 der GrundrechteCharta diesen Ansatz, indem jegliche Form der Diskriminierung verboten wird und die Auflistung der möglichen Anknüpfungspunkte für eine Diskriminierung nur exemplarischen Charakter hat. Ähnliches gilt für Art. 14 EMRK. Auch wenn zwischen Diskriminierungsverboten und allgemeinen Gleichheitssätzen 7 also dogmatische Unterschiede bestehen, kann allgemeinen Gleichheitsgeboten gleichwohl eine Bedeutung im Antidiskriminierungsrecht zukommen. Letztlich würde eine Beschränkung des Antidiskriminierungsrechts auf spezifische Diskriminierungsverbote verdecken, dass diesen einzelnen Verboten weiterreichende Vorstellungen von Gleichheit zugrunde liegen und dass die Realität von Diskriminierungen in engem Zusammenhang mit sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen der Ungleichheit steht, die bislang für gewöhnlich am allgemeinen Gleichheitssatz gemessen werden. Der Begriff der Diskriminierung im Antidiskriminierungsrecht geht schließlich über 8 Maßnahmen und Handlungen mit einem diskriminierenden Gehalt oder mit diskriminierenden Wirkungen hinaus und nimmt diskriminierende Zustände und bestehende, auf Diskriminierung beruhende Benachteiligungen und damit strukturelle Diskriminierungen15 in den Blick. Das Antidiskriminierungsrecht erschöpft sich also nicht in Diskriminierungsverboten im engeren Sinne. Es enthält nicht nur Verbote diskriminierenden Verhaltens, die ebenso staatliche Maßnahmen wie das Handeln von Privatrechtssubjekten erfassen können,16 sondern begründet auch positive Verpflichtungen von Staaten, Diskriminierungen entgegenzutreten und die Folgen von Diskriminierungen zu adressieren. Diskriminierende Praktiken werden durch staatliche Schutzpflichten rechtlich adressiert, wie sie im Völker- und Unionsrecht explizit verankert sind17 und sich auch verfassungsrechtlich aus Art. 3 Abs. 2 sowie Abs. 3 GG begründen lassen.18 Diskriminierende Zustände bilden zudem den Gegenstand von Fördergeboten, die sich ebenfalls im Völkerrecht ausmachen lassen,19 im deutschen Recht hingegen nur punktuell explizit normiert sind wie etwa in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG mit Blick auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau20 oder anerkannt werden wie etwa mit Blick auf Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG für Menschen mit
13 Dazu → Baer, § 5 Rn. 34 ff. 14 Siehe Solanke, Discrimination as Stigma, 2017, S. 43 ff. 15 Allgemein zu Begriff und Konzept struktureller Diskriminierung Gomolla, Direkte und indirekte,
institutionelle und strukturelle Diskriminierung, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 133 ff.; siehe zudem die Beiträge von Markard, Reimer und Payandeh, in: Froese/ Thym (Hrsg.), Grundgesetz und Rassismus, 2022, im Erscheinen. 16 Dazu → Gärditz, § 4 Rn. 1 ff. 17 Dazu unten Rn. 27 ff. (C. I.). 18 Dazu unten Rn. 48 ff. (C. III. 1.). 19 Dazu unten Rn. 30, 36 (C. I.). 20 Dazu → Markard, § 6 Rn. 33 ff., 73 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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Behinderungen.21 Auch jenseits von Fördergeboten22 bildet das Antidiskriminierungsrecht aber den rechtlichen Rahmen für die Zulässigkeit positiver Maßnahmen zur Beseitigung und Kompensation bestehender Benachteiligungen.23 2. Gleichheitsverständnisse 9 Damit ist zugleich die Frage nach dem Verständnis von Gleichheit aufgeworfen, das den
Diskriminierungsverboten und Gleichheitsgarantien im Übrigen zugrunde liegt.24 In diesem Zusammenhang werden verschiedene begrifflich-konzeptionelle Entgegensetzungen diskutiert: Ein formales Gleichheitsverständnis wird einem materialen Gleichheitsverständnis (substantive equality) gegenübergestellt,25 es werden symmetrische von asymmetrischen Gleichheitskonzepten unterschieden,26 Chancengleichheit und Ergebnisgleichheit differenziert.27 Zum Teil werden diese Begrifflichkeiten synonym oder in Kombination verwendet, zum Teil beziehen sie sich auf unterschiedliche Anknüpfungspunkte. Hinter diesen Unterscheidungen steht die Frage, wie Gleichheitsgebote und Diskrimi10 nierungsverbote mit dem Befund umgehen sollen, dass faktisch nicht alle Menschen gleich sind, da sie nicht die gleichen Ausgangsbedingungen haben und nicht auf die gleichen sozio-ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen treffen. Ein rein formales Gleichheitsverständnis verlangt gleichwohl strikte Gleichbehandlung und den diskriminierungsfreien Umgang mit allen Menschen, ungeachtet faktisch bestehender ungleicher Bedingungen. Ein materiales Gleichheitsverständnis berücksichtigt hingegen die historisch entwickelten bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und beruht auf der Erkenntnis, dass ein rein formales Gleichheitsverständnis diesen nicht gerecht wird. Auch unangemessene Gleichbehandlung, die Verschiedenheit nicht Rechnung trägt, kann danach Diskriminierung sein. In sehr abstrakter Weise findet sich dieser Gedanke in der historisch wirkmächtigen,28 semantisch aber offenen Formulierung,29 Gleiches müsse
21 Siehe BVerfGE 151, 1 (24 f. Rn. 55 f.) – Wahlrechtsausschluss für Betreute (2019); → Zinsmeister, § 9
Rn. 69 ff.
22 Eine entsprechende Ergänzung von Art. 3 Abs. 3 GG wird verfassungspolitisch diskutiert, siehe Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Änderung des Artikels 3 Absatz 3 – Streichung des Begriffs Rasse), BT-Drs. 19/20628 v. 1.7.2020; Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3 – Ersetzung des Wortes Rasse und Ergänzung zum Schutz gegen gruppenbezogene Menschenwürdeverletzungen), BT-Drs. 19/24434 v. 18.11.2020. 23 Dazu → Schuler-Harms, § 16. 24 Überblick hierzu bei Mangold (Fn. 3), S. 182 ff. 25 Dazu MacKinnon, Substantive Equality: A Perspective, Minnesota Law Review 96 (2011), S. 1 ff.; Baer, Traveling Concepts: Substantive Equality on the Road, Tulsa Law Review 46 (2010), S. 59 ff. 26 Zur Deutung des Diskriminierungsverbots als Dominierungsverbot Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 312 ff. und S. 349 ff.; zur Deutung als Hierarchisierungsverbot Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, S. 221 ff. 27 Zu Ergebnisgleichheit als Ziel von Gleichstellungsmaßnahmen am Beispiel von Quoten EuGH, Urt. v. 17.10.1995, Rs. C-450/93, Kalanke; EuGH, Urt. v. 11.11.1997, Rs. C-409/95, Marschall. 28 So bereits BVerfGE 1, 14 (52) – Südweststaat (1951); BVerfGE 3, 58 (135) – Beamtenverhältnisse (1953); instruktiv zu dieser Formulierung Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 1 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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gleich, Ungleiches aber ungleich behandelt werden. Die Entscheidung für ein materiales statt für ein rein formales Gleichheitsverständnis und für ein asymmetrisches statt für ein strikt symmetrisches Verständnis der Diskriminierungsverbote hat dabei unmittelbare rechtliche Konsequenzen, etwa indem Diskriminierungsverbote nur auf faktisch benachteiligte Gruppen Anwendung finden können oder Benachteiligungen der faktisch bevorzugten Gruppe jedenfalls leichter zu rechtfertigen sind.30 Auch hinter der Frage, ob nur unmittelbare oder auch mittelbare Diskriminierungen von Diskriminierungsverboten erfasst werden, stehen unterschiedliche Gleichheitsverständnisse.31 III. Staat und Gesellschaft
Diskriminierungen können auf staatliche Maßnahmen zurückzuführen sein oder im 11 gesellschaftlichen Bereich zwischen privaten Akteuren erfolgen.32 Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht wirft damit die Frage auf, ob das Antidiskriminierungsrecht Diskriminierungshandlungen von staatlicher wie privater Seite gleichermaßen erfassen soll. Zum Teil wird vorgeschlagen, Begriff und Anwendungsbereich des Antidiskriminierungsrechts auf Diskriminierungen im Privatrechtsverhältnis zu beschränken.33 Wissenschaftssoziologisch lässt sich diese Beschränkung damit erklären, dass das Antidiskriminierungsrecht zumindest in Deutschland erst im Zuge der Entwicklung des auf den Privatrechtsverkehr fokussierten europäischen Antidiskriminierungsrechts als einigermaßen geschlossene Materie wahrgenommen wurde.34 Mit Blick auf Benachteiligungen und Ungleichbehandlungen durch den Staat hatte sich indes kein vergleichbarer umfassender Diskurs entwickelt, der „das“ öffentlich-rechtliche Antidiskriminierungsrecht hätte konstituieren können. Der Diskurs behandelte vielmehr die Gleichheitssätze als Teil der Grundrechtsdogmatik und darüber hinaus Einzelfragen von Ungleichbehandlung und Diskriminierung dort, wo sie virulent wurden. Allenfalls im Hinblick auf die Gleichbehandlung von Mann und Frau lässt sich eine kontinuierliche Debatte ausmachen. Sachlich begründet könnte die Beschränkung des Antidiskriminierungsrechts auf den Bereich des Privatrechtsverkehrs deshalb erscheinen, weil etwa die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz im Kern auf privatrechtliche Rechtsverhältnisse Anwendung finden. Doch selbst diese zentralen Regelungsmaterien des Antidiskriminierungsrechts sind nicht strikt auf das Zivilrecht beschränkt, findet doch etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz auch auf öffent29 Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, 1971,
S. 77 ff. Siehe Baer/Markard (Fn. 10), Art. 3 Abs. 3 Rn. 372. Dazu → Sacksofsky, § 14 Rn. 15 ff. Zu den Adressaten von Antidiskriminierungsrecht → Gärditz, § 4 Rn. 1 ff. So etwa Somek, Neoliberale Gerechtigkeit: Die Problematik des Antidiskriminierungsrechts, DZPhil 51 (2003), S. 45. 34 Siehe exemplarisch die Ausführungen von Jestaedt, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL 64 (2004), S. 298 ff. und Britz, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL 64 (2004), S. 355 ff. 30 31 32 33
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lich-rechtliche Dienstverhältnisse sowie zum Teil auch im Sozialrecht Anwendung.35 Dem entspricht der Anwendungsbereich der EU-Richtlinien.36 Und auch die völkerrechtlichen Regelungen zum Schutz vor Diskriminierung sind nicht auf private Rechtsbeziehungen beschränkt: So zielt etwa das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) einerseits darauf ab, dass die Staaten Maßnahmen gegen diskriminierende Handlungen innerhalb der Gesellschaft ergreifen,37 beinhaltet aber andererseits auch Regelungen, die Diskriminierung von Seiten staatlicher Stellen verbieten.38 12 Die gemeinsame Betrachtung von Diskriminierungen sowohl im Verhältnis zwischen Privaten als auch im Verhältnis zwischen Staat und Bürgerinnen und Bürgern ist aufgrund der strukturellen Vergleichbarkeit der dogmatischen Figuren angezeigt. Aus denselben Gründen sind auch strafrechtliche Regelungen, die diskriminierungsrechtliche Aspekte aufgreifen, in die Analyse mit einzubeziehen.39 Differenzierungen, die sich in rechtsdogmatischer Hinsicht, aber auch mit Blick auf die unterschiedlichen Legitimationsfragen von rechtlichen Regelungen diskriminierenden Verhaltens mit Blick auf Private und den Staat stellen, werden durch eine einheitliche Betrachtung unter dem Rubrum des Antidiskriminierungsrechts nicht vernachlässigt, sondern können innerhalb dieses Rechtsgebiets thematisiert werden.40 Schließlich spricht die soziale Realität für einen umfassenden Ansatz des Antidiskriminierungsrechts: Aus der Perspektive der Betroffenen und in der gesellschaftlichen Wahrnehmung sind private und staatliche Diskriminierungen oftmals eng miteinander verwoben, zum Teil aufeinander bezogen, wie etwa im Fall der staatlichen Förderung oder Tolerierung privater Diskriminierung,41 und damit Teil eines einheitlichen Problems, das es rechtlich zu adressieren gilt. IV. Antidiskriminierungsrecht als Rechtsgebiet 13
Vor diesem Hintergrund verstehen wir Antidiskriminierungsrecht als zwar noch junges, aber doch eigenständiges Rechtsgebiet.42 Das hier vorgeschlagene Verständnis des AntiDazu unten Rn. 58 (C. III. 2.); ausführlich → v. Roettecken, § 23 Rn. 49 ff.; → Wersig, § 25 Rn. 8 ff., 13 ff. Dazu unten Rn. 43 (C. II. 3.). Siehe etwa Art. 2 Abs. 1 lit. d, Art. 4 lit. a und lit. b, Art. 5 lit. f ICERD. Siehe etwa Art. 2 Abs. 1 lit. a bis lit. c, Art. 4 lit. c, Art. 5 ICERD. Dazu → Schmidt, § 21; → Geneuss, § 27. Dazu → Gärditz, § 4 Rn. 1 ff. Ein Beispiel sind algorithmenbasierte Entscheidungen, dazu → v. Ungern-Sternberg, § 28. Siehe dazu Mangold, Von Homogenität zu Vielfalt, Die Entstehung von Antidiskriminierungsrecht als eigenständigem Rechtsgebiet in der Berliner Republik, in: Duve/Ruppert (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Berliner Republik, 2018, S. 461 ff.; dies. (Fn. 3), S. 1 ff.; für den englischsprachigen Diskurs: Khaitan, A theory of discrimination law, 2015, S. 23 ff.: „The Essence of Discrimination Law“; allgemein zum Konzept des Rechtsgebiets Wahl, Wie entsteht ein neues Rechtsgebiet: Das Beispiel des Informationsrechts, in: FS Schenke, 2011, S. 1305; Stolleis, Wie entsteht ein Wissenschaftszweig? Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverwaltungsrecht nach dem Ersten Weltkrieg, in: FS Reiner Schmidt, 2002, S. 1 ff.; Schulze-Fielitz, Umweltrecht, in: Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, 2007, S. 989 ff. 35 36 37 38 39 40 41 42
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B. Entwicklungslinien des Antidiskriminierungsrechts
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diskriminierungsrechts beruht auf der Überzeugung, dass es strukturelle Gemeinsamkeiten der verschiedenen hiervon erfassten Regelungsbereiche gibt, die es gerechtfertigt und fruchtbar erscheinen lassen, sowohl die öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Regelungsbereiche als auch die einzelnen kategorienbezogenen und bereichsspezifischen Ausdifferenzierungen des Antidiskriminierungsrechts in einer übergreifenden Gesamtschau zu betrachten. Die strukturellen Gemeinsamkeiten betreffen nicht nur einzelne dogmatische Figuren und Fragen, sondern auch vorgelagerte Aspekte, die sich auf Verständnis, Auslegung und Anwendung der jeweiligen Regelungen beziehen. Der Begriff des Antidiskriminierungsrechts dient dabei der Erfassung der unterschied- 14 lichen rechtlichen Regelungen, die sich mit Diskriminierung befassen. Auf der Grundlage eines weiten Begriffs von Diskriminierung umfasst das Antidiskriminierungsrecht dabei sowohl das Nichtdiskriminierungsrecht (mit reaktiver Zielsetzung) als auch das Gleichstellungsrecht (mit proaktiver Zielsetzung).43 Ohne dass damit die Beantwortung konkreter Rechtsfragen vorbestimmt wäre, lassen sich sowohl Fragen der formalen als auch der materialen Gleichheit unter dem Stichwort des Antidiskriminierungsrechts diskutieren, weil dieses den faktisch bestehenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jedenfalls nicht indifferent gegenübersteht. Wesentliche Bestandteile des Antidiskriminierungsrechts und seine Wesensmerkmale 15 werden im weiteren Verlauf dieses Kapitels in den Blick genommen: Nach einer kurzen Darstellung der Entstehung des Rechtsgebiets sowie der prägenden Stufen seiner Entwicklung und der entsprechenden wissenschaftlichen Diskussion (B.) werden die wesentlichen Rechtsquellen des Antidiskriminierungsrechts, wie sie sich aus dem Völkerrecht, dem Unionsrecht und dem nationalen Recht ergeben, analysiert (C.). Es folgt eine Auseinandersetzung mit strukturellen Besonderheiten, die im Rahmen der Befassung mit dem Antidiskriminierungsrecht Berücksichtigung verlangen (D.). Aufgrund der zentralen Orientierung des Antidiskriminierungsrechts an Diskriminierungskategorien werden die Besonderheiten und Probleme dieses Ansatzes analysiert (E.), bevor schließlich grundlegende dogmatische Rechtsfiguren, die das Antidiskriminierungsrecht prägen, in den Blick genommen werden (F.). Den Abschluss bildet ein kurzer Ausblick auf die Struktur des Handbuchs Antidiskriminierungsrecht (G.).
B. Entwicklungslinien des Antidiskriminierungsrechts Im Folgenden werden die Genese und Entwicklung des Antidiskriminierungsrechts in 16 ihren wesentlichen Grundzügen und Zusammenhängen nachgezeichnet.44
43 Zu dieser Unterscheidung Mangold (Fn. 3), S. 223 ff. 44 Ausführliche Darstellung bei Mangold (Fn. 42), S. 461 ff.
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
I. Rechtswissenschaftlicher Diskurs zum Antidiskriminierungsrecht in Deutschland
Die grundlegenden Postulate der Menschenwürde, der Freiheit und demokratischen Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger schlagen sich verfassungsrechtlich im Versprechen der Gleichheitssätze nieder.45 Aufgrund der Realität diskriminierender Praktiken und fortbestehender Ungleichheiten stellt das Grundgesetz von 1949 dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 die besonderen Gleichheitssätze in den Absätzen 2 und 3 zur Seite. Die Begriffe der Diskriminierung und des Antidiskriminierungsrechts finden freilich erst seit den 1990er Jahren verstärkte Verwendung, vor allem durch den Einfluss des Unionsrechts. Insbesondere die feministische Rechtswissenschaft hat dem deutschen Antidis18 kriminierungsrecht gedanklich, begrifflich und methodisch den Weg bereitet.46 Den Ausgangspunkt der deutschen Entwicklung bildete die Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter.47 Den Beginn machten bereits in den 1950er Jahren die Debatten um rechtliche Gleichbehandlung insbesondere im Familienrecht sowie Arbeitsrecht. Das Epitheton „feministisch“ war von Anfang an keineswegs beschränkt auf die Kategorie „Geschlecht“, sondern verwies angesichts der multiplen Verschränkungen von Ungleichheitsachsen (Intersektionalität)48 schon immer auf das Erfordernis einer holistischen wissenschaftlichen Analyse zur Identifizierung und Adressierung von Exklusionsmechanismen.49 Seit Ende der 1980er Jahre wurde auch mit Blick auf das deutsche Recht ein materiales Gleichheitsverständnis diskutiert.50 Die Unterscheidung von formaler und materialer Gleichheit gewann, vor allem unter Rückgriff auf den ausdifferenzierten Diskurs in der US-amerikanischen feministischen Rechtswissenschaft, zunehmend an Bedeutung.51 Zu nennen sind die grundlegenden Arbeiten von Heide Pfarr,52 Vera Slupik,53 Sibylle Raasch,54 Ute Sack17
45 Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 1925, S. 20: Freiheit und Gleichheit „sind überhaupt nicht so
sehr ein Gegebenes als ein Aufgegebenes, ein zu ‚Verwirklichendes‘.“
46 Mangold (Fn. 42), S. 466 ff. 47 Überblick bei Sacksofsky, Die blinde Justitia. Gender in der Rechtswissenschaft, in: Bußmann (Hrsg.),
Genus, 2005, S. 402 ff.
48 Zur Verschränkung von sozio-ökonomischer Klasse und Geschlecht bereits Zetkin, Zur Geschichte
der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands, 1928 (Nachdruck 1. Aufl. 1971 und 2. Aufl. 1978); Überblick bei Walgenbach, Gender als interdependente Kategorie, in: Walgenbach u. a. (Hrsg.), Gender als interdependente Kategorie, 2007, S. 23 ff.; zur Intersektionalität unten Rn. 91 ff. (E. III.) und → Holzleithner, § 13. 49 Seit den 1990er Jahren wurden auch Ansätze der Critical Race Theory aus den USA allmählich nach Europa exportiert, dazu Möschel, Law, Lawyers and Race: Critical Race Theory from the US to Europe, 2014. 50 Diese Arbeit hatte ihrerseits Vorläufer, siehe etwa Scheffler, Die Gleichberechtigung der Frau, in: Verhandlungen des 38. DJT in Frankfurt am Main, 1950, B 3–B 30. 51 Die meisten einschlägigen Monographien sind in der Nomos-Reihe der „Schriften zur Gleichstellung der Frau“ erschienen, inzwischen umbenannt in „Schriften zur Gleichstellung“. Zu nennen sind zudem Gerhard/Limbach (Hrsg.), Rechtsalltag von Frauen, 1988; Battis/Schultz (Hrsg.), Frauen im Recht, 1990; Rust, Familienlastenausgleich in der gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, 1990; Oberlies, Tötungsdelikte zwischen Männern und Frauen, 1995. 52 Pfarr/Bertelsmann, Lohngleichheit, 1981 (Studie für die damalige sozialliberale Regierung); Pfarr, Mittelbare Diskriminierung von Frauen: Die Rechtsprechung des EuGH, NZA 1986, S. 585 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
B. Entwicklungslinien des Antidiskriminierungsrechts
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sofsky,55 Dagmar Schiek56 und Susanne Baer57 aus den 1980er und 1990er Jahren. In diesen Werken stand die Interpretation des Art. 3 Abs. 2 GG im Zentrum. Dabei ging es um den Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt und sexueller Belästigung, aber auch um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Quoten und Bevorzugungsregeln, insbesondere im Erwerbsleben. Im Arbeitsleben wirkten (und wirken) sich überkommene Strukturen, die von einer traditionellen Geschlechterrollenverteilung ausgehen, in besonderem Maße aus, weshalb gerade das Arbeitsrecht intensiv erforscht wurde. Dem Beharrungsvermögen des status quo sollte durch Quotenregelungen ein affirmative action-Programm entgegengesetzt werden, das den bislang exkludierten Frauen Zugang zu Erwerbspositionen samt Aufstiegschancen bringen sollte. Die seit den 1990er Jahren erlassenen Gleichstellungsgesetze für Frauen und Behinderte58 und ihre wissenschaftliche Begleitung sind ein wichtiger Bezugspunkt der aktuellen antidiskriminierungsrechtlichen Debatten. Diese Vorhaben wurden kontrovers diskutiert und stießen zum Teil auf starke Ablehnung.59 Das Bundesverfassungsgericht griff diese feministischen Interpretationsvorschläge gleichwohl in seiner vielbeachteten Nachtarbeitsverbots-Entscheidung von 1992 auf und sprach erstmals60 den faktischen Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung maßgebliche Bedeutung für die verfassungsrechtliche Bewertung am Maßstab von Art. 3 Abs. 2 GG zu.61 Im Rahmen der Verfassungsreform des Grundgesetzes im Zuge der Wiederver- 19 einigung62 fand dieses Verständnis – bei allen Streitigkeiten um die Bedeutung dieser Vorschrift – Eingang in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ In dieser Formulierung findet sich der explizite Verweis auf die tatsächliche Lebenswirklichkeit und damit die Entscheidung des Grundgesetzes, einem formalen Gleichheitsverständnis, wie es Art. 3 Abs. 1 GG zugrunde liegt, ein materiales Slupik, Die Entscheidung des Grundgesetzes für Parität im Geschlechterverhältnis, 1988. Raasch, Frauenquoten und Männerrechte, 1991. Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 1991 (2. Aufl. 1996). Schiek, Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen, 1992. Baer (Fn. 26). Beispielsweise auf Bundesebene: Zweites Gleichberechtigungsgesetz v. 24.6.1994, BGBl. 1994 I, S. 1406, das unter anderem folgende Gesetze enthielt: Frauenfördergesetz für den Bundesdienst (FFG), Gesetz zum Schutz der Beschäftigten vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz (Beschäftigtenschutzgesetz) und Bundesgremienbesetzungsgesetz (BGremBG). Auch auf Länderebene gab es entsprechende Gleichstellungsgesetze, etwa das Landesgleichstellungsgesetz (LGG) Bremen v. 20.11.1990, GBl. 1990, S. 433, oder das Sächsische Frauenförderungsgesetz v. 31.3.1994, SächsGVBl. 1994, S. 684. Umfassend dazu Schiek, Frauengleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder, 1996 (2. Aufl. 2002). Das „Erste Gleichberechtigungsgesetz“ von 1957 bezweckte demgegenüber zunächst, ein gleichberechtigtes Familienrecht im BGB zu schaffen, dazu die Dokumentation bei Müller-List, Gleichberechtigung als Verfassungsauftrag. Eine Dokumentation zur Entstehung des Gleichberechtigungsgesetzes vom 18. Juni 1957, 1996. 59 Kritik etwa bei Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, 1987; Huster, Frauenförderung zwischen individueller Gerechtigkeit und Gruppenparität, AöR 118 (1993), S. 109 ff. 60 Zu Kontinuitäten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Sacksofsky (Fn. 26), S. 64 ff. 61 BVerfGE 85, 191 (209 f.) – Nachtarbeitsverbot (1992). 62 Diese dokumentiert der Band von Limbach/Eckertz-Höfer (Hrsg.), Frauenrechte im Grundgesetz des geeinten Deutschland: Diskussion in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat und der Bundesratskommission Verfassungsreform, 1993. 53 54 55 56 57 58
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
Gleichheitsverständnis beizufügen.63 Zeitgleich wurde auch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG eingefügt,64 was der Behindertenbewegung zu verdanken war.65 Im Vergleich zur Kategorie „Geschlecht“ in Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 GG wurden die anderen verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbote hingegen weniger stark wissenschaftlich bearbeitet.66 II. Unionsrechtliches Antidiskriminierungsrecht
Maßgeblicher Antriebsmotor des rechtlichen Diskriminierungsschutzes war schon seit ihrer Gründung die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), zunächst im Hinblick auf die Kategorie der Staatsangehörigkeit und für das Geschlecht im Berufsleben, seit 2000 dann durch sekundärrechtliche Regelungen im Zivilrecht und für weitere Kategorien jenseits des Geschlechts. Als Rechtsidee ist der Gedanke des Diskriminierungsschutzes zentraler Bestandteil des Unionsrechts.67 Seit der Gründung von Montanunion und EWG durften unterschiedliche mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeiten nicht mehr zu Schlechterbehandlungen führen, wenn auch zunächst primär im Rahmen der ökonomischen Grundfreiheiten. Bereits 1957 wurde auf Betreiben Frankreichs, das Wettbewerbsnachteile gegenüber Deutschland fürchtete, in Art. 119 EWG-Vertrag die Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern festgehalten,68 eine Vorschrift, die der EuGH progressiv und proaktiv interpretierte: Im Urteil Defrenne II stellte der EuGH 1976 zunächst die Direktwirkung der Primärrechtsnorm fest.69 Im zwei Jahre später ergangenen Urteil Defrenne III entnahm der EuGH Art. 119 EWGV ein allgemeines gemeinschaftsrechtliches Ziel, alle geschlechtsbezogenen Diskriminierungen zu beseitigen.70 21 Für die Fortentwicklung des materialen Gleichheitsbegriffs erbrachte der EuGH wichtige Transferleistungen, indem er die US-amerikanische Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung – zuerst als disparate impact für Title VII des Civil Rights Act 1964 eingeführt71 – seit Mitte der 1980er Jahre für den europäischen Rechtsdiskurs übersetzte und in seiner Rechtsprechung fortentwickelte.72 In der Folge der EuGH-Rechtsprechung 20
63 Suelmann, Die Horizontalwirkung des Art. 3 II GG, 1994; Schumann, Faktische Gleichberechtigung,
1997; Schweizer, Der Gleichberechtigungssatz – neue Form, alter Inhalt?, 1998.
64 Buch, Das Grundrecht der Behinderten (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG), 2001; Strassmair, Der besondere Gleich-
heitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, 2002; Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, 2005; Leder, Das Diskriminierungsverbot wegen einer Behinderung, 2006. 65 Mit den Disability Studies etabliert sich zudem allmählich ein entsprechendes interdisziplinäres Forschungsfeld, siehe hierzu Köbsell/Waldschmidt (Hrsg.), Special Topic: Disability Studies in German Speaking Countries, Disability Studies Quarterly 26 (2006). 66 Dazu unten Rn. 48 ff. (C. III. 1.). 67 Mangold, Sozial- und arbeitsrechtliche Relevanz der Unionsbürgerschaft, in: Schlachter/Heinig (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, Enzyklopädie Europarecht, Bd. 7, 2. Aufl. 2020, § 4 Rn. 120 ff. 68 Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990; Langenfeld, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand: Januar 2015, Art. 157 AEUV Rn. 2 ff. 69 EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75, Defrenne II. 70 EuGH, Urt. v. 15.6.1978, Rs. 149/77, Defrenne III. 71 Grundlegend die Entscheidung des US Supreme Court, Griggs v. Duke Power Co., 401 U. S. 424 (1971). 72 Die erste grundlegende europäische Monographie ist die Habilitationsschrift von Tobler, Indirect discrimination, 2005, dort ausführlich zur Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH, S. 101 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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fand die mittelbare Diskriminierung große Aufmerksamkeit auch in der deutschen Diskussion.73 Im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH wurde die mittelbare Diskriminierung 1997 erstmals legal definiert in der sogenannten Beweislast-Richtlinie.74 Die gesetzgeberischen Aktivitäten der EU haben das Verständnis von diskriminierungs- 22 freiem Marktgeschehen in Europa maßgeblich verändert. Die Gemeinschaftsebene legte seit den 1970er Jahren eine rege Rechtsetzungstätigkeit in Form von Richtlinien zur Gleichheit der Geschlechter im Berufsleben an den Tag,75 deren Vorgaben in Deutschland 1980 mit § 611a BGB umgesetzt wurden. Diese Rechtsetzungslinie führte die EU seit 73 Bieback, Mittelbare Diskriminierung der Frauen im Sozialrecht: nach EG-Recht und dem Grundgesetz,
ZIAS 1990, S. 1 ff.; Bieback, Die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts, 1997; Blomeyer, Das Verbot der mittelbaren Diskriminierung gemäß Art. 119 EGV, 1994; Buglass/Heilmann, Verbot der unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierung bei beruflichem Aufstieg, AuR 1992, S. 353 ff.; Erasmy, Einfluß der EuGH-Rechtsprechung zur mittelbaren Diskriminierung auf deutsches Arbeitsrecht, MDR 1995, S. 109 ff.; Feldhoff, Der Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, 1998; Fuchsloch, Das Verbot der mittelbaren Geschlechtsdiskriminierung, 1995; Göddeke, Die mittelbare Diskriminierung im System der Gleichbehandlung, 1998; Graue/Deinert, Mittelbare Diskriminierung von Frauen durch den Ausschluß der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung bei geringfügiger Beschäftigung im Falle des § 8 I Nr. 1 SGB IV, EWS 7 (1996), S. 418 ff.; Hakvoort, Mittelbare und unmittelbare Diskriminierung von Frauen durch staatliche Ausbildungsförderung, Gutachten im Auftrag der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen, 1998; Hanau/Preis, Zur mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts, ZfA 1988, S. 177; Pfarr (Fn. 52), S. 585 ff.; Rating, Mittelbare Diskriminierung der Frau im Erwerbsleben nach europäischem Gemeinschaftsrecht, 1994; Rüfner, Die mittelbare Diskriminierung und die speziellen Gleichheitssätze in Art. 3 Abs. 2 und 3 GG, in: FS Friauf, 1996, S. 331 ff.; Sievers, Die mittelbare Diskriminierung im Arbeitsrecht, 1997; Sowka, Mittelbare Frauendiskriminierung – ausgewählte Probleme, DB 1992, S. 2030 ff.; Wellenhofer, Die mittelbare Diskriminierung des nichtehelichen Kindes durch § 1615 I BGB, in: Familie und Recht 10 (1999), S. 448 ff.; Wisskirchen, Mittelbare Diskriminierung von Frauen im Erwerbsleben, 1994. 74 Richtlinie 97/80/EG des Rates über die Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts v. 15.12.1997, ABl. 1997 L 14/6 (Beweislast-Richtlinie), ausgedehnt auf das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland durch Richtlinie 98/52/EG des Rates v. 13.7.1998, ABl. 1998 L 205/66. 75 Richtlinie 75/117/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen v. 10.2.1975, ABl. 1975 L 45/19 (Entgeltgleichheitsrichtlinie); Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen v. 9.2.1976, ABl. 1976 L 39/40 (Gleichbehandlungs-Richtlinie), geändert durch Richtlinie 2002/73/EG v. 23.9.2002, ABl. 2002 L 269/15; Richtlinie 86/378/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit v. 24.7.1986, ABl. 1986 L 225/40 (Betriebspensions-Richtlinie), geändert durch Richtlinie 96/97/EG des Rates v. 20.12.1996, ABl. 1996 L 46/20; Richtlinie 86/613/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit – auch in der Landwirtschaft – ausüben, sowie über den Mutterschutz v. 11.12.1986, ABl. 1986 L 359/56 (Gleichbehandlungs-Richtlinie Selbständige); Richtlinie 79/7/EWG des Rates zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit v. 19.12.1978, ABl. 1978 L 6/24 (Gleichbehandlungs-Richtlinie Soziale Sicherheit); Richtlinie 92/85/EWG des Rates über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz v. 19.10.1992, ABl. 1992 L 348/1 (Mutterschutz-Richtlinie); Richtlinie 96/34/EG des Rates zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub v. 3.6.1996, ABl. 1996 L 145/4 (Elternurlaubs-Richtlinie); Richtlinie 97/81/EG des Rates zu der von UNICE, CEEP and EGB geschlossenen Rahmenvereinigung über TeilzeitAnna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
2000 intensiv fort.76 Dabei dehnte sie das Diskriminierungsverbot über das Arbeitsrecht hinaus auf Regelungsbereiche des Zivilrechts im Übrigen aus, nämlich allgemein auf die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen.77 Der Kategorienkatalog wurde erweitert, so dass nunmehr auch Diskriminierungen „wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf “78 und „aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft“ im Zivilrecht79 erfasst werden. Wie zuvor schon das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit zielt das europäische Antidiskriminierungsrecht dabei vor allem auf die Herstellung eines gemeinsamen Binnen(arbeits)marktes.80 III. Der aktuelle Stand der Debatte zum Antidiskriminierungsrecht in Deutschland 23
Das große Interesse, das dem Antidiskriminierungsrecht in der internationalen, insbesondere englischsprachigen und primär auf Common Law-Jurisdiktionen bezogenen Debatte zuteil wird81 und das insbesondere auch theoretische Aspekte des Antidiskriminierungsrechts einschließt,82 findet im deutschen rechtswissenschaftlichen Diskurs bislang wenig Entsprechung. Im öffentlichen Recht hat das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG keine dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)83 arbeit v. 15.12.1997, ABl. 1997 L 14/9 (Teilzeitarbeits-Richtlinie), ausgedehnt auf das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland durch Richtlinie 98/23/EG des Rates v. 7.4.1998, ABl. 1998 L 131/10. 76 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung) v. 5.7.2006, ABl. 2006 L 204/23 (Gleichbehandlungs-Richtlinie); Richtlinie 2010/41/ EU des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben v. 7.7.2010, ABl. 2010 L 180/1 (Gleichbehandlungs-Richtlinie Selbständige); Richtlinie 2010/18/EU des Rates zur Durchführung der von BUSINESSEUROPE, UEAPME, CEEP und EGB geschlossenen überarbeiteten Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub v. 8.3.2010, ABl. 2010 L 68/13 (Elternurlaubs-Richtlinie). 77 Richtlinie 2004/113/EG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen v. 13.12.2004, ABl. 2004 L 373/37 (Gender-Richtlinie). 78 Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303/16 (Rahmenrichtlinie). 79 Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft v. 29.6.2000, ABl. 2000 L 180/22 (Antirassismus-Richtlinie). 80 Zu Diskriminierung und Migration (in einem weiteren Sinne) → Janda, § 24. 81 Siehe etwa Bell, Racism and Equality in the European Union, 2009; Ellis, EU anti-discrimination law, 2005; Ellis, Anti-discrimination law and the European Union, 2002; Butler u. a. (Hrsg.), Prejudicial Appearances, 2001; Hepple/Coussey/Choudhury, Equality, A new framework report of the independent review of the enforcement of UK anti-discrimination legislation, 2000; Loenen/Rodrigues (Hrsg.), Non-discrimination law, Comparative perspectives, 1999; McCrudden (Hrsg.), Anti-discrimination law, 1991. 82 Khaitan (Fn. 42); Fishkin, Bottlenecks. A new theory of equal opportunity, 2014; Anderson, The Imperative of Integration, 2010; Hellman, When is discrimination wrong?, 2008; Kymlicka, Multicultural citizenship, 2004; Koppelman, Antidiscrimination law and social equality, 1996; Solanke (Fn. 14); Möschel (Fn. 49). 83 Zur wissenschaftlichen Diskussion und zur Entwicklung der Grundrechtsdogmatik unter dem GrundAnna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
B. Entwicklungslinien des Antidiskriminierungsrechts
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oder auch dem Verbot der Geschlechtsdiskriminierung (Art. 3 Abs. 2 GG) vergleichbare Aufmerksamkeit erhalten. Das vom Grundsatz der Privatautonomie geprägte Zivilrecht war lange Zeit weitgehend indifferent gegenüber Diskriminierungen oder hat rechtliche Regelungen gar aktiv bekämpft, so dass allenfalls in Extremfällen ein Verstoß gegen die guten Sitten (§ 138 BGB) oder gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) erwogen wurde.84 Auch im Strafrecht spielten diskriminierungsrechtliche Fragestellungen – abgesehen von den Sonderdelikten rund um die Volksverhetzung (§ 130 StGB) – keine entscheidende Rolle. In den letzten Jahren ist indes Bewegung in das Feld gekommen, veranlasst einerseits 24 durch die erwähnten Impulse aus dem europäischen Unionsrecht, insbesondere das Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Jahr 2006, das Diskriminierungsverbote im allgemeinen Zivilrecht etabliert hat, sowie aufgrund der Nachwirkungen des NSU-Skandals, der unter anderem zur expliziten Anerkennung von rassistischen Motiven als für die Strafzumessung relevanten Gesichtspunkten geführt hat (§ 46 Abs. 2 Satz 2 StGB).85 Diese Entwicklungen haben zu einem spürbaren Bedeutungszuwachs antidiskriminierungsrechtlicher Fragestellungen in der rechtswissenschaftlichen Literatur geführt und auch zu einer stärkeren Befassung der Gerichte hiermit. Das Schrifttum zum in vielerlei Hinsicht maßstäblichen AGG besteht zu großen Teilen 25 aus auf die Rechtspraxis ausgerichteten Publikationen, wie etwa den von Verbänden und Instituten herausgegebenen Ratgebern und Leitfäden.86 Seit dem Erlass des AGG geht es darum, in der für Deutschland so typischen konzertierten Aktion von Rechtsprechung und rechtswissenschaftlicher Begleitung die dogmatischen Grundlinien des neuen Gesetzes zu erarbeiten. Es ist eine Vielzahl von begleitenden und häufig praxisorientierten Kommentaren zum AGG erschienen, teilweise bevor es überhaupt erste Gerichtsentscheidungen gab.87 In diesem Prozess des dogmatischen „Kleinarbeitens“ der Vorschriften des AGG gesetz Bumke, Die Entwicklung der Grundrechtsdogmatik in der deutschen Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz, AöR 144 (2019), S. 1 (67 ff.). 84 Siehe etwa Looschelders, Diskriminierung und Schutz vor Diskriminierung im Privatrecht, JZ 2012, S. 105 (106), aber auch Bezzenberger, Ethnische Diskriminierung, Gleichheit und Sittenordnung im bürgerlichen Recht, AcP 196 (1996), S. 395 ff.; Emmenegger, Feministische Kritik des Vertragsrechts, 1998; Emmenegger, Gender Equality in Contract Law, in: Tsujimura (Hrsg.), International perspectives on gender equality & social diversity, 2008, S. 155 ff.; ausführlich zur deutschen Debatte seit 1945 Grünberger (Fn. 9), S. 222 ff. 85 Dazu → Schmidt, § 21 Rn. 60 ff.; → Geneuss, § 27 Rn. 15 ff. 86 Siehe etwa das von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes herausgegebene Handbuch Rechtlicher Diskriminierungsschutz, 3. Aufl. 2017, sowie die auf deren Homepage abrufbaren Stellungnahmen und Expertisen oder die zahlreichen Publikationen des Deutschen Instituts für Menschenrechte, die ebenfalls zum größten Teil praktische Ratgeber oder rechtspolitische Positionspapiere darstellen. 87 Rust/Falke (Hrsg.), AGG, 2007; Däubler/Beck (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 5. Aufl. 2022 (1. Aufl. 2007); Schiek/Kocher (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), 2007; Hey/ Forst (Hrsg.), Kommentar zum AGG, 2. Aufl. 2015 (1. Aufl. 2009); Adomeit/Mohr (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), 2. Aufl. 2011 (1. Aufl. 2007); Schleusener/Suckow/Plum (Hrsg.), AGG, 6. Aufl. 2022 (1. Aufl. 2007); Wendeling-Schröder/Stein (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2008; v. Roetteken (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz – AGG, 2014 (Stand: 78. Akt. 2021); Bauer/Krieger/Günther, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 5. Aufl. 2018 (1. Aufl. 2007); Meinel/ Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
überwiegt eine arbeits- und zivilrechtliche Betrachtungsweise, die Vorarbeiten zu den Gleichstellungsgesetzen wie auch aus der feministischen Rechtswissenschaft wenig (wenn überhaupt) zur Kenntnis nimmt88 oder diesen sogar explizit entgegentritt89. Beiträge aus der feministischen Rechtswissenschaft formulieren demgegenüber rechtspolitische Kritik an der Ausgestaltung des AGG.90 Inzwischen sind erste rechtswissenschaftliche Monographien mit übergreifendem Anspruch erschienen.91
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Auch wenn mittlerweile kein Rechtsgebiet und keine rechtliche Regelungsmaterie mehr dem Zugriff der unterschiedlichen Rechtsquellen des Verfassungs-, Unions- und Völkerrechts entgeht, ist das Antidiskriminierungsrecht in besonderer Weise von pluralistischer Rechtsquellenvielfalt geprägt. Antidiskriminierungsrechtliche Regelungen finden sich im Völkerrecht und im Recht der Europäischen Union sowie auf den verschiedenen Regelungsebenen des nationalen Rechts, deren wesentliche Grundstrukturen im Folgenden analysiert werden. I. Völkerrecht
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Im Völkerrecht gibt es vielfältige Gleichheitsgebote und Diskriminierungsverbote: Die zwischenstaatlichen Rechtsbeziehungen sind geprägt vom Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten (Art. 2 Ziff. 1 UN-Charta), und auch das Wirtschaftsvölkerrecht beruht mit dem Meistbegünstigungsgrundsatz und dem Gleichbehandlungsgebot in weiten Teilen auf diskriminierungsrechtlichen Regelungen.92 1. Universeller Menschenrechtsschutz
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Für das Antidiskriminierungsrecht als auf den Schutz von Individuen und Gruppen abzielende Rechtsmaterie erlangen indes die menschenrechtlichen Garantien besondere Bedeutung, steht doch die gleiche und diskriminierungsfreie Gewährleistung von Rechten Heyn/Herms (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2. Aufl. 2010 (1. Aufl. 2007); DickerhofBorello/Nollert-Borasio/Wenckebach (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 5. Aufl. 2019 (1. Aufl. 2006); Ernst u. a. (Hrsg.), Nomos-Kommentar Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2. Aufl. 2013 (1. Aufl. 2011). 88 Dezidiert an feministische Vorarbeiten anknüpfend Schiek/Kocher (Fn. 87). 89 Adomeit/Mohr (Fn. 87); zu Adomeits Positionierung kritisch Baer, Innovationen im Recht: Antidiskriminierungsrecht, in: Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationen im Recht, 2016, S. 271 (277 Fn. 14). 90 Wenckebach, Was leistet die Antidiskriminierungsstelle des Bundes?, ArbuR 2008, S. 340 ff. (sehr kritisch und mit Rechtsvergleich zu England und Österreich). Kritisiert wird vor allem der Bezug auf Kategorien, dazu ausführlich unten Rn. 95 ff. (E. IV.). 91 Siehe etwa die zivilrechtlichen Habilitationsschriften von Grünberger (Fn. 9); Kainer, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Zivilrecht, Habilitationsschrift 2011, im Erscheinen; Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018; aus öffentlich-rechtlicher Perspektive Mangold (Fn. 3). 92 Siehe v. Arnauld, Völkerrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 961 ff.; ausführlich bereits Jaenicke, Der Begriff der Diskriminierung im modernen Völkerrecht, 1940. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
C. Rechtsquellen des Antidiskriminierungsrechts
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im Zentrum des internationalen Menschenrechtsschutzes93 und bildet ein Strukturprinzip der internationalen Menschenrechtsarchitektur.94 So betont die Charta der Vereinten Nationen95 in der Präambel den Glauben der Völker der Vereinten Nationen an die Menschenrechte sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau und erhebt die Förderung und Festigung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu den Zielen der Vereinten Nationen.96 Das Diskriminierungsverbot ist damit das einzige substantielle Menschenrecht, das in der UN-Charta explizite Erwähnung findet. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR)97 betont in der Präambel sowie im Zusammenhang mit einzelnen Rechten die Gleichheit aller Menschen, enthält in Art. 2 AEMR ein Diskriminierungsverbot und statuiert in Art. 7 AEMR ein allgemeines Gleichheitsgebot sowie einen Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung.98 Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR)99 begründet in Art. 2 Abs. 1 IPbpR ein zu den substantiellen Rechten akzessorisches Verbot der Diskriminierung. Art. 26 IPbpR enthält in seinem ersten Satz ein Gleichheitsgebot sowie ein Diskriminierungsverbot und statuiert in seinem zweiten Satz eine staatliche Schutzpflicht gegenüber Diskriminierungen.100 Im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR)101 stellt das in Art. 2 Abs. 2 IPwskR vorgesehene akzessorisch zu den Rechten des Paktes bestehende Diskriminierungsverbot einen normativen Kerngehalt des Paktes dar.102 Besondere Bedeutung für das Antidiskriminierungsrecht erlangen sodann die speziel- 29 leren Menschenrechtsabkommen, von denen das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD),103 das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW)104 sowie das Überein93 Siehe Tomuschat, Human Rights: Between Idealism and Realism, 3. Auf. 2014, S. 73 f.; Überblick über
menschenrechtliche Diskriminierungsverbote bei Wolfrum, The Prohibition of Discrimination in International Human Rights Treaties, in: FS Riedel, 2013, S. 209 ff. 94 Clifford (Fn. 4), S. 430 ff. 95 Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1945, BGBl. 1973 II, S. 430. 96 Siehe Art. 1 Abs. 3, Art. 55 lit. c, Art. 62 Abs. 2, Art. 76 lit. c UN-Charta. 97 UN-Generalversammlung, Resolution 217 (III) v. 10.12.1948, UN Doc. A/RES/217(III) A. 98 Weitere gleichheitsrechtliche Gehalte finden sich in Art. 16 Satz 2, Art. 21 Abs. 2, Art. 23 Abs. 2, Art. 25 Abs. 2 Satz 2 AEMR. 99 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1533. 100 Zur extensiven Praxis des Menschenrechtsausschusses zu Art. 26 IPbpR Tomuschat (Fn. 93), S. 84 f. 101 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1569. 102 Siehe dazu Krajewski, Völkerrecht, 2. Aufl. 2019, § 12 Rn. 110 f.; Craven, The International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights: A Perspective on its Development, 1998, S. 153 f.; ausführlich CESCR, General Comment No. 20, Non-discrimination in economic, social and cultural rights v. 2.7.2009, UN Doc. E/C.12/GC/20. Zudem ordnet der Pakt im Hinblick auf einzelne Rechte deren gleichheitsrechtliche Gewährleistung an, siehe Art. 7 lit. a, lit. c, Art. 10 Nr. 3, Art. 13 Abs. 2 lit. c IPwskR; zur Gleichberechtigung von Mann und Frau noch Art. 3 IPwskR. 103 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung v. 21.12.1965, BGBl. 1969 II, S. 961. 104 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau v. 18.12.1979, BGBl. 1985 II, S. 1234. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
kommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK)105 eine spezifisch antidiskriminierungsrechtliche Stoßrichtung aufweisen, indem sie sich mit zahlreichen detaillierten Verpflichtungen sowohl in reaktiver als auch proaktiver Hinsicht dem Schutz besonders diskriminierungsanfälliger Gruppen widmen. Ähnliches gilt für das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC),106 dem zwar kein rein antidiskriminierungsrechtlicher Ansatz zugrunde liegt, das aber neben einem umfassenden Diskriminierungsverbot in Art. 2 CRC insgesamt dem Schutz einer besonders vulnerablen Gruppe dient. 30 Deutlich konkreter als im nationalen Recht wird im Rahmen dieser menschenrechtlichen Abkommen anerkannt, dass auch mittelbare Diskriminierungen dem Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots unterfallen.107 Schutzpflichten sind stärker ausgeprägt und spielen eine erhebliche Rolle. Sie finden sowohl in den Vertragstexten ihren expliziten Niederschlag108 als auch in der Praxis der Vertragsorgane.109 Der Menschenrechtsausschuss erkennt an, dass unter bestimmten Voraussetzungen Fördermaßnahmen (affirmative action) zugunsten benachteiligter Personengruppen erforderlich sein können.110 Sowohl im Zusammenhang mit rassistischer Diskriminierung111 als auch mit Diskriminierung von Frauen112 bestehen besondere Regelungen über Fördermaßnahmen. Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung zielt zudem auf nicht weniger als einen Paradigmenwechsel im Verständnis von und im Umgang mit Behinderungen ab.113 105 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung v. 13.12.2006, BGBl. 2008 II,
S. 1419.
106 Übereinkommen über die Rechte des Kindes v. 20.11.1989, BGBl. 1992 II, S. 121. 107 Siehe nur CERD, General Recommendation No. 14 on article 1, paragraph 1, of the Convention, UN
Doc. A/48/18 (1993), S. 115; CERD, General Recommendation No. 32, The meaning and scope of special measures in the International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, UN Doc. CERD/C/GC/32 (2009), Rn. 7; CEDAW, General Recommendation No. 28 on the core obligations of States parties under article 2 of the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, UN Doc. CEDAW/C/GC/28 (2010), Rn. 16; auch der Menschenrechtsausschuss baut hierauf auf, siehe CCPR, General Comment No. 18, Non-discrimination, 1989, Rn. 6 f. 108 Siehe nur das Diskriminierungsverbot des Art. 26 Satz 2 IPbpR; im ICERD finden sich Schutzpflichten vor allem in Art. 2, 4 und 6 ICERD; siehe auch Art. 2 CEDAW. 109 Siehe exemplarisch CCPR, General Comment No. 31 [80], The Nature of the General Legal Obligation Imposed on States Parties to the Covenant, UN Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add. 13 (2004), Rn. 8; CEDAW, General Recommendation No. 28 on the core obligations of States parties under article 2 of the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, UN Doc. CEDAW/C/ GC/28 (2010), Rn. 9, 16 f. 110 CCPR, General Comment No. 18: Non-discrimination (1989), Rn. 10. Positive Verpflichtungen der Staaten bestehen auch speziell im Hinblick auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau, siehe Art. 3 und Art. 23 Abs. 4 IPbpR; dazu CCPR, General Comment No. 28 Article 3 (The equality of rights between men and women), UN Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add.10 (2000); Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 4. Aufl. 2019, S. 417. 111 Siehe Art. 1 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 2 ICERD; hierzu CERD, General Recommendation No. 32, The meaning and scope of special measures in the International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, UN Doc. CERD/C/GC/32 (2009). 112 Siehe Art. 4 CEDAW; dazu CEDAW, General recommendation No. 25, Article 4, paragraph 1, of the Convention (temporary special measures) (2004). 113 Dazu → Zinsmeister, § 9 Rn. 54 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
C. Rechtsquellen des Antidiskriminierungsrechts
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Zur Überwachung der Einhaltung der Verpflichtungen durch die Vertragsstaaten 31 richten die Übereinkommen jeweils einen mit unabhängigen Experten besetzten Ausschuss ein, dem über Staatenberichtssysteme sowie fakultative Individual- und Staatenbeschwerdeverfahren die Aufgabe der Kontrolle staatlichen Handelns sowie der Interpretation und Fortentwicklung der jeweiligen Abkommen zukommt.114 Ergänzt werden diese Menschenrechtsabkommen durch Übereinkommen, die bereichsspezifisch Diskriminierung etwa im Bereich Bildung115 oder Beschäftigung116 adressieren. Auch die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)117 knüpft mit dem Flüchtlingsbegriff (Art. 1 A Nr. 2 GFK) und dem Refoulement-Verbot (Art. 33 Abs. 1 GFK) an diskriminierende Kategorien an und verpflichtet die Vertragsparteien zu einer diskriminierungsfreien Anwendung des Übereinkommens (Art. 3 GFK).118 2. Europäische Menschenrechtskonvention
Im Rahmen des Europarates ist die Europäische Menschenrechtskonvention119 das zentra- 32 le Übereinkommen mit antidiskriminierungsrechtlichem Gehalt.120 Die Konvention baut auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf und weist daher einige Parallelen zu den Verbürgungen der universellen Menschenrechtsabkommen auf, unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht aber auch von diesen.121 Die EMRK selbst enthält keinen allgemeinen Gleichheitssatz. Das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK122 hingegen 114 Überblick bei Dederer, Die Durchsetzung der Menschenrechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR,
Bd. VI/2, 2009, § 176 Rn. 66 ff.; ausführlich Rodley, The Role and Impact of Treaty Bodies, in: Shelton (Hrsg.), The Oxford Handbook of International Human Rights Law, 2013, S. 621 ff.; zur rechtlichen Bedeutung der Entscheidungen dieser Ausschüsse Payandeh, Rechtsauffassungen von Menschenrechtsausschüssen der Vereinten Nationen in der deutschen Rechtsordnung, NVwZ 2020, S. 125. 115 UNESCO Übereinkommen gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen v. 15.12.1960, BGBl. 1968 II, S. 385. 116 Internationale Arbeitsorganisation Übereinkommen Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf v. 25.6.1958, BGBl. 1961 II, S. 97. 117 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge v. 28.7.1951, BGBl. 1953 II, S. 559. 118 Zu Diskriminierungsschutz und Migration → Janda, § 24. 119 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.1950, BGBl. 1952 II, S. 686, in der Fassung der Bekanntmachung v. 22.10.2010, BGBl. 2010 II, S. 1198; zuletzt geändert mit Wirkung zum 1.8.2021 (BGBl. 2021 II, S. 522) durch Protokoll Nr. 15 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 24.6.2013, BGBl. 2014 II, S. 1034. 120 Im Rahmen des Europarates sind noch weitere völkerrechtliche Verträge mit Diskriminierungsverboten oder antidiskriminierungsrechtlichem Gehalt entwickelt worden: So enthält etwa die 1999 in Kraft getretene, von der Bundesrepublik 2021 ratifizierte (BGBl. 2020 II, S. 900) revidierte Europäische Sozialcharta v. 3.5.1996, ETS Nr. 163, in Art. E ein Diskriminierungsverbot. Auch das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten v. 1.2.1995, ETS Nr. 157, BGBl. 1997 II, S. 1406, enthält mehrere Diskriminierungsverbote (Art. 4, Art. 6 Abs. 2, Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2). Gegen geschlechtsspezifische Diskriminierung wendet sich schließlich das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt v. 11.5.2011, ETS Nr. 210, BGBl. 2017 II, S. 1026, die sogenannte Istanbul-Konvention. 121 Vergleichbares gilt für andere regionale Menschenrechtsabkommen, siehe hierzu Clifford (Fn. 4), S. 436 f.; Tomuschat (Fn. 93), S. 77 f. 122 Zu Entstehung und Hintergründen Schabas, The European Convention on Human Rights, A Commentary, 2015, S. 557 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
ist – anders als die allgemeine Gleichheitsgarantie des 2005 in Kraft getretenen, von der Bundesrepublik bislang nicht ratifizierten Protokolls Nr. 12,123 dem ein identischer Diskriminierungsbegriff zugrunde liegt124 und das im Übrigen nicht wesentlich über die Garantie des Art. 14 EMRK hinausgeht125 – als akzessorisches Recht ausgestaltet. Das bedeutet, dass die Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK stets die Anwendbarkeit – nicht notwendigerweise die Verletzung – eines anderen Konventionsrechts voraussetzt.126 Damit kann es zu Überschneidungen zwischen Art. 14 EMRK und anderen Konventionsrechten kommen: bei diskriminierungsmotivierten Gewalttaten im Hinblick auf Art. 3 EMRK, dem Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe,127 im Fall rassistisch motivierter Tötungsdelikte im Hinblick auf Art. 2 EMRK, dem Recht auf Leben.128 Ob ein Fall am Maßstab des Diskriminierungsverbots, eines anderen Konventionsrechts oder an beiden gemessen wird, entscheidet der EGMR unter Ansehung der Umstände des Einzelfalles und unter Berücksichtigung des Schwerpunkts des Vorbringens der Beschwerdeführenden.129 33 Die dogmatischen Grundlinien des Art. 14 EMRK sind in der Rechtsprechung des EGMR fest etabliert: Dem EGMR zufolge liegt eine Diskriminierung vor, wenn eine Person oder Gruppe anders behandelt wird als eine vergleichbare andere Person oder Gruppe und es dafür keine sachliche oder vernünftige Begründung gibt.130 An die Feststellung einer Ungleichbehandlung, insbesondere an das Kriterium der Vergleichbarkeit, knüpft der EGMR keine hohen Anforderungen.131 Art. 14 EMRK erfasst auch mittelbare Diskriminierungen, die sich aus der diskriminierenden Wirkung einer augenscheinlich neutralen Maßnahme oder Politik ergeben können.132 Die Zulässigkeit von Ungleichbehandlungen, die darauf abzielen, faktisch bestehende Ungleichheiten zwischen bestimmten Gruppen zu bekämpfen und zu kompensieren, erkennt der EGMR ausdrücklich an133 und betont sogar, dass die Gleichbehandlung faktisch unterschiedlicher Personen oder Personengruppen eine Diskriminierung darstellen kann.134 Neben der Ungleichbehandlung ist eine Anknüpfung 123 Protokoll Nr. 12 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.2000,
ETS Nr. 177.
124 Explanatory Report to the Protocol No. 12 to the Convention for the Protection of Human Rights and
Fundamental Freedoms v. 4.11.2000, ETS Nr. 177, Rn. 18.
125 Siehe Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl. 2021, § 26 Rn. 39 f.;
Sauer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 1 12. ZP Rn. 1.
126 EGMR, Urt. v. 4.3.2014, Beschwerde-Nr. 7552/09, Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints v.
Vereinigtes Königreich, Rn. 25; siehe im Einzelnen und zu einzelnen Fallgruppen Grabenwarter/Pabel (Fn. 125), § 26 Rn. 4 ff. 127 EGMR, Urt. v. 12.5.2015, Beschwerde-Nr. 73235/12, Identoba u. a. v. Georgien, Rn. 63. 128 EGMR, Urt. v. 6.7.2005, Beschwerde-Nr. 43577/98 und 43579/98, Nachova u. a. v. Bulgarien, Rn. 144 ff. 129 Siehe EGMR, Urt. v. 16.3.2010, Beschwerde-Nr. 15766/03, Oršuš u. a. v. Kroatien, Rn. 144; Grabenwarter/Pabel (Fn. 125), § 26 Rn. 2 f.; Sauer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 14 Rn. 19. 130 EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik, Rn. 175. 131 Grabenwarter/Pabel (Fn. 125), § 26 Rn. 8. 132 EGMR, Urt. v. 4.5.2001, Beschwerde-Nr. 24746/94, Hugh Jordan v. Vereinigtes Königreich, Rn. 154. 133 EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik, Rn. 175. 134 EGMR, Urt. v. 6.4.2000, Beschwerde-Nr. 34369/97, Thlimmenos v. Griechenland, Rn. 44. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
C. Rechtsquellen des Antidiskriminierungsrechts
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an eine Diskriminierungskategorie erforderlich, woran ebenfalls keine hohen Anforderungen geknüpft werden, da die Aufzählung der Kategorien des Art. 14 EMRK ausdrücklich nicht abschließend ist und der EGMR zudem über die Kategorie des „sonstigen Status“ Gesichtspunkte einfließen lässt, die von anderen Kategorien nicht erfasst werden.135 Auf der Ebene des Tatbestandes verblasst daher die Bedeutung der Differenzierungskategorien, auf Rechtfertigungsebene kann sie allerdings wieder Relevanz entfalten.136 Der EGMR hat schon früh betont, dass trotz des gerade in der französischen Fassung 34 (sans distinction aucune) sehr strikt erscheinenden Art. 14 EMRK nicht jede unterschiedliche Behandlung eine konventionswidrige Diskriminierung darstellt, sondern dass unterschiedliche Situationen und Probleme unterschiedliche rechtliche Lösungen erfordern.137 Eine Ungleichbehandlung stellt danach nur dann eine Diskriminierung dar, wenn keine sachliche und vernünftige Rechtfertigung vorliegt, wofür der EGMR verlangt, dass mit der Ungleichbehandlung ein legitimes Ziel verfolgt wird und zwischen dem angestrebten Ziel und dem eingesetzten Mittel ein angemessenes Verhältnis besteht.138 Im Zentrum der Rechtfertigungsprüfung steht damit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.139 Dabei betont der EGMR einerseits den Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten (margin of appreciation) bei der Frage, inwiefern eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt erscheint.140 Andererseits bringt der EGMR in Ansehung der unterschiedlichen Differenzierungsgründe unterschiedlich strenge Rechtfertigungsanforderungen zur Anwendung.141 Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Religion oder der Rasse verlangen für eine Rechtfertigung besonders schwerwiegende Gründe.142 Speziell mit Blick auf die Kriterien der Rasse, Hautfarbe und der ethnischen Herkunft betont der Gerichtshof, dass das Erfordernis einer sachlichen und vernünftigen Rechtfertigung so streng wie möglich gehandhabt werden muss.143 Eine Unterscheidung, die ausschließlich oder im Wesentlichen auf die ethnische Herkunft oder Rasse einer Person abstellt, ist nach Auffassung des EGMR nicht zu rechtfertigen.144 In der Rechtsprechung des EGMR kommt schließlich – wie typischerweise im Rahmen 35 der Diskriminierungsverbote – der Frage des Nachweises einer Diskriminierung be135 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 2.11.2010, Beschwerde-Nr. 3976/05, Şerife Yiğit v. Türkei, Rn. 78. 136 Grabenwarter/Pabel (Fn. 125), § 26 Rn. 12. 137 EGMR, Urt. v. 23.7.1968, Beschwerde-Nr. 1474/62 u. a., Case „relating to certain aspects of the laws on
the use of languages in education in Belgium“, Rn. 10. 138 EGMR, Urt. v. 18.2.1999, Beschwerde-Nr. 29515/95, Larkos v. Zypern, Rn. 29; EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik, Rn. 196. 139 Schabas (Fn. 122), S. 565; Grabenwarter/Pabel (Fn. 125), § 26 Rn. 13 f. 140 EGMR, Urt. v. 18.2.1999, Beschwerde-Nr. 29515/95, Larkos v. Zypern, Rn. 29; Analyse der Rechtsprechung bei Sauer (Fn. 129), Art. 14 Rn. 38 ff. 141 Ausführliche Analyse bei Altwicker (Fn. 6), S. 196 ff. 142 Zur Systematik der Rechtfertigungsgründe für Diskriminierungen → Reimer, § 17 Rn. 74 ff. 143 EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik, Rn. 196; dazu → Barskanmaz, § 7 Rn. 42 ff. 144 EGMR, Urt. v. 13.12.2005, Beschwerde Nr. 55762/00 und 55974/00, Timishev v. Russland, Rn. 58; EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik, Rn. 176; Sauer (Fn. 129), Art. 14 Rn. 4 und Rn. 40. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
sondere Bedeutung zu.145 Mit Blick auf die Beweislastverteilung geht der EGMR davon aus, dass Beschwerdeführende eine Ungleichbehandlung aufzeigen müssen und sodann dem beklagten Staat die Beweislast dafür obliegt, dass diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist.146 Im Rahmen des prima facie-Nachweises einer Ungleichbehandlung lässt der Gerichtshof erkennen, dass er einerseits gewillt ist, eine Vielzahl von Informationsquellen und Umständen zu berücksichtigen, andererseits sehr offen mit dem notwendigen Beweismaß umgeht.147 Auch den Grundsatz, dass jede Partei diejenigen Tatsachen beweisen muss, auf die sie sich beruft, handhabt der EGMR flexibel: Soweit aufgrund der Umstände notwendigerweise davon auszugehen ist, dass bestimmte Informationen ausschließlich in der Sphäre des Staates vorhanden sind, kann es zu einer Beweislastumkehr kommen.148 Zur Feststellung einer faktischen Diskriminierung greift der EGMR auch auf Statistiken zurück.149 Auch insofern kann sich die Beweislast auf den verklagten Staat verlagern. Der EGMR erkennt schließlich positive Verpflichtungen im Zusammenhang mit 36 Art. 14 EMRK an.150 Er bejaht eine weitreichende Schutzpflicht im Hinblick auf Diskriminierungen, die von Privaten ausgehen. So verpflichtet Art. 14 EMRK die Staaten nach Auffassung des EGMR etwa dazu, effektive gerichtliche Rechtsschutzstrukturen gegen Diskriminierung zu errichten.151 Staatliche Instanzen müssen auch im Übrigen Maßnahmen gegen gesellschaftliche Diskriminierungspraxen ergreifen.152 Fest etabliert in der Rechtsprechung des EGMR ist zudem die Verpflichtung, mögliche rassistische Motive einer Straftat effektiv zu untersuchen.153 Diese Rechtsprechung lässt sich auch auf andere Dis-
145 Siehe Schabas (Fn. 122), S. 569 ff.; ausführliche Analyse bei Schlüter, Beweisfragen in der Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 2019, S. 305 ff.; allgemein zu Fragen des Beweisrechts im Antidiskriminierungsrecht → Muthorst, § 19. 146 EGMR, Urt. v. 29.4.1999, Beschwerde-Nr. 25088/94 u. a., Chassagnou u. a. v. Frankreich, Rn. 91 f.; EGMR, Urt. v. 13.12.2005, Beschwerde Nr. 55762/00 und 55974/00, Timishev v. Russland, Rn. 57. 147 Siehe EGMR, Urt. v. 6.7.2005, Beschwerde-Nr. 43577/98 und 43579/98, Nachova u. a. v. Bulgarien, Rn. 147; EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik, Rn. 178. 148 Siehe EGMR, Urt. v. 6.7.2005, Beschwerde-Nr. 43577/98 und 43579/98, Nachova u. a./Bulgarien, Rn. 157; EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. und andere/Tschechische Republik, Rn. 179; siehe auch Sauer (Fn. 129), Art. 14 Rn. 30 f. 149 Siehe EGMR, Beschl. v. 6.1.2005, Beschwerde-Nr. 58641/00, Hoogendijk v. Niederlande; EGMR, Urt. v. 20.6.2006, Beschwerde-Nr. 17209/02, Zarb Adami v. Malta, Rn. 75 ff.; EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik, Rn. 180; zur Bedeutung von Statistiken für den Nachweis von Diskriminierungen → Towfigh, § 18 Rn. 9 ff. 150 Dazu Grabenwarter/Pabel (Fn. 125), § 26 Rn. 34 ff.; Altwicker (Fn. 6), S. 304 ff.; Krieger, Positive Verpflichtungen unter der EMRK: Unentbehrliches Element einer gemein-europäischen Grundrechtsdogmatik, leeres Versprechen oder Grenze der Justiziabilität?, ZaöRV 74 (2014), S. 187 ff.; Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht, 2012, S. 104 ff., S. 205 ff. und S. 255 ff. 151 EGMR, Urt. v. 30.7.2009, Beschwerde-Nr. 67336/01, Danilenkov u. a. v. Russland, Rn. 124. 152 EGMR, Urt. v. 9.6.2009, Beschwerde-Nr. 33401/02, Opuz v. Türkei, Rn. 183 ff.; sehr weitreichend auch EGMR, Urt. v. 6.7.2005, Beschwerde-Nr. 43577/98 und 43579/98, Nachova u. a. v. Bulgarien, Rn. 145; EGMR, Urt. v. 31.5.2007, Beschwerde-Nr. 40116/02, Šečić v. Kroatien, Rn. 66 ff.; EGMR, Urt. v. 26.7.2007, Beschwerde-Nr. 55523/00, Angelova und Iliev v. Bulgarien, Rn. 115 ff.; EGMR, Urt. v. 14.12.2010, Beschwerde-Nr. 74832/01, Mižigárová v. Slowakei, Rn. 119 ff. 153 EGMR, Urt. v. 6.7.2005, Beschwerde-Nr. 43577/98 und 43579/98, Nachova u. a. v. Bulgarien, Rn. 160 f. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
C. Rechtsquellen des Antidiskriminierungsrechts
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kriminierungskategorien wie etwa die sexuelle Orientierung übertragen.154 Ansatzpunkte für positive Verpflichtungen ergeben sich auch im Zusammenhang mit der Aussage, dass die Gleichbehandlung trotz faktisch bestehender Unterschiede eine Diskriminierung darstellen kann.155 Indem der EGMR anerkennt, dass das staatliche Unterlassen von Bemühungen, faktische Ungleichbehandlungen durch differenzierende Behandlungen zu korrigieren, selbst eine Konventionsverletzung darstellen kann,156 erkennt er dem Grunde nach eine staatliche Verpflichtung zum Erlass positiver Maßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen an.157 Der EGMR betont zudem allgemein, dass die Vertragsstaaten die besonderen Bedürfnisse einer benachteiligten Gruppe hinreichend zu berücksichtigen haben.158 3. Besonderheiten und Potential des völkerrechtlichen Antidiskriminierungsrechts
Die völkerrechtlichen Verpflichtungen mit antidiskriminierungsrechtlichem Gehalt weisen 37 einige Besonderheiten auf: Neben der klassischen abwehrrechtlichen Dimension (obligation to respect) lassen die menschenrechtlichen Regime im Vergleich zur nationalen Rechtsordnung eine besondere Bedeutung von Schutzpflichten (obligation to protect) erkennen159 und erweisen sich zum Teil als besonders sensibel für Fragen der effektiven Durchsetzung und für die systemischen Rahmenbedingungen zur Verwirklichung von Menschenrechten (obligation to fulfill).160 Sie zeigen zudem eine zum Teil über das deutsche Recht deutlich hinausgehende Offenheit für positive Maßnahmen.161 Wichtige Impulse können von den Definitionen von Diskriminierung ausgehen, die in einigen Verträgen explizit normiert sind162 und deutlicher als nationale Regelungen herausstellen, dass auch mittelbare Diskriminierungen erfasst werden sowie Belästigungen163 und die Anweisung164 zu Diskrimi154 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 12.5.2015, Beschwerde-Nr. 73235/12, Identoba u. a. v. Georgien, Rn. 67. 155 EGMR, Urt. v. 6.4.2000, Beschwerde-Nr. 34369/97, Thlimmenos v. Griechenland, Rn. 44. 156 EGMR, Urt. v. 12.4.2006, Beschwerde-Nr. 65731/01 and 65900/01, Stec u. a. v. Vereinigtes Königreich,
Rn. 51; bestätigt in EGMR, Urt. v. 29.6.2006, Beschwerde-Nr.23960/02, Zeman v. Österreich, Rn. 32; EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 573250/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik, Rn. 175; EGMR, Urt. v. 29.1.2013, Beschwerde-Nr. 11146/11, Horváth und Kiss v. Ungarn, Rn. 101. 157 So auch Peters/König, Das Diskriminierungsverbot, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Bd. II, 2. Aufl. 2013, Kap. 21 Rn. 101; Meyer-Ladewig/Lehner, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer (Hrsg.), EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 14 Rn. 15; zweifelnd Sauer (Fn. 129), Art. 14 Rn. 47; kritisch Heyden/v. Ungern-Sternberg, Ein Diskriminierungsverbot ist kein Fördergebot – wider die neue Rechtsprechung des EGMR zu Art. 14 EMRK, EuGRZ 2009, S. 81 (86 ff.); Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Juli 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 33. 158 EGMR, Urt. v. 16.3.2010, Beschwerde-Nr. 15766/03, Oršuš u. a. v. Kroatien, Rn. 182. 159 Ausführlich Stahl (Fn. 150). 160 Siehe nur CCPR, General Comment No. 31 [80], The Nature of the General Legal Obligation Imposed on States Parties to the Covenant v. 29.3.2004, UN Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add. 13, Rn. 7. 161 Clifford (Fn. 4), S. 439 ff.; dazu → Schuler-Harms, § 16 Rn. 39 ff. 162 Art. 1 Abs. 1 ICERD; Art. 1 CEDAW; Art. 2 UN-BRK. 163 Siehe etwa CESCR, General Comment No. 20, Non-discrimination in economic, social and cultural rights (art. 2, para. 2, of the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights), UN Doc. E/C.12/GC/20 (2009), Rn. 7. 164 Siehe etwa Art. 2 Abs. 1 lit. a, Art. 4 ICERD. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
nierung. Aufgrund ihres Fokus auf bestimmte Formen von Diskriminierung haben die menschenrechtlichen Ausschüsse schließlich potentiell eine besondere Sensibilität für die Interessen und Schutzbedürftigkeit der jeweils geschützten Gruppen, sodass ihre Praxis zum Teil weitgehende und progressive Ansätze in antidiskriminierungsrechtlichen Fragen erkennen lässt.165 38 Ähnliches gilt für die EMRK, die sich im Vergleich zu den universellen Menschenrechtsregimen durch einen schlagkräftigen Gerichtshof auszeichnet, der Rechtsverletzungen im Einzelfall feststellen kann und mit seiner Rechtsprechung in autoritativer Weise zur Auslegung, Konkretisierung und Fortentwicklung der Konvention beiträgt. Konvention und Rechtsprechung des EGMR kommt auch innerstaatlich ein besonderer Stellenwert zu.166 Wichtige Impulse für antidiskriminierungsrechtliche Fragestellungen können dabei einerseits von Einzelentscheidungen ausgehen, andererseits generell aus dem dynamischprogressiven Ansatz des EGMR folgen, etwa im Hinblick auf die bereitwillige Annahme von positiven Verpflichtungen oder den flexiblen Umgang mit dem Beweisrecht im Kontext von Diskriminierungen. II. Recht der Europäischen Union 39
Im Unionsrecht haben Diskriminierungsverbote eine lange Tradition und Bedeutung, insbesondere im Kontext des Abbaus von Handelshemmnissen und Wettbewerbsverzerrungen.167 Die marktbezogenen Grundfreiheiten stellen im Kern Diskriminierungsverbote dar, sie werden ergänzt durch das grundlegende Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV ).168 Die antidiskriminierungsrechtlichen Regelungen des Unionsrechts im engeren Sinne lassen sich unterteilen in Regelungen der Unionsverträge, unionsgrundrechtliche Garantien sowie sekundärrechtliche Konkretisierungen. 1. Antidiskriminierungsrechtliche Regelungsgehalte der Unionsverträge
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Art. 2 EUV zählt Menschenwürde und Gleichheit zu den Werten, auf denen sich die Union gründet, und sieht Pluralismus, Nichtdiskriminierung und Toleranz auch als gesellschaftliche Werte an. Neben dem als Gebot der Entgeltgleichheit bereits im EWGVertrag verankerten Grundsatz der Gleichstellung von Mann und Frau im Erwerbsleben (heute Art. 157 AEUV ) erhebt der EU-Vertrag die Bekämpfung von Diskriminierung zu einem Ziel der Union (Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 EUV ), das nach der Querschnittsklausel des 165 Zu den entsprechenden Chancen und Risiken Payandeh, Die Entscheidung des UN-Ausschusses
gegen Rassendiskriminierung im Fall Sarrazin, JZ 2013, S. 980 (988 f.); Payandeh, Fragmentation within international human rights law, in: Andenas/Bjorge (Hrsg.), A Farewell to Fragmentation, 2015, S. 299 (308 ff.). 166 Siehe BVerfGE 74, 358 (370) – Unschuldsvermutung (1987); BVerfGE 111, 307 (317 ff.) – Görgülü (2004); BVerfGE 128, 326 (367 ff.) – Sicherungsverwahrung II (2011); BVerfGE 148, 296 (350 ff. Rn. 126 ff.) – Beamtenstreikverbot (2018); zum Ganzen Sauer, Staatsrecht III, 7. Aufl. 2022, § 7 Rn. 18 ff. 167 Dazu bereits oben Rn. 20 (B. II.). 168 Dazu Schmahl, Gleichheitsgarantien, in: Grabenwarter (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz, Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2, 2. Aufl. 2022, § 15 Rn. 60 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
C. Rechtsquellen des Antidiskriminierungsrechts
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Art. 10 AEUV – für die Gleichstellung von Mann und Frau nochmals speziell in Art. 8 AEUV geregelt – im Rahmen der Politik und Maßnahmen der Union zu berücksichtigen ist. Seit dem Vertrag von Amsterdam enthält das Unionsrecht zudem eine weitreichende Kompetenzgrundlage für den Erlass antidiskriminierungsrechtlicher Maßnahmen, den heutigen Art. 19 AEUV. 2. Unionsgrundrechtliche Diskriminierungsverbote
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat bereits vor Inkrafttreten der Charta der 41 Grundrechte der Europäischen Union anerkannt, dass Gleichheit und Nichtdiskriminierung zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehören.169 Die mit dem Vertrag von Lissabon zu rechtlicher Verbindlichkeit erstarkte (Art. 6 Abs. 1 EUV ) Grundrechte-Charta enthält nunmehr einen eigenen Abschnitt über Gleichheit, der neben einem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 20 GRCh) im Anschluss an Art. 14 EMRK ein umfassendes Diskriminierungsverbot (Art. 21 GRCh) statuiert.170 Art. 21 GRCh erfasst sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierungen171 und geht im Hinblick auf die Diskriminierungskategorien über den Standard der universellen Menschenrechtsverbürgungen hinaus.172 Rechtfertigungen von Diskriminierungen sind grundsätzlich möglich, der allgemeine Einschränkungsvorbehalt des Art. 52 Abs. 1 GRCh findet auch auf Art. 21 GRCh Anwendung,173 wenngleich die Rechtsprechung des EuGH insofern eher zurückhaltend ausfällt.174 Die Anforderungen an eine Rechtfertigung können sowohl im Hinblick auf die verschiedenen Diskriminierungskategorien variieren, als auch sich danach unterscheiden, ob eine unmittelbare oder eine mittelbare Diskriminierung vorliegt.175 Art. 21 GRCh ist nach der Rechtsprechung des EuGH unmittelbar anwendbar und begründet ein subjektives Recht.176 Wirkungen mit Blick auf Privatrechtsverhältnisse entfaltet Art. 21 GRCh primär über 42 seine sekundärrechtlichen Konkretisierungen, daneben besteht eine staatliche Schutz169 EuGH, Urt. v. 3.5.2007, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Rn. 45 f.; zur Verankerung in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 21 Rn. 5 ff. 170 Ergänzt werden diese Regelungen durch das Gebot der Gleichheit von Männern und Frauen (Art. 23 GRCh), spezielle Regelungen zu den Rechten von Kindern (Art. 24 GRCh) und älteren Menschen (Art. 25 GRCh) und zur Integration von Menschen mit Behinderung (Art. 26 GRCh) sowie ein grundsätzliches Bekenntnis zur Vielfalt von Kulturen, Religionen und Sprachen (Art. 22 GRCh). 171 Hölscheidt (Fn. 169), Art. 21 Rn. 36 ff.; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2021, Art. 21 Rn. 10 f. 172 Tomuschat (Fn. 93), S. 77. 173 EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, Léger, Rn. 51 ff. 174 Siehe Classen, Freiheit und Gleichheit im öffentlichen und im privaten Recht – Unterschiede zwischen europäischem und deutschem Grundrechtsschutz?, EuR 2008, S. 627 (633 ff.). 175 Jarass (Fn. 171), Art. 21 Rn. 29; Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung, 2008, S. 53; differenzierend Mangold/Payandeh, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit im Unionsrecht, EuR 2017, S. 700 (708 ff.). 176 Jarass (Fn. 171), Art. 21 Rn. 3; Hölscheidt (Fn. 169), Art. 21 Rn. 31 f.; Schmahl (Fn. 168), § 15 Rn. 3 und Rn. 6.
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
pflicht gegenüber von Privaten ausgehenden Diskriminierungen.177 Bedeutung erlangt Art. 21 GRCh zudem über die allgemeinen unionsrechtlich anerkannten Einwirkungsmöglichkeiten wie etwa die unionsrechtskonforme Auslegung oder die Unanwendbarkeit unionsrechtswidrigen nationalen Rechts.178 Darüber hinaus wird eine unmittelbare Drittwirkung des Art. 21 GRCh zwar im Schrifttum weitgehend abgelehnt;179 gleichwohl betont der EuGH in seiner neueren Rechtsprechung, Art. 21 GRCh verleihe dem Einzelnen ein Recht, das er in einem Rechtsstreit geltend machen könne, und stellt dann – durchaus kryptisch – fest, Art. 21 GRCh verbiete Diskriminierungen auch dann, wenn sie aus Verträgen zwischen Privatpersonen resultierten.180 3. Antidiskriminierungsrechtliches Sekundärrecht
Das Antidiskriminierungsrecht der Europäischen Union ist schließlich in besonderem Maße sekundärrechtlich geprägt.181 Gestützt auf Art. 19 AEUV haben die Unionsorgane eine Reihe von Antidiskriminierungs-Richtlinien erlassen: Die Antirassismus-Richtlinie ist auf Diskriminierungen aufgrund der „Rasse“ oder ethnischen Herkunft beschränkt, beansprucht dafür aber Anwendbarkeit im gesamten öffentlichen wie auch privaten Bereich, bezogen auf Beschäftigungsverhältnisse, den sozialen Bereich, das Bildungswesen sowie die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen.182 Die Rahmenrichtlinie erfasst einen weitergehenden Kreis an Diskriminierungskategorien, ist dafür aber in ihrer sachlichen Reichweite auf den Bereich von Beschäftigung und Beruf beschränkt.183 Die GenderRichtlinie erfasst ausschließlich geschlechtsspezifische Diskriminierungen und ist in ihrer Anwendungsreichweite beschränkt auf den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen.184 44 Den Richtlinien liegt ein weiter Begriff von Diskriminierung zugrunde, der unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen ebenso erfasst wie Belästigungen und Anweisungen zur Diskriminierung.185 Positive Maßnahmen sind zulässig.186 Über ihren materiell-rechtlichen Gehalt hinaus zielen die Richtlinien auf eine möglichst effektive Umsetzung ab, 43
177 Classen (Fn. 174), S. 639; Jarass (Fn. 171), Art. 21 Rn. 18; Schmahl (Fn. 168), § 15 Rn. 29 und Rn. 172;
Peters/König (Fn. 157), Kap. 21 Rn. 92; dagegen Hölscheidt (Fn. 169), Art. 21 Rn. 56; Rossi, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2021, Art. 21 GRCh Rn. 11. 178 Dazu Sauer (Fn. 166), § 8 Rn. 25 ff. 179 Siehe nur Hölscheidt (Fn. 169), Art. 21 Rn. 34; anders nun Jarass (Fn. 171), Art. 21 Rn. 4. 180 EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 77; EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-68/17, IR, Rn. 69; EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco, Rn. 76 f. Darin lässt sich die Andeutung einer unmittelbaren Wirkung des primärrechtlichen Diskriminierungsverbotes sehen, so etwa Kainer, Rückkehr der unmittelbar-horizontalen Grundrechtswirkung aus Luxemburg?, NZA 2018, S. 894 ff. 181 Siehe dazu bereits oben Rn. 43 ff. (C. II. 3.). 182 Art. 1, Art. 3 Antirassismus-Richtlinie. 183 Art. 1, Art. 3 Rahmenrichtlinie. 184 Art. 1, Art. 3 Gender-Richtlinie. 185 Art. 2 Antirassismus-Richtlinie; Art. 2 Rahmenrichtlinie; Art. 4 Gender-Richtlinie, die zusätzlich noch die sexuelle Belästigung aufführt; zu den Rechtsfiguren → Sacksofsky, § 14 Rn. 4 ff. 186 Art. 5 Antirassismus-Richtlinie; Art. 7 Rahmenrichtlinie; Art. 6 Gender-Richtlinie. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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indem sie Regelungen zum Rechtsschutz,187 zur Beweislast188 und zu Sanktionen treffen189 und die Einrichtung besonderer Stellen zur Bekämpfung von Diskriminierung fordern.190 Die Bedeutung der Richtlinien liegt neben der Konkretisierung der primärrechtlichen Vorgaben vor allem in der Erstreckung der Diskriminierungsverbote auf private Rechtsverhältnisse, wenngleich diese aufgrund der Handlungsform der Richtlinie grundsätzlich nicht mit unmittelbarer Wirkung erfolgt, sondern erst nach gesetzgeberischer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten.191 Neben den auf das Privatrecht fokussierten Richtlinien erlangt auch das Europäische Strafrecht Bedeutung für die Diskriminierungsbekämpfung insbesondere im Hinblick auf rassistische Hasskriminalität.192 4. Besonderheiten und Potential des unionsrechtlichen Antidiskriminierungsrechts
Das Antidiskriminierungsrecht der Union ergibt sich aus einer Gesamtschau von primär- 45 und sekundärrechtlichen Normierungen: Die Antidiskriminierungsrichtlinien konkretisieren die primärrechtlichen Vorgaben und füllen Handlungsspielräume aus,193 sind dafür ihrerseits im Lichte des Primärrechts und insbesondere der Unionsgrundrechte auszulegen.194 Sie müssen zudem mit den Unionsgrundrechten im Einklang stehen,195 sodass der EuGH im Fall Test-Achats eine in der Gender-Richtlinie vorgesehene versicherungsspezifische Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen für mit Art. 21 und Art. 23 GRCh unvereinbar erklärt hat.196 Die Bedeutung des Antidiskriminierungsrechts der Europäischen Union ergibt sich aus den allgemeinen strukturellen Besonderheiten, die dem Unionsrecht zu effektiven Wirkungen im innerstaatlichen Recht verhelfen: der unmittelbaren Anwendbarkeit primärrechtlicher Normen, dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts, dem Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung sowie den Mechanismen, mit denen die Wirksamkeit europäischer Richtlinien sichergestellt werden soll. Mit der Europäischen Kommission und ihren Überwachungsmechanismen sowie dem Gerichtshof der Europäischen Union stehen schlagkräftige europäische Institutionen bereit, die im Zusammenwirken mit den mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichten für die Durchsetzung, Auslegung und Fortbildung des europäischen Antidiskriminierungsrechts Sorge tragen. 187 Art. 7 Antirassismus-Richtlinie; Art. 9 Rahmenrichtlinie; Art. 8 Gender-Richtlinie. 188 Art. 8 Antirassismus-Richtlinie; Art. 10 Rahmenrichtlinie; Art. 9 Gender-Richtlinie; dazu → Muthorst,
§ 19 Rn. 30 ff. Art. 15 Antirassismus-Richtlinie; Art. 17 Rahmenrichtlinie; Art. 14 Gender-Richtlinie. Art. 13 Antirassismus-Richtlinie; Art. 12 Gender-Richtlinie. Schmahl (Fn. 168), § 15 Rn. 26. Siehe Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates v. 28.11.2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ABl. 2008 L 328/55; dazu → Schmidt, § 21 Rn. 32. 193 EuGH, Urt. v. 8.9.2011, Rs. C-297/10 und C-298/10, Hennigs und Mai, Rn. 34; Schmahl (Fn. 168), § 15 Rn. 5; Jarass (Fn. 171), Art. 21 Rn. 7. 194 Ausführlich Däubler/Beck, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, Einleitung Rn. 80 ff. 195 Jarass (Fn. 171), Art. 21 Rn. 7. 196 EuGH, Urt. v. 1.3.2011, Rs. C-236/09, Test-Achats, Rn. 15 ff. 189 190 191 192
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
Aus der Perspektive der deutschen Rechtsordnung hat das Unionsrecht dem Antidiskriminierungsrecht im Bereich privatrechtlicher Rechtsverhältnisse erst zum Durchbruch verholfen.197 Wichtige Impulse gehen vom Unionsrecht zudem im Hinblick auf den erweiterten Katalog der Diskriminierungskategorien aus sowie aufgrund der zum Teil weitergehenden, zum Teil schlicht klareren Bekenntnisse zu dogmatischen Kategorien wie der mittelbaren Diskriminierung, der Einbeziehung von Belästigungen in den Diskriminierungsbegriff, der positiven Maßnahmen oder der Schutzpflichtendimension der Diskriminierungsverbote. Unionsrechtliche Impulse können zudem auf Potential hinweisen, das in nationalen Rechtsordnungen unbeachtet schlummert, wie etwa die lange Zeit kaum beachtete Bedeutung von Art. 3 Abs. 3 GG im Rahmen von Privatrechtsverhältnissen.198 Es steht zu vermuten, dass die vom EuGH angedeutete unmittelbare Wirkung des Art. 21 GRCh im Verhältnis zwischen Privaten auch die Debatte um die Bedeutung verfassungsrechtlicher Gleichheitsgebote und Diskriminierungsverbote beeinflussen und vorantreiben wird. Dass das Antidiskriminierungsrecht auch gefestigt geglaubte Vorstellungen und dogmatische Figuren des nationalen Rechts einschließlich des Verfassungsrechts fraglich werden lässt, zeigen die kategorialen Umbrüche, die das deutsche kirchliche Arbeitsrecht innerhalb kurzer Zeit nachvollziehen musste.199 III. Deutsche Rechtsordnung
47 Innerhalb der deutschen Rechtsordnung finden sich antidiskriminierungsrechtliche Re-
gelungsgehalte sowohl im Grundgesetz und im einfachen Bundesrecht als auch auf der Ebene des Landesrechts.
1. Verfassungsrecht 48 Im Grundgesetz kommt dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG zentrale
Bedeutung für das Antidiskriminierungsrecht zu, für die Diskriminierung auf der Grundlage des Geschlechts zudem Art. 3 Abs. 2 GG. Dabei gilt nach wie vor die bereits 1983 getroffene Feststellung des Richters des Bundesverfassungsgerichts Helmut Simon, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG ein „merkwürdiges Schattendasein“ führt.200 Die Bedeutung, die die Vorschrift für die Rechtsordnung und damit auch für die Gesellschaftsordnung entfaltet, hängt stark davon ab, ob und wieweit sie restriktiv oder extensiv ausgelegt wird, eine Entscheidung, die nur in begrenztem Umfang von Wortlaut und Entstehungsgeschichte determiniert ist. Vorverständnisse hinsichtlich der Frage, ob den Diskriminierungsverboten ein eher formales oder ein materiales Verständnis zugrunde zu 197 Siehe dazu bereits oben Rn. 20 ff. (B. II.). 198 Uerpmann-Wittzack, Gleiche Freiheit im Verhältnis zwischen Privaten: Artikel 3 Abs. 3 GG als
unterschätzte Verfassungsnorm, ZaöRV 68 (2008), S. 359.
199 Überblick zur Entwicklung bei Klein, Das Recht der Kirchen im Tauziehen zwischen Luxemburg und
Karlsruhe – Das kirchliche Arbeitsrecht als Machtprobe?, EuR 2019, S. 338; dazu → Walter/Tremml, § 8 Rn. 38 ff. 200 BVerfGE 63, 266 (303) – Zulassung zur Rechtsanwaltschaft (1983), abweichende Meinung Simon. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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legen ist, prägen die Auslegung der Norm,201 ebenso die Frage, ob die Norm individualoder gruppenbezogen zu deuten ist.202 Die Diskriminierungsverbote der Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG folgen dem Modell 49 eines abschließenden Katalogs von Diskriminierungskategorien.203 Die in Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG verankerten Diskriminierungskategorien knüpfen im Kern an historisch tradiertes Unrecht und überkommene Formen der Benachteiligung an,204 das Diskriminierungsverbot zielt auf den Schutz „strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen“.205 Nicht explizit erfasst werden Benachteiligungen wegen der sexuellen Orientierung206 oder des Alters,207 die in Art. 3 Abs. 1 GG aufgefangen werden und erhöhten Rechtfertigungsanforderungen unterliegen.208 Die Auseinandersetzung um die Dogmatik des Art. 3 Abs. 3 GG ist geprägt von der 50 Frage, wann eine Ungleichbehandlung „wegen“ einer der dort normierten Kategorien vorliegt.209 Dabei stehen sich traditionell zwei Deutungsansätze gegenüber: ein Anknüpfungsverbot, das jede Verwendung einer Diskriminierungskategorie als Voraussetzung einer Rechtsfolge untersagt,210 und ein Begründungsverbot, das Unterscheidungen untersagt, die ohne Rückgriff auf eine der Diskriminierungskategorien des Art. 3 Abs. 3 GG nicht begründet werden können.211 Die Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen wird zum einen dadurch erschwert, dass sie in unterschiedlichen Spielarten und in unterschiedlich rigiden Varianten vertreten werden, zum anderen dadurch, dass ganz unterschiedliche Fragestellungen diskutiert werden, die zwar miteinander zusammenhängen, aber doch konzeptionell zu unterscheiden sind: etwa die Frage nach der Relevanz oder Irrelevanz einer diskriminierenden Absicht, die auch unter den Stichworten Finalitätstheorie versus Kausalitätstheorie verhandelt wird,212 die Unterscheidung von verdeckten und mittelbaren Diskriminierungen213 oder die Frage einer möglichen Rechtfertigung214 von Diskriminierungen. Gerade die Diskussion über die Einbeziehung mittelbarer Diskriminierungen in den 51 Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 GG leidet unter Unklarheiten. So ist schon nicht Dazu Baer/Markard (Fn. 10), Art. 3 Abs. 3 Rn. 418 ff. Dazu Bumke (Fn. 83), S. 72 ff. Zur notwendigen Relativierung dieser Aussage Grünberger (Fn. 9), S. 775 ff. Sachs (Fn. 4), § 182 Rn. 17, 39 f. BVerfGE 147, 1 (28 Rn. 59) – Dritte Option (2017). Dazu→ Markard, § 6 Rn. 36 ff. Dazu → Temming, § 10 Rn. 3. Siehe Baer/Markard (Fn. 10), Art. 3 Abs. 3 Rn. 404. Ausführlich Sacksofsky, Was heißt: Ungleichbehandlung „wegen“?, in: Kempny/Reimer (Hrsg.) Gleichheitssatzdogmatik heute, 2017, S. 63 ff. 210 So insbesondere Sachs (Fn. 4), § 182 Rn. 73 ff.; ausführlich ders. (Fn. 59), S. 428 ff.; siehe ferner Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: November 2021, Art. 3 Rn. 212. 211 So etwa Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 125; Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 313 ff. 212 Dazu Sachs (Fn. 4), § 182 Rn. 70 ff., der diese Theorien als Alternativmodelle zum Anknüpfungsverbot versteht. 213 Dazu → Sacksofsky, § 14 Rn. 54, 105. 214 Dazu → Reimer, § 17 Rn. 37. 201 202 203 204 205 206 207 208 209
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
immer ersichtlich, ob mit diesem Begriff nur verdeckte Diskriminierungen gemeint sind, die Rechtsfigur also dazu dienen soll, Umgehungen des Diskriminierungsverbots zu vermeiden, und sich auch als Beweiserleichterung darstellt,215 oder ob dadurch auch scheinbar neutrale Maßnahmen erfasst werden sollen, die sich nachteilig auf Angehörige bestimmter Personengruppen auswirken. 52 Ebenso wie mittlerweile weitgehende Einigkeit dahingehend besteht, dass eine Diskriminierungsabsicht für die Annahme einer Diskriminierung nicht erforderlich ist und es auch im Übrigen nicht darauf ankommt, ob eine Regelung auf eine Ungleichbehandlung angelegt ist,216 anerkennen selbst diejenigen, die der Figur der mittelbaren Diskriminierung ablehnend gegenüber stehen, dass verdeckte Anknüpfungen an diskriminierende Kategorien von den Diskriminierungsverboten erfasst werden müssen.217 Ob darüber hinaus Konstellationen der mittelbaren Diskriminierung, also von dem Anschein nach neutralen Regelungen, die sich aber typischerweise oder faktisch benachteiligend auf einzelne Personengruppen auswirken, vom Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG erfasst werden, wird kontrovers diskutiert.218 Eine Sonderstellung nimmt jedenfalls die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts wegen Art. 3 Abs. 2 GG ein,219 und auch für die Diskriminierung aufgrund einer Behinderung wird eine von den Kategorien des Art. 3 Abs. 3 GG im Übrigen abweichende Dogmatik diskutiert:220 In diesem Sinne geht das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung und unter expliziter Anknüpfung an das Unionsrecht und die Rechtsprechung des EuGH221 davon aus, dass im Rahmen der Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts auch mittelbare Diskriminierungen vom Diskriminierungsverbot erfasst werden.222 Auch im Hinblick auf die Kategorie der Behinderung hat das Gericht die Einbeziehung von mittelbaren Diskriminierungen ausdrücklich bejaht.223 215 Siehe dazu Baer/Markard (Fn. 10), Art. 3 Abs. 3 Rn. 431; Mangold (Fn. 3), S. 242 ff. 216 Grundlegend BVerfGE 85, 191 (206) – Nachtarbeitsverbot (1992); im Übrigen statt vieler Langenfeld
(Fn. 157), Art. 3 Abs. 3 Rn. 20.
217 Unklar bleibt regelmäßig, ob verdeckte Diskriminierungen dogmatisch als unmittelbare oder mittel-
bare Diskriminierung erfasst werden können; zum rätselhaften, weil dogmatisch unklaren Konzept verdeckter Diskriminierungen etwa Sachs (Fn. 4), § 182 Rn. 97; Langenfeld (Fn. 157), Art. 3 Abs. 3 Rn. 34 ff.; Kischel (Fn. 210), Art. 3 Rn. 217; Heun (Fn. 211), Art. 3 Rn. 125. 218 Bejahend etwa Baer/Markard (Fn. 10), Art. 3 Abs. 3 Rn. 429 ff.; Mangold (Fn. 3), S. 247 f.; Michael/ Morlok, Grundrechte, 7. Aufl. 2020, Rn. 809; verneinend etwa Sachs (Fn. 4), § 182 Rn. 95 ff.; Langenfeld (Fn. 157), Art. 3 Abs. 3 Rn. 37 ff.; Kischel (Fn. 210), Art. 3 Rn. 215 ff.; dazu → Sacksofsky, § 14 Rn. 108 f. 219 Dazu → Markard, § 6 Rn. 33 ff. 220 Dazu → Zinsmeister, § 9 Rn. 69 ff. 221 Siehe insbesondere BVerfGE 97, 35 (43) – Hamburger Ruhegeldgesetz (1997). 222 BVerfGE 97, 35 (43) – Hamburger Ruhegeldgesetz (1997); BVerfGE 104, 373 (393) – Familiendoppelnamen (2002); BVerfGE 113, 1 (15) – Kindererziehungszeiten in der Anwaltsversorgung (2005); BVerfGE 121, 241 (254 f.) – Ruhegehalt für Teilzeitbeamtinnen und -beamten (2005); BVerfGE 126, 29 (53) – Hamburger Versorgungsfonds (2010); BVerfGE 132, 72 (97 f.) – Erziehungsgeld für ausländische Staatsangehörige (2012); BVerfGE 138, 296 (354 Rn. 144) – Kopftuch II (2015). 223 Deutlich BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021, 1 BvR 1541/20, Triage, Ls. 1 und Rn. 93; BVerfGE 151, 1 (24, Rn. 55) – Wahlrechtsausschluss für Betreute (2019); restriktive Deutung der Entscheidung zum Wahlrechtsausschluss bei Kischel (Fn. 210), Art. 3 Rn. 235. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
C. Rechtsquellen des Antidiskriminierungsrechts
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Auch daran zeigt sich, dass die Diskussion um die Figur der mittelbaren Diskrimi- 53 nierung eng mit der Frage der Rechtfertigungsmaßstäbe für eine Ungleichbehandlung verknüpft ist. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass auch von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG erfasste Ungleichbehandlungen aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts gerechtfertigt werden können.224 Die Rechtfertigungsanforderungen richten sich nach verschiedenen Gesichtspunkten, wie insbesondere der einschlägigen Diskriminierungskategorie, und auch, ob die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung für die Rechtfertigung eine Rolle spielen soll, wird diskutiert.225 Eine der kontroversesten Debatten im Rahmen des Art. 3 Abs. 3 GG betrifft die 54 Frage, ob und inwieweit die Vorschrift mittelbare Drittwirkung im Privatrechtsverhältnis entfaltet. Zum Teil wird dies unter Hinweis auf die grundsätzlich anerkannten Maßstäbe der Privatrechtswirkung und das Erfordernis zur Eindämmung freiheitsbeschränkenden Machtmissbrauchs vonseiten Privater bejaht.226 Zum Teil wird die mittelbare Drittwirkung hingegen unter Hinweis auf die – insofern in gewisser Weise verabsolutierte – Privatautonomie und die Systemverschiedenheit von Freiheit und Gleichheit abgelehnt.227 Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage der mittelbaren Drittwirkung von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG bislang noch nicht explizit entschieden,228 für Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und die Kategorie Behinderung nun jedoch deutlich bejaht.229 In der Stadionverbots-Entscheidung hat es eine mittelbare Drittwirkung von Art. 3 Abs. 1 GG anerkannt230 und dabei offengelassen, ob aus Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG weitergehende Anforderungen folgen.231 Damit hat das Gericht implizit die mittelbare Drittwirkung auch der Diskriminierungsverbote bejaht, was insofern nur folgerichtig ist, als keine überzeugenden Gründe dafür ersichtlich sind, die Wirkungen der besonderen Gleichheitssätze im Privatrechtsverhältnis grundsätzlich anders zu beurteilen als jene, die der allgemeine Gleichheitssatz entfaltet. 224 BVerfGE 114, 357 (364) – Aufenthaltserlaubnis (2005); dem folgend etwa Baer/Markard (Fn. 10),
Art. 3 Abs. 3 Rn. 432; Sachs (Fn. 4), § 182 Rn. 153 ff.; Langenfeld (Fn. 157), Art. 3 Abs. 3 Rn. 72 f.; ausführlich → Sacksofsky, § 14 Rn. 135 ff.; → Reimer, § 17 Rn. 9. 225 Siehe dazu Baer/Markard (Fn. 10), Art. 3 Abs. 3 Rn. 433 f. 226 So etwa von Baer/Markard (Fn. 10), Art. 3 Abs. 3 Rn. 415; Grünberger (Fn. 9), S. 870 ff.; als eine der ersten schon Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 2000. Das Bundesverfassungsgericht hat Machtungleichgewichte in Privatrechtsverhältnissen wiederholt für verfassungsrechtlich relevant angesehen: BVerfGE 81, 242 – Handelsvertreter (1990); BVerfGE 89, 214 – Bürgschaftsverträge (1993); BVerfG, Beschl. v. 29.3.2001, 1 BvR 1766/92 – Ehevertrag. 227 So etwa von Langenfeld (Fn. 157), Art. 3 Abs. 3 Rn. 81 ff.; Lehner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz und Grundrechte, 2013, S. 190 ff.; Jestaedt (Fn. 34), S. 330 ff.; eine Wirkung im Privatrechtsverhältnis nur in engen Grenzen annehmend Kischel (Fn. 210), Art. 3 Rn. 210; differenzierend auch Sachs (Fn. 4), § 182 Rn. 141 ff. 228 Der BGH hingegen bezieht Art. 3 Abs. 3 GG im Rahmen der Auslegung zivilrechtlicher Generalklauseln heran, siehe etwa BGH, NJW 1999, S. 566 (569 f.); BGH, NJW 2012, S. 1725 (1726 f.). 229 BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021, 1 BvR 1541/20, Triage, Rn. 95 f. 230 BVerfGE 148, 267 (283 f., Rn. 39 ff.) – Stadionverbot (2018); die Entscheidung als Anerkennung einer unmittelbaren Drittwirkung lesend Hellgardt, Wer hat Angst vor der unmittelbaren Drittwirkung?, JZ 2018, S. 901 ff.; Michl, Situativ staatsgleiche Grundrechtsbindung privater Akteure, JZ 2018, S. 910 ff.; Kischel (Fn. 210), Art. 3 Rn. 93. 231 BVerfGE 148, 267 (283 Rn. 40) – Stadionverbot (2018). Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
Mit der Frage der mittelbaren Drittwirkung zusammenhängend wird die Frage diskutiert, inwiefern Art. 3 Abs. 3 GG eine Schutzpflicht des Staates gegenüber Diskriminierungen durch Privatpersonen entfaltet.232 Einen über Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG hinausweisenden Regelungsgehalt enthalten schließ55 lich Art. 3 Abs. 2 GG für die Gleichberechtigung von Mann und Frau233 und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG für die Benachteiligung aufgrund einer Behinderung. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG statuiert dabei anders als Satz 1 ein bloßes Benachteiligungsverbot, lässt also Bevorzugungen und Fördermaßnahmen ohne weiteres zu234 und begründet darüber hinaus einen staatlichen Förderauftrag.235 Im Rahmen von Art. 3 Abs. 2 GG werden ebenfalls zahlreiche dogmatische Streitigkei56 ten ausgefochten.236 Streit entzündet sich vielfach an einzelnen Fragen aus der politischen und rechtlichen Praxis, wie etwa der Zulässigkeit und Gebotenheit von Quoten sowie ihrer Ausgestaltung im Einzelnen.237 Dahinter steht vielfach die grundlegende Frage nach dem Verständnis der Gleichberechtigungsregelung: Handelt es sich um ein formales und symmetrisches Gleichbehandlungsgebot oder vielmehr um einen Gleichstellungsauftrag, der auf bestehende Ungleichheiten sowie Dominierungs- beziehungsweise Hierarchisierungsverhältnisse reagiert?238 Von dieser Einordnung hängt ab, inwiefern sich auch Männer auf Art. 3 Abs. 2 GG berufen können und ob und inwiefern Fördermaßnahmen und Quotenregelungen gerechtfertigt werden können. Der Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau steht jedenfalls im Zentrum der antidiskriminierungsrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das in einer Vielzahl von Entscheidungen und Rechtsprechungslinien die dogmatischen Konturen des Art. 3 Abs. 2 GG ausgearbeitet hat.239 Kontroverse Diskussionen bestehen schließlich über Inhalt und Reichweite des 1994 in das Grundgesetz eingefügten Gleichstellungsauftrags des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG.240 Zumindest dem Grunde nach besteht indes Einigkeit, dass der Gleichstellungsauftrag, der 232 Für die Kategorie Behinderung deutlich BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021, 1 BvR 1541/20, Triage, Rn. 96; im Schrifttum bejahend etwa Schiek (Fn. 226), S. 78 f.; Baer/Markard (Fn. 10), Art. 3 Abs. 3 Rn. 364 und Rn. 425; Mangold (Fn. 3), passim; grundsätzlich auch Sachs (Fn. 4), § 182 Rn. 144; Uerpmann-Wittzack (Fn. 198), S. 364 ff.; verneinend Langenfeld (Fn. 157), Art. 3 Abs. 3 Rn. 83 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 493 f.; Britz (Fn. 34), S. 360 ff.; Jestaedt (Fn. 34), S. 339 ff. 233 Zur Entstehungsgeschichte: Reich-Hilweg, Der Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 2 GG) in der parlamentarischen Auseinandersetzung 1948–1957 und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1953–1975, 1978. Aus der früheren Literatur: Binder-Wehberg, Ungleichbehandlung von Mann und Frau, 1970; Hohmann-Dennhardt, Ungleichheit und Gleichberechtigung, 1982; siehe auch die Beiträge in Jansen (Hrsg.), Halbe-halbe, Der Streit um die Quotierung, 1986. 234 Kischel (Fn. 210), Art. 3 Rn. 237 ff. 235 BVerfGE 151, 1 (24 Rn. 56) – Wahlrechtsausschluss für Betreute (2019). 236 Siehe den Überblick bei Kischel (Fn. 210), Art. 3 Rn. 179.1 mit Verweis auf Heun (Fn. 211), Art. 3 Rn. 98 ff. 237 Dazu schon oben Rn. 18 (B. I.); ausführlich → Schuler-Harms, § 16 Rn. 3 ff., 62 ff. 238 Dazu schon oben Rn. 9 f. (A. I. 2.). 239 Zur Charakterisierung der Rechtsprechung als pragmatisch und im Wesentlichen eine abgewogene Mittellinie verfolgend Kischel (Fn. 210), Art. 3 Rn. 182; dazu → Markard, § 6 Rn. 39 ff. 240 Überblick bei Baer/Markard (Fn. 10), Art. 3 Abs. 3 Rn. 366 ff.; Heun (Fn. 211), Art. 3 Rn. 105.
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C. Rechtsquellen des Antidiskriminierungsrechts
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eine verfassungsrechtliche Schutzpflicht begründet,241 einen Rechtfertigungsgrund für Maßnahmen darstellen kann, die im Übrigen mit dem (formal verstandenen) Diskriminierungsverbot oder anderen verfassungsrechtlichen Grundsätzen kollidieren.242 Die Diskussion über die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Fördermaßnahmen im Rahmen anderer Diskriminierungskategorien des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG steht demgegenüber erst am Anfang.243 2. Einfaches Bundesrecht
Auf der Ebene des einfachen Rechts finden sich zahlreiche spezialgesetzliche Diskrimi- 57 nierungsverbote und sonstige gesetzliche Regelungen mit antidiskriminierungsrechtlichem Gehalt, bereichsspezifisch etwa im Arbeitsrecht244 oder im Sozialrecht,245 kategorienbezogen etwa im Behindertengleichstellungsgesetz.246 Besondere Bedeutung kommt dem 2006 in Kraft getretenen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)247 zu, das der Umsetzung der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien dient und das Ergebnis kontroverser (rechts-)politischer Debatten innerhalb und außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens darstellt.248 Das Ziel des Gesetzes besteht nach § 1 AGG darin, Benachteiligungen aus Gründen 58 der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen. Das Gesetz greift damit die Vorgaben der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien auf und nimmt mit dem Alter und der sexuellen Identität Diskriminierungsgründe in den Blick, die über Art. 3 Abs. 3 GG hinausgehen. Es hat sowohl eine 241 Britz (Fn. 34), S. 364 f. 242 Siehe Sachs (Fn. 4), § 182 Rn. 148. 243 Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage existiert nicht. Soweit nicht auf der Grund-
lage eines asymmetrischen Verständnisses des Diskriminierungsverbots davon ausgegangen wird, dass Maßnahmen, die auf die Beseitigung oder den Ausgleich bestehender Ungleichheiten abzielen, nicht rechtfertigungsbedürftig sind (dazu Mangold [Fn. 3], S. 300 ff.), stellt sich die Frage der Rechtfertigungsmöglichkeit, dazu Sachs, in: Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, S. 1702 (1762 ff.); Michael/Morlok, Grundrechte, 7. Aufl. 2020, Rn. 818; Baer/Markard (Fn. 10), Art. 3 Abs. 3 Rn. 406; Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 132; Nußberger (Fn. 28), Art. 3 Rn. 254; Langenfeld (Fn. 157), Art. 3 Abs. 3 Rn. 30; im Ansatz anders Kingreen (Fn. 5), Art. 3 Rn. 435; zur Frage der Zulässigkeit von Quoten für Menschen mit Migrationsgeschichte im öffentlichen Dienst bejahend Groß, Die Verfassungskonformität einer Quote für Eingewanderte, JZ 2021, S. 880 ff.; verneinend Majer/Pautsch, „Positive Diskriminierung“ – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von „Migrantenquoten“ und Bevorzugung wegen Migrationshintergrundes beim Zugang zum öffentlichen Dienst, ZAR 2020, S. 414 ff.; zum Ganzen → Schuler-Harms, § 16 Rn. 3 ff., 57 ff. 244 Überblick bei Zimmer, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 2 Rn. 229 ff.; Fischinger, Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2021, Rn. 335 ff.; dazu → v. Roetteken, § 23. 245 Überblick bei Eichenhofer, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 2 Rn. 109 ff.; dazu → Wersig, § 25. 246 Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen v. 27.4.2002, BGBl. 2002 I, S. 1467; dazu → Zinsmeister, § 9. 247 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. 248 Dazu Mangold (Fn. 3), S. 223 ff.; Baer (Fn. 89), S. 271 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
präventive als auch eine reaktive Stoßrichtung, indem es einerseits Diskriminierungen verhindern will, andererseits auf die Beseitigung bestehender Benachteiligungen gerichtet ist. Das kontroverse Potential des Gesetzes besteht darin, dass sein Anwendungsbereich sich nicht nur auf das ohnehin stark vom Gleichheitsgrundsatz geprägte Arbeitsleben und damit zusammenhängende Regelungsgegenstände (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 4 AGG)249 beschränkt sowie auf öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse erstreckt (§ 24 AGG), sondern mit dem Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 AGG), klassische Materien des Zivilrechts erfasst.250 Denkbar weit ist auch der Diskriminierungsbegriff, der über die unmittelbare und mittelbare Diskriminierung hinaus Belästigungen und Anweisungen zur Diskriminierung umfasst (§ 3 AGG). Die Diskriminierung aus mehreren Gründen wird nur rudimentär in den Blick genommen (§ 4 AGG),251 positive Maßnahmen werden dem Grunde nach für zulässig erklärt (§ 5 AGG)252. 59 Das Gesetz differenziert zwischen dem Schutz von Beschäftigten vor Benachteiligungen (§ 6 bis § 18 AGG) und dem Schutz vor Benachteiligungen im Zivilrechtsverkehr (§ 19 bis § 21 AGG). Im Zentrum steht dabei jeweils ein umfassendes Diskriminierungsverbot (§ 7 und § 19 AGG), flankiert durch ergänzende Regelungen, ein differenziertes System von Rechtfertigungsgründen und Regelungen zu den Rechtsfolgen von Verstößen. In prozessualer und organisatorischer Hinsicht enthält das Gesetz eine praktisch höchst bedeutsame Beweislastregelung (§ 22 AGG),253 sieht in eher zurückhaltender Weise die Beteiligung von Antidiskriminierungsverbänden vor (§ 23 AGG) und regelt die Einrichtung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (§ 25 bis § 30 AGG). 3. Landesrecht 60
Nur die Hälfte der Landesverfassungen enthalten Diskriminierungsverbote mit Katalogen verpönter Kategorien nach Vorbild des Art. 3 Abs. 3 GG.254 Aufgrund der Bindungserstreckung der Grundrechte des Grundgesetzes auf die Hoheitsgewalt der Länder255 entsteht dadurch allerdings keine Schutzlücke. Im Gegenzug gehen die landesverfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbote zum Teil über den Katalog der Kategorien des Art. 3 Abs. 3 GG hinaus, wenn sie ausdrücklich die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder Identität erfassen,256 oder erweisen sich als föderalistisches Experiment, wenn etwa die Diskriminierungskategorie „Rasse“ durch Diskriminierung „aus rassistiDazu → v. Roetteken, § 23 Rn. 2 ff. Dazu → Leidinger/Rödl, § 22. Dazu → Holzleithner, § 13 Rn. 50 ff. Dazu → Schuler-Harms, § 16 Rn. 36. Dazu → Muthorst, § 19 Rn. 33 ff. Siehe die Auswertung bei Baer/Markard (Fn. 10), Art. 3 Abs. 3 Rn. 389. Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Januar 2021, Art. 1 Abs. 3 Rn. 120 ff. Siehe Art. 10 Abs. 2 Verfassung von Berlin; Art. 12 Abs. 2 Verfassung des Landes Brandenburg; Art. 2 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen; Art. 2 Abs. 3 Verfassung des Freistaats Thüringen; Art. 12 Abs. 3 Verfassung des Saarlandes. 249 250 251 252 253 254 255 256
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D. Strukturmerkmale des Antidiskriminierungsrechts
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schen Gründen“257 oder die ethnische Zugehörigkeit258 ersetzt wird und so in der Debatte um den Rechtsbegriff der Rasse Stellung bezogen wird.259 Auch auf einfachgesetzlicher Ebene zeigt sich die föderale Regelungsvielfalt. Die Länder haben unterschiedliche Gleichstellungsgesetze zur Regelung der Gleichstellung und Integration von Menschen mit Behinderungen, zur Gleichstellung von Männern und Frauen sowie zur Förderung von Frauen erlassen. Neuland betreten hat das Land Berlin im Jahr 2020 durch den Erlass eines Landesantidiskriminierungsgesetzes, das umfassende Regelungen zum Schutz vor Diskriminierungen durch das öffentlich-rechtliche Handeln von Behörden und sonstigen öffentlichen Stellen des Landes enthält.260
D. Strukturmerkmale des Antidiskriminierungsrechts Versteht man das Antidiskriminierungsrecht im Lichte seines Regelungsgegenstands – 61 dem Umgang mit Diskriminierungen und Ungleichheiten – und seiner Rechtsquellen als eigenständiges Rechtsgebiet, so lassen sich einige besondere Strukturmerkmale dieser Materie hervorheben. I. Antidiskriminierungsrecht im Mehrebenensystem
In der Darstellung der Rechtsquellen hat sich gezeigt, dass das Antidiskriminierungsrecht 62 ein anschauliches Beispiel für eine mehrebenenrechtlich geprägte Regelungsmaterie bietet. Das impliziert nicht nur, dass sich das geltende Recht (die „Rechtslage“) im Antidiskriminierungsrecht regelmäßig erst aus verschiedenen Rechtsquellen und unter Berücksichtigung ihrer komplexen und zum Teil kollidierenden Geltungs-, Vorrang- und Anwendbarkeitsansprüche ergibt, sondern auch, dass unterschiedliche Regelungsgehalte und -strukturen aufeinandertreffen und unterschiedliche Rechtsetzungs-, Rechtsdurchsetzungs- und Rechtsinterpretationsautoritäten miteinander interagieren und zum Teil auch konkurrieren. Die Rechtsanwendung muss daher nicht nur die antidiskriminierungsrechtlichen Regelungsgehalte aller Rechtsebenen, sondern auch die Besonderheiten der jeweiligen Rechtsebene sowie die etwaigen Herausforderungen ihrer Interaktion im Blick behalten. II. Antidiskriminierungsrecht als intradisziplinäre Querschnittsmaterie
Antidiskriminierungsrecht als Rechtsgebiet erfasst privatrechtliche, öffentlich-rechtliche 63 und strafrechtliche Regelungen, welche die Diskriminierung von Menschen aufgrund 257 Art. 12 Abs. 2 Verfassung des Landes Brandenburg; Art. 7 Abs. 3 Verfassung des Landes Sachsen-An-
halt.
258 Art. 2 Abs. 3 Verfassung des Freistaats Thüringen. 259 Dazu → Barskanmaz, § 7 Rn. 56. 260 Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) v. 11.6.2020, GVBl. 2020, S. 523; Überblick hierzu bei
Klose, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 24 Rn. 106 ff.
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
tatsächlicher oder vermeintlich bestehender Zugehörigkeit zu einer kategorial bestimmten Gruppe zum Gegenstand haben.261 Die rechtsbereichsübergreifende Prägung des Antidiskriminierungsrechts erfordert regelmäßig sowohl im Rahmen der wissenschaftlichen Befassung als auch bei der praktischen Rechtsarbeit die Einbeziehung rechtlicher Regelungen verschiedenster Rechtsbereiche und die Berücksichtigung der jeweiligen Vorgaben, Regelungsgehalte und Wechselwirkungen zwischen ihnen.262 Dieser rechtsbereichsübergreifende Ansatz hat auch wissenschaftssoziologische Konsequenzen. Die Überschreitung der klassischen, die deutsche Rechtswissenschaft in besonderem Maße prägenden Einteilungsgrenzen zwischen den Säulen des öffentlichen Rechts und des Privatrechts, zum Teil auch des Strafrechts, hat zur Folge, dass verschiedene disziplinäre Fachkulturen aufeinandertreffen, was sich etwa in Fragen der Methodik, der Auswahl von Autoritäten, in der Konjunktur von Themen oder auch in bevorzugten Publikationsorganen und Tagungsformaten niederschlagen kann.263 Zudem kann es zu einem Aufeinanderprallen unterschiedlicher Rationalitäten kommen aufgrund der unterschiedlichen Kernfragestellungen, mit denen das öffentliche Recht und das Privatrecht sich jeweils befassen. Die Abwehrreflexe von Teilen der Privatrechtswissenschaft gegenüber der Konstitutionalisierung des Zivilrechts generell, vor allem aber gegenüber dem vermeintlichen Eindringen von Gleichheitsgeboten und Diskriminierungsverboten in die vom Grundsatz der Privatautonomie geprägte Rechtsordnung zeigen das nicht geringe Irritationspotential. Freilich sollte dieser Aspekt nicht überbewertet werden, ist doch zu beobachten, dass auch Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler mit öffentlich-rechtlichem Schwerpunkt die Privatautonomie in den Vordergrund rücken264 und Privatrechtlerinnen und Privatrechtler die Grundsätze der Gleichheit und Nichtdiskriminierung im Zivilrecht stark machen können.265 64 Über die im positiven Recht selbst angelegte Notwendigkeit hinaus, zivilrechtliche, öffentlich-rechtliche und strafrechtliche Gesichtspunkte gemeinsam heranzuziehen, bietet die Gesamtschau das Potential, rechtsbereichsübergreifende gemeinsame Strukturprinzipien des Antidiskriminierungsrechts herauszuarbeiten und zu konturieren.266 Gleichwohl soll und darf dieser Ansatz nicht über die Eigenheiten der jeweiligen Rechtsbereiche hinwegtäuschen. Vielmehr gilt es, Unterschiede sowohl der konkreten Vorgaben des positiven Rechts – etwa bei den spezifisch festgelegten Anwendungsbereichen des AGG – als auch der dogmatischen Figuren herauszuarbeiten. Auch die prägende Unterscheidung zwischen der Bindung des Staates und Privater, die damit verbundenen positiv-rechtlichen Unterschiede, sowie die Unterschiede in der dahinterstehenden Frage nach der Legitimation des 261 Dazu oben Rn. 13 ff. (A. IV.). 262 Anschaulich etwa die Vielfalt einschlägiger Regelungsbereiche und Rechtsgebiete bei algorithmenba-
sierter Diskriminierung → v. Ungern-Sternberg, § 28 Rn. 1 ff.
263 Dazu Krüper, Kategoriale Unterscheidung von Öffentlichem Recht und Privatrecht, VVDStRL 79
(2020), S. 43 ff.
264 Exemplarisch Ruffert (Fn. 232). 265 Exemplarisch Grünberger (Fn. 9). 266 Siehe Grünberger, Grundstrukturen (allgemeine Strukturmerkmale) von Gleichheitssätzen, in:
Kempny/Reimer (Hrsg.), Gleichheitssatzdogmatik heute, 2017, S. 5 (7 ff.).
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D. Strukturmerkmale des Antidiskriminierungsrechts
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Antidiskriminierungsrechts sind zu berücksichtigen.267 Das Antidiskriminierungsrecht überwindet eine zu strikt gedachte disziplinäre Scheidung, öffnet sich aber bereichsspezifischen Ausdifferenzierungen. III. Offenheit des Antidiskriminierungsrechts für interdisziplinäre Bezüge
Das Antidiskriminierungsrecht weist vielfältige Anknüpfungspunkte für interdisziplinären 65 Austausch und die Berücksichtigung von Erkenntnissen anderer Fachdisziplinen auf. Diskriminierung stellt ein tatsächliches Phänomen dar, dessen Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkweisen Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analyse sind.268 Eine Vorreiterrolle in der interdisziplinären Öffnung der Rechtswissenschaft nimmt die Kriminologie ein, die diskriminierende Aspekte und Wirkungen des Strafrechts und der Strafrechtspraxis zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht.269 In wissenschaftlicher beziehungsweise wissenschaftssoziologischer Hinsicht lässt sich zudem beobachten, dass das Antidiskriminierungsrecht sich in besonderer Weise für – im weitesten Sinne – kritische rechtswissenschaftliche Ansätze öffnet: Die Nähe der feministischen Rechtswissenschaft und der Gender Studies erklärt sich bereits durch das gemeinsame Kernanliegen der Gleichberechtigung und der Gleichstellung der Geschlechter.270 Das Verbot der rassistischen Diskriminierung und die Bekämpfung von Rassismus mit rechtlichen Mitteln bieten Anknüpfungspunkte für die – im deutschen Diskurs bislang allenfalls in Ansätzen vorhandene – Rezeption der Critical Race Theory, wie sie in den USA, aber auch im globalen Süden betrieben wird.271 Auch für eine ökonomische Analyse des Antidiskriminierungsrechts ist Raum, insbesondere im Hinblick auf die Feststellung der diskriminierenden Wirkungen rechtlicher Regeln oder tatsächlicher Praxen.272 Interdisziplinäre Ansätze im Antidiskriminierungsrecht werden also nicht „nur“ aus 66 wissenschaftlichem Interesse verfolgt, sondern haben unmittelbare Implikationen für die Praxis und Dogmatik des Antidiskriminierungsrechts. Das ist offensichtlich bei Fragen der Statistik, die Relevanz für den Nachweis mittelbarer Diskriminierung und damit für das Beweisrecht entfalten können.273 Doch auch für die Identifizierung faktischer Benachtei267 Dazu → Hong, § 2 Rn. 1 ff.; → Gärditz, § 4 Rn. 1 ff. 268 Siehe etwa Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017. 269 Siehe Haverkamp/Lukas, Diskriminierung im Strafrecht, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.),
Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 285 (291 ff.); Oberwittler/Lukas, Schichtbezogene und ethnisierende Diskriminierung im Prozess der strafrechtlichen Sozialkontrolle, in: Hormel/Scherr (Hrsg.), Diskriminierung, Grundlagen und Forschungsergebnisse, 2010, S. 221 ff.; Albrecht, Legitimacy and Criminal Justice: Inequality and Discrimination in the German Criminal-Justice System, in: Tyler (Hrsg.), Legitimacy and Criminal Justice, International Perspectives, 2007, S. 302 (312 ff.); dazu → Schmidt, § 21 Rn. 6 ff. 270 Dazu schon oben Rn. 18 f. (B. I.). 271 Aus dem deutschen Diskurs etwa Barskanmaz, Rassismus, Postkolonialismus und Recht – Zu einer deutschen Critical Race Theory?, KJ 2008, S. 296 ff.; Ansätze auch bei Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021; zu europäischen Ansätzen Möschel (Fn. 49); ausführlich → Barskanmaz, § 7 Rn. 5 ff. 272 Dazu → Towfigh § 18 Rn. 9 ff.; → Magen, § 3 Rn. 52 ff.; aus dem US-amerikanischen Raum etwa Donohue, Law and Economics of Discrimination, 2013. 273 Dazu → Towfigh, § 18 Rn. 1, 113; allgemein zum Beweisrecht → Muthorst, § 19; zu internationalen Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
ligungen im Übrigen sowie für Konstellationen institutioneller und struktureller Diskriminierung, die dem Regelungsbereich des Antidiskriminierungsrechts unterfallen, ist das Antidiskriminierungsrecht auf sozialwissenschaftliche Aufarbeitungen und ihre Rezeption angewiesen. IV. Akteure des Antidiskriminierungsrechts
Besonderheiten zeigen sich auch, wird das Antidiskriminierungsrecht nicht aus einer normfokussierten, sondern einer akteurszentrierten Perspektive analysiert. Mit Blick auf den Prozess der Gesetzgebung und damit in rechtspolitischer Hinsicht erlangen zunächst die Bundes- und Landesgesetzgebungsorgane Bedeutung, die im Rahmen der unionsund verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen tätig werden. Diese Vorgaben eröffnen rechtspolitische Handlungsspielräume, wie etwa die einfachgesetzliche Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zeigt,274 engen sie aber auch empfindlich ein, wie beispielsweise im Rahmen der stark durch Unions- und Verfassungsrecht programmierten Quotenregelungen.275 Auch Verfassungsänderungen vermögen das Antidiskriminierungsrecht zu beeinflussen, wie die 1994 erfolgten Verfassungsänderungen sowie die vehement geführten rechtspolitischen Debatten über die Einfügung neuer Diskriminierungskategorien, von Kinderrechten276 oder weitergehenden Regelungen zur Rassismusbekämpfung277 in das Grundgesetz zeigen. Eine zentrale Rolle nimmt freilich die Unionsgesetzgebung ein, bilden doch insbesondere die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien einen zentralen Gegenstand dieses Rechtsgebiets. 68 Auch jenseits der Gesetzgebung spielen die Unionsorgane eine bedeutsame Rolle im Antidiskriminierungsrecht. Die Bekämpfung von Diskriminierungen zählt zu den zentralen Politikfeldern der Europäischen Kommission, in deren Rahmen sie Aufklärungsarbeit leistet, Strategien entwickelt und Projekte finanziert.278 In der Bundesrepublik kommt der staatlichen, aber unabhängigen Antidiskriminierungsstelle des Bundes (§§ 25 bis 30 AGG) besondere Bedeutung zu.279 Ihre Tätigkeit erstreckt sich vor allem auf die Verbreitung von 67
Forderungen nach der Erhebung aussagekräftiger Daten über Diskriminierung nur CERD, Guidelines for the CERD-specific document to be submitted by states parties under article 9, paragraph 1 of the convention, UN Doc. CERD/C/2007/1, Rn. 10 f.; CERD, Concluding observations on the combined nineteenth to twenty-second periodic reports of Germany v. 13.5.2015, UN Doc. CERD/C/DEU/CO/19–22, Rn. 6. 274 Durch Änderung von § 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB durch das Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts v. 20.7.2017, BGBl. 2017 I, S. 2787; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit Wollenschläger, Die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: Wollenschläger/Coester-Waltjen, Ehe für Alle, 2018, S. 1 ff. 275 Dazu → Schuler-Harms, § 16 Rn. 29 ff., 57 ff. 276 Dafür etwa Benassi, Kinderrechte ins Grundgesetz – alternativlos!, ZRP 2015, S. 24 ff.; dagegen etwa Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015, S. 497 f.; ebenfalls dagegen, aber für die Verankerung eines Schutzauftrags zum Kindeswohl in Art. 6 GG Kirchhof, Die Kinderrechte des Grundgesetzes, NJW 2018, S. 2690 ff. 277 Dazu oben Fn. 22. 278 Siehe die Darstellung auf https://ec.europa.eu/info/policies/justice-and-fundamental-rights_en. 279 Kurzes Resümee bei Köppen, Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes – Rückblick und PerAnna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
D. Strukturmerkmale des Antidiskriminierungsrechts
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Informationen und die Aufklärung über das Thema Diskriminierung, die Erstattung von Berichten und die Durchführung wissenschaftlicher Studien sowie die Beratung und Vermittlung im Einzelfall. Unter den nicht-staatlichen Akteuren nimmt das Deutsche Institut für Menschenrechte, eine auf gesetzlicher Grundlage280 tätige nationale Menschenrechtsinstitution nach Maßgabe der Pariser Prinzipien der Vereinten Nationen281 eine herausragende Stellung ein. Trotz der zahlreichen und detaillierten Rechtsquellen ist das Antidiskriminierungs- 69 recht in hohem Maße rechtsprechungsgeprägt. Das gilt einerseits für die ihrer Natur nach auf Konkretisierung angewiesenen und entwicklungsoffenen verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbote – erinnert sei an die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von der Entscheidung zur Strafbarkeit männlicher Homosexualität nach § 175 StGB a. F. aus dem Jahr 1957282 bis zu den jüngeren Entscheidungen zum Lebenspartnerschaftsgesetz283 und der nachfolgenden Rechtsprechung zur Angleichung von Ehe und Lebenspartnerschaft,284 mit der das Gericht den Weg für die gesetzliche Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Personen geebnet hat. Es gilt aber andererseits ebenso für den einfachgesetzlichen Normbestand, nicht nur weil dessen Auslegung und Anwendung in hohem Maße von Vorverständnissen und Vorstellungen über Gleichheit und die Bedeutung von Diskriminierung abhängen. Gerade die Fachgerichte prägen durch ihre einzelfallbezogene Entscheidungspraxis das Ausmaß, in dem antidiskriminierungsrechtliche Regelungen tatsächlich Auswirkungen entfalten.285 Nicht zuletzt betonen daher sowohl das Völkerrecht als auch das Unionsrecht die Notwendigkeit effektiver innerstaatlicher Rechtsschutzmechanismen im Zusammenhang mit Diskriminierungen. Wesentlich die Gestalt des Antidiskriminierungsrechts beeinflussen schließlich zivil- 70 gesellschaftliche Akteure im weitesten Sinne, etwa unterschiedlich ausgerichtete und aktive soziale Bewegungen und Verbände. Diese spielen einerseits eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung und Beratung einzelner von Diskriminierung betroffener Personen. Zum anderen sind sie schlagkräftige Akteure im politischen Prozess, wenn es um die Effektivierung der Durchsetzung oder Weiterentwicklung des Antidiskriminierungsrechts geht. Das gilt auch und in besonderem Maße für die internationale Ebene.286 Aufgrund der großen Bedeutung der Rechtsprechung im Antidiskriminierungsrecht haben die Verbände zudem spektiven, NZA-Beil. 2008, S. 91 ff.; harsche Kritik bei Philipp, Ein verfassungswidriges Monstrum – Die „Antidiskriminierungsstelle des Bundes“, NVwZ 2006, S. 1235 ff. 280 Gesetz über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte v. 16.7.2015, BGBl. 2015 I, S. 1194. 281 UN-Generalversammlung, Resolution 48/134 v. 4.3.1994, UN Doc. A/RES/48/134; ausführlich hierzu aus internationaler Perspektive Langtry/Lyer, National Human Rights Institutions, 2021. 282 BVerfGE 6, 389 – Strafbarkeit männlicher Homosexualität (1957). 283 BVerfGE 105, 313 – Lebenspartnerschaftsgesetz (2002). 284 BVerfGE 124, 199 – Hinterbliebenenversorgung für Lebenspartner (2009); BVerfGE 126, 400 – Erbschafs- und Schenkungssteuer (2010); BVerfGE 133, 59 – Sukzessivadoption (2013); BVerfGE 133, 377 – Ehegattensplittung (2013). 285 Dazu für den Bereich der Strafrechtspflege → Geneuss, § 27. 286 Dazu Weissbrodt, Roles and Responsibilities of Non-State Actors, in: Shelton (Hrsg.), The Oxford Handbook of International Human Rights Law, 2013, S. 719 (721 ff.). Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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das Instrument der strategischen Prozessführung für sich entdeckt, mit dem sie einzelne besonders vielversprechend erscheinende Fälle vor die Gerichte bringen.287 71 Komplementiert wird die europäische und staatliche Akteursvielfalt durch die internationale Dimension: Das Antidiskriminierungsrecht bekommt wichtige Impulse aus dem Völkerrecht, an dessen Entstehung und Weiterentwicklung neben den Staaten auch nicht-staatliche Akteure beteiligt sind.288 Verschiedene Organe der Vereinten Nationen und mit diesen affiliierte Institutionen beteiligen sich am internationalen Diskurs über die Auslegung der menschenrechtlichen Diskriminierungsverbote und überwachen die Einhaltung der völkerrechtlichen Vorgaben durch die Staaten, allen voran die menschenrechtlichen Ausschüsse, von denen der Frauenrechtsausschuss (CEDAW), der Ausschuss gegen Rassendiskriminierung (CERD) und der Behindertenrechtsausschuss (CRPD) besonders intensiv mit antidiskriminierungsrechtlichen Fragen zu tun haben. V. Politisierung und Entpolitisierung des Antidiskriminierungsrechts 72
Das Antidiskriminierungsrecht weist schließlich eine besondere Nähe zur Politik auf, und antidiskriminierungsrechtliche Diskurse sind vielfach stark politisiert. Diese Politisierung zeigt sich bereits im Gesetzgebungsprozess und daran, wie kontrovers und langandauernd diskriminierungsrechtliche Fragen debattiert werden: Der Kampf im Parlamentarischen Rat um die grundgesetzliche Verankerung der Gleichberechtigung von Mann und Frau zeugt hiervon ebenso wie der lange Weg zunächst der Legalisierung, dann der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, die Diskussionen bis zur Verabschiedung eines – im Gesetzgebungsverfahren dann erneut kontrovers diskutierten und modifizierten – Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und die aktuellen Debatten um Frauenquoten, Paritätsgesetze oder die sogenannten religiösen Neutralitätsgesetze. Auch die rechtswissenschaftliche Diskussion ist von zum Teil einander diametral gegenüberstehenden politischen Positionen geprägt, die sich auf die eingenommenen rechtlichen Standpunkte auswirken. Bemerkenswert ist der oftmals scharfe Ton der Auseinandersetzung. Der Vorwurf, dass die Diskriminierungsverbote „im Sinne bestimmter sozialer und politischer Wünsche und Ideologien“ aktiviert würden,289 gehört noch zu den gemäßigteren Stellungnahmen. Die Positionierungen im Umfeld der Entstehung und des Inkrafttretens des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes zeigen das Ausmaß der Politisierung:290 Neben der verbreiteten Warnung vor dem „Ende der Privatautonomie“291 und dem Vernehmen der „Totenglocke des Privatrechts“292 wurde etwa vor einer „Tugendrepublik der neuen 287 Dazu Graser/Helmrich (Hrsg.), Strategic Litigation, 2019. 288 Allgemein hierzu Webb, The Participation of Nonstate Actors in the Multilateral Treaty Process,
in: Chesterman/Malone/Villalpando (Hrsg.), The Oxford Handbook of United Nations Treaties, 2019, S. 633 ff. 289 Kischel (Fn. 210), Art. 3 Rn. 209. 290 Umfassendere Nachweise bei Jestaedt (Fn. 34), S. 300 ff.; Grünberger (Fn. 9), S. 46 f. 291 Statt vieler Picker, Antidiskriminierungsgesetz – Der Anfang vom Ende der Privatautonomie?, JZ 2002, S. 880 ff. 292 Repgen, Antidiskriminierungsrecht – die Totenglocke des Privatrechts läutet, in: Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, S. 11 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
D. Strukturmerkmale des Antidiskriminierungsrechts
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Jakobiner“293 gewarnt, das Gesetz wurde als „sozialistisch“,294 Ausdruck von „Gesinnungsterrorismus“,295 „Staatsmandat zur Umerziehung“296 sowie als „Bevormundungsinstrumentarium“297 bezeichnet. Selbst die Entwicklung zu einem „totalitären Staat“ wurde perhorresziert.298 Ähnliches lässt sich im Zusammenhang mit der Einführung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft und dann mit der Öffnung der Ehe feststellen.299 Im Gegenzug greifen zum Teil auch die das Antidiskriminierungsrecht Befürworten- 73 den teils zu scharfer Sprache und formulieren Kritik an Gegenpositionen nicht selten in Form moralischer, oftmals personalisierter Vorwürfe. Fundamentale Rechtskritik wird geübt, wenn das Recht und die Rechtsordnung nicht als Mittel zur Bekämpfung von Diskriminierungen verstanden, sondern selbst als Prozess und Produkt institutionalisierter Strukturen der Diskriminierung, als Instrumente zur Aufrechterhaltung eines inhärent diskriminierenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems angesehen werden. Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen mag auch daran liegen, dass sie für viele am Diskurs Beteiligte sehr persönlich ist, sei es, dass sie selbst einer diskriminierungsgefährdeten Gruppe angehören oder Diskriminierungserfahrungen machen mussten, sei es, dass sie sich aus religiösen, moralischen oder sonstigen Überzeugungen gegen Positionen der Gleichstellung – etwa im Bereich der sexuellen Orientierung – wenden. Das Antidiskriminierungsrecht kann diese politische Polarisierung nicht auflösen, 74 sondern muss sie in gewissem Umfang aufnehmen und aushalten. Gleichwohl vermag das Rechtssystem auf vielfältige Weise zu einer Versachlichung beizutragen: Gesetzgeberische Entscheidungen sind zu respektieren. Streitigkeiten um die Auslegung und Anwendung des Antidiskriminierungsrechts müssen in der Sprache des Rechts und damit intersubjektiv vermittelbar verhandelt werden. Vor Gericht wirken die Formalisierung des Verfahrens und die Differenzierung in verschiedene einzelne Fragen sowie die professionelle Verfahrensleitung durch die Gerichte zumindest potentiell deeskalierend. Die Tendenz gerade der deutschen Rechtswissenschaft und der deutschen Rechtspraxis zu vermittelnden, ausgleichenden Lösungen kann hierzu einen Beitrag leisten, ohne dass damit gesagt sein soll, dass stets vermittelnde Lösungen die überzeugendsten wären. In besonderem Maße wichtig ist jedenfalls, dass die politische Dimension des Antidis- 75 kriminierungsrechts und der politische Kontext, in dem es entstanden ist, fortentwickelt, angewendet und diskutiert wird, stets bewusst gehalten werden. Das gilt sowohl für die rechtsetzenden politischen Akteure als auch für die rechtsanwendenden Organe, ein293 Säcker, „Vernunft statt Freiheit!“ – Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner – Referentenentwurf
eines privatrechtlichen Diskriminierungsgesetzes, ZRP 2002, S. 286 ff.; dagegen Baer, „Ende der Privatautonomie“ oder grundrechtlich fundierte Rechtsetzung?, ZRP 2002, S. 290 ff. 294 Adomeit, Diskriminierung – Inflation eines Begriffs, NJW 2002, S. 1622 (1623). 295 Fahr, Deutschland wird wieder totalitär – Echo, JuS 2002, S. 727. 296 Richardi, Neues und Altes – Ein Ariadnefaden durch das Labyrinth des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, NZA 2006, S. 881 (887). 297 Schmelz, „Vernunft statt Freiheit!“ – Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner, ZRP 2003, S. 67. 298 Braun, Übrigens – Deutschland wird wieder totalitär, JuS 2002, S. 424. 299 Erinnert sei nur an die Verbindung von Homosexualität und Pädophilie bei Braun, Ein neues familienrechtliches Institut, JZ 2002, S. 23 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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schließlich der Gerichte. Auch Richterinnen und Richter können ihre Einstellungen und Überzeugungen im Rahmen der Rechtsanwendung nicht völlig ausblenden.300 Dasselbe gilt für rechtswissenschaftliche Analysen und Stellungnahmen.
E. Kategorien im Antidiskriminierungsrecht 76 Zentral für das Antidiskriminierungsrecht sind die Kataloge von Kategorien, nach denen
nicht unterschieden werden darf. Sie bestimmen, welche Personengruppen durch die Regelungen des Antidiskriminierungsrechts reaktiv geschützt oder proaktiv gefördert werden. Bevor diese Kategorien in den Beiträgen im Einzelnen analysiert werden,301 sollen daher allgemeine Fragen und potentielle Probleme der Kategorienfixierung des Antidiskriminierungsrechts in den Blick genommen werden.
I. Kontingenz von rechtlichen Kategorienkatalogen 77 Die Kataloge sind selbst das positiv-rechtlich fixierte Ergebnis historisch kontingenter
Entwicklungen302 und vielfach in sozialen Kämpfen erstritten. Der besondere Schutz vor Diskriminierung erweist sich dort als notwendig, wo historisch andauernde Exklusionen von Personen so verfestigt sind, dass sie Gleichberechtigung und gleichrangige Wahrnehmung der Ausgeschlossenen in Frage stellen. Welche gesellschaftlichen Gruppen dies jeweils sind, unterscheidet sich geographisch und im historischen Verlauf. Schließlich sind Gesellschaften und ihre sozialen Hierarchisierungen keine statischen Systeme, sondern von hoher Dynamik gekennzeichnet. In den USA etwa wurde das Verbot rassistischer Diskriminierung vor dem Hintergrund von Sklaverei, Jim Crow-Gesetzgebung und Rassentrennung zur alle anderen Diskriminierungskategorien bestimmenden Leitkategorie, mit internationaler Ausstrahlungswirkung.303 In der Bundesrepublik hingegen verlief die Entwicklung anders. Trotz der monströsen Erfahrung mit rassistischer Diskriminierung im nationalsozialistischen Regime war nicht etwa „Rasse“ die paradigmatische Kategorie der verfassungsrechtlichen Praxis und Debatte, sondern die Kategorie „Geschlecht“. Dem Engagement von Frauenverbänden und besonders Elisabeth Selbert, die diese mobilisierte, ist es zu verdanken, dass Art. 3 Abs. 2 Eingang in das Grundgesetz fand.304 Die Übergangsvorschrift des Art. 117 Abs. 1 GG erzeugte den notwendigen Druck, damit sich an den rechtlichen Verhältnissen tatsächlich etwas änderte.305 Lange blieb AntidiskriminierungsZu Diskriminierungsschutz in der Strafrechtspflege → Geneuss, § 27. Dazu die Beiträge im dritten Teil dieses Buches. Zur Kontingenz auch Baer, Gleichberechtigung revisited, NJW 2013, S. 3145 (3147 ff.). Zum Einfluss auf die menschenrechtliche Entwicklung des UN-Übereinkommens gegen Rassendiskriminierung Jensen, The Making of International Human Rights, 2016, S. 102 ff. 304 Zur Entstehungsgeschichte Reich-Hilweg, Männer und Frauen sind gleichberechtigt, 1979, S. 17 ff.; Sacksofsky (Fn. 26), S. 323 ff. 305 Zur Bedeutung und zu den praktischen Auswirkungen Masing/Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 117 Rn. 4 ff. 300 301 302 303
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E. Kategorien im Antidiskriminierungsrecht
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recht in Deutschland ein frauenrechtliches Thema. Obgleich das UN-Abkommen gegen Rassendiskriminierung seit 1969 Anreize hätte setzen können, wenigstens die Kategorie „Rasse“ in den antidiskriminierungsrechtlichen Diskurs aufzunehmen, kam es dazu im Wesentlichen erst durch die Vorgaben der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien seit 2000. 1. Kategorienkataloge
Auf völkerrechtlicher, europarechtlicher und innerstaatlicher Ebene finden sich Dis- 78 kriminierungsverbote einerseits mit geschlossenen, andererseits mit offenen Katalogen geschützter Kategorien.306 Der etablierte tradierte Katalog umfasst jedenfalls Geschlecht,307 „Rasse“,308 Behinderung,309 Religion310 und Weltanschauungen311. Im Übrigen gibt es Abweichungen im Detail312 und Diskriminierungskategorien, die allenfalls in neueren Katalogen explizit aufgeführt sind, wie sexuelle Orientierung,313 Alter314 oder auch genetische Merkmale315. Neue potentiell diskriminierungsrelevante Kategorien treten bei der Nutzung von Algorithmen in der Entscheidungsfindung auf.316 2. Die Sonderstellung sozio-ökonomischer Diskriminierung
Angesichts des engen Zusammenhangs zwischen Gleichheit und Nichtdiskriminierung 79 bedarf eine auffällige Leerstelle innerhalb der Kategorienkataloge der Erläuterung: Die Kategorie sozio-ökonomische Herkunft wird für das Privatrecht in den Kategorienkatalogen nicht anerkannt.317 Gleichwohl ist die Bedeutung dieser Kategorie für die Frage der Diskriminierung enorm: In einem kapitalistischen Wirtschaftssystem wird im Marktgeschehen nach ökonomischen Kriterien unterschieden, insbesondere nach der Zahlungsfähigkeit. Typischerweise entstehen in kapitalistischen Gesellschaften soziale Schichten, die eng verbunden sind mit der jeweiligen Vermögenslage. Die sozio-ökonomische Situation wirkt sich dann über die reine Frage der Zahlungsfähigkeit hinaus auch in anderen Bereichen gesellschaftlicher Interaktion aus, negativ oder positiv. So bestimmt in Deutschland der sozio-ökonomische Hintergrund von Schulkindern maßgeblich über Bildungslebensläufe.318 Dazu → Baer, § 5 Rn. 34 ff. Dazu → Markard, § 6. Dazu → Barskanmaz, § 7. Dazu → Zinsmeister, § 9. Dazu → Walter/Tremml, § 8. Dazu → Krüper, § 12 Rn. 43, 77. Im Einzelnen bereits oben Rn. 26 ff. (C.). Dazu → Markard, § 6 Rn. 23 ff., 31 ff., 36 ff. Dazu → Temming, § 10 Rn. 12 ff. Vgl. etwa Art. 21 GRCh. Dazu → v. Ungern-Sternberg, § 28 Rn. 11 ff. Früh zu dieser Frage für das US-amerikanische Recht Fiss, The Fate of an Idea Whose Time Has Come: Antidiscrimination Law in the Second Decade after Brown v. Board of Education, University of Chicago Law Review 41 (1973), S. 742 (750) (zu Armut als möglichem Diskriminierungsgrund); ausführlich dazu → Röhner, § 11. 318 Bei gleichem Leistungsstand (z. B. Notendurchschnitt) und kognitiven Grundfähigkeiten ist die Wahrscheinlichkeit für Kinder aus sozio-ökonomisch privilegierten Familien, eine Gymnasialempfehlung 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317
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Dass staatlichen Institutionen Differenzierungen aufgrund der sozio-ökonomischen Herkunft der Bürgerinnen und Bürger verwehrt sein müssen, folgt aus dem Verbot der Benachteiligung wegen der Herkunft nach Art. 3 Abs. 3 GG.319 Für den Privatrechtsverkehr stellt sich hingegen die Frage, ob sozio-ökonomische Ungleichheit ein zulässiges Differenzierungskriterium sein darf oder womöglich aufgrund der Funktionsbedingungen marktförmigen Warenaustausches sogar sein muss: Auf Märkten sind grundsätzlich nur jene für Vertragsschlüsse attraktiv, die über die nötigen Mittel zum Erwerb von Dienstleistungen oder Produkten verfügen.320 Mögen vielfach gruppenbezogene Diskriminierungen in sozio-ökonomischer Ungleichheit resultieren, etwa weil Frauen im Schnitt weniger verdienen als Männer (sogenannter gender pay gap)321 oder die professionellen Leistungen von Personen mit nicht autochthon klingenden Namen weniger gut eingeschätzt werden,322 so geht es darum allerdings nicht ausschließlich. Gruppenbezogene Diskriminierung kann auch jene treffen, die sozio-ökonomisch privilegiert sind. Für den Normalfall gruppenbezogener Diskriminierung im allgemeinen Warenverkehr liegt das Problem sogar gerade darin, dass an sich zahlungswillige Personen aufgrund einer – tatsächlichen oder angenommenen – Gruppenzugehörigkeit gerade nicht als Vertragspartner akzeptiert werden. Jherings Satz vom Geld als dem großen Gleichmacher323 stimmt in Fällen gruppenbezogener Diskriminierung gerade nicht. Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen sozio-ökonomischer Ungleichheit und gruppenbezogener Diskriminierung lässt es angemessen erscheinen, sie auch im Rahmen antidiskriminierungsrechtlicher Überlegungen einzubeziehen.324 Sozioökonomische Unterschiede stehen vielfach hinter Diskriminierungsfragen. Umgekehrt kann Diskriminierung aufgrund tatsächlicher oder vermeintlicher Gruppenzugehörigkeit zu sozio-ökonomischen Unterschieden führen. Die Möglichkeiten, sozio-ökonomische Ungleichheiten mit den Mitteln des Antidiskriminierungsrechts zu adressieren, müssen durchdacht und ausgelotet werden. zu erhalten, rund dreieinhalbmal höher als bei Kindern aus sozial schwachen Familien, siehe Dravenau/ Groh-Samberg, Bildungsbenachteiligung als Institutioneneffekt, in: Berger/Kahlert (Hrsg.), Institutionalisierte Ungleichheiten, 3. Aufl. 2013, S. 105; Geißler, Bildungschancen und soziale Herkunft, ArchsozArb 37 (2006), S. 34 (43 f.); Barczak, Der Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe als Grundrechtsproblem, 2011, S. 109 ff. 319 Statt vieler Heun (Fn. 211), Art. 3 Rn. 132. 320 Schiek, Zwischenruf: Den Pudding an die Wand nageln? Überlegungen zu einer progressiven Agenda für das EU-Antidiskriminierungsrecht, KJ 2014, S. 396 (404). 321 Markard, Das Gebot der Entgeltgleichheit: Verfassungsrechtliche Perspektiven, JZ 2019, S. 534 ff. 322 Etwa in juristischen Examina, vgl. dazu die Studie von Glöckner/Towfigh/Traxler, Zur Benotung in der Examensvorbereitung und im ersten Examen, Eine empirische Analyse, ZDRW 2014, S. 8 ff.; dies., Empirische Untersuchung zur Benotung in der staatlichen Pflichtfachprüfung und in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nordrhein-Westfalen von 2006 bis 2016, Dezember 2017. 323 Siehe v. Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, 1877, S. 234: „Das Geld ist der wahre Apostel der Gleichheit; wo es aufs Geld ankommt, verlieren alle socialen, politischen, religiösen, nationalen Vorurtheile und Gegensätze ihre Geltung.“ 324 Dazu → Röhner, § 11; in historischer Perspektive liegt eine Verwandtschaft etwa für die Weimarer Zeit nahe, vgl. Mangold, Gleichheitsrechte und soziale Grundrechte, Internationale und vergleichende Dimension, in: Kleinlein/Ohler (Hrsg.), Weimar international, 2020, S. 119 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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II. Konstruktion von kategorialen Unterscheidungen zwischen Menschen
Die in Diskriminierungsverboten normierten Kategorien knüpfen an in der Gesellschaft 81 vorgefundene Unterscheidungen an. Sie sind nicht zufällig oder willkürlich, sondern rekurrieren auf sozial wahrgenommene Gruppen. 1. Die doppelte Bedeutung der Konstruiertheit von Unterscheidungen
Das darf aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass die Kategorien selbst ontologische 82 Entitäten bezeichneten. Kategorien sind vielmehr das Ergebnis von Konstruktionsleistungen. Mit Blick auf die für die Diskriminierungsverbote maßgeblichen Gruppen lässt sich weiter differenzieren. So unterscheidet Carolin Emcke zwei „Typen“ von kollektiven Identitäten: erstens „gewollte, selbst-identifizierte kollektive Identitäten und Lebensformen“, zweitens die „nicht-intentionale, subjektivierende Konstruktion von kollektiven Identitäten“.325 Besonders deutlich tritt diese Konstruiertheit von Unterscheidungen bei der Kategorie des Geschlechts hervor. So beschreibt Andrea Maihofer „Geschlecht als hegemoniale[n] Diskurs und gesellschaftlich-kulturelle[] Existenzweise“.326 Körper erhalten ihr zufolge in einem „Prozeß der Materialisierung … Wirkung und Bedeutung“.327 Maihofer betont damit die Materialität, die Körperlichkeit menschlicher Existenz, aber zugleich die konstruktive Leistung, die darin liegt, dass Körper in einer bestimmten Weise angesehen und eingeordnet werden, etwa entlang der Kategorie „Geschlecht“ mit ihren Ausprägungen „männlich“ und „weiblich“. Eine zweifache Einsicht klärt das Verständnis rechtlicher Kategorien, dass nämlich ers- 83 tens Menschen ihrer Körperlichkeit „ausgeliefert“ sind, die sie nicht beliebig verändern können, in die sie qua Geburt „geworfen“ sind, dass aber zweitens die Wertungen und Bewertungen, die an bestimmte Körperlichkeiten anknüpfen, gesellschaftlich hervorgebracht werden. Menschen werden in solchen gesellschaftlichen Zuordnungsprozessen als bestimmten Gruppen zugehörig konstruiert und nehmen zugleich selbst an solchen Zuordnungsprozessen teil. 2. Invisibilisierung der rechtlichen Konstruktion von Kategorien
Um Unterscheidungen zwischen den Ausprägungen einer Kategorie vornehmen zu 84 können, müssen diese Ausprägungen voneinander unterschieden werden. „Männer“ sind von „Frauen“, „Schwarze“ von „Weißen“, religiöse Praktiken von nicht-religiösen Praktiken zu unterscheiden. Rechtliche Regelungen und Praktiken haben eine Schlüsselfunktion in diesem Konstruktionsprozess. Die rechtliche Behandlung von kategorialen Unterscheidungen suggeriert freilich vielfach, dass es keine andere Möglichkeit gäbe, als diese Unterscheidung hinzunehmen: Sie wird invisibilisiert. Die Argumentationskette, um die Konstruktionsleistung der kategorialen Unterscheidung zu invisibilisieren, umfasst 325 Emcke, Kollektive Identitäten, 2000, S. 199. 326 Maihofer, Geschlecht als Existenzweise, 1995, S. 79. 327 Maihofer (Fn. 326), S. 89.
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typischerweise drei Schritte: Die Unterscheidung mehrerer Ausprägungen einer Kategorie sei erstens „natürlich“ und zweitens „normal“, weswegen das Recht sich drittens neutral zu dieser Frage zu verhalten habe.328 Das Argument der Natürlichkeit einer Unterscheidung zwischen Personengruppen be85 sagt, dass diese Unterscheidung vorfindlich sei, unbeeinflussbar von der Natur vorgegeben werde – etwa jene zwischen Schwarzen und Weißen, Männern und Frauen, Menschen mit und ohne Behinderung. Diese Natürlichkeitsbehauptung wird flankiert von der Normalitätsbehauptung, dass die Unterscheidung schon immer allgemein akzeptiert und praktiziert worden sei. So wird etwa darauf verwiesen, dass alle zivilisierten Völker die Unterscheidung zwischen Schwarzen und Weißen träfen.329 Das Recht schließlich, so der letzte Schritt des argumentativen Dreischritts, sei neutral in der Frage der Kategorisierung, es setze die „natürliche“ und „normale“ Unterscheidung und unterschiedliche Behandlung selbst lediglich voraus und reagiere auf diese. Diese Behauptung der Neutralität des Rechts erstreckt sich auf die aktive Schaffung der Kategorien. So soll angeblich die Rolle des Rechts auch dann noch „neutral“ sein, wenn gesetzliche Regelungen die kategorisierenden Zuordnungen zu verschiedenen Ausprägungen überhaupt erst ermöglichen.330 86 Betont man demgegenüber den – zumindest auch, teilweise ausschließlich – konstruierten Charakter der Unterscheidungen, so erweist sich die Kategorienorientierung des Antidiskriminierungsrechts als potentiell problematisch: Diskriminierungskategorien sehen sich dann dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie die zu überwindenden Differenzen durch die Verwendung der Kategorien im Rechtstext perpetuieren und zu ihrer gesellschaftlichen Verfestigung beitragen.331 3. Ausprägungen von Kategorien 87
Typischerweise sind Diskriminierungskategorien in symmetrischer Weise gefasst, sodass sie sowohl die gesellschaftlich benachteiligte Gruppe als auch die dominierende Gruppe erfassen.332 Eine Ausnahme bildet die Kategorie „Behinderung“: Alle Menschen haben zwar einen Gesundheitsstatus, doch nur Menschen mit Behinderung können wegen einer „Behinderung“ benachteiligt werden.333 Bei den anderen klassischen Diskriminierungskategorien wie „Geschlecht“ und „Rasse“ umfasst die Kategorie als Oberbegriff hingegen 328 Ausführlicher Mangold (Fn. 3), S. 313 ff. 329 US Supreme Court, Dred Scott v. Sandford, 60 U. S. 393, 407: „This opinion [i. e. dass Sklaven einer
„inferior race“ angehörten] was at that time fixed and universal in the civilized portion of the white race.“
330 Etwa mittels der „one drop rule“, vgl. Virginia Racial Integrity Act 1924, Sec. 5. 331 Das wird mit einem von Martha Minow geprägten Ausdruck als „Dilemma der Differenz“ bezeichnet,
Minow, Making all the difference, 1990, S. 20: „The dilemma of difference may be recreated both by ignoring and by focusing on it. … The problems of inequality can be exacerbated both by treating members of minority groups the same as members of the majority and by treating the two groups differently.“ – Dazu unten Rn. 95 ff. (E. IV.); → Baer, § 5 Rn. 57 ff. 332 Dazu bereits oben Rn. 9 f. (A. II. 2.). 333 Allerdings hat der EuGH das Konzept der Diskriminierung nahestehender Personen wegen „Diskriminierung durch Assoziation“ gerade für Verwandte von Menschen mit Behinderung entwickelt, EuGH, Urt. v. 17.7.2008, Rs. C-303/06, Coleman, Rn. 33 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
E. Kategorien im Antidiskriminierungsrecht
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verschiedene Ausprägungen, nämlich neben den historisch für schützenswert erachteten Ausprägungen auch die gesellschaftlich dominierende. Die Kategorie „Geschlecht“ hat im herkömmlichen Verständnis zwei Ausprägungen: Männer und Frauen.334 Ganz überwiegend sind Männer nach wie vor die gesellschaftlich dominierende Gruppe, so dass Frauen innerhalb der Kategorie „Geschlecht“ „aktiv kategorisiert“335 oder „markiert“336 werden. Auch Angehörige der dominierenden Gruppe weisen freilich eine Ausprägung der Kategorie auf. Auch Männer haben ein Geschlecht. Diese Einsicht in benannte und unbenannte Ausprägungen der Kategorien korrespondiert mit der Konstruktion von „Normalmodellen“ im Recht, die aus den dominierenden Ausprägungen der Kategorien gebildet werden. 4. „Rasse“ als Kategorie?
Besondere Diskussionen ranken sich um die Kategorie der „Rasse“, wie sie in den zentralen 88 Diskriminierungsverboten auf völker- und unionsrechtlicher Ebene sowie im deutschen Verfassungsrecht und einfachen Recht verankert ist.337 Die Problematik besteht zunächst darin, dass der Begriff die biologische Existenz unterschiedlicher menschlicher Rassen zu implizieren scheint, eine Vorstellung, die in den Naturwissenschaften als weitgehend überwunden gelten kann.338 Versuche, am Begriff der „Rasse“ festzuhalten, gleichzeitig aber zu betonen, dass damit keine Akzeptanz von Theorien, die von der biologischen Existenz verschiedener Rassen ausgehen, verbunden sei, wie in der Antirassismus-Richtlinie der EU,339 wirken eher unbeholfen. Auch der in der deutschen Kommentarliteratur vorherrschende Ansatz, demzufolge der Begriff der Rasse Menschengruppen mit bestimmten wirklich oder auch nur vermeintlich vererbbaren Eigenschaften umfasse,340 löst sich nicht vollends von biologischen Vorstellungen und erweist sich zudem als wenig taugliche Definition für die juristische Subsumtion.341 Verfassungspolitisch wird vor diesem Hintergrund über die Ersetzung des Begriffs der 89 „Rasse“ insbesondere im Rahmen von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG diskutiert.342 Alternativ334 Darauf, dass die „neutrale“ Formulierung alle geschlechtlichen Ausprägungen zu erfassen erlaubt,
weist hin Holzleithner, Emanzipation durch Recht?, KJ 2008, S. 250 (251).
335 Markard, Zwangsehen und Scheinehen: Intersektionalität als Analyseinstrument im Recht, in:
Bereswill u. a. (Hrsg.), Intersektionalität und Forschungspraxis, 2015, S. 22 f.
336 Zur Übertragung des linguistischen Konzepts von markierten und unmarkierten Ausprägungen siehe
Mangold (Fn. 3), S. 319 ff.
337 Dazu → Barskanmaz, § 7 Rn. 32 ff. 338 Siehe dazu Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 51 ff.; Liebscher (Fn. 271), S. 81 ff.; problema-
tisch ist es daher, wenn unter Rückgriff auf vereinzelte Positionen in den Naturwissenschaften eine false balance in dieser Frage suggeriert wird, wie etwa bei Kischel, Rasse, Rassismus und Grundgesetz, AöR 145 (2020), S. 227 (241 ff.). 339 Siehe Antirassismus-Richtline, Erwägungsgrund Nr. 6. 340 Statt vieler Heun (Fn. 211), Art. 3 Rn. 129; ausführliche Auswertung und Analyse bei Liebscher (Fn. 271), S. 393 ff. 341 Dazu Payandeh, Verfassungsgerichtliche Konturierung des Verbots rassistischer Diskriminierung, NVwZ 2021, S. 1830 (1831 f.). 342 Im Rahmen der 19. Legislaturperiode standen die in Fn. 24 erwähnten Gesetzentwürfe im ZenAnna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
angebote umfassen insbesondere die Formulierung „rassistisch“ oder „aus rassistischen Gründen“ sowie die Kategorie der „ethnischen Zugehörigkeit“.343 In der Diskussion lassen sich einerseits Stimmen ausmachen, die sowohl am Begriff der Rasse als auch am biologischen Begriffsverständnis festhalten wollen, dabei aber zu Recht betonen, dass es für die Anwendung des Diskriminierungsverbots nicht auf die tatsächliche Existenz von Rassen, sondern auf entsprechende Behauptungen344 oder Zuschreibungen345 ankomme. Dabei wird betont, dass der Begriff im Grundgesetz eine dezidierte Absage an den Rassenwahn des Nationalsozialismus zum Ausdruck bringe.346 Andere wollen den Begriff ebenfalls beibehalten, plädieren dabei aber für eine Entfaltung des Begriffs in seiner Dimension als soziales Konstrukt.347 Für die Ersetzung wird neben der historischen Belastung des Begriffs und der vermeintlichen Anerkennung biologischer Vorstellungen menschlicher Rassen auf die Probleme der Operationalisierung des Begriffs in der praktischen Rechtsarbeit verwiesen, die als mitursächlich dafür ausgemacht werden, dass das Diskriminierungsverbot bislang nur wenig praktische Relevanz erlangt hat.348 90 Ungeachtet der Frage der Ersetzung des Begriffs „Rasse“ besteht schon auf der Grundlage des geltenden Rechts kein Bedürfnis, den Begriff in das Zentrum der antidiskriminierungsrechtlichen Dogmatik zu stellen. Es spricht viel dafür, dass der Begriff einer einfachen, unmittelbar subsumtionsgeeigneten juristischen Definition nicht zugänglich ist. Selbst der UN-Antirassismusausschuss hat in seiner mehr als fünfzigjährigen Tätigkeit keine solche Definition entwickelt und greift auch selten auf den Begriff zurück.349 Das ICERD bietet insofern einen auch für den deutschen Diskurs anschlussfähigen Ansatz, als es für die zentrale Kategorie der racial discrimination bewusst nicht allein an die „Rasse“ anknüpft, sondern daneben die Hautfarbe, die Abstammung, die nationale oder die ethnische Herkunft als Kategorien nennt. Auch das Bundesverfassungsgericht versucht sich nicht an einer Definition von „Rasse“, sondern geht davon aus, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als Verbot rassistischer Diskriminierung zu verstehen ist.350 trum der Diskussion, zu denen am 21.6.2021 eine öffentliche Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestags stattgefunden hat (siehe Protokoll Nr. 19/159). Für die 20. Legislaturperiode sieht der zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP abgeschlossene Koalitionsvertrag 2021–2025, S. 121, eine Ersetzung vor. Überblick zur Debatte bei Griesbeck, Der Begriff Rasse in Artikel 3 GG – Geschichte und aktueller Stand der Diskussion, ZAR 2021, S. 400. 343 Siehe zu entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Regelungen oben Rn. 60 (C. III. 3.). 344 So Kischel (Fn. 338), S. 227 (246 ff.). 345 So Sachs, Expertenstatement: Soll der Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz gestrichen werden?, Pressemitteilung der Universität zu Köln v. 16.7.2020. 346 Langenfeld (Fn. 157), Art. 3 Abs. 3 Rn. 45. 347 Siehe insbesondere Barskanmaz (Fn. 338), S. 21 ff.; Kaneza, Rasse und der Grundsatz der Gleichheit, ZAR 2021, S. 395 (397 ff.). 348 Cremer, Ein Grundgesetz ohne „Rasse“, DIMR Policy Paper No. 16, DIMR, 2010; Cremer, Das Verbot rassistischer Diskriminierung, Analyse, DIMR, 2020; Kutting/Amin, Mit „Rasse“ gegen Rassismus?, DÖV 2020, S. 612 (613 ff.). 349 Siehe Thornberry, The International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, A Commentary, 2016, S. 117 f. 350 BVerfGE 144, 20 (207 f. Rn. 541) – NPD-Verbotsverfahren (2017); BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
E. Kategorien im Antidiskriminierungsrecht
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III. Intersektionalität von Kategorien
Mit der Ausdifferenzierung in den Katalogen von Diskriminierungskategorien geht eine 91 bedeutende quantitative wie qualitative Komplexitätssteigerung einher. Die Frage nach Hierarchien zwischen den Diskriminierungskategorien bleibt dabei nicht aus. Rechtsdogmatisch verarbeitet wird sie etwa in den unterschiedlichen Rechtfertigungsmöglichkeiten, die zum Teil nach der Diskriminierungskategorie differenzieren.351 Die Komplexität wird weiter erhöht durch das allmähliche Sichtbarwerden des Phänomens der Intersektionalität.352 Dieser Begriff bezeichnet Ungleichbehandlungen, die an mehrere Diskriminierungskategorien kumuliert anknüpfen. Angehörige von „Untergruppen“, die an den Kreuzungen (intersections) mehrerer Ungleichheitsachsen entstehen, können in besonderem Maße von mehrdimensionalen Diskriminierungen betroffen sein, was die Frage aufwirft, wie das Antidiskriminierungsrecht ihrem besonderen Schutzbedürfnis nachkommen kann. Der Begriff der „intersectionality“ wurde von der US-amerikanischen Rechtswissen- 92 schaftlerin Kimberlé Crenshaw geprägt.353 Crenshaw analysierte verschiedene arbeitsgerichtliche Entscheidungen, um zu verstehen, warum Schwarze Frauen oftmals nicht vor Diskriminierung geschützt waren. In einem Fall von betriebsbedingten Kündigungen nach einem Senioritätsprinzip (last in, first out) waren beispielsweise Schwarze Frauen viel stärker betroffen als weiße Frauen. Zuerst waren weiße Männer, dann Schwarze Männer, dann weiße Frauen, und erst ganz am Ende Schwarze Frauen eingestellt worden. Diese verloren folgerichtig als erste wieder ihre Stelle.354 Der Entscheidung des US District Court for the Eastern District of Missouri zufolge bildeten aber nur sex discrimination einerseits und race discrimination andererseits anerkannte Formen von Diskriminierung, eine Diskriminierung speziell als Schwarze Frau sei dagegen unbekannt.355 Angesichts der Komplexitätssteigerung käme eine Anerkennung dieser neuen Gruppe dem Öffnen von Pandoras Büchse gleich.356 Crenshaw schlug daraufhin vor, in einer Analogie zu einer Straßenkreuzung (intersection) zu denken: Befindet man sich auf der Kreuzung, können einen aus allen Richtungen Fahrzeuge treffen.357 Folgte man dagegen der Argumentation des District Courts, 2727/19 – „Ugah Ugah“, Rn. 11 und Rn. 19; zustimmend Payandeh (Fn. 341), S. 1831 f.; kritisch → Barskanmaz, § 7 Rn. 64. 351 Dazu → Reimer, § 17 Rn. 113 ff. 352 Dazu→ Holzleithner, § 13. 353 Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, The University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139 ff.; dies., Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color, Stanford Law Review 43 (1990), S. 1241 ff. 354 So das bekannte Urteil US District Court for the Eastern District of Missouri, DeGraffenreid v General Motors, 413 F Supp 142; Crenshaw (Fn. 353), S. 141. 355 US District Court for the Eastern District of Missouri, DeGraffenreid v General Motors, 413 F Supp 142 (143). 356 US District Court for the Eastern District of Missouri, DeGraffenreid v General Motors, 413 F Supp 142 (145): „The prospect of the creation of new classes of protected minorities, governed only by the mathematical principles of permutation and combination, clearly raises the prospect of opening the hackneyed Pandora’s box.“ 357 Crenshaw (Fn. 353), S. 149. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
werde den besonderen intersektionellen Erfahrungen Schwarzer Frauen nicht Rechnung getragen: Schwarze Frauen würden marginalisiert.358 Bei einer solchen Betrachtungsweise gerieten die Privilegierungen von weißen Frauen (in der Gruppe der Frauen) und von Schwarzen Männern (in der Gruppe der Schwarzen Personen) aus dem Blick.359 93 Das Phänomen der Intersektionalität verweist in besonderem Maße auf gesellschaftliche Machtverhältnisse. Diese bewirken die Unterscheidung in privilegierte und diskriminierte gesellschaftliche Gruppen. Diese Machtverhältnisse machen freilich nicht vor der Binnenstruktur herkömmlich als diskriminiert beschriebener Gruppen Halt. „Achsen der Ungleichheit“360 enden nicht bei den im Antidiskriminierungsrecht benannten Gruppen. Deswegen wurde auch Kritik an Crenshaws Bild einer Kreuzung geübt, weil dieses suggerieren könnte, dass „Machtverhältnisse jenseits der Kreuzung scheinbar unbeeinflusst voneinander existieren“.361 Zu bedenken ist beim Bild der intersection, dass relevante gesellschaftliche Machtstrukturen immer schon miteinander verwoben sind.362 Es gibt folglich niemals eindimensionale Diskriminierung. Privilegierte Kategorienaspekte, die sich konkret nicht nachteilig auswirken, bleiben vielmehr nur „unsichtbar“ oder „unmarkiert“, wodurch der Eindruck einer eindimensionalen Diskriminierung entsteht.363 Damit ist die keineswegs neue, mindestens auf das 19. Jahrhundert zurückgehende Einsicht angesprochen, dass etwa in der Gruppe der Frauen spezifische Erfahrungen dominant artikuliert werden, nämlich die Erfahrungen weißer und/oder bürgerlicher Frauen.364 94 Wenn im Antidiskriminierungsrecht sozial benachteiligte Gruppen ihre Benachteiligung rechtlich adressieren, stellt sich für die Konzeption der berechtigten Gruppen die Frage, wer den Maßstab für diese Gruppen bildet. Bei der mehrdimensionalen Diskriminierung tritt diese Frage besonders deutlich hervor: In der Gruppe der Frauen bilden weiße, nicht-behinderte, heterosexuelle, bürgerliche Frauen das Normalmodell. Gleichwohl muss den unterschiedlichen Lebensumständen verschiedener intersektional benachteiligter Untergruppen Rechnung getragen werden. IV. Erneuerungsvorschläge, insbesondere „postkategoriales Antidiskriminierungsrecht“ 95 Angesichts dieser Problematiken der Diskriminierungskataloge plädieren manche Stim-
men in der Literatur für offene Kategorienkataloge oder Generalverbotsnormen, um den
358 Crenshaw (Fn. 353), S. 150. 359 Crenshaw (Fn. 353), S. 151. 360 Klinger/Knapp/Sauer (Hrsg.), Achsen der Ungleichheit, 2007; zuvor: Knapp (Hrsg.), Achsen der
Differenz, 2003.
361 Dietze/Hornscheidt/Palm/Walgenbach, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Gender als interdependente
Kategorie, 2007, S. 9.
362 So deutlich und überzeugend Markard (Fn. 335), S. 22, mit Verweis auf eine Stellungnahme des
Combahee River Collective von Schwarzen Frauen aus dem Jahr 1977: „The major systems of oppression are interlocking. The synthesis of the oppressions creates the conditions of our lives.“; „Herrschafts-“ und „Machtverhältnisse“ benennt auch Sacksofsky (Fn. 47), S. 432. 363 Dazu bereits oben Rn. 87 (E. II. 3.). 364 Überblick bei Walgenbach (Fn. 48), S. 23 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
E. Kategorien im Antidiskriminierungsrecht
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immer neuen Formen von Diskriminierung begegnen zu können, die vor allem aus einer immer feineren Wahrnehmung der Untergruppierungen innerhalb kategorial geschützter Gruppen resultieren.365 Zum Teil wird ein „postkategoriales Antidiskriminierungsrecht“ eingefordert: Susanne Baer etwa bezeichnet gruppenbasierte Konzepte von positiven Maßnahmen als „rechtlichen Gruppismus“,366 in Anlehnung an einen Ausdruck des Soziologen Rogers Brubaker.367 Vorschläge zu einem postkategorialen Antidiskriminierungsrecht368 betonen die Bedeutung von Selbstzuschreibung und -einordnung von Personen und wollen die zwangsweise Zuordnung in der Rechtspraxis verhindern, gleichwohl aber Benachteiligung und Diskriminierung sanktionieren und justiziabel halten. Sie wollen so eine differenziertere Gruppenbenennung ermöglichen, die es erlauben soll, Fälle mehrdimensionaler Diskriminierung besser zu erfassen. Vorschläge zu einem postkategorialen Antidiskriminierungsrecht wollen nicht „anti- 96 kategorial“ sein,369 aber den Schwerpunkt von den benachteiligten Gruppen angeblich „anhaftenden“ Merkmalen auf die zuschreibenden – rassistischen, sexistischen, behindernden – Praktiken der Kategorisierung verlagern. Damit macht der postkategoriale Ansatz einen Vorschlag, wie problematische essentialisierende Zuschreibungen im Recht selbst überwunden werden können. Zusätzlich und unabhängig davon sollen durch einen offenen Kategorienkatalog auch neue Zuschreibungspraktiken adressierbar werden, etwa solche, die sich nur an Teilgruppen richten. Der Vorschlag eines postkategorialen Antidiskriminierungsrechts thematisiert eine 97 zentrale Frage des Antidiskriminierungsrechts, nämlich den Umgang mit der in den Kategorien zum Ausdruck kommenden Vorstellung vom Wesen einer Unterscheidungskategorie. Dabei muss sorgfältig abgewogen werden, ob durch eine Verlagerung der rechtlichen Aufmerksamkeit auf die Zuschreibungspraktiken möglicherweise die Intentionalität diskriminierender Handlungen wieder das Übergewicht gewinnt und unreflektierte, vorurteilsbedingte und strukturell-institutionelle Diskriminierung aus dem Blick gerät. In der Geschichte der Diskriminierungsverbote sahen sich benachteiligte Personen(gruppen) oftmals mit dem Problem konfrontiert, zunächst nachweisen zu müssen, aus welchen Gründen bestimmte diskriminierend wirkende Handlungen stattfanden. Die Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung, die die Ergebnisse (und nicht die Motive) bestimmter 365 Ausführlich dazu → Baer, § 5 Rn. 73 ff. 366 Baer, Chancen und Risiken Positiver Maßnahmen: Grundprobleme des Antidiskriminierungsrechts,
in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Positive Maßnahmen, Von Antidiskriminierung zu Diversity, 2010, S. 23 (25); dies., Privatizing Religion – Legal Groupism, No-Go-Areas, and the Public-Private-Ideology in Human Rights Politics, Constellations 20 (2013), S. 68 ff. 367 Brubaker, Ethnizität ohne Gruppen, 2007. 368 Zunächst für proaktive Gleichstellungsmaßnahmen Baer (Fn. 366), S. 23 ff.; inzwischen für die Kategorie „Geschlecht“ ausgeweitet auch auf reaktiven Diskriminierungsschutz: dies., Geschlecht und Recht, Zur Diskussion um die Auflösung der Geschlechtergrenzen, RZ 92 (2014), S. 5 ff.; Lembke/Liebscher, Postkategoriales Antidiskriminierungsrecht? – Oder: Wie kommen Konzepte der Intersektionalität in die Rechtsdogmatik?, in: Philipp u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, S. 261 ff.; Liebscher/Naguib/Plümecke/Remus, Wege aus der Essentialismusfalle: Überlegungen zu einem postkategorialen Antidiskriminierungsrecht, KJ 2012, S. 204 ff. 369 So explizit Lembke/Liebscher (Fn. 368), S. 283. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
Handlungen berücksichtigt, kann als Reaktion auf genau diese Beweisschwierigkeit verstanden werden.370 Darüber hinaus muss bedacht werden, dass Kategorien bei postkategorialen Vorschlägen nicht aus dem Antidiskriminierungsrecht verschwinden, sondern in die Definitionen der Zuschreibungspraktiken (rassistisches, sexistisches Verhalten etc.) verlagert werden.
F. Dogmatische Figuren des Antidiskriminierungsrechts 98 Das Antidiskriminierungsrecht ist durch eine Vielzahl besonderer rechtsdogmatischer
Figuren gekennzeichnet. Dabei können in systematisierender Absicht zunächst zwei Teilbereiche des Antidiskriminierungsrechts unterschieden werden: einerseits reaktive Diskriminierungsverbote, andererseits proaktive Gleichstellungsvorschriften.371 Während reaktive Diskriminierungsverbote an vergangene Tatbestände anknüpfen und bestimmte Verhaltensweisen und Handlungsfolgen sanktionieren,372 ist proaktives Gleichstellungsrecht darauf angelegt, transformativ zu wirken, bestehende Benachteiligungen abzubauen und zukunftsorientiert bessere Partizipationschancen für historisch benachteiligte Personengruppen herbeizuführen. Die beiden Ausprägungen des Antidiskriminierungsrechts unterscheiden sich somit in ihren Wirkungsrichtungen. 99 Diskriminierungsverbote umfassen unmittelbare und mittelbare Diskriminierung373 sowie Belästigungen, insbesondere in Form der sexuellen Belästigung. Das proaktive Gleichstellungsrecht bildet zudem den Rahmen für Fördermaßnahmen, wobei Bevorzugungsregeln, etwa Quotenvorgaben zugunsten bislang benachteiligter Personengruppen, besonders umstritten sind.374 Manche Maßnahmen entziehen sich eindeutiger Systematisierung, weil sie sowohl reaktive als auch proaktive Elemente aufweisen; das gilt für bestimmte Interpretationen des Verbots mittelbarer Diskriminierung,375 vor allem aber für die Figur der angemessenen Vorkehrungen (reasonable accomodation).376 Diskriminierungsverbote sollen – wie gesetzliche Verbote generell – präventiv wirken, 100 also von vornherein verhindern, dass eine Diskriminierungssituation entsteht und damit 370 Dazu unten Rn. 105 ff. (F. I. 2.) sowie → Sacksofsky, § 14 Rn. 106. 371 Ähnliche Unterscheidung bei Sacksofsky (Fn. 26), passim, deutlich S. 201 mit Fn. 431, S. 273 sowie
Fredman, Discrimination law, 2. Aufl. 2011, S. 230 f. und passim; dies., Breaking the Mold: Equality as a Proactive Duty, American Journal of Comparative Law 60 (2012), S. 265 ff.; dies., Changing the Norm: Positive Duties in Equal Treatment Legislation, Maastricht Journal of European and Comparative Law 12 (2005), S. 369 ff. 372 Zum Rechtsfolgenregime → Grünberger/Reinelt, § 20; ausführlich dies., Konfliktlinien im Nichtdiskriminierungsrecht, Das Rechtsdurchsetzungsregime aus Sicht soziologischer Jurisprudenz, 2020; Beigang/Boll/Egenberger/Hahn/Leidinger/Tischbirek/Tuner, Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung des Diskriminierungsschutzes bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse. Bestandsaufnahme, Alternativen und Weiterentwicklung, 2021. 373 Dazu → Sacksofsky, § 14. 374 Dazu → Schuler-Harms, § 16 Rn. 57 ff. 375 Dazu → Sacksofsky, § 14 Rn. 104 ff. 376 Dazu → Degener, § 15. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
F. Dogmatische Figuren des Antidiskriminierungsrechts
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ebenfalls dafür sorgen, dass sich die Bedingungen für bislang diskriminierte Personengruppen dauerhaft verbessern.377 Gleichstellungsrechtliche Maßnahmen zielen darauf ab, die bestehenden Verhältnisse zu verändern. Hier wird nicht abgewartet, dass unter Bedingungen von Nichtdiskriminierung allmählich auch jene Personen und Gruppen ihre Potentiale voll ausschöpfen können, die bislang diskriminiert wurden. Gleichstellungsmaßnahmen sind insoweit „ungeduldig“, als sie nicht darauf warten, dass die gesellschaftlichen Machtverhältnisse sich irgendwann ändern, sondern den Wandel aktiv anzustoßen trachten. I. Reaktive Diskriminierungsverbote
Im Zentrum der reaktiven Diskriminierungsverbote steht der Diskriminierungsbegriff mit 101 seinen verschiedenen dogmatischen Ausprägungen. 1. Verbot unmittelbarer Diskriminierung
Eine exemplarische Formulierung eines Verbots unmittelbarer Diskriminierung findet 102 sich in § 3 Abs. 2 Satz 1 AGG.378 Danach liegt eine unmittelbare Benachteiligung vor, wenn eine Person wegen eines dort aufgezählten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Eine unmittelbare Diskriminierung setzt also dreierlei voraus: erstens eine weniger günstige Behandlung, die zweitens in einer vergleichbaren Situation mit einer – konkreten oder hypothetischen – anderen Person erfolgt und drittens wegen eines geschützten Grundes. Alle Tatbestandsmerkmale weisen Probleme auf, die vielfach beweisrechtlicher Natur sind. Die weniger günstige Behandlung muss in einem bestimmten Zusammenhang zum 103 Diskriminierungsgrund stehen. Ursprünglich wurde dies so verstanden, dass eine entsprechende subjektive Intention der diskriminierenden Person vorliegen musste. Wenn der geschützte Grund direkt benannt wird, kann von einer solchen Intention ohne weiteres ausgegangen werden. Dieses unmittelbare Anknüpfen an eine der geschützten Kategorien ist untersagt (Anknüpfungsverbot). Inzwischen gibt es eine Entwicklung hin zur objektiven Bestimmung der notwendigen Verbindung zwischen Handlung (Tun oder Unterlassen) und dem geschützten Grund. Wenn etwa stereotype Vorstellungen oder Vorurteile zu einer bestimmten Entscheidung führen, kann die Tatsache unbewusst geblieben sein, dass die Unterscheidung gerade „wegen“ des geschützten Grundes getroffen wurde.379 377 In diesem Sinne beschreibt Wisskirchen (Fn. 73), S. 44, die mittelbare Diskriminierung als „zukunfts-
gerichtet“: Sie vermittle aber „zunächst nur eine Umverteilung von Chancen“.
378 Ausführlich zu dieser Rechtsfigur → Sacksofsky, § 14 Rn. 35 ff. 379 Siehe das Beispiel bei Bauer/Krieger/Günther, AGG, 5. Aufl. 2018, § 3 Rn. 10: „(…) wenn der Arbeit-
geber gar nicht erst auf die Idee kommt, einen behinderten Beschäftigten für eine Beförderungsstelle in Betracht zu ziehen, weil er unterbewusst davon ausgeht, die mit der Beförderungsstelle verbundene zusätzliche Belastung sei mit der Behinderung des Arbeitnehmers nicht vereinbar“. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
In einer solchen Verschiebung von einer rein subjektiven Betrachtung, die ein aktualisiertes Bewusstsein der diskriminierenden Handlung bei der diskriminierenden Person erfordert, zu einer objektiven Betrachtung, die danach fragt, ob die betroffene Person gerade wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer geschützten Personengruppe weniger günstig behandelt wird, liegt ein bedeutender Wandel der Perspektive: Ging es vorher allein um Motive und Intention der diskriminierenden Person, so gelangen nun auch im Zusammenhang mit der Figur der unmittelbaren Diskriminierung die Auswirkungen für die benachteiligten Personen ins Blickfeld der Betrachtung.380 Ob eine Rechtfertigung für unmittelbare Diskriminierung überhaupt möglich ist, wird bei verschiedenen Diskriminierungsverboten unterschiedlich geregelt, wobei zum Teil nach Kategorien differenziert wird.381 2. Verbot mittelbarer Diskriminierung
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Seit der Mitte der 1970er Jahre fand das dogmatische Konzept des „disparate impact“382 aus dem US-amerikanischen Antidiskriminierungsrecht seinen Weg in das europäische Gemeinschaftsrecht,383 wo es als Verbot mittelbarer Diskriminierung (indirect discrimination) rezipiert wurde.384 Die Rolle der Vermittlung aus dem US-amerikanischen Recht übernahmen das britische und das irische Recht.385 Über die wirtschaftsrechtliche Traditionslinie fand sich die Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung freilich auch schon im frühen Gemeinschaftsrecht zum EGKS-Vertrag.386 Über das Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit387 fand dann in der Rechtsprechung 380 Deutlich, wenn auch in allgemeinerem Kontext Khaitan (Fn. 42), S. 168; ähnlich – „Wechsel der Blick-
richtung“ – Sacksofsky (Fn. 26), S. 285.
381 Dazu → Sacksofsky, § 14 Rn. 88 ff.; → Reimer, § 17 Rn. 76, 120. 382 Üblicherweise verortet im Urteil des US Supreme Court, Griggs v. Duke Power Co., 401 U. S. 424
(1971).
383 Dazu bereits oben Rn. 21 (B. II.). 384 Zur Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH Tobler (Fn. 72), S. 101, Überblick S. 102 f.; aus-
führlich zu dieser Rechtsfigur → Sacksofsky, § 14 Rn. 101 ff.
385 Zu diesen Vorläufern Tobler (Fn. 72), S. 95; Wisskirchen (Fn. 73), S. 52. Vereinigtes Königreich: Sex
Discrimination Act 1975 ch. 65, Sec. 1 (1): „A person discriminates against a woman in any circumstances relevant for the purposes of any provision of this Act if – […] (b) he applies to her a requirement or condition which he applies or would apply equally to a man but – (i) which is such that the proportion of women who can comply with it is considerably smaller than the proportion of men who can comply with it, and, (ii) which he cannot show to be justifiable irrespective of the sex of the person to whom it is applied, and (iii) which is to her detriment because she cannot comply with it.“; Irland: Equal Employment Act No. 16 of 1977, Sec. 2 „For the purposes of this Act, discrimination shall be taken to occur in any of the following cases – […] b) where because of his sex or marital status a person is obliged to comply with a requirement, relating to employment or membership of a body [which is an organisation of workers, an organisation of employers or a professional or trade organisation or which controls entry to a profession or the carrying on of a profession], which is not an essential requirement for such employment or membership and in respect of which the proportion of persons of the other sex or (as the case may be) of a different marital status but of the same sex able to comply is substantially higher […].“ 386 Dazu bereits oben Rn. 20 (B. II.). 387 Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 48 EWGV: EuGH, Urt. v. 15.10.1969, Rs. 15/69, Ugliola, Rn. 6 f.: Anrechnung von Wehrdienstzeiten als mittelbare Bevorzugung der eigenen Staatsangehörigen, Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
F. Dogmatische Figuren des Antidiskriminierungsrechts
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des EuGH ein Brückenschlag zum menschenrechtlichen Diskriminierungsschutz statt.388 Die seit 1957 in Art. 119 EWGV angeordnete Entgeltgleichheit für Frauen und Männer entfaltete der EuGH im Laufe der 1970er und 1980er Jahre und entwickelte gerade in diesem Zusammenhang die Figur der mittelbaren Diskriminierung.389 In der dogmatischen Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung verschränken 106 sich die strukturell-institutionellen Gründe von fortbestehender Exklusion mit dem individualrechtlichen Schutz vor Diskriminierung, wenn Einzelne die Folgen struktureller Arrangements und Exklusionsmechanismen gerichtlich angreifen. Eine exemplarische Regelung der mittelbaren Diskriminierung findet sich in § 3 Abs. 2 AGG: „Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines [geschützten] Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.“
Das Verbot mittelbarer Diskriminierung sanktioniert bestimmte Auswirkungen von Hand- 107 lungen und Praktiken, indem es an für sich genommen „neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren“ anknüpft, die überproportional nachteilige Auswirkungen auf bestimmte Personengruppen haben. Grundsätzlich ist keine diskriminierende Intention notwendig. Gleichwohl wirft die Figur beweisrechtlich schwierige Fragen auf, die insbesondere um das Problem kreisen, wie eine Benachteiligung „in besonderer Weise“ erwiesen werden kann und welche Rolle dabei Statistiken oder qualitativen Indizien zukommt.390 Darüber hinaus ist umstritten, ob das Verbot mittelbarer Diskriminierung eine Kausalitätsbeziehung zur geschützten Kategorie verlangt (Diskriminierung wegen der geschützten Kategorie), ob bloße Korrelationen ausreichen und wie diese Korrelationen gegebenenfalls beschaffen sein müssen.391 wenn Wehrdienstzeiten von Wanderarbeitnehmern nicht angerechnet werden; EuGH, Urt. v. 12.2.1974, Rs. 152/73, Sotgiu, Rn. 11: Anknüpfung einer Regelung an den Wohnsitz kann eine mittelbare Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit sein. 388 Zur Entgeltgleichheit für Frauen und Männer in Art. 119 EWGV: EuGH, Urt. v. 7.6.1972, Rs. 20/71, Sabbatini, Rn. 4/7 und 11/13: Auslandszuschlag für Beamtinnen und Beamten der EWG, der nach Eheschließung nur noch jenen bezahlt wird, die als „Familienvorstand“ fungieren, benachteiligt mittelbar wegen des Geschlechts; Parallelfall in den USA: US Supreme Court, Frontiero v. Richardson, 411 U. S. 677 (1973). 389 Leitentscheidungen zur mittelbaren Diskriminierung in Auslegung von Art. 119 EWGV: EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Rn. 16/20: „unmittelbare, offene Diskriminierungen“ und „mittelbare, versteckte Diskriminierungen“; EuGH, Urt. v. 31.3.1981, Rs. 96/80, Jenkins, Rn. 13 ff.: Teilzeitkräfte erhielten geringere Löhne als Vollzeitkräfte, was eine indirekte Diskriminierung wegen des Geschlechts darstellen kann, wenn ganz überwiegend Frauen als Teilzeitkräfte arbeiten; EuGH, Urt. v. 13.5.1986, Rs. C-170/84, Bilka, Rn. 29 und Rn. 31 (Zitat): betriebliche Altersvorsorge nur für Vollzeit-, nicht aber für Teilzeitarbeitskräfte als mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts, „wenn diese Maßnahme wesentlich mehr Frauen als Männer trifft, es sei denn, das Unternehmen legt dar, daß diese Maßnahme auf Faktoren beruht, die objektiv gerechtfertigt sind und nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben“. 390 Dazu → Towfigh, § 18 Rn. 9 ff. 391 Rebhahn/Kietaibl, Mittelbare Diskriminierung und Kausalität, RW 2010, S. 373 ff.; Hoffmann, Die Feststellung mittelbarer Diskriminierungen, AcP 214 (2014), S. 822 ff. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
Allgemein wird angenommen, dass eine Rechtfertigung mittelbarer Diskriminierungen möglich sei. Teilweise wird die Rechtfertigung sogar auf der Ebene des Tatbestandes, als negatives Tatbestandsmerkmal, verortet und damit begründet, dass bei mittelbarer Benachteiligung „in der Regel (aber nicht durchweg) die Eingriffstiefe … nicht so intensiv ist wie bei der unmittelbaren Benachteiligung“.392 Eine bislang offene Frage ist, ob eine mittelbare Diskriminierung sich in ihrer Wirkung für die Diskriminierten tatsächlich erheblich von unmittelbarer Diskriminierung unterscheidet. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, welche Schutzzwecke den Diskriminierungsverboten unterlegt werden. 109 Das Verbot der mittelbaren Diskriminierung hat je nach Interpretation ein erhebliches Potential, einerseits unbewusste Diskriminierungsformen in Gestalt von stereotypen Vorstellungen und kategorienbasierten Vorurteilen zu adressieren, andererseits und vor allem aber strukturellen Diskriminierungslagen entgegenzuwirken. Auf der Grundlage eines formalen Gleichheitsverständnisses hat das Verbot mittelbarer Diskriminierung lediglich eine Hilfsfunktion gegenüber dem Verbot unmittelbarer Diskriminierung: Es verhindert die Umgehung des Verbots unmittelbarer Diskriminierung durch dem Anschein nach neutrale Ersatzkriterien (Umgehungsverbot) und hilft bei Beweisproblemen hinsichtlich der Intentionalität unmittelbarer Diskriminierung (Beweiserleichterung).393 Wird hingegen ein materiales Gleichheitsverständnis zum Ausgangspunkt genommen, so gelangen auch strukturelle Diskriminierungslagen in den Anwendungsbereich des Verbots. Die historisch entstandenen gesellschaftlichen Strukturen bewirken, dass nicht alle Personengruppen von denselben Normen in gleicher Weise betroffen werden. Ein materiales Gleichheitsverständnis trägt dieser Einsicht Rechnung, wenn darauf geachtet wird, wie sich nicht explizit kategorial differenzierende Regelungen, Verfahren oder Kriterien auf verschiedene Personengruppen auswirken. 110 Hochumstritten ist, ob das Verbot mittelbarer Diskriminierung ein solch transformatorisches Potential haben soll, ob es also material394 zu deuten ist. Zum Teil wird argumentiert, die mittelbare Diskriminierung sei auf ihre historisch ursprüngliche Hilfsfunktion zur Flankierung des Verbots unmittelbarer Diskriminierung zu beschränken,395 weil andernfalls ein neuartiges, ursprünglich nicht gemeintes „Verbot der Gleichbehandlung mit ungleichen Folgen“ etabliert werde.396 Ein materiales Verständnis widerspreche dem hergebrachten System, weil es Einzelne verantwortungsunabhängig für den „Ausgleich gesellschaftlicher Nachteile“ in Haftung nehme, was mit allgemein anerkannten Grundsätzen der Gerechtigkeit kollidiere.397 Befürworter eines materialen Verständnisses 108
392 Schrader/Schubert, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 3 Rn. 71. 393 Zur Zuordnung von verdeckten Diskriminierungen zum Konzept der unmittelbaren Diskriminierung
Kischel (Fn. 210), Art. 3 Rn. 216.
394 Zum Konzept materialer Gleichheit bereits oben Rn. 9 ff. (A. II. 2.) sowie → Sacksofsky, § 14 Rn. 21 ff. 395 Exemplarisch Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 3 AGG Rn. 24; vgl. auch die gründliche
Auseinandersetzung mit Thüsings schon lange vertretener Position bei Schramm, Ungewisse und diffuse Diskriminierung, 2013, S. 36 ff. 396 Thüsing, in: MüKo-BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 3 AGG Rn. 29. 397 Mohr, Schutz vor Diskriminierungen im Europäischen Arbeitsrecht, 2004, S. 284 ff., bezieht sich auf die aristotelische Unterscheidung zwischen verteilender und ausgleichender Gerechtigkeit (Aristoteles, Die Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
F. Dogmatische Figuren des Antidiskriminierungsrechts
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argumentieren demgegenüber, das Verbot mittelbarer Diskriminierung erlaube, unreflektierte stereotype Vorstellungen und Vorurteile sowie strukturelle Diskriminierungslagen anzugreifen, die auf einer bestimmten historisch etablierten Einrichtung der Gesellschaft beruhen.398 Der Blick auf die korrelierenden Folgen lasse die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Umstände verschiedener Personengruppen in der Gesellschaft sichtbar werden und halte Entscheidende an, Maßnahmen von vornherein darauf zu untersuchen, ob sie ungleiche Betroffenheiten in verschiedenen Personengruppen auslösen.399 In der Bewertung der dogmatischen Figur der mittelbaren Diskriminierung spiegelt sich das Ringen um ein formales oder materiales Gleichheitsverständnis.400 3. Belästigung
Belästigungen versteht das europäische Antidiskriminierungsrecht als Diskriminierung. 111 So definiert § 3 Abs. 3 AGG eine Belästigung als „eine Benachteiligung, wenn unerwünschte Verhaltensweisen, die mit einem [geschützten] Grund in Zusammenhang stehen, bezwecken oder bewirken, dass die Würde der betreffenden Person verletzt und ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird.“
§ 3 Abs. 4 AGG hebt sodann die spezifische Form sexueller Belästigung hervor, und zwar 112 speziell im arbeitsrechtlichen Umfeld von Beschäftigung und Beruf. Die Vorschrift definiert eine sexuelle Belästigung als Benachteiligung, „wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird.“
Belästigung ist eine Form einerseits der Ausnutzung, andererseits der Etablierung sozialer 113 Machtverhältnisse und zementiert unterschiedliche Freiheitssphären. Sie kann zugleich eine Würdeverletzung der betroffenen Individuen darstellen, was bei sexuellen Übergriffen besonders deutlich wird, weil hier ein anderer Mensch – nicht begriffsnotwendiger-, aber typischerweise Frauen – als bloßes „Objekt“ behandelt wird, auf das jederzeit Zugriff genommen werden darf.
Nikomachische Ethik. Buch V [übers. Olof Gigon], 1951, S. 152 ff.): Arbeitgeber sollten keine Vorgaben zur ausgleichenden Gerechtigkeit erhalten. 398 Wisskirchen (Fn. 73), S. 41. 399 Für das Arbeitsrecht: Wisskirchen (Fn. 73), S. 42; allgemein Schiek, in: Schiek (Hrsg.), AGG, 2007, § 3 Rn. 22: „diskriminierende Wirkungen scheinbar neutraler Praktiken aufdecken“. 400 Dazu oben Rn. 9 ff. (A. II. 2.). Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
4. Weiterungen des Diskriminierungsbegriffs 114
Eine wichtige Regelung mit weitreichenden theoretischen Implikationen, wenn auch bislang geringer praktischer Relevanz, findet sich in § 3 Abs. 5 AGG, der die Anweisung zu einer Benachteiligung ihrerseits als Benachteiligung definiert: „Die Anweisung zur Benachteiligung einer Person aus einem [geschützten] Grund gilt als Benachteiligung. Eine solche Anweisung liegt [im Arbeitsrecht] insbesondere vor, wenn jemand eine Person zu einem Verhalten bestimmt, das einen Beschäftigten oder eine Beschäftigte wegen eines [geschützten] Grundes benachteiligt oder benachteiligen kann.“
§ 3 Abs. 5 Satz 2 AGG hebt hervor („insbesondere“), dass die Anweisung zu Diskriminierung selbst eine diskriminierende Handlung ist. Nicht nur die unmittelbar Handelnden werden so in die Verantwortung genommen, sondern auch die „Schreibtischtäter“ und „Drahtzieher“. 116 In eine ähnliche Richtung entwickelt die Figur der „Diskriminierung aufgrund Näheverhältnisses“ (discrimination by association) das Antidiskriminierungsrecht in weitreichender Weise fort. Eine unmittelbare Benachteiligung liegt danach auch vor, wenn eine Person, die selbst nicht einer geschützten Personengruppen angehört, wegen ihrer Verbindung zu einer geschützten Person ihrerseits nachteilig behandelt wird. Der EuGH hat diese Form der Diskriminierung erstmals 2008 in einem Fall anerkannt, in dem die Mutter eines Kindes mit Behinderung zu einer Kündigung gedrängt worden war.401 Ebenso hat der EuGH 2015 entschieden, dass auch eine solche Person diskriminiert sein kann, die in einem überwiegend von Roma bewohnten Stadtviertel lebt, sich selbst aber nicht als Roma definiert.402 117 Die Fälle von „Diskriminierung durch Assoziation“ verweisen auf ein schon in der USamerikanischen Praxis der Rassensegregation zu beobachtendes Phänomen, dass nämlich von Diskriminierungen nicht notwendig nur jene betroffen sind, die sich selbst einer geschützten Gruppe zuordnen oder zugeordnet werden, sondern auch Personen, die der dominanten Ausprägung einer geschützten Kategorie angehören, aber mit Personen zu tun haben, die einer kategorial geschützten Personengruppe angehören, etwa mit diesen verheiratet sind403 oder gemeinsam in die Disko gehen wollen404. 115
5. Angemessene Vorkehrungen (reasonable accomodation) 118
Eine der interessantesten und in der dogmatischen Durchdringung anspruchsvollsten Rechtsfiguren des Antidiskriminierungsrechts bilden die angemessenen Vorkehrungen (reasonable accomodation).405 Ihre rechtswissenschaftliche Aufarbeitung steht in Deutsch401 EuGH, Urt. v. 17.7.2008, Rs. C-303/06, Coleman, Rn. 33 ff. 402 EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14, CHEZ RB, Rn. 56 ff. 403 Vgl. den Fall des Ehepaares „of mixed color“ in US Supreme Court, Civil Rights Cases, 109 U. S. 3, 4
(1883); ebenso im Eheverbotsfall US Supreme Court, Loving v. Virginia, 388 U. S. 1 (1967).
404 So in einem österreichischen Fall des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien, Urt. v. 10.12.2015,
36 R 292/15 f, S. 3.
405 Dazu → Degener, § 15.
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F. Dogmatische Figuren des Antidiskriminierungsrechts
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land noch ganz am Anfang.406 In der exemplarischen Legaldefinition von Art. 2 UAbs. 4 UN-BRK erfordern angemessene Vorkehrungen „notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können“.
Rechtliche Ansprüche auf angemessene Vorkehrungen wurden im Unions- und im Völ- 119 kerrecht zunächst im Behindertenrecht eingeführt.407 Mehrbelastungen von Frauen durch Fürsorgetätigkeiten soll durch Ansprüche auf Teilzeit oder flexible Arbeitszeitgestaltung angemessen Rechnung getragen werden. Neuerdings gelangt auch ins Bewusstsein, dass verschiedene religiöse Bedürfnisse nicht zwanglos mit dem christlichen „Normalmodell“ in eins fallen. Um den unterschiedlichen Bedürfnissen verschiedener Personengruppen gerecht zu werden, kann es notwendig sein, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um so deren Inklusion zu ermöglichen, sei es am Arbeitsplatz, sei es im gesellschaftlichen Verkehr. Wegen der möglicherweise nicht geringen Kosten sind die angemessenen Vorkehrungen vor allem im US-amerikanischen Schrifttum in die Nähe distributiver Gerechtigkeit gerückt worden.408 Schwierig zu beantworten ist auch die ebenfalls noch weitgehend offene Frage, ob an- 120 gemessene Vorkehrungen als Element der Diskriminierungsverbote oder als proaktive Förderungsmaßnahme verstanden werden müssen. Die Vorenthaltung angemessener Vorkehrungen wird faktisch regelmäßig dazu führen, dass die geschützte Personengruppe, etwa Menschen mit Behinderung oder gläubige Menschen, überproportional benachteiligt oder sogar gänzlich ausgeschlossen wird durch die „übliche“ Einrichtung der Dinge, die insoweit als „neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren“ angesehen werden können. Die Vorenthaltung angemessener Vorkehrungen könnte dann eine mittelbare Diskriminierung darstellen.409 Angemessene Vorkehrungen könnten aber auch als proaktive Gleichstellungsmaßnahme angesehen werden. Denkbar sind zwei Betrachtungsweisen, welche die Ausgangslage ganz unterschiedlich 121 deuten: Eine Person verlangt als angemessene Vorkehrung eine Sonderbehandlung oder 406 Grundlegende Ausführungen bei Kocher/Wenckebach, § 12 AGG als Grundlage für Ansprüche
auf angemessene Vorkehrungen, SR 2013, S. 17 ff.; Kocher, Prozedurale Individualisierung im Erwerbsleben – Gestaltungsansprüche als rechtliches Instrument der Integration, ZRSoz 2010, S. 109 ff.; Stein, Angemessene Vorkehrungen am Arbeitsplatz – auch für Fragen der Religion und Weltanschauung?, NZA 2014, S. 1053 ff. 407 In das Konzept der UN-BRK eingebettet bei Eichenhofer, Angemessene Vorkehrungen als Diskriminierungsdimension im Recht, Menschenrechtliche Forderungen an das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, 2018, S. 11 ff.; Rabe-Rosendahl, Angemessene Vorkehrungen für behinderte Menschen im Arbeitsrecht, Artikel 5 der Richtlinie 2000/78/EG und seine Umsetzung in Deutschland und Großbritannien, 2017, S. 68 ff.; Bielefeldt, Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, S. 14; dazu auch → Zinsmeister, § 9 Rn. 99 ff. 408 Wasserman, Is Disability Discrimination Different?, in: Hellman/Moreau (Hrsg.), Philosophical Foundations of Discrimination Law, 2013, S. 261 (270) m. w. N. 409 So Stein (Fn. 406), S. 1053 ff., dem es schwerfällt, überhaupt relevante Unterschiede zu erkennen. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
angemessene Vorkehrungen ermöglichen einer Person, trotz ihrer in irgendeiner Hinsicht vom Üblichen abweichenden Situation wie eine nicht abweichende Person zu agieren. In der zweiten Perspektive ermöglichen angemessene Vorkehrungen Menschen Teilhabe und Mitwirkung, indem spezifische Hindernisse beseitigt werden. Entsprechend den beiden, hier plakativ kontrastierten Perspektiven lässt sich auch die rechtliche Natur des Anspruchs auf angemessene Vorkehrungen unterschiedlich deuten: In der ersten defizitorientierten Perspektive handelt es sich um eine rechtliche Sonderbehandlung, eine Vorzugsbehandlung (preferential treatment) gegenüber „normalen“ Personen, für welche die Umstände bereits passend sind. In der zweiten lösungsorientierten Perspektive ermöglichen angemessene Vorkehrungen erst eine gleiche Teilhabe von Menschen mit Abweichungen vom Üblichen, indem sie passgenaue Lösungen zur Verfügung stellen. II. Proaktives Gleichstellungsrecht 122
Das proaktive Gleichstellungsrecht ist im Vergleich zu den reaktiven Diskriminierungsverboten weniger stark dogmatisch ausgeformt.410 1. Grundlagen
123
Als proaktives Gleichstellungsrecht können all jene Maßnahmen bezeichnet werden, die im englischsprachigen Schrifttum als affirmative action411 behandelt werden. Im europäischen Rechtsraum werden diese als positive Maßnahmen (positive action) diskutiert,412 im Völkerrecht wird zum Teil von special measures gesprochen.413 Es handelt sich um ein höchst disparates Feld, das eine Vielfalt von unterschiedlichsten Maßnahmen umfasst, so dass die gemeinsame Behandlung nur unter einem generischen Sammelbegriff wie „Gleichstellungsrecht“ möglich ist.414 Mit Ute Sacksofsky lassen sie sich definieren als „… alle Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, über das bloße Unterlassen von Diskriminierung hinaus, in der Vergangenheit schwerwiegend benachteiligte Gruppen besonders zu fördern.“415
124
Gleichstellungsrecht ist also einerseits gekennzeichnet durch den Bezug auf benachteiligte Personengruppen und andererseits in seiner Wirkungsrichtung proaktiv, zielt mithin auf eine tatsächliche Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse ab. Während Schutz vor Diskriminierung einen transparenten und fairen Prozess etwa bei Einstellungsentscheidungen oder bei Vertragsschlüssen gewährleistet, machen positive Maßnahmen ergebnis410 Ausführlich dazu → Schuler-Harms, § 16. 411 Der Begriff affirmative action entstammt der Executive Order No. 10925, sec. 301 (1), von President
Kennedy aus dem Jahr 1961. 412 Überblick bei McCrudden, A Comparative Taxonomy of ‚Positive Action‘ and ‚Affirmative Action‘ Policies, in: Schulze (Hrsg.), Non-Discrimination in European Private Law, 2011, S. 157 ff.; Khaitan (Fn. 42), S. 80; McColgan, Discrimination Law, 2005, S. 130; für Deutschland Raasch, Positive Maßnahmen, Eine Einführung, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Positive Maßnahmen, 2010, S. 12 ff. 413 Siehe Art. 1 Abs. 4, Art. 2 Abs. 2 ICERD, dazu bereits oben Rn. 29 ff. (C. I. 1.). 414 Ähnlich für „affirmative action“ als „umbrella concept“ McCrudden (Fn. 412), S. 160. 415 Sacksofsky (Fn. 26), S. 234. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
F. Dogmatische Figuren des Antidiskriminierungsrechts
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orientiert Vorgaben, sollen also die konkreten Verhältnisse rasch verändern, ohne dass die Ergebnisse der zu etablierenden fairen und diskriminierungsfreien Prozesse abgewartet werden (müssen).416 Das zentrale Problem solcher ergebnisorientierter Maßnahmen ist, dass sie leicht in Verdacht geraten können, ob zu Recht oder zu Unrecht, umgekehrt Mitglieder nicht strukturell benachteiligter Personengruppen zu benachteiligen (umgekehrte Diskriminierung, reverse discrimination). Hinter den konkreten Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, steht das grundlegende Spannungsverhältnis417 zwischen formaler und materialer Gleichheit418 und zwischen einem symmetrischen oder asymmetrischen Verständnis von Diskriminierungsverboten.419 Zum einen fragt sich, ob derartige umgekehrte Diskriminierungen gerechtfertigt werden können, und zum anderen, ob der Staat womöglich sogar verpflichtet ist, gleichstellungsrechtliche Maßnahmen zu ergreifen. In Deutschland sind seit den 1980er Jahren zahlreiche Gleichstellungsgesetze für Frauen und Behinderte erlassen worden.420 In den USA wird affirmative action vor allem mit Blick auf die Kategorie der Rasse eingesetzt.421 2. Typologie
Christopher McCrudden unterscheidet in einem systematisierenden Beitrag zu affirmative 125 action in rechtsvergleichender Perspektive acht verschiedene Typen von positiven Maßnahmen:422 1. Maßnahmen, um unmittelbare Diskriminierung zu verhindern oder zu beheben. 2. Proaktive Maßnahmen, um mittelbare, systemische und institutionelle Diskriminierung abzuschaffen. 3. Angemessene Vorkehrungen (reasonable accommodation), um Individuen aus einer bestimmten Gruppe Zugang zu verschaffen zu einer bestimmten Beschäftigung oder zu einer spezifischen Dienstleistung, etwa indem physische Aspekte des Arbeitsplatzes geändert werden, um die Voraussetzungen für eine körperlich behinderte Person zu schaffen. 4. Mittelbar inkludierende Maßnahmen wie staatliche Unterstützung für bestimmte innerstädtische Gruppen, so dass bestimmte rassische oder ethnische Gruppen überproportional profitieren, weil sie überproportional bedürftig sind. 5. Werbung und Training gezielt für unterrepräsentierte Gruppen. 6. Türöffnende Maßnahmen (tie-break policies): Bevorzugung von Individuen aus unterrepräsentierten Gruppen, wenn diese Individuen gleich gut qualifiziert sind. 7. Vorzugsbehandlung (preferential treatment) für Mitglieder einer Zielgruppe. 8. Neudefinition davon, was als „Leistung“ gilt und wie diese zu bewerten ist.
416 417 418 419 420 421 422
Fiss (Fn. 317), S. 765. Zu den verschiedenen Gleichheitsverständnissen bereits oben Rn. 9 ff. (A. II. 2.). Fredman (Fn. 371), S. 232 ff. Baer/Markard (Fn. 10), Art. 3 Abs. 3 Rn. 372. Dazu oben Rn. 18 (B. I.), Nachweise in Fn. 58. Kennedy, For discrimination: Race, affirmative action, and the law, 2013. Zusammenstellung nach McCrudden (Fn. 412), S. 161. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
Ersichtlich führt McCrudden in Nr. 1 bis Nr. 3 Maßnahmen auf, die bei den reaktiven Diskriminierungsverboten verortet werden können.423 Die potentiell proaktive Wirkung der mittelbaren Diskriminierung (je nach Bezugsrahmen der statischen Vergleichsgruppe) und der angemessenen Vorkehrungen können je nach Verständnis der Schutzzwecke entweder als Teilelement den speziellen Figuren des reaktiven Diskriminierungsschutzes zugeordnet oder als proaktive Gleichstellungsmaßnahmen verstanden werden. 3. Quotenregelungen als zentrales Problem des proaktiven Gleichstellungsrechts
Unter den vielfältigen Fördermaßnahmen haben vor allem Quotenregelungen wissenschaftliche Erörterung erfahren und Bedeutung in der Praxis wie im gesellschaftlichen Diskurs erlangt.424 Auf diese sehr spezielle Form von Fördermaßnahmen, die zweifellos sehr problematisch sein können, fokussiert sich die rechtswissenschaftliche Debatte. Hilfreich ist es, in der Diskussion mindestens die zwei Varianten Nr. 6 und Nr. 7 in McCruddens Typologie zu unterscheiden: Vorzugsregeln bei gleicher Eignung (Türöffner-Regeln) einerseits und starre Quoten (Erfolgsquoten) andererseits.425 128 In Deutschland war die Debatte um Frauenquoten in den 1980er Jahren ein zentraler Bezugspunkt gesellschaftspolitischer, aber auch verfassungsrechtlicher Debatten.426 Dabei ging es zunächst vor allem um Quotenregelungen für den öffentlichen Dienst. Diese Diskussionen haben sich nach dem Nachtarbeitsurteil des Bundesverfassungsgerichts427 und seit der Einführung von Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG zumindest vorübergehend beruhigt. Quoten erschienen bald nach Ende des grundsätzlichen Streits als ein nicht sonderlich zielführendes Förderinstrument, weil sie zum einen besonders starken Widerstand hervorriefen, zum anderen relativ geringe praktische Erfolge bewirkten.428 129 Dazu hat sicherlich auch beigetragen, dass sich der EuGH in einer Reihe von Urteilen zu Quotenregelungen im deutschen öffentlichen Dienst als einigermaßen wankelmütig erwiesen hat.429 Im Urteil Kalanke war zunächst offen geblieben, ob Ergebnisgleichheit 127
423 Auch McCrudden selbst betrachtet sie als typische Konsequenzen von Diskriminierungsverboten,
siehe McCrudden (Fn. 412), S. 161.
424 Dazu bereits oben Rn. 18 (B. I.) und Rn. 56 (C. III. 1.); → Schuler-Harms, § 16 Rn. 3 ff., 57 ff. 425 Heide Pfarr hat bereits 1988 Quoten nach verschiedenen Gesichtspunkten systematisiert, dies.,
Quoten und Grundgesetz, 1988, S. 202 ff.: Sie unterscheidet Quoten ohne und mit Qualifikationsbezug, nach dem Grad der rechtlichen Bindung an die Quotenvorgabe, nach dem Weg oder Verfahren, auf dem die Quote zu erreichen ist, und nach der Festsetzungsmethode. 426 Grundlegend Sacksofsky (Fn. 26), differenzierte Bewertung S. 374 ff. Nach wie vor überzeugend, S. 380: „Die Verfassung setzt der Zulässigkeit von Quotenregelungen nur äußerste Grenzen. Unter Berufung auf das Grundgesetz läßt sich die Frage, ob man Quotenregelungen politisch will, nicht beantworten.“ Aus dem älteren Schrifttum etwa Hohmann-Dennhardt (Fn. 233); Raasch (Fn. 54); Huster (Fn. 59); Döring, Frauenquoten und Verfassungsrecht, 1996. Neuere Arbeiten: Schubert, Affirmative Action und Reverse Discrimination, 2003; Scheinert, Quotennormen im Arbeitsrecht unter besonderer Berücksichtigung von Geschlechter- und Schwerbehindertenquoten, 2009; Schmidt, Quotenorientierte Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen nach § 5 AGG, 2012; Liebert, Quotenregelungen im öffentlichen Dienst, 2016. 427 BVerfGE 85, 191 – Nachtarbeitsverbot (1992). 428 Deswegen an der Nützlichkeit und politischen Opportunität zweifelnd Sacksofsky, Positive Maßnahmen und Verfassungsrecht, ZESAR 2004, S. 208 (213). 429 Zum Ganzen Schiek, in: Schiek (Hrsg.), AGG, 2007, § 5 Rn. 6. Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
G. Anlage und Struktur des Handbuches Antidiskriminierungsrecht
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ein europarechtlich grundsätzlich unzulässiges Ziel ist.430 Das Urteil Marschall stellte dann klar, dass neben Chancengleichheit auch Ergebnisgleichheit ein an sich zulässiges Ziel ist, hielt aber Bevorzugungsregeln für nur eingeschränkt zulässig.431 Im Urteil Badeck hielt der Gerichtshof eine Quotenregelung aufrecht, die den gleichen Prozentsatz für Doktorandinnen vorsah wie den von Absolventinnen.432 Für Professorinnen allerdings sei eine Besetzung ohne direkten Qualifikationsvergleich unzulässig, so der EuGH in dem schwedischen Fall Abrahamson.433 Unterdessen haben Quotenvorgaben zu allseitigem Erstaunen mit der Quote für Aufsichtsratspositionen ein unerwartetes Comeback erlebt,434 und die Einführung von Paritätsgesetzen für Landtagswahlen hat neue Kontroversen befeuert.435 Dasselbe gilt für Diskussionen um Quoten und andere Fördermaßnahmen zugunsten von Menschen mit Migrationsgeschichte.436
G. Anlage und Struktur des Handbuches Antidiskriminierungsrecht Vor dem Hintergrund dieser Bestandsaufnahme strebt das Handbuch eine Untersuchung 130 und Darstellung der wesentlichen antidiskriminierungsrechtlichen Entwicklungen, rechtlichen Regelungen und Diskussionen an. Dabei sollen die Grenzen zwischen den Rechtsebenen und Rechtsgebieten überwunden und grundlegende Strukturen des Antidiskriminierungsrechts herausgearbeitet werden. Völker-, europa-, verfassungs- und einfachrechtliche Regelungsvorgaben werden in ihrem Zusammenwirken analysiert, dogmatische Figuren werden in ihren öffentlich-rechtlichen, privatrechtlichen und strafrechtlichen Dimensionen entfaltet. Zudem werden Diskriminierungen aus der Lebenswirklichkeit der von Diskriminierung betroffenen Personen und Personengruppen heraus verstanden und nicht in den kontingenten Grenzen der traditionellen Rechtsgebiete. Die weitere Gliederung dieses Buches folgt dem in diesem Kapitel vorgestellten Ver- 131 ständnis des Antidiskriminierungsrechts. Nach der Behandlung grundlegender Fragen des Rechtsgebiets im ersten Teil werden im zweiten Teil die einzelnen Kategorien in den Blick genommen sowie das Kategorienproblem als solches und die Konstellation der mehrfachen beziehungsweise intersektionalen Diskriminierung. Der dritte Teil beEuGH, Urt. v. 17.10.95, Rs. C-450/93, Kalanke, Rn. 13 ff. EuGH, Urt. v. 11.11.1997, Rs. C-409/95, Marschall, Rn. 33. EuGH, Urt. v. 28.3.2000, Rs. C-158/97, Badeck, Rn. 39 ff. EuGH, Urt. v. 6.7.2000, Rs. C-407/98, Abrahamson und Anderson, Rn. 56. Zum 1. Januar 2016 trat unter anderem eine 30 %-Geschlechterquote für die Aufsichtsräte mitbestimmungspflichtiger und börsennotierter Unternehmen in Kraft, siehe das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (FührposGleichberG) v. 24.4.2015, BGBl. 2015 I, S. 642; erweitert auf Vorstände solcher Unternehmen durch das Zweite Führungspositionen-Gesetz (FüPoG II) v. 7.8.2021, BGBl. 2021 I, S. 3311. 435 Siehe dazu nur Möllers, Krise der demokratischen Repräsentation vor Gericht: zu den Parité-Urteilen der Landesverfassungsgerichte in Thüringen und Brandenburg, JZ 2021, S. 338 (346 f.); Röhner, Ungleichheit und Verfassung, 2019, S. 257 ff. 436 Dazu Groß (Fn. 243), S. 880 ff. 430 431 432 433 434
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§ 1 Antidiskriminierungsrecht – Konturen eines Rechtsgebiets
handelt einzelne dogmatische Figuren des Antidiskriminierungsrechts. Der vierte Teil ist den Besonderheiten und Problemen der Durchsetzung des Antidiskriminierungsrechts gewidmet. Der fünfte Teil schließlich wendet sich einzelnen Kontexten des Antidiskriminierungsrechts zu und untersucht verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, in denen es zu Diskriminierungen kommen kann und die daher antidiskriminierungsrechtlich adressiert werden.
Anna Katharina Mangold/Mehrdad Payandeh
§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie Mathias Hong* Inhaltsübersicht Rn. A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Ebenen der Verwirklichung der Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts – und die These ihrer partiellen Kongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die gleiche Würde aller als egalitärer Kerngehalt des Antidiskriminierungsrechts . . . . . . . . III. Die eigentümlichen Debatten über das Verhältnis der Grundwerte im (privatrechtlichen) Antidiskriminierungsrecht – und Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie als Rhombus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Würde: Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte als egalitärer Mindeststandard des Antidiskriminierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Objektformel und Subjektformel – und der Menschenwürdegehalt der Grundrechte als deren Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Mindeststandard gleicher Freiheit als antidiskriminierungsrechtliche Ausprägung des Menschenwürdegehaltes aller Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mindeststandard gleicher Freiheit: Schutz vor schwerwiegend diskriminierenden Freiheitsbeschränkungen als Menschenwürdekern (auch) der Freiheitsrechte . . . . . . . . . 2. Das antisemitische NS-Sonderrecht (etwa die Pflicht zum Tragen des „Judensterns“) als paradigmatische Verletzung des Menschenwürdekerns gleicher Freiheit . . . . . . . . . . . 3. Das Sklavereiverbot als Mindestkonsens über einen Menschenwürdekern gleicher Freiheit – und als Dominierungs- (Sacksofsky) oder Hierarchisierungsverbot (Baer) mit Drittwirkung in das Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Dynamische Entwicklungsfähigkeit der Gleichheitsversprechen der Menschenwürde und des Mindeststandards gleicher Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Dynamik von Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie im Sinne eines „Living Originalism“ – und die Unterscheidung von allgemeineren und konkreteren historischen Anwendungsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die dynamische Entwicklung der Gleichheitsidee seit 1776 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das grundrechtliche Gebot gleicher Anerkennung der „Ehe für alle“ als Beispiel für die dynamische Entwicklungsfähigkeit des Menschenwürdekerns gleicher Freiheit . . . . IV. „Menschenwürde ist egalitär“: Gleichheitsbezogene Konkretisierungen der Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
1. Menschenwürde als „Anspruch auf elementare Rechtsgleichheit“ und die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG als „Konkretisierungen der Menschenwürde“ nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . 2. Das Grundrecht auf Demokratie als Konkretisierung der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . a) Verankerung in der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Egalitäre Staatsangehörigkeit: Der „ethnische“ Volksbegriff der NPD, die Unvereinbarkeit rassistischer Ausgrenzung mit Art. 3 Abs. 3 GG und der menschenrechtliche Kern des Rechts auf Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das menschenwürdige Existenzminimum als materiale Gleichheitsgewährleistung – und sein menschenrechtliches Sprengpotential angesichts der globalen Ungleichheit . . . 4. Menschenwürde, intertemporale Freiheit und globale soziale Ungleichheit . . . . . . . . . . . . a) Klimaschutzbeschluss und Menschenwürde: Ökologisches Existenzminimum, extraterritoriale Schutzpflichten und das Abwehrrecht auf intertemporale Freiheit als Grundlage internationaler Kooperationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Menschenrecht auf wirtschaftsvölkerrechtliche Rechtsreformen als Abwehrrecht V. Der Menschenwürdeschutz gegen Hassrede durch Antidiskriminierungsrecht und die Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gedankenfreiheit als Fundament der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hassrede (Hate Speech) und Grenzen der Meinungsfreiheit – Schutz vor „Silencing“ (aus der Schutzpflicht für die Meinungsfreiheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unterscheidung zwischen einfachgesetzlichem und verfassungsrechtlichem Menschenwürdeschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Inhaltliche Menschenwürdewidrigkeit etwa antisemitischer oder rassistischer Aussagen nach dem NPD-Urteil – Unterscheidung zwischen Parteienfreiheit und Meinungsfreiheit für individuelle Meinungsäußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Freiheit, Gleichheit und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Freiheit und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Freiheit als gleiche Freiheit, als negative und positive Freiheit und als private und öffentliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gleichheit als materiale Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gleichheit in Vielfalt, Gleichheitsrechte als Freiheitsrechte zweiter Ordnung und ihr asymmetrischer Schutz gerade auch vor struktureller Diskriminierung . . . . . . . . . . d) Abwehrrechtliches Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung – Rechtfertigungsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gleichheitsgrundrechtliche Förderaufträge, Schutzaufträge und Schutzpflichten – Schutz vor struktureller Diskriminierung und Ermächtigung zu proaktiver Gleichstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Privatautonomie und mittelbare Drittwirkung der Gleichheitsgrundrechte als objektive Wertentscheidungen im Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Streit nicht über das „Ob“, sondern über das „Wie weit“ der Drittwirkung – Ableitung aus dem materialen Verständnis der Gleichheit und aus dem Schutzpflichtengedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prinzip personaler Gleichheit (Grünberger) – Ergebnisäquivalenz zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Stadionverbote) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Demokratie: Das Recht auf Demokratie und politische Gleichheit als zentrale Ausprägung von Würde, Freiheit und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mathias Hong
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A. Einleitung
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1. Grundrecht auf Demokratie und demokratische Grenzen der Mehrheitsherrschaft . . . . . a) Die antimajoritären Konsequenzen demokratischer Gleichheit – und der egalitäre Menschenwürdekern des Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gleichursprünglichkeit von Demokratie und Menschenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung demokratischer Deliberation auf Augenhöhe (Mangold) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Recht auf politische Gleichheit als Konkretisierung der demokratischen „Freiheiten der Alten“ (Allen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Einleitung Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie sind die zentralen Werte der neuzeitlichen 1 Grundrechtedemokratien. Sie liegen gemeinsam dem Antidiskriminierungsrecht zugrunde und sollten nicht gegeneinander ausgespielt oder in künstliche Gegensätze zueinander gebracht werden. Der Beitrag legt eine harmonisierende Deutung dieser Grundwerte des Antidiskrimi- 2 nierungsrechts zugrunde, die ihren starken inneren Zusammenhang betont: Das Antidiskriminierungsrecht findet seine tiefere Rechtfertigung in der gleichen Würde aller Menschen – ohne sich jedoch auf den Schutz der Menschenwürde zu beschränken. Es verwirklicht die Grundrechte der Freiheit und Gleichheit aller, die in dieser gleichen Würde wurzeln und nicht nur negative, sondern auch positive und materiale, das heißt tatsächlich ausübbare Freiheit in Gleichheit gewährleisten. Und das Antidiskriminierungsrecht dient zugleich dem Grundwert der Demokratie, der nicht in einem Gegensatz zu den anderen Werten steht: Das demokratische Recht auf gleiche politische Teilhabe ist ein zentraler Aspekt des Versprechens der Würde, Freiheit und Gleichheit aller. I. Die Ebenen der Verwirklichung der Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts – und die These ihrer partiellen Kongruenz
Antidiskriminierungsrecht ist das gegen hoheitliche und private Diskriminierungen ge- 3 richtete Recht.1 In seinem grundrechtlichen Kern ist es zwar so alt wie das neuzeitliche menschenrechtliche Gleichheitsversprechen selbst. Auch als modernes Rechtsgebiet, das spezifische gesetzliche Regelungen des Privatrechts umgreift, lässt es sich schon auf das 19. Jahrhundert zurückführen, genauer auf den Civil Rights Act von 1875.2 Noch vergleichsweise jung ist es jedoch in seiner heutigen Gestalt im unionsrechtlichen Rechts* Anna Katharina Mangold und Mehrdad Payandeh danke ich sehr für die intensive Auseinandersetzung mit einer ersten Fassung des Textes und für wertvolle Anregungen. Katharina Wommelsdorf danke ich für die gründliche redaktionelle Lektüre und für hilfreiche weitere inhaltliche Vorschläge. 1 → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 8, 14. 2 Vgl. Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 165 f. (zur „Geburt des modernen Nichtdiskriminierungsrechts“ als „Antwort auf das zweite Gleichheitsproblem“, das heißt auf die Frage, ob formale Rechtsgleichheit genügt oder Gleichbehandlungspflichten Privater erforderlich sind), 220 f. Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
raum: Als ein maßgeblich auch durch das Europarecht mitgeprägtes Rechtsgebiet ist es erst einige Jahrzehnte alt.3 Seine rechtswissenschaftliche Erschließung steht insoweit noch am Anfang. Auch ist es einem Gegenstand nach in besonderem Maße offen für Grundsatzstreit und unterschiedlichste wissenschaftliche Schwerpunktsetzungen. Denn es übergreift in besonderem Maße sowohl die Rechtsebenen als auch die intradisziplinäre Grenze zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht, die nach wie vor so wirkmächtig ist. Eine Vergewisserung über die Grundwerte dieses Rechtsgebiets ist deshalb besonders dringlich, kann aber zugleich kaum auf Konsens rechnen, sondern wird unweigerlich eine standpunktabhängige Positionsbestimmung bleiben. 4 Aussagen über Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts können sich dabei auf verschiedene normative Ebenen beziehen: Sie können sich zum einen auf überpositive normative Maßstäbe der politischen Philosophie (Gerechtigkeitstheorie) oder auf positivierte Inhalte dieser Grundwerte richten. Zum anderen können sie sich auf unterschiedliche Schichten im Mehrebenensystem der Rechtsordnungen beziehen: Völkerrecht, Unionsrecht und nationales Recht,4 wobei das geltende Recht auf allen diesen Rechtsebenen jeweils positivistisch oder nichtpositivistisch gedeutet5 und auch das Verhältnis der Rechtsebenen zueinander höchst verschieden bestimmt werden kann.6 5 Wenn in einem Kollisionsfall zu dem Vorrangverhältnis zwischen den verschiedenen positivrechtlichen Rechtsordnungen aus einer übergreifenden Sicht Stellung bezogen werden soll (wie es für das Antidiskriminierungsrecht etwa mit Blick auf Kündigungen durch kirchliche Arbeitgeber relevant werden könnte),7 dann wird ein Rückgriff auf nichtpositivierte Maßstäbe jedenfalls dann unausweichlich, wenn eine solche Vorrangaussage nicht nur aus der jeweiligen Sicht des Völkerrechts, des Unionsrechts oder des Verfassungsrechts getroffen werden soll, sondern aus einer diese übergreifenden Perspektive. Weil und solange es keine überordnete Ebene (keine „Superverfassung“) gibt, die dieses Hierarchieverhältnis positivrechtlich regeln könnte, muss dafür auf selbst nicht positivierte Maßstäbe der politischen Philosophie zurückgegriffen werden.8 Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie werden hier, wie auch der Begriff des Rechts selbst, auf allen diesen Ebenen als „interpretative“9 Begriffe verstanden, also als wertungsbezogene und „essentiell streit3 → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 13, 23–25. 4 Zu den verschiedenen Rechtsebenen des Antidiskriminierungsrechts → Mangold/Payandeh, § 1
Rn. 26 ff., 39 ff., 47 ff.
5 Zur Positivismusdebatte vgl. Funke, Rechtstheorie, in: Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, 4. Aufl.
2021, § 2 Rn. 16, 27–30; Green/Adams, Legal Positivism, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2019), https://plato.stanford.edu/archives/win2019/entries/legal-positivism. 6 Vgl. Matz-Lück/Hong (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen, 2012; Kelemen/Pech, The Uses and Abuses of Constitutional Pluralism, Cambridge Yearbook of European Legal Studies, Volume 21, December 2019, S. 59 ff. 7 Dazu → Walter/Tremml, § 8 Rn. 48 ff. 8 Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, 2019, S. 132–135 (für einen wertebezogenen Verfassungspluralismus als Grundlage der Stellungnahme), S. 162–172. 9 Zum Verständnis des Rechts als einer wertebezogenen interpretativen Praxis und der rechtlichen Begriffe als interpretativer Begriffe („interpretive concepts“) siehe nur Dworkin, Gerechtigkeit für Igel, 2012, S. 212 ff., 268 ff., 676 ff.; Hong, Rechtswissenschaft für Igel bei Smend und Dworkin, in: Schröder/v. UnMathias Hong
A. Einleitung
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befangene“10 Begriffe, über deren Deutung unter Rückgriff auf normative Wertungen abwägend zu argumentieren ist – mit fortdauerndem Dissens rechnend, aber gleichwohl auf bessere Antworten hoffend. Die Abwägung von Grund und Gegengrund über die bessere Deutung solcher Begriffe kann auch als eine Auflösung von Normkollisionen rekonstruiert werden – wobei das Ergebnis einer solchen Abwägung der Gründe stets auch einzelfallübergreifende, „abwägungsfeste“ Maßstäbe sein können.11 Was den Begriff des Rechts und den Grundsatzstreit über den Positivismus betrifft, 6 sprechen zwar die gewichtigeren Gründe der politischen Philosophie – vor allem solche der Gewaltenteilung und der Demokratie – für einen Rechtsanwendungspositivismus, der grundsätzlich eine abwägungsfeste „Feuerwand“ zwischen positivem Recht und Gerechtigkeiterwägungen einzieht, sowie für eine subjektiv-historische Auslegung, die den im Wortlaut zum Ausdruck gelangten Willen der jeweiligen normsetzenden Gewalt als maßgeblich ansieht.12 Das schließt jedoch mögliche Kongruenzen zwischen den verschiedenen Ebenen des 7 Antidiskriminierungsrechts nicht aus – weder zwischen positivem Recht und politischer Philosophie, noch zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen. Für das vorgeschlagene Modell der Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts wird hier die These einer zumindest partiellen Kongruenz der Ebenen vertreten. II. Die gleiche Würde aller als egalitärer Kerngehalt des Antidiskriminierungsrechts
Das hier vorgeschlagene Modell der Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts geht 8 nicht zuletzt auf Untersuchungen zum Grundgesetz und zur Entwicklung des Gleichheitssatzes im Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika zurück.13 Es knüpft insoweit zunächst an das Verfassungsrecht an, insbesondere auch an die reichhaltige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum egalitären Charakter der grundgesetzlichen Menschenwürdegarantie sowie zu den Gleichheits- und Freiheitsgrundrechten. Von den grundlegenden antidiskriminierungsrechtlichen Habilitationsschriften von 9 Anna Katharina Mangold14 und Michael Grünberger15 informiert, zieht das im Folgenden gern-Sternberg (Hrsg.), Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, 2012, S. 59 (71 ff.) m. w. N.; Stavropoulos, Legal Interpretivism, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2021), https://plato.stanford.edu/archives/spr2021/entries/law-interpretivist. 10 Vgl. Gallie, Essentially Contested Concepts, Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1956), S. 167 ff.; Hong (Fn. 8), S. 162–164. 11 Vgl. zur norm- und begründungstheoretischen Rekonstruktion einer solchen Abwägung (sowie zu der insoweit gebotenen Weiterentwicklung der Alexyschen Prinzipientheorie) im Rahmen eines Modells der Grundsatznormen Hong, Abwägungsfeste Rechte, 2019, besonders Kap. 6 und 7. Zu bereits vom Gesetzgeber (mit abschließendem Anspruch) getroffenen Abwägungen im Antidiskriminierungsrecht vgl. auch Grünberger (Fn. 2), S. 731 und 746. 12 Vgl. dazu Hong (Fn. 8), S. 46 ff. 13 Hong (Fn. 8), insbesondere S. 307–384 (zum Mindeststandard gleicher Freiheit als Quelle grundrechtlicher Menschenwürdegehalte). 14 Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021. 15 Grünberger (Fn. 2). Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
entwickelte Grundwertemodell allerdings Folgerungen auch für den Diskriminierungsschutz im Privatrecht und versucht so, der intradisziplinären Herausforderung durch die abschottende „Versäulung“ der Diskurse des Öffentlichen Rechts und des Zivilrechts16 gerecht zu werden. Und es versteht sich nicht zuletzt auch als ein Vorschlag für eine entsprechende Deutung der Grundwerte auch auf den Ebenen der Europäischen Menschenrechtskonvention, des unionsrechtlichen Antidiskriminierungsrechts sowie der Gerechtigkeitstheorie, auf die sich nicht zuletzt auch wesentliche Teile der englischsprachigen Diskussion beziehen.17 10 Auf allen diesen Ebenen des Antidiskriminierungsrechts werden Grundverständnisse von Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie verhandelt. Und auf allen diesen Ebenen lässt sich, so eine der zentralen Thesen, die gleiche Menschenwürde aller als ein absolut geschützter egalitärer Kerngehalt des Antidiskriminierungsrechts verstehen, in dem dieses Rechtsgebiet wurzelt und der einen Menschenwürdekern der Rechte auf Freiheit, Gleichheit und Demokratie einschließt – ohne dass sich diese drei Grundwerte und die Reichweite des Antidiskriminierungsrechts jedoch auf solche grundrechtlichen Menschenwürdegehalte beschränken. 11 Soweit Argumente für die Deutung der Grundwerte und ihres Verhältnisses zueinander sich im Folgenden auf das Grundgesetz beziehen und etwa aus dessen Entstehungsgeschichte oder aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewonnen werden, können sie auch auf den anderen Ebenen des Antidiskriminierungsrecht Relevanz beanspruchen. Für die Grundwerte des Unionsrechts (Art. 2 EUV ) gilt das, weil das Grundgesetz mit seinem Verständnis von Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie an die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten anknüpft und sie fortentwickelt, und diese Verfassungsüberlieferungen selbst ein Teil des Unionsrechts sind (Art. 6 Abs. 3 EUV ), im Einklang mit dem gerade auch die Rechte der Grundrechtecharta auszulegen sind (Art. 52 Abs. 4 GRCh). Für die Grundrechtecharta und die Europäische Menschenrechtskonvention gilt es aber daneben auch, weil beide mit dem Grundrechten des Grundgesetzes in einem weitreichenden Einklang stehen,18 und zwar gerade auch im Antidiskriminierungsrecht.19 Und es gilt auch für andere Rechtsordnungen und für die politische Philosophie, weil die grundgesetzlichen Wertungen auch für deren normative 16 Vgl. dazu → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 63. 17 Für einen Überblick vgl. Mangold (Fn. 14), S. 347 ff., mit Darstellungen verschiedener Ansätze, unter
anderem: Khaitan, A Theory of Discrimination Law, 2015. Siehe ferner etwa Tribe, Equal Dignity, Harvard Law Review Forum 129 (2015), S. 16 ff.; Baer, Dignity, Liberty, Equality, University of Toronto Law Journal 59 (2009), S. 417 ff. 18 Vgl. etwa BVerfGE 152, 152 (175 ff., 177 ff.; Rn. 55 ff., 60 ff.) – Recht auf Vergessen I (2019) (Vermutung der Mitgewährleistung des unionsrechtlichen Schutzniveaus durch das Grundgesetz; Auslegung der deutschen Grundrechte im Lichte der Charta); BVerfGE 156, 182 (197 und 210 f.; Rn. 36 und 63) – Europäischer Haftbefehl (2020) (Auslegung der Chartarechte im Einklang mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen; völker- und europarechtsfreundliche Auslegung der Mindestanforderungen an Haftbedingungen aus Art. 1 Abs. 1 GG im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR). 19 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021, 1 BvR 1541/20, Rn. 3, 62, 90, 100–107 und 130 – Triage (zum Einklang zwischen Art. 3 Abs. 3 GG und den bei dessen Auslegung wegen Art. 1 Abs. 2 GG zu beachtenden völkerrechtlichen Maßstäben zum Schutz vor Diskriminierung wegen der Behinderung). Mathias Hong
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„Überlegungsgleichgewichte“20 als Argument von Interesse sein können – und sei es auch nur als ein Vorschlag für eine Gewichtung, die die interne Kohärenz innerhalb einer anderen Rechtsordnung oder der jeweiligen Gerechtigkeitstheorie steigern kann. III. Die eigentümlichen Debatten über das Verhältnis der Grundwerte im (privatrechtlichen) Antidiskriminierungsrecht – und Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie als Rhombus
Im Antidiskriminierungsrecht haben die Grundwerte Würde, Freiheit und Gleichheit teils besondere Deutungen erhalten, die eigentümlich wirken, wenn man sie aus einer Sicht betrachtet, die vom verfassungsrechtlichen Diskurs unter dem Grundgesetz geprägt ist. Vor allem in der Debatte über die Reichweite des Antidiskriminierungsrechts im deutschen Zivilrecht, die teils überaus hitzig geführt wurde, neigen die Deutungen dieser Grundwerte teils dazu, auseinanderzureißen, was von Verfassungs wegen eng zusammengehört: In einem der „Lager“ in dieser Diskussion (gewissermaßen im „Team Würde und Freiheit“) wird Freiheit teils einseitig und verkürzt als selbstherrliche Privatautonomie und prinzipiell schrankenlose Vertragsfreiheit gedeutet. Das Antidiskriminierungsrecht wird dort, etwa mit Blick auf deliktische Ansprüche auf Schmerzensgeld, tendenziell allein dort als gerechtfertigt angesehen, wo es gilt, Verletzungen einer (wiederum äußerst eng gedeuteten) Menschenwürde durch Private zu verhindern. Auf der Gegenseite (im „Team Gleichheit“) wird, in Reaktion auf dieses verengte Verständnis von Würde und Freiheit, die Gleichheit der Würde und der Freiheit teils antipodisch entgegengesetzt. In der englischsprachigen Diskussion21 finden sich teils vergleichbar einseitige Parteinahmen für einen dieser Grundwerte. Mit dem hier vorgeschlagenen Modell soll dem ein Verständnis entgegengesetzt werden, das diese zentralen Grundwerte der Aufklärung als aufs Engste aufeinander verwiesen und miteinander verbunden versteht. In einer Frontstellung, die Würde und Freiheit gegen Gleichheit positioniert, kommen die Gemeinsamkeiten und Querbezüge zwischen diesen Grundwerten zu kurz: Würde ist stets die gleiche Würde aller. Auch Freiheit muss stets gleiche Freiheit sein. Wo in der Abwägung der Gründe die richtige rechtliche Balance zwischen den Grundwerten der Gleichheit und Freiheit liegt, ist deshalb keine Frage des Alles-oder-Nichts, sondern eine des Mehr-oder-Weniger. Für die Verbildlichung des engen Zusammenhangs zwischen diesen Grundwerten gibt es verschiedene Vorschläge. Laurence Tribe etwa hat von einer Doppelhelix gesprochen, in der sich Freiheit und Gleichheit zu einem Recht auf gleiche Würde (right to equal dignity) verbinden,22 Susanne Baer von einem Dreieck, das Menschenwürde, Freiheit und 20 Vgl. zum Überlegungsgleichgewicht als Kriterium normativer Begründungen grundlegend Rawls, Out-
line of a Decision Procedure for Ethics, Philosophical Review 60 (1951), S. 177; ders., Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 34–39. Siehe auch Nida-Rümelin, Eine Theorie praktischer Vernunft, 2020, S. 15 f. und 37 f. (zu Rawls), 65–93 (zu einem kohärentistischen Realismus in der Ethik als Gegenmodell zum Naturalismus); Hong (Fn. 8), S. 176–178. 21 Siehe dazu oben Fn. 17. 22 Tribe (Fn. 17), S. 17. Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
Gleichheit bilden.23 Das hier vorgeschlagene Modell lässt sich, in Anknüpfung daran, als Rhombus (oder Raute) verbildlichen (vgl. Abbildung): Würde
Freiheit
Gleichheit
Demokratie
Die Menschenwürde beansprucht in diesem Rhombus, so wie in Art. 1 GG und Art. 1 GRCh, eine herausgehobene Position als oberster Grundsatz, Freiheit und Gleichheit konkretisieren den Grundsatz der Würde – und die Demokratie ist eine Ausprägung aller drei Werte. Als Grundwerte rechtfertigen und legitimieren diese vier Werte gemeinsam das Antidiskriminierungsrecht. 17 Menschenwürde ist egalitär und der Menschenwürdekern der Grundrechte ergibt sich gerade auch aus ihrem egalitären, antidiskriminierungsrechtlichen Gehalt. Jedoch besteht das Antidiskriminierungsrecht nach diesem Modell keineswegs lediglich aus Inhalten, die von Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit bereits konkret vorgegeben wären. Im Gegenteil: Das demokratische Recht auf politische Gleichheit, ohne das sich weder Würde, noch Freiheit, noch Gleichheit gewährleisten lassen, verwirklicht sich gerade auch dadurch, dass das Antidiskriminierungsrecht auf eine fortdauernde Ausgestaltung und Fortentwicklung durch die demokratischen Normgeber angewiesen bleibt. Seine Inhalte lassen sich nicht etwa bis ins Einzelne aus Grundwerten deduzieren, sondern sie müssen im demokratischen Diskurs verhandelt und über sie muss, in Ausfüllung demokratischer Gestaltungsspielräume, in demokratischen Verfahren entschieden werden – in denen freilich der Status aller als gleich und frei an Würde und Rechten stets gewährleistet bleiben muss. 16
IV. Gang der Darstellung
Im Folgenden werde ich in einem ersten Hauptteil (B.) zunächst auf den Grundwert der gleichen Menschenwürde eingehen und die These eines Menschenwürdegehalts aller Freiheits- und Gleichheitsrechte entfalten, zu dem gerade auch ein egalitärer Mindeststandard als grundrechtlicher Kerngehalt des Antidiskriminierungsrechts gehört. Von der Objekt- und Subjektformel zur Menschenwürde und der Verankerung der 19 grundrechtlichen Menschenwürdegehalte nach dem Grundgesetz ausgehend (B. I.) werde ich eine Verbindung zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten in einem egalitären Menschenwürdekern vorschlagen, der vor diskriminierenden Freiheitsbeschränkungen schützt (B. II.). Er schließt etwa das Sklavereiverbot als einen frühen, aber zentralen Fall 18
23 Baer (Fn. 17).
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A. Einleitung
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einer Drittwirkung in das Privatrecht ein (B. II. 3.). Die dynamische Entwicklungsfähigkeit dieses Gleichheitsversprechens der Menschenwürde und des Mindeststandards gleicher Freiheit (B. III.) zeigt sich etwa in dem in der gleichen Würde aller verankerten Recht auf gleiche Anerkennung der „Ehe für alle“ (B. III. 3.). In zwei weiteren Unterabschnitten zur Menschenwürde (B. IV. und B. V.) werde ich zu- 20 nächst näher auf gleichheitsbezogene Konkretisierungen dieses Grundwerts in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 GG eingehen (B. IV.). So sieht das Gericht in der Menschenwürde zu Recht ein Grundrecht auf Demokratie verankert, das in seinem egalitären menschenrechtlichen Kern etwa einem nach „ethnischen“ oder gar rassischen Kriterien exkludierenden Volksbegriff entgegensteht (B. IV. 2.). Ein erhebliches egalitäres Potential angesichts der globalen Ungleichheit hat auch das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum als materiale Gleichheitsgewährleistung (B. IV. 3.). Sodann werde ich das Verhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Menschenwürde beleuchten (B. V.): Wie lässt sich der antidiskriminierungsrechtliche Schutz von Würde und gleicher Freiheit gegen Hassrede sichern, ohne dabei die Geistesfreiheit als Kern der Meinungsfreiheit aufzugeben? In dem anschließenden, zweiten Hauptteil (C.) werde ich die Grundwerte der Frei- 21 heit und Gleichheit (C. I.) und der Demokratie (C. II.) in den Blick nehmen: Wie sind sie nach dem hier vorgeschlagenen Verständnis miteinander und mit der Menschenwürde als Grundlage aller drei Grundwerte verbunden? Freiheit muss nicht in einem Gegensatz zur Gleichheit stehen, wenn sie als gleiche Freiheit verstanden wird, die nicht nur negative, sondern auch positive, und nicht nur private, sondern auch öffentliche Freiheit ist (C. I. 1.). Gleichheit wiederum ist, als materiale Gleichheit, zugleich ein freiheitsermöglichender Grundwert (C. I. 2.). In der Debatte um die mittelbare Drittwirkung der Gleichheitsgrundrechte im Privatrecht (C. I. 3.) erweist sich danach das Prinzip personaler Gleichheit (Grünberger) als ein Grundsatz, der der Privatautonomie ebenso gerecht wird wie dem Versprechen materialer Gleichheit. Der Grundwert der Demokratie (C. II.) ist, im Grundrecht auf Demokratie, mit der 22 Menschenwürde verbunden und verlangt die gleiche öffentliche Autonomie aller als eine zentrale Ausprägung ihrer gleichen Würde und Freiheit. Demokratie verlangt Mehrheitsherrschaft, setzt der Mehrheit jedoch, recht verstanden, zugleich auch grundrechtliche Grenzen (C. II. 1.). Das Zukunftspotential, das der Grundwert der Demokratie für die weitere Entwicklung des Antidiskriminierungsrechts birgt, zeigt sich besonders auch in den Gleichheitskonzeptionen von Anna Katharina Mangold, die das Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung für demokratische Deliberation auf Augenhöhe rekonstruiert (C. I. 2.), und Danielle Allen, die die Gleichrangigkeit des Rechts auf politische Gleichheit, als Konkretisierung der demokratischen „Freiheiten der Alten“, zu den Freiheiten der Modernen hervorhebt (C. I. 3.).
Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
B. Würde: Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte als egalitärer Mindeststandard des Antidiskriminierungsrechts Die Menschenrechte der Freiheit und der Gleichheit, einschließlich des Menschenrechts auf Demokratie, wurzeln gemeinsam in dem Gedanken einer gleichen Würde aller Menschen. Würde, Freiheit und Gleichheit sind deshalb eng miteinander verbunden. Das Antidiskriminierungsrecht hat in dieser gleichen Würde seinen Kerngehalt, erschöpft sich aber darin keineswegs, sondern soll Gleichheit und Freiheit aller zudem in jener Ausgestaltung konkretisieren und verwirklichen, die die demokratische Verfassungs- und Gesetzgebung vorsieht. Die Menschenwürde ist jener Status der Gleichheit und Freiheit aller, der für alle Men24 schen gleichermaßen als unantastbar zu achten und zu schützen ist. Sie ist nicht nur für das Grundgesetz der allen Grundrechten zugrunde liegende zentrale Wert, sondern ebenso auch für die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 1 GRCh) und die Europäische Menschenrechtskonvention: Es geht „bei allen drei Grundrechtskatalogen letztlich um den Schutz des Einzelnen und seiner Würde“.24 Als Status gleicher Freiheit schließt die Menschenwürde vor allem auch das Bündel 25 jener konkreteren Rechte ein, die den Menschenwürdekern der einzelnen Grundrechte bilden. Diese grundrechtlichen Menschenwürdekerne sind dabei in doppelter Hinsicht egalitäre Rechte: Sie sind (erstens) als abwägungsfeste25 grundrechtliche Kerngehalte für jeden Menschen gleichermaßen unabdingbar gewährleistet, bezeichnen also insgesamt ein basales menschenrechtliches Gleichheitsniveau für alle. Sie schließen (zweitens) aber auch gerade Diskriminierungsverbote mit ein, einen egalitären Mindeststandard gleicher Freiheit, in dem die Menschenwürdekerne von Freiheitsrechten und Gleichheitsrechten (idealkonkurrierend) inhaltlich miteinander übereinstimmen: Auch alle Freiheitsrechte können durch schwerwiegend diskriminierende Freiheitsbeschränkungen in ihrem Menschenwürdekern verletzt werden. In beiden Hinsichten gilt: „Menschenwürde ist egalitär“.26 23
I. Objektformel und Subjektformel – und der Menschenwürdegehalt der Grundrechte als deren Konkretisierung 26
Die Würde des Menschen verbietet es, einzelne Menschen zum bloßen Objekt hoheitlichen oder privaten27 Handelns zu machen (Objektformel).28 Sie untersagt es, sie einer 24 Vgl. näher BVerfG, Beschl. v. 27.4.2021, 2 BvR 206/14, Rn. 58–63, Zitat: Rn. 63 m. w. N. – Tierarznei-
mittelzulassung.
25 Siehe zum Konzept abwägungsfester Rechte als mögliches Ergebnis einer Abwägung kollidierender
Gründe oder Grundsatznormen oben Fn. 11.
26 Vgl. BVerfGE 144, 20 (207 f.) – NPD (2017) („Menschenwürde ist egalitär; sie gründet ausschließlich in
der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Rasse, Lebensalter oder Geschlecht […]). Siehe auch noch unten Rn. 69 ff. (B. IV.). 27 Zur Drittwirkung der Menschenwürdegarantie siehe auch unten Rn. 41 ff. (B. II. 3.). 28 Ständige Rechtsprechung des BVerfG (mit Blick auf staatliches Handeln); siehe nur BVerf GE 27, 1 Mathias Hong
B. Würde: Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte
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Behandlung auszusetzen, die ihre Subjektqualität grundsätzlich in Frage stellt, indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der ihnen um ihrer selbst willen zukommt (Subjektformel).29 Die Leistungskraft solcher Formeln bleibt freilich begrenzt:30 Aus ihnen lässt sich nicht ohne weitere Voraussetzungen deduzieren, weshalb sie auf weitere Konkretisierungen angewiesen bleiben. Eine wesentliche Konkretisierung der Menschenwürde ergibt sich aus dem Menschen- 27 würdegehalt der einzelnen Grundrechte: Der Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde ist gerade auch gewissermaßen induktiv, von diesen speziellen grundrechtlichen Gewährleistungen her, zu erschließen. Für das Grundgesetz hat das Bundesverfassungsgericht die enge Verbindung zwischen 28 dem Grundrecht31 der Menschenwürde und den nachfolgenden Grundrechten zu Recht seit langem betont. So hat es festgehalten, dass das Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde „allen Grundrechten zugrunde“ liegt.32 Es hat von den „aus der Menschenwürde folgenden und ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte[n]“ gesprochen33 und betont, dass die Menschenwürde die „Wurzel aller Grundrechte“ ist; „nicht nur einzelne, sondern sämtliche Grundrechte“ seien „Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde“.34 Das Grundgesetz erklärt danach durch Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 GG neben dem Grundsatz der Menschenwürde auch „den von ihm umfassten Kerngehalt der nachfolgenden Grundrechte“ für unantastbar.35 Ihre Verbürgungen sind einer Einschränkung insoweit „grundsätzlich entzogen“, als sie „zur Aufrechterhaltung einer dem Art. 1 Abs. 1 und 2 GG entsprechenden Ordnung unverzichtbar“ sind.36 Das Gericht hat auch bereits für verschiedene Grundrechte festgestellt, dass sie einen solchen änderungsfesten Kerngehalt aufweisen.37
(6) – Mikrozensus (1969); für ausführliche Nachweise vgl. Hong (Fn. 8), S. 417 ff.; zur Genealogie der Objektformel siehe auch ebd., S. 672 ff. 29 Vgl. BVerfGE 115, 118 (153) – Luftsicherheitsgesetz (2006); zu den verschiedenen Varianten der Subjektformel siehe m. w. N. Hong (Fn. 8), S. 421 ff. 30 Vgl. zur Objektformel ausdrücklich BVerfGE 109, 279 (312) – Wohnraumüberwachung (2004). 31 Zur ständigen Rechtsprechung zum Grundrechtscharakter der Menschenwürde vgl. nur BVerfGE 125, 175 (2010) – Hartz IV; für nähere Nachweise siehe Hong (Fn. 8), S. 428–430. 32 BVerfGE 30, 173 (194) – Mephisto (1971). 33 BVerfGE 35, 202 (235 f.) – Lebach (1973); BVerfGE 66, 337 (360) – Lebenslanges Berufsverbot (1984). 34 BVerfGE 93, 266 (293) – Soldaten (1995); Hervorhebungen hinzugefügt. Ähnlich BVerf GE 107, 275 (284) – Benetton (2003) (Menschenwürde als „Fundament aller Grundrechte“; „die Grundrechte insgesamt“ seien Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde). 35 BVerfGE 102, 370 (392) – Körperschaftsstatus Zeugen Jehovas (2000), unter Verweis auf die Bodenreform-Entscheidungen: BVerfGE 84, 90 (120 f.) – Bodenreform I (1991); BVerfGE 94, 12 (34) – Bodenreform II (1996). 36 Vgl. BVerfGE 84, 90 (120 f.) – Bodenreform I (1991); BVerfGE 109, 279 (310) – Wohnraumüberwachung (2004); siehe auch BVerfGE 94, 49 (102 f.) – Drittstaaten (1996). 37 Vgl. mit näheren Nachweisen Hong (Fn. 8), S. 474 ff.; siehe aber auch S. 468 f. dazu, dass das Gericht für das Asylgrundrecht einen solchen Menschenwürdekern (zu Unrecht) verneint hat: BVerfGE 94, 49 (102–104) – Drittstaaten (1996). Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
Für die so geschützten Grundrechtspositionen verwendet es neben dem Ausdruck des Menschenwürdekerns38 auch den von Wintrich39 und Dürig40 geprägten Begriff des Menschenwürdegehaltes.41 In dieselbe Richtung weist auch seine Rechtsprechung zu den Grenzen der Europäisierung, die, auch wenn sie teils allein auf das Demokratieprinzip oder die Menschenwürdegarantie verweist,42 ebenfalls die „Wahrung des Menschenwürdekerns der Grundrechte gemäß Art. 1 GG“ bekräftigt hat.43 30 Von einem „sämtlichen Grundrechten innewohnenden“44 Menschenwürdekern auszugehen, entspricht auch dem Willen der verfassungsgebenden Gewalt des Grundgesetzes. Wie ein roter Faden durchzieht die Entstehung des ersten Grundgesetzartikels der Wille, in der Schrittfolge seiner drei Absätze den Grundgedanken eines Zusammenhangs zwischen Menschenwürde, Menschenrechten und nachfolgenden Grundrechten zum Ausdruck zu bringen:45 „Denn jeder Artikel für sich gewährleistet ein Stück Freiheit, das notwendig ist, um die Menschenwürde zu gewährleisten.“46 Die Menschenwürde sollte gerade in den einzelnen grundrechtlichen Menschenwürdegehalten konkretisiert und interpretiert werden. Die zentrale positive Aussage der verfassungsgebenden Gewalt des Grundgesetzes über die Würde des Menschen liegt gerade in dem engen Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und den nachfolgenden Grundrechten zum Schutz der Freiheit und Gleichheit aller. 29
II. Der Mindeststandard gleicher Freiheit als antidiskriminierungsrechtliche Ausprägung des Menschenwürdegehaltes aller Grundrechte 31
Was tragen diese allgemeinen Thesen zu einem Menschenwürdegehalt der Grundrechte für das Antidiskriminierungsrecht und für andere Rechtsebenen als die des Grundgesetzes aus? Die These des Beitrags ist es, dass die verfassungsgebende Gewalt des Grundgesetzes 38 Vgl. etwa BVerfGE 119, 1 (23, 34) – Esra (2007); BVerfGE 125, 260 (322) – Vorratsdatenspeicherung
(2010); BVerfGE 141, 220 (276) – BKA-Gesetz (2016); BVerfGE 152, 216 (235 f. Rn. 47) – Recht auf Vergessen II (2019); BVerfGE 154, 152 (262 Rn. 200) – BND (2020); BVerfG, Beschl. v. 27.4.2021, 2 BvR 206/14, Rn. 39 – Tierarzneimittelzulassung. Siehe auch BVerfG, Beschl. v. 20.2.2009, 1 BvR 2266/04 u. a., Rn. 19 – Peta-Holocaustvergleich (Menschenwürdekern „sämtliche[r]“ Grundrechte). 39 Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte (Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG), 1957, S. 19, 29. 40 Dürig, Kommentierung der Artikel 1 und 2 Grundgesetz (Bearb. 1958), 2003, Art. 1 Abs. I Rn. 7: „den aus der Menschenwürde fließenden […] Menschenrechtsgehalt (Wintrich: ‚Menschenwürdegehalt‘)“; Art. 1 Abs. II Rn. 73, 81. 41 Vgl. BVerfGE 109, 279 (279 [Ls. 3], 310 f., 322, 362) – Wohnraumüberwachung (2004); BVerfGE 129, 208 (263) – TKÜ (2011); siehe auch BVerfGE 106, 28 (43 f.) – Mithörvorrichtung (2002). 42 Vgl. etwa BVerfGE 140, 317 (341 Rn. 48) – Europäischer Haftbefehl (2015); BVerfGE 156, 182 (207– 213; Rn. 57–69) – Europäischer Haftbefehl (2020); siehe näher Hong (Fn. 8), S. 481 ff. 43 Vgl. BVerfGE 154, 17 (93 f. Rn. 115) – PSPP (2020). 44 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.2.2009, 1 BvR 2266/04 u. a., Rn. 19 – Peta-Holocaustvergleich. 45 Zum Folgenden eingehend Hong (Fn. 8), S. 181 ff.; zusammenfassend: S. 398 ff. 46 Siehe v. Mangoldt, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948– 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5, Ausschuß für Grundsatzfragen, 1993, S. 591 („Es ist nicht ganz richtig, wenn Herr Geheimrat Thoma sagt, die ganzen anderen 18 oder mehr Artikel dienten nicht dieser Wahrung der Menschenwürde. Denn jeder Artikel für sich gewährleistet ein Stück Freiheit, das notwendig ist, um die Menschenwürde zu gewährleisten.“). Zum Kontext dieser Äußerung siehe ausführlich Hong (Fn. 8), S. 233 ff. Mathias Hong
B. Würde: Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte
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damit einem grundsätzlichen Zusammenhang auf der Spur war, der für die Grundwerte Würde, Freiheit und Gleichheit auch im Unionsrecht, in der Europäischen Menschenrechtskonvention und in der politischen Philosophie Geltung beanspruchen kann: Die Menschenwürde ist jener fundamentale Status der Freiheit und Gleichheit, den die einzelnen Grundrechte in ihren Menschenwürdekernen gewährleisten. Und zu diesen Menschenwürdekernen gehört gerade auch ein egalitärer Diskriminierungsschutz, den nicht nur die Gleichheitsgrundrechte, sondern auch die Freiheitsgrundrechte gewährleisten: ein Mindeststandard gleicher Freiheit. 1. Mindeststandard gleicher Freiheit: Schutz vor schwerwiegend diskriminierenden Freiheitsbeschränkungen als Menschenwürdekern (auch) der Freiheitsrechte
Worin soll aber ein solcher Menschenwürdekern aller Grundrechte liegen können? Was sollen, zum Beispiel, die Privatschulfreiheit oder die Petitionsfreiheit mit der Menschenwürde zu tun haben? Weitet ein Konzept, das die Menschenwürde sogar mit solchen Rechten in Verbindung bringt, sie nicht zu stark aus, gefährdet es nicht ihren absoluten, abwägungsfesten Charakter und muss deshalb am Höflingschen Konkretisierungsdilemma scheitern – also an der Diagnose Höflings, dass nicht beides zugleich zu haben sei, „große praktische Relevanz und absoluter Unbedingtheitsanspruch“?47 Die Antwort darauf liegt gerade auch in dem antidiskriminierungsrechtlichen Gehalt der Menschenwürde, der Freiheitsrechte und Gleichheitsrechte verbindet: Wenn sich eine Freiheitsbeschränkung mit einer intensiven Diskriminierung verbindet, kann jedes Grundrecht in seinem Menschenwürdekern verletzt sein. Schwerwiegend diskriminierende Freiheitsbeschränkungen können deshalb den Menschenwürdekern von Freiheits- und Gleichheitsgrundrechten zugleich berühren. Wenn beispielsweise die Schulfreiheit oder die Petitionsfreiheit nur den Angehörigen einer bestimmten Religion oder vermeintlichen „Rasse“ vollständig entzogen wird, dann verletzt das den Menschenwürdekern nicht nur der entsprechenden Diskriminierungsverbote, sondern zugleich auch der Schulfreiheit oder der Petitionsfreiheit (unter dem Grundgesetz also den Menschenwürdegehalt nicht nur von Art. 3 Abs. 3 GG, sondern auch von Art. 7 Abs. 4 GG oder Art. 17 GG). Der Grundgedanke einer solchen systematischen Verbindung zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten in einem Mindeststandard gleicher Freiheit wurde im Parlamentarischen Rat von Hermann von Mangoldt, dem Vorsitzenden des Ausschusses für Grundsatzfragen, durchgehend verfolgt, der sich dafür auf die Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten von Amerika bezog.48 Er ist jedoch verallgemeinerbar, wie nicht zuletzt auch diese 47 Vgl. Höfling, Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, JuS 1995, S. 857 (859). Zum Höflingschen Kon-
kretisierungsdilemma näher Hong (Fn. 8), S. 31 ff.
48 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Proto-
kolle, Bd. 5, Ausschuß für Grundsatzfragen, 1993, S. 644 („Ein minimum standard of free society ist auch dem unehelichen Kinde zugesichert; aber in der Familie ist die Stellung eine andere.“), 740. Vgl. auch ebd., S. 743, 744 und 745: „minimum standard“; v. Mangoldt, Grundrechte und Grundsatzfragen des Bonner Grundgesetzes, AöR 75 (1949), S. 273 (281); ders., Das Bonner Grundgesetz, 1953, Art. 3, S. 51. Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
rechtsvergleichende Herkunft bezeugt: Die Freiheitsrechte definieren danach zugleich ein antidiskriminierungsrechtliches Mindestniveau der Freiheit, das unter keinen Umständen in diskriminierender Weise entzogen werden darf: Alle Freiheitsrechte können in diesem Menschenwürdekern verletzt werden, wenn eine Freiheitsbeschränkung sich mit einer schwerwiegenden Diskriminierung verbindet. 2. Das antisemitische NS-Sonderrecht (etwa die Pflicht zum Tragen des „Judensterns“) als paradigmatische Verletzung des Menschenwürdekerns gleicher Freiheit 36 Für Verletzungen dieses Mindeststandards gleicher Freiheit sind die nationalsozialisti-
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schen Menschenrechtsverletzungen umfassendes historisches Anschauungsmaterial, das einer gründlichen verfassungsrechtlichen Auswertung weitgehend noch harrt. Das gilt vor allem für die antisemitischen Regelungen und Maßnahmen, die schon im Vorfeld des spätestens 1941 einsetzenden Völkermords systematisch die Rechte der jüdischen (oder als „jüdisch“ eingestuften) Bevölkerung mit großer Gründlichkeit Schritt um Schritt in immer weitergehender Weise beschränkten. In der Sammlung „Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat“ hat Walk eine beklemmende Vielzahl solcher Einzelbestimmungen dokumentiert.49 Diese Maßnahmen verfolgten, wie Ernst Rudolf Huber 1939 festhielt, das „Ziel einer völligen Ausscheidung des Judentums“ aus der deutschen Gesellschaft.50 Nicht erst die eklatanteren unter diesen Regelungen und Maßnahmen verletzten die Menschenwürde der davon betroffenen Menschen. Der Ausgrenzungszweck, der diesen Maßnahmen gemeinsam war, kann vielmehr auch solche Eingriffe als Verstoß gegen die Menschenwürde der betroffenen jüdischen oder als jüdisch eingestuften Menschen qualifizieren, die für sich betrachtet (also nur unter dem Gesichtspunkt der jeweiligen Freiheitsbeschränkung als solcher) eine geringere Intensität aufweisen. Diskriminierende Maßnahmen solcher Art verletzen nicht nur den besonderen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 GG in seinem Menschenwürdegehalt, sondern je nach Gegenstand zumeist kumulativ auch den Menschenwürdegehalt der weiteren einschlägigen Grundrechte. Sie zeigen, dass der Mindeststandard der Gleichheit auch bei solchen Grundrechten verletzt werden kann, bei denen zunächst nicht auf der Hand zu liegen scheint, dass sie überhaupt einen Menschenwürdegehalt aufweisen. Aber auch außerhalb eines solchen systematischen Verfolgungsprogramms kann der verfolgte diskriminierende Zweck einer Freiheitsbeschränkung schon als solcher so illegitim sein, dass seine Verfolgung auch eine für sich betrachtet geringfügig erscheinende Freiheitsbeeinträchtigung zu einer Menschenwürdeverletzung werden lassen kann.51 Ein historisches Beispiel dafür ist das Verbot für Juden, „sich in der Öffentlichkeit ohne einen 49 Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, 2. Aufl. 1996. 50 Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl. 1939, S. 181 („Die Juden genießen im
Reich nicht die Stellung einer fremdvölkischen Minderheit, sondern ihnen ist eine Sonderstellung zugewiesen, die sich aus dem Ziel einer völligen Ausscheidung des Judentums erklärt.“). 51 Zu aus der Menschenwürde folgenden Zweckverboten vgl. Hong (Fn. 8), S. 655 f. Mathias Hong
B. Würde: Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte
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Judenstern zu zeigen“.52 Eine solche Bekleidungsvorschrift verletzt wegen ihres Zwecks, eine Bevölkerungsgruppe auszugrenzen und zu stigmatisieren, die Menschenwürde auch dann, wenn die damit verbundene Freiheitsbeeinträchtigung als solche sich im Wesentlichen auf den Zwang beschränkt, den Stern zu tragen.53 Sie war nicht nur im Kontext der NS-Gewalt- und Willkürherrschaft eine Menschenwürdeverletzung, sondern wäre es auch, wenn sie heute mit dem Ziel der Stigmatisierung und Ausgrenzung gegen eine andere Bevölkerungsgruppe erlassen würde. 3. Das Sklavereiverbot als Mindestkonsens über einen Menschenwürdekern gleicher Freiheit – und als Dominierungs- (Sacksofsky) oder Hierarchisierungsverbot (Baer) mit Drittwirkung in das Privatrecht
Um die Verflochtenheit der Grundwerte Würde, Gleichheit, Freiheit und Demokratie in 41 einem absolut geschützten egalitären Menschenwürdekern der Grundrechte zu plausibilisieren, sei ein Beispiel herangezogen, über das auf allen angesprochenen Ebenen des Antidiskriminierungsrechts im Ergebnis Einigkeit zu erzielen sein sollte: das Sklavereiverbot. Es veranschaulicht, dass jedenfalls bestimmte krasse Formen hoheitlicher wie privater Diskriminierung stets die Menschenwürde verletzen und rechtswidrig sind und sollte sich deshalb als Konsensbasis über die zerstrittenen Lager des Antidiskriminierungsrechts hinweg eignen. Das Sklavereiverbot ist ein zentrales Beispiel für ein in der gleichen Menschenwürde 42 aller verankertes Verbot hoheitlicher wie privater Diskriminierung: Ob von staatlichen Organen selbst praktiziert oder „lediglich“ von Privaten betrieben, aber vom Staat als privatrechtliches Eigentum an Menschen anerkannt und durchgesetzt – so oder so ist Sklaverei eine paradigmatische Menschenwürdeverletzung: „Wenn Sklaverei nicht falsch ist, dann ist nichts falsch“, wie Abraham Lincoln sagte.54 Zentrale juristische Gründungstexte des Antidiskriminierungsrechts zeigen, dass es von 43 Anfang an rechtliche Vorgaben auch für die Gestaltung des Privatrechts mit einschloss, etwa die Somerset-Entscheidung des englischen Court of King’s Bench von 1772, die Sklaverei ohne positivrechtliche Regelung für unzulässig erklärte,55 und der 13. Verfassungszusatz zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1865, der sie zumindest de jure abschaffte. 52 Vgl. Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden v. 1.9.1949, Reichsminister des Innern,
RGBl. 1949 I, S. 547. § 1 Abs. 1 der Verordnung lautete: „Juden (§ 5 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 – RGBl. I S. 1333), die das sechste Lebensjahr vollendet haben, ist es verboten, sich in der Öffentlichkeit ohne einen Judenstern zu zeigen.“ 53 Vgl. § 1 Abs. 2 der Verordnung: „Der Judenstern besteht aus einem handtellergroßen, schwarz ausgezogenen Sechsstern aus gelbem Stoff mit der schwarzen Aufschrift ‚Jude‘. Er ist sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstücks fest aufgenäht zu tragen.“ 54 „If slavery is not wrong, nothing is wrong.“; Lincoln, To Albert G. Hodges, April 4, 1864, in: ders., Selected Speeches and Writings, 1992; vgl. auch, darauf verweisend, Rawls, Justice as Fairness, 2001, S. 29 (zum besonderen Gewicht derartiger konkreter Überzeugungen im Rahmen der Herstellung eines „reflective equilibrium“). 55 Somerset v. Stewart (1772) 98 ER 499; vgl. zur Entscheidung und ihren Auswirkungen auf die Diskussion in den Vereinigten Staaten von Amerika: Oakes, Freedom National, 2013, S. 9–14, 500 (Fn. 11). Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
Das Antidiskriminierungsrecht errichtet gerade auch „Dominierungsverbote“56 oder „Hierarchisierungsverbote“57 – und das Sklavereiverbot ist ein paradigmatisches historisches Beispiel für ein solches Verbot, das gerade auch im Privatrecht Wirksamkeit entfaltet. 45 Soweit das Institut eines Eigentums an Menschen58 zu herkömmlichen Eingriffen führt (also zu final, unmittelbar und imperativ wirkenden59 hoheitlichen Beeinträchtigungen der gleichen Freiheit der versklavten Menschen), konkretisiert das Recht auf Freiheit von Sklaverei den Mindeststandard gleicher Freiheit in Gestalt des abwehrrechtlichen Menschenwürdekerns der betroffenen Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte.60 46 Soweit das Recht, nicht versklavt zu werden, dagegen hoheitlichen Schutz vor Maßnahmen verlangt, die von Privaten ausgehen, konkretisiert es die Schutzpflicht für die Menschenwürde. Als ein abwägungsfester Menschenwürdekern dieser Schutzpflicht kann das Sklavereiverbot jedenfalls insoweit angesehen werden, als es sich gegen die mit einer Versklavung verbundenen Eingriffe durch Private richtet, also als ein „reaktives Unterlassungsgebot“61 wirkt: Die Menschenwürde untersagt diese privaten Eingriffe kategorisch, keine privatrechtliche Rechtsordnung darf sie als rechtmäßig beurteilen, jede muss sie um des Schutzes der Menschenwürde willen durch Gesetz62 als rechtswidrig einstufen. 47 Das Recht, nicht von Privaten versklavt zu werden, bezeichnet einen abwägungsfesten schutzpflichtbezogenen Menschenwürdekern der jeweils betroffenen Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte, etwa der Rechte auf Freizügigkeit, auf körperliche Unversehrtheit oder auf Privatheit als Freiheitsrechte, sowie des Verbots der Diskriminierung wegen der „Rasse“ als Gleichheitsrecht. Die Schutzpflicht für die Menschenwürde umfasst einen privatrechtsgerichteten Menschenwürdekern dieser Rechte: Die Rechtsordnung darf keine privatrechtlichen Befugnisse anerkennen, über andere Menschen wie über Sachen zu verfügen, sondern muss entsprechende Eingriffe untersagen.63 Schon der grundrechtliche 44
56 Vgl. Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 285 ff.; näher (und teils abweichend, nämlich auch atypische Männer als potentielle Träger entsprechender Rechte auf Nichtdiskriminierung einbeziehend) dazu: Mangold (Fn. 14), S. 319 f., 343 ff. 57 Vgl. Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, S. 221; Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 361. 58 Vgl. Oakes (Fn. 55), insbesondere S. 8 ff. 59 Vgl. BVerfGE 105, 279 (299 f.) – Osho (2002). 60 Zum Mindeststandard gleicher Freiheit als grundrechtlichem Menschenwürdekern: Hong (Fn. 8), S. 307 ff., 667 ff. 61 Zur Unterscheidung zwischen reaktiven Diskriminierungsverboten und proaktivem Gleichstellungsrecht → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 98 ff.; Mangold (Fn. 14), S. 230 f. 62 Zur Geltung des Parlamentsvorbehalts auch für einen solchen, aus der Menschenwürde folgende Verbote umsetzenden „Schutz durch Eingriff “ vgl. Hong (Fn. 8), S. 581, 641; Wahl/Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, S. 553. 63 Vgl. zu Grenzen von Rechten an der Person eines anderen Menschen (im Kontext des Elternrechts): BVerfGE 24, 119 (144) – Adoption (1968): „Eine Verfassung, welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihres Wertsystems stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des anderen respektieren.“ Siehe auch BVerfGE 72, 155 – Elterliche Vertretungsmacht (1986); BVerfGE 121, 69 (90) – Zwangsumgang (2008); Hong (Fn. 8), S. 579 f.
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B. Würde: Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte
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Menschenwürdekern des Sklavereiverbotes schließt mithin eine (hier: schutzpflichtenbasierte64) mittelbare Drittwirkung gegen Private ein. III. Dynamische Entwicklungsfähigkeit der Gleichheitsversprechen der Menschenwürde und des Mindeststandards gleicher Freiheit
Die Menschenwürde und die von ihr umfassten grundrechtlichen Menschenwürdegehalte, 48 einschließlich des Mindeststandards gleicher Freiheit, sichern ein historisches Minimum unabdingbar. Sie beschränken sich darauf aber nicht, sondern sind, nach Maßgabe der vom jeweiligen Normgeber gewollten Grenzen, einer dynamischen Weiterentwicklung fähig. Das gilt auch, wenn das subjektiv-historische Auslegungsziel verfolgt wird, weil sich für die meisten Grundrechtsordnungen ein Wille der jeweiligen normsetzenden Gewalt feststellen lässt, eine solche dynamische Weiterentwicklung zumindest in gewissen Grenzen zuzulassen. 1. Die Dynamik von Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie im Sinne eines „Living Originalism“ – und die Unterscheidung von allgemeineren und konkreteren historischen Anwendungsvorstellungen
Die Geschichte des Antidiskriminierungsrechts zeigt, dass gerade die Gleichheitsver- 49 sprechen der Grundrechtskataloge und der Antidiskriminierungsgesetze häufig bewusst als allgemein gehaltene, entwicklungsfähige Normen gedacht und gewollt sind.65 Wenn aber die normsetzende Gewalt selbst eine solche Dynamik will, dann muss auch eine subjektiv-historische Auslegung zu einer dynamischen Auslegung im Sinne eines „Living Originalism“66 führen.67 Insoweit ist stets sorgfältig zwischen den allgemeineren und den konkreteren histori- 50 schen Anwendungsvorstellungen zu unterscheiden: Auch wenn die konkreteren Anwen64 Zur Rekonstruktion der Drittwirkung als äquivalent entweder zu grundrechtlichen Abwehrrechten
(Lüth-Konstellation: gerichtliche Durchsetzung zivilrechtlicher Unterlassungspflichten) oder (wie hier) zu grundrechtlichen Schutzpflichten (Blinkfüer-Konstellation: gerichtlicher Schutz vor privaten Eingriffen): Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 480–493. Zur teilweisen Ergebnisäquivalenz mittelbarer und unmittelbarer Drittwirkung siehe auch Grünberger (Fn. 2), S. 1009, 1019; siehe auch dort S. 1023 ff. (zur unmittelbaren Drittwirkung im Unionsrecht; insbesondere die Nachweise S. 1023 Fn. 149). 65 Vgl. zur Zukunftsgerichtetheit der Unabhängigkeitserklärung auch Grünberger (Fn. 2), S. 218 f.; siehe auch ebd., S. 64 zur „expansive[n] Tendenz“ des Gleichheitssatzes und zum emanzipatorischen Ansatz als „schlafende[m] Inhalt“; vgl. aber auch die Skepsis gegenüber der Annahme, dass Ungleichbehandlungen „schon immer“ ungerecht waren, ebd., S. 534 und S. 158 f. (Reconstruction Amendments als „Konkretisierung der Prinzipien von Freiheit und Gleichheit […], wie sie bereits im Wortlaut – wenn auch nicht dem zeitgenössischen Verständnis – der Unabhängigkeitserklärung angelegt waren“). 66 Balkin, Living Originalism, 2011; Hong (Fn. 8), S. 6 ff., 99 ff.; ders., Are They All Textualists Now? – Das Bostock-Urteil zur LGBTQ-Gleichheit als halbherziger „Living Originalism“: Justice Scalias zwiespältiges Erbe, Verfassungsblog v. 13.7.2020. 67 Vgl. Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rn. 303 („wenn der Gesetzgeber eine mitwachsende Norm schaffen wollte“, wovon „regelmäßig auszugehen“ sei); Sauer, Juristische Methodenlehre, in: Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, 4. Aufl. 2021, § 9 Rn. 31 (Gesetzgeber kann „eine spezifische Wandelbarkeit des Rechtssatzes gerade gewollt“ haben). Mathias Hong
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dungsvorstellungen der Entstehungszeit, etwa darüber, welche Fälle ein Gleichheitssatz konkret erfassen kann, eng begrenzt waren, muss die normsetzende Gewalt diese eigenen konkreteren Vorstellungen gerade nicht für verbindlich erklären wollen. Sie kann stattdessen gerade einen allgemeinen Grundsatz normieren wollen, der über ihre eigenen konkreteren Vorstellungen und Irrtümer hinauswachsen kann. Für einen solchen dynamischen Normsetzungswillen spricht insbesondere ein weit gefasster Wortlaut, wie er gerade auch viele antidiskriminierungsrechtliche Regelungen kennzeichnet. Wenn die Normgeber, etwa aufgrund eines Kompromisses, einen solchen weit gefassten Wortlaut wählen,68 müssen sie sich grundsätzlich später auch beim Wort nehmen lassen.69 Auch Kombinationen zwischen konkreteren und allgemeineren Regelungsabsichten sind dabei denkbar: Der Normsetzungswille kann sich beispielsweise darauf richten, die Wiederholung bestimmter historischer Diskriminierungen für die Zukunft kategorisch auszuschließen, also einen Minimalstandard an historischen Verboten einer späteren „Rückentwicklung“ gerade zu entziehen, zugleich aber eine Entwicklung in Richtung auf größere Inklusion und stärkeren Gleichheitsschutz als bereits zur Entstehungszeit anerkannt gerade offenzuhalten. Für das Grundgesetz lässt sich für Menschenwürde und Grundrechte gerade eine solche Kombination nachweisen: Ein konkreter Festsetzungswille für ein unhintergehbares historisches Minimum verbindet sich dort mit einer gewollten Dynamik der Weiterentwicklung.70 Aber auch für die Europäische Menschenrechtskonvention und die Grundrechtecharta dürfte kaum anderes gelten: Ein historisches Minimum an menschenrechtlichen Diskriminierungsverboten sollte zwar auch dort sicher nicht durch dynamische Relativierungen unterschritten werden können. Schon der allgemein und weit gefasste Wortlaut der Gleichheitsgrundrechte der Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta spricht aber dafür, dass auch diese Gleichheitsversprechen, im Einklang mit der Tradition des Antidiskriminierungsrechts, von ihren Normgebern zugleich auch als dynamische Garantien gewollt waren. Eine gewisse dynamische Ausweitung der antidiskriminierungsrechtlichen Gleichheitsversprechen, einschließlich des absolut und abwägungsfest gewährleisteten Diskriminierungsschutzes der grundrechtlichen Menschenwürdekerne,71 entspricht dementsprechend gerade dem historisch Gewollten: Weder die verfassungsgebende Gewalt des Grundgesetzes noch die normsetzenden Gewalten der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wollten ihre eigenen konkreteren historischen Anwendungsvorstellungen zum verbindlichen Anwendungs68 Vgl. zu Art. 3 Abs. 2 GG: Baer/Markard (Fn. 57), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 355. 69 Vgl. auch Hong, Parität und historische Auslegung – Warum der Thüringer Verfassungsgerichtshof die
Entstehungsgeschichte unrichtig gedeutet hat, Verfassungsblog v. 18.7.2020.
70 Vgl. Hong (Fn. 8), S. 408 f. 71 Vgl. zum absolut geschützten Kerngehalt der Rechte der Charta der Grundrechte der Europäischen
Union: Lenaerts, Limits on Limitations: The Essence of Fundamental Rights in the EU, German Law Journal 20 (2019), S. 779 ff. Mathias Hong
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maximum erklären. Sie wollten vielmehr allgemeine Grundsätze normieren, die über ihre historischen Vorurteile und Irrtümer gerade hinauswachsen können sollten. 2. Die dynamische Entwicklung der Gleichheitsidee seit 1776
Die grundrechtlichen Gleichheitsversprechen des Antidiskriminierungsrechts nehmen damit eine Dynamik auf, auf die auch die menschenrechtliche Gleichheitsidee von Anfang an ausgerichtet war.72 Die Vergangenheit ist zwar ein fremdes Land, dessen Sprache wir übersetzen müssen.73 Eine solche Übersetzung ist jedoch nicht unmöglich. Das Gleichheitsideal, das dem Antidiskriminierungsrecht zugrunde liegt, kann beanspruchen, in einer Kontinuität zur neuzeitlichen Menschenrechtsidee des 18. Jahrhunderts zu stehen. Wenn wir neue Gruppen davon inkludiert sehen und gleiche Freiheit als materiale und positive, tatsächlich ausübbare Freiheit verstehen, die auch vor mittelbaren oder strukturellen Diskriminierungen schützt, dann verwirklichen wir nicht einen neuen Wert, sondern einen alten.74 Das gilt namentlich bereits für das Gleichheitsversprechen der Unabhängigkeitserklärung von 1776, nach der alle Menschen gleich geschaffen und mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, zu denen Leben, Freiheit und die Verfolgung der Glückseligkeit gehören. „[T]hat all men are created equal“: Thomas Jeffersons erster Entwurf der Unabhängigkeitserklärung enthielt Formulierungen, die den Zusammenhang zwischen der gleichen Freiheit aller Menschen und der Sklaverei ausdrücklich selbst herstellten. Er verurteilte den Sklavenhandel dort als einen Markt, auf dem „Menschen“ („men“) gekauft und verkauft werden („where men should be bought & sold“).75 Den Begriff „men“ bezog Jefferson damit nicht nur eindeutig auch auf Sklaven, verstand ihn also nicht als auf Menschen „weißer“ Hautfarbe beschränkt. Es liegt vielmehr auch nahe, dass er hier nicht nur Männer meinte, wurden doch auf den Sklavenmärkten Frauen, Männer und Kinder gehandelt.76 Es sprechen deshalb die stärkeren Gründe dafür, dass schlicht alle „Menschen“ gemeint waren – und der Begriff auch in der Aussage „all men are created equal“ von Anfang an nicht anders gemeint war.77 Die Worte von der Gleichheit aller Menschen wurden schon 1776 von vielen auch so verstanden, wie etwa Frederick Douglass sie dann am 5.7.1852 in seiner Rede „What to the 72 Zum Folgenden vgl. näher Hong (Fn. 8), S. 307 ff., 337 ff.; ders., „Rasse“ im Parlamentarischen Rat und
die Dynamik der Gleichheitsidee seit 1776 (Teil I), Verfassungsblog v. 20.7.2020 (sowie die dort nachgewiesenen weiteren vier Teile des Beitrags). 73 Gienapp, Knowing How vs. Knowing That: Navigating the Past, Process v. 4.4.2017, http://www. processhistory.org/gienapp-knowing-how/. 74 Vgl. Hong (Fn. 8), S. 307 ff., 337 ff.; ders., „Rasse“ im Parlamentarischen Rat, die Dynamik der Gleichheitsidee seit 1776 – und die Debatte um „Grundgesetz und Rassismus“, in: Froese/Thym (Hrsg.), Grundgesetz und Rassismus, 2022, im Erscheinen. 75 Jefferson, Political Writings, 1999, S. 96 (99). 76 Vgl. Allen, Our Declaration, 2015, S. 154. 77 Zu dieser These und zum historischen Kontext vgl. näher Hong (Fn. 8), S. 337 ff. Mathias Hong
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Slave Is the Fourth of July“ verstand78 – und wie auch Abraham Lincoln sie 1857 in seiner Rede79 zum Dred Scott-Urteil80 deutete, nämlich schlicht so, dass alle Menschen gleiche, unveräußerliche Menschenrechte haben: „This they said, and this they meant.“81 Die Mitglieder des Kontinentalkongresses, die die Unabhängigkeitserklärung unterzeichneten, waren sich sehr wohl im Klaren darüber, dass sie, indem sie sich auf die Gleichheit aller Menschen beriefen, einen „Schuldschein“ für die Zukunft ausstellten.82 Lincoln sah in der Idee gleicher Menschenrechte zu Recht einen auf immer stärkere 59 Verwirklichung in der Zukunft angelegten Grundsatz – und Hermann v. Mangoldt griff genau diese Vorstellung einer dynamischen Weiterentwicklung mit seinem Konzept eines Mindeststandards gleicher Freiheit auch im Parlamentarischen Rat auf:83 „They meant simply to declare the right, so that the enforcement of it might follow as fast as circumstances should permit. They meant to set up a standard maxim for free society, which should be familiar to all, and revered by all; constantly looked to, constantly labored for, and even though never perfectly attained, constantly approximated, and thereby constantly spreading and deepening its influence, and augmenting the happiness and value of life to all people of all colors everywhere.“84 60
Die Gleichheitsversprechen des Antidiskriminierungsrechts sollen sich ebenso zukunftsgerichtet entfalten, wie jener lange „Bogen des moralischen Universums“, von dem Martin Luther King Jr., darin Theodore Parker folgend, hoffte, dass er sich „der Gerechtigkeit zuneigt“: „[T]he arc of the moral universe is long, but it bends towards justice.“85
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Justice Ruth Bader Ginsburg knüpfte an diesen Satz in ihrem Sondervotum zum Shelby County-Urteil von 2013 an.86 Sie ergänzte ihn aber um einen für sie charakteristischen Zusatz, der sich auf die andauernden Probleme mit dem Rassismus bezog, aber auch ihre ei78 Douglass, What to the Slave Is the Fourth of July? (5. Juli 1852), in: Buccola (Hrsg.), The Essential Douglass, 2016, S. 50 (68) („You declare, before the world, and are understood by the world to declare, that you ‚hold these truths to be self evident, that all men are created equal […]‘; and yet, you hold securely, in a bondage […] a seventh part of the inhabitants of your country.“). 79 Lincoln, From Speech on the Dred Scott Decision at Springfield, Illinois, June 26, 1857, in: ders., Selected Speeches and Writings, 1992, S. 117 ff. 80 US Supreme Court, Dred Scott v. Sandford, 60 U. S. 393 (1857). 81 Lincoln (Fn. 79), S. 117 (120 f.). 82 Vgl. King Jr., I Have a Dream (28. August 1963), in: Carson/Shepard (Hrsg.), A Call to Conscience, 2001, S. 81 f. („a promissory note to which every American was to fall heir“). 83 Vgl. zu dieser Genealogie dieses Konzepts, aber auch zu seinen historischen Untiefen (in Gestalt der Identifikation von Mangoldts mit dem antisemitischen Rassismus des Nationalsozialismus) siehe näher Hong (Fn. 72) und (Fn. 74); siehe auch die Bezugnahme auf diese Rede Lincolns in: v. Mangoldt, Rechtsstaatsgedanke und Regierungsformen in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1938, S. 201 f. 84 Lincoln (Fn. 79), S. 117 (120 f.) (Hervorhebungen im Original). Vgl. dazu etwa Wills, Lincoln at Gettysburg, 1992, S. 101–120, der bei Lincoln Verbindungen zu „Transcendentalists“ wie Ralph Waldo Emerson, George Bancroft und Theodore Parker sieht, die ihrerseits vom deutschen Idealismus beeinflusst waren. Siehe zu Lincoln auch Grünberger (Fn. 2), S. 149–153. 85 King Jr., Address at the Conclusion of the Selma to Montgomery March (25.3.1965), in: Carson/ Shepard (Hrsg.), A Call to Conscience, 2001, S. 119 (130 f.); siehe Parker, Of Justice and the Conscience (1853), in: ders., The Collected Works of Theodore Parker – Vol. 2 (Sermons – Prayers), 1867, S. 37 (48). 86 US Supreme Court, Shelby County v. Holder, 570 U. S. 529 (2013).
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genen Erfahrungen in ihrem jahrzehntelangen stetigen Kampf für die Gleichberechtigung der Geschlechter widerspiegelt: „[…] if there is a steadfast commitment to see the task through to completion.“87 Der Zusatz macht deutlich, dass Ginsburg den Satz von dem langen, sich der Gerechtigkeit zuneigenden Bogen des moralischen Universums zu Recht weder als eine historische Tatsachenbeschreibung verstand noch im Sinne eines naiven Fortschrittsoptimismus, sondern als Ausdruck einer Hoffnung, deren Verwirklichung in unseren eigenen Händen liegt – und auf ein hohes Maß an Einsatz und Durchhaltevermögen angewiesen bleibt. Wir sollten den Vorstellungshorizont früherer Zeiten nicht unterschätzen: Die histori- 62 schen Akteure wussten teils nur zu gut Bescheid über die Entwicklungsfähigkeit und Entwicklungsbedürftigkeit der Gleichheitsidee. Die Geschichte des Gleichheitssatzes zeigt anschaulich, dass Menschen zugleich zutiefst Widersprüchliches wollen und denken können: Sie können zugleich überzeugt sein, dass bestimmte Gruppen „natürlich“ keine Gleichheit beanspruchen können – sich aber gleichwohl zum allgemeinen Recht auf Gleichheit für alle Menschen bekennen wollen. 3. Das grundrechtliche Gebot gleicher Anerkennung der „Ehe für alle“ als Beispiel für die dynamische Entwicklungsfähigkeit des Menschenwürdekerns gleicher Freiheit
Die dynamische Entwicklungsfähigkeit des Mindeststandards gleicher Freiheit zeigt sich 63 etwa an dem Recht auf gleiche Anerkennung der Ehe für alle Paare, unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung. Der Menschenwürdekern gleicher Freiheit schließt richtigerweise auch dieses Recht ein.88 Auch wenn dies den konkreteren Anwendungsvorstellungen der historischen Norm- 64 geber der grundrechtlichen Gleichheitsversprechen nicht entsprochen haben mag, folgt es, wie heute deutlich ist, aus den von ihnen bewusst allgemein formulierten Grundsätzen der menschenrechtlichen Gleichheit aller. Sie wollten nicht ihre konkreten Anwendungsvorstellungen für maßgeblich erklären, sondern die allgemeine Gleichheitsidee, gerade auch in ihrer dynamischen Entwicklungsfähigkeit hin auf eine größere Inklusion. Die freiheitlichen und demokratischen Grundrechtsordnungen kennen weder noch 65 tolerieren sie verschiedene Klassen von Menschen.89 Wenn Paaren allein wegen des Geschlechts und der sexuellen Orientierung die gleiche Anerkennung als Ehe vorenthalten 87 Ginsburg, Shelby County v. Holder, Bench Announcement, June 24, 2013, in: dies., My Own Words,
2016, S. 292 (296).
88 Für das Grundgesetz vgl. näher zum Folgenden Hong (Fn. 8), S. 366 ff.; siehe auch ders., Warum das
Grundgesetz die Ehe für alle verlangt, Verfassungsblog v. 29.6.2017; ders., Warum das Grundgesetz die Ehe für alle verlangt (II), Verfassungsblog v. 9.7.2017. 89 Für die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika vgl. US Supreme Court, Plessy v. Ferguson, 163 U. S. 537, 559 (1896) (Justice Harlan, dissenting) („[I]n view of the Constitution, in the eye of the law, there is in this country no superior, dominant, ruling class of citizens. There is no caste here. Our Constitution […] neither knows nor tolerates classes among citizens. In respect of civil rights, all citizens are equal before the law. The humblest is the peer of the most powerful.“). Siehe ferner US Supreme Court, Romer v. Evans, 517 U. S. 620, 623 (1996) („One century ago, the first Justice Harlan admonished this Court that the Constitution ‚neither knows nor tolerates classes among citizens.‘ […]. Unheeded then, those words now are understood to state a commitment to the law’s neutrality where the rights of persons are at stake.“). Mathias Hong
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wird, stempelt dies sie jedoch in vergleichbarer Weise zu Menschen zweiter Klasse90 wie wenn an ihre Hautfarbe angeknüpft wird.91 Einer Partnerschaft kann die gleiche Anerkennung als Ehe ebensowenig versagt werden, weil die Partner:innen dem gleichen Geschlecht angehören wie deshalb, weil sie zu verschiedenen „Rassen“92 gehören. So wie Kinder schwarzer Hautfarbe durch die Schulsegregation gedemütigt und in ihrer Würde verletzt wurden, werden auch Kinder, die in einer nicht verschiedengeschlechtlichen Ehe aufwachsen, gedemütigt, wenn diese Ehe nur wegen des Geschlechts und der sexuellen Orientierung nicht als Ehe anerkannt wird. Auch ihnen wird dadurch signalisiert, ihre Familien seien nicht würdig, den gleichen rechtlichen Status zu genießen wie Familien mit verschiedengeschlechtlichen Eltern.93 66 Die Rechtsordnung darf bei der Anerkennung der Ehe nicht nach Geschlecht und sexueller Orientierung unterscheiden, sondern muss die Ehe für alle Paare unter rechtlich gleichen Bedingungen gewährleisten. Anderenfalls wird das Recht auf gleiche Anerkennung der Ehe für alle Paare in seinem Menschenwürdekern verletzt. Unter dem Grundgesetz folgt dieses Recht, wenn nicht schon aus Art. 6 Abs. 1 GG, dann jedenfalls aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und den Gleichheitsgrundrechten auf Freiheit von Diskriminierung wegen des Geschlechts (Art. 3 Abs. 3 GG)94 und wegen der sexuellen Orientierung (Art. 3 Abs. 1 GG). 67 Der Menschenwürdegehalt des Ehegrundrechts für alle Paare richtet sich deshalb als Abwehrrecht gegen (unmittelbare oder mittelbare) Diskriminierungen wegen des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung durch hoheitliche Verbote und Sanktionierungen der sexuellen Gemeinschaft und des Zusammenlebens, wie sie sich etwa aus § 175 StGB a. F. ergaben. 90 Vgl. auch US Supreme Court, Boy Scouts of America v. Dale, 530 U. S. 640, 696 (2000), Justice Stevens,
dissenting („Under the majority’s reasoning, an openly gay male is irreversibly affixed with the label ‚homosexual.‘ That label, even though unseen, communicates a message that permits his exclusion wherever he goes. His openness is the sole and sufficient justification for his ostracism. Though unintended, reliance on such a justification is tantamount to a constitutionally prescribed symbol of inferiority.“); Grünberger (Fn. 2), S. 213 mit Fn. 806. 91 Vgl. etwa auch Goos, Overdoing dignity?, Some reflections on the use of human dignity in antidiscrimination law, InDret 2016, https://indret.com/wp-content/themes/indret/pdf/1210_es.pdf, S. 39 (44) („In a society based on ‚equal dignity‘ it is illegitimate to exclude individuals only because of personality traits that are objectively immutable or experienced as being immutable. This is the reason why the exclusion of gays and lesbians from marriage is indeed, as the US Supreme Court rightly points out, a problem of equal dignity.“). 92 Vgl. US Supreme Court, Loving v. Virginia, 388 U. S. 1 (1967), sowie als Vorläuferentscheidung: Supreme Court of California, Perez v. Sharp, 32 Cal.2d 711, 715–727 (1948); siehe Hong (Fn. 8), S. 355–357. 93 Vgl. (dort auf die Ungleichbehandlung auf Einzelstaatenebene anerkannter gleichgeschlechtlicher Ehen durch die Bundesebene bezogen) US Supreme Court, U. S. v. Windsor, 570 U. S. 744, 772 (2013) („The differentiation demeans the couple, whose moral and sexual choices the Constitution protects […] and whose relationship the State has sought to dignify. And it humiliates tens of thousands of children now being raised by same-sex couples.“). 94 Vgl. dazu, dass Ungleichbehandlung wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Orientierung stets zugleich auch Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts ist: US Supreme Court, Bostock v. Clayton County, 140 S.Ct. 1731 (2020); Hong (2020 Fn. 66). Mathias Hong
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Als Recht auf Schutz und Teilhabe verlangt dieser gleichheitsrechtliche Menschen- 68 würdekern aber auch in allen anderen Bereichen des Rechts die Gleichstellung der Ehe aller Paare, unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung, mit der verschiedengeschlechtlichen Ehe. Vor allem darf der Staat, solange und soweit er die Ehe als Institut für verschiedengeschlechtliche Paare anerkennt und mit rechtlichen Vorteilen verbindet, diese Anerkennung und diese Vorteile auch allen anderen Paaren nicht vorenthalten. IV. „Menschenwürde ist egalitär“: Gleichheitsbezogene Konkretisierungen der Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 GG
Der enge Zusammenhang der Menschenwürde zur Gleichheitsidee schlägt sich nicht nur 69 in dem Mindeststandard gleicher Freiheit nieder, der Freiheits- und Gleichheitsrechte in einem gemeinsamen grundrechtlichen Menschenwürdegehalt verbindet. In diesem Abschnitt sollen weitere egalitäre Aspekte der Menschenwürde hervor- 70 gehoben werden, wie das Bundesverfassungsgericht sie in seiner Rechtsprechung zu Art. 1 Abs. 1 GG zu Recht anerkannt hat.95 Diese Rechtsprechung erscheint auch für das Verständnis der Menschenwürde auf den anderen Ebenen der Grundwertediskussion des Antidiskriminierungsrechts96 verallgemeinerungsfähig. So zeigt sich die Verbindung zwischen den Grundwerten Menschenwürde und De- 71 mokratie danach gerade darin, dass in der Menschenwürde ein egalitäres Grundrecht auf Demokratie verwurzelt ist, dessen menschenrechtlicher Kern etwa durch einen nach „ethnischen“ oder „rassischen“ Kriterien exkludierenden Volksbegriff verletzt würde (unter 2.). Nach der Rechtsprechung zum menschenwürdigen Existenzminimum ist die Gleichheit, die die Menschenwürde sichert, nicht nur formale, sondern auch materiale Gleichheit, die die gleiche Gewährleistung der tatsächlichen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens einschließt (unter 3.). Die Klimaschutz-Entscheidung des Gerichts zeigt zudem, dass die Menschenwürdeidee angesichts der eklatanten globalen Ungleichheit auch in Zukunft weiterentwickelt werden muss (unter 4.). 1. Menschenwürde als „Anspruch auf elementare Rechtsgleichheit“ und die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG als „Konkretisierungen der Menschenwürde“ nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Die Menschenwürde kommt nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungs- 72 gerichts „jedem Menschen um seiner selbst willen“ zu,97 „ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status“.98 95 Vgl. zum Folgenden näher Hong (Fn. 8), S. 414 ff., 451 ff., 582 ff. 96 Siehe oben Rn. 3 ff. (A. I.). 97 Vgl. BVerfGE 109, 279 (312 f.) – Wohnraumüberwachung (2004); BVerfGE 115, 118 (153) – Luftsicher-
heitsgesetz (2006); BVerfGE 144, 20 (207) – NPD (2017).
98 Vgl. BVerfGE 87, 209 (228) – Tanz der Teufel (1992); BVerfGE 96, 375 (399) – Kindesunterhalt als
Schaden (1997); BVerfGE 115, 118 (152) – Luftsicherheitsgesetz (2006). Mathias Hong
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Den in diesen Aussagen betonten Gleichheitsaspekt der Menschenwürde hat insbesondere das NPD-Urteil von 2017 näher entfaltet. Die Garantie der Menschenwürde umfasst, wie das Urteil festhält, den „Anspruch auf elementare Rechtsgleichheit“:99 „Menschenwürde ist egalitär; sie gründet ausschließlich in der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Rasse, Lebensalter oder Geschlecht“.100 Sie schließt die „Anerkennung“ der Einzelnen „als grundsätzlich gleichberechtigte Mitglieder der rechtlich verfassten Gemeinschaft“ mit ein.101 74 Mit der Menschenwürde sind „daher ein rechtlich abgewerteter Status oder demütigende Ungleichbehandlungen nicht vereinbar“.102 Dies gilt „insbesondere, wenn derartige Ungleichbehandlungen gegen die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG verstoßen, die sich“, so das Urteil zu Recht, „jedenfalls als Konkretisierung der Menschenwürde darstellen“.103 75 Die Verbindung zwischen der Menschenwürde und den grundrechtlichen Diskriminierungsverboten hat das Bundesverfassungsgericht bereits vorher hergestellt, namentlich auch, indem es zu Recht festhielt, dem Asylgrundrecht liege die „von der Achtung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde bestimmte Überzeugung“ zugrunde, dass „kein Staat das Recht hat, Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen aus Gründen zu gefährden oder zu verletzen, die allein in seiner politischen Überzeugung, seiner religiösen Grundentscheidung oder in für ihn unverfügbaren Merkmalen liegen, die sein Anderssein prägen“.104 76 In seiner Kammerentscheidung zur Kündigung wegen rassistischer Äußerungen von 2020 hat das Bundesverfassungsgericht dementsprechend festgehalten, dass in den antidiskriminierungsrechtlichen Regelungen zum Schutz vor Diskriminierungen wegen der „Rasse“ im Privatrechtsverhältnis in §§ 104, 75 Abs. 1 BetrVG und §§ 1, 7, 12 AGG „die verfassungsrechtlichen Wertungen der Unantastbarkeit der Menschenwürde und des Diskriminierungsverbots ihren Niederschlag finden“.105 73
99 Vgl. BVerfGE 144, 20 (247) – NPD (2017) („Das […] Parteiprogramm missachtet die durch die Garan-
tie der Menschenwürde geschützte Subjektqualität des Einzelnen und verletzt den Anspruch auf elementare Rechtsgleichheit.“). Siehe auch ebd., 207 („Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit […].“). 100 BVerfGE 144, 20 (207 f.) – NPD (2017). 101 Vgl. BVerfGE 144, 20 (250) – NPD (2017); siehe auch ebd., S. 207 f. 102 Vgl. BVerfGE 144, 20 (207 f.) – NPD (2017). 103 Vgl. BVerfGE 144, 20 (207 f.) – NPD (2017). 104 Vgl. BVerfGE 80, 315 (333) – Tamilen (1989). Vgl. auch bereits BVerfGE 76, 143 (157 f.) – Ahmadiyya (1987) („von der Achtung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde bestimmte Überzeugung […]“; „aus Gründen […], die allein in seiner politischen Überzeugung oder religiösen Grundentscheidung oder in unverfügbaren, jedem Menschen von Geburt an anhaftenden Merkmalen liegen“); BVerfGE 54, 341 (357– 359) – Ahmadiyya (1980) (357: „Voraussetzungen und Umfang des politischen Asyls sind wesentlich bestimmt von der Unverletzlichkeit der Menschenwürde […].“; 358: „Politische Verfolgung kann sich […] gegen Gruppen von Menschen richten, die durch gemeinsame Merkmale wie etwa Rasse, Religion oder politische Überzeugung verbunden sind.“); Hervorhebungen jeweils hinzugefügt, vgl. auch BVerfGE 94, 49 (103 f.) – Drittstaaten (1996). 105 BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 17 – Kündigung wegen rassistischer Äußerung. Siehe auch unten Rn. 114 (B. V.). Mathias Hong
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2. Das Grundrecht auf Demokratie als Konkretisierung der Menschenwürde a) Verankerung in der Menschenwürde
Für das Grundgesetz hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht aus der Menschenwürde ein Grundrecht auf Demokratie abgeleitet.106 Der „Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt“ ist danach „in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert“ und gehört „zu den durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG als unveränderbar festgelegten Grundsätzen des deutschen Verfassungsrechts“.107 Das Gericht weitet den Horizont und sieht neben der gleichen Teilhabe an der öffentlichen Gewalt allgemeiner auch die Teilhabe an der politischen Willensbildung insgesamt von diesem Anspruch umfasst, wenn es im NPD-Urteil von 2017 von „dem im menschenrechtlichen Kern des Demokratieprinzips wurzelnden Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe aller Staatsangehörigen an der politischen Willensbildung“ spricht.108 Auch vom Wahlgrundrecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt ist der Anspruch auf demokratische Teilhabe nach der – viel und heftig kritisierten – Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zudem, soweit er vermittelt über die Bundestagswahl ausgeübt wird. Denkt man diese Konstruktion konsequent zu Ende, so handelt es sich insoweit um nichts anderes als um einen Menschenwürdegehalt des Wahlgrundrechts sowie der weiteren Grundrechte, die die Teilhabe an der politischen Willensbildung schützen, insbesondere der Kommunikationsfreiheiten. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass das Gericht den Anspruch auf Demokratie in einem Kammerbeschluss auch als einen „Menschenwürdegehalt politischer Selbstbestimmung“ bezeichnet hat.109 Der Grundgedanke, dass das Wahlgrundrecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG über einen Menschenwürdegehalt verfügen könnte, sollte dabei unabhängig von der besonders heftig umstrittenen Frage gewürdigt werden, ob das Wahlgrundrecht auch im Verhältnis zur Europäischen Union Wirkungen entfaltet. Auch wer die europarechtsbezogenen Weiterungen des Wahlgrundrechts ablehnt, also in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG keine subjektiv-rechtliche Bewehrung verfassungsrechtlicher Integrationsgrenzen gegenüber der Union sieht, muss deshalb nicht zugleich auch einen Anspruch auf demokratische Teilhabe ablehnen. 106 Vgl. BVerfGE 123, 267 (341) – Lissabon (2009); BVerfGE 129, 124 (169) – Euro-Rettungsschirm
(2011); BVerfGE 142, 123 (Rn. 124) – OMT (2016); BVerfGE 154, 17 (90 Rn. 110) – PSPP (2020). Siehe auch bereits BVerfGE 5, 85 (204 f.) – KPD-Verbot (1956) („Um seiner Würde willen“ muss dem Menschen „eine möglichst weitgehende Entfaltung seiner Persönlichkeit gesichert werden.“; „Für den politisch-sozialen Bereich bedeutet das, daß es nicht genügt, wenn eine Obrigkeit sich bemüht, noch so gut für das Wohl von ‚Untertanen‘ zu sorgen; der Einzelne soll vielmehr in möglichst weitem Umfange verantwortlich auch an den Entscheidungen für die Gesamtheit mitwirken.“). Näher Hong (Fn. 8), S. 61 ff., 453 ff., 461 ff. 107 Vgl. BVerfGE 123, 267 (341) – Lissabon (2009). 108 Vgl. BVerfGE 144, 20 (285) – NPD (2017); siehe auch S. 283 („aus Art. 20 Abs. 1 und 2 GG folgende[r] Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe an der politischen Willensbildung“), 285 („Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, der das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an der politischen Willensbildung allen Staatsangehörigen […] garantiert“). 109 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.3.2016, 2 BvR 1576/13, Rn. 81 – Bürgerbegehren Unionsbürger. Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
Wenn etwa das Wahlgrundrecht für alle Deutschen oder für bestimmte Gruppen von Deutschen ersatzlos gestrichen würde, würde das den Menschenwürdegehalt des Wahlgrundrechts verletzen. Einen solchen Schutz des demokratischen status activus im nationalen Verfassungskontext könnten – und sollten – auch diejenigen anerkennen, die die Rechtsprechung des Gerichts zu einer „Außenwirkung“ des Wahlgrundrechts gegenüber der Europäischen Union ablehnen. b) Egalitäre Staatsangehörigkeit: Der „ethnische“ Volksbegriff der NPD, die Unvereinbarkeit rassistischer Ausgrenzung mit Art. 3 Abs. 3 GG und der menschenrechtliche Kern des Rechts auf Demokratie
Mit dem menschenrechtlichen Kern des in der Menschenwürde wurzelnden Rechts auf gleiche politische Teilhabe an der politischen Willensbildung ist, wie das Bundesverfassungsgericht zu Recht festgehalten hat, ein „ethnischer“ Volksbegriff unvereinbar, der die biologische Abstammung zum Ausschlusskriterium für die Volkszugehörigkeit erhebt. 84 Die NPD vertrat nach den Feststellungen des Urteils einen „ethnischen“ Volksbegriff, demzufolge „fremdrassige[ ]“110 Menschen niemals zum deutschen Volk gehören können. Das Urteil begründete die Menschenwürdewidrigkeit des damit verbundenen Politikkonzeptes der NPD – zum einen – damit, dass es auf Exklusion und weitgehende Rechtlosstellung von nicht „biologisch deutschen“ Menschen, also auf ihre „rassistische Ausgrenzung“111 gerichtet war. 85 Das Urteil hielt fest, dass „[a]ntisemitische oder auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte“ nicht mit den die Menschenwürde konkretisierenden Diskriminierungsverboten aus Art. 3 Abs. 3 GG vereinbar seien.112 Der „ethnische“ Volksbegriff der NPD missachtete die Menschenwürde danach zunächst deshalb, weil er „zur Verweigerung elementarer Rechtsgleichheit für alle“ führen sollte, „die nicht der ethnischen ‚Volksgemeinschaft‘ angehören“.113 Das politische Konzept der Partei war „auf die Ausgrenzung, Verächtlichmachung und weitgehende Rechtlosstellung von Ausländern, Migranten, Muslimen, Juden und weiteren gesellschaftlichen Gruppen gerichtet“.114 Verbunden mit Einzelforderungen des Programms, die das Verbot der Ungleichbehandlung wegen der Abstammung 83
110 Vgl. BVerfGE 144, 20 (274 Rn. 728) – NPD (2017), siehe auch Rn. 694 (zur Unterscheidung im politischen Konzept der NPD zwischen „Biodeutschen“ und „Passdeutschen“) und Rn. 667 f. (zum vermeintlichen Gegensatz zwischen „europäisch-germanischen Völker[n]“ und „negroiden (afrikanischstämmigen) oder mongoliden (asiatischen) Menschen“ und zur Unterteilung der „europide[n] Menschengruppe“). Zur Nichtexistenz biologischer „Rassen“ vgl. Hong (Fn. 8), S. 315 ff. 111 Vgl. BVerfGE 144, 20 (252 Rn. 653) – NPD (2017); siehe auch Rn. 678 und 699. 112 Vgl. BVerfGE 144, 20 (208 Rn. 541) – NPD (2017) („Dies gilt insbesondere, wenn derartige Ungleichbehandlungen gegen die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG verstoßen, die sich […] als Konkretisierung der Menschenwürde darstellen. Antisemitische oder auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte sind damit nicht vereinbar und verstoßen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.“). 113 BVerfGE 144, 20 (246–282) – NPD (2017) (Zitat: Rn. 635); vgl. auch Rn. 640 (Konzept der NPD ist „vor allem auf die strikte Exklusion und weitgehende Rechtlosstellung“ von nicht „ethnisch“ Deutschen gerichtet). Vgl. näher Hong (Fn. 8), S. 453 ff. 114 Vgl. BVerfGE 144, 20 (246–282) – NPD (2017) (Zitat: Rn. 635).
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B. Würde: Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte
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oder der „Rasse“ aus Art. 3 Abs. 3 GG berührten, ergebe sich „eine demütigende Ungleichbehandlung“, die diese Personen „zum bloßen Objekt staatlichen Handelns“ mache und „ihnen die Anerkennung als grundsätzlich gleichberechtigte Mitglieder der rechtlich verfassten Gemeinschaft“ verweigere.115 Ein solcher „ethnisch“ definierter Volksbegriff verletzt aber nicht nur dann die Men- 86 schenwürde, wenn er die davon ausgegrenzten Menschen elementar rechtlos stellen soll. Das NPD-Urteil stellte vielmehr – zum anderen und ebenso zu Recht –, fest, dass ein solcher „ethnisch“ eingeengter Volksbegriff116 auch diejenigen Deutschen in ihrem gleichen Recht auf Demokratie verletzt, denen er damit den gleichen Staatsangehörigkeitsstatus abspricht: Es „widerspricht dem im menschenrechtlichen Kern des Demokratieprinzips wurzelnden Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe aller Staatsangehörigen an der politischen Willensbildung“, wenn die demokratische Teilhabe nicht allen Staatsangehörigen unabhängig von ihrer Abstammung in umfassend gleicher Weise zusteht.117 Das Grundgesetz kennt keinen „ausschließlich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes“, ein solcher Volksbegriff ist vielmehr „verfassungsrechtlich unhaltbar“.118 Der Gesetzgeber ist bei der Regelung der Voraussetzungen für den Erwerb der Staats- 87 angehörigkeit folglich nicht auf den Abstammungsgrundsatz beschränkt, sondern kann den Erwerb der Staatsangehörigkeit etwa davon unabhängig machen, um damit dem „Ziel einer Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft staatlicher Herrschaft Unterworfenen“ Rechnung zu tragen.119 Bei der Bestimmung des Begriffs des „Volkes“ im Sinne des Grundgesetzes darf entsprechend „ethnischen Zuordnungen keine exkludierende Bedeutung“ zukommen: „Wer die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt, ist aus Sicht der Verfassung“ unabhängig von seiner Abstammung „Teil des Volkes“.120 Für die anderen an die Staatsangehörigkeit geknüpften Rechte, die die Verfassung ge- 88 währleistet, kann entsprechend nichts anderes gelten.121 Die Verfassung kennt weder noch toleriert sie verschiedene Klassen von Staatsangehörigen – so lässt es sich danach, mit dem Sondervotum des ersten Justice Harlan zu Plessy v. Ferguson,122 auch für das Grundgesetz 115 Vgl. BVerfGE 144, 20 (250) – NPD (2017). 116 Vgl. BVerfGE 144, 20 (284 f.) – NPD (2017); siehe auch Rn. 694 f., 767 (dazu, dass auch für Ermessens-
einbürgerungen, wie sie § 8 RuStAG vorsah, nach dem Konzept der NPD „allenfalls bei Europäern in seltenen Ausnahmefällen“ Raum bleiben sollte). 117 Vgl. BVerfGE 144, 20 (285) – NPD (2017); siehe auch ebd., Rn. 696, 763, 767. 118 Vgl. BVerfGE 144, 20 (264) – NPD (2017). 119 Vgl. BVerfGE 144, 20 (264) – NPD (2017). 120 Vgl. BVerfGE 144, 20 (264) – NPD (2017); vgl. auch ebd., Rn. 693. 121 Vgl. insoweit auch die ausdrücklich weitergehenden Formulierungen in BVerfGE 144, 20 – NPD (2017), Rn. 696 („umfassende rechtliche Gleichstellung und vor allem ein dauerhaftes Bleiberecht“), Rn. 767 (die NPD könne sich „nicht darauf berufen, dass sie […] Eingebürgerten die staatsbürgerlichen Rechte uneingeschränkt zuerkenne“; es sei „nicht davon auszugehen“, dass sie bereit sei, „Eingebürgerten sämtliche mit der Staatsangehörigkeit verbundenen Rechte dauerhaft zuzuerkennen“); Hervorhebungen jeweils hinzugefügt. 122 US Supreme Court, Plessy v. Ferguson, 163 U. S. 537, 559 (1896) (Justice Harlan, dissenting), siehe oben Fn. 89. Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
sagen: Mit Blick auf ihre Rechte als Staatsangehörige sind vor dem Recht alle Staatsangehörigen gleich. 3. Das menschenwürdige Existenzminimum als materiale Gleichheitsgewährleistung – und sein menschenrechtliches Sprengpotential angesichts der globalen Ungleichheit 89 Mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines gleichen menschenwürdigen Existenzmini-
mums123 hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht anerkannt, dass die Menschenwürde nicht nur formale Rechtsgleichheit gewährleistet, sondern dem Grunde nach auch die Gewährleistung der Mindestvoraussetzungen für die tatsächliche Ausübung jener Rechte auf gleiche Freiheit, die den Menschenwürdegehalt der Grundrechte bilden: Das Recht sichert allen „Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu“, die für ihre „physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“.124 „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu 90 relativieren.“125 – Mit dieser Aussage hat das Bundesverfassungsgericht im Urteil von 2012 zum Asylbewerberleistungsgesetz zu Recht die gleichheitsbezogene, antidiskriminierungsrechtliche Seite des Rechts auf ein Existenzminimum besonders hervorgehoben. Die Menschenwürdegarantie begründet den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums „als Menschenrecht“.126 Er steht deshalb „deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik aufhalten, gleichermaßen zu“.127 Während die Leistungsseite dieses Rechts jedenfalls insoweit unter einem Vorbehalt des 91 wirtschaftlich Möglichen stehen muss, als der Umfang des Leistungsanspruchs von dem „jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens“128 und den „jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten“129 abhängt, ist danach gerade das Recht auf diskriminierungsfreie Teilhabe an dem gesetzgeberisch zu konkretisierenden Existenzminimum absolut geschützt und keiner Relativierung durch Abwägungen zugänglich.130 123 Vgl. BVerfGE 125, 175 (175 [Ls. 1 und 2], 222 f.) – Hartz IV (2010); BVerfGE 132, 134 (158 ff.) – Asyl-
bewerberleistungsgesetz (2012); BVerfGE 137, 108 (139 ff.; Rn. 71 ff., 73 ff.) – Regelbedarf (2014); BVerfGE 142, 353 (369 Rn. 33 ff.) – Familiäre Gemeinschaft (2016); BVerfGE 152, 68 (112 ff. Rn. 117 ff.) – Sanktionen im Sozialrecht (2019). Vgl. als Vorläufer auch BVerfGE 20, 31 (32 f.) – Ehemäklerlohn (1966); BVerfGE 24, 236 (249) – Aktion Rumpelkammer (1968); BVerfGE 45, 187 (228) – Lebenslange Freiheitsstrafe (1977). Zur Entwicklung näher Hong (Fn. 8), S. 582 ff. 124 BVerfGE 125, 175 (175 [Ls. 1], 222 f.) – Hartz IV (2010); vgl. auch BVerfGE 132, 134 (172) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012). Vgl. die nähere Umschreibung in: BVerfGE 125, 175 (223) – Hartz IV (2010); insoweit identisch: BVerfGE 132, 134 (160) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012). 125 BVerfGE 132, 134 (173) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012). 126 BVerfGE 132, 134 (134 [Ls. 2, Satz 2], 159) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012). 127 BVerfGE 132, 134 (134 [Ls. 2, Satz 4], 159) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012). 128 Vgl. BVerfGE 125, 175 (175 [Ls. 2] und 222) – Hartz IV (2010). 129 Vgl. BVerfGE 125, 175 (224) – Hartz IV (2010); BVerfGE 132, 134 (160) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012). 130 Vgl. zur Frage der Abwägungsfestigkeit des Rechts trotz seiner Eingrenzung auf Hilfebedürftige (in BVerfGE 152, 68 [Rn. 117 ff.] – Sanktionen im Sozialrecht [2019]); näher: Hong, Existenzminimum, MenMathias Hong
B. Würde: Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte
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Das menschenrechtliche Sprengpotential dieses Gleichheitsanspruchs ist erheblich:131 92 Auch wenn er als Gewährleistungsanspruch nur denen zusteht, die sich im territorialen Herrschaftsbereich der Bundesrepublik Deutschland befinden, verweist der Grundgedanke eines Menschenrechts auf die tatsächlichen Voraussetzungen für eine menschenwürdige Existenz auf die wohl massivsten Gerechtigkeitsprobleme unserer Zeit. Wenn das Recht auf ein Existenzminimum ein Menschenrecht ist, wie lässt es sich dann 93 etwa rechtfertigen, die Grenzen Europas dauerhaft und kategorisch für Wirtschaftsflüchtlinge geschlossen zu halten, denen in ihren Heimatstaaten eine menschenwürdige Existenz nicht möglich ist?132 Muss dann nicht jedenfalls eine nach außen gerichtete Schutzpflicht der Bundesrepublik Deutschland gelten, die nicht nur die Entwicklungspolitik, sondern auch die Wirtschafts- und Außenpolitik einem verfassungsrechtlichen Untermaßverbot unterwirft? Schon indem es solche Fragen aufwirft, bezeugt das Grundrecht auf Gewährleistung 94 des Existenzminimums die Dynamik des Menschenwürdegedankens, die es angesichts der menschenrechtlichen Legitimationsdefizite eines rein nationalstaatlichen Konstitutionalismus zunehmend als notwendig erscheinen lässt, den Verfassungsstaat nach außen zu öffnen und ihn um Elemente eines globalen Konstitutionalismus zu ergänzen. 4. Menschenwürde, intertemporale Freiheit und globale soziale Ungleichheit
Jede Zeit hat ihre blinden Flecken: So wie wir aus heutiger Sicht die Sklaverei und jede Mit- 95 wirkung daran als menschenrechtlichen Skandal verurteilen, wird womöglich die Zukunft zu Recht verständnislos auf eine Rechtswissenschaft zurückschauen, die sich, nicht zuletzt auch angesichts der Fortwirkungen eines verbrecherischen europäischen Kolonialismus,133 der Herausforderung der globalen Ungleichheit für den Wert einer gleichen Würde und Freiheit aller Menschen nicht stellt.
schenwürde und Verhältnismäßigkeit – Zum Urteil des BVerfG zu den Hartz-IV-Sanktionen, Verfassungsblog v. 5.11.2019. 131 Vgl. Hong (Fn. 8), S. 586 f. 132 Vgl. auch Shachar, The Birthright Lottery, 2009; Towfigh, Schlegel, Stefan, Der Entscheid über Migration als Verfügungsrecht, Die Verwaltung 51 (2018), S. 602. 133 Vgl. zum europäischen Kolonialismus und postkolonialen Theorien: Kerner, Postkoloniale Theorien, 2012, S. 20 ff., 41 ff.; zum Rassismus im kolonialen Recht und in den Debatten um „Rassenmischehen“ und um das Einbürgerungsrecht im deutschen Kaiserreich Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 158–176; zum Völkermord deutscher Truppen an zehntausenden Herero und Nama im heutigen Namibia vgl. Goldmann, The Ovaherero and Nama Peoples v. Germany – Declaration of Matthias Goldmann before the SDNY Court, 2018, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3169852. Siehe auch Dann/Hanschmann, Postkoloniale Theorien, Recht und Rechtswissenschaft, KJ 2012, S. 127 ff. Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
a) Klimaschutzbeschluss und Menschenwürde: Ökologisches Existenzminimum, extraterritoriale Schutzpflichten und das Abwehrrecht auf intertemporale Freiheit als Grundlage internationaler Kooperationspflichten 96 Die sozialen Gleichheitsfragen134 der Globalisierung, auf die der universelle Charakter des
Rechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verweist, stellen sich umso dringlicher angesichts einer drohenden, menschengemachten Klimakatastrophe, die Millionen die Lebensgrundlagen entziehen kann.135 Mit seinem bahnbrechenden Klimaschutzbeschluss von 2021 hat das Bundesverfas97 sungsgericht allerdings Wege für eine Weiterentwicklung der Grundwerte der Würde, Freiheit und Gleichheit angesichts dieser Herausforderungen aufgezeigt, und zwar vor allem in drei Hinsichten. Es hat (erstens) offengelassen, ob das Recht auf ein Existenzminimum auch ein ökologi98 sches Existenzminimum oder ein Recht auf eine menschenwürdige Zukunft einschließt.136 Ein solches Recht könne eigenständige Wirkung entfalten, wenn „in einer bis zur Lebensfeindlichkeit veränderten Umwelt durch Anpassungsmaßnahmen“ an den Klimawandel „zwar noch Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum, nicht aber die sonstigen Voraussetzungen sozialen, kulturellen und politischen Lebens gesichert werden könnten“.137 Die Frage könne aber offenbleiben, weil derzeit nicht festgestellt werden könne, dass der Staat (bereits) Anforderungen verletzt habe, die „zur Vermeidung existenzbedrohender Zustände katastrophalen oder gar apokalyptischen Ausmaßes an ihn gerichtet sein könnten“.138 Die Klimaschutzentscheidung hat (zweitens) auch offen gelassen, ob die zehn Be99 schwerdeführer aus Nepal und Bangladesch sich gegen die dortigen Folgen des Klimawandels gegenüber Deutschland auf das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG berufen können.139 Eine solche extraterritoriale Wirkung der grundrechtlichen Schutzpflichten erscheine wegen der deutschen Mitverursachung des Klimawandels zwar „prinzipiell denkbar“; dies bedürfe aber keiner Entscheidung, weil solche Schutzpflichten jedenfalls nicht verletzt seien.140 Das Gericht knüpfte damit an das BND-Urteil von 2020 an, in dem es erstmals grundsätzlich entschied, dass die Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG nicht auf das deutsche Staatsgebiet begrenzt ist, sondern auch darüber hinausreichen kann.141 134 Zur sozialen Gleichheit als einer zentralen Frage des Antidiskriminierungsrechts vgl. die Beiträge in:
Kersten/Rixen/Vogel (Hrsg.), Ambivalenzen der Gleichheit – Zwischen Diversität, sozialer Ungleichheit und Repräsentation, 2021. 135 Zum verfassungsrechtlich „besonders gewichtigen“ Klimaschutzgebot aus Art. 20a GG vgl. bereits BVerfGE 155, 238 (278 f., 280 f.; Rn. 100 f., 106) – Offshore-Windparks (2020). 136 BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, 1 BvR 2656/18, Rn. 114 f. – Klimaschutz. 137 BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, 1 BvR 2656/18, Rn. 114 – Klimaschutz. 138 BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, 1 BvR 2656/18, Rn. 115 – Klimaschutz. 139 BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, 1 BvR 2656/18, Rn. 173 ff. – Klimaschutz. 140 BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, 1 BvR 2656/18, Rn. 174, 178 – Klimaschutz. 141 BVerfGE 154, 152 (215 ff. Rn. 87 ff.) – BND (2020). Mathias Hong
B. Würde: Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte
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Vor allem aber weist der Klimaschutzbeschluss (drittens) mit dem Grundrecht auf inter- 100 temporale Freiheitssicherung über die deutschen Staatsgrenzen hinaus. Das Gericht sieht in den künftigen freiheitsbeschränkenden Wirkungen heutiger Untätigkeit eine schon heute wirksame „eingriffsgleiche Vorwirkung“ auf die Freiheitsrechte vor allem der jungen Generation.142 Das Grundrecht auf intertemporale Freiheitssicherung richtet sich allerdings auf Abwehr dieser eingriffsgleichen Vorwirkung nicht durch Unterlassen, sondern durch Tun. Es passt damit nicht in die bisherige Unterscheidung zwischen Abwehrrechten und Schutzpflichten. Nur weil diese Grundrechtsfunktion im Entdeckungszusammenhang neuartig ist und nicht in die altbekannten grundrechtsdogmatischen Schubladen passt, kann sie jedoch im Rechtfertigungszusammenhang gleichwohl eine überzeugende dynamische Verfassungsinterpretation sein.143 Ihre besondere Überzeugungskraft beziehen diese interpretatorische Weiterentwicklung und die Annahme einer eingriffsgleichen Vorwirkung aus der ungewöhnlich starken (und bereits so lange gesicherten) wissenschaftlichen Fundierung144 der Bedrohungsprognose einer Klimakatastrophe bei Unterschreitung relativ klar zu definierender Ziele. Deutschland ist danach grundrechtlich verpflichtet, seinen Teil zur Bewältigung des 101 globalen Problems des Klimaschutzes zu leisten. Die Notwendigkeit internationaler Kooperation lässt diese Pflicht genauso wenig entfallen,145 wie ich eine ins Wasser gefallene Person ertrinken lassen dürfte, weil ich sie nur mit anderen gemeinsam retten kann.146 b) Das Menschenrecht auf wirtschaftsvölkerrechtliche Rechtsreformen als Abwehrrecht
Mit dieser abwehrrechtlichen Konstruktion eines gerade auch auf internationale Koope- 102 ration zielenden Rechts auf Zukunftsgewährleistung stärkt der Klimaschutzbeschluss auch dem Gedanken eines Menschenrechts auf Reformen des Wirtschaftsvölkerrechts den Rücken. Ein solches Recht ergibt sich, wie das Recht auf intertemporale Freiheitssicherung, schon aus den klassischen Freiheitsrechten, vor allem aus den Menschenrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit,147 soweit deren Menschenwürdegehalt betroffen ist, zugleich aus dem Achtungsanspruch für die Menschenwürde. Es geht insoweit aber um ein Menschenrecht der ersten Generation – nicht um ein Leistungsrecht auf ein positives Tun des Staates. Der Philosoph Thomas Pogge, der diesen Grundgedanken in seinem Werk „Weltarmut 103 und Menschenrechte“ von 2011 entwickelt hat, erläutert dort, dass Weltarmut tötet: Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung und eine halb so lange Lebenserwartung wie der Rest; ein Drittel der Todesfäl142 BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, 1 BvR 2656/18, Rn. 182 ff. (Zitat: 183) – Klimaschutz. 143 Zur Unterscheidung von Entdeckungs- und Rechtfertigungszusammenhang vgl. Hong (Fn. 8), S. 160 ff. 144 Vgl. dazu eingehend (und unter Rückgriff vor allem auch auf die Berichte des Weltklimarates) BVerfG,
Beschl. v. 24.3.2021, 1 BvR 2656/18, Rn. 16 ff. – Klimaschutz.
145 BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, 1 BvR 2656/18, Rn. 199 ff. – Klimaschutz. 146 Für diesen Vergleichsfall danke ich Harald Paetzold. 147 Vgl. näher Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, 2011, S. 84–89.
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
le hat armutsbedingte Ursachen, etwa Hunger, Lungenentzündung oder Tuberkulose.148 Diese tödliche Armut durch eine Erhöhung der Einkommen über die Armutsgrenze zu beseitigen, würde laut Pogge unter 1 Prozent des Welt-Bruttoinlandsproduktes kosten; wegen der in den letzten Jahren so stark gewachsenen globalen Ungleichheit wäre dazu keine größere Umverteilung nötig.149 Es fragt sich bereits, ob das egalitäre Menschenrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht diese vergleichsweise minimale Anstrengung von der Weltgemeinschaft verlangt. Jedenfalls aber verlangen die Menschenrechte, dass die wohlhabenderen Staaten es unterlassen, sich an diesen tödlichen Zuständen durch aktives Tun mitschuldig zu machen, wie insbesondere den Abschluss und die Aufrechterhaltung völkerrechtlicher Verträge. Denn aus den Menschenrechten folgt, wie Pogge überzeugend zeigt, ein abwehrrechtliches Verbot, „an der Auferlegung und Aufrechterhaltung von sozialen Zwangsinstitutionen mitzuwirken, durch die andere Menschen keinen sicheren Zugang zu den Gegenständen ihrer Menschenrechte haben“, etwa zu Medikamenten oder zu Wasser.150 So ist Deutschland beispielsweise dazu verpflichtet, keine Verträge zum geistigen Eigentum zu schließen und aufrechtzuerhalten, die den Zugang zu lebensrettenden Medikamenten versperren. Pogge leitet daraus zu Recht die Pflicht ab, den TRIPS-Vertrag zum Schutz geistigen Eigentums im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) entsprechend zu reformieren, beispielsweise durch einen Health Impact Fund, der mit Fördermitteln zwar Innovationsanreize für Pharmaunternehmen zur Medikamenten-Produktion setzen, aber trotzdem in armen Staaten den Zugang zu Generika nicht versperren soll.151 Für das Problem der globalen Impfgerechtigkeit in der COVID-19-Pandemie hätte ein solcher Fonds zwar wohl keine Lösung geboten, weil es dort mit der Aufhebung der Patente allein nicht getan gewesen wäre. Er würde jedoch etwa die Wiederholung einer Situation wie in Südafrika während der AIDS-Epidemie ausschließen, in der Pharmaunternehmen in den 1990er Jahren auf den Schutz ihres geistigen Eigentums nach dem TRIPS-Abkommen klagten, während hunderttausende starben, weil die Unternehmen die südafrikanische Regierung unter Berufung auf die von der Staatengemeinschaft begründeten völkervertraglichen Verbote daran hindern wollten, den Menschen Zugang zu den lebensrettenden Medikamenten zu verschaffen.152
Pogge (Fn. 147), S. 124 f. Pogge (Fn. 147), S. 118, 328 (mit Fn. 137), 308 f. Pogge (Fn. 147), S. 88. Pogge (Fn. 147), S. 274–277, 286–289. Vgl. Sun, The Road to Doha and Beyond: Some Reflections on the TRIPS Agreement and Public Health, European Journal of International Law 15 (2004), S. 123 (131 f.); zum unzureichenden Ausmaß der bisherigen Reformbemühungen: Krajewski, Wirtschaftsvölkerrecht, 5. Aufl. 2021, Rn. 521 ff.
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B. Würde: Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte
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V. Der Menschenwürdeschutz gegen Hassrede durch Antidiskriminierungsrecht und die Meinungsfreiheit
Der Grundwert der Menschenwürde erlangt im Antidiskriminierungsrecht auch Bedeu- 108 tung als Grundlage für rechtliche Regelungen, die das Grundrecht der Meinungsfreiheit beschränken. Auf diesen besonderen Bereich der Auswirkungen der Menschenwürde soll im Folgenden im Überblick eingegangen werden. Die Argumentation wird auch hier auf grundgesetzliche Maßstäbe Bezug nehmen. 109 Auch insoweit wird hier jedoch die These vertreten, dass die dort ausgeprägten Grundgedanken, insbesondere derjenige der Geistesfreiheit als einem zentralem Schutzgehalt der Meinungsfreiheit, verallgemeinerbar, also auch auf die Ebenen des Unionsrechts, des Rechts der Europäischen Menschenrechtskonvention und der gerechtigkeitstheoretischen Debatte übertragbar sind. 1. Gedankenfreiheit als Fundament der Meinungsfreiheit
Für die Meinungsfreiheit ist, neben ihrer zentralen Bedeutung für die Demokratie, nach 110 der zustimmungswürdigen153 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ein weiterer Grundgedanke tragend, der die Geschichte der Kommunikationsfreiheiten prägt: Die Gedanken sind frei.154 Eingriffe in die Meinungsfreiheit können nicht schon durch den Inhalt einer Meinung als solchen gerechtfertigt werden, sondern müssen dem Schutz „äußerer“ Rechtsgüter dienen,155 weil es der Hoheitsgewalt nicht zusteht, „auf das subjektive Innere der individuellen Überzeugung“ und das Recht, diese als solche mitzuteilen, zuzugreifen.156 Die bloße inhaltliche Unvereinbarkeit einer Meinung als solchen mit den Grundwer- 111 ten des Antidiskriminierungsrechts reicht deshalb nicht schon aus, um die Meinungsfreiheit zu beschränken. Die Verfassung baut zwar auf der Erwartung auf, dass wir uns ihre Werte zu eigen machen, sie erzwingt aber diese Werteloyalität nicht.157 Eine solche Loyalität gehört vielmehr zu jenen Voraussetzungen, von denen die freiheitliche, säkulare Rechtsordnung lebt, die sie aber – nach Böckenfördes Diktum – nicht selbst durch Rechtszwang garantieren kann, weil sie damit gerade jene „Unterscheidung von Rechts- und Ge153 Vgl. näher Hong, Meinungsfreiheit und ihre Grenzen, Aus Politik und Zeitgeschichte 70 (2020), S. 16;
ders., in: Ridder/Breitbach/Deiseroth (Hrsg.), Versammlungsrecht des Bundes und der Länder, 2. Aufl. 2020, § 15 VersG Rn. 375 ff. 154 Vgl. BVerfGE 111, 147 (159) – Bochumer Synagoge (2004) (Grundrechtsbeschränkungen „knüpfen nicht an die Gesinnung, sondern an Gefahren für Rechtsgüter an“); BVerfGE 124, 300 (330: „Meinungsfreiheit als Geistesfreiheit“, 332 f.) – Wunsiedel (2009). 155 Vgl. BVerfGE 124, 300 (331–334) – Wunsiedel (2009). Die (deshalb problematische) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bietet dagegen bislang größere Spielräume für inhaltsbezogene Beschränkungen der Kommunikationsfreiheiten aus Art. 10 EMRK, die teils auf eine weite Auslegung des Art. 17 EMRK gestützt werden; vgl. näher Hong, Hassrede und extremistische Meinungsäußerungen in der Rechtsprechung des EGMR und nach dem Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, ZaöRV 70 (2010), S. 73. 156 Vgl. BVerfGE 124, 300 (333) – Wunsiedel (2009). 157 Vgl. BVerfGE 124, 300 (320) – Wunsiedel (2009). Mathias Hong
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sinnungskontrolle menschlichen Handelns“ unterlaufen würde, die „so zentral ist für die Verbürgung von Freiheit“.158 2. Hassrede (Hate Speech) und Grenzen der Meinungsfreiheit – Schutz vor „Silencing“ (aus der Schutzpflicht für die Meinungsfreiheit)
Die Meinungsfreiheit schützt danach in gewissen Grenzen auch die sogenannte Hassrede (Hate Speech) vor Beschränkungen, also etwa ausländerfeindliche, sexistische oder rassistische Meinungsäußerungen, und zwar grundsätzlich selbst dann, wenn diese Äußerungen fundamental mit den Wertungen der grundrechtlichen Diskriminierungsverbote oder sogar mit dem Wert der gleichen Menschenwürde aller über Kreuz liegen.159 113 Der Staat darf erst dann einschreiten, wenn äußere Rechtsgüter bedroht werden, etwa das friedliche Zusammenleben160 oder das Persönlichkeitsrecht der Mitglieder hinreichend eingrenzbarer161 Personengruppen. Die Meinungsfreiheit muss zwar „stets zurücktreten, wenn die Äußerung die Menschenwürde eines anderen antastet“.162 Da aber „nicht nur einzelne, sondern sämtliche Grundrechte Konkretisierungen“ der Menschenwürde sind, „bedarf es stets einer sorgfältigen Begründung“, wenn angenommen werden soll, dass „der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt“.163 Es sind die „besonders strengen Voraussetzungen für die Annahme einer Menschenwürdeverletzung“164 im verfassungsrechtlichen Sinne zu beachten. 114 Eine Menschenwürdeverletzung durch Meinungsäußerungen kommt danach „nur in Betracht“, wenn eine Äußerung konkreten Personen den ihre menschliche Würde ausmachenden Persönlichkeitskern abspricht.165 So wird die Menschenwürde etwa „entgegen 112
158 Vgl. Mangold (Fn. 14), S. 407 ff.; dies., Das Böckenförde-Diktum, Verfassungsblog v. 9.5.2019. 159 Vgl. Hong, Hate Speech im Internet, in: Albers/Katsivelas (Hrsg.), Recht & Netz, 2018, S. 59 ff. 160 Vgl. zur Begrenzung des Begriffs des „öffentlichen Friedens“ darauf: BVerfGE 124, 300 (334–338). Zur
Bedrohung der Friedlichkeit durch die Bezeichnung als „freche[r] Juden-Funktionär“: BVerfG, Beschl. v. 7.7.2020, 1 BvR 479/20, Rn. 15; siehe auch Rn. 19: die der Äußerung folgende Ankündigung, den Einfluss jüdischer Organisationen auf die deutsche Politik „in allerkürzester Zeit auf genau Null reduzieren“ zu wollen, begründete „aufgrund der historischen Erfahrung und Realität eines solchen Unterfangens einen konkret drohenden Charakter“. 161 Vgl. BVerfGE 93, 266 (301–303) – Soldaten (1995); Grimm, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, S. 1697. 162 Vgl. BVerfGE 93, 266 (293) – Soldaten (1995). 163 Vgl. BVerfGE 93, 266 (293). Siehe auch BVerfGE 107, 275 (284) – Benetton (2003). Vgl. näher zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz der Menschenwürde vor Meinungsäußerungen: Hong (Fn. 8), S. 547 ff., 572 ff. 164 Vgl. BVerfGE 124, 300 (344). 165 Vgl. zum Erfordernis einer Eingrenzbarkeit des Personenkreises mit Blick auf den Ehrenschutz BVerfGE 93, 266 (301 f.) – Soldaten (1993) („Je größer das Kollektiv ist, auf das sich eine herabsetzende Äußerung bezieht, desto schwächer kann auch die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds werden […].“); mit Blick auf die Menschenwürde: BVerfG, Beschl. v. 13.12.2001, 1 BvR 870/93, Rn. 4 – Soldaten (Stattgabe); BVerfG, Beschl. v. 19.5.2020, 1 BvR 2397/19, Rn. 22 („einer konkreten Person“); Hong, Apropos Künast-Fall: Das BVerfG bekräftigt seine Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit – aber auch zum Schutz vor Beleidigungen im Netz, Verfassungsblog v. 20.6.2020, unter 6. Mathias Hong
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Art. 1 Abs. 1 GG angetastet“, wenn „eine Person nicht als Mensch, sondern als Affe adressiert wird, und damit das in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ausdrücklich normierte Recht auf Anerkennung als Gleiche unabhängig von der ‚Rasse‘ verletzt wird“.166 Bei Äußerungen zu unüberschaubar großen Kollektiven scheidet dagegen auch die Annahme eines Angriffs auf die Menschenwürde aus,167 so wie es der Meinungsfreiheit auch Rechnung trägt, wenn „herabsetzende Äußerungen über unüberschaubar große Gruppen (wie alle Katholiken oder Protestanten, alle Gewerkschaftsmitglieder, alle Frauen) nicht auf die persönliche Ehre jedes einzelnen Angehörigen […] durchschlagen“.168 Auf Grenzen stößt der grundrechtliche Schutz der Hassrede freilich in zahlreichen verfassungsgemäßen Normen des Strafrechts und des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes. In vielen Fällen ist etwa die Hassrede in sozialen Netzwerken danach rechtlich eindeutig unzulässig, während die (bislang allerdings weiterhin massiven) Probleme auf der Ebene der effektiven Strafverfolgung und Durchsetzung der zivilrechtlichen Unterlassungsansprüche liegen. Der Gesetzgeber ist hier gefordert, die Rechtsdurchsetzung zu verbessern, ohne dabei die Grundrechte der Meinungsfreiheit (und der informationellen Selbstbestimmung) zu verletzen.169 Die Grenzen der Meinungsfreiheit sind dabei nicht etwa erst in den Fällen erreicht, die das Bundesverfassungsgericht den Fallgruppen der Schmähkritik, der Formalbeleidigung und der Menschenwürdeverletzung zuordnet.170 Denn auch wenn diese (eng zu fassenden) Fallgruppen nicht einschlägig sind, kann die gebotene Abwägung (eindeutig) zugunsten des Persönlichkeitsschutzes ausfallen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in einer Reihe von Kammerentscheidungen von 2020 zu Recht betont (und schon damit implizit die erstaunlichen, von seiner Rechtsprechung abweichenden gegenläufigen Aussagen des Landgerichts Berlin im Fall Künast zurückgewiesen), und dies dann in seiner eigenen Künast-Entscheidung von 2021 bekräftigt.171 Eine bislang vom Bundesverfassungsgericht noch nicht erwogene, aber gerade mit Blick auf die Besonderheiten der Netzkommunikation erwägenswerte ergänzende Rechtfertigung für mögliche Grenzen der Meinungsfreiheit liegt in der Schutzpflicht für die Meinungsfreiheit selbst: Im Rahmen der Abwägung kann es zu berücksichtigen sein, wenn Sprechende angesichts von Angriffen, die bereits jeweils für sich die Grenzen der Meinungsfreiheit überschreiten, davon abgeschreckt werden, sich an der öffentlichen Debatte zu beteiligen („Silencing“). Die gleichheitsrechtliche Perspektive, die im Lüth-Urteil in der Aussage zumindest aufscheint, dass die öffentliche Meinung im Widerstreit der „in gleicher Freiheit“ vorgetragenen Auffassungen zustande kommen soll, muss in der MeiBVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 18 – Kündigung wegen rassistischer Äußerung. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.12.2001, 1 BvR 870/93, Rn. 4 – Soldaten. Vgl. BVerfGE 93, 266 (300–302) – Soldaten (1995). Vgl. Hong (Fn. 159). Vgl. zu den ersten beiden Kategorien: Masing, Schmähkritik und Formalbeleidigung, in: FS Stürner, Teil 1, 2013, S. 25 ff. 171 BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021, 1 BvR 1073/20, Rn. 39 ff. Vgl. zu den Entscheidungen von 2020 näher Hong (Fn. 165). 166 167 168 169 170
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nungsfreiheitsdogmatik stärker berücksichtigt werden.172 Dabei muss auch der oft asymmetrische173 Charakter der vorhandenen Herrschaftsstrukturen und Diskurshierarchien ins Gewicht fallen. 119 Die Herausforderung für die gebotene Weiterentwicklung der Grundrechtsdogmatik der Meinungsfreiheit angesichts der teils neuartigen Dynamiken der sozialen Medien wird darin liegen, beides zu erreichen: den Grundwerten des Antidiskriminierungsrechts Wirksamkeit zu verschaffen, ohne jedoch die Geistesfreiheit als Kerngehalt der Meinungsfreiheit aufzugeben. Wie lassen sich Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie so als Rechtsgüter operationalisieren, dass ihr Schutz nicht letztlich doch schon auf eine Kontrolle von Gesinnungen und Meinungsinhalten hinausläuft, auf den – letztlich zumeist ohnehin zum Scheitern verurteilten – Versuch, bestimmte Meinungen schon als solche zu unterdrücken? 120 Werden die anerkannten und, unter Wahrung des zentralen Grundgedankens der Gedankenfreiheit, fortzuentwickelnden Grenzen der Meinungsfreiheit beachtet, ist ein starker Schutz der Meinungsfreiheit, entgegen skeptischer Stimmen,174 auch im Zeitalter der digitalen Empörungsstürme und der populistischen Desinformation und Demagogie weiterhin zukunftsfähig. Auch wenn die sozialen Netzwerke ein neues Phänomen sind, das die verfassungsgebende Gewalt kaum vorhersehen konnte – dass ein von fremdenfeindlicher Demagogie entfesseltes Gruppendenken Menschenwürde und Demokratie bedrohen kann, war als solches 1949 wohlbekannt. Die verfassungsgebende Gewalt hat sich gerade auch unter dem Eindruck solcher Diskriminierungserfahrungen gleichwohl für einen starken Schutz der Meinungsfreiheit entschieden.175 3. Unterscheidung zwischen einfachgesetzlichem und verfassungsrechtlichem Menschenwürdeschutz 121
Gerade im Antidiskriminierungsrecht ist es wichtig, zwischen den (besonders hohen) Anforderungen an den Schutz der Menschenwürde als Rechtfertigungsgrund für Beschränkungen der Meinungsfreiheit und etwaigen einfachgesetzlichen Verwendungen des Menschenwürdebegriffs zu unterscheiden. Wenn der Eingriff in die Meinungsfreiheit bereits zum Schutz anderer Rechtsgüter, etwa des öffentlichen Friedens, gerechtfertigt ist, muss die einfachgesetzlich geforderte Beeinträchtigung der „Menschenwürde“ nicht unbedingt 172 Vgl. BVerfGE 7, 198 (219), sowie, darauf verweisend: Bredler/Markard, Grundrechtsdogmatik der
Beleidigungsdelikte im digitalen Raum, JZ 2021, S. 864 (866).
173 Siehe dazu unten Rn. 135 ff. (C. I. 2.). 174 Vgl. etwa Magen, Kontexte der Demokratie, VVDStRL 77 (2018), S. 67. 175 Der einflussreiche Verfassungsrechtslehrer Gerald Gunther, der mit seiner Familie vor antisemitischer
Verfolgung und Hetze in die Vereinigten Staaten geflohen war, sprach sich gleichwohl zeitlebens gegen Einschränkungen der Meinungsfreiheit aus; vgl. Caspar, Gerald Gunther, Proceedings of the American Philosophical Society 148 (2004), S. 493 (495): „The lesson I have drawn from my childhood in Nazi Germany and my happier adult life in this country is the need to walk the sometimes difficult path of denouncing the bigot’s hateful ideas with all my power, yet at the same time challenging any community’s attempt to suppress hateful ideas by force of law.“ Mathias Hong
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die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Annahme einer Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG durch eine individuelle Meinungsäußerung erfüllen.176 4. Inhaltliche Menschenwürdewidrigkeit etwa antisemitischer oder rassistischer Aussagen nach dem NPD-Urteil – Unterscheidung zwischen Parteienfreiheit und Meinungsfreiheit für individuelle Meinungsäußerungen
Als streitbare Demokratie sieht das Grundgesetz abschließend177 geregelte Instrumente vor, um den Gegnern und Feinden seiner Wertordnung rechtlich entgegenzutreten. Dazu gehören insbesondere die Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG) und das Parteiverbot (Art. 21 Abs. 2 GG). Auch ihr Einsatz setzt jedoch ein hinreichendes Bedrohungspotential voraus,178 auch sie ermöglichen daher „kein Gesinnungs- oder Weltanschauungsverbot“.179 Mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Menschenwürdewidrigkeit politischer Auffassungen ist es zudem wichtig, sorgfältig zwischen den inhaltlichen Voraussetzungen für Parteiverbote oder Beschränkungen der Parteienfinanzierung nach Art. 21 GG einerseits und für die Beschränkung individueller Meinungsäußerungen andererseits zu unterscheiden.180 Nach dem NPD-Urteil „verstoßen die zentralen Prinzipien des Nationalsozialismus (Führerprinzip, ethnischer Volksbegriff, Rassismus, Antisemitismus) gegen die Menschenwürde“.181 „Antisemitische oder auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte“ einer Partei sind danach mit der Menschenwürde „nicht vereinbar“.182 Mit Blick darauf führt das Urteil zahlreiche, der NPD zuzurechnende Einzelaussagen an.183 Dem Gericht ging es dabei jedoch nicht darum, zu prüfen, ob es mit der Meinungsfreiheit vereinbar gewesen wäre, alle diese individuellen Äußerungen selbst zu beschränken. Vielmehr zog es ihre inhaltliche Unvereinbarkeit der Äußerungen mit der Menschenwürde lediglich heran, um im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für ein Parteiverbot in einer Gesamtschau Aufschlüsse über das politische Konzept der Partei zu gewinnen. Zum einen bezog das Gericht in diese Gesamtschau teils Äußerungen unabhängig davon ein, ob sie selbst schon als menschenwürdewidrig (oder auch nur als rechtswidrig oder strafbar) zu beurteilen waren.184 Zum anderen kam es dem Gericht aber auch, soweit 176 Vgl. näher Hong (Fn. 8), S. 573 ff. 177 Vgl. Rühl, Versammlungsrechtliche Maßnahmen gegen rechtsradikale Demonstrationen und Aufzüge,
NJW 1995, S. 561 (562).
178 Vgl. BVerfGE 38, 23 (24. f.) – Verwirkung (1974) (für Verwirkung ist „Gefährlichkeit […] im Blick auf
die Zukunft“ entscheidend); BVerfGE 144, 20 (220, 224 f.) – NPD (2017) (Parteiverbot verlangt „Potentialität“ der Verwirklichung der Parteiziele). 179 Vgl. zum Parteiverbot BVerfGE 144, 20 (219 f.) – NPD (2017). 180 Vgl. Hong (Fn. 8), S. 452. 181 Vgl. BVerfGE 144, 20 (230) – NPD (2017) („[…] und verletzen zugleich das Gebot gleichberechtigter Teilhabe aller Bürger am politischen Willensbildungsprozess sowie – aufgrund des Führerprinzips – den Grundsatz der Volkssouveränität.“). 182 Vgl. BVerfGE 144, 20 (208) – NPD (2017). 183 Vgl. BVerfGE 144, 20 (246–267, 267–282; Rn. 635–697, 698–757) – NPD (2017). 184 Vgl. dazu insbesondere BVerfGE 144, 20 – NPD (2017) (Rn. 635: „Dabei mögen einzelne Äußerungen für sich genommen die Grenze der Missachtung der Menschenwürde […] nicht überschreiten. Die Mathias Hong
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es inhaltlich eine Menschenwürdewidrigkeit feststellte, nicht darauf an, ob die jeweilige Äußerung einen hinreichend eingrenzbaren Kreis von Personen betraf185 – wie es die Meinungsfreiheit für die Rechtfertigung einer Beschränkung konkreter Äußerungen wegen Berührung der Menschenwürde verlangt.186 126 Die inhaltliche Unvereinbarkeit des politischen Konzepts einer Partei oder einzelner ihr zuzurechnender Aussagen mit der Menschenwürde kann Beschränkungen der Parteienfreiheit danach auch dann rechtfertigen, wenn eine Beschränkung der jeweiligen konkreten Äußerungen die Meinungsfreiheit verletzt hätte, weil sie nicht die Würde hinreichend bestimmter Personen angriffen.
C. Freiheit, Gleichheit und Demokratie Die Gewährleistung von Freiheit, Gleichheit und Demokratie durch das Antidiskriminierungsrecht wird durch die gemeinsame Verwurzelung dieser Grundrechte in der Menschenwürde geprägt. Sie reicht aber zugleich auch über das von der Menschenwürde und den grundrechtlichen Menschenwürdegehalten als Mindeststandard Geforderte hinaus. 128 Auf der grundrechtlichen Ebene sichern die Grundrechtskataloge einen weiterreichenden Maßstab des Grundrechtsschutzes, und auch die sonstigen Regelungen des nationalen Rechts und des Unions- und Völkerrechts konkretisieren das Gleichheitsversprechen nach Maßgabe der jeweiligen normgebenden Gewalten näher durch reaktive Diskriminierungsverbote oder durch proaktives Gleichstellungsrecht. 129 Wie sind Freiheit und Gleichheit nach dem hier vorgeschlagenen Verständnis der Menschenwürde als Grundlage beider Grundwerte miteinander verflochten? Und wie fügt sich die Demokratie als Grundwert dazu? 127
I. Freiheit und Gleichheit 1. Freiheit als gleiche Freiheit, als negative und positive Freiheit und als private und öffentliche Freiheit 130
Freiheit wurzelt in der gleichen Würde aller. Als Freiheit zur selbstbestimmten Persönlichkeitsentfaltung schließt sie einen absolut geschützten Kernbereich privater LebensgestalVielzahl der […] Positionierungen dokumentieren in der Gesamtschau aber, dass es sich […] um eine charakteristische Grundtendenz handelt.“; Rn. 757: Unabhängigkeit der Würdigung davon, dass ein Wahlplakat „für sich genommen die Grenze der Strafbarkeit oder der Rechtswidrigkeit nicht überschreitet“). 185 Vgl. beispielsweise (jeweils ohne näher Prüfung, ob die Äußerung sich noch auf eine überschaubare Gruppe von Personen oder auf alle Mitglieder der jeweiligen Gruppe weltweit bezieht) BVerfGE 144, 20 – NPD (2017): Rn. 701 (Äußerung, die „dunkelhäutigen Menschen pauschal eine niedrigere Intelligenz“ unterstellte), 747 (T-Shirts mit der Aufschrift „All Jews are Bastards“), 753 (Aussage, „Schwule und Lesben“ hätten „eine Zurschaustellung ihrer sexuellen Neigungen zu unterlassen, wie sie etwa auf Schwulenparaden zelebriert“ werde). 186 Siehe die Nachweise oben Fn. 165. Mathias Hong
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tung187 ein, der von der unantastbaren Würde umfasst ist und in den weder hoheitliche noch private Macht eingreifen darf. In diesen Kernbereich fallen höchstpersönliche Entscheidungen, die schon durch den selbstbestimmten Willen der Einzelnen gerechtfertigt sind („Weil ich es so will.“). Freiheit ist jedoch, wie Würde, egalitär: Das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung steht allen Menschen zu, nicht nur einigen. Außerhalb des unantastbaren Kernbereichs findet die Freiheit der einen deshalb ihre Grenzen in der gleichen Freiheit der anderen. Freiheit schließt einerseits die negative, abwehrrechtliche Freiheit („Freiheit von“) ein, 131 die in ihrem Menschenwürdekern absoluten Vorrang vor gegenläufigen Werten und Belangen genießt. Sie umfasst aber zugleich auch die positive Freiheit („Freiheit zu“), die das Recht auf gleiche Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung und an der öffentlichen Gewalt einschließt,188 sowie in gewissem Umfang auch die Voraussetzungen der tatsächlichen Möglichkeit der Freiheitsausübung, wie insbesondere ein menschenwürdiges Existenzminimum,189 gewährleistet.190 Freiheit ist deshalb nicht nur die halbierte, private Freiheit des Bourgeois, sondern auch 132 die öffentliche Freiheit der Citoyenne: Sie ist nicht nur die Freiheit, die eigenen Interessen in einem engeren Sinne zu verfolgen, sondern auch die Freiheit, die öffentlichen Interessen zu eigenen Interessen zu erklären, sie sich zu eigen zu machen.191 Sie ist nicht nur private Autonomie, sondern, und gleichrangig, auch öffentliche Autonomie, also Selbstgesetzgebung: die Freiheit aller, nur solchen Gesetzen unterworfen zu werden, die sie auch als selbst gegebene betrachten können, als deren Mitautorinnen sie sich verstehen können. Als Grundwert umfasst Freiheit also Privatautonomie, einschließlich Berufsfreiheit, Ei- 133 gentumsfreiheit und Vertragsfreiheit. Der Gebrauch dieser Privatautonomie, gerade zur Verfolgung eigener wirtschaftlicher Interessen, soll jedoch zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen (vgl. etwa für das Grundgesetz Art. 14 Abs. 2 GG). Er muss daher mit der Ausübung der gleichen negativen wie positiven, privaten wie öffentlichen Freiheit aller verträglich bleiben. 2. Gleichheit als materiale Gleichheit
Wie Würde und Freiheit ist auch der Grundwert der Gleichheit nicht nur formal, son- 134 dern auch material zu verstehen. Die Gleichheitsgrundrechte zielen, als dynamisch und entwicklungsfähig gedachte Grundsatznormen,192 nach dem Willen ihrer normsetzenden 187 Vgl. zur ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum absolut geschützten Kern-
bereich privater Lebensgestaltung eingehend Hong (Fn. 8), S. 431 ff., 441 ff., 501 ff.
188 Siehe oben Rn. 77 ff. (B. VI. 2.). 189 Siehe oben Rn. 89 ff. (B. IV. 3.). 190 Für eine weit ausgreifende und rechtsvergleichende Diskussion des Konzepts der positiven Freiheit
(mit Blick auf die Kommunikationsfreiheiten), auch unter eingehender Auseinandersetzung mit gängigen philosophischen Einwänden gegen ein Konzept positiver Freiheit, vgl. Kenyon, Democracy of Expression, Positive Free Speech and Law, 2021, besonders S. 87 ff. (zu Isaiah Berlin). 191 Vgl. Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997; Hong, Subjektive Rechte und Schutznormtheorie im Europäischen Verwaltungsrechtsraum, JZ 2012, S. 380. 192 Siehe oben Rn. 48 ff. (B. III.). Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
Gewalten nicht nur auf formale Gleichbehandlung, sondern auf tatsächliche Gleichberechtigung, die auch auf die Gewährleistung der tatsächlichen Voraussetzungen gleicher Teilhabemöglichkeiten gerichtet ist. Für die Grundrechtskataloge der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta der Europäischen Union und des Grundgesetzes entspricht das zu Recht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, des Gerichtshof der Europäischen Union und des Bundesverfassungsgerichts. a) Gleichheit in Vielfalt, Gleichheitsrechte als Freiheitsrechte zweiter Ordnung und ihr asymmetrischer Schutz gerade auch vor struktureller Diskriminierung
Schutzgegenstand der Gleichheitsrechte ist nicht formale Gleichheit, sondern Gleichheit in Vielfalt.193 Sie richten sich nicht auf „Gleichmacherei“, sondern schützen „Gleichheit in Freiheit“,194 die Freiheit des So-Seins.195 136 Die grundrechtlichen Gleichheitsversprechen wenden sich deshalb als Hierarchisierungs- und Dominierungsverbote196 gerade auch gegen historisch verfestigte Strukturen der Diskriminierung, „gegen eine selbstverständliche Hinnahme tradierter (‚hegemonialer‘) ‚Normalität‘“.197 Die Kehrseite struktureller Diskriminierung ist strukturelle Privilegierung, Antidiskriminierungsrecht ist daher (auch insoweit) stets zugleich „Antiprivilegierungsrecht“. 137 Strukturelle Diskriminierung kann auf unbewusst wirksamen Vorurteilen („unconscious“ oder „implicit biases“) beruhen.198 So bewertete ein Musikkritiker unwissentlich dieselbe Musikaufnahme in der Annahme zweimal extrem unterschiedlich, sie stamme von verschiedenen Personen.199 Unbewusste Vorurteile sind auch eine mögliche Erklärung dafür, dass die Schlechterbewertung von Frauen in der mündlichen Prüfung zum juristischen Staatsexamen verschwand, sobald eine Frau in der Prüfungskommission saß.200 135
193 Vgl. auch Mangold (Fn. 14), S. 415: „Gleichheit in Verschiedenheit“. 194 Baer/Markard (Fn. 57), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 355 (zu Art. 3 Abs. 2 GG). 195 Vgl. Holzleithner, Geschlecht und Identität im Rechtsdiskurs, in: Rudolf (Hrsg.), Geschlecht im Recht,
2009, S. 37 ff.; Grünberger (Fn. 2), S. 571 f., 577 (Schutz der Differenz der Einzelnen), 738 (Schutz des SoSeins der Person), 900 f. Siehe etwa auch BVerfGE 52, 369 (374 ff.) – Hausarbeitstag (1979) (Beschränkung des Anspruchs auf einen Hausarbeitstag auf alleinstehende Frauen gleichheitswidrig; siehe dazu Mangold (Fn. 14), S. 343 f.); BVerfG, Beschl. v. 7.11.2008, 2 BvR 1870/07, Rn. 27 (Beschränkung von Kosmetikeinkäufen vom zweckgebundenen Eigengeld auf weibliche Strafgefangene gleichheitswidrig; siehe dazu Grünberger (Fn. 2), S. 997 f.). 196 Siehe die Nachweise oben in Fn. 56 und Fn. 57. 197 Baer/Markard (Fn. 57), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 358. 198 → Magen, § 3 Rn. 2 f., 7; → Towfigh, § 18 Rn. 123–130 (zu kognitiven Täuschungen); Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 41–43. 199 Vgl. Koh, A Violinist on How to Empower Asian Musicians, New York Times v. 23.7.2021 („Joyce Hatto, a white British pianist, had stolen recordings of other pianists – including those of Yuki Matsuzawa, a Japanese woman – and released them as her own. Tom Deacon […] had written on a classical music message board about both Hatto’s and Matsuzawa’s recordings, without knowing they were the same“). 200 → Towfigh, § 18 Rn. 26, 37; siehe auch Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh (Fn. 198), S. 44–46, zur Möglichkeit einer „self-fulfilling prophecy“ (Andorra-Effekt) durch eine entsprechende Verunsicherung von Prüfungskandidatinnen („stereotype threat“). Mathias Hong
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Auch weil sie die Wahrnehmungsfähigkeit für solche diskriminierenden Strukturen und Sachverhalte erhöhen und dazu beizutragen kann, dass sie mit offenen Augen201 erkannt werden, kann Diversität in Wissenschaft und Justiz, in Wirtschaft, Verwaltung und Politik die Verwirklichung der Gleichheit und der anderen Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts fördern.202 Die Gleichheitsgrundrechte wenden sich gerade auch gegen die ebenso geläufigen wie 138 verfehlten Argumentationstopoi, bestimmte, strukturell privilegierte Eigenschaften oder Zustände seien „natürlich“ und „normal“, sie bei rechtlichen Regelungen zugrunde zu legen, sei daher „neutral“.203 Sie richten sich, beispielsweise, gegen Regelungskonzepte und eine Gesellschaftsordnung, die formal auf die vermeintlich „neutrale“ Person, tatsächlich aber auf Männer „in Subtraktion familiärer Pflichten und in Addition hausfraulicher Unterstützung“ zugeschnitten204 sind und etwa Schwangerschaft und potentielle Schwangerschaft als ökonomisches Handicap (allein) der Schwangeren konzipieren. Weil sie auf materiale Gleichheit zielen und sich gerade auch gegen hegemoniale gesell- 139 schaftliche Strukturen richten, wirken die Gleichheitsgrundrechte nicht unbedingt symmetrisch, sondern entfalten nicht selten asymmetrische Schutzwirkungen.205 Die Gleichheitsrechte verbinden Gleichheit und Freiheit auch dadurch, dass sie als 140 Freiheitsrechte zweiter Ordnung (oder sekundäre Freiheitsrechte) im Sinne Grünbergers wirken: Sie sollen die Freiheitsspielräume aller vergrößern, indem sie die „ungleiche Verteilung von Freiheiten aufgrund existierender Statushierarchien“ bekämpfen.206 Ihr Grundgedanke ist es, dass es „keine akzeptable Konzeption von Freiheitsausübung ohne die grundsätzliche Gleichheit aller“ geben kann.207 Diese Wirkung der Gleichheitsrechte als Freiheitsrechte zweiter Ordnung bedeutet, dass sich Kollisionen zwischen Freiheit und Gleichheit stets als Kollisionen zwischen negativer und positiver Freiheit reformulieren lassen:208 Antidiskriminierungsrecht ist deshalb zugleich „Freiheitserhaltungsrecht“209 oder Freiheitsgewährleistungsrecht.
201 Vgl. dazu, dass Justitia ihre Augenbinde zwar bei der unparteiischen Anwendung des Rechts braucht,
nicht aber bei der Wahrnehmung der allzu oft alles andere als neutralen Wirklichkeit, der gegenüber sie gerade nicht „blind“ sein darf, Hong (Fn. 8), S. 85 f. Zur Problematik von „Merkmalsblindheit“ (z. B. „colourblindness“) siehe auch unten Rn. 151 ff. (C. I. 2.). 202 Vgl. Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh (Fn. 198), S. 59–65. 203 Vgl. zu diesen drei Argumentationsschritten Mangold (Fn. 14), S. 313 ff. 204 Hohmann-Dennhardt, Berufliche Gleichstellung von Frauen, in: FS Pfarr, 2010, S. 235 (243); vgl. Grünberger (Fn. 2), S. 786 f. 205 Vgl. zu Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG: Baer/Markard (Fn. 57), Art. 3 Abs. 2 Rn. 361 (dem Wortlaut nach „zwar symmetrisch“, „Schutzrichtung“ ist „nach Regelungsgrund und Telos, historisch und aktuell, jedoch der Abbau der Benachteiligung von Frauen“), Rn. 362 (Gleichstellung ist, weil dies „historisch und systematisch näherliegt“, als „materiell und asymmetrisch“ zu verstehen); Grünberger (Fn. 2), S. 570. 206 Vgl. Grünberger (Fn. 2), S. 738; zu Gleichheitsrechten als Freiheitsrechten zweiter Ordnung siehe ebd., S. 61, 468 und passim. 207 Grünberger (Fn. 2), S. 814. 208 Grünberger (Fn. 2), S. 814 f. 209 Grünberger (Fn. 2), S. 822. Mathias Hong
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So sichern die besonderen Diskriminierungsverbote die Freiheit, „Träger des Diskriminierungsmerkmals zu sein, ohne dafür in sozialen Kontexten Einschränkungen der positiven Freiheit in Kauf nehmen zu müssen“.210 Dafür, ob ein bestimmtes Merkmal oder Kriterium in diesem Sinne als verdächtig anzusehen ist, ist entscheidend, welche Menschen in der jeweiligen Gesellschaftsordnung der historischen und soziologischen Realität nach Ausgrenzungserfahrungen erlitten haben und erleiden. Eine Diskriminierung aufgrund solcher Kriterien kann Einzelne auch intersektionell betreffen, also mehrfach und mit sich gegenseitig verstärkender Wirkung.211 142 Für diese Kriterien ist nicht unbedingt Unveränderlichkeit (immutability) oder sofortige Wahrnehmbarkeit (visibility) notwendig, sondern es ist maßgeblich, ob die Gesellschaft sich so organisiert hat, dass sie anhand der Merkmale tatsächlich wirksame Zuschreibungen vornimmt, sei es intentional, sei es lediglich den systematisch oder strukturell bedingten faktischen Auswirkungen nach.212 Nicht die Gemeinsamkeiten innerhalb einer Gruppe sind entscheidend, sondern, wo die (sozial konstruierte) Grenze nach außen verläuft.213 Neben dem Schutz vor Diskriminierung aufgrund von Merkmalen, die anhand äußerlich wahrnehmbarer unveränderlicher Merkmale zugeschrieben werden, kann deshalb auch ein Schutz vor Anpassungszwängen für nicht sichtbare oder verbergbare Merkmale treten.214 141
b) Abwehrrechtliches Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung – Rechtfertigungsanforderungen 143
Den Hoheitsgewalten verbieten die Gleichheitsgrundrechte daher abwehrrechtlich nicht nur unmittelbare Anknüpfungen an verdächtige Merkmale – sei es ausschließlich an das jeweilige Merkmal, sei es als eine mittragende Erwägung unter mehreren –215 sondern auch mittelbare (oder indirekte oder faktische) Diskriminierungen, also „Unterscheidungen mit benachteiligender Wirkung“,216 die sich tatsächlich weitgehend nur auf eine Grup210 Grünberger (Fn. 2), S. 814 f. 211 Zum Konzept der Intersektionalität vgl. grundlegend Crenshaw, Demarginalizing the Intersection
of Race and Sex: A Black Feminst Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, The University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139 ff. (besonders 140: „[T]he intersectional experience is greater than the sum of racism and sexism.“, 149: „Discrimination, like traffic through an intersection, may flow in one direction, and it may flow in another.“, 157: feminist „theory emanating from a white context obscures the multidimensionality of Black women’s lives“). Siehe außerdem nur Mangold (Fn. 14), S. 328 ff.; Grünberger (Fn. 2), S. 595 ff.; Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh (Fn. 198), S. 20 f.; → Holzleithner, § 13. 212 Vgl. Grünberger (Fn. 2), S. 530–534. 213 Vgl. Grünberger (Fn. 2), S. 565 f. 214 Vgl. Grünberger (Fn. 2), S. 858 f. 215 Vgl. BVerfGE 89, 276 (288 f.) – § 611a BGB (1993) (zu Art. 3 Abs. 2 GG) (Kriterium in einem „Motivbündel“); siehe auch OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.4.2016, 7 A 11108/14.OVG (Racial Profiling), Rn. 107; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 17.8.2018, 5 A 294/16 (Racial Profiling), Rn. 54. 216 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021, 1 BvR 1541/20, Rn. 94 – Triage („Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung […], also von Unterscheidungen mit benachteiligender Wirkung“; Hervorhebung hinzugefügt). Mathias Hong
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pe auswirken, deren Ungleichbehandlung durch ein besonderes Diskriminierungsverbot untersagt ist. Für das Unionsrecht war eine solche materiale Ausrichtung des Antidiskriminierungsrechts, die auch mittelbare Diskriminierungsverbote einschließt, von Anfang an kennzeichnend.217 Für Art. 3 Abs. 3 GG entspricht dies der Aussage im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Versorgungsabschlag bei Teilzeitbeamten, wonach es an dieser Vorschrift zu messen ist, „wenn der vom Gesetzgeber gewählte […] sachliche Anknüpfungspunkt in der gesellschaftlichen Wirklichkeit weitgehend nur für eine Gruppe zutrifft, oder die differenzierende Regelung sich weitgehend nur auf eine Gruppe im Sinne einer faktischen Benachteiligung auswirkt, deren Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 GG strikt verboten ist (mittelbare Diskriminierung)“.218 Auch für Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hat das Gericht dies seit dem Beschluss zum Wahlrechtsausschluss von Betreuten bekräftigt, nach dem das Verbot der Benachteiligung wegen der Behinderung als Abwehrrecht „auch mittelbare Benachteiligungen“ erfasst, „bei denen sich der Ausschluss von Betätigungsmöglichkeiten nicht als Ziel, sondern als Nebenfolge einer Maßnahme darstellt“.219 Ob unmittelbare oder mittelbare Diskriminierungen rechtfertigungsfähig sind und welche Anforderungen an eine solche Rechtfertigung zu stellen sind, ist eine Frage der Abwägung der betroffenen Grundsatznormen,220 bei der es von der Kollisionslage zwischen den betroffenen Grundrechten und sonstigen Rechtsgütern abhängt, ob sich einzelfallübergreifende abwägungsfeste Rechtspositionen ermitteln lassen oder eine Einzelfallabwägung maßgeblich bleiben muss. Sind abwägungsfeste Kerngehalte der Gleichheitsrechte betroffen, etwa unter dem Grundgesetz ihr Menschenwürdegehalt (Art. 79 Abs. 3 GG) oder Wesensgehalt (Art. 19 Abs. 2 GG) oder unter der Grundrechtecharta ihre Essenz („essence“) nach Art. 52 Abs. 1 GRCh,221 so scheidet entweder eine Rechtfertigung schon von vornherein aus oder aber die Rechtfertigung scheitert (ergebnisgleich) jedenfalls am kategorischen Vorrang des Rechts in der Kollision.222
217 Vgl. nur EuGH, Urt. v. 13.7.1989, Rs. C-171/88, Rinner-Kühn, Rn. 11 f.; EuGH, Urt. v. 23.10.2003, Rs.
C-4/02 und C-5/02, Schönheit und Becker, Rn. 67–73; Baer/Markard (Fn. 57), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 345. Vgl. auch BVerfGE 109, 64 (89) – Mutterschaftsgeld (2003) (unter ausdrücklichem Verweis auf völker- und europarechtliche Pflichten; vgl. dazu Grünberger (Fn. 2), S. 301); BVerfGE 126, 29 (53 f.) – Kliniken-Privatisierung Hamburg (2010) (zur „Rechtsentwicklung im Europarecht“ mit den dortigen Nachweisen); sowie die Zusammenstellung der EuGH-Rechtsprechung zur mittelbaren Diskriminierung in BVerfGE 154, 17 (113 f. Rn. 148) – PSPP (2020). 218 Vgl. BVerfGE 121, 241 (254 f.) – Versorgungsabschlag Teilzeitbeamte (2008). 219 Vgl. BVerfGE 151, 1 (24) – Wahlrechtsausschluss Betreute (2019). Siehe auch BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021, 1 BvR 1541/20, Rn. 93 – Triage, Rn. 93; sowie die Kammerentscheidung BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18, Rn. 42 – Blindenführhündin (Stattgabe). 220 Zur Abwägung von Grundsatznormen siehe oben Fn. 11; Hong (Fn. 11), Kap. 6 und 7. 221 Zur „essence“ der Grundrechte der Charta siehe Lenaerts (Fn. 71), S. 779 ff. 222 Zur normtheoretischen Rekonstruktion der Äquivalenz dieser beiden Möglichkeiten in einem Modell der Grundsatznormen siehe näher Hong (Fn. 11), S. 168–172. Mathias Hong
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Auch außerhalb solcher Kerngehalte können Rechtfertigungsschwellen, wie etwa ein Mindestgewicht der rechtfertigenden Belange oder eine Mindestwahrscheinlichkeit223 ihrer Bedrohung, umso eher zu wahren sein, je schwerwiegender die Ungleichbehandlung ist und je stärker die Gründe für ihre einzelfallübergreifende Geltung sind. So hat das Bundesverfassungsgericht für unmittelbare Diskriminierungen zu Recht eine Rechtfertigung jenseits zwingender biologischer Unterschiede allenfalls durch kollidierendes Verfassungsrecht, also durch Grundrechte Dritter oder sonstige Rechtsgüter von Verfassungsrang, für möglich erachtet.224 Auch für die Rechtfertigung mittelbarer Diskriminierungen werden mindestens Gründe „von erheblichem Gewicht“ zu fordern sein.225 c) Gleichheitsgrundrechtliche Förderaufträge, Schutzaufträge und Schutzpflichten – Schutz vor struktureller Diskriminierung und Ermächtigung zu proaktiver Gleichstellung
149 Die Gleichheitsgrundrechte ermächtigen auch zu proaktiven Gleichstellungsmaßnahmen,
wobei sie das Ob und Wie solcher Maßnahmen der demokratischen Entscheidung grundsätzlich der jeweiligen normsetzenden Gewalt überlassen. Ob eine solche nachteilsausgleichende Maßnahme unter bestimmten Voraussetzungen als gerechtfertigte Ungleichbehandlung oder, wie im Unions- und Völkerrecht nicht selten vorgesehen, schon nicht als tatbestandliche Diskriminierung eingestuft wird,226 kann dabei, je nach Ausgestaltung dieser Voraussetzungen, ergebnisäquivalent sein.
223 Vgl. für Versammlungsuntersagungen die aus Art. 8 GG abgeleitete Eingriffsschwelle einer hohen
Wahrscheinlichkeit der Gefährdung wichtiger (im Wesentlichen nur elementarer) Rechtsgüter nach BVerfGE 69, 315 (352–354, 360–362) – Brokdorf (1985); dazu näher Hong, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, B Rn. 57, 71 ff. 224 Vgl. BVerfGE 85, 191 (207 ff.) – Nachtarbeit (1992); BVerfGE 114, 357 (364) – Aufenthaltserlaubnis (2005). 225 Vgl. BVerfGE 132, 72 (98 Rn. 58) – Elterngeld (für mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts, die „nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ebenfalls strengen Rechtfertigungsanforderungen“ unterliege und ausnahmsweise durch sonstige Sachgründe zu rechtfertigen sein „mag“, „die jedoch von erheblichem Gewicht sein müssten“); Baer/Markard (Fn. 57), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 434 („Für mittelbare Diskriminierungen wegen der Rasse oder Religion sollte nichts anderes gelten.“). Siehe auch die Kammerentscheidung BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18, Rn. 42 – Blindenführhündin (Stattgabe) (zu mittelbaren Diskriminierungen wegen der Behinderung: „es sei denn, die betreffenden Vorschriften sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich“; sowie aus der Senatsrechtsprechung: BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021, 1 BvR 1541/20, Rn. 93 – Triage (ohne Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung insoweit: „[e]ine rechtliche Schlechterstellung von behinderten Menschen ist nur dann zu rechtfertigen, wenn sie unerlässlich ist, um behindertenbezogenen Besonderheiten Rechnung zu tragen“; BVerfGE 126, 29 (54) – Kliniken-Privatisierung Hamburg (2010) (zu mittelbarer Diskriminierung wegen des Geschlechts: „wenn sie auf hinreichenden sachlichen Gründen beruht, die nichts mit der geschlechtsbezogenen Benachteiligung zu tun haben“, unter Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH). Siehe auch Grünberger (Fn. 2), S. 656 ff. 226 In nachteilsausgleichenden positiven Maßnahmen schon keine tatbestandliche Benachteiligung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG sehend: Baer/Markard (Fn. 57), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 419 (unter Verweis unter anderem auf Art. 23 Abs. 2 GRCh, Art. 157 Abs. 4 AEUV, Art. 1 Abs. 4 ICERD und Art. 4 Abs. 1 CEDAW). Mathias Hong
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In dem antidiskriminierungsrechtlichen „Dilemma der Differenz“,227 das darin besteht, 150 dass es zur Bekämpfung vorhandener Diskriminierung sinnvoll oder sogar geboten sein kann, an diejenigen Kriterien, deren Bedeutung eigentlich überwunden werden soll, anzuknüpfen, kann die gesetzgebende Gewalt zu der Überzeugung gelangen, dass auch eine aktive Förderung bestimmter diskriminierter Gruppen erforderlich ist. Solange Diskriminierungen, insbesondere auch durch diskriminierende gesellschaftli- 151 che Strukturen, ihre Wirkung entfalten, kann eine „merkmalsblinde“ (etwa eine „farbenblinde“, „rassenblinde“228 oder „geschlechtsblinde“) Rechtsordnung eine verfrühte und problematische Flucht vor den gesellschaftlichen Realitäten bedeuten.229 Um die Kategorisierungen überwinden zu können, müssen wir sie, wenn sie faktisch 152 wirksam bleiben, zunächst berücksichtigen.230 Wenn man sich selbst unter solchen Bedingungen mit einer solchen Gruppe (etwa von „Nichtweißen“) identifiziert, weil man mit anderen gemeinsame Diskriminierungserfahrungen teilt, die gerade auf Zuschreibungen von außen zurückgehen, um dafür Solidarität zu erfahren und zu mobilisieren – dann muss das gerade keine Essentialisierung einer solchen Identität bedeuten.231 227 Baer/Markard (Fn. 57), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 374, 440 f., 471; Mangold (Fn. 14), S. 343 ff.; Grün-
berger (Fn. 2), S. 711 (Paradox der Gleichheit).
228 Vgl. US Supreme Court, Schuette v. Coalition to Defend Affirmative Action, 572 U. S. 291, 380–381
(2014), Justice Sotomayor, dissenting (joined by Justice Ginsburg) („Race matters. […] Race […] matters because of persistent racial inequality in society […]. […] Race matters because of the slights, the snickers, the silent judgments that reinforce that most crippling of thoughts: ‚I do not belong here.‘ […] The way to stop discrimination on the basis of race is to speak openly and candidly on the subject of race, and to apply the Constitution with eyes open to the unfortunate effects of centuries of racial discrimination. […]“); US Supreme Court, Gratz v. Bollinger, 539 U. S. 244, 298–302 (2003), Justice Ginsburg, dissenting (joined by Justices Souter and Breyer) („[G]overnment decisionmakers may properly distinguish between policies of exclusion and inclusion. […] For, as insightfully explained, ‚[t]he Constitution is both color blind and color conscious […]. […] [T]he Constitution is color conscious to prevent discrimination being perpetuated and to undo the effects of past discrimination.‘ United States v. Jefferson County Bd. of Ed., 372 F.2d 836, 876 (CA5 1966) (Wisdom, J.)“). 229 Vgl. (im Kontext der Debatte über die Ersetzung des Begriffs der „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 GG) Hong, „Rasse“ im Parlamentarischen Rat und die Dynamik der Gleichheitsidee seit 1776 (Teil I), Verfassungsblog v. 20.7.2020 (sowie die dort nachgewiesenen weiteren vier Teile des Beitrags). 230 Vgl. US Supreme Court, Regents of University of California v. Bakke, 438 U. S. 265, 407 (1978), Justice Blackmun, concurring in part and dissenting in part („In order to get beyond racism, we must first take account of race. There is no other way. And in order to treat some persons equally, we must treat them differently.“); Grünberger (Fn. 2), S. 711. Zur Diskussion um „postkategoriale“ Ansätze im Antidiskriminierungsrecht vgl. Mangold (Fn. 14), S. 335 ff.; siehe auch Hong (Fn. 8), S. 85, 315–317; ders. (Fn. 72); Liebscher (Fn. 133). 231 Vgl. etwa die dezidiert anti-essentialistische Konzeption von „blackness as an emancipatory tool“ in: Shelby, We Who Are Dark, 2007, S. 3 f. („This defense is forthrightly anti-essentialist.“; „I will argue that it is possible to dispense with the idea of race as a biological essence and to agree with the critics of identity politics about many of its dangers and limitations, while nevertheless continuing to embrace a form of blackness as an emancipatory tool.“); siehe mit Nachweisen zur Debatte auch van Dyk, Identitätspolitik gegen ihre Kritik gelesen, Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (2019), S. 25 (29) (Diskriminierung kann „nur schwer ohne Rückbezug auf die in der Abwertung zugewiesene Differenz sichtbar gemacht werden“; „Wie mit diesem Dilemma umzugehen ist, […] ist – entgegen dem Vorwurf, Identitätspolitik essenzialisiere generell Unterschiede – kontrovers debattiert worden.“). Mathias Hong
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Solange etwa Frauen, wie derzeit, in vielen Bereichen strukturell benachteiligt werden, bedeuten Maßnahmen der Frauenförderung keine Privilegierung von Frauen, sondern können beispielsweise dazu beitragen, dass „nicht länger schlechtere Männer Frauen vorgezogen werden“: „Gleichberechtigung haben wir erst, wenn mittelmäßige Frauen in gleich hohen und gut bezahlten Positionen landen wie mittelmäßige Männer.“232 154 Für Art. 3 Abs. 2 GG hat das Bundesverfassungsgericht deshalb zu Recht bereits vor Einfügung des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG auch ein Gleichberechtigungsgebot abgeleitet, das sich „auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt“ und es von Grundrechts wegen erlaubt, „[f ]aktische Nachteile, die typischerweise Frauen treffen“, durch begünstigende Regelungen auszugleichen.233 155 Das ist aber richtigerweise keine Besonderheit allein des Verbotes der Diskriminierung wegen des Geschlechts, sondern gilt für alle besonderen Diskriminierungsverbote.234 Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hat das Bundesverfassungsgericht dementsprechend zu Recht außer dem abwehrrechtlichen Verbot unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligungen (im engeren Sinne) zunächst einen Förderauftrag abgeleitet, der einen „Anspruch auf die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe nach Maßgabe der verfügbaren finanziellen, personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten“ einschließt,235 sodann in der Triage-Entscheidung von 2021 auch einen grundrechtlichen Schutzauftrag, der sich unter bestimmten Bedingungen zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten kann.236 Es hat drei solcher „Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit“ benannt, in denen aus dem Schutzauftrag eine Schutzpflicht werden kann: Erstens „die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung von Personen“, zweitens Benachteiligungen, die mit „Gefahren für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter“ wie Leben und Gesundheit einhergehen sowie drittens „Situationen struktureller Ungleichheit“.237 Für die anderen Benachteiligungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG kann konsequenterweise nichts anderes gelten.238 Als strukturelle Diskriminierung können dabei dauerhafte Benachteiligungen von Gruppen verstanden werden, die sich, „unabhängig von individuellen Vorurteilen 153
232 Vgl. Sacksofsky, Positive Maßnahmen und Verfassungsrecht, ZESAR 2004, S. 208 (213); Mangold
(Fn. 14), S. 300.
233 Vgl. BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeitsverbot (1991); vgl. auch Grünberger (Fn. 2), S. 298, dazu,
dass das Gericht damit § 611a a. F. BGB (zur Geschlechtergleichbehandlung am Arbeitsplatz) „nachträglich verfassungsrechtlich ‚adoptiert‘“ hatte. Vgl. ferner, Schutzpflichten aus Art. 3 Abs. 2 GG bejahend: BVerfGE 89, 276 (285–287) – § 611a BGB (1993) („Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 2 GG“); BVerfGE 109, 64 (89 f.) – Mutterschaftsgeld (2003) („Schutzauftrag“); vgl. Grünberger (Fn. 2), S. 961 (mit Fn. 266), m. w. N. zur Diskussion. 234 Vgl. auch Mangold (Fn. 14), S. 300 ff. (zu Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG). 235 Vgl. BVerfGE 151, 1 (24 f.) – Wahlrechtsausschluss Betreute (2019); BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021, 1 BvR 1541/20, Rn. 94 – Triage; sowie die Kammerentscheidung BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18, Rn. 56 – Blindenführhündin (Stattgabe). 236 BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021, 1 BvR 1541/20, Rn. 97 – Triage; vgl. Hong, Die Corona-Triage und das Verbot der Diskriminierung wegen der Behinderung als Schutzpflicht, Verfassungsblog v. 30.12.2021. 237 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021, 1 BvR 1541/20, Ls. 2, Rn. 97 und 109 – Triage. 238 Vgl. Hong (Fn. 236). Mathias Hong
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oder negativen Absichten“,239 „auf überindividuelle Sachverhalte wie Normen, Regeln und Routinen sowie kollektiv verfügbare Begründungen“240 zurückführen lassen.241 Ein solches Verständnis der Gleichheitsgrundrechte als materiale Gewährleistungen, 156 die auch Förderaufträge, Schutzaufträge und Schutzpflichten einschließen, fügt sich auch zu der allgemeinen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den grundrechtlichen Schutzpflichten. Wenn solche Schutzpflichten, wie das inzwischen zu Recht weithin anerkannt ist, aus allen Grundrechten folgen,242 dann können sie nicht ausgerechnet für die Gleichheitsgrundrechte verneint werden. Es muss sich dementsprechend auch auf den Schutz der Gleichheitsgrundrechte erstrecken, wenn das Gericht festhält, dass „die Grundrechte“ (also nicht nur bestimmte, sondern alle Grundrechte) die öffentliche Gewalt „verpflichten […], dafür zu sorgen, dass sie – unabhängig von individueller Betroffenheit – in der Wirklichkeit wirtschaftlichen und sozialen Lebens nicht leerlaufen“, und dass sie „insoweit Grundlage […] staatlicher Schutzpflichten“ sind.243 3. Privatautonomie und mittelbare Drittwirkung der Gleichheitsgrundrechte als objektive Wertentscheidungen im Privatrecht
Das unionsrechtliche Antidiskriminierungsrecht regelt zentral auch Diskriminierungen 157 unter Privaten, etwa im Arbeitsrecht von Unternehmen gegenüber ihren Beschäftigten. Eine vieldiskutierte Frage in diesem Bereich ist es, ob oder wie weit die Gleichheitsgrundrechte im Wege der mittelbaren Drittwirkung244 die zivilrechtliche Privatautonomie begrenzen können. Gerade hier werden oft die Grundwerte Freiheit und Würde einerseits dem Grundwert der Gleichheit andererseits antipodisch gegenüberstellt.245 Diese Entgegensetzung verkennt aber auch hier die Verflochtenheit von Würde, Freiheit und Gleichheit. 239 Vgl. (dort zu institutioneller Diskriminierung) Gomolla, Direkte und indirekte, institutionelle und
strukturelle Diskriminierung, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 133 (134). 240 Vgl. (zu institutioneller Diskriminierung) Hasse/Schmidt, Institutionelle Diskriminierung, in: Bauer/ Bittlingsmayer/Scherr (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie, 2012, S. 883 (883). 241 Vgl. eingehend dazu Markard, Struktureller und institutioneller Rassismus, in: Froese/Thym (Hrsg.), Grundgesetz und Rassismus, 2022, im Erscheinen. 242 Vgl. BVerfGE 117, 202 (227) – Vaterschaftsfeststellung (2007) („Die Grundrechte […] stellen Wertentscheidungen der Verfassung dar, aus denen sich Schutzpflichten für die staatlichen Organe ergeben.“); BVerfGE 125, 39 (78) – Sonn- und Feiertagsschutz (2009) („Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erschöpft sich der Grundrechtsschutz nicht in seinem klassischen Gehalt als subjektives Abwehrrecht. Aus Grundrechten ist vielmehr auch eine Schutzpflicht des Staates für das geschützte Rechtsgut abzuleiten […]“) (Hervorhebungen hinzugefügt). Zum Streit im Schrifttum darüber, ob aus Art. 3 GG Schutzpflichten folgen, vgl. (mit Nachweisen) Grünberger (Fn. 2), S. 301 ff., 312. 243 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.4.2021, 2 BvR 206/14, Rn. 64 – Tierarzneimittelzulassung; siehe auch zur EMRK und zur Charta: Rn. 65 (die EMRK verbürge „auch Gewährleistungs- und Schutzpflichten“) und Rn. 66 („aus den Grundrechten der Charta [werden] – soweit sie nicht horizontal anwendbar sind […] – Prinzipien abgeleitet, aus denen gegebenenfalls weitere (derivative) Ansprüche folgen“) (jeweils m. w. N.). 244 Zur Konstruktion der Drittwirkung siehe näher oben Fn. 64. 245 Siehe auch oben Rn. 12 ff. (A. III.). Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
a) Streit nicht über das „Ob“, sondern über das „Wie weit“ der Drittwirkung – Ableitung aus dem materialen Verständnis der Gleichheit und aus dem Schutzpflichtengedanken
Schon aus dem egalitären Menschenwürdekern der Grundrechte folgt eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte in das Privatrecht, wie schon oben am Beispiel des Sklavereiverbotes gezeigt wurde:246 Eigentum am Menschen kann es nicht geben. Ein solches privatrechtliches Institut wäre mit der Menschenwürde kategorisch unvereinbar und würde die Menschenwürdekerne der betroffenen Freiheits- wie Gleichheitsrechte verletzen. 159 Die Gleichheitsgrundrechte entfalten eine solche Drittwirkung aber nicht nur gegenüber einer solchen Zwangsinstitution. Sie begrenzen auch die wechselseitige Ausübung der Privatautonomie. Auf der Skala der möglichen Positionen in der Drittwirkungsdiskussion sind die Extrempositionen schon lange weithin unbesetzt. Einerseits sind Private nicht unmittelbar an identische Gleichheitsanforderungen gebunden, wie sie für Hoheitsträger gelten: Niemand will etwa aus dem Verbot der Diskriminierung wegen der „Rasse“ einen kategorischen Rechtszwang ableiten, einen Heiratsantrag anzunehmen.247 Andererseits wird aber auch die andere Extremposition inzwischen weithin abgelehnt: Kaum jemand tritt heute noch für eine gänzlich schrankenlose Privatautonomie ein. So erkannte schon Günter Dürig, ansonsten ein vehementer Verfechter einer „Präponderanz der Freiheit“, beispielsweise zu Recht an, dass ein Vater seine Tochter nicht für den Fall enterben dürfe, dass sie einen „Juden“ heiratet.248 160 Auch mit Blick auf die mittelbare Drittwirkung der Gleichheitsgrundrechte ist also richtigerweise nicht mehr über das „Ob“, sondern nur noch über das „Wie weit“ zu streiten. Sie schließt insbesondere reaktive Diskriminierungsverbote ein, die sich gegen private Diskriminierungen, etwa auch durch Belästigungen oder durch Anweisungen zu Diskriminierungen,249 richten können. 161 Den Gleichheitsgrundrechten eine mittelbare Drittwirkung auch gegenüber Privaten zuzusprechen, entspricht zum einen dem gebotenen materialen Verständnis der Gleichheit, das sich auch auf die tatsächlichen Voraussetzungen eines Status der Gleichheit und Freiheit aller richtet250 und deshalb im Privatrecht wirksame gesellschaftliche Statushierarchien nicht ausblenden kann. Es entspricht aber zum anderen der Schutzpflichtendimension der Grundrechte. So wie der Schutzpflichtengedanke alle Grundrechte betrifft und nicht ausgerechnet bei den Gleichheitsrechten bestritten werden kann,251 kann auch die mittelbare Drittwirkung, die sich grundrechtsdogmatisch wesentlich auch auf die Schutzpflichtendimension stützt,252 nicht ausgerechnet für die Gleichheitsrechte pauschal ver158
246 Siehe oben Rn. 41 ff. (B. II. 3.). 247 Vgl. zu diesem Beispiel Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2007, S. 235; Grünberger (Fn. 2),
S. 1010.
248 Vgl. Dürig, Grundrechte und Zivilrechtsprechung, in: FS Nawiasky, 1956, S. 157 (160); Grünberger
(Fn. 2), S. 254.
249 Zu den Verboten von Belästigungen und Anweisungen zu Diskriminierungen vgl. Mangold (Fn. 14),
S. 266 ff., 271 f.; Grünberger (Fn. 2), S. 666 f., 669.
250 Siehe oben Rn. 134 ff. (C. I. 2.). 251 Siehe oben Rn. 156 (C. I. 2.). 252 Siehe oben Fn. 64.
Mathias Hong
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neint werden. Die zentralen Aussagen des Lüth-Urteils beziehen sich auf alle Grundrechte, keineswegs nur auf die Freiheitsrechte: Das Grundgesetz, das „keine wertneutrale Ordnung sein will“, hat „in seinem Grundrechtsabschnitt“ durch seine wertentscheidenden Grundsatznormen253 ein Wertsystem aufgerichtet, das „als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts“ gelten „muss“: „Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.“254 Es fügt sich in diese zustimmungswürdige ständige Rechtsprechung, dass das Bundesverfassungsgericht dementsprechend in seiner Triage-Entscheidung von 2021 ausdrücklich klargestellt hat, dass auch das Verbot der Benachteiligung wegen der Behinderung aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als objektive Wertentscheidung auch auf das Privatrecht einwirkt und bei der Interpretation seiner auslegungsfähigen Normen zur Geltung zu bringen ist.255 Schon 2020 ging auch die Kammerentscheidung zur arbeitsrechtlichen Kündigung wegen einer rassistischen Äußerung zu Recht ohne weiteres von einer mittelbaren Drittwirkung auch des Verbots der Benachteiligung wegen der „Rasse“ nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG aus (das sich danach im Übrigen jedenfalls gerade auch „gegen rassistische Diskriminierung wendet“, so dass auch eine entsprechend Verfassungsänderung256 insoweit keine Änderung seiner Reichweite bewirken würde).257 Schon weil die Gleichheitsgrundrechte eine eigenständige Drittwirkung entfalten, können die privatrechtlichen Wirkungen des Antidiskriminierungsrechts keineswegs auf (zu) eng verstandene Auswirkungen der Grundrechte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder (gar) der Menschenwürde reduziert werden.258 Die mittelbare Drittwirkung der Gleichheitsgrundrechte trägt der Einsicht Rechnung, dass Privatautonomie immer nur als „Pluralität von Privatautonomien“ möglich ist, dass Vertragsfreiheit stets „eine soziale Dimension“ hat, „Freiheit der Person durch andere Personen“ ist, und 253 Vgl. zu dem in der späteren ständigen Rechtsprechung verwendeten Begriff der wertentscheidenden
Grundsatznormen, der zu Recht stärker (als der Begriff der objektiven Wertordnung) auf die maßgeblichen positivrechtlichen Entscheidungen abstellt, nur: BVerfGE 6, 55 (71) – Steuersplitting (1957); BVerfGE 23, 127 (134) – Zeugen Jehovas (1968); BVerfGE 30, 173 (188) – Mephisto (1971); BVerfGE 35, 79 (111) – Hochschulmitbestimmung (1973); BVerfGE 39, 1 (47) – Schwangerschaftsabbruch I (1975); BVerfGE 77, 170 (214) – Chemiewaffenlagerung (1987); BVerfGE 93, 85 (95) – Universitätsgesetz NRW (1995); BVerfGE 118, 45 (69) – Betreuungsunterhalt (2007); BVerfGE 130, 263 (299 Rn. 159) – Professorenbesoldung (2012). 254 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth (1958). 255 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021, 1 BvR 1541/20, Rn. 95 – Triage. 256 Vgl. Hong, „Rasse“ und Grundgesetz – Zur Debatte um den Rassebegriff in Artikel 3 Absatz 3 GG, in: Derin u. a. (Hrsg.), Grundrechte-Report 2021, 2021, S. 113 ff. 257 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 6 und 11 („im Lichte von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, der sich gegen rassistische Diskriminierung wendet“) – Kündigung wegen rassistischer Äußerung. Vgl. insbesondere auch zu diesen beiden Aspekten der Entscheidung (Drittwirkung und Verbot auch rassistischer Diskriminierungen) näher: Payandeh, Verfassungsgerichtliche Konturierung des Verbots rassistischer Diskriminierung, NVwZ 2021, S. 1830 ff. (m. w. N.). Zur Unvereinbarkeit gerade auch „auf rassistische Diskriminierung zielender Konzepte“ mit Menschenwürde und Art. 3 Abs. 3 GG siehe auch bereits BVerfGE 144, 20 (208 Rn. 541) – NPD (2017) (siehe oben Fn. 112). 258 Gegen eine solche Reduktion (mit Nachweisen auch zu den im Schrifttum stark vertretenen Gegenpositionen) Grünberger (Fn. 2), etwa S. 732, 741 und passim. Mathias Hong
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dass Märkte nicht verteilungsneutral sind, sondern an soziale Statusdifferenzierungen anschließen und sie perpetuieren.259 b) Prinzip personaler Gleichheit (Grünberger) – Ergebnisäquivalenz zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Stadionverbote) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Was die Konzeption der Drittwirkung betrifft, kann im Grundsatz das von Michael Grünberger aus einer umfassenden Sichtung des gesamten privatrechtlichen Antidiskriminierungsrechts260 entwickelte „Prinzip personaler Gleichheit“ zugrunde gelegt werden.261 Es geht von einer grundsätzlichen Begründungsbedürftigkeit auch privater Ungleichbehandlungen aus,262 modifiziert aber die Begründungsanforderungen gegenüber hoheitlichen Ungleichbehandlungen, weil für Private, anders als für die Hoheitsgewalt, in bestimmten Bereichen auch die („willkürliche“) Freiheitsausübung als solche („weil ich es so will“) eine hinreichende Begründung für eine Ungleichbehandlung sein kann.263 In Anlehnung an die neue Formel des Bundesverfassungsgerichts geht Grünberger von 163 der folgenden Rechtfertigungsskala aus: „Aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz ergeben sich daher je nach Regelungsbereich und Differenzierungsmerkmal unterschiedliche Grenzen für den ungleich Behandelnden, die von dem bloßen Hinweis auf die Ausübung von Freiheitsrechten über die Darlegung sachlicher Gründe und eine strenge Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse bis hin zum strikten Differenzierungsverbot reichen.“264 162
259 Grünberger (Fn. 2), S. 898 und 901; zur Schrifttumsdebatte um den grundrechtlichen Schutz der Ver-
tragsfreiheit vgl. ebd., S. 953 ff., m. w. N.
260 Vgl. etwa, die Summe aus einer eingehenden vorangehenden Sichtung von Regelungen und Diskus-
sionsständen ziehend, Grünberger (Fn. 2), S. 525: Die Erwartung, „nicht ohne sachlichen Grund ungleich behandelt zu werden“ haben: „die Arbeitnehmer im Unternehmen des Arbeitgebers […]; die Gesellschafter gegenüber den Organen der Gesellschaft; die Akteure auf dem Kapitalmarkt gegenüber Emittenten, Finanzintermediären, und Unternehmensanteilserwerbern; die Endverbraucher […] bzw. Unternehmen […] gegenüber marktmächtigen Unternehmen; die Gläubiger gegenüber der Gemeinschaft der Gläubiger im Insolvenzverfahren; der Vertragsnachfrager gegenüber dem Akteur, der seine Leistungen öffentlich anbietet; die Käufer einer beschränkten und teilweise untergegangenen Gattungsschuld gegenüber dem Verkäufer; die Beschenkten gegenüber dem Schenker; und schließlich die Erben gegenüber dem Erblasser.“ 261 Grünberger stützt seine Lesart des Antidiskriminierungsrechts dabei teils auch auf gerechtigkeitstheoretische Erwägungen im Sinne einer „kritischen Systemtheorie“; vgl. ders. (Fn. 2), S. 928 f. (Aufgabe juristischer Gerechtigkeit: Recht für die sozialen Zusammenhänge in anderen Teilsystemen zu sensibilisieren und Kontexte oder Sphären der Umweltgerechtigkeiten zu berücksichtigen), 1002 (Rückgriff auf Gerechtigkeitskonzeption); siehe aber auch ebd., S. 970 f. (Anwendungspositivismus, unter Verweis auf Auer). Soweit ihr hier gefolgt wird, wird davon ausgegangen, dass sie sich schon aus einer anwendungspositivistischen, subjektiv-historischen Auslegung (siehe dazu oben Rn. 6 [A. I.]) der jeweiligen Grundrechtsbestimmungen ableiten lässt. 262 Vgl. Grünberger (Fn. 2), S. 60. 263 Vgl. zu diesem zentralen Unterschied zwischen den Rechtfertigungsanforderungen an Private und an die Hoheitsgewalt: Grünberger (Fn. 2), S. 268, 825–827, 840 (Reservat der „Willkür“); die Rechtfertigungsanforderungen können insoweit also „auf Null“ reduziert sein (vgl. ebd., S. 827 f., 935: es wird „gar keine Rechtfertigung“ verlangt; siehe aber auch S. 849: nahezu Null). 264 Vgl. Grünberger (Fn. 2), S. 825 und 866. Mathias Hong
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Es gilt: „Je gleichheitssensitiver und freiheitsintensiver die Ungleichbehandlung ist, desto erheblicher werden die Prüfungsanforderungen.“265 Während das allgemeine Gleichbehandlungsgebot in diesem Sinne eine Rechtfertigung 164 durch sachliche Gründe verlangt, benennen die besonderen Diskriminierungsverbote Gründe, die eine Ungleichbehandlung grundsätzlich nicht rechtfertigen können.266 Der Ausschluss über den bloßen Verweis auf die Privatautonomie hinausgehender Begründungsanforderungen an dem unteren Ende der Grünbergerschen Rechtfertigungsskala ist dabei funktional äquivalent267 mit einer partiellen Verneinung der mittelbaren Drittwirkung für den jeweiligen Bereich.268 So verstanden besteht auch Ergebnisgleichheit269 zu dem Verständnis der mittelbaren 165 Drittwirkung des Art. 3 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In der Stadionverbote-Entscheidung von 2018 hat das Gericht entschieden, dass es zwar „grundsätzlich“ zur Freiheit jeder Person gehört, „mit wem sie unter welchen Bedingungen Verträge abschließen will“, dass sich aber aus dem allgemeinen Gleichheitssatz „für spezifische Konstellationen“ im Wege mittelbarer Drittwirkung gleichheitsrechtliche Anforderungen ergeben können.270 Diese spezifischen Konstellationen, in denen besondere gleichheitsrechtliche Anforderungen greifen, können auch Fälle gestörter Vertragsparität umfassen,271 die Drittwirkung der Gleichheitsgrundrechte erschöpft sich darin aber richtigerweise nicht.272 Die Anwendung der Grünbergerschen Rechtfertigungsskala kann als Begründungsmethode für die Beantwortung der Frage verstanden werden, unter welchen Voraussetzungen solche „spezifische[n] Konstellationen“ zu bejahen sein können. 265 Vgl. Grünberger (Fn. 2), S. 828. 266 Vgl. Grünberger (Fn. 2), S. 749. 267 Zur Ergebnisäquivalenz vgl. auch Grünberger (Fn. 2), S. 453 (zum Lauterkeitsrecht: „Methodisch
kann man dieses Ergebnis auf zwei Wegen erreichen: (1.) Man negiert bereits im Ausgangspunkt eine Pflicht zur Gleichbehandlung. (2.) Man geht davon aus, dass die Vertragsfreiheit als sachlicher Grund eine Ungleichbehandlung ohne weiteres rechtfertigen kann.“); vgl. auch ebd., S. 455. 268 Vgl. auch Mangold (Fn. 14), S. 424 (mit Fn. 306), die eine allgemeine Gleichheitspräsumtion ablehnt, aber auch darauf verweist, dass Grünberger die Reichweite seines Grundsatzes durch die abgestuften Rechtfertigungsanforderungen „wieder ein[fängt]“. 269 Vgl. auch Grünberger, Warum der Stadionverbots-Beschluss weit mehr ist als nur Common Sense, Verfassungsblog v. 1.5.2018: „Der Beschluss bestätigt die These, dass man jedenfalls verfassungsrechtlich differenzieren kann zwischen solchen Ungleichbehandlungen, deren Rechtfertigungsanforderungen bei ‚null‘ liegen und solchen, in denen die Ungleichbehandlung mit einem sachlichen Grund gerechtfertigt werden muss, der sich nicht mehr in der Ausübung privater Autonomie erschöpfen kann.“ 270 Vgl. BVerfGE 148, 267 (283 f. Rn. 40 f.) – Stadionverbot (2018); BVerfG, Beschl. v. 22.5.2019, 1 BvQ 42/19, Rn. 15 – III. Weg; BVerfG, Beschl. v. 27.8.2019, 1 BvR 879/12, Rn. 7 – Hausverbot Wellness-Hotel. Siehe auch BVerfGE 99, 341 (353, 355–358) – Testierausschluss (wonach der generelle Ausschluss schreibunfähiger stummer Menschen von jeder Testiermöglichkeit nicht nur die Testierfreiheit aus Art. 14 Abs. 1 GG, sondern auch Art. 3 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt; siehe zu dieser Entscheidung auch Grünberger (Fn. 2), S. 947 f.). 271 Vgl. BVerfGE 81, 242 (254–256) – Handelsvertreter (1990); BVerfGE 89, 214 (231–235) – Bürgschaft (1993); BVerfGE 114, 1 (34 f.) – Lebensversicherung (2004) („Privatautonomie setzt voraus, dass die Bedingungen der Selbstbestimmung des Einzelnen auch tatsächlich gegeben sind.“). 272 Vgl. Grünberger (Fn. 2), S. 926, 938 f., 978 f. Mathias Hong
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Auch die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Recht angenommene Drittwirkung des Art. 14 EMRK273 lässt sich so rekonstruieren. 166 Die juristische Begründung der näheren Anwendung der Rechtfertigungsskala kann als Abwägung zwischen Grundsatznormen rekonstruiert werden, in der die Kollision zwischen den prima facie jeweils weiterreichenden Gleichheits- und Freiheitsbelangen, die für oder gegen hohe Begründungsanforderungen sprechen, aufgelöst wird. Soweit der in diesem Sinne begründungsfreie Bereich anhand einzelfallübergreifender, abwägungsfester Kriterien angegeben werden kann, etwa weil er (wie in dem Beispiel der Ablehnung eines Heiratsantrags274) zum absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung zu zählen ist, führt die Abwägung der entsprechenden Grundsatznormen zum Ergebnis einer Verneinung der Drittwirkung (oder, funktional äquivalent, zum Eingreifen der niedrigsten Stufe der Grünbergerschen Rechtfertigungsanforderungen). II. Demokratie: Das Recht auf Demokratie und politische Gleichheit als zentrale Ausprägung von Würde, Freiheit und Gleichheit 167
Wie verhält sich der Grundwert der Demokratie zu denen der Würde, der Freiheit und der Gleichheit? Nach dem hier vorgeschlagenen viergliedrigen Modell dieser Werte steht die Demokratie nicht in einem Gegensatz zu den anderen drei Grundwerten, sondern konkretisiert sie: Das Grundrecht auf demokratische Teilhabe ist eine zentrale Ausprägung von Würde, Freiheit und Gleichheit. 1. Grundrecht auf Demokratie und demokratische Grenzen der Mehrheitsherrschaft
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In einer traditionsreichen Entgegensetzung werden Demokratie und Grundrechte im Konflikt miteinander gesehen: Die Grundrechte begrenzen danach die Demokratie als rechtsstaatliche Sicherungen von Freiheit und Gleichheit.275 Daran ist zweifellos richtig, dass Grundrechte die demokratische Mehrheitsherrschaft der verfassten Gewalten, vor allem des Parlaments, einschränken. Diese grundrechtlichen Schranken der Mehrheitsherrschaft sind jedoch, recht besehen, selbst eine Konsequenz demokratischer Gleichheit.
273 Vgl. mit weiten Formulierungen EGMR, Urt. v. 13.7.2004, Beschwerde-Nr. 69498/01, Pla and Puncernau v. Andorra, Rn. 59 („it cannot remain passive where a national court’s interpretation of a legal act, be it a testamentary disposition, a private contract, a public document, a statutory provision or an administrative practice appears unreasonable, arbitrary or, as in the present case, blatantly inconsistent with the prohibition of discrimination established by Article 14 and more broadly with the principles underlying the Convention“). Zu dieser Entscheidung vgl. näher Grünberger (Fn. 2), S. 506 f. (der betont, dass der Gerichtshof, ebd. Rn. 58, ausdrücklich ausführt, dass die Erblasserin den Erben ausdrücklich hätte ausschließen können), siehe auch ebd., S. 513. 274 Siehe oben Fn. 247. 275 Vgl. etwa Böckenförde, Ist Demokratie eine notwendige Forderung der Menschenrechte? (1998), in: ders., Staat, Nation, Europa, 2000, S. 246 ff. (wo auch die Gegenposition erwogen, aber letztlich abgelehnt wird, vgl. S. 253 f.).
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a) Die antimajoritären Konsequenzen demokratischer Gleichheit – und der egalitäre Menschenwürdekern des Wahlrechts
In einem ersten Schritt ergeben sich grundrechtliche Grenzen der Mehrheitsherrschaft schon aus dem Gedanken der demokratischen Mehrheitsherrschaft selbst: Als Mehrheitsherrschaft auf Zeit, bei der die Minderheit die Chance behält, selbst zur Mehrheit zu werden, setzt sie voraus, dass die Mehrheit nicht alles darf, sondern Grundrechte respektieren muss, die für die Demokratie konstitutiv sind, wie die Wahlfreiheit, die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit. Demokratie ist also kein selbstwidersprüchlicher Grundwert, der seiner Selbstabschaffung die Hand reicht. So wäre es etwa mit dem Grundwert der Demokratie unvereinbar, einer Mehrheit das Recht zuzubilligen, einer besonders beliebten Person („Sarah“) in Wahlen künftig das zehntausendfache Stimmgewicht zuzubilligen276 oder (weniger fiktional), künftig nur noch „Arier“, nicht aber „Nicht-Arier“ als stimmberechtigt anzuerkennen. Das Mehrheitsprinzip verdankt deshalb seine Legitimität letztlich nicht selbst einer Mehrheitsentscheidung: Es liegt der demokratischen Selbstgesetzgebung zugrunde und voraus, weshalb es nicht ohne Selbstwiderspruch zugleich als für diese Gesetzgebung verfügbar gedacht werden kann. Demokratie beruht auf dem Gedanken eines für alle gleichen und unveräußerlichen Rechts auf Herrschaftsteilhabe, das letztlich in der gleichen Würde aller wurzelt.277 Der Menschenwürdekern des Rechts auf Demokratie schließt deshalb einen Mindeststandard gleicher Freiheit278 mit ein, der beispielsweise durch eine Abschaffung des Frauenwahlrechts selbst dann verletzt würde, wenn sich dafür eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit finden würde. Der egalitäre Menschenwürdekern des Grundrechts auf Demokratie hat also gerade auch eine antimajoritäre Stoßrichtung – wie das gesamte Antidiskriminierungsrecht, das gerade auch Recht zum Schutz vulnerabler Gruppen und strukturell benachteiligter Menschen ist. Die Grundrechtedemokratie vertraut zwar auf die Kraft der demokratischen Deliberation und des besseren Arguments, weiß aber um die Fragilität der faktischen Voraussetzungen für deren Durchsetzung und errichtet deshalb, etwa mit Erfordernissen von Supermajoritäten und mit der Einrichtung gerichtlicher Grundrechtskontrolle des Gesetzgebers, Sicherungsmechanismen, um den Status gleicher Würde und Freiheit aller als Voraussetzung der Demokratie notfalls auch vor Mehrheitsstimmungen in Schutz zu nehmen. Auch insoweit sollte nicht das „Ob“ von Grenzen der Mehrheitsherrschaft im Streit stehen, sondern nur noch das „Wie weit“.
276 In Anlehnung an die Beispiele bei Dworkin, A Matter of Principle, 1986, S. 361 f. (dort zur Utilitaris-
mus-Debatte).
277 Vgl. Hong (Fn. 8), S. 61–63. 278 Zum Mindeststandard gleicher Freiheit als egalitärem Menschenwürdekern der Freiheitsrechte siehe
oben Rn. 31 ff. (B. II.).
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b) Gleichursprünglichkeit von Demokratie und Menschenrechten
Nimmt man die Verbindung zwischen Demokratie und Grundrechten genauer in den Blick, zeigt sich im zweiten Schritt, dass sie sogar noch tiefer reicht: Nicht jede beliebige Mehrheitsbildung kann ausreichen, sondern nur eine solche, bei der alle in ihrem grundlegenden Status als Freie und Gleiche anerkannt bleiben, den der Menschenwürdekern der Grundrechte verbürgt. 175 Eine Wahl etwa, bei der die Meinungsfreiheit zwar formal für alle gewährleistet ist, bei der gleichzeitig aber bestimmte Bevölkerungsgruppen willkürliche hoheitliche oder private Gewalt gegen ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit fürchten müssen, könnte nicht beanspruchen, eine freie demokratische Wahl zu sein. 176 Aus der Menschenwürde auch ein Grundrecht auf Demokratie abzuleiten, wie es das Bundesverfassungsgericht zu Recht tut,279 trägt der Einsicht Rechnung, dass Demokratie und die anderen Menschenrechte gleichursprünglich280 sind: Sie wurzeln gemeinsam in der gleichen Würde aller, die nicht nur die private, sondern auch die öffentliche (politische) Autonomie aller schützt.281 177 Wie kann ein Grundrecht auf Demokratie aber in der Menschenwürde verwurzelt sein, wenn zentrale demokratische Rechte jedenfalls nach verbreiteter Auffassung doch die Staatsangehörigkeit voraussetzen? Zum einen umfasst ein Menschenrechtskern des Grundrechts zumindest die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung,282 etwa durch freie Rede und Versammlungen. Zum anderen richtet es sich, wenn nicht sogar unmittelbar,283 dann doch zumindest mittelbar auch auf stärkere demokratische Teilhaberechte: Das Menschenrecht auf Demokratie muss jedenfalls auch über die Brücke eines Menschen174
279 Siehe oben Rn. 77 ff. (B. IV. 2. a)). 280 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 133 ff. (135: „Gleichursprünglichkeit von privater und
öffentlicher Autonomie“) und passim; Rawls, Erwiderung auf Habermas, in: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Hinsch (Hrsg.), Zur Idee des politischen Liberalismus, 1997, S. 196 ff. (229 f.: „die alten und die modernen Freiheiten [sind] gleichursprünglich und gleichwertig“; „die Freiheiten der öffentlichen und der privaten Autonomie werden nebeneinander ohne Rangordnung durch den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz festgelegt); Allen, Politische Gleichheit, 2020, S. 51 ff. (auch zur Debatte zwischen Rawls und Habermas und zu gegenläufigen Passagen bei Rawls, die der von ihm grundsätzlich befürworteten Gleichrangigkeit der Freiheiten der Alten und der Modernen zuwiderlaufen). 281 Wie unter dem Grundgesetz (dazu näher Hong (Fn. 8), S. 406 f.) gilt dabei auch auf den anderen Ebenen des Diskriminierungsschutzes, dass Autonomie zwar, soweit die geistigen Fähigkeiten dazu vorhanden sind, ein zentraler Schutzgegenstand der Menschenwürde ist, nicht aber eine Voraussetzung der Würde, die vielmehr allen Menschen schon kraft ihres Menschseins zukommt. 282 Vgl. die Nachweise oben Fn. 108. 283 Vgl. Mangold (Fn. 14), S. 404 (unter Verweis auf Farahat, Progressive Inklusion, 2014); Mangold geht davon aus, dass das demokratische Mitspracherecht der von den Auswirkungen politischer Entscheidungen Betroffenen das Recht auf Teilhabe auch durch Wahlen zwar „nicht notwendig“ einschließt, aber eine solche Erweiterung doch „nachdrücklich nahe[legt]“). Siehe auch die starken Argumente der abweichenden Meinung der Richterin Sacksofsky für eine Vereinbarkeit eines Wahlrechts für Nichtdeutsche mit dem Demokratieprinzip (und dem Volksbegriff ) des Grundgesetzes in: BremStGH, Urt. v. 31.1.2014, St 1/13, abweichende Meinung Sacksofsky, Rn. 75 ff.; für ein Konzept politischer Gleichheit, das partielle, auf bestimmte Ebenen beschränkte Teilhaberechte (wie etwa ein auf die kommunale Ebene beschränktes Wahlrecht) vorsieht („Polypolitanismus“) vgl. Allen (Fn. 280), S. 175–188. Mathias Hong
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rechts auf Erlangung der Staatsbürgerschaft verwirklicht werden,284 das allen auf Dauer der Herrschaft einer nationalen Hoheitsgewalt unterworfenen Menschen die Chance verbürgt, die Staatsbürgerschaft erwerben zu können. Mit dem fundamentalen Recht auf politische Gleichheit unvereinbar sind deshalb etwa Einwanderungskonzepte, die zwar das ökonomische Gewinnpotential der Einwanderung abschöpfen wollen, dabei aber einen dauerhaften Ausschluss vom Zugang zur Staatsangehörigkeit vorsehen.285 2. Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung demokratischer Deliberation auf Augenhöhe (Mangold)
Was die nähere Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Demokratie und Antidiskrimi- 178 nierungsrecht betrifft, so hat Anna Katharina Mangold im Anschluss an die Diagnose der Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie bei Habermas286 gezeigt, dass und wie das Antidiskriminierungsrecht (auch) als „Ermöglichungsbedingung der demokratischen Begegnung von Freien und Gleichen“, der Teilhabe aller an der öffentlichen demokratischen Deliberation, zu verstehen ist.287 Eine gleichheitsgerechte Rahmenordnung des Privatrechtsverkehrs ist danach „nicht 179 irgendeine“ Beschränkung der Privatautonomie, „sondern es geht darum, die Grundlagen des demokratischen Systems selbst gesetzlich auszuformen“,288 ohne deren Sicherung sich die Demokratie zu ihren eigenen Voraussetzungen in Widerspruch setzen würde. Zu Recht geht Mangold dementsprechend von ansteigenden Anforderungen an die Rechtfertigung der Ausübung der Privatautonomie je nach „Relevanz für die öffentliche Deliberation“ aus,289 so dass in „der öffentlichen Sphäre, insbesondere bei der Teilnahme am allgemeinen Marktgeschehen“, der diskriminierungsfreie Umgang miteinander „die Grundregel sein“ muss, „weil hier demokratische Öffentlichkeit stattfindet und die Zulassung von Diskriminierung […] besonders weitreichende Wirkungen hat“.290 Mangold hinterfragt zu Recht – mit Habermas über Habermas hinausgehend – die bei 180 diesem allzu fraglos unterstellte hinreichende Möglichkeit zumindest einer faktischen Annäherung an die ideale Diskurssituation. Sie schließt diese Lücke, indem sie auf die faktische Notwendigkeit von Regelungen des reaktiven und proaktiven Antidiskriminierungsrechts hinweist.291 In vergleichbarer Weise mit Böckenförde über diesen hinausgehend hält sie einerseits daran fest, dass der freiheitliche Rechtsstaat die Anerkennung der gleichen Freiheit durch alle nicht durch Rechtszwang erreichen kann, betont aber andererseits die 284 Vgl. Hong (Fn. 8), S. 62 f., 463 f. 285 Vgl. Allen (Fn. 280), S. 168–174 (die deshalb ein entsprechendes Konzept von Weyl und Posner zu
Recht zurückweist).
286 Siehe die Nachweise oben Fn. 280. 287 Vgl. Mangold (Fn. 14), S. 256; vgl. auch S. 30 („Ermöglichungsbedingung, aber keine Gelingensgaran-
tie für inklusive demokratische Deliberation“). Zum ergänzenden Charakter dieses Legitimationsstrangs (neben Würde, Freiheit und Gleichheit) vgl. ebd., S. 266 f. 288 Mangold (Fn. 14), S. 422 f. 289 Mangold (Fn. 14), S. 424. 290 Mangold (Fn. 14), S. 425. Zur Meinungsfreiheit siehe aber insoweit auch oben Rn. 108 ff. (B. V.). 291 Mangold (Fn. 14), S. 397 f. Mathias Hong
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§ 2 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts: Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
zentrale Rolle des Rechts für die Ermöglichung tatsächlicher diskursiver Gleichheit: „Der moderne demokratische Staat lebt von kommunikativen Bedingungen, die er rechtlich sicherstellen muss.“292 Diese demokratische Funktion und Legitimation des Antidiskriminierungsrechts, 181 die Mangold aus einer „rationalen Rekonstruktion“ des Antidiskriminierungsrechts gewinnt,293 lässt sich, so die hier vertretene These, (daneben) auch aus einer Auslegung des positiven Rechts gewinnen, die rein positivistisch nach dem Willen der normgebenden Gewalt fragt.294 Das Grundrecht auf Demokratie kann insoweit, bei krasser Unterschreitung der Ermöglichungsvoraussetzungen für eine gleiche demokratische Teilhabe, sogar in seinem Menschenwürdegehalt betroffen sein.295 Aber auch jenseits des von der Menschenwürde geforderten Mindeststandards können sich schon aus den jeweils durch solche mittelbaren Diskriminierungen betroffenen Grundrechten selbst entsprechende Anforderungen ergeben. 3. Das Recht auf politische Gleichheit als Konkretisierung der demokratischen „Freiheiten der Alten“ (Allen)
In ihrem bahnbrechenden Werk „Politische Gleichheit“,296 das aus den Frankfurter Adorno-Vorlesungen von 2017 hervorgegangen ist, hat auch Danielle Allen gezeigt, dass das demokratische Recht auf politische Gleichheit nicht etwa nur das Wahlrecht und die Kommunikationsfreiheiten betrifft, sondern sich auf die Gestaltung der gesamten Rechts- und Gesellschaftsordnung auswirkt. Politische Gleichheit verlangt, dass die Rechtsordnung auf die Ermächtigung aller zielt und ihnen ein Leben in „Differenz ohne Herrschaft“297 auch und gerade in privatrechtlichen Rechtsverhältnissen ermöglicht. Allen betont, an Rawls (wie Habermas) anknüpfend,298 die Gleichrangigkeit von öf183 fentlicher und privater Autonomie. Die „Freiheiten der Alten“ auf gleiche demokratische Teilhabe stehen den privaten „Freiheiten der Modernen“ an intrinsischem Wert in nichts nach. Die Gleichursprünglichkeit und Gleichrangigkeit der politischen und der privaten Freiheiten ernst zu nehmen, heißt für sie vor allem, nicht nur auf die Steuerpolitik und auf Verteilungsfragen zu blicken, sondern die gesamte Wirtschafts- und Sozialpolitik als „Mittel zum Zweck der Erzeugung egalitärer Ermächtigung“ zu verstehen.299 Politische Gleichheit konkretisiert Allen dabei im Sinne der folgenden fünf Facetten: 184 Sie verlangt, erstens, Erfahrungen von Herrschaftsfreiheit, zweitens einen gleichberechtigten Zugang zum (legislativen, exekutiven und judikativen) Herrschaftsapparat, drittens 182
Mangold (Fn. 14), S. 398; siehe auch S. 413 ff. („Böckenförde weiterdenken“). Mangold (Fn. 14), S. 347 ff. Siehe oben Rn. 4–7, 9–11 (A. II.). Vgl. zur Verankerung des Grundrechts auf Demokratie (auch) in der Menschenwürdegarantie oben Rn. 77 ff. (B. IV. 2.). 296 Allen (Fn. 280). 297 Vgl. Allen (Fn. 280), S. 84 ff. und passim. 298 Siehe die Verweise auf Rawls (und Habermas) oben Fn. 280. 299 Allen (Fn. 280), S. 24 f. 292 293 294 295
Mathias Hong
D. Fazit
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epistemischen Egalitarismus (einschließlich gleicher Bildungsressourcen), viertens Praktiken der Gegenseitigkeit (der Behebung von Missständen und der Anerkennung und Erwiderung von Leistungen) und fünftens die gleiche Miteigentümerschaft an den politischen Institutionen.300 Allen zeigt, wie eine diese politische Gleichheit ins Zentrum rückende Gesellschaftsord- 185 nung jenseits von Assimilation und Multikulturalismus aussehen könnte, die die Diversität unserer Identitäten, ihre „Fluidität, Hybridität und Intersektionalität“ in Rechnung stellt, zugleich aber auch soziale Vernetzungen und Brückenschläge systematisch stärkt und fördert, um soziale und ökonomische Dynamiken zu erzeugen, die politische Gleichheit nicht untergraben, sondern fördern.301 Die „moderne Segregation“ in den Vereinigten Staaten etwa, die sich auch als Folge der rassistischen Vergangenheit in massiven Ungleichheiten etwa in Bildung, Vermögen und Gesundheit niederschlägt, ist aus dieser Perspektive eines der „profundesten Beispiele für Demokratieversagen“ – und damit zugleich auch für eine fortdauernde Verletzung des Rechts auf politische Gleichheit.302 Eine solche Fortentwicklung der Idee demokratischer Gleichheit ist unter dem Grund- 186 gesetz nicht nur gerechtigkeitstheoretisch anschlussfähig, sondern auch verfassungsrechtlich, weil – wie das Bundesverfassungsgericht zu Recht anerkannt hat303 – das Menschenrecht auf politische Gleichheit durch demokratische Teilhabe letztlich in der Menschenwürde selbst verwurzelt ist.
D. Fazit Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie harmonieren als Grundwerte des 187 Antidiskriminierungsrechts miteinander und sind aufs Engste miteinander verflochten: Menschenwürde ist egalitär und findet als oberster Wert in den grundrechtlichen Menschenwürdekernen der Freiheits- und Gleichheitsrechte ihre Konkretisierung. Freiheit ist als gleiche Freiheit nicht nur private, sondern auch öffentliche, nicht nur negative, sondern auch positive und materiale Freiheit. Gleichheit dient als Freiheitsrecht zweiter Ordnung zugleich auch der Verwirklichung der Freiheit. Das Grundrecht auf Demokratie schließlich, das wie alle Grundrechte in der Menschenwürde sein Fundament findet, ist als Recht auf politische Gleichheit und öffentliche Autonomie gleichursprünglich zu den privaten Freiheitsrechten. Die Gleichrangigkeit der Freiheiten der Alten und der Modernen, also der politischen und der privaten Freiheiten, ernst zu nehmen, heißt, die zentrale Bedeutung des Antidiskriminierungsrechts für die Verwirklichung von Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie zu erkennen.
300 301 302 303
Allen (Fn. 280), S. 22 f., 68 ff. Allen (Fn. 280), S. 105 ff., 113 ff., Zitat: S. 109. Allen (Fn. 280), S. 120. Siehe oben Rn. 77 ff. (B. IV. 2.). Mathias Hong
§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts Stefan Magen Inhaltsübersicht Rn. A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sozialwissenschaftliche vs. normative Diskriminierungsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhaltenswissenschaften und Sozialstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 2 3
B. Grundkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Stereotypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Implizite Biases . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Soziale Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 5 6 7 8 12
C. Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gruppen in der Sozialpsychologie: Entitäten, die als real wahrgenommenen werden . . . . . 1. Typen von Gruppen nach ihrer internen Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Essentialisierung vs. Zuschreibung von Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Gruppenhaftigkeit“ oder Entitativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gruppen in der Verhaltensökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erklärung von Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Behälter für Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Träger von sozialen Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 14 15 16 17 18 18 19 21
D. Faktoren für Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kognitive Ansätze zur Erklärung von Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Stereotypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Stereotype als begriffliche Repräsentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Essentialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Diskriminierungstendenzen von Stereotypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Genauigkeit von Stereotypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Implizite Biases . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Motivationale Ansätze zur Erklärung von Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gruppendenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ingruppenbevorzugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gruppenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Autoritarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zwei Dimensionen des Autoritarismus: Kohäsion vs. Dominanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22 23 24 25 26 27 28 29 32 33 34 35 36 37
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
b) Rechter Autoritarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Soziale Dominanzorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Zwei-Prozess-Modell von Ideologien und Vorurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Autoritäre vs. dominante Diskriminierungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stereotypen-Inhalt-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Warm/kalt vs. kompetent/inkompetent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verächtliche, paternalistische, neidische und überhöhende Diskriminierungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verhaltensökonomische Ansätze zur Erklärung von Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Diskriminierende soziale Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Soziale Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Diskriminierende soziale Normen und psychologische Diskriminierungstendenzen . 2. Diskriminierung in wirtschaftlichen Transaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Diskriminierung auf Märkten: präferenzbasiert vs. informationsbezogen . . . . . . . . . . . b) Diskriminierung in strategischen Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48 52 53 54 55 57 58 60
E. Strategien gegen Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Debiasing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Reflektion und Emotionsregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ingruppeneinfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rekategorisierung von Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Entertainment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Direkter Kontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erweiterter und imaginierter Kontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Diversitätstraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Soziale Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verankerung von sozialen Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gruppenidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erwartungsgleichgewichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schwächung, Stärkung und Änderung von sozialen Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Nudging . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Direkte Regulierung vs. Entscheidungsarchitekturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Norm-Nudging und das Ausmaß von Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Moralisches Framing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Soziale Spiegelnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63 63 64 65 66 67 68 69 70 71 73 74 75 76 77 78 79 79 81 84 84 85 88
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39 40 41 44 46 47
A. Einleitung
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A. Einleitung Der vorliegende Beitrag beabsichtigt einen einführenden Überblick über ausgewählte 1 sozialwissenschaftliche Theorien und Befunde zu den Ursachen, Mechanismen und Wirkungen von Diskriminierung sowie den Möglichkeiten ihrer Bekämpfung.1 Von den mit Diskriminierung befassten Sozialwissenschaften beschränkt sich dieser Beitrag auf die Sozialpsychologie und Verhaltensökonomie. Sie werden hier unter dem Obertitel der Verhaltenswissenschaften zusammengefasst. Das ist insoweit sachgerecht, als sich beide Disziplinen im Schwerpunkt mit der Mikroebene des individuellen Denkens und des individuellen Verhaltens in sozialen Interaktionen befassen, und nicht mit Sozialstrukturen. I. Sozialwissenschaftliche vs. normative Diskriminierungsbegriffe
Im Kontext eines rechtswissenschaftlichen Handbuches ist allerdings zu bedenken, dass 2 sozialwissenschaftliche Diskriminierungsbegriffe anderen Funktionen dienen als normative (rechtliche und ethische) Diskriminierungsbegriffe. Als Diskriminierung im normativen Sinn versteht man in der Regel eine Benachteiligung von Personen, die rechtlich und/oder ethisch problematisch ist, weil die Benachteiligung nicht an individuelle Eigenschaften oder Verhaltensweisen der benachteiligten Person anknüpft, sondern an die – unterstellte – Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder einer sozialen Kategorie.2 Im Gegensatz dazu beschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit den empirisch-faktischen Ursachen und Prozessen, die Diskriminierung mit verursachen oder ihre Wahrscheinlichkeit erhöhen. Entsprechend sind die hier zugrunde gelegten sozialwissenschaftlichen Diskriminierungsbegriffe nicht auf die Feststellung rechtlicher Verantwortlichkeit ausgerichtet, sondern auf sozialwissenschaftliche Ursachen und Erklärungen. Sozialwissenschaftliche Diskriminierungsbegriffe teilen mit rechtlichen Diskriminierungsbegriffen die Bezugnahme auf gruppenbezogene Schlechterbehandlungen. Im Unterschied zum rechtlichen Diskriminierungsbegriff zielen sozialwissenschaftliche Diskriminierungsbegriffe aber auf die empirischen Ursachen und Folgen von Diskriminierung. Zum Beispiel hegen Menschen nach einer prominenten, aber mittlerweile stark kritisierten Theorie sogenannte implizite Biases. Implizite Biases sind Vorurteile, von denen man selbst nicht weiß, dass man sie 1 Für Überblicke vgl. Dovidio/Hewstone/Glick/Esses, Prejudice, Stereotyping and Discrimination, in:
dies. (Hrsg.), The SAGE Handbook of Prejudice, Stereotyping and Discrimination, 2010, S. 3 ff.; Jackson, The Psychology of Prejudice, 2. Aufl. 2020; Kite/Whitley, Jr., Psychology of Prejudice and Discrimination, 3. Aufl. 2016; Sibley/Barlow, An Introduction to the Psychology of Prejudice, in: dies. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of the Psychology of Prejudice, 2017, S. 3 ff.; Spears/Tausch, Vorurteile und Intergruppenbeziehungen, in: Jonas/Stroebe/Hewstone (Hrsg.), Sozialpsychologie, 6. Aufl. 2014, S. 507 ff.; Zick, Sozialpsychologische Diskriminierungsforschung, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 59 ff. 2 Vgl. Altman, Discrimination, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Stand: 2020, https://plato.stanford.edu/archives/win2020/entries/discrimination; Lippert-Rasmussen, The Philosophy of Discrimination, in: ders. (Hrsg.), The Routledge Handbook of the Ethics of Discrimination, 2018, S. 1. Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
hat, die aber verursachen, dass man sich diskriminierend verhält.3 Als kognitive Ursachen von Diskriminierung werden solche impliziten Biases von dem psychologischen Diskriminierungsbegriff erfasst. Für eine normative Verantwortlichkeit würde aber die Intentionalität und Kontrollierbarkeit der Diskriminierung fehlen. Zu bedenken ist weiterhin, dass auch innerhalb der sozialwissenschaftlichen Diskriminierungsforschung unterschiedliche Diskriminierungsbegriffe verwendet werden, die auf der Grundlage von unterschiedlichen Fragestellungen und Ansätzen unterschiedliche Aspekte von Diskriminierung untersuchen. So wird in der Sozialpsychologie Diskriminierung in der Regel als Vorurteil definiert, worunter eine generalisierte negative Einstellung von Personen gegenüber einer Gruppe und ihren Mitgliedern verstanden wird.4 Nach einer gängigen ökonomischen Definition liegt dagegen eine Diskriminierung vor, wenn unter vergleichbaren Umständen Mitglieder von Minderheitengruppen schlechter behandelt werden als die Mitglieder der Mehrheit.5 Hier sind nur die divergierenden Gruppenergebnisse Teil der Definition, aber nicht die psychologischen Ursachen. II. Verhaltenswissenschaften und Sozialstrukturen 3
Schließlich wird der hier verfolgte verhaltenswissenschaftliche Ansatz nicht als Alternative zur soziologischen Diskriminierungsforschung und deren Fokus auf Sozialstrukturen gesehen.6 Vielmehr ist es fruchtbarer, Denken, Verhalten und Sozialstrukturen als komplementäre Faktoren zu begreifen, deren Zusammenspiel es zu verstehen gilt. Dazu zwei Beispiele: Unter nicht-farbigen Personen gibt es eine Tendenz, farbige Personen wegen ihrer Hautfarbe intuitiv als Mitglieder einer Outgruppe zu kategorisieren. Zu diesem Phänomen trägt ein psychologischer Mechanismus bei, der andere Personen automatisch nach sichtbaren Merkmalen für deren Zugehörigkeit zur Ingruppe oder Outgruppe absucht (sogenannte Allianz-Hypothese).7 In einer nach Hautfarbe gespaltenen Gesellschaft bewirkt dieser kognitive Mechanismus, dass andere Personen implizit nach den körperlichen Merkmalen der Hautfarbe kategorisiert werden, aber nur, weil die sozialen Interaktionen nach diesem Muster strukturiert sind. Der psychologische Mechanismus trägt so zur Perpetuierung rassistischer Sozialstrukturen bei. Änderte sich die Struktur der Interaktionen, Siehe unten Rn. 29 ff. (D. I. 2.). Siehe unten Rn. 5 ff. (B. I.). Siehe unten Rn. 57 ff. (D. III. 2.). Zum soziologischen Diskriminierungsbegriff vgl. Scherr, Diskriminierung, 2. Aufl. 2016, S. 9: „Verwendung kategorialer Unterscheidungen von Gruppen oder Personenkategorien zur Begründung und Rechtfertigung von Benachteiligung (ökonomische, politische, rechtliche, kulturelle) mit Hilfe von Ideologien oder Normalitätsmodellen, die den Diskriminierten den Status als gleichwertige und gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder bestreiten.“ Vgl. auch Scherr, Soziologische Diskriminierungsforschung, in: Scherr/ El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 39 ff.; ders., Diskriminierung und soziale Ungleichheiten, 2014. 7 Pietraszewski/Curry/Petersen/Cosmides/Tooby, Constituents of Political Cognition: Race, Party Politics, and the Alliance Detection System, Cognition 140 (2015), S. 24; Jackson (Fn. 1), S. 51; Für eine andere Interpretation vgl. Phillips, The Roots of Racial Categorization, Review of Philosophy and Psychology 13 (2022), S. 151. 3 4 5 6
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B. Grundkonzepte
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würde der psychologische Mechanismus andere sichtbare Indikatoren für Gruppenzugehörigkeiten aufgreifen, etwa Kleidungskonventionen.8 Ein anderes Beispiel sind die bereits erwähnten impliziten Biases. Üblicherweise werden implizite Biases als Ursache für Diskriminierung gesehen. Allerdings zeigt sich zunehmend, dass individuelle Vorurteile nur schwach mit der Neigung der jeweiligen Person zu diskriminierendem Verhalten korrelieren. Eher spiegeln die gemessenen impliziten Biases das durchschnittliche Ausmaß gesellschaftlicher Diskriminierung in einer Region wider (sogenannte Bias-of-CrowdsHypothese).9 Es könnte also sein, dass implizite Biases nicht die Ursache von Diskriminierung sind, als vielmehr ein Abbild des Ausmaßes von Vorurteilen im sozialen Umfeld. In Bezug auf das Verhältnis von Verhaltenswissenschaften und Soziologie verallgemeinert: Es ist eher die Regel, als die Ausnahme, dass Diskriminierungsphänomene sowohl von psychologischen Prozessen als auch von Sozialstrukturen verursacht werden.10 Um Diskriminierung zu verstehen, sollte man deshalb im Blick behalten, dass Kausalmechanismen auf verschiedenen Ebenen zusammenspielen.
B. Grundkonzepte In der Sozialpsychologie unterscheidet man typischerweise drei Aspekte von Diskrimi- 4 nierung: Vorurteile, Stereotypen und Diskriminierungstendenzen. I. Vorurteile
In der Sozialpsychologie ist der Oberbegriff für die psychologischen Ursachen von Dis- 5 kriminierung der Begriff des Vorurteils. Vorurteile sind generalisierte Einstellungen von Personen gegenüber einer Gruppe und ihren Mitgliedern. Vorurteile haben kognitive Elemente („die X sind gewalttätig“), affektive Elemente („gegenüber den X habe ich ein schlechtes Gefühl“) und sogenannte konative oder handlungsdispositive Elemente („an X vermiete ich lieber nicht“). Vorurteile können für das Individuum psychologische Funktionen erfüllen, etwa eine Steigerung des eigenen Selbstgefühls, oder auch der Sicherung materieller Vorteile dienen. Im Zusammenwirken können Vorurteile zudem auch sozialstrukturelle Wirkungen entfalten, etwa indem sie Hierarchien zwischen gesellschaftlichen Gruppen legitimieren oder zur deren Perpetuierung motivieren.11
8 Pietraszewski/Curry/Petersen/Cosmides/Tooby (Fn. 7). 9 Payne/Vuletich/Lundberg, The Bias of Crowds: How Implicit Bias Bridges Personal and Systemic Preju-
dice, Psychological Inquiry 28 (2017), S. 233; dies., Flipping the Script on Implicit Bias Research with the Bias of Crowds,Psychological Inquiry 28 (2017), S. 306; ausführlich unten Rn. 29 ff. (D. I. 2.). 10 Dovidio/Hewstone/Glick/Esses (Fn. 1), S. 6. 11 Dovidio/Hewstone/Glick/Esses (Fn. 1), S. 5 ff.; Jackson (Fn. 1), S. 19 ff.; Kite/Whitley, Jr. (Fn. 1), S. 15. Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
II. Stereotypen 6 Stereotypen zählen zu den kognitiven Ursachen von Diskriminierung. Sie sind kognitive
Repräsentationen, die in vereinfachender Weise Informationen über Gruppen und deren Mitgliedern bereithalten. Stereotypen bilden Merkmale ab, die für die Zielgruppe als typisch, wesentlich oder informativ angesehen werden.12 Dadurch stellen sie einen einflussreichen kognitiven Pfad für diskriminierendes Verhalten dar.
III. Implizite Biases 7 Allgemein bezeichnet der Begriff des Bias in der Psychologie eine systematisch verzerrende
Tendenz im Denken oder Urteilen.13 Implizite Biases stehen im Gegensatz zu bewusstem und kontrolliertem Nachdenken. Sie werden ohne bewusstes Zutun automatisch ausgelöst und/oder dringen nicht ins Bewusstsein vor. Entsprechend werden implizite Biases in der Psychologie der Vorurteile überwiegend als gruppenbezogene Assoziationen angesehen, die automatisch ablaufen und nicht ins Bewusstsein dringen.14 Zum Beispiel finden Implicit-Bias Tests häufig unbewusste assoziative Beziehungen zwischen Gesichtern farbiger Männer und Gewalt. IV. Diskriminierung
8 Die Sozialpsychologie definiert Diskriminierung insbesondere als Verhalten mit negativen
Konsequenzen, welches die Betroffenen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe bzw. Kategorie trifft, und nicht aufgrund eines legitimen Grundes.15 Dabei wurden verschiedene Ansätze herausgearbeitet, um zu erklären, aus welchen Gründen Menschen zu gruppenbezogenen Ungleichbehandlungen motiviert sind. Diese Theorien spezifizieren bestimmte Motive und Anlässe für gruppenbezogene Diskriminierungen, und die Art der Diskriminierungstendenzen, die daraus folgen. Einige prominente Ansätze zur Erklärung der Motivierung zur Diskriminierung seien hier vorab kurz überblicksartig skizziert: Eine Schlechterbehandlung der Mitglieder von Outgruppen kann zunächst schlicht 9 darauf beruhen, dass sich die Ingruppenmitglieder untereinander besser behandeln, während Mitglieder von Outgruppen neutral behandelt werden und nicht in den Genuss der vorzugsweisen Behandlung durch die Gruppenmitglieder kommen. Als Diskriminierungstendenz resultiert daraus Eigengruppenbegünstigung.16 Herrschen zwischen den Gruppen aber Konflikte über Ressourcen oder Status, kann es zu negativen Emotionen und Feindseligkeiten kommen. Der Konflikt wird dann zum Auslöser von Diskriminierungstendenzen, die sich aktiv gegen die Outgruppe und ihre Mitglieder wenden.17 12 13 14 15 16 17
Dovidio/Hewstone/Glick/Esses (Fn. 1), S. 8; Jackson (Fn. 1), S. 10 ff.; Kite/Whitley, Jr. (Fn. 1), S. 13. Gilovich/Griffin/Kahneman (Hrsg.), Heuristics and Biases, 2002. Kite/Whitley, Jr. (Fn. 1), S. 177 f.; ausführlich siehe unten Rn. 29 ff. (D. I. 2.). Jackson (Fn. 1), S. 21 f.; Dovidio/Hewstone/Glick/Esses (Fn. 1), S. 8. Ausführlich siehe Rn. 34 (D. II. 1. a)). Ausführlich siehe Rn. 35 (D. II. 1. b)). Stefan Magen
B. Grundkonzepte
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Bestimmte Diskriminierungstendenzen treten insoweit vor allem bei Personen mit be- 10 stimmten Persönlichkeitsmerkmalen auf. Dazu gehören der sogenannte Rechtsautoritarismus und die sogenannte soziale Dominanzorientierung.18 Personen, die ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit und Kohäsion haben, und sich in einer bedrohlichen Situation sehen, haben eine Neigung zu rechtsautoritären Einstellungen. Daraus können insbesondere Vorurteile gegenüber solchen Personen erwachsen, von denen angenommen wird, dass sie die soziale Ordnung gefährden.19 Dagegen neigen Personen, die ein kompromissloses Persönlichkeitsprofil haben und sich in einer kompetitiven Situation sehen, zu sozialdominanten Einstellungen. Sozialdominante Einstellungen begünstigen Vorurteile gegenüber Personen mit geringerem sozialem Status oder gegen Personen, die den höheren Status der Eigengruppe bedrohen. Sozialdominante Diskriminierungstendenzen neigen dann zu Benachteiligungen, um den höheren sozialen Status der Eigengruppe zu verteidigen.20 Nach dem sogenannten Stereotypen-Inhalt-Modell werden Gruppenmitglieder zudem 11 unterschiedlich behandelt, je nachdem, ob eine Person zum einen als warm oder als kalt angesehen wird, und zum anderen, ob eine Person als kompetent oder inkompetent wahrgenommen wird.21 Ingruppen und verbündete Gruppen werden tendenziell als warm und kompetent empfunden, und genießen positive Vorurteile und Bewunderung. Gruppen wie behinderte Menschen, die als warm, aber inkompetent betrachtet werden, sind eher Gegenstand paternalistischer und bemitleidender Vorurteile. Gruppen wie reiche Personen, die als kompetent, aber konkurrierend gesehen werden, sind eher Gegenstand neidischer Vorurteile. Gruppen schließlich, die wie Obdachlose als kalt und inkompetent betrachtet werden, sind eher Gegenstand von verächtlichen Vorurteilen.22 V. Soziale Normen
Soziale Normen sind informale Regeln, die Verhalten in sozialen Kontexten regeln.23 So- 12 ziale Normen kommunizieren normative Erwartungen, die durch informale Sanktionen (Ermahnungen, Ignorieren, Ausschluss, etc.) durchgesetzt werden. Soziale Normen können aufgrund ihres benachteiligenden Inhalts eine Quelle von Diskriminierung sein. Diskriminierungskritische soziale Normen können Diskriminierung aber auch eindämmen. Theorien sozialer Identitäten verankern soziale Normen in der Identifikation des Einzelnen mit der Gruppe, der man sich zuordnet.24 Verhaltensökonomische Ansätze konzeptualisieren soziale Normen dagegen als selbsterfüllende Erwartungen, die auf sogenannte Nash-Gleichgewichten in strategischen Interaktionen beruhen.25 Ausführlich siehe Rn. 36 ff. (D. II. 2.). Ausführlich siehe Rn. 39 (D. II. 2. b)). Ausführlich siehe Rn. 40 (D. II. 2. c)). Siehe Rn. 47 (D. II. 3. a)). Siehe Rn. 48 (D. II. 3. b)). Bicchieri/Muldoon/Sontuoso, Social Norms, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Stand: 2018, https://plato.stanford.edu/archives/win2018/entries/social-norms; ausführlich unten siehe Rn. 53 ff. (D. III. 1.); Rn. 73 ff. (E. IV.). 24 Siehe unten Rn. 74 ff. (E. V. 1.). 25 Siehe Rn. 74 ff. (E. V. 1.). 18 19 20 21 22 23
Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
C. Gruppen 13
Sozialtheoretisch lässt sich darüber streiten, ob und unter welchen Bedingungen Gruppen selbst – im Unterschied zu ihren Mitgliedern – als eigenständige und handlungsfähige Entitäten in der sozialen Realität aufgefasst werden sollten oder ob die Zuschreibung von Handlungen, Einstellungen und Absichten an Gruppen eher eine verkürzte Redeweise für das koordinierte Verhalten von Individuen ist.26 Für sozialpsychologische und verhaltensökonomische Erklärungen von Diskriminierung ist diese ontologische Frage aber von sekundärem Interesse. Aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht kommt es vielmehr darauf an, ob und inwiefern Menschen aufgrund einer unterstellten bzw. subjektiv wahrgenommenen Gruppenzugehörigkeit Neigungen zeigen, andere Menschen zu benachteiligen.27 I. Gruppen in der Sozialpsychologie: Entitäten, die als real wahrgenommenen werden
14
In diesem subjektiven Sinn spielen Beziehungen zwischen wahrgenommene Gruppen bzw. zwischen Personen und Gruppen eine zentrale Rolle in sozialpsychologischen Erklärungen von Diskriminierung.28 In der Sozialpsychologie werden diese auf den bereits vorgestellten Ebenen thematisiert, nämlich auf der kognitiven Ebene als Stereotypen über Gruppen oder Gruppenmitglieder, auf der Einstellungsebene als Abwertung von Gruppen oder Gruppenmitgliedern und auf der konativen (handlungsmotivierenden) Ebene als Diskriminierungstendenzen gegenüber bestimmten Gruppen und deren Mitgliedern. 1. Typen von Gruppen nach ihrer internen Struktur
15
Allerdings wird nicht jede Mehrzahl von Personen als Gruppe wahrgenommen, und es wird auch nicht allen Gruppen die gleiche Struktur unterstellt. Vielmehr gibt es prototypische Formen von Personenmehrheiten, die tendenziell als Gruppe betrachtet werden.29 Die drei prototypischen Kategorien von Gruppen sind (1) enge soziale Beziehungen (Familien, Freundeskreise), (2) Zweckgruppen (Organisationen, Arbeitsgruppen) und (3) soziale Kategorien (Frauen, Männer, behinderte Menschen). Nur schwach oder gar nicht als Gruppe wahrgenommen werden dagegen lockere Verbindungen (Personen, die in einem Unternehmen arbeiten) und vorübergehende Verbindungen (Personen, die gemeinsam 26 Dazu Elder-Vass, The Reality of Social Construction, 2012; List/Pettit, Group Agency, 2011. 27 Zu parallelen soziologischen Konzepten wie „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und „pau-
schalisierende Ablehnungskonstruktionen“ siehe Möller, Entwicklung und Ausmaß gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 436; Neckel/Sutterlüty, Negative Klassifikationen und ethnische Ungleichheit, in: Müller/Zifonun (Hrsg.), Ethnowissen, 2010, S. 217 ff. 28 Dovidio/Hewstone/Glick/Esses (Fn. 1), S. 13 ff.; Leyens/Demoulin, Ethnocentrism and Group Realities, in: Dovidio u. a. (Hrsg.), The SAGE Handbook of Prejudice, Stereotyping and Discrimination, 2010, S. 194 ff.; vgl. zur soziologischen Diskriminierungsforschung Scherr, Diskriminierung und soziale Ungleichheiten, 2014, S. 8 ff. 29 Plötner/Over/Carpenter/Tomasello, What Is a Group?, PLOS One 2016, S. 1 ff. Stefan Magen
C. Gruppen
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auf einen Bus warten).30 Diese Befunde sind empirisch gut belegt und zeigen sich bereits bei Fünf- bis Sechsjährigen.31 2. Essentialisierung vs. Zuschreibung von Handlungsfähigkeit
Die Zuordnung von Gruppen zu einer der beschriebenen Gruppenstrukturen ist für das 16 Verständnis von Diskriminierung insoweit aufschlussreich als mit bestimmten Gruppenstrukturen unterschiedliche Diskriminierungstendenzen einhergehen können. Relevant ist insbesondere der Kontrast zwischen sozialen Kategorien einerseits und Zweckgruppen und engen sozialen Beziehungen andererseits. Soziale Kategorien („Frau“, „Muslim“ oder „Mensch mit Behinderung“) sind ihrer kognitiven Struktur nach Prototypen, also Kategorien, die (vermeintlich) typische Eigenschaften von Kategorienmitgliedern festhalten. Bei ihnen gibt es die Tendenz zu einer stereotypisierenden und essentialistischen Wahrnehmung der Gruppenmitglieder. Die Struktur von Zweckgruppen und engen sozialen Beziehungen ist dagegen durch differenzierte Rollen innerhalb der Gruppe gekennzeichnet (die Vorstandsvorsitzende vs. die Angestellten, die Großeltern vs. die Enkel). Die Wahrnehmung einer Gruppe als Zweckgruppe ist ein Indikator dafür, dass die Gruppe selbst als handlungsfähig und erfahrungsfähig wahrgenommen wird.32 Zweckgruppen werden deshalb auch als moralisch verantwortliche Akteure gesehen und behandelt. Eine Folge der Zuschreibung von moralischer Handlungsfähigkeit kann es zum Beispiel sein, Kollektiven oder deren Mitgliedern Verantwortung zuzuschreiben und auch Sanktionen für die Mitglieder des Kollektivs zu fordern.33 Dabei können sich Stereotype (z. B. über den vermeintlich aggressiven Charakter der Gruppenmitglieder) und die Betrachtung der Outgruppe als kollektive moralische Person gegenseitig verstärken. Zudem gibt es eine Tendenz, bei negativen Handlungen von negativ besetzten Gruppen (z. B. Muslime) das Kollektiv insgesamt für verantwortlich zu halten („die“ Muslime). Diese Neigung könnte z. B. dazu beitragen, dass friedliche Muslime dazu aufgefordert werden, sich von Gewalttaten anderer Muslime zu distanzieren. Bei positiv besetzen Gruppen wird die Verantwortlichkeit für negativen Handlungen dagegen eher den einzelnen Akteuren zugeschrieben.34
30 Lickel/Hamilton/Lewis/Sherman/Uhles/Wieczorkowska, Varieties of Groups and the Perception of
Group Entitativity, Journal of Personality and Social Psychology 2000 (78), S. 223.
31 Plötner/Over/Carpenter/Tomasello (Fn. 29). 32 Tanibe/Hashimoto/Tomabechi/Masamoto/Karasawa, Attributing Minds to Groups and Their Mem-
bers on Two Dimensions, Frontiers in Psychology 10 (2019), Article 840.
33 Pereira/Prooijen, Why We Sometimes Punish the Innocent, PLOS one 13 (2018), S. 1. 34 Adelmana/ Yogeeswaranc/Lickel, They’re All the Same, Sometimes: Prejudicial Attitudes Toward Mus-
lims Influence Motivated Judgments of Entitativity and Collective Responsibility for an Individual’s Actions, Journal of Experimental Social Psychology 80 (2019), S. 31; für eine Strategie zur Reduzierung dieser Vorurteile siehe Gallardo/Hameiri/Moore-Berg/Bruneau, The Collective Praise Intervention, Group Processes & Intergroup Relations 2021, S. 1. Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
3. „Gruppenhaftigkeit“ oder Entitativität 17
Eine weitere Eigenschaft der Wahrnehmung von Gruppen ist die Tendenz, eine Anzahl von Personen in mehr oder weniger großem Ausmaß als selbständige Entität wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung des Realseins einer Gruppe wird in der Sozialpsychologie als Entitativität bezeichnet. Ein wichtiger Befund dabei ist, dass der Grad der Gruppenhaftigkeit oder Entitativität systematisch mit den oben bereits angesprochenen Gruppenkategorien variiert. Die Zuordnung einer konkreten Gruppe zu einer der Gruppenkategorien ist robust und kann spontan getroffen werden.35 Der Grad der Entitativität von Gruppen kann insoweit anhand der Gruppentypologie beschrieben werden. Beginnend mit vorübergehenden und lockeren Verbindungen über soziale Kategorien und Zweckgruppen bis zu engen sozialen Beziehungen steigt die Entitativität von Gruppen robust an.36 Für das Verständnis von Diskriminierung ist interessant, dass die Neigung zur Diskriminierung mit steigender Entitativität ebenfalls ansteigt. So werden Gruppen mit höherer Entitativität als stärkere Bedrohung empfunden. Ihnen wird auch in höherem Maß Handlungsfähigkeit zugeschrieben und sie werden in stärkerem Ausmaß für das Handeln der Mitglieder verantwortlich gemacht. Mit steigender Entitativität steigen auch die wahrgenommene Handlungsfähigkeit sowie Essentialismus und Stereotype.37 Höherer Entitativität scheint auch eine verstärkende Wirkung auf implizite Biases zu haben.38 Entitativität erweist sich insoweit übergreifend als eine Moderator-Variable, die mit zu- bzw. abnehmender Stärke der wahrgenommenen Entitativität andere Diskriminierungstendenzen wie Stereotypisierung oder Bedrohungswahrnehmungen verstärkt oder abschwächt.39 II. Gruppen in der Verhaltensökonomie 1. Erklärung von Verhalten
18
Im Unterschied zur Psychologie liegt der Schwerpunkt verhaltensökonomischer Erklärungen nicht auf psychologischen Prozessen als solchen (z. B. implizite Biases), sondern auf dem Verhalten der Individuen und dessen aggregierten Folgen (z. B. die insgesamt höhere Rate von Kontrollen und Festnahmen bei farbigen Menschen). Verhaltensökonomische Untersuchungen werden typischerweise in Form von spieltheoretischen Experimenten40 35 Philips, Entitativity and Implicit Measure of Social Cognition, Mind & Language 2021 im Erscheinen,
Manuskript, S. 5; Lickel/Hamilton/Lewis/Sherman/Uhles/Wieczorkowska (Fn. 30); Spencer-Rodgers/Hamilton/Sherman, The Central Role of Entitativity in Stereotypes of Social Categories and Task Groups, Journal of Personality and Social Psychology 92 (2007), S. 369. 36 Phillips (Fn. 35). 37 Hamilton/Chen/Way (2011), Dynamic Aspects of Entitativity, in: Kramer/Leonardelli/Livingston (Hrsg.), Social Cognition, Social Identity, and Intergroup Relations, 2011, S. 27; Lickel/Hamilton/Lewis/ Sherman/Uhles/Wieczorkowska (Fn. 30); Philips (Fn. 35), S. 5 ff.; Spencer-Rodgers/Hamilton/Sherman (Fn. 35), S. 369 ff. 38 Philips (Fn. 35), S. 7 ff. 39 Spencer-Rodgers/Hamilton/Sherman (Fn. 35), S. 369 ff. 40 Vgl. van Dijk/De Dreu, Experimental Games and Social Decision Making, Annual Review of Psychology 72 (2021), S. 415. Stefan Magen
C. Gruppen
135
oder von Feldversuchen durchgeführt.41 Im Unterschied zur neoklassischen Ökonomie greift die Verhaltensökonomie dabei zur Erklärung von Verhalten regelmäßig auf psychologische Variablen zurück, insbesondere auf verschiedene kognitive Biases und Heuristiken (die bewusst sein können oder nicht).42 Die Berücksichtigung von diskriminierenden Stereotypen und diskriminierenden impliziten Biases ist dagegen eine jüngere Entwicklung. Zum Beispiel konnte in einem spieltheoretischen Experiment gezeigt werden, dass das Ausmaß von kooperativem Verhalten zwischen Angehörigen verschiedener Nationen in Gefangenendilemmata von Stereotypen über die Kooperativität von Angehörigen einer anderen Nation beeinflusst wird.43 2. Behälter für Kooperation
Sozialpsychologische Vorurteilsforschungen nehmen vor allem die für Individuen diskri- 19 minierenden Wirkungen in den Blick, die mit der Zuordnung oder Teilnahme an Gruppen verbunden sind. Allerdings betont auch die Sozialpsychologie, dass Gruppenzugehörigkeiten wichtige und wesentliche Funktionen für das soziale Zusammenleben erfüllen. Diese Funktionen werden auch in der Verhaltensökonomie untersucht, aber in einem anderen theoretischen Rahmen. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Frage, wie Menschen in sogenannten strategischen Interaktionen die Interdependenz ihrer Interessen bewältigen können, insbesondere, wie sie ihr Verhalten koordinieren, Kooperation aufrechterhalten und Konflikte lösen können.44 In verhaltenswissenschaftlicher Sicht kann man die Bevorzugung von Ingruppen- 20 mitgliedern als einen Mechanismus betrachten, der Kooperation innerhalb von sozialen Gruppen erleichtert. Die Selbstwahrnehmung einer Anzahl von Personen als Mitglieder einer gemeinsamen Gruppe wirkt insoweit als Katalysator für die Kooperationsbereitschaft zwischen den Gruppenmitgliedern. Die Gruppe fungiert diesbezüglich als ein „Container für generalisierte Reziprozität.“45 Die Neigung zur Kooperation mit anderen Ingruppenmitgliedern, aber nicht mit Outgruppenmitgliedern, ist dann sowohl die Ursache wie Folge der Ingruppen-Bevorzugung. Die Kehrseite davon ist, dass Outgruppen und ihre Mitglieder eher als neutral oder als Konkurrenz betrachtet werden. Schon darin, dass Mitglieder der Ingruppe tendenziell positiv gesehen werden, Mitglieder von Outgruppen aber als neutral, liegt eine in den Folgen leicht zu unterschätzende Diskriminierungstendenz.
41 Vgl. Banerjee/Duflo (Hrsg.), Handbook of Economic Field Studies, 2017. 42 Kiyonari/Tanida/ Yamagishi, Social Exchange and Reciprocity: Confusion or a Heuristic?, Evolution
and Human Behavior 21 (2000), S. 411; Yamagishi/Jin/Kiyonari, Bounded Generalized Reciprocity, Advances in Group Processes 16 (1999), S. 161. 43 Dorrough/Glöckner, Multinational investigation of cross-societal cooperation, PNAS 113 (2016), 10836. 44 Magen, Spieltheorie, in: Towfigh/Petersen, Ökonomische Methoden im Recht, 2. Aufl. 2017, S. 83 ff. 45 Yamagishi/Kiyonari, The Group as the Container of Generalized Reciprocity, Social Psychology Quarterly 63 (2000), S. 116. Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
3. Träger von sozialen Normen 21
Gruppen im Sinne von realen Praktiken und Interaktionszusammenhängen fungieren schließlich auch als Träger von Konventionen und sozialen Normen.46 Insbesondere bilden soziale Normen regelmäßig einen wesentlichen Aspekt der Identität von Gruppen.47 Je nach Inhalt können soziale Normen diskriminierende Inhalte oder Wirkungen haben, oder auch Diskriminierung begrenzen.48
D. Faktoren für Diskriminierung 22
Faktoren, die Diskriminierung begünstigen, können auf verschiedenen Ebenen der sozialen Realität angesiedelt sein. Einige Ansätze in der Psychologie untersuchen die diskriminierenden Wirkungen konkreter kognitiver Prozesse (Stereotypen und implizite Biases), während andere Forschungen breiter angelegte Ansätze verfolgen, die auch Motive, Persönlichkeitsmerkmale, soziale Situationen und Weltsichten als Faktoren berücksichtigen (Gruppendenken, Autoritarismus, Dominanzorientierung und das Stereotypen-Inhaltmodell). Die verhaltensökonomische Diskriminierungsforschung beschäftigt sich dagegen im Schwerpunkt mit der Erhebung und Erklärung von Diskriminierung auf Märkten oder in strategischen Interaktionen. Für das Verständnis von Diskriminierung sind zudem verhaltensökonomische Modelle von sozialen Normen von Interesse, weil soziale Normen Diskriminierung bewirken können. I. Kognitive Ansätze zur Erklärung von Diskriminierung
23
In der Sozialpsychologie werden die Ursachen von Diskriminierung unter dem Begriff des Vorurteils zusammengefasst.49 Dabei werden kognitive, affektive und handlungsdispositive Aspekte von Vorteilen unterschieden. Zu den kognitiven Aspekten gehören insbesondere Stereotype und Essentialisierung sowie implizite Biase. 1. Stereotypen
24
Stereotypen50 sind kognitive Mechanismen, die Vorurteile51 und Diskriminierung52 verursachen können. Im Unterschied zu emotionalen und motivationalen Aspekten von Vorurteilen sind Stereotypen Begriffe. Sie repräsentieren Eigenschaften, die für die Zielgruppe oder ihre Mitglieder als typisch oder charakteristisch erachtet werden und die die eigene 46 Henry, Institutional Bias, in: Dovidio u. a. (Hrsg.), The SAGE Handbook of Prejudice, Stereotyping
and Discrimination, 2010, S. 426 ff. Tomasello, Naturgeschichte der Moral, 2014, S. 134 ff. Siehe oben Rn. 5 (B. I.), ausführlich Rn. 53 ff., 74 ff. (D. III. 1., E. V.). Siehe oben Rn. 5 (B. I.). Siehe oben Rn. 6 (B. II.). Siehe oben Rn. 5 (B. I.). Siehe oben Rn. 8 ff. (B. IV.).
47 48 49 50 51 52
Stefan Magen
D. Faktoren für Diskriminierung
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Gruppe von der Zielgruppe unterscheiden.53 Sie können auch Informationen über den Grad der Homogenität der Gruppenmitglieder oder über deren soziale Rollen enthalten. Stereotypen beeinflussen Diskriminierung auf unterschiedlichen Ebenen. Sie beeinflussen emotionale Reaktionen gegenüber Gruppen und deren Mitgliedern. Stereotypen sind außerdem für die Neigung verantwortlich, bei anderen eher diejenigen Merkmale wahrzunehmen, die mit Stereotypen konsistent sind. Stereotypkonsistenten Merkmalen wird dabei schneller Aufmerksamkeit gewidmet, während individualisierende Merkmale eher übersehen werden.54 Stereotype bilden sich auch aus der Tendenz, von typischen sozialen Rollen auf Eigenschaften der Gruppenmitglieder zu schließen. Das kann zum Beispiel dazu führen, dass Gruppen mit niedrigem sozioökonomischem Status geringere Kompetenz und Motivation zugeschrieben wird. Aber auch Minderheiten selbst können stereotype Annahmen über ihre Gruppe entwickeln, etwa um ihren untergeordneten Status zu rationalisieren.55 a) Stereotype als begriffliche Repräsentationen
Stereotype sind Begriffe, und nicht – wie implizite Biases – bloße Assoziationen.56 Als 25 „Bausteine von Gedanken“ haben Begriffe zentrale Funktionen für gedankliche Prozesse wie das Kategorisieren, Schließen, Lernen und Entscheiden.57 Als Begriffe speichern Stereotype Informationen, in diesem Fall über eine Zielgruppe. Diese Informationen können in unterschiedlichen kognitiven Formaten repräsentiert sein. Formate von Begriffen sind insbesondere Prototypen (Repräsentationen von prototypischen Eigenschaften), Exemplare (Repräsentation eines individuellen Exemplars mit typischen Eigenschaften) oder Theorien (sonstige Repräsentationen von Eigenschaften der Kategorie).58 Stereotype repräsentieren dabei solche Gruppen oder soziale Kategorien,59 denen ein dauerhaftes Bündel von relevanten Eigenschaften zugeschrieben wird (z. B. Menschen mit Behinderung). Im Unterschied zu arbiträren Kategorien (z. B. Bußfahrerinnen in blauer Uniform) werden bei Stereotypen die Eigenschaften den repräsentierten Entitäten als inhärent zugeschrieben.60 Die Kognitionswissenschaften sprechen insoweit von „Gattungen“ (englisch: kinds). Dieser Begriff der „Gattung“ ist allerdings nicht im biologischen Sinn gedacht, sondern im Sinne von Objektkategorien, die Entitäten mit stabilen, inhärenten und zusammen53 Stangor, The Study of Stereotyping, Prejudice, and Discrimination Within Social Psychology, in: Nel-
son (Hrsg.), Handbook of Prejudice, Stereotyping, and Discrimination, 2. Aufl. 2016, S. 3 (4).
54 Stangor (Fn. 53), S. 6. 55 Stangor (Fn. 53), S. 6. 56 So die überwiegende Auffassung, vgl. M. Johnson, The Psychology of Bias, in: Beeghly/Madva (Hrsg.),
An Introduction to Implicit Bias, 2020, S. 25 f.
57 Margolis/Laurence, Concepts, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Stand:
2021, https://plato.stanford.edu/archives/spr2021/entries/concepts.
58 Machery, Précis of Doing without Concepts, Behavioral and Brain Sciences 33 (2010), S. 195. 59 Siehe oben Rn. 15 (C. I. 1.). 60 Ritchie/Knobe, Kindhood and Essentialism: Evidence from Language, in: Rhodes (Hrsg.), Advances in
Child Development and Behavior, 2020, S. 133 (150 ff.); vgl. auch Stangor (Fn. 53), S. 4. Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
hängenden Eigenschaften vorstellen.61 Weil solche „Gattungen“ dauerhafte generische Eigenschaften der Mitglieder abbilden, werden Stereotypen als Grundlage herangezogen, um Schlüsse über die repräsentierte Gruppe und ihre Mitglieder zu ziehen. Ob die von Stereotypen repräsentierten Eigenschaften zutreffend sind, oder nicht, ist eine andere, umstrittene und komplexe Frage, die unter dem Stichwort „Stereotyp-Genauigkeit“ diskutiert wird.62 b) Essentialisierung 26
Essentialisierung unterscheidet sich von Stereotypisierung zunächst dadurch, dass Stereotypen eher einzelne typische Exemplare der generischen Gattung repräsentieren (z. B. einen Rollstuhlfahrer als Prototyp für einen Menschen mit Behinderung), während Essentialisierung die generische Gattung selbst abbildet (z. B. Menschen mit Behinderung im Allgemeinen).63 Essentialisierte Stereotype weisen darüber hinaus – nicht notwendig, aber häufig – eine Zwei-Ebenen-Struktur auf, bei der die repräsentierten Eigenschaften in zwei Gruppen aufgeteilt werden, nämlich in äußere Merkmale einerseits und einen Wesenskern andererseits.64 Dem Wesenskern kommt dabei die Funktion zu, die äußeren Merkmale in gewissem Umfang zu erklären. Insoweit ist es wichtig, zwischen natürlichen und sozialen Konzepten zu unterscheiden. Bei natürlichen Kategorien wird der Wesenskern kausal verstanden, beispielsweise wenn Eigenschaften von Organismen auf ihre Gene zurückgeführt werden. Essentialisierte soziale Stereotype repräsentieren aber in der Regel keine kausalen Entitäten, sondern soziale. Der Wesenskern von essentialisierten sozialen Kategorien ist vielmehr durch Werte bestimmt und ist normativ gedacht. Außerdem werden die Oberflächenmerkmale bei essentialisierten sozialen Kategorien auf Werte oder Normen zurückgeführt. Zum Beispiel stellt die Unparteilichkeit in dem Laienkonzept von Richterinnen und Richtern vermutlich einen zentralen Wert des Wesenskerns dar. Bezogen auf die Doppelstruktur von essentialisierten Begriffen kann insoweit das Oberflächenmerkmal „Tragen einer Robe“ als Ausdruck des Wesensmerkmals „Unparteilichkeit“ verstanden sein. Oberflächenmerkmale und der normative Wesenskern können aber auch im Konflikt liegen. Dann wird die Kategorisierung mehrdeutig. Man denke an einen Richter, der offen parteiisch ist. In solchen Konstellationen wird die Frage, ob eine konkrete Person ein Richter sei, typischerweise ambivalent beantwortet: oberflächlich ja, aber ein wahrer Richter sei die Person nicht. Sozialer Essentialismus ist mithin nicht mit Biologismus gleichzusetzen. Denn in Bezug auf soziale Stereotypen ist der Wesenskern des Stereotyps in der Regel normativ kodiert, nicht kausal.65 Demgegenüber sind biologistisch gedachte Stereotypen deutlich rigider, weil sie den Wesenskern als unveränderlich behandeln (z. B. vermeintlich biologische Rassen im Vergleich zu Ethnien als kulturellen Verbänden). Ritchie/Knobe (Fn. 60), S. 150 ff. Siehe Rn. 28 (D. I. 1. d)). Ritchie/Knobe (Fn. 60), S. 150 ff. Newman/Knobe, The Essence of Essentialism, Mind & Language 2019, S. 1; Reuter, Dual Character Concepts, Philosophy Compass 2019, S. 1. 65 Newman/Knobe (Fn. 64), S. 3 ff. 61 62 63 64
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D. Faktoren für Diskriminierung
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c) Diskriminierungstendenzen von Stereotypen
Stereotypen repräsentieren Gruppenmitglieder in Form von prototypischen oder exem- 27 plarischen Eigenschaften. Für die Mitglieder der stereotypisierten Zielgruppe kann dies auf zwei Weisen diskriminierend wirken. Zum einen können die durch das Stereotyp unterstellten Tendenzen den statistischen Tendenzen der Gruppeneigenschaften entsprechen, aber denjenigen Mitgliedern der Gruppe unrecht tun, auf die es nicht zutrifft. Diese Konstellation ähnelt der statistischen Diskriminierung. Sie läge beispielsweise vor, wenn eine bestimmte Person wegen der höheren Kriminalitätsrate ihrer Gruppe schlechter behandelt würde, obwohl sie selbst rechtstreu ist. Selbst wenn die zugeschriebenen Eigenschaften statistisch dem Gruppendurschnitt entsprächen, würde die Zuschreibung der typischen Gruppeneigenschaften diejenigen Personen diskriminieren, die diese Eigenschaft nicht aufweisen. Die Diskriminierung liegt hier darin, dass die Gruppenmitglieder nicht allein aufgrund ihrer persönlichen Eigenschaften beurteilt werden. Die zweite Konstellation betrifft eine unzutreffende Zuschreibung von Eigenschaften an eine Zielgruppe, die die fraglichen Eigenschaften auch in der statistischen Tendenz nicht aufweist. Dann projiziert schon das Stereotyp ein sachlich falsches oder grob verzerrtes Bild von der Gruppe und ihren Mitgliedern. Diese Konstellation liegt zum Beispiel vor, wenn ein Stereotyp die höhere Kriminalität von Flüchtlingen suggeriert, aber die tatsächliche Kriminalitätsrate nicht höher ist als die von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft, bzw. von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft in vergleichbaren sozio-demographischen Umständen. d) Genauigkeit von Stereotypen
In der sozialpsychologischen Literatur wird überwiegend angenommen, dass Stereotype 28 zwar auch relevante Informationen über die Zielgruppe beinhalten, die Zielgruppe regelmäßig aber übertrieben negativ und falsch darstellen.66 Diese Frage ist aber umstritten. Kritiker wenden ein, dass direkte Untersuchungen der Genauigkeit von Stereotypen eher eine moderat bis hohe Genauigkeit von Urteilen feststellen.67 Allerdings betraf dies meist messbare Eigenschaften von Gruppen (z. B. über akademische Leistungen von farbigen vs. weißen US-Amerikanern). Insoweit ist zu bedenken, dass Stereotypen auch pragmatische Funktionen erfüllen und ihr Inhalt deshalb auch von der konkreten Situation und den Interessen und Zielen der Akteure beeinflusst wird. Das gilt insbesondere, wenn Stereotype im Zusammenhang von sozialen Konflikten abgerufen werden. Werden beispielsweise Outgruppen als Bedrohung wahrgenommen, werden ihnen stärker negative Stereotype zugeschrieben, zum Beispiel um die Konfliktbereitschaft der Eigengruppe zu stärken. Umgekehrt werden vermeintlich „wohlwollende“ Stereotype (ambivalent-positive Zuschreibungen wie beispielsweise „arm, aber ehrlich“) strategisch eingesetzt, um benach66 Kite/Whitley, Jr. (Fn. 1), S. 13 f. 67 Jussim/Crawford/Anglin/Chambers/Stevens/Cohen, Stereotype Accuray, in: Nelson (Hrsg.), Hand-
book of Prejudice, Stereotyping, and Discrimination, 2. Aufl. 2016, S. 31 ff.; Jussim, Précis of Social Perception and Social Reality: Why Accuracy Dominates Bias and Self-Fulfilling Prophecy, Behavioral and Brain Sciences 2017, S. 1. Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
teiligte Gruppen zu demotivieren, sich gegen ihre Benachteiligungen zu wenden.68 Beides entspricht der allgemeinen Neigung, die soziale Realität – häufig unbewusst – selektiv so wahrzunehmen, wie es in der konkreten Situation den eigenen Zielen dient (sogenannte motivierte Kognition).69 2. Implizite Biases
Der allgemeine Begriff des Bias bezeichnet in der Psychologie eine systematisch verzerrende Tendenz im Denken oder Urteilen. Nach gängiger Definition sind implizite Biases unbewusste und automatische Verzerrungen.70 Das impliziert, dass die Träger impliziter Biases sich ihrer Vorurteile nicht gewahr sind und diese auch nicht kontrollieren können. Im Unterschied zu expliziten Biases können implizite Biases deshalb nur indirekt gemessen werden. Personen werden daher nicht offen nach ihren Einstellungen zu bestimmten Gruppen befragt, sondern ihre unbewussten Einstellungen werden indirekt aus bestimmten Reaktionen auf Gruppenmerkmale geschlossen. Der Vorteil von impliziten Testmethoden gegenüber offenen Befragungen liegt darin, dass die Testpersonen nicht die Gelegenheit haben, ihre diskriminierende Einstellung aus sozialer Konformität zu verbergen oder abzuschwächen.71 Die am weitesten verbreitete Methode dazu ist der IAT (implicit association test).72 Bei diesem Test werden Testpersonen unter anderem gleichzeitig zwei Stimuli mit Wertungen präsentiert (z. B. das Wort FREUNDLICH und das Bild eines dunkelhäutigen Mannes). In den Fällen, in denen die Wahrnehmung farbiger Männer bei einer Testperson eine Assoziation zu Gewalt auslöst, kommt es bei der Testperson zu einem kognitiven Konflikt mit dem anderen Stimulus (FREUNDLICH vs. Gewalt). Die konfligierenden Assoziationen führen zu einem kognitiven Konflikt, der eine messbare Verzögerung der Reaktionszeit zur Folge hat. Aus der längeren Reaktionszeit lässt sich dann schließen, dass farbige Männer bei der Testperson Assoziationen zu Gewalt auslösen, auch wenn diese sich der Assoziation nicht bewusst war. Allerdings haben sich beim IAT und anderen indirekten Tests für Vorurteile erhebliche 30 Inkonsistenzen gezeigt, die es wenig plausibel machen, dass implizite Tests tatsächlich stabile, verhaltensrelevante diskriminierende Einstellungen individueller Testpersonen messen.73 Nach 30 Jahren Forschungen zu impliziten Biases ist immer noch unklar, ob explizite 29
68 Tappin/McKay/Abrams, Choosing the Right Level of Analysis: Stereotypes Shape Social Reality via
Collective Action, Behavioral and Brain Sciences 2017, S. 37.
69 Kunda, The Case for Motivated Reasoning, Psychological Bulletin 108 (1990), S. 480; Kahan, The Ex-
pressive Rationality of Inaccurate Perceptions, Behavioral and Brain Sciences 2017, S. 26.
70 Vgl. Brownstein, Implicit Bias, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Stand: 2019,
https://plato.stanford.edu/archives/fall2019/entries/implicit-bias; Beeghly/Madva (Hrsg.), An Introduction to Implicit Bias, 2020; Banaji/Greenwald, Blindspot, 2013; Vuletich/Lundberg, Bias of Crowds, Psychological Inquiry 28 (2017), S. 233. 71 Beeghly/Madva, Introducing Implicit Bias, in: Beeghly/Madva (Hrsg.), An Introduction to Implicit Bias, 2020, S. 6. 72 Siehe: https://implicit.harvard.edu/implicit/. 73 Für eine umfassende Einschätzung vgl. Machery, Anomalies in Implicit Attitudes Research, WIREs Cognitive Science 2021, https://doi.org/10.1002/wcs.1569. Stefan Magen
D. Faktoren für Diskriminierung
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und implizite Biases verschiedene oder unterschiedliche Konstrukte messen.74 Messungen von impliziten Biases sind außerdem unzuverlässig in dem Sinn, dass sie von Messung zu Messung schwanken.75 Zwar ist das durchschnittliche Niveau der gemessenen Vorurteilen relativ robust ist, aber die kurzfristige Stabilität der gemessenen Vorurteile für einzelne Personen schwankt stark (z. B. kann der durchschnittliche IAT-Wert einer Person über die Jahre stabil bleiben, aber im Wochentakt fluktuieren).76 Das könnte daran liegen, dass implizite Vorurteile in sich instabil sind, oder dass sie stark von situativen Faktoren beeinflusst werden.77 Einer andere, spekulativen Theorie weist darauf hin, dass das aggregierte durchschnittliche Niveau impliziter Biases auf der Ebene von Regionen oder Landkreisen mit dem durchschnittlichen Ausmaß der Diskriminierung in diesen jeweiligen Regionen korreliert (bei höherer Diskriminierung gegen Farbige in einer Region, ist auch der Durchschnitt der in dieser Region gemessenen impliziten Vorurteile gegenüber Farbigen höher). Der Grund für diesen Anstieg muss aber nicht sein, dass Personen regional stärkere implizite Vorurteile hegen. Eine alternative Erklärung ist, dass man sich besser an diskriminierende Vorfälle erinnern kann, wenn man in Regionen lebt, in denen man stärker mit Diskriminierung konfrontiert ist.78 Nach dieser These würde ein IAT oder vergleichbare Tests zu impliziten Assoziationen nicht zeigen, dass die individuellen Vorurteile gegen Farbige gestiegen sind, sondern dass es in diesen Regionen mehr Diskriminierung gegenüber farbigen Personen zu beobachten ist (sogenannte Bias-of-Crowds-Hypothese).79 Das größte Problem von impliziten Biases aber ist, dass individuelle Unterschiede in 31 der Stärke impliziter Biases individuelles diskriminierendes Verhalten nur schwach vorhersagen können.80 Das gilt bereits für Verhalten im kontrollierten Umfeld psychologischer Laboratorien, aber noch viel mehr in der realen Welt. Dieser Befund gilt insbesondere für Biases wegen der Rasse, des Geschlechts und für andere soziale Kategorien, aber beispielsweise nicht für politische Einstellungen, die im Unterschied zur Rassen-Biases Wahlentscheidungen besser vorhersagen können. Bislang liegt auch keine Evidenz vor, dass implizite Biases über die Zeit kumulative Wirkungen entfalten könnten.81 Ein ähnliches Bild zeigt sich auch in einem verhaltensökonomischen Experiment, das den Einfluss von impliziten Biases auf Verhalten testet. In diesem Experiment wurde mit einem Diktator-Spiel die Neigung zu freiwilligem prosozialem Teilen erhoben. Implizite Biases wegen der Rasse hatten dabei keinen signifikanten Einfluss darauf, ob und wieviel Geld mit einem Gegen74 Machery (Fn. 73), S. 5 f.; vgl. auch Schimmack, The Implicit Association Test: A Method in Search of a
Construct, Perspectives on Psychological Science 2019, S. 1.
75 Machery (Fn. 73), S. 5. 76 Payne/Vuletich/Lundberg, Bias of Crowds (Fn. 9); dies., Flipping the Script on Implicit Bias Research
(Fn. 9). Insoweit wird mittlerweile bezweifelt, dass der IAT individuelle Einstellungen gegenüber Rassen zuverlässig messen kann, vgl. Schimmack (Fn. 74), S. 1 ff.; zur Verteidigung vgl. Jost, The IAT Is Dead, Long Live the IAT, Current Directions in Psychological Science 28 (2019), S. 10. 77 Payne/Vuletich/Lundberg (Fn. 9), S. 234; vgl. auch dies. (Fn. 9), S. 306; Jost (Fn. 76), S. 11 ff. 78 Technisch gesprochen ist die sogenannte concept accessibility höher. 79 Payne/Vuletich/Lundberg (Fn. 9); dies. (Fn. 9). 80 Machery (Fn. 73). S. 5 f.; Payne/Vuletich/Lundberg (Fn. 9), S. 234; Jost (Fn. 76), S. 12; Brownstein (Fn. 70), S. 42. 81 Machery (Fn. 73), S. 7. Stefan Magen
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über geteilt wurde.82 Auch wenn ein einzelnes Experiment kein schlüssiger Nachweis ist, fügt es sich doch in die Reihe der Befunde, dass implizite Biases als Ursache von diskriminierendem Verhalten jedenfalls keine zentrale Rolle spielen. II. Motivationale Ansätze zur Erklärung von Diskriminierung 32 Die im Folgenden angesprochenen Ansätze berücksichtigen in unterschiedlicher Weise
Motive, Persönlichkeitsmerkmale, soziale Situationen und Weltsichten als Faktoren zur Erklärung von Stereotypen und Diskriminierungstendenzen.
1. Gruppendenken 33 Das Gruppendenken lässt sich als eine Sammlung von psychologischen Mechanismen
verstehen, die dazu beitragen, dauerhafte Kooperation in sozialen Interaktionen zu ermöglichen.83 Zu diesen Mechanismen, die Kooperation erleichtern, gehören zunächst das Ingruppen/Outgruppen-Schema84 und die Repräsentation von Gruppen als eine nicht mit den Mitgliedern identische Entität mit eigenen Interessen85 Auch Formen der Sichtbarmachung und der symbolischen Vermittlung von kollektiven Identitäten durch Kleidungsstile oder Symbole,86 wiederkehrende öffentliche Rituale, geteilte Narrative über historische oder mythische Ereignisse,87 oder eine geteilte Sprache sind dafür förderlich. Zudem richtet sich an Gruppenmitglieder die Erwartung, auch im Gemeinschaftsinteresse zu handeln88 und die für Gruppenmitglieder geltenden Normen zu beachten sowie Verletzung dieser Erwartungen zu sanktionieren.89 Auch gibt es die Neigung, den Gruppen eine in Regeln oder Normen verankerte „moralische Identität“ zu unterstellen, die von den Mitgliedern geteilt wird und die es zu bewahren gilt.90 a) Ingruppenbevorzugung
34 Alle diese Aspekte des Gruppendenkens tragen dazu bei, dass Gruppen als „Behälter ge-
neralisierter Reziprozität“ funktionieren, innerhalb derer die Teilnehmer, aber nicht
82 Lee, Does Implicit Bias Predict Dictator Giving, Games 9 (2018), S. 73. 83 Tomasello (Fn. 47), S. 123 ff.; Yamagishi/Kiyonari (Fn. 45), S. 93. 84 Antweiler, Was ist den Menschen gemeinsam?, 2. Aufl. 2009, S. 188 f. (als anthropologische Konstante);
Dovidio/Gaertner, Intergroup Bias, in: Fiske/Gilbert/Lindzey (Hrsg.), Handbook of Social Psychology, Bd. II, 5. Aufl. 2010, S. 1084 ff. 85 Tomasello (Fn. 47), S. 123 ff. 86 Richerson/Boyd, Not by Genes Alone, 2006, S. 211 ff. 87 László, Historical Tales and National Identity, 2013. 88 Haidt/Kesebir, Morality, in: Fiske/Gilbert/Lindzey (Hrsg.), Handbook of Social Psychology, Bd. II, 5. Aufl. 2010, S. 819; Maitner/Smith/Mackie, Intergroup Emotions Theory, in: Sibley/Barlow (Hrsg.), The Cambridge Handbook of the Psychology of Prejudice, 2017, S. 114 f. 89 Tomasello (Fn. 47), S. 134 ff.; Shinada/ Yamagishi/Ohmura, False Friends are Worse than Bitter Enemies, Evolution and Human Behavior 25 (2004), S. 379. 90 Yzerbyt/Demoulin, Intergroup Relations, in: Fiske/Gilbert/Lindzey (Hrsg.), Handbook of Social Psychology, Bd. II, 5. Aufl. 2010, S. 1024 (1034 ff.). Stefan Magen
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Außenseiter, von den anderen Gruppenmitgliedern eine gesteigerte Neigung zu kooperativem Verhalten erwarten können. Bereits diese durch Gruppenmitgliedschaft bedingte Kooperationsneigung bewirkt als Kehrseite eine Tendenz zur Diskriminierung von Outgruppenmitgliedern, insoweit diese nicht in den Genuss der für Gruppenmitglieder bestehenden Kooperationsvermutung kommen. Das Verhältnis zu Outgruppenmitgliedern und anderen Gruppen ist insoweit zwar nicht von vorherein konkurrierend oder feindlich.91 Die Präferenz zur Kooperation mit Ingruppenmitgliedern verursacht aber wegen ihrer diskriminierenden Wirkungen gegenüber Nichtmitgliedern eine indirekte Bevorzugung der Gruppenmitglieder.92 Auch wenn Eigengruppenbevorzugung keine explizit negativen Einstellungen gegenüber Nichtgruppenmitgliedern beinhaltet, sondern nur Indifferenz oder Vorsicht, können die diskriminierenden Wirkungen von Eigengruppenbevorzugung durchaus erheblich sein.93 Denn materielle und soziale Entfaltungschancen hängen in erheblichem Umfang davon ab, dass man zu beruflichen, geschäftlichen und sozialen Interaktionen freiwillig zugelassen wird (einen Arbeitsplatz angeboten bekommt, eine Wohnung anmieten kann, etc.). Schon bloße Indifferenz gegenüber Outgruppenmitgliedern kann zur Zugangsbarriere werden, wenn sich Ingruppenmitglieder positiver gegenüberstehen. b) Gruppenkonflikte
Eine zentrale Variable für das Ausmaß von Vorurteilen gegenüber anderen Gruppen ist die 35 empfundene Intensität von Konflikten zwischen den Gruppen, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob eine Gruppe als Bedrohung für die Ingruppe wahrgenommen wird.94 Je größer die Gefahr durch eine Outgruppe erscheint, desto stärker werden deren Angehörige in Stereotypen und nicht als Individuen wahrgenommen,95 desto eher werden den Mitgliedern der Outgruppe böse Absichten oder ein schlechter Charakter unterstellt96 und desto 91 Machery, The Evolution of Tribalism, in: Kiverstein (Hrsg.), The Routledge Handbook of Philosophy
of the Social Mind, 2017, S. 88 (96 ff.); Brewer, Intergroup Discrimination: Ingroup Love or Outgroup Hate?, in: Sibley/Barlow (Hrsg.), The Cambridge Handbook of the Psychology of Prejudice, 2017, S. 90 ff. 92 Brewer (Fn. 91), S. 90 ff.; Tomasello (Fn. 47), S. 134 ff.; Yamagishi/Kiyonari (Fn. 45); Machery (Fn. 91), S. 93. 93 Machery (Fn. 91), S. 93 vermutet, die Grundeinstellung gegenüber unbekannten Outgroups sei nicht neutral, sondern von Vorsicht und Misstrauen geprägt. 94 Stephan/Stephan, Intergroup Threats, in: Sibley/Barlow (Hrsg.), The Cambridge Handbook of the Psychology of Prejudice, 2017, S. 131 (137 ff.). 95 De Dreu, Social Conflict, in: Fiske/Gilbert/Lindzey (Hrsg.), Handbook of Social Psychology, Bd. II, 5. Aufl. 2010, S. 983 (1001); Lickel, Retribution and Revenge, in: Tropp (Hrsg.), The Oxford Handbook of Intergroup Conflict, 2012, S. 89 (97 ff.); Kinder, Prejudice and Politics, in: Huddy/Sears/Levy (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Psychology, 2. Aufl. 2013, S. 812 (821 ff.). 96 Kennedy/Pronin, When Disagreement Gets Ugly: Perceptions of Bias and the Escalation of Conflict, Personality and Social Psychology Bulletin 34 (2008), S. 833; Pronin, Perception and Misperception of Bias in Human Judgment, Trends in Cognitive Sciences 11 (2007), S. 37; Pronin/Gilovich/Ross, Objectivity in the Eye of the Beholder: Divergent Perceptions of Bias in Self Versus Others, Psychological Review 111 (2004), S. 781; Pronin/Lin/Ross, The Bias Blind Spot: Perceptions of Bias in Self Versus Others, Personality and Social Psychology Bulletin 28 (2002), S. 369; Pronin/Kennedy/Butsch, Bombing Versus Negotiating: Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
eher werden sie psychologisch herabgewürdigt97 und dehumanisiert.98 Die empfundene Intensität des Gruppenkonflikts hat aber auch Folgen für das Verhältnis der Ingruppenmitglieder untereinander. Von diesen wird mit steigender Konfliktintensität größere Solidarität mit der Gruppe bis hin zu Opferbereitschaft eingefordert.99 Auch werden Gruppennormen stärker für unverfügbar100 oder sakrosankt erklärt,101 und Verstöße gegen Gruppennormen und Gruppeninteressen werden intern härter sanktioniert.102 Die Stärke der Forderung nach Solidarität gegenüber den Mitgliedern wie auch die Aggressivität gegenüber den Outgruppen sind insoweit beides Funktionen der Intensität der Konfrontation mit den relevanten Outgruppen. Beide Aspekte können Diskriminierungstendenzen verursachen. Gegenüber Outgruppenmitgliedern steigt die Intensität der Vorurteile, der Grad der Stereotypisierung und die Intensität der Neigung zu diskriminierendem Verhalten. Es steigt aber auch nach innen die Intensität der Forderung nach Solidarisierung gegen Outgruppen. Das kann zum Problem für das Antidiskriminierungsrecht werden, nicht nur weil intensivere Vorurteile in der Bevölkerung die Legitimität und Durchsetzung von Antidiskriminierungsrecht erodieren können. Auch informale soziale Normen gegen Diskriminierung, die in der Bevölkerung gewachsen sind, könnten an Bindungskraft verlieren.103 2. Autoritarismus 36
Unter dem unmittelbaren Eindruck des Nationalsozialismus beschäftigten sich Forschungen in der Sozialpsychologie mit der Frage, inwieweit autoritäre Regime und die in ihnen normalisierte Diskriminierung von Minderheiten auf psychologische Ursachen zurückgeführt werden können. Einer der einflussreichsten Ansätze dazu war die Theorie der autoritären Persönlichkeit von Adorno et al. (1950).104 Die These war, dass die DiskrimiHow Preferences for Combating Terrorism Are Affected by Perceived Terrorist Rationality, Basic and Applied Social Psychology 28 (2006), S. 385 ff. 97 Maitner/Smith/Mackie (Fn. 88), S. 117 f. 98 Haslam/Loughnan, Dehumanization and Infrahumanization, Annual Review of Psychology 65 (2014), S. 399 (407); Bilali/Ross, Remembering Intergroup Conflict, in: Tropp (Hrsg.), The Oxford Handbook of Intergroup Conflict, 2012, S. 123 (127 f.). 99 Bar-Tal/Halperin, The Psychology of Intractable Conflicts, in: Huddy/Sears/Levy (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Psychology, 2. Aufl. 2013, S. 923 (931). 100 McCauley/Moskalenko, Friction, 2. Aufl. 2017, S. 135 f. 101 Sheikh/Ginges/Coman/Atran, Religion, Group Threat and Sacred Values, Judgment and Decision Making 7 (2012), S. 110; Scott/Jeremy, Religious and Sacred Imperatives in Human Conflict, Science 336 (2012), S. 855 ff.; Ginges/Atran, Sacred Values and Cultural Conflict, in: Gelfand/Chiu/Hong (Hrsg.), Advances in Culture and Psychology, Bd. IV, 2013, S. 273 ff. 102 McCauley/Moskalenko (Fn. 100), S. 135 f. 103 Crandall/Miller/White II, Changing Norms Following the 2016 U. S. Presidential Election; Social Psychological and Personality Science 2018, S. 186; siehe unten Rn. 78 (E. IV. 2.). 104 Adorno/Frenkel-Brunswik/Levinson/Sanford, The Authoritarian Personality, 1950; zur Wirkungsgeschichte Duckitt, Authoritarian Personality, in: Wright (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 2. Aufl. 2015, S. 255 ff.; zum Forschungsstand Duckitt/Sibley, The Dual Process Motivational Model of Ideology and Prejudice, in: Sibley/Barlow (Hrsg.), The Cambridge Handbook of the Psychology of Prejudice, 2017, S. 188 ff. Stefan Magen
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nierung und Verfolgung von Fremdgruppen auf autoritäre Persönlichkeitsstrukturen zurückgeführt werden könne. Autoritäre Persönlichkeitsstrukturen wurden nach den damals verbreiteten psychoanalytischen Ansätzen auf Fehlentwicklungen in der frühen Kindheit zurückgeführt.105 Autoritarismus wurde dabei als stabiles Merkmal individueller Personen verstanden. Gemessen wurde Autoritarismus mit der sogenannten F-Scale (FaschismusSkala), die nach Einstellungen wie den folgenden fragte: strikter Konventionalismus, Unterordnung unter Autoritäten, Aggression gegenüber Normverletzern, Ablehnung von Introspektion, Aberglaube, Stereotypen, Dominanz und Stärke, Destruktivität und Zynismus sowie der Glaube an eine gefährliche Welt.106 Ungeachtet vieler methodischer Probleme waren diese Forschungen das Sprungbrett für ein einflussreiches Forschungsprogramm zum Autoritarismus als Ursache von Diskriminierung. Dieses Forschungsfeld hat sich über die Zeit empirisch wie theoretisch weitreichend fortentwickelt.107 a) Zwei Dimensionen des Autoritarismus: Kohäsion vs. Dominanz
Zunächst hat sich gezeigt, dass unter dem ursprünglichen Konzept des Autoritarismus 37 zwei verschiedene Cluster von Einstellungen vermischt werden, nämlich einerseits eine Einstellung, die als rechter Autoritarismus bezeichnet wird,108 und andererseits die sogenannte soziale Dominanzorientierung. Beide reagieren auf unterschiedliche soziale Situationen und haben unterschiedliche Diskriminierungstendenzen. Sie werden auch von unterschiedlichen Persönlichkeitsprofilen begünstigt. Rechter Autoritarismus wird durch das Ziel motiviert, die gesellschaftliche Ordnung und Kohäsion zu bewahren. Dominanzorientierung zielt dagegen auf die Durchsetzung von gesellschaftlichen Hierarchien ab. Anders als von Adorno et al. angenommen, werden der rechtslastige Autoritarismus und die Dominanzorientierung zunehmend aber nicht mehr als stabile Persönlichkeitsmerkmale gesehen, sondern als sozial-ideologische Einstellungen, die auf soziale Kontexte und Situationen reagieren. Der Unterschied zwischen beidem liegt darin, dass Persönlichkeitsmerkmale gegenüber Veränderungen der Lebenssituation und den Umständen relativ unabhängig sind, während sich ideologische Einstellungen bei einem Wechsel der Lebensumstände (etwa vom Studium zum Beruf ) oder der gesellschaftlichen Situation (etwa in einer schweren Wirtschaftskrise) eher ändern können. Zum Beispiel sind die sogenannten Big-Five Persönlichkeitsmerkmale (Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit, Neurotizismus) ab einem bestimmten Alter vergleichsweise stabil,109 während ideologische Einstellungen stärker auf Veränderungen der sozialen Situation reagieren. Letzteres jedenfalls hat sich auch in Bezug auf den Autoritarismus zeigen lassen.110 Spears/Tausch (Fn. 1), S. 512. Duckitt (Fn. 104), S. 255 f. Duckitt (Fn. 104), S. 256–259. Right-Wing Authoritarism bzw. RWA; vgl. Altemeyer, Right-Wing Authoritarianism, 1981; dazu Duckitt (Fn. 104), S. 258. 109 Duckitt/Sibley (Fn. 104), S. 192; vgl. McCrae/Costa, The Five-Factor Theory of Personality, in: John/ Robins/Pervin (Hrsg.), Handbook of Personality: Theory and Research, 2008, S. 159 ff. 110 Duckitt/Sibley (Fn. 104), S. 189 ff. 105 106 107 108
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Beide Dimensionen des Autoritarismus können Diskriminierung motivieren, aber aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlicher Zielrichtung.111 Menschen mit rechten autoritären Einstellungen zeigen eher eine Tendenz zur Benachteiligung von Personen, wenn durch sie Autoritäten, die Ordnung oder die Kohäsion der Gesellschaft bedroht oder infrage gestellt wird (z. B. traditionale Geschlechterbilder). Die nachteilige Behandlung erwächst dann aus dem Motiv, gesellschaftliche Autoritäten, Normen und Werte vor Erosion zu bewahren. Menschen mit sozial-dominanten Einstellungen neigen dagegen zur Benachteiligung von Personen, wenn sie den höheren sozialen Status und die Privilegien der eigenen Gruppe in Frage gestellt sehen. Motivation der nachteiligen Behandlung ist dann, den höheren sozialen Status oder die mit ihm verbundenen Vorteile zu verteidigen oder durchzusetzen. b) Rechter Autoritarismus
39 Wie bereits erwähnt wird Autoritarismus heute eher nicht mehr als Persönlichkeitsmerk-
mal angesehen, sondern als ideologische Einstellung. Inhaltlich wird rechter Autoritarismus in drei Dimensionen aufgefächert: (1) Festhalten an von Autoritäten identifizierten kulturellen und politischen Werten und Ansichten, (2) Unterordnung unter legitime Autoritäten und (3) Aggression gegenüber Gruppen und Individuen, die Autoritäten und Werte infrage stellen, sowie gegen Minderheitengruppen.112 Auf rechts-autoritäre Einstellungen würde es z. B. hindeuten, wenn man sich für harte Sanktionen von Straftaten einsetzt, militärische Gewalt befürwortet oder Vorurteile gegenüber politisch oder kulturell abweichenden Minderheiten äußert. Starke rechts-autoritäre Einstellungen sind konsistente statistische Prädiktoren für Vorurteile rassistischer und sexistischer Art sowie für Vorurteile gegen Homosexuelle und ethnische und religiöse Minderheiten.113 Personen mit besonders starken rechts-autoritären Einstellungen tendieren dazu, mehrere Arten von Vorurteilen zu hegen. Rechtsautoritäre Einstellungen waren auch statistische Prädiktoren für die Unterstützung des Brexits und der radikalen Rechten.114 Für Minderheitengruppen können die Wirkungen rechts-autoritärer Einstellungen dagegen andere Funktionen haben als für die gesellschaftliche Mehrheit. Sich sozialkonform zu verhalten, kann Minderheiten z. B. helfen, gesellschaftliche Nachteile und Stigmatisierungen zu vermeiden. c) Soziale Dominanzorientierung
40 Vom rechten Autoritarismus ist eine weitere Quelle diskriminierender Einstellungen zu un-
terscheiden, die sogenannte soziale Dominanzorientierung.115 Die Dominanzorientierung
Duckitt/Sibley (Fn. 104), S. 200 ff. Spears/Tausch (Fn. 1), S. 513. Jackson (Fn. 1), S. 71 ff. Golec de Zavala/Guerra/Simao, The Relationship Between the Brexit Vote and Individual Predictors of Prejudice, Frontiers in Psychology 8 (2017), Article 2023, https://doi.org/10.3389/fpsyg.2017.02023. 115 Sidanus/Cotterill/Sheehy-Skeffington/Kteily/Carcacho, Social Dominance Theory: Explorations in the Psychology of Opression, in: Sibley/Barlow (Hrsg.), The Cambridge Handbook of the Psychology of Prejudice, 2017, S. 149 ff. 111 112 113 114
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wird ebenso wie der rechte Autoritarismus als eine ideologische Einstellung angesehen, die bei Personen geringer oder stärker ausgeprägt sein kann.116 Thema der Dominanzorientierung sind aber nicht Kohäsion und soziale Ordnung, sondern Einstellungen gegenüber sozialen Hierarchen (egalitäre vs. hierarchische Beziehungen). Mitunter wird auch in Bezug auf Organisationen und Sozialstrukturen von unterschiedlich ausgeprägten Dominanzorientierungen gesprochen.117 Dominanzorientierung ist Ausdruck einer Einstellung, die auf Macht, Dominanz und Überlegenheit abzielt. Diskriminierungstendenzen werden bei Personen mit Dominanzorientierung beispielsweise angesprochen, wenn diese sich durch Konkurrenz bedroht fühlen. Menschen mit hoher Dominanzorientierung tendieren dazu, Ungleichheiten zwischen Gruppen zu unterstützen oder zu legitimieren. Sie finden es eher unproblematisch, dass bestimmte Gruppen andere dominieren, und sie sehen Unterschiede in Status, Macht und Wohlstand eher als unvermeidlich und akzeptabel an. Menschen mit hoher bzw. geringer Dominanzorientierung finden sich in sozialen Hierarchien nicht notwendig an hoher bzw. niedriger Stelle, aber hohe Dominanzorientierungen sind in privilegierten Gruppen und einflussreichen Positionen stärker verbreitet.118 Personen mit starker Dominanzorientierung haben eher Vorurteile gegenüber Frauen, Übergewichtigen, psychisch Kranken, Asylbewerbern und ethnischen Minderheiten und sind eher geneigt, Menschen zu dehumanisieren. Sie opponieren eher gegen politische Maßnahmen, die benachteiligten Gruppen helfen, und unterstützen eher hierarchische Organisationen, hartes Durchgreifen der Polizei und konservative Politiken.119 d) Das Zwei-Prozess-Modell von Ideologien und Vorurteilen
Das sogenannte Zwei-Prozess-Modell von Ideologien und Vorurteilen kombiniert rechten 41 Autoritarismus und soziale Dominanzorientierung in einem Modell als zwei Ursachen von Vorurteilen, die zwar voneinander unabhängig sind, sich aber gegenseitig verstärken können. Für das Verständnis von Diskriminierung ist das Zwei-Prozess-Modell vor allem insoweit interessant, als es nicht nur allgemein die Faktoren benennt, die Vorurteile begünstigen, sondern auch deren inhaltliche Diskriminierungstendenzen beschreibt. Das Zwei-Prozess-Modell von Ideologien und Vorurteilen gilt – was nicht bei allen sozialpsychologischen Theorien der Fall ist – als empirisch gut belegt.120 Sowohl beim Rechtsautoritarismus als auch bei der Dominanzorientierung werden 42 Diskriminierungstendenzen auf das Zusammenspiel von bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und einer bestimmten Wahrnehmung der sozialen Situation zurückgeführt. 116 Pratto/Sidanius/Stallworth/Malle, Social Dominance Orientation, Journal of Personality and Social
Psychology 67 (1994), S. 741; Sidanus/Cotterill/Sheehy-Skeffington/Kteily/Carcacho (Fn. 115).
117 Sidanius/Pratto, Social Dominance Theory, in: Van Lange/Kruglanski/Higgins (Hrsg.), Handbook
on Theories of Social Psychology, Bd. II, 2012, S. 418 ff.
118 Jackson (Fn. 1), S. 84. 119 Jackson (Fn. 1), S. 84 f. 120 Vgl. Duckitt/Sibley (Fn. 104), S. 193–213; vgl. auch Wedell/Bravo, Synergistic and Additive Effects of
Social Dominance Orientation and Right-Wing-Authoritarianism and Attitudes Towards Socially Stigmatized Groups, Current Psychology (2021), https://doi.org/10.1007/s12144-020-01245-7. Stefan Magen
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Zunächst unterscheiden sich die subjektiv wahrgenommenen sozialen Situationen bzw. Probleme, die rechtsautoritäre oder dominanzorientierte Vorurteile begünstigen können. Rechtsautoritarismus wird begünstigt durch die Wahrnehmung von Gefahren oder Bedrohungen für den internen sozialen Zusammenhang oder die Kohäsion der Gruppe. Dominanzorientierung wird dagegen begünstigt durch die Wahrnehmung von Ressourcenknappheit, Ungleichheit oder Wettbewerb.121 Auch die begünstigenden Persönlichkeitsmerkmale sind unterschiedlich für Rechtsautoritarismus und Dominanzorientierung. Sie werden insoweit nach dem sogenannten Fünf-Faktoren-Modell (Big Five) bestimmt (Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit, Neurotizismus).122 Das Persönlichkeitsmerkmal, das rechtsautoritäre Neigungen begünstigt, ist die sogenannte soziale Konformität, eine Kombination von hoher Gewissenhaftigkeit und geringer Offenheit gegenüber Neuem. Für Dominanzorientierung dagegen ist das begünstigende Persönlichkeitsmerkmal Kompromisslosigkeit (bzw. geringe Verträglichkeit). Das jeweilige Zusammenspiel von Persönlichkeitsmerkmalen und sozialer Situation führt dann zu unterschiedlichen Weltbildern: Das Zusammentreffen einer konformistischen Persönlichkeit und deren Wahrnehmung einer Bedrohung der sozialen Kohäsion begünstigt die für den Rechtsautoritarismus prägende Weltsicht von der Gesellschaft als einem gefährlichen Ort. Die Kombination einer kompromisslosen Persönlichkeit und der Eindruck von Konkurrenz begünstigt dagegen die für die Dominanzorientierung typische Weltsicht von der Gesellschaft als rücksichtslos kompetitivem Dschungel.123 Es sind dann wesentlich diese verschiedenen Weltsichten, aus denen Rechtsautoritarismus und Dominanzorientierung als sozial-ideologische Einstellung einzelner Personen erwachsen. Die unterschiedlichen Sichtweisen der sozialen Welt als bedrohlicher Ort oder als rück43 sichtsloser Dschungel spiegeln sich in vielfältiger Weise in unterschiedlichen legitimierenden Mythen, unterschiedlichen Auffassungen von der Struktur der Gesellschaft, unterschiedlichen Politikpräferenzen oder unterschiedlichen Vorurteilen wider:124 Personen mit einem rechtsautoritären Weltbild werden die Legitimierung von Sozialstrukturen eher in Mythen über Gruppenzusammenhalt und kollektive Sicherheit finden, während Personen mit einem sozialdominanten Weltbild die Legitimität von Sozialstrukturen eher auf Mythen von der Überlegenheit der eigenen Gruppen und die Unterlegenheit konkurrierender Gruppen stützen werden. Gesellschaftsstrukturen können rechtsautoritär verstanden werden als auf eine gemeinsame Moral und gemeinsame Werte gegründet, oder sozialdominant als auf Status, Leistung und Macht basierend. Rechtsautoritäre Politiken oder Führungspersonen werden tendenziell Maßnahmen unterstützen, die Sicherheit, Recht, Ordnung, und Traditionen betonen, wohingegen sozialdominante Politiken und Führungspersonen eher Maßnahmen unterstützen werden, die den freien Markt und kompetitiven Wettbewerb befürworten und die Sozialpolitik oder den Ausgleich von historischer Diskriminierung ablehnen. Vorurteile können schließlich rechtsautoritär gegen121 122 123 124
Duckitt/Sibley (Fn. 104), S. 190 ff. Duckitt/Sibley (Fn. 104), S. 192. Spears/Tausch (Fn. 1), S. 517. Duckitt/Sibley (Fn. 104), S. 190 ff. Stefan Magen
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über Gruppen oder Personen gehegt werden, die von der Ordnung abweichen bzw. die Ordnung infrage stellen, oder sozialdominant gegenüber Personen, die um Status oder Ressourcen konkurrieren oder einen geringeren Status haben. e) Autoritäre vs. dominante Diskriminierungstendenzen
Aus dem Zwei-Prozess-Modell folgen mithin für beide Weltsichten inhaltlich unterschied- 44 liche Diskriminierungstendenzen (rechtsautoritäre und sozialdominante), die nach dem Zwei-Prozess-Modell aus zwei unterschiedlichen grundlegenden Motiven folgen: dem Bedürfnis nach Kohäsion und Sicherheit, das von der Wahrnehmung einer Bedrohung des inneren Zusammenhangs angestoßenen wird (Rechtsautoritarismus), oder dem Bedürfnis nach Überlegenheit und Macht gegenüber anderen Gruppen, das durch Wettbewerb mit Outgruppen ausgelöst wird (Dominanzorientierung). Die unterschiedliche Motivation der beiden Weltsichten schlägt sich in deutlich unterschiedlichen Diskriminierungstendenzen nieder.125 Personen mit rechtautoritären Einstellungen werden insoweit eher Vorurteile gegenüber Gruppen und deren Mitgliedern entwickeln, wenn diese die soziale Ordnung gefährden, und werden eher ein entschiedenes Vorgehen gegen solche Gruppen befürworten.126 Personen mit dominanzorientierten Einstellungen werden dagegen eher Vorurteile gegen Gruppen mit geringem Status und gegenüber Gruppen hegen, die die Überlegenheit der eigenen Gruppe bedrohen oder in Frage stellen.127 Eine Gruppe kann aber auch von beiden Arten von Vorurteilen betroffen sein, nämlich wenn sie sowohl die normative Kohäsion bedroht als auch einen geringen Status aufweist. Das kann zum Beispiel der Fall sein bei ethnischen Minderheiten, die als Konkurrenz wahrgenommen werden und deren Kultur als inkompatibel mit der Mehrheitskultur empfunden wird. Es kann aber auch sein, dass eine Gruppe als Bedrohung der sozialen Kohäsion wahrgenommen wird, aber nicht als Konkurrenz (z. B. Rockstars oder Drogendealer). Umgekehrt kann eine Gruppe nicht als Bedrohung wahrgenommen werden, aber wegen ihres geringen sozialen Status Vorurteilen ausgesetzt sein (z. B. behinderte Menschen, Arbeitslose oder Hausfrauen). Die motivationale Differenz zwischen rechtsautoritären und dominanzorientierten Dis- 45 kriminierungstendenzen konnte auch in Bezug auf unterschiedliche Formen der Diskriminierung von Frauen und ethnischen Minderheiten gezeigt werden. Vermeintlich „wohlwollende“ Diskriminierungstendenzen wie die Verteidigung traditioneller Rollenmodelle sind eher rechtsautoritär motiviert, während Konkurrenz durch Frauen im Arbeitsleben eher „feindselige“ sozialdominante Diskriminierungstendenzen hervorruft. Vergleichbare Unterschiede aufgrund der verschiedenen Motivationslagen konnten auch hinsichtlich der Diskriminierung von ethnischen Gruppen beobachtet werden. Rechtsautoritär motivierter Ethnozentrismus zielt eher auf die Bevorzugung von Gruppenmitgliedern, um die Kohäsion zu erhalten, während dominanzorientierter Ethnozentrismus eher den höheren 125 Dazu und zum folgenden ausführlich Duckitt/Sibley (Fn. 104), S. 202–205. 126 Duckitt/Sibley (Fn. 104), S. 200. 127 Duckitt/Sibley (Fn. 104), S. 201 f.
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
Status der Mehrheit gegenüber ethnischen Minderheiten verteidigt.128 Auch bei den Strategien zur Ausblendung moralischer Bedenken gegen Diskriminierung zeigten sich Differenzen zwischen Kohäsion und Statusbewahrung: Bedrohungsbasierte Diskriminierungstendenzen werden eher mit Verweis auf die Notwendigkeit zum Schutz der Gesellschaft gerechtfertigt, statusbasierte Diskriminierung dagegen eher durch Dehumanisierung und Schuldzuweisung an die Betroffenen.129 Allgemeiner gesprochen werden rechtsautoritäre Diskriminierungstendenzen durch eine wahrgenommene Bedrohung für den sozialen Zusammenhalt verstärkt, während sozialdominante Diskriminierungstendenzen durch die wahrgenommene Konkurrenz durch andere Gruppen verstärkt werden.130 3. Stereotypen-Inhalt-Modell 46 Im Unterschied zum Autoritarismus und dem Zwei-Prozess-Modell von Ideologie und
Vorurteilen setzt das Stereotypen-Inhalt-Modell nicht bei Persönlichkeitsunterschieden oder bei ideologischen Weltsichten als erklärende Variablen an. Das Stereotypen-InhaltModell verfolgt vielmehr das Ziel, Stereotype auf zwei fundamentale Dimensionen sozialer Bewertungen zurückzuführen und mit deren Hilfe vier allgemeine Diskriminierungstendenzen zu unterscheiden.131
a) Warm/kalt vs. kompetent/inkompetent 47 Die entscheidenden Variablen des Zwei-Prozess-Modells bestehen aus der Kombination
von zwei fundamentalen sozialen Bewertungsdimensionen, nämlich einerseits der Dimension der „Wärme/Kälte“ und andererseits der Dimension der „Kompetenz/Inkompetenz“. Nach diesem Ansatz werden Beziehungen zwischen Individuen, Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen bis hin zu Beziehungen zwischen Gruppen132 nach der wahrgenommenen „Wärme“ und der wahrgenommenen „Kompetenz“ des Gegenübers beurteilt.133 Beide Bewertungsdimensionen haben zwei Teilaspekte.134 Die erste Bewertungsdimension der Wärme hat die Teilaspekte der Freundlichkeit und der Moralität (bzw. der Kooperativität und der Normbefolgung). Auch die zweite Bewertungsdimension der KomDuckitt/Sibley (Fn. 104), S. 205 f. Duckitt/Sibley (Fn. 104), S. 207. Duckitt/Sibley (Fn. 104), S. 206. Fiske/Cuddy/Glick/Xu, A Model of (Often Mixed) Stereotype Content, Journal of Personality and Social Psychology 82 (2002), S. 878; Fiske/Cuddy/Glick, Universal Dimensions of Social Cognition: Warmth and Competence, Trends in Cognitive Sciences 11 (2006), S. 77; Fiske, Intergroup Biases: A Focus on Stereotype Content, Behavioral Sciences 2015, S. 45; Fiske, Stereotype Content: Warmth and Competence Endure, Current Directions in Psychological Science 27 (2018), S. 67. 132 Abele/Ellemers/Fiske/Koch/ Yzerbyt, Navigating the Social World, in: Psychological Review 2020, S. 1 (2). 133 Fiske (Fn. 131), S. 1 f. 134 Abele/Hauke/Peters/Louvet/Szymkow/Duan, Facets of the Fundamental Content Dimensions, Frontiers in Psychology 7 (2016), S. 1; Fiske, Warmth and Competence are Parallels to Communion and Agency: Stereotype Content Model, in: Abele/Wojciszke (Hrsg.), Agency and Communion in Social Psychology, 2019, S. 39 ff. 128 129 130 131
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petenz ist in zwei Aspekte aufgefächert, nämlich in Befähigungen und Durchsetzungsfähigkeit.135 Kombiniert man die beiden fundamentalen Bewertungsdimensionen bei der Bewertung von Gruppen, dann können Gruppen vier Kombinationen von Eigenschaften zugeschrieben werden: warm und kompetent, warm und inkompetent, kalt und kompetent sowie kalt und inkompetent. b) Verächtliche, paternalistische, neidische und überhöhende Diskriminierungstendenzen
Die eigene Ingruppe wird insoweit regelmäßig als warm und kompetent angesehen. Auch eng verbundene Gruppen werden eher als warm und kompetent wahrgenommen. Zu den warmen und kompetenten Gruppen gehören zudem Gruppen, die als Prototypen für eine Gesellschaft gelten. Typischerweise werden dazu Staatsbürger und Angehörige der Mittelklasse, nach Befunden in den USA auch Hausfrauen, Christen, Heterosexuelle und farbige Amerikaner mit höherer Berufsausbildung gezählt.136 Auch gegenüber diesen Gruppen kann man von Stereotypen und Vorurteilen sprechen, allerdings mit dem Unterschied, dass es sich nicht um negative, sondern um positive Diskriminierungstendenzen handelt. Das deckt sich mit Befunden einer systematischen Neigung zur Ingruppen-Bevorzugung. Aufschlussreich ist das Stereotypen-Inhalt-Modell aber vor allem deshalb, weil es über die generische Neigung zur Ingruppen-Bevorzugung und Outgruppen-Abwertung hinaus auf theoretisch fundierter Grundlage inhaltlich die unterschiedlichen Formen von Vorurteilen gegenüber Outgruppen zu unterscheiden und erklären vermag. Nach den beiden grundlegenden Bewertungsdimensionen der Wärme und der Kompetenz können nämlich drei Arten von Outgruppen differenziert werden: solche, die als kalt und kompetent wahrgenommen werden; solche die als warm und inkompetent wahrgenommen werden; und solche die als kalt und inkompetent wahrgenommen werden. Man kann dann vier Stereotype unterscheiden: überhöhende Stereotype gegenüber warmen und kompetenten Ingruppen, verächtliche Stereotypen gegenüber kalten und inkompetenten Outgruppen, paternalistische Stereotype gegenüber warmen, aber inkompetenten Outgruppen, und neidische Stereotype gegenüber kalten und kompetenten Outgruppen. Die der Eigengruppe und den für eine Gesellschaft prototypischen Gruppen stehen spiegelbildlich diejenigen Gruppen gegenüber, die von der Mehrheit als kalt und inkompetent empfunden werden. Sie werden in beiden Dimensionen negativ gesehen. Kalte und inkompetente Gruppen lösen Gefühle von Verachtung und Abscheu aus. Solche Vorurteile treffen typischerweise Arme, Obdachlose oder Immigranten. Nach Befunden in den USA gibt es Tendenzen für verächtliche Stereotype gegenüber armen Farbigen, Einwanderern, Empfängern von Wohlfahrtsleistungen, Obdachlosen, Feministinnen, Latinos, Arabern, Afrikanern und Muslimen.137 Die beiden weiteren Kategorien von Gruppen sind insoweit als ambivalent kategorisiert, als dass sie jeweils eine positive und eine negative Eigenschaft vereinen. Gruppen, 135 Abele/Hauke/Peters/Louvet/Szymkow/Duan (Fn. 134); Fiske (Fn. 134). 136 Fiske/Cuddy/Glick (Fn. 131), S. 80. 137 Fiske (Fn. 131), S. 68; Fiske/Cuddy/Glick (Fn. 131), S. 80.
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die als warm aber inkompetent wahrgenommen werden, lösen tendenziell Mitleid und Mitgefühl aus. Zu diesen Gruppen werden typischerweise ältere Menschen, behinderte Menschen und Kinder gezählt, in den USA auch Italiener und Iren. Vorurteile gegenüber diesen Gruppen kann man als paternalistisch bezeichnen. Gruppen schließlich, die als kalt und kompetent empfunden werden, lösen typischerweise Neid und Eifersucht aus. Solche Vorurteile richten sich häufig gegen Reiche oder Experten, nach Befunden aus den USA beispielsweise gegen Asiaten, Juden, Briten und Deutsche. Entsprechend richten sich gegen kalte und kompetente Gruppen neidische Vorurteile.138 III. Verhaltensökonomische Ansätze zur Erklärung von Diskriminierung 52 Aus der Verhaltensökonomie sind zwei sehr unterschiedliche Themenkreise für das Ver-
ständnis von Diskriminierung relevant. Der erste Themenkreis hat Überschneidungen zur Soziologie und befasst sich mit diskriminierenden sozialen Normen. Der zweite Themenkreis untersucht Diskriminierung im Zusammenhang von wirtschaftlichen Transaktionen.
1. Diskriminierende soziale Normen 53 Soziale Normen (bzw. informale Normen) sind ein nicht zu unterschätzender Faktor für
diskriminierendes Verhalten, weil sie diskriminierende Strukturen aufrechterhalten und gegen rechtliche Bestimmungen abschirmen können. Mit sozialen Normen generell und mit diskriminierenden Normen im Speziellen befassen sich sozialpsychologische wie auch verhaltensökonomische Ansätze.139 Zum Teil werden diese unter dem Stichwort „Institutioneller Bias“ thematisiert.140 a) Soziale Normen
54 Sozialen Normen fehlt im Unterschied zu Rechtsnormen die formale Institutionalisierung
durch Rechtssetzung, Gerichte und Vollstreckungsorgane. Sie gehören entsprechend nicht zum Rechtssystem, sondern bestehen aus sozialen Praktiken, in denen normative Erwartungen kommuniziert und durchgesetzt werden. In Abgrenzung zum Recht werden soziale Normen auch als informale Normen bezeichnet. Im Unterschied zu Rechtsnormen entstehen soziale Normen dezentral und existieren in und durch die Interaktionen der Beteiligten. Sie müssen als dauerhafte Praxis in Gruppen oder Netzwerken etabliert und perpetuiert werden. Insoweit sind soziale Normen praktisch auf dauerhafte Interaktionen angewiesen.141 Im Unterschied zu Rechtsnormen werden soziale Normen mit informalen Sanktionen durchgesetzt. Informale Sanktionen können von freundlichen Ermahnungen, Kritik, Ignorieren, Isolierung, Ostrazismus bis hin zu sozialer Erniedrigung und kör-
138 Fiske (Fn. 131), S. 68; Fiske/Cuddy/Glick (Fn. 131), S. 80 f. 139 Z. B. McDonald/Crandall, Social Norms and Social Influence, Current Opinion in Behavioral Sci-
ences 3 (2015), S. 147.
140 Henry (Fn. 46), S. 434. 141 Siehe oben Rn. 21 (C. II. 3.).
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D. Faktoren für Diskriminierung
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perlicher Gewalt reichen.142 Dass soziale Normen dezentral entstehen und durchgesetzt werden, bedeutet allerdings in keiner Weise, dass sich nicht Unterschiede in Macht und Einfluss im Norminhalt niederschlügen oder dass die Interessen aller gleichermaßen berücksichtigt würden. Vielmehr sind soziale Normen regelmäßig das Resultat von Machtund Verteilungskämpfen, in denen Status, Macht und Ressourcen auf Subgruppen oder Rollenträger verteilt und verstetigt werden. Soziale Normen, die starke Ungleichheiten perpetuieren, werden in der Verhaltensökonomie auch als „Normen der Voreingenommenheit“ bezeichnet (norms of partiality).143 b) Diskriminierende soziale Normen und psychologische Diskriminierungstendenzen
Als ein allgemeiner Mechanismus normativer Ordnung sind soziale Normen für sich ge- 55 nommen nicht inhärent diskriminierend. Ob eine soziale Norm diskriminierend ist, ist vielmehr eine Frage des Inhalts der Norm bzw. des von der Norm geforderten Verhaltens. Insoweit kann man speziell von diskriminierenden sozialen Normen sprechen, wenn soziale Normen direkt an pönalisierte Merkmale anknüpfen oder gruppenbezogene strukturelle Disparitäten perpetuieren.144 Entsprechend können soziale Normen im Grundsatz für jede der Formen von Diskriminierung ursächlich sein, die das Antidiskriminierungsrecht unterscheidet: Soziale Normen können explizit an verpönte Merkmale anknüpfen („man vermietet nicht an die X“), können Diskriminierung intendieren ohne dies auszusprechen („man sagt nicht, aber weiß, dass man nicht an die X vermietet“), können aufgrund einer Kategorienmitgliedschaft vermeintliche Eigenschaften unterstellen („man vermietet nicht an X, weil sie Probleme machen“) und können strukturelle Benachteiligungen verursachen (z. B. die Ghettoisierung von X in bestimmten Vierteln). Was das Verhältnis von sozialen Normen und psychologischen Diskriminierungsten- 56 denzen anbetrifft, sollten beide nicht als getrennte Diskriminierungsursachen verstanden werden. Zwischen psychologischen Faktoren für Diskriminierung und diskriminierenden sozialen Normen können vielmehr enge inhaltliche Wechselwirkungen bestehen. In Bezug auf die Diskriminierungstendenzen von sozialen Normen ist es beispielsweise naheliegend, dass sich kognitiv und motivational begründete Vorurteile in Inhalt oder Motivation diskriminierender sozialer Normen niederschlagen. Umgekehrt werden diskriminierende soziale Normen ihre empfundene Legitimität auch daraus beziehen, dass sie psychologische Vorurteile und Diskriminierungstendenzen aufgreifen. Insbesondere können sich psychologische Diskriminierungstendenzen im Inhalt und der Stoßrichtung von diskriminierenden sozialen Normen niederschlagen. Beispielsweise ist es nach dem Stereotypen-InhaltModell wahrscheinlich, dass Einwanderer aus manchen Kulturkreisen tendenziell als kalt 142 McDonald/Crandall (Fn. 139). 143 Ullmann-Margalit, The Emergence of Norms, 1977, S. 135 ff.; Ullmann-Margalit/Sunstein, Inequality
and Indignation, Philosophy and Public Affairs 30 (2002), S. 337.
144 Vgl. Kende/Hadarics/Lasticova, Anti-Roma Attitudes as Expressions of Dominant Social Norms in
Eastern Europe, International Journal of Intercultural Relations 60 (2017), S. 12; Lankester/Alexopoulos, From Diversity Ideologies to the Expression of Stereotypes, Frontiers in Psychology 11 (2021), Art. 591523. Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
und inkompetent wahrgenommen und eher verächtlich behandelt werden.145 Diese Diskriminierungstendenz kann dann die Entstehung von sozialen Normen begünstigen, die es beispielsweise als sozial akzeptabel ausweisen, Einwanderer aus diesen Kulturkreisen bei Miet- oder Arbeitsverhältnissen zu meiden, weil sie als „schwierig“ betrachtet werden. Verächtliche Stereotype können insoweit dazu beitragen, diskriminierenden sozialen Normen den Schein der Legitimität zu verleihen, weil diese aufgrund des Stereotyps als sachlich begründet erscheinen. Oder eine empfundene Bedrohung der sozialen Ordnung wie zum Beispiel in der Flüchtlingskrise 2015/16 kann rechtsautoritäre Tendenzen stärken. Diese können dann die Entstehung sozialer Normen begünstigen, die eine Begrenzung der Einwanderung fordern und sich gegen humanitäre Maßnahmen wenden.146 Soziale Normen gehen in solchen Konstellationen über individuelle psychologische Diskriminierungstendenzen hinaus insoweit sie diskriminierendes Verhalten sozial legitimieren oder sogar fordern. Sie können dann wie eine Erlaubnisnorm wirken. 2. Diskriminierung in wirtschaftlichen Transaktionen 57 Die Ökonomie der Diskriminierung beschäftigt sich unter anderem mit den Auswirkun-
gen von Diskriminierung auf Märkte und wirtschaftliche Transaktionen. Eine gängige ökonomische Definition geht von einer Diskriminierung aus, wenn bei vergleichbaren Umständen Mitglieder von Minderheitengruppen schlechter behandelt werden als die Mitglieder der Mehrheit.147 Empirisch untersucht die Ökonomie den Einfluss von Gruppenzugehörigkeiten auf Märkten und in „strategischen Interaktionen“ mit spieltheoretischen Experimenten, Feldstudien und Marktanalysen.
a) Diskriminierung auf Märkten: präferenzbasiert vs. informationsbezogen 58 In der Ökonomie der Diskriminierung gibt es zwei prominente Ansätze zur Erklärung
von disparaten Marktergebnissen zwischen Gruppen. Die erste nimmt an, dass Menschen unterschiedlich starke Präferenzen haben in der Frage, ob sie Interaktionen mit den Mitgliedern anderer Gruppen vermeiden möchten. Die Ökonomie spricht insoweit von einem – individuell unterschiedlich ausgeprägten – „Geschmack für Diskriminierung“.148 Aufgrund ihres Geschmacks für Diskriminierung sind manche Personen bereit, in wirtschaftlichen Transaktionen Nachteile in Kauf zu nehmen, um mit Mitgliedern bestimmter Gruppen nicht oder nur zu schlechteren Bedingungen zu interagieren. Eine individuelle Präferenz gegen Frauen oder gegen farbige Personen in Führungspositionen könnte dann den Entscheider dazu veranlassen, einen schlechter qualifizierten und damit weniger produktiven weißen Mann gegenüber einem besser qualifizierten farbigen Mann oder einer 145 Fiske (Fn. 131), S. 68, Fiske/Cuddy/Glick (Fn. 131), S. 80. 146 Hangartner/Dinas/Marach/Matakos/Xefteris, Does Exposure to the Refugee Crisis Make Natives
More Hostile? American Political Science Review 113 (2019), S. 442.
147 Vgl. Bertrand/Duflo, Field Experiments on Discrimination, in: Banerjee/Duflo (Hrsg.), Handbook of
Economic Field Studies, 2017, S. 309 (310). 148 Becker, The Economics of Discrimination, 1957; vgl. auch Guryan/Charles, Taste-Based or Statistical Discrimination, Economic Journal 123 (2013), S. F417; Bertrand/Duflo (Fn. 147), S. 309 f. Stefan Magen
D. Faktoren für Diskriminierung
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besser qualifizierten weißen Frau einzustellen. Allerdings ist die Erklärung von Disparitäten durch die Annahme eines Geschmacks für Diskriminierung für die ökonomische Theorie jedenfalls im Fall perfekter Märkte problematisch. Denn auf perfekten Märkten sollten diskriminierende Unternehmen wegen ihrer höheren Kosten von nichtdiskriminierenden Wettbewerbern verdrängt werden. Diesbezüglich gibt es empirische Hinweise, dass stärkerer Wettbewerb Lohndisparitäten verringern kann.149 Eine alternative Erklärung von Marktdisparitäten stellt darauf ab, dass Akteure in wirt- 59 schaftlichen Transaktionen regelmäßig nur unzureichende Informationen über die individuellen Eigenschaften ihrer Transaktionspartner haben.150 Angesichts von unvollständigen Informationen über den konkreten Transaktionspartner, so die These, könnten aus der Gruppenzugehörigkeit Informationen über den Interaktionspartner abgeleitet werden. Ist beispielsweise bekannt, dass Bewerber aus bestimmten Gruppen im Durchschnitt weniger produktiv oder sonst als Interaktionspartner weniger attraktiv sind, wird ein auf den eigenen Nutzen bedachter ökonomischer Akteur Bewerber aus der Mehrheitsgruppen bevorzugen. Der Informationsansatz erklärt mithin Gruppendisparitäten als Folge einer statistischen Diskriminierung. Eine derartige informationsbezogene Diskriminierung kann, im Unterschied zu präferenzbasierter Diskriminierung, ökonomisch effizient sein.151 Diskriminierung ist dann aber immer noch normativ problematisch, weil sie den Individuen nicht gerecht wird und strukturelle Disparitäten und Stigmata perpetuiert.152 b) Diskriminierung in strategischen Interaktionen
Während Konsumenten auf perfekten Märkten nur die Option haben, zum Markpreis 60 zu kaufen oder nicht, haben Marktteilnehmer bei Marktimperfektionen Entscheidungsspielräume. Sie müssen dann aber bei ihren Entscheidungen berücksichtigen, dass auch die anderen Akteure Entscheidungsspielräume haben, innerhalb derer sie ihre Interessen verfolgen können. Solche sogenannten „strategischen Interaktionen“ werfen besondere Formen von Problemen auf, welche die Spieltheorie als Kooperations-, Koordinierungs-, Verteilungs- und Informationsprobleme analysiert.153 Die Verhaltensökonomie untersucht insoweit empirisch in spieltheoretischen Experimenten und Feldstudien, wie Personen derartige Probleme strategischer Interaktionen de facto bewältigen.154 Spieltheoretische 149 Charles/Guryan, Prejudice and Wages: An Empirical Assessment of Becker’s The Economics of Dis-
crimination, Journal of Political Economy 116 (2008), S. 773; Hirata/Soares, Competition and the Racial Wage Gap: Testing Becker’s Model of Employer Discrimination, IZA Discussion Paper No. 9764 (2016), https://ssrn.com/abstract=2742552; vgl. auch Wozniak/MacNeill, Racial Discrimination in the Lab, Journal of Behavioral and Experimental Economics 85 (2020), Article 101512. 150 Banerjee/Duflo (Fn. 147), S. 311 f. 151 Banerjee/Duflo (Fn. 147), S. 312. 152 Schauer, Statistical (and Non-Statistical) Discrimination, in: Lippert-Rasmussen (Hrsg.), The Routledge Handbook of the Ethics of Discrimination, 2018, S. 49 ff. 153 Zur Spieltheorie vgl. Magen (Fn. 44). 154 Zu spieltheoretischen Experimenten vgl. van Dijk/De Dreu, Experimental Games and Social Decision Making, Annual Reviews of Psychology 2021, S. 415 ff.; zu spieltheoretischen Feldstudien Banerjee/Duflo (Fn. 147). Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
Experimente erlauben insoweit auch, den Einfluss von Gruppenidentitäten und anderer diskriminierender Faktoren zu untersuchen. 61 In einem größeren spieltheoretischen Experiment mit Teilnehmern aus mehreren Nationen wurde zum Beispiel die Frage untersucht, inwieweit sich Akteure gegenüber Angehörigen anderer Nationen unterschiedlich kooperativ verhalten. Dabei zeigte sich, dass das Ausmaß von kooperativem Verhalten zwischen Angehörigen verschiedener Nationen stark von nationalen Stereotypen über die Kooperationsbereitschaft der Empfängernation beeinflusst war. Diese Stereotypen über die Empfängernationen wurden nicht nur von den jeweiligen Mitgliedern einer Nation geteilt, sondern in erheblichem Ausmaß auch zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Nationen. Interessanterweise erwiesen sich Stereotype über die Kooperationsbereitschaft der Empfängernationen in erheblichem Ausmaß als falsch.155 Zum Beispiel kooperierten japanische Teilnehmer erheblich weniger als erwartet, während die israelischen Teilnehmer erheblich mehr kooperierten als erwartet.156 In einem weiteren spieltheoretischen Experiment konnte gezeigt werden, dass Frauen 62 in einmaligen anonymen Gefangenen-Dilemmata geringere Erwartungen an die Kooperativität der anonymen Interaktionspartner haben und deshalb weniger kooperieren als Männer. Dieser Befund widerspricht dem Stereotyp, dass Frauen gemeinschaftsorientierter und wärmer seien als Männer.157 Insgesamt ergab sich aus einer viele Einzelstudien zusammenfassenden Metastudie, dass in den berücksichtigten spieltheoretischen Experimenten Nationalität, Ethnizität und Geschlecht, aber nicht Religion, diskriminierende Auswirkungen auf das Verhalten hatten, die allerdings nur gering ausfielen.158 Interessanterweise war in Experimenten mit Geschlechteridentitäten eine positive Diskriminierung zugunsten des jeweils anderen Geschlechts zu beobachten. Nach den Befunden dieser Studie ist Diskriminierung gegenüber Outgruppen eher durch präferenzbasierte Diskriminierung getrieben.
E. Strategien gegen Diskriminierung I. Debiasing 63
Unter dem Stichwort Debiasing werden Strategien zusammengefasst, die darauf abzielen, die psychologischen Ursachen von diskriminierenden Vorurteilen zu reduzieren oder zu verhindern, dass Vorurteile sich in diskriminierendem Verhalten niederschlagen. Dazu gibt es mittlerweile eine Vielfalt von Strategien. Ausgehend von einer aktuellen umfassenden Metastudie zu einer Bandbreite von Maßnahmen zur Reduktion von Vorurteilen lassen 155 Dorrough/Glöckner, Multinational investigation of cross-societal cooperation, PNAS 113 (2016),
10836.
156 Dorrough/Glöckner (Fn. 155), 10840. 157 Dorrough/Glöckner, A Cross-National Analysis of Sex Differences in Prisoner’s Dilemma Games, Bri-
tish Journal of Social Psychology 58 (2019), S. 225.
158 Lane, Discrimination in the Laboratory. A Meta-Analysis of Economics Experiments, European Eco-
nomic Review 90 (2016), S. 375 (381).
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E. Strategien gegen Diskriminierung
157
sich die kurzfristigen Wirkungen von Reduktionsmaßnahmen vergleichsweise gut beurteilen.159 Diese Resultate sind eher ernüchternd. Die meisten Interventionen befassen sich mit kurzen und unaufwendigen Interventionen. Beispielsweise müssen die Teilnehmer Listen von Eigenschaften der einen und der anderen Gruppe erstellen. Vorurteile sollen nun dadurch reduziert werden, dass die Teilnehmer die umfangreichen Überschneidungen zwischen den Listen bemerken. Allerdings werden die mittel- und langfristigen Folgen solcher Maßnahmen regelmäßig nicht erhoben, so dass man über die Beständigkeit der Vorurteilsreduktionen wenig weiß. Die durchschnittliche Effektstärke aller berücksichtigten Studien waren klein bis mittel.160 Allerdings hat die Sozialpsychologie in der letzten Dekade eine Krise durchlaufen, weil sich herausstellte, dass viele Ergebnisse mit fragwürdigen Forschungspraktiken erlangt worden waren und nicht repliziert werden können.161 Lässt man die vermutlich von fragwürdigen Forschungspraktiken betroffenen Studien unberücksichtigt, schrumpft die durchschnittliche Effektstärke auf kleine Effekte.162 Auch bei besonders aufwendig gemachten „Leuchtturmstudien“ fanden sich nur moderate Wirkungen, die schwächer ausfielen als diejenigen in typischen Laborstudien.163 1. Reflektion und Emotionsregulierung
Kognitive und emotionale Trainings zielen darauf, dass Personen ihre Vorurteile durch 64 Nachdenken oder Emotionsregulierung senken können. Das wird beispielsweise durch wiederholte Gegenassoziationen, bewusste Annäherungsgesten oder antizipierte „wenndann“-Pläne für Begegnungen mit Mitgliedern diskriminierter Gruppen versucht.164 Andere Interventionen versuchen durch Trainings, geleitete Meditationen und andere Strategien die emotionalen Reaktionen der Teilnehmer gegenüber diskriminierten Gruppen zu verändern.165 In einer weiteren Form von Maßnahmen werden die Teilnehmer ermuntert, sich gedanklich in die Position von Mitgliedern der diskriminierten Gruppe hineinzuversetzen oder deren Situation zu simulieren, indem die Teilnehmer sich beispielsweise für eine Stunde im Rollstuhl bewegen. Nach psychologischen Standards sind die Wirkungen 159 Paluck/Porat/Clark/Green, Prejudice Reduction: Progress and Challenges, Annual Review of Psy-
chology 2020, S. 533; vgl. die vorangehende Metastudie von Paluck/Green, Prejudice Reduction: What Works?, Annual Review of Psychology 2009, S. 339. 160 Die Effektstärke der Maßnahmen war im Durchschnitt Cohen’s d = 0,36. Nach statistischen Konventionen bedeuten Cohen’s d Werte von 0,2 geringe Effekte, 0,5 mittlere, und 0,8 starke Effekte. Cohen’s d von 0,36 ist damit ein schmal- bis mittlerer Effekt. Was Effektstärken bedeuten, lässt sich veranschaulichen, wenn man sich fragt, in welchen Umfang sich die gemessenen Vorurteile in der mit Debiasing (Experimentalgruppe) mit den Vorurteilen ohne Debiasing (Kontrollgruppe) überlappen bzw. nicht überlappen. Ein Cohen’s d-Wert von 0,36 bedeutet, dass sich die gemessenen Vorurteile ohne Debiasing von den gemessenen Vorurteilen mit Debiasing nur zu 14,3 Prozent unterschieden, und immer noch zu 85,7 Prozent überschneiden. 161 Vgl. Schimmack, A Meta-Psychological Perspective on the Decade of Replication Failures in Social Psychology, Canadian Psychology 61 (2020), S. 364. 162 Cohens’s d = 0,19. Siehe jeweils bei den einzelnen Maßnahmen. 163 Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 554. 164 Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 543. 165 Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 544. Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
dieser Maßnahmen schwach bis durchschnittlich.166 Bei Interventionen zur Stärkung von Wertkonsistenz werden die Teilnehmer ermuntert, sich auf die zentralen Werte ihrer Gruppe zu besinnen oder an moralische Vorbilder zu erinnern. Das soll die Neigung senken, Vorurteile auszudrücken. In wieder anderen Interventionen werden die Teilnehmer mit Befunden über ihre impliziten Vorurteile konfrontiert.167 2. Ingruppeneinfluss 65 Eine weitere Kategorie von Debiasing-Maßnahmen setzt auf den Einfluss, den die Ingrup-
pe auf die Einstellungen und normativen Erwartungen ihrer Mitglieder haben. Manche Ansätze verwenden dazu Stellungnahmen von prominenten Ingruppenmitgliedern zugunsten der Outgruppe, andere betonen, dass Toleranz gegenüber der Outgruppe zu den Gruppennormen gehört, und wieder andere vertiefen diese Strategien durch Diskussionen und Interaktionen. Die Effektstärken dieser Interventionen waren im Durchschnitt höher als bei den kognitiven und emotionalen Trainings.168 Allerdings wurden die Wirkungen unmittelbar oder kurz nach der Intervention erhoben, so dass die langfristigen Wirkungen unklar sind.169 3. Rekategorisierung von Gruppen
66 Rekategorisierungsansätze gehen von der Annahme aus, dass sich Vorurteile schon da-
durch vermindern lassen, dass die Gruppengrenzen und -identitäten durch Rekategorisierung anders gezogen werden. Durch Rekategorisierung sollen dann Outgruppen-Stereotype und Homogenitätswahrnehmungen aufgelöst werden.170 Das kann zum Beispiel dadurch unternommen werden, dass die Teilnehmer Listen von Eigenschaften der beiden Gruppen erstellen und sich dann der Überschneidungen bewusst werden. Dadurch werden Gemeinsamkeiten der Gruppen oder eine geteilte Identität sichtbar gemacht. Die durchschnittlichen Effektstärken dieser Interventionen sind klein bis mittel.171
4. Entertainment 67 Entertainment-Interventionen setzen auf die Fähigkeit von Narrativen und künstlerischen
Ausdrucksformen, Menschen in einer Weise emotional zu ergreifen, die hilft, Stereotype und Vorurteile zu überwinden. Das machen sich Interventionen zu Nutze, die Geschichten
166 Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 544. Die Effektstärke der Maßnahmen ist im Durchschnitt
Cohen’s d = 0,35 (Unterschiede mit und ohne Maßnahme: 13,9 Prozent). Sortiert man die Studien aus, die vermutlich auf fragwürdigen Forschungsmethoden beruhen, sinkt die Effektstärke auf d = 0,2 (Unterschiede mit und ohne Maßnahme: 8 Prozent). 167 Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 545. 168 Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 545. 169 Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 546. 170 Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 546. 171 Cohens d = 0,37 (Unterschiede mit und ohne Maßnahme: 14,7 Prozent). Wenn man die Experimente aussortiert, die vermutlich durch fragliche Forschungspraktiken erlangt wurden, ist die Effektstärke etwas geringer: d = 0,31 (Unterschiede mit und ohne Maßnahme: 12,3 Prozent). Stefan Magen
E. Strategien gegen Diskriminierung
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über Outgruppen, Filme von und über Outgruppen oder Lieder mit integrationsbefürwortenden Botschaften als Debiasing Strategie verwenden. Die Effektstärken dieser Intervention waren vergleichsweise hoch.172 II. Kontakt
Von den vorliegenden Strategien zum Abbau von Vorurteilen ist nach verbreiteter Ein- 68 schätzung die Förderung von Intergruppenkontakt der führende Ansatz.173 Die KontaktHypothese beruht auf der von Gordon Allport entwickelten These, dass Vorurteile zwischen Mehrheitsgruppe und Minderheitsgruppen vor allem durch Kontakt auf Augenhöhe bei der Verfolgung gemeinsamer Ziele reduziert werden, wenn der Kontakt zur Wahrnehmung gemeinsamer Interessen und geteilter Menschlichkeit führt. Nach der Kontakt-Hypothese werden die positiven Wirkungen des Intergruppenkontakts zudem verstärkt, wenn der Kontakt etwa durch Recht, Normen oder ein positives soziales Klima institutionell unterstützt wird.174 Während die ursprüngliche Kontakt-Hypothese auf reale Interaktionen zwischen anwesenden Mitgliedern der Mehrheit und der Minderheit bezogen war, untersuchen neuere Studien zunehmend indirekte oder imaginierte Formen des Kontakts. 1. Direkter Kontakt
Studien mit direktem face-to-face Kontakt sind vergleichsweise aufwendig und daher eher 69 selten.175 Zum Beispiel wurden in der Grundausbildung für norwegische Soldaten Mitglieder der ethnischen Mehrheit mit Minderheitsangehörigen zusammengelegt. Eine andere Studie organisierte Treffen zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Die meisten Studien wurden allerdings mit Schülern und Studenten durchgeführt, so dass die Übertragbarkeit der Resultate auf andere Bevölkerungsgruppen unklar ist. In den berücksichtigten Studien war die Reduktion von Vorurteilen durch Kontakt in Bezug auf Rasse oder Ethnizität gering,176 aber in Bezug auf LGBT-Personen etwas höher.177 2. Erweiterter und imaginierter Kontakt
Bei Interventionen zur Vorurteilsreduktionen durch sogenannten erweiterten Kontakt 70 und durch imaginierten Kontakt werden reale Interaktionen zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen durch Berichte oder das Imaginieren von positiven Interaktionen 172 Cohen’s d = 0,43 (Unterschiede mit und ohne Maßnahme: 17 Prozent) bzw. d = 0,38 (15,1 Prozent). 173 Paluck/Green/Green, The Contact Hypothesis Re-Evaluated, Behavioral Public Policy 3 (2019), S. 129
(130); Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 547 f.
174 Allport, The Nature of Prejudice, 1954, S. 281; Tausch/Hewstone, Intergroup Contact, in: Dovidio u. a.
(Hrsg.), The SAGE Handbook of Prejudice, Stereotyping and Discrimination, 2010, S. 544 ff.; Tropp/Mazziotta/Wright, Recent Developments in Intergroup Research, in: Sibley/Barlow (Hrsg.), The Cambridge Handbook of the Psychology of Prejudice, 2017, S. 463. 175 Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 547 f. 176 Cohen’s d = 0,10 (Unterschiede mit und ohne Maßnahme: 4 Prozent). 177 Cohen’s d = 0,22 (Unterschiede mit und ohne Maßnahme: 8,8 Prozent). Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
mit Mitgliedern der Outgruppe ersetzt. Bei erweitertem Kontakt sollen Vorurteile reduziert werden, indem von gelungenen realen Begegnungen mit Mitgliedern der Minderheitsgruppe berichtet wird. Bei imaginiertem Kontakt werden Interaktionen mit fiktiven Freunden oder Charakteren aus Büchern oder Filmen berichtet.178 Zum Beispiel wurden Kindern Geschichten zum Lesen gegeben, in denen sich ein nicht-behindertes Kind mit einem behinderten Kind anfreundete.179 In einem anderen Experiment sollten Versuchsteilnehmer sich eine gelungene Unterhaltung mit einem Outgruppenmitglied vorstellen.180 Wie robust Kontakt-Inventionen mit erweitertem und imaginiertem Kontakt sind, ist fraglich. Zwar ist die durchschnittliche Effektstärke eher im unteren-mittleren Bereich angesiedelt.181 Schließt man aber solche Studien aus, die vermutlich auf fragwürdigen Forschungsmethoden beruhen, erzielen Kontaktinterventionen nur geringe Einstellungsänderungen.182 Problematisch ist außerdem, dass die Teilnehmer den Eindruck bekommen, sie sollten positive Einstellungen zu der Gruppe äußern, wenn sie zuvor von dem Experimentator aufgefordert worden waren, sich eine positive Interaktion mit der gegenständlichen Gruppe vorzustellen (sogenanntes Versuchsleiterartefakt).183 Davon abgesehen sind die Wirkungen bei jüngeren Kindern größer als bei älteren.184 III. Diversitätstraining 71 Diversitätstrainings sind Trainingsangebote, die Unternehmen, Organisationen oder Be-
hörden ihren Mitarbeitern anbieten, um die Zusammenarbeit von Personen mit unterschiedlichen Identitäten und kulturellen Hintergründen zu verbessern.185 Im Unterschied zu Antidiskriminierungsmaßnahmen in engeren Sinn zielen Diversitätstrainings eher auf die Performance der Organisation, und nicht nur auf die Vermeidung von Verstößen gegen Antidiskriminierungsrecht.186 Im Vergleich zu Antidiskriminierungsmaßnahmen im engeren Sinn sind Diversitätstrainings in der Tendenz breiter angelegt. Sie berücksichtigen neben Geschlecht und Rasse häufig auch Alter, Nationalität, Funktionsbereiche und andere Zuordnungen. Ein zusätzliches Ziel von Diversitätstrainings kann auch sein, dass alle Mitarbeitenden ihr Potential entfalten können, dass vielfältige Standpunkte gehört und verwendet werden, interkulturelle Kompetenzen entwickelt werden und alle an den gemeinsamen Zielen arbeiten.187 Der Anspruch ist dabei häufig auch, Vorurteile selbst zu 178 Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 547 f. 179 Cameron/Brown, Promoting Children’s Positive Intergroup Attitudes Towards Stigmatized Groups,
International Journal of Behavioral Development 31 (2007), S. 454. Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 547. Cohen’s d = 0,37 (Unterschiede mit und ohne Maßnahme: 14,7 Prozent). Cohen’s d = 0,12 (Unterschiede mit und ohne Maßnahme: 4,8 Prozent). Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 548. Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 547. Smith/Brief/Colella, Bias in Organizations, in: Dovidio u. a. (Hrsg.), The SAGE Handbook of Prejudice, Stereotyping and Discrimination, 2010, S. 441 (449 f.). 186 Kite/Whitley, Jr. (Fn. 1), S. 559 ff. 187 Smith/Brief/Colella (Fn. 184), S. 449 f.; zur umgekehrten Herangehensweise, Diversitätsmanagement 180 181 182 183 184 185
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E. Strategien gegen Diskriminierung
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bekämpfen. Teilweise ist Diversitätsmanagement als permanente Aufgabe in der Organisation verankert.188 Manche Diversitätstrainings bauen auf verschiedenen Debiasing-Strategien auf,189 andere auf der Kontakt-Theorie190 oder auf einer Kombination von beiden. Die Wirksamkeit von Diversitätstrainings ist fraglich und umstritten. Aussagekräftige Studien zu Diversitätstrainings mit größeren Teilnehmerzahlen und außerhalb von Universitäten haben nur sehr schwache Effekte ergeben und optimistischere Einschätzungen191 wurden deshalb infrage gestellt.192 Für den geringen Erfolg von Diversitätstrainings werden fünf Gründe genannt: Kurzfristige Erziehungsmaßnahmen haben wenig Einfluss auf Verhalten. Antibiastraining kann Stereotype verstärken, weil es sie kognitiv leichter zugänglich macht. Teilnehmer von Diversitätstrainings können gegenüber Diskriminierung nachlässig werden, weil sie das Gefühl haben, schon etwas für Diversität getan zu haben. Und Mitglieder der Mehrheitsgruppe können sich ausgeschlossen fühlen, was ihre Vorurteile verstärken kann. Schließlich führen Maßnahmen eher zu Reaktanz, wenn sie mit Moral oder Recht begründet werden, weil die Adressaten sich kontrolliert fühlen.193 Für den deutschsprachigen Raum ist in diesem Zusammenhang eine kürzlich er- 72 schienene, breit angelegte Studie zur Wirkungen verschiedenster Diversitätsstrategien in deutschen und schweizerischen Unternehmen von besonderem Interesse.194 Untersucht wurden die Auswirkungen unterschiedlicher Diversitätsmaßnahmen auf den Anteil von Frauen und Personen mit Migrationshintergrund in der Unternehmensleitung. Die Resultate sind für Frauen ermutigend, aber für Personen mit Migrationshintergrund ernüchternd. Klassische Diversitätstrainings hatten, im Einklang mit der bereits referierten Literatur, keinen Effekt. Dagegen steigt der Anteil der Frauen in der Unternehmensleitung mit der Anzahl der Maßnahmen zum Diversitätsmanagement und der Zahl der familienfreundlichen Praktiken. Personen mit Migrationshintergrund dagegen haben von diesen Maßnahmen nicht profitiert. IV. Soziale Normen
Für antidiskriminierungsrechtliche Maßnahmen sind soziale Normen in unterschiedli- 73 chen Konstellationen relevant. Ein primäres Ziel sollte die Delegitimierung und Schwäals Anti-Diskriminierungsstrategie zu verwenden vgl. Gächter, Diversity Management als Anti-Diskriminierungsstrategie, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 657 ff. 188 Kite/Whitley, Jr. (Fn. 1), S. 559 ff. 189 Siehe Rn. 63 ff. (E. I.). 190 Siehe Rn. 68 ff. (E. II.). 191 Bezrukova/Spell/Perry/Jehn, A Meta-Analytical Integration of Over 40 Years of Research on Diversity Training Evaluation, Psychological Bulletin 2016 (142), S. 1227 mit einer durchschnittlichen Effektstärke von 0,38. (Unterschiede mit und ohne Maßnahme: 15,1 Prozent). 192 Paluck/Porat/Clark/Green (Fn. 159), S. 543. Cohen’s d = 0,07 (Unterschiede mit und ohne Maßnahme: 2,8 Prozent). 193 Dobbin/Kalev, Why Doesn’t Diversity Training Work?, Anthropology Now 10 (2018), S. 48. 194 Schoen/Rost, What Really Works? Evaluating the Effectiveness of Practices to Increase the Managerial Diversity of Women and Minorities, European Management Journal 39 (2021), S. 95. Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
chung von diskriminierenden sozialen Normen sein.195 Soziale Normen können aber auch insoweit ein Problem darstellen, dass sie antidiskriminierungsrechtliche Vorschriften untergraben oder informale Maßnahmen konterkarieren. Konterkarierende soziale Normen müssen sich dabei nicht explizit gegen Antidiskriminierungsmaßnahmen richten, sondern können Antidiskriminierungsmaßnahmen auch als schlichte Nebenfolge untergraben, zum Beispiel wenn in Organisationen die Praxis herrscht, dass bestimmte Entscheidungen in informalen Zirkeln getroffen werden, an denen Minderheiten dann häufig nicht beteiligt sind.196 Insoweit könnte daran gedacht werden, konterkarierende soziale Normen zu delegitimieren und zu schwächen. Umgekehrt gibt es auch soziale Normen, die Diskriminierung entgegenwirken, indem sie diskriminierende Äußerungen und diskriminierendes Verhalten sozial verpönen.197 Zum Beispiel haben sich in manchen Bereichen soziale Normen entwickelt, die offen rassistische und frauenfeindliche Äußerungen verurteilen. Solche soziale Antidiskriminierungsnormen gilt es zu stärken. 1. Verankerung von sozialen Normen 74 In all diesen Konstellationen stellt sich allerdings die schwierige Frage, wann und wie eine
Beeinflussung sozialer Normen überhaupt möglich ist.198 Dies hängt nicht unwesentlich davon ab, in welchen psychologischen und sozialen Mechanismen soziale Normen verankert sind und ihre Stabilität und Bindungskraft beziehen. Dazu werden insbesondere drei Arten von Erklärungen vertreten:199
a) Sozialisation 75
Sozialisationstheorien gehen davon aus, dass Individuen im Rahmen ihrer Sozialisierung ein Norm- und Wertesystem internalisieren, welches dann Teil ihrer Persönlichkeit wird und eine stabile intrinsische Motivation für ihr Handeln begründet. Nach diesem Ansatz werden soziale Normen dauerhaft und aus intrinsischer Motivation heraus beachtet. Träfe das zu, könnten sich soziale Normen nur langsam oder nur durch intensive Interaktionen wandeln. Internalisierte diskriminierende Normen wären dann nur schwer änderbar. Das trifft aber nur auf wenige Normen zu. Vielmehr spricht gegen die Sozialisationstheorie von Normen, dass die Verbindungen zwischen normativen Überzeugungen und Handeln häufig schwach sind, dass Normbefolgung weniger von den eigenen normativen Überzeugun195 Siehe oben Rn. 53 ff. (D. III. 1.). 196 Vgl. Smith/Brief/Colella (Fn. 184), S. 441 ff. 197 Vgl. Alvarez-Benjumea/Winter, Normative Change and Culture of Hate, European Sociological Re-
view 2018 (34), S. 233; dies., The Breakdown of Antiracist Norms, PNAS 117 (2020), 22800; Barr/Lane/ Nosenzo, On the Social Inappropriateness of Discrimination, Journal of Public Economics 164 (2018), S. 153; Crandall/Miller/White II, Changing Norms Following the 2016 U. S. Presidential Election, Social Psychological and Personality Sciences 9 (2018), S. 186. 198 Miller/Prentice, Changing Norms to Change Behavior, Annual Review of Psychology 67 (2016), S. 339. 199 Bicchieri/Muldoon/Sontuoso, Social Norms, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Stand: 2018, https://plato.stanford.edu/archives/win2020/entries/social-norms; Carbonara, Law and Social Norms, in: Parisi (Hrsg.), Oxford Handbook of Law and Economics, Bd. 1, 2017, S. 466 ff.; Horne/ Mollborn, Norms: An Integrated Framework, Annual Review of Sociology 46 (2020), S. 467 (472 f.). Stefan Magen
E. Strategien gegen Diskriminierung
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gen abhängt als von den (kommunizierten oder unterstellten) normativen Erwartungen anderer. Zudem können sich soziale Normen in der sozialen Realität durchaus in kurzen Zeitspannen neu bilden oder auflösen, wie sich nicht zuletzt bei Systembrüchen zeigt. b) Gruppenidentität
Theorien der sozialen Identität gehen demgegenüber davon aus, dass die Motivation zur 76 Befolgung sozialer Normen aus der Identifizierung mit Gruppen erwächst, denen man angehört und denen man sich verbunden fühlt. Nach diesem Ansatz folgen individuelle normative Einstellungen der Zugehörigkeit zu der jeweiligen Gruppe, in deren Kontext man interagiert und von deren Interaktionen die Gruppennormen getragen werden. Die Stabilität der Normen ist nach diesem Ansatz nicht auf eine dauerhafte Internalisierung von Normen gestützt. Vielmehr erwächst sie aus der wechselseitig geteilten Wahrnehmung der Gruppenmitglieder, dass die Beachtung der Norm in der Gruppe normativ gefordert ist und dass die Gruppenmitglieder der Norm folgen. Für diese Sicht spricht auch, dass es eine starke psychologische Tendenz gibt, bloße Verhaltensregelmäßigkeiten (deskriptive Normen) als normative Verhaltensgebote aufzufassen.200 Nach dem Gruppenansatz ist zu erwarten, dass soziale Normen sich auch kurzfristig ändern können, wenn hinreichend viele Gruppenmitglieder glauben, dass die anderen Gruppenmitglieder die Norm aufgegeben oder verändert haben. c) Erwartungsgleichgewichte
Die Verhaltensökonomie schließlich erklärt die Stabilität bzw. Wandelbarkeit von sozia- 77 len Normen durch selbsterfüllende Erwartungen (sogenannte Nash-Gleichgewichte) aufgrund von bedingten normativen Präferenzen.201 Untechnisch gesprochen werden nach diesem Ansatz soziale Normen befolgt und durchgesetzt, wenn und weil hinreichend viele Beteiligten glauben, dass die anderen von ihnen die Befolgung der Norm (faktisch und normativ) erwarten und dass die anderen eine Normverletzung sanktionieren würden. Der Grund für die Befolgung und Durchsetzung von Normen ist nach diesem Ansatz nicht primär die Identifikation mit der Gruppe und ihren Normen, sondern der Umstand, dass unter den genannten Bedingungen die Beteiligten im eigenen – materiellen und normativen – Interesse zur Befolgung und Durchsetzung von Normen motiviert sind.202 Die ver200 Roberts/Ho/Gelman, Group Presence, Category Labels, and Generic Statements Influence Children
to Treat Descriptive Group Regularities as Prescriptive, Journal of Experimental Child Psychology 158 (2017), S. 19; Roberts/Guo/Ho/Gelman, Children’s Descriptive-to-Prescriptive Tendency Replicates (and Varies) Cross-Culturally, Journal of Experimental Child Psychology 165 (2018), S. 148; Roberts/Ho/Gelman, The Role of Group Norms in Evaluating Uncommon and Negative Behaviors, Journal of Experimental Psychology: General 148 (2019), S. 374; House/Kanngiesser/Barrett/Broesch/Cebioglu/Crittenden/ Erut/Lew-Levy/Sebastian-Enesco/Smith/ Yilmaz/Silk, Universal Norm Psychology Leads to Societal Diversity in Prosocial Behavior and Development, Nature Human Behavior 4 (2020), S. 6. 201 Bicchieri/Muldoon/Sontuoso (Fn. 199). 202 Hoeft, The Force of Norms? The Internal Point of View in Light of Experimental Economics, Ratio Juris 32 (2019), S. 339. Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
schiedenen Ansätze schließen sich allerdings nicht gegenseitig aus. Plausibel ist insbesondere eine Kombination der Gruppen- und der Gleichgewichtstheorie. Insoweit kann man annehmen, dass soziale Normen im Ausgangspunkt auf selbsterfüllenden Erwartungen beruhen (faktischen und normativen), die aber im Rahmen der Identifikation mit einer Gruppe zusätzliche Verbindlichkeit erlangen. Demgegenüber wird eine dauerhafte Internalisierung von sozialen Normen ein thematisch begrenztes Phänomen sein.203 2. Schwächung, Stärkung und Änderung von sozialen Normen 78 Sind Normen Erwartungsgleichgewichte, dann hängt ihre Stabilität von den faktischen
und normativen Erwartungen der Beteiligten ab. Eine soziale Norm wird dann geschwächt, wenn der Zirkel der selbsterfüllenden Erwartungen durchbrochen wird, indem hinreichend viele Beteiligte den Glauben verlieren, dass die anderen noch die Beachtung der Norm erwarten und deren Verletzung sanktionieren würden. Umgekehrt wird eine soziale Norm gestärkt, wenn die Beteiligten in ihren Erwartungshaltungen bestätigt werden. Beides kann durch Beobachtung oder Kommunikation einer Vielzahl von Signalen und Hinweisen geschehen,204 aber die Bestätigung bzw. Infragestellung von Erwartungen muss subjektiv hinreichend glaubhaft sein. Zudem können diese Prozesse endogen von den Beteiligten selbst in Gang gesetzt werden. Sie können aber auch exogen durch äußere Einflüsse getrieben sein. Zu den einflussreichen exogenen Faktoren gehören namentlich die sozialen und klassischen Medien. Aber auch der Gesetzgeber und Gerichte können, über Medien vermittelt, soziale Normen stärken oder schwächen. Mitunter gibt es insoweit Kipppunkte, ab denen Prozesse der Normbildung bzw. Normerosion beschleunigt ablaufen und es zu abrupten Normänderungen kommt. V. Nudging 1. Direkte Regulierung vs. Entscheidungsarchitekturen
79 Nudging ist eine in der Verhaltensökonomie entwickelte Form von Interventionen. Nudges
beschreiben eine durchaus heterogene Gruppe von Regulierungsstrategien, denen gemein ist, dass sie nicht versuchen, Verhaltensänderung durch direkte Regulierung oder durch materielle Anreize wie Abgaben zu erzielen. Vielmehr soll durch geschickte Anwendung psychologischer Entscheidungsmechanismen eine Entscheidungsarchitektur geschaffen werden, die die Entscheidung in eine rationalere oder anderweitig bessere Richtung lenkt.205 Im Kontext des Antidiskriminierungsrechts bedeutet dies in der Regel, durch Nudges den Einfluss von Vorurteilen zu begrenzen. Soll beispielsweise der Anteil von weib203 Vgl. Bicchieri/Muldoon/Sontuoso (Fn. 199). 204 Z. B. können diskriminierende soziale Normen durch Intergruppen-Kontakt geschwächt werden, vgl.
Visintin/Green/Falomir-Pichastor/Berent, Group Processes & Intergroup Relations 23 (2020), S. 418.
205 Sunstein, Nudges.gov, in: Zamir/Teichman (Hrsg.), Behavioral Economics and the Law, 2014, S. 719 ff.
Zum Nudging im Bereich der Antidiskriminierung vgl. Bohnet, What Works, 2016; Kepinski/Nielsen, Inclusion Nudges, 3. Aufl. 2020. Stefan Magen
E. Strategien gegen Diskriminierung
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lichen und farbigen Beschäftigten gesteigert werden, könnte man Quoten festlegen (direkte Regulierung) oder Strafzahlungen androhen (materielle Anreize). Man kann aber auch das Bewerbungsverfahren so regeln, dass Vorurteile keine oder möglichst wenig Auswirkungen haben, beispielweise indem vorgeschrieben wird, dass Bewerbungen ohne Namen und Foto eingereicht werden müssen.206 Das Beispiel zeigt auch, dass Nudges in der Regel durchaus einer rechtlichen Absicherung und Ergänzung bedürfen und damit auch ein Thema für das Antidiskriminierungsrecht sind. Der gewünschte Effekt selbst, nämlich Diskriminierung zu reduzieren, wird aber weder durch rechtliche Anordnung noch durch monetäre Anreize bewirkt, sondern durch die Gestaltung der Entscheidungssituation.207 Nudges haben verschiedene Vorteile, aber auch Nachteile. Zunächst versuchen Nud- 80 ges im Unterschied zum Debiasing nicht, die individuellen Vorurteile der Personen direkt zu verändern. Nach dem gegenwärtigen Stand der Sozialpsychologie sind die Aussichten dafür auch eher gering.208 Nudges begnügen sich vielmehr damit, Entscheidungsverfahren so zu gestalten, dass Vorurteile keinen oder einen möglichst geringen Einfluss auf die Entscheidung haben. Sie reduzieren Diskriminierung, indem sie Vorurteile gewissermaßen umgehen oder neutralisieren. Bei Auswahlentscheidungen haben sie zudem den Vorteil, dass sie die Entscheidungsfreiheit der Verantwortlichen im Übrigen nicht oder weniger beeinträchtigen als verbindliche Vorgaben. Andererseits sehen sich Nudges nicht selten dem Vorwurf der Manipulation ausgesetzt. 2. Norm-Nudging und das Ausmaß von Diskriminierung
Eine für das Antidiskriminierungsrecht interessante Variante von Nudges sind Interventio- 81 nen, die soziale Gleichberechtigungsnormen etablieren oder stärken sollen, indem sie Beispiele gelungener Gleichberechtigung kommunizieren und dadurch verallgemeinerbare normative Standards etablieren. Wichtig ist insoweit, dass es sich um reale und einschlägige Beispiele handelt, die auf korrekten Daten beruhen und augenfällige Diskrepanzen zwischen einem vernünftigen Gleichberechtigungsstandard und der sozialen Wirklichkeit herausstellen („Island hat die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern im Gegensatz zu Deutschland bereits zu 87.3 Prozent geschlossen“).209 Wenn erfolgreich, können solche Interventionen den sozial-normativ erwarteten Gleichberechtigungsstandard erhöhen. Norm-Nudges können allerdings auch Reaktanz auslösen und zu Rückschlägen führen.210 Als Erwartungsgleichgewichte beruhen soziale Normen allerdings darauf, dass die 82 wechselseitigen Erwartungen der Beteiligten auf Beachtung der Norm und auf Sanktio206 Bertrand/Duflo (Fn. 147), S. 158 ff. 207 Zum Beispiel sind Frauen im Berufsleben zurückhaltend darin, sich an kompetitiven Bewerbungsver-
fahren zu beteiligen, was den Pool weiblicher Bewerber stark reduziert. Sie sind aber dreimal so häufig zu einer Bewerbung bereit, wenn ein Pool qualifizierter Frauen und Männer gebildet werden, aus dem per Los ein/e Bewerber*in gezogen wird (sogenannte Focal Random Selection); vgl. Berger/Osterloh/Rost, Focal Random Selection Closes the Gender Gap in Competitiveness, Science Advances 6 (2020), eabb2142. 208 Siehe oben Rn. 63 ff. (E.). 209 Bohnet (Fn. 205), S. 244 ff., 258 f. 210 Paryavi/Bohnet/van Geen, Deskriptive Norms and Gender Diversity: Reactance from Men, HKS Faculty Research Working Paper Series (2019), RWP19–007. Stefan Magen
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§ 3 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte des Antidiskriminierungsrechts
nierung von Normverstößen nicht enttäuscht werden.211 Deshalb wäre es ein Hindernis für die Etablierung von sozialen Antidiskriminierungsnormen, wenn der Eindruck vorherrscht, dass Diskriminierung ein weit verbreitetes Mehrheitsverhalten ist. In dieser Hinsicht erweist sich die von der (US-amerikanischen) Sozialpsychologie sehr erfolgreich propagierte These von der Ubiquität impliziter Biases leider als Bumerang. Die Botschaft hier ist, dass Diskriminierung – wenngleich unbewusst – weitverbreitet ist und der allgemeinen Norm entspricht. Möchte man diesem Eindruck ohne Informationsmanipulation entgegentreten, stellt sich die Frage, ob die Botschaft ubiquitärer Diskriminierung empirisch tatsächlich zutrifft oder nicht. Eben zu dieser Frage gibt es mittlerweile eine aufwendige und umfangreiche Reihe von Studien zur Diskriminierung von Studierenden (auf einem nordamerikanischen Universitäts-Campus).212 Die Ergebnisse haben (für diesen Kontext) die Annahme widerlegt, dass Diskriminierung aus einer Vielzahl von geringfügigen Diskriminierungen besteht, die überwiegend von einer Mehrheit der Mitglieder der dominanten Gruppe ausgeht. Vielmehr gehen rund 80 Prozent der Diskriminierungen von nur 20 Prozent der Mehrheitsmitglieder aus.213 In einer Folgestudie wurden gegenüber Mehrheits- und Minderheitenstudierenden 83 (wahrheitsgemäß) die Befunde aus der vorigen Studie kommuniziert, nämlich dass Mehrheitsstudierende gegenüber Minderheitsstudierenden mehrheitlich positiv eingestellt sind. Nach dieser Intervention hatten die Mehrheitsstudierenden (im Vergleich zur Kontrollgruppe) eine positivere Einstellung gegenüber Minderheiten und zeigten eine größere Wertschätzung von Diversität, während die Minderheitsstudierenden ein höheres Gefühl der Zugehörigkeit und ein stärker inklusives Verhalten der Mehrheitsstudierenden berichteten und selbst bessere Noten erzielten.214 VI. Antidiskriminierungsrecht 1. Anreize 84
In der Konzeption der neoklassischen ökonomischen Analyse des Rechts haben Rechtsnormen die Aufgabe, Anreize für Verhalten zu setzen. Bußgelder oder Schadensersatzansprüche für rechtlich unzulässige Diskriminierung wirken in dieser Sicht wie Preise, die Diskriminierung verteuern.215 Allerdings zeigen Personen auch in Markttransaktionen in unterschiedlichem Ausmaß einen „Geschmack für Diskriminierung“.216 Sie sind insoweit, je nach der Stärke der Präferenz zum Diskriminieren, bereit, drohende Sanktionen und 211 Siehe Rn. 77 (E. IV. 1. c)). 212 Campbell/Brauer, Is Discrimination Widespread? Testing Assumptions About Bias on a University
Campus, Journal of Experimental Psychology: General 150 (2021), S. 756. Die Studie umfasste 16.600 Teilnehmende. 213 Campbell/Brauer (Fn. 212), S. 772. 214 Murrar/Campbell/Brauer, Exposure to Peer’s Pro-Diversity Attitudes Increases Inclusion and Reduces the Achievement Gap, Nature Human Behavior 4 (2020), S. 889. 215 Cooter/Ulen, Law & Economics, 6. Aufl. 2012. 216 Siehe oben Rn. 37 f. (D. III. 2. a)). Stefan Magen
E. Strategien gegen Diskriminierung
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andere materielle Nachteile hinzunehmen, um eine Diskriminierung nicht unterlassen zu müssen. Allerdings werden die monetären Anreize geschwächt, wenn das antidiskriminierungsrechtliche Haftungsrisiko standardmäßig von Haftpflichtversicherungen gedeckt wird. Die Verhaltensökonomie zeigt demgegenüber allerdings auch, dass für die Wirkung von Sanktionen neben den drohenden monetären Kosten auch die soziale oder moralische Bedeutung einer Vorschrift eine Rolle spielt.217 Neben den zu erwartenden Kosten wird die Befolgung von Diskriminierungsverboten deshalb auch von der subjektiv empfundenen moralischen Legitimität der antidiskriminierungsrechtlichen Regelungen beeinflusst.218 2. Moralisches Framing
Allerdings wird die Beurteilung der moralischen Qualität antidiskriminierungsrecht- 85 licher Rechtsvorschriften nur in wenigen Fällen von ausgefeilten ethischen Argumentationen geprägt sein. Für die Wirksamkeit und Durchsetzung des Antidiskriminierungsrechts wird auch dessen subjektiv empfundene Legitimität relevant sein. Dafür ist auch relevant, dass das Recht mit intuitiv eingängigen moralischen Wertungen nachvollzogen werden kann.219 Die Kognitionswissenschaften sprechen diesbezüglich von moralischem Framing.220 Solche eingängigen Wertungen stützen sich auf intuitive kognitive Schemata, die auf Grundmuster moralischer Bewertungen zurückgreifen. Zu diesen Grundmustern gehören insbesondere Nichtschädigung, ausgleichende und verteilende Gerechtigkeit, Freiheit von Dominanz, Respekt vor Autoritäten und die Loyalität zur Gruppe.221 Ein gut belegtes Beispiel für den Einfluss von moralischen Frames sind die Bemühungen zur Reduktion des Rauchens. Diese Bemühungen hatten trotz der zunehmend offen zutage tretenden schweren Gesundheitsfolgen für den Raucher selbst lange wenig Erfolg, unter anderem deswegen, weil Rauchen als Form legitimer Freiheitsausübung angesehen wurde. Erst als die massiven gesundheitlichen Folgen für Dritte offensichtlich wurden, kippte die öffentliche Meinung zugunsten von gesetzlichen Regulierungen. In diesem Beispiel veränderte sich das moralische Framing des Rauchens in den Augen der Öffentlichkeit von der Freiheit zur Selbstschädigung zur Schädigung unbeteiligter Dritter.222 In Bezug auf sein moralisches Framing steht das Antidiskriminierungsrecht allerdings 86 vor einem Problem. Zwar lässt sich Diskriminierung plausibel als unmoralisch framen, beispielsweise als Verletzung des jedem geschuldeten grundlegenden Respekts, als materielle 217 Vgl. Gneezy/Rustichini, A Fine Is a Price, Journal of Legal Studies 29 (2000), S. 1. 218 Bilz/Nadler, Law, Moral Attitudes, and Behavioral Change, in: Zamir/Teichman (Hrsg.), Behavioral
Economics and the Law, 2014, S. 241 ff.; Tyler, Value-Driven Behavior and the Law, in: Parisi (Hrsg.), Oxford Handbook of Law and Economics, Bd. 1, 2017, S. 403 ff. 219 Vgl. Bilz/Nadler (Fn. 218), S. 245 ff. 220 Wehling, Politisches Framing, 2016; Lakoff/Wehling, Auf leisen Sohlen ins Gehirn, 4. Aufl. 2016; vgl. auch Lakoff, Moral Politics, 2. Aufl. 2002; Lakoff/Johnson, Metaphors We Live By, 2003; Landau/Robinson/Meier, The Power of Metaphor, 2014. 221 Haidt, The Righteous Mind, 2012; Graham/Haidt/Motyl/Meindl/Iskiwitch/Mooijman, Moral Foundations Theory, in: Gray/Graham (Hrsg.), Atlas of Moral Psychology, 2018, S. 211 ff.; Schein/Grey, The Theory of Dyadic Morality, Personality and Social Psychology Review 2017, S. 1. 222 Bilz/Nadler (Fn. 218), S. 241 ff. Stefan Magen
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oder immaterielle Schädigung der Betroffenen oder als Entzug von Entfaltungschancen.223 Alle Varianten des Schädigungsframes bringen aber die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft tendenziell in eine Täterrolle, weil ihnen die Diskriminierung zugerechnet wird. Für diejenigen Personen, die sich nicht der jeweils diskriminierten Minderheit zurechnen, kann das zu Irritationen und Reaktanz führen. Insoweit ist auch zu bedenken, dass es zu den Eigenschaften von Stereotypen und Vorurteilen gehört, dass sie von ihren Trägern nicht als Stereotype und Vorurteile erkannt werden, sondern als vermeintlich reale Eigenschaften der betroffenen Minderheit erscheinen. Menschen, die sich nicht der jeweils betroffenen Minderheit zurechnen, fühlen sich deshalb im besten Fall wenig angesprochen, nicht selten aber auch angegriffen, ausgeschlossen oder kontrolliert.224 87 Ein anderes moralisches Framing, welches möglicherweise Reaktanz vermeiden könnte, läge darin, Diskriminierung als Verteilungsproblem im Rahmen einer gemeinsamen Ingruppe zu sehen. Antidiskriminierungsrecht könnte dann beispielsweise als Recht auf gleiche Teilhabe an gesellschaftlichen Chancen ausgeflaggt werden.225 Der Vorteil eines solchen Frames wäre, dass er keine Schuldzuweisungen impliziert und das Regulierungsproblem positiv beschreibt und nicht negativ. Diskriminierungsrecht hätte dann eher Chancen zum Gegenstand, und nicht moralische Verletzungen. Allerdings sollten moralische Frames dem Gewicht der zugrundeliegenden sozialen Probleme gerecht werden, um nicht in Manipulation abzugleiten. Möglicherweise gibt es eine angemessene Kombination von einem Verletzungsframe für Diskriminierungen mit starkem Menschenwürdebezug und einem Teilhabeframe für eher strukturelle Maßnahmen. 3. Soziale Spiegelnormen 88
Als Wirkungspfade von Antidiskriminierungsrecht wurden bislang Anreize und moralische Frames angesprochen. Der direkte Pfad ist allerdings, dass Recht aufgrund des von ihm erhobenen Befolgungsanspruchs beachtet wird. Das Problem mit dieser Sichtweise ist freilich, dass die meisten Rechtsunterworfenen weder die für sie einschlägigen Rechtsregeln in nennenswertem Umfang kennen noch deren konkreten Inhalt und Konsequenzen verstehen. Das bedeutet nicht, dass Rechtsregeln keinen Einfluss haben. Recht wirkt vielmehr indirekt auf das Verhalten der Adressaten, und zwar insbesondere über zwei Pfade. Zum einen wird Recht von Intermediären wie Medien und Verbänden für den Alltagsgebrauch reduziert und aufbereitet. Zum anderen bilden sich informale soziale Normen, die den Inhalt rechtlicher Normen bis zu einem gewissen Grad vereinfacht spiegeln.226 Man muss die Details des Gewährleistungsrechts beim Kauf nicht kennen, um zu wissen, dass man einen defekten Artikel zurückgeben kann. Ebenso wenig werden Vermieter und Geschäf223 Vgl. die Ansätze zur ethischen Verwerflichkeit von Diskriminierung in: Lippert-Rasmussen (Hrsg.),
The Routledge Handbook of the Ethics of Discrimination, 2018, Part II.
224 So im Kontext von Diversitätstrainings: Dobbin/Kalev, Why Doesn’t Diversity Training Work?, An-
thropology Now 10 (2018), S. 48.
225 Vgl. Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 399 ff. 226 Magen, Zur naturalistischen Erklärung rechtlicher Normativität, in: Calliess/Kähler (Hrsg.), Theo-
rien im Recht – Theorien über das Recht, 2018, S. 45 (66).
Stefan Magen
E. Strategien gegen Diskriminierung
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te mit allen Details der Beweislastverteilung im Antidiskriminierungsrecht vertraut sein, aber dennoch wissen, dass man Personen im Rechtsverkehr nicht aufgrund ihrer Hautfarbe schlechter behandeln kann. Wichtiger für den Erfolg des Antidiskriminierungsrechts ist allerdings, dass sich als moralisch legitim empfundene soziale Antidiskriminierungsnormen bilden, die gleichberechtigte Teilhabe zur sozialen Norm machen.
Stefan Magen
§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private Klaus Ferdinand Gärditz Inhaltsübersicht Rn. A. Allgemeine Adressatenfragen des Diskriminierungsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Keine unmittelbare Anwendbarkeit unter Privaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Private Willkür als Freiheitsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der negative Eigenwert der Freiheit zur Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesellschaftliche Moral als Freiheitsentfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Qualifizierter Schutz diskriminierender Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Epistemische Offenheit und Konfliktchancenbedarf einer Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . 2. Kontingenz und politischer Gestaltungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Güterabwägung statt Kontingenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwang und Macht als Argumente? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bindung der Staatsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unmittelbare Bindung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mittelbare Drittwirkung im Verhältnis zu Privaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Objektive Wertentscheidung oder subjektives Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grund und Reichweite der Drittwirkung im einfachen Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unterschied zwischen unmittelbarer Bindung und Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Drittwirkung als institutionelles Kompetenzproblem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Privatautonomie als Gegenargument? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine vorrechtliche Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ambivalenzen im Haus der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Privatautonomie im Rahmen gesetzlicher Gemeinwohlbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Spezialgrundgesetzliche Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Diskriminierungsschutz als Eingriffsrechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 2 4 5 6 7 11 13 15 16 18 19 21 21 22 26 28 29 30 31 32 34 35
B. Allgemeiner Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Unmittelbare Bindung staatlicher Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bindung Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Keine Drittwirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonderkonstellationen gestörter Parität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38 39 40 41 43
C. Besondere Gleichheitssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Unmittelbare Bindung staatlicher Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Staatliche Schutzpflichten gegen Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Menschenwürdenähe als Schutzgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Heterogenität der Schutzgüter als Einwand? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48 49 51 52 53
Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
3. Freiheitsbeschränkende Schutzrichtung als Einwand? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bindung Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einfluss auf Auslegung und Anwendung des Zivilrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abwägung mit Freiheitsrechten Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54 56 57 59 62
D. Unionsrechtliche Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Allgemeines Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65 66 68
E. Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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F. Zusammenfassende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Allgemeine Adressatenfragen des Diskriminierungsschutzes 1
Wer die Adressaten von Diskriminierungsverboten sind, lässt sich nicht ohne Blick auf die übergreifende Frage beantworten, wer an Grundrechte gebunden ist. Hierbei sind zwei Prämissen zu machen: Erstens enthält das einfachgesetzliche Antidiskriminierungsrecht – namentlich das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)1 oder Sonderrecht wie das Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG)2 – Regelungen, die zweifellos (und sogar vorrangig3) Private adressieren, indem diese Ge- und Verboten sowie korrelierenden Ansprüchen Betroffener unterworfen werden.4 Werden Privaten vom grundrechtsgebundenen Gesetzgeber – bzw. in Anwendung des Gesetzes durch Justiz oder Verwaltung – gemeinwohlbezogene Verpflichtungen auferlegt, bestimmte Diskriminierungen zu unterlassen, werden diese hierdurch freilich nicht selbst zu Grundrechtsverpflichteten.5 Im Mittelpunkt der nachfolgenden Analyse stehen daher die Adressaten der Gleichheitsgrundrechte, die sich gegen Diskriminierungen (sprich: ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen) richten.6 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer
Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897.
2 Gesetz zur Förderung der Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern v. 30.6.2017, BGBl. 2017
I, S. 2152.
3 Vgl. die Erstreckungsklausel des § 24 AGG. 4 Bauer/Krieger/Günther, AGG, 5. Aufl. 2018, § 7 AGG Rn. 6. Vgl. namentlich die privatrechtlichen Ver-
bote nach §§ 7, 11, 16, 19 AGG, das Gebot nach § 12 AGG, die Arbeitnehmerrechte nach §§ 13–15 AGG, die Opferrechte nach § 21 AGG sowie den Erlaubnistatbestand des § 5 AGG; zum Privatrechtscharakter der unmittelbar anwendbaren Normen Annuß, Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz im Arbeitsrecht, BB 2006, S. 1629 (1630); Mansel, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, in: FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 809 ff.; Preis, Diskriminierungsschutz zwischen EuGH und AGG, ZESAR 2007, S. 249 (255). Siehe ferner die §§ 3 ff., 10 ff. EntgTranspG. 5 Jestaedt, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL 64 (2005), S. 298 (332). 6 Dass Grundrechte im Privatrecht gelten, kann vorausgesetzt werden, weil Geltung im rechtstheoretischen Sinne natürlich für alle Grundrechte vorhanden ist. Missverständlich z. B. Grünberger, Grundstrukturen (allgemeine Strukturmerkmale) von Gleichheitssätzen, in: Kempny/Reimer (Hrsg.), Gleichheitssatzdogmatik heute, 2017, S. 5 (29). Im Folgenden geht es daher um die tatbestandliche Anwendbarkeit der Grundrechte zwischen Privaten, letztlich also um die Frage, welchen adressatenbezogenen Inhalt geltende Gleichheitsgrundrechte haben. Klaus Ferdinand Gärditz
A. Allgemeine Adressatenfragen des Diskriminierungsschutzes
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I. Keine unmittelbare Anwendbarkeit unter Privaten
Nach Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und 2 Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Diese Adressatenbestimmung, die zunächst einmal nur positiv (auch zur Beseitigung von Unklarheiten, die unter der WRV bestanden) den Anwendungsbereich des Grundrechtskatalogs definiert, wird zugleich als negative Antwort auf die Frage nach der Grundrechtsbindung Privater gedeutet.7 Die punktuelle Ausnahme des Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG8 bestätigt die Regel9 ebenso wie allgemein die – umstrittene – Grundrechtsbindung der Tarifparteien.10 Das besondere Gleichheitsgrundrecht des Art. 33 Abs. 2 GG betrifft schon tatbestandlich ausschließlich dem Staat zurechenbare Rechtsträger. Manche Grundrechte verdeutlichen einen Zuschnitt auf spezifische Konflikte im Verhältnis zum Staat, weil ihre Grundrechtsschranken auf private Akteure strukturell nicht passen (vgl. etwa Art. 11 Abs. 2, 13 Abs. 3 bis Abs. 7, 16 Abs. 1 bis Abs. 2, 16a, 104 GG).11 Dahinter steht eine sehr grundsätzliche rechtsstaatliche Allokationsentscheidung zugunsten individueller Freiheit, die auch das BVerfG – obgleich in einer semantisch missglückten Blockbildung12 – betont: „Während der Bürger prinzipiell frei ist, ist der Staat prinzipiell gebunden. Der Bürger findet durch die Grundrechte Anerkennung als freie Person, die in der Entfaltung ihrer Individualität selbstverantwortlich ist. Er und die von ihm gegründeten Vereinigungen und Einrichtungen können ihr Handeln nach subjektiven Präferenzen in privater Freiheit gestalten, ohne hierfür grundsätzlich rechenschaftspflichtig zu sein. Ihre Inpflichtnahme durch die Rechtsordnung ist von vornherein relativ und – insbesondere nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit – prinzipiell 7 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), S. 201 (204); Neuner, Die Stellung Körperbehin-
derter im Privatrecht, NJW 2000, S. 1823; Isensee, Vertragsfreiheit im Griff der Grundrechte, in: FS Großfeld, 1999, S. 485 (490); Jestaedt (Fn. 5), S. 331 (Fn. 132). 8 Zur Grundrechtsbindung BVerfGE 55, 7 (21) – Allgemeinverbindlicherklärung (1980); BAG, Urt. v. 19.12.2006, 9 AZR 356/06, Rn. 35; Dieterich, Die Grundrechtsbindung von Tarifverträgen, in: FS Schaub, 1998, S. 117 ff.; ders., Bindung der Tarifvertragsparteien an den Gleichheitssatz, RdA 2001, S. 112; Löwisch, Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien, Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen 2001, S. 295 ff.; Sachs, Zu den Folgen von Gleichheitsverstößen in Tarifverträgen, RdA 1989, S. 25 ff. Kritisch hierzu Jacobs/Frieling, Die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien, SR 2019, S. 108 ff.; Singer, Tarifvertragliche Normenkontrolle am Maßstab der Grundrechte?, ZfA 1995, S. 611 (616 ff.). Eingehende Bestandsaufnahme bei Fabisch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Arbeitsrecht, 2010, S. 93 ff. 9 So auch Michl, Situativ staatsgleiche Grundrechtsbindung privater Akteure, JZ 2018, S. 910. 10 Auch das BAG geht inzwischen nur noch von einer mittelbaren Drittwirkung in Bezug auf die normsetzenden Tarifparteien aus. Siehe BAGE 111, 8 (13 f.); BAGE 124, 284 (292). Vgl. zum Streit und der Entwicklung nur Gornik, Grundrechtsbindung in der Rechtsprechung des BAG, NZA 2012, S. 1399 (1401 ff.); Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 1 Rn. 99 f. 11 Vgl. Canaris (Fn. 7), S. 214. 12 Für das Gericht stehen sich „der Staat“ und „der Bürger“ gegenüber. Diese modellhafte Abstraktion bringt Ungenauigkeiten mit sich: Der Staat wird auf eine Zurechnungseinheit zurückgeworfen, obgleich schon Art. 1 Abs. 3 GG (wie auch Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 GG) den Staat als Träger von Organen anspricht, für die die Grundrechtsbindung jeweils Unterschiedliches bedeutet. Einem pluralistischen Freiheitsverständnis wird auch der monolithische Singular „des Bürgers“ nicht gerecht. Es geht um zahlreiche Bürgerinnen und Bürger, die nicht nur sehr unterschiedliche Interessen haben, sondern für die sich adressatenbezogene Grundrechtsfragen auch – wie zu zeigen sein wird – unterschiedlich stellen können. Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
begrenzt.“13 Das BVerfG hat dies vor allem in seiner Entscheidung über Stadionverbote auch auf Gleichheitsfragen heruntergebrochen. Art. 3 Abs. 1 GG lasse sich – auch nach den Grundsätzen der mittelbaren Drittwirkung – kein objektives verfassungsrechtliches Gebot entnehmen, wonach die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten von diesen prinzipiell gleichheitsgerecht zu gestalten wären. Grundsätzlich gehöre es zur Freiheit jeder Person, nach eigenen Präferenzen darüber zu bestimmen, mit wem sie unter welchen Bedingungen Verträge abschließen will, ohne hierbei Rechtfertigungsanforderungen zu unterliegen.14 3 Einer unmittelbaren Wirkung von Grundrechten im Verhältnis von Privaten zueinander, die in den 1960er Jahren noch gelegentlich vertreten wurde,15 wird daher heute ganz überwiegend eine Absage erteilt.16 Das gilt nicht zuletzt für die zivilgerichtliche Rechtsprechung.17 Allgemeine und besondere Gleichheitssätze enthalten mithin keine unmittelbaren Ge- oder Verbotsnormen, die sich unvermittelt auch an Trägerinnen und Träger von Grundrechten richten. Dahinter steht eine abstraktere rechtsstaatliche Ordnungsidee:18 13 BVerfGE 128, 226 (244 f.) – Fraport (2011). 14 BVerfGE 148, 267 (283) – Stadionverbot (2018). Gegenläufig das Modell eines subjektiven Rechts auf
Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 1036.
15 BAGE 4, 274; Wirkmächtig insoweit Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, 1961, S. 12 ff., der durch
seine wissenschaftlichen Positionen die Rechtsprechung des BAG, dessen Präsident er in der maßgeblichen Formierungsphase war (1954–1963), maßgeblich beeinflusst hat. Vgl. hierzu Hollstein, Um der Freiheit willen, in: Henne/Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, 2005, S. 249 ff.; ders., Die Verfassung als „Allgemeiner Teil“, 2007. Im Übrigen in der Gefolgschaft Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 356 ff.; Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, AcP 164 (1964), S. 385 (419 ff.); Ramm, Die Freiheit der Willensbildung, 1960, S. 38 ff. 16 Badura, Gleiche Freiheit im Verhältnis zwischen Privaten, ZaöRV 68 (2008), S. 347 (348); Canaris (Fn. 7), S. 203–210; Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 415 ff.; Di Fabio, Die Gleichberechtigung von Mann und Frau, AöR 122 (1997), S. 404 (406); Dürig, Grundrechte und Zivilrechtsprechung, in: FS Nawiasky, 1956, S. 157 (167 ff.); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 354; Hager, Grundrechte im Privatrecht, JZ 1994, S. 373; Höfling (Fn. 10), Art. 1 Rn. 116; Isensee (Fn. 7), S. 491 („Fossilienkabinett der Rechtsdogmatik“); Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Stand: November 2021, Art. 3 Rn. 92; Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, S. 1633 (1640); Medicus, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Privatrecht, AcP 192 (1992), S. 35 (43); Oetker, Die Ausprägung der Grundrechte des Arbeitnehmers in der Arbeitsrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, RdA 2004, S. 8 (10); Pieroth, Die Herstellung der Rechtsgleichheit zwischen Frauen und Männern, Jura 2019, S. 687 (693); Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 345; Singer (Fn. 8), S. 621. Konkret für den Fall internationaler Unternehmen Kirchhof, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: September 2015, Art. 3 Abs. 1 Rn. 291. Soweit Grünberger (Fn. 14), S. 1020 f., eine unmittelbare Horizontalwirkung behauptet, die sich lediglich dem konkreten Inhalt nach von der Bindung staatlicher Organe unterscheide, weicht dies zwar in der abstrakten Konstruktion ab, läuft aber inhaltlich wiederum auf sehr ähnliche Ergebnisse hinaus, die auch die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung annimmt (vgl. auch ebd., S. 1019). 17 BGH, Urt. v. 15.1.2013, XI ZR 22/12, Rn. 27: „Das vom Grundsatz der Privatautonomie beherrschte bürgerliche Recht enthält keine über eine mittelbare Drittwirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes begründbare allgemeine Pflicht zur gleichmäßigen Behandlung […]. Eine der unmittelbaren Geltung gleichkommende generelle Bindung von Privatrechtssubjekten an den Gleichheitssatz besteht nicht, da dies die privatrechtliche Vertragsfreiheit und die grundgesetzlichen Freiheitsrechte aushebelt“. 18 Es geht also nicht nur – wie Grünberger (Fn. 14), S. 1020 – postuliert, um einen psychologischen Widerwillen, sondern um rechtsstaatliche Verantwortungsteilung, die auch dogmatische Konsequenzen hat. Klaus Ferdinand Gärditz
A. Allgemeine Adressatenfragen des Diskriminierungsschutzes
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1. Private Willkür als Freiheitsvoraussetzung
Eine unmittelbare Bindung an Gleichheitssätze, also der Ausschluss privater Willkür, 4 wäre mit der Matrix individueller Freiheitsrechte unvereinbar.19 Liberal-rechtsstaatliche Grundrechte sind „Freiheit zur Beliebigkeit“20; sie markieren mithin eine tatbestandlich umgrenzte Sphäre der Autonomie, die alle Trägerinnen und Träger innerhalb verfassungskonform gesetzter Grenzen nach persönlichen Präferenzen ausfüllen können. Wer sich also innerhalb der Legalität bewegt, unterliegt keinen rechtlichen Verpflichtungen zu einem rücksichtsvollen Umgang mit Freiheit, zur Rationalität oder zur Reflexion des eigenen legalen Verhaltens. Legaler Freiheitsgebrauch kann auch unmoralisch bzw. willkürlich sein,21 namentlich egoistischen oder vorurteilsbehafteten Motiven folgen. So verlangt etwa Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG dem Staat Diskriminierungsfreiheit und damit distanzierte Neutralität ab, die sich die Bürgerinnen und Bürger untereinander nicht schulden,22 schon weil die Verfassung die Menschen so nimmt, wie sie sind: als Trägerinnen und Träger von Eigeninteressen, Egoismen und Emotionen, mithin als subjektive Akteure, die nicht zu sich selbst auf Distanz gehen müssen. Dies entlastet die Grundrechtsträgerinnen und -träger von der Verantwortung, ihre private Willkür jenseits dessen, was allgemeine Gesetze fordern, an sachlichen Maßstäben auszurichten. Wer einfach keine Gründe schuldet, kann auch nicht für eine falsche Motivation verantwortlich gemacht werden. Grundrechte sind daher auch Rückzugsräume für Unvernunft und Ressentiment. a) Der negative Eigenwert der Freiheit zur Diskriminierung
Die allgemeine rechtsstaatliche Freiheitsverteilung gestattet es Privaten mithin, sich will- 5 kürlich zu verhalten,23 solange nicht geltendes Recht diese Willkür durch positive Bindungen begrenzt.24 Dies schließt die Freiheit ein, sich von diskriminierenden Mustern motivieren zu lassen,25 auf die grundrechtsgebundene Staatsgewalt nicht rekurrieren darf. Auch das Ausleben von Sexismus, Klassismus oder Rassismus ist geschützter Freiheitsgebrauch, dessen erheblicher Eigenwert nicht positiv aus einer (nicht begründbaren) materialen Werthaftigkeit entsprechend motivierten Handelns folgt, sondern negativ aus der reziproken Begrenzung der öffentlichen Gewalt, die Sonderbindungen unterliegt, die ihren Bürgerinnen und Bürgern nicht auferlegt werden. Der Eigenwert für eine freiheit19 Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 70. 20 Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1974, S. 10; entsprechend etwa Hillgruber, in: Um-
bach/Clemens (Hrsg.), GG, Bd. I, 2002, Art. 2 I Rn. 122; Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. I, 2004, § 15 Rn 51. Zum dahinterstehenden (egalitären) Freiheitsverständnis Kahl, Die Schutzergänzungsfunktion von Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz, 2000, S. 34 ff. 21 Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 417; Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 151; Poscher (Fn. 16), S. 342 f. 22 Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Mai 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 85. 23 Vgl. zu dieser positiven Konnotation von Willkür Dreier, Recht und Willkür, in: Christian Starck (Hrsg.), Recht und Willkür, 2012, S. 1 ff.; ders., Recht und Willkür, FAZ Nr. 176 v. 31.7.2012, S. 6. 24 Jestaedt (Fn. 5), S. 333 f. 25 Barczak, Konstitutionalisierung der Privatrechtsordnung, in: Scheffczyk/Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 4, 2017, S. 91 (97 f.). Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
liche Rechtsordnung, anstößiges (oder anstößig motiviertes) Verhalten zuzulassen, liegt also in der Zurücknahme staatlicher Bewertungsansprüche und in der Auferlegung von Rechtfertigungslasten, soweit grundrechtsgebundene Staatsorgane diese Freiheit begrenzen wollen. Folglich sind auch Diskriminierungen – gleich welcher Qualität – nicht von vornherein (durch materiale Korrektur im Vorfeld der Eingriffsrechtfertigung26) aus den Schutzbereichen der Freiheitsgrundrechte ausgenommen.27 b) Gesellschaftliche Moral als Freiheitsentfaltung 6 Umgekehrt ist hier rechtsstaatliche Freiheit ebenso offen für vom Recht gerade emanzipier-
te – ihrerseits grundrechtlich geschützte – Fragen privater Moralität und gesellschaftlicher Erwartungen, die nicht gesetzlich sanktioniert sind, aber gleichwohl als Sozialnormen den Bürgerinnen und Bürgern mehr abverlangen können als verbindliches Recht. Hierauf beruht auch das nicht seltene Missverständnis, Diskriminierungsschutz zwischen Privaten führe zu einer „Moralisierung“ des Rechts. Das ist unzutreffend.28 Sozialnormen lassen sich immer auch vergesetzlichen und dadurch die Grenzen des Rechts verschieben; ob ein gesetzliches Ge- oder Verbot auch einen moralischen Kern hat, ist hierfür – wie auch für die verfassungsrechtliche Bewertung – unerheblich. Reziprok schützt das Recht dann in der Regel aber auch nicht gegen rein gesellschaftliche Sanktionen enttäuschter Erwartungen. Gesellschaftliche Toleranz gegenüber Diskriminierungen kann und soll das Recht nicht garantieren.29 c) Qualifizierter Schutz diskriminierender Freiheit
7 Verhalten, das sich von Ressentiments, Vorurteilen oder diskriminierenden Werthaltun-
gen leiten lässt, kann unter Umständen sogar in besonderem Maße grundrechtlich schutzbedürftig sein. Drei Beispiele sollen dies verdeutlichen: – Die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) schützt Meinungen unabhängig von 8 ihrer Qualität, gesellschaftlichen Werthaftigkeit, Rationalität und Anschlussfähigkeit,30 26 Hiergegen mit Recht Kahl, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt, Der Staat 43
(2004), S. 167 (184 ff.); Höfling, Kopernikanische Wende rückwärts?, in: FS Rüfner, 2003, S. 329 (338 f.); Höfling/Rixen, Tariftreue oder Verfassungstreue?, RdA 2007, S. 360 (366); Jarass, Bausteine einer umfassenden Grundrechtsdogmatik, AöR 120 (1995), S. 346 (370 f.); Martins, Grundrechtsdogmatik im Gewährleistungsstaat, DÖV 2007, S. 456 (462 ff.). Ein gegenläufiger Ansatz bei Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, Der Staat 42 (2003), S. 165 ff.; Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, Der Staat 43 (2004), S. 203 ff. 27 Lehner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz und Grundrechte, 2013, S. 326 ff. 28 Im Ergebnis auch Badura (Fn. 16), S. 355. 29 Auch hierüber bestehen immer wieder – wohl allmählich abgebaute – Missverständnisse, wenn beklagt wird, dass etwas nicht mehr „gesagt“ werden dürfe, weil es jemand als diskriminierend empfinde (Standardpolemik gegen sogenannte political correctness). Das Recht kann gerade in einer freiheitlichen Rechtsordnung nicht gewährleisten, dass dasjenige, was rechtlich sanktionslos gesagt werden darf, auch gesellschaftlich ohne Folgen hingenommen wird. Gesellschaftliche Sanktionen durch Private (wie z. B. Widerrede oder Entzug nicht garantierter sozialer Wertschätzung) genießen vielmehr in der Regel ihrerseits Grundrechtsschutz. 30 BVerfGE 61, 1 (7) – CSU als „NPD von Europa“ (1982); BVerf GE 90, 1 (14 f.) – Kriegsschuld (1994); Klaus Ferdinand Gärditz
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mithin also auch Meinungen, die diskriminierend sind oder auf Vorurteilen gründen. Dritte können vor Benachteiligungen durch kommunikative Handlungen nur im Rahmen der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG), also durch hoheitliches (gleichheitsrechtsgebundenes) Handeln, unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit geschützt werden. Gerade anstößige Außenseiterpositionen bedürfen hierbei typischerweise Schutz. Ihnen diesen Grundrechtsschutz meinungsinhaltsneutral zukommen zu lassen, verschafft nicht den Inhalten gesellschaftliche Legitimität, sondern zwingt nur die öffentliche Gewalt in ihre freiheitsverträglichen Funktionsgrenzen. – Die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 bis Abs. 2 GG) ist ein Recht auf private Diskrimi- 9 nierung par excellence, weil prinzipiell jeder Religion der Anspruch auf eine allgemeingültige Deutung eines Weltganzen zugrunde liegt,31 was aus der vom Staat zu akzeptierenden Binnenperspektive einer Religion die gleichzeitige theologische Gültigkeit konkurrierender Deutungen ausschließt.32 Für Trägerinnen und Träger der Religionsfreiheit kann daher eine andere Glaubenswahrheit nie gleichberechtigt sein, ohne die eigene – gerade freiheitsgrundrechtlich geschützte – Sinndeutung preiszugeben und in ein beliebiges Angebot auf einem Markt transzendentaler Sinnangebote aufzulösen. Namentlich eine diskriminierende Trennung der Welt in „Gläubige“ und „Ungläubige“, die dem Staat kategorial versagt bleibt (Art. 3 Abs. 3 Satz 1, 33 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 GG), ist mithin von vornherein legitimes Proprium geschützter Religion. – Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG)33 sowie 10 das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG schließen es ein, frei und selbstbestimmt zu entscheiden, wie man seinen Freundeskreis definiert, wen man heiratet oder mit wem man eine Familie gründet, was jeweils bewusste Ausgrenzungen (z. B. aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe, der Religion oder der Herkunft) als legitim (weil staatlicher Bewertung entzogen) einschließt. Liebe steht nicht unter Rationalisierungsvorbehalt. d) Epistemische Offenheit und Konfliktchancenbedarf einer Gesellschaft
Gerade für eine pluralistische Gesellschaft, deren Verfassungsordnung auf der positiven 11 Akzeptanz von Vielfalt gründet34 und die Gemeinwohlfindung prozedural offen hält35, ist BVerfGE 111, 147 (158) – NPD-Versammlung gegen Synagogenbau (2004); Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 190 Rn. 310. 31 BVerfGE 105, 279 (293) – Osho (2002); BVerwGE 90, 112 (115); BAGE 79, 319 (338). 32 Vgl. BVerfGE 32, 98 (107) – Gesundbeter (1971): „mit der Person des Menschen verknüpfte Gewißheit über den Bestand und den Inhalt bestimmter Wahrheiten“. 33 Zum Schutz der geschlechtlichen Identität BVerfGE 147, 1 (19) – Geschlechtsidentität und Personenstand (2017); dies schließt dann auch äußere Handlungsfreiheit ein, diese Identität zu leben, siehe BVerfGE 121, 175 (190) – Verheiratete Transsexuelle (2008); BVerfGE 128, 109 (124) – Transsexuelle und Zugang zur Eingetragenen Lebenspartnerschaft (2011). 34 Baer, Wie viel Vielfalt garantiert/erträgt der Rechtsstaat?, RuP 2013, S. 90 (92 ff.); dies., Vielfalt im Verfassungsrecht, in: Juristische Gesellschaft Bremen (Hrsg.), Jahrbuch der Juristischen Gesellschaft Bremen, 2015, S. 85 ff. Vgl. für einen speziellen Teilbereich auch BVerfGE 136, 9 (28 ff.) – Vielfaltssicherung in den Rundfunkaufsichtsgremien (2014). 35 Dreier, Demokratische Repräsentation und vernünftiger Allgemeinwille, AöR 113 (1988), S. 450 (457, Klaus Ferdinand Gärditz
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es von vitaler Bedeutung, Freiheitsräume zur konfliktreichen Beliebigkeit zu belassen, die permanent verdeutlichen, dass der Staat weder einen Wahrheitsanspruch noch endgültige Lösungen für ubiquitäre und vielgestaltige soziale Konflikte hat. Die Relativität, Revisibilität, Fallibilität sowie Revidierbarkeit heutiger Werturteile zu akzeptieren, bewahrt die öffentliche Gewalt davor, aktuelle eigene Gerechtigkeitsvorstellungen zu verabsolutieren und dadurch den Gewaltunterworfenen unverhältnismäßige Freiheitseinbußen abzuverlangen. Unabhängig vom konkreten Inhalt aktualisierter Freiheit würde die liberale Matrix der Freiheitsrechte (negative Freiheit36) beschädigt, würde man Freiheitsentfaltung von vornherein und unter Umgehung der Rechtfertigungsprüfung konditionieren und nur noch nach Maßgabe äußerer Gemeinwohlerwartungen gewährleisten,37 deren Überzeugungskraft dann nicht mehr gesellschaftlich herausgefordert werden könnte. Im Übrigen sind es mitunter gerade sichtbare Vulnerabilitäts- und Diskriminierungserfahrungen, die die soziale Akzeptanz von Diskriminierungsverboten stabilisieren.38 Die in den Grundrechten liegende Willkür entfaltet Freiheitsmomente; diese sind eine 12 emotionale Ressource der Gesellschaft, die immer auch unbehagliche und verletzende Seiten hat, die aber eine freiheitliche Rechtsordnung um ihrer Freiheitlichkeit willen nicht von vornherein unterdrücken kann. Das Postulat einer unmittelbaren Grundrechtsbindung ist materiell Ausdruck einer diffusen Angst vor der notwendigen Kontingenz von Freiheit, die eben nicht umfassend bereits durch eine präformierte („gute“) Ordnung konditioniert ist. Institutionell ist es der Anspruch möglichst umfassender Kontrolle am Maßstab von Rechtssätzen, also eine ihrerseits vorrationale Sehnsucht nach Justizialisierung unter Ausschaltung des politischen Verständigungsprozesses und seiner mäßigenden Kräfte. Dies wäre letztlich ein autoritärer Ordnungsentwurf, der seinerseits die egalitärfreiheitlichen Prämissen untergraben würde, die auch den (liberalen) Diskriminierungsverboten zugrunde liegen. 2. Kontingenz und politischer Gestaltungsbedarf 13
Hieraus resultiert eine Verantwortungsteilung zwischen staatlichen Organen einerseits und Privaten andererseits. Der Absage an eine unmittelbare Bindung Privater an Gleichheitsgrundrechte korrespondiert ein grundsätzliches Vertrauen in den politischen Prozess, der – ausgehend von der kontingenten Freiheit der Trägerinnen und Träger von Grundrechten – die positiven Begrenzungen der Freiheitsentfaltung durch Schrankenziehung aushandelt.39 Namentlich Verbote mittelbarer Diskriminierungen, die praktisch von er460, 466 f.); Engel, Offene Gemeinwohldefinitionen, Rechtstheorie 32 (2001), S. 23 (25 ff.); Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 2. Aufl. 2006, S. 60, 208 ff., 499 ff., 709 f., 771; Schuppert, Gemeinwohl im kooperativen Staat, in: Münkler/Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, 2002, S. 67 (74 f.); ders. Gemeinwohldefinition im pluralistischen Verfassungsstaat, GewArch 2004, S. 441 ff. 36 Isensee, Privatautonomie, in: ders. (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, S. 239 (249 ff.). 37 Lehner (Fn. 27), S. 328; Schoch, Redebeitrag, VVDStRL 64 (2005), S. 412. Siehe auch Isensee (Fn. 7), S. 513: Freiheitsrechte dürften nicht zu Freiheitsschranken deformiert werden. 38 So hat die aktivere Auseinandersetzung um strukturelle Diskriminierungen in vielen Fällen überhaupt erst dazu beigetragen, Probleme zu markieren und rechtliche Reaktionen akzeptabler zu machen. 39 Poscher (Fn. 16), S. 342. Klaus Ferdinand Gärditz
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heblicher Bedeutung sind,40 setzen einen hohen Grad an wertungsabhängigen – insoweit ebenfalls kontingenten – Wirkungsprognosen voraus,41 die z. B. in einem pluralistischen Gesetzgebungsverfahren besser aufgehoben sind als in der Hand Privater, die sich der Folgen ihres eigenen Handelns vergewissern müssten. Mittelbare Folgen sind typischerweise für Einzelne schwer überschaubar, damit aber auch nur begrenzt individualisiert verantwortbar. Zugleich wird Diskriminierungsschutz – wie nicht zuletzt das Unionsrecht zeigt – nur relativ durch differenzierte Anwendungsbereiche und (gestaltungsbedürftige) Ausnahmen gewährleistet.42 Dies erfordert eine nähere Ausgestaltung, die wiederum an das – unter Privaten nicht geltende – Gebot der Verhältnismäßigkeit gebunden ist. In Nähebeziehungen mit besonderem Schutzbedarf (z. B. Arbeitsverhältnis) oder beim Zugang zu existenziellen Versorgungsleistungen (Wohnraum, Strom, Wasser, Versicherungen) werden weitergehende Beschränkungen privater Handlungsfreiheit zulässig sein43 als in Bereichen, die die höchstpersönliche Lebensgestaltung berühren (z. B. bei der Untervermietung in der eigenen Wohnung). Gerade eine Essentialisierung von gruppenbezogenen Merkmalen ist ein typischer Aspekt von Diskriminierungsmustern und daher zu vermeiden.44 Notwendig ist daher eine gestaltend-flexible Adaption an sich verändernde Diskriminierungsmuster, die jeweils empirisch belegbar sein müssen und nicht durch normative Gruppenzuschreibung verfestigt werden dürfen.45 Dieser fortwährende, reaktive Anpassungsprozess erfordert in hohem Maße Beurteilungen sowie deren Überprüfung, was wiederum auf den politischen Prozess verweist, in dem Reaktionsmuster auf Diskriminierungen angemessen verhandelt werden können. Namentlich müssen Gleichbehandlungsinteressen mit gegenläufigen Freiheitsinteres- 14 sen abgewogen werden; und Diskriminierungstatbestände erlangen nur dann rechtliche Relevanz, wenn an sie Rechtsfolgen geknüpft werden,46 die aber nicht selbstgenerierend sind. Ob etwa Diskriminierungsverbote im Geschäftsverkehr durch Kontrahierungszwang, durch Schadensersatzansprüche oder durch öffentlich-rechtliche Sanktionen (wie z. B. Bußgelder oder Maßnahmen der Gewerbeaufsicht) durchgesetzt werden oder wie die (praktisch grundrechtsrelevante47) Beweislast zu verteilen ist, wird durch Art. 3 Abs. 1 bis Abs. 3 GG grundsätzlich nicht vorgezeichnet. Der einfache Gesetzgeber kann aber insbesondere – wie vor allem durch das AGG geschehen – privatrechtliche Normen schaffen, die Akteure des Privatrechts allgemeinen Antidiskriminierungsregeln unterwerfen, sodass 40 Vgl. nur Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 429; Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht,
2021, S. 208 ff.; dazu auch → Sacksofsky, § 14.
41 Hierzu instruktiv (auch zur durchaus relevanten Frage nach dem Wert von Symbolik) Baer, Kom-
plizierte Effekte, in: FS Rottleuthner, 2011, S. 245 ff. Jestaedt (Fn. 5), S. 317 ff.; dazu auch → Reimer, § 17. So auch Jestaedt (Fn. 5), S. 347. Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 441; dazu auch → Baer, § 5 Rn. 51 ff. Vgl. zur Herausforderung Mangold (Fn. 40), S. 318 f.; Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 352 f. 46 Eingehende Typisierung bei Mangold (Fn. 40), S. 230 ff., die mit Recht die Vielgestaltigkeit möglicher Maßnahmen betont und die Notwendigkeit einer differenzierten Bewertung (S. 300 ff.); dazu auch → Grünberger/Reinelt, § 20 Rn. 1 ff. 47 BVerfGE 97, 169 (179) – Kündigungsschutz (1998). 42 43 44 45
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sich im Anwendungsbereich der jeweiligen (unterstellt: unionsrechts- und verfassungskonformen) Rechtsregeln die Frage der Grundrechtsbindung praktisch erledigt oder jedenfalls weitgehend entschärft.48 3. Güterabwägung statt Kontingenz? 15
Nun mag man einwenden, dass eine unmittelbare Anwendbarkeit von Gleichheitsgrundsätzen im Verhältnis zwischen Privaten nicht das Ende der Privatautonomie bedeute, weil es nicht um strikt formalisierte Gleichbehandlungspflichten, sondern am Ende um Güterabwägungen zwischen Freiheits- und Gleichheitsinteressen gehe.49 Das ist zwar richtig, vernachlässigt aber den Effekt von Abwägungen im Recht. Abwägung im Sinne der Verhältnismäßigkeit, die hier zur Anwendung käme, ist ein Instrument, den staatlichen Zugriff auf bürgerliche Freiheit zu rationalisieren, indem Zwang sorgfältig dosiert und relational begrenzt wird. Dieses Rationalisierungsparadigma lässt sich aber nicht auf das Verhältnis Privater zueinander übertragen. Während der Staat nur aus rationalen Gründen Freiheit beschränken darf, um nicht in eine Tyrannis gefühlter Richtigkeit abzugleiten – die Verhältnismäßigkeit ist das Hauptargument der Gewaltunterworfenen, diese Rationalität einzufordern –, schulden sich Private ohne gemeinwohlbasierte gesetzliche Vermittlung kein rationales Verhalten. Gerade in der Möglichkeit zur Irrationalität (hier vor allem der Freiheit, sich von eigenen Emotionen, Vorurteilen und Intuitionen leiten zu lassen) steckt – wie dargelegt – ein wesentlicher Eigenwert grundrechtlicher Freiheitsverbürgung. Würde praktizierte Freiheit nun zum Schutz von Gleichheitsrechten einer Interessenabwägung unterworfen,50 ginge es um wertende Relationierungen, die im Konfliktfall letzten Endes von einem (Zivil-)Gericht nach notwendig rationalen Argumenten verbindlich gemacht würden. Der Freiheitsverlust besteht daher nicht notwendigerweise in den Ergebnissen dieser Abwägung,51 sondern in der Einengung von Möglichkeitsräumen des Irrationalen, sprich: der Option, sich eben auch ohne gute Gründe autonom für oder gegen etwas zu entscheiden. Kontingenz als Proprium von Freiheit wird abgelöst durch die Vernunft – oder ins Institutionelle übersetzt: durch eine Herrschaft von Institutionen, die in der Lage sind, auf relationalen Abwägungen gründende rationale Entscheidungen verbindlich zu treffen. Das sind typischerweise Gerichte. 4. Zwang und Macht als Argumente?
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Dass auch privates Recht nur mittels eines staatlichen Zwangsapparats durchsetzbar ist, führt nicht zu einer eigenständigen Grundrechtsbindung. Denn verbindliche Entscheidungen staatlicher Organe in Privatrechtsstreitigkeiten werden inhaltsindifferent (sprich: mit dem Gehalt, den eine Sachentscheidung – aus welchen Gründen auch immer – erlangt hat) vollstreckt, sodass lediglich die Modalitäten der staatlichen Vollstreckung52 eigenstän48 49 50 51 52
Vgl. auch Oetker (Fn. 16), S. 12. Grünberger (Fn. 14), S. 29. Ähnliche Argumentation in Bezug auf die Inkompatibilität Singer (Fn. 8), S. 622. Hierauf scheint aber Grünberger (Fn. 14), S. 29 f., primär abzustellen. Zur Grundrechtsbindung nur BVerfGE 52, 214 ff. – Vollstreckungsschutz (1979). Klaus Ferdinand Gärditz
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dig an Grundrechten zu messen sind.53 Auf welchen Gründen eine zu vollstreckende Entscheidung ruht, namentlich inwiefern diese welche Grundrechtsbindungen berücksichtigen musste, spielt auf der Vollstreckungsebene keine Rolle. Das häufige Argument der sozialen Macht privater Akteure54 ist als solches ebenfalls 17 unzureichend, eine unmittelbare Grundrechtsbindung zu begründen,55 weil die spezifische Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG) keine Antwort auf allgemeine – ubiquitäre56 – gesellschaftliche Machtdisparitäten ist, sondern auf die besonderen Gefährdungen durch staatliche Macht und deren spezifische Missbrauchsrisiken. Machtasymmetrien können aber Schutzansprüche auslösen, die den Staat zum Handeln verpflichten und sich im Rahmen der mittelbaren Drittwirkung interpretationsleitend verdichten können.57 II. Bindung der Staatsorgane
Nach Art. 1 Abs. 3 GG sind Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an 18 die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden. Dies gilt auch für privatrechtliches Handeln der öffentlichen Gewalt58 und schließt nach heute allgemeiner Ansicht auch Unternehmen in Privatrechtsform ein, die mehrheitlich von der öffentlichen Hand beherrscht werden.59 Um eine unmittelbare Grundrechtsbindung nach Art. 1 Abs. 3 GG geht es auch dort, wo staatliche Behörden oder Gerichte privatrechtsgestaltend60 tätig werden (z. B. im Zulassungs-61, Regulierungs-62, Sozial-63, Kündigungsschutz-64, Mutterschutz-,65 Bodenverkehrs-66 oder im Familienrecht). Canaris (Fn. 7), S. 219. BGH, Urt. v. 15.1.2013, XI ZR 22/12, Rn. 27. Canaris (Fn. 7), S. 206 f. BGH, Urt. v. 15.1.2013, XI ZR 22/12, Rn. 27; Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 417; Kischel (Fn. 16), Art. 3 Rn. 93; Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), GG, 14. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 14. Dies merkwürdig verfremdend BGH, Urt. v. 15.1.2013, XI ZR 22/12, Rn. 27: „Ob der allgemeine Gleichheitssatz gilt, richtet sich danach, ob im Verhältnis einzelner Privatrechtssubjekte zueinander ein (soziales) Machtverhältnis besteht“. In welchen Verhältnissen besteht dies nicht? Letztlich geht es doch um die Qualität des Machtverhältnisses und eine qualifizierte Vulnerabilität. Es kann ja nicht um die Macht des Bäckers gehen, die letzte Brezel zum Frühstück statt mir der an der Schlange daneben wartenden Person zu verkaufen. 57 Vgl. Krieger (Fn. 56), Art. 3 Rn. 13. 58 BVerfGE 116, 135 (153 ff.) – Unterschwellige Auftragsvergabe (2006); Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 66 ff.; Höfling (Fn. 10), Art. 1 Rn. 106; Wrase, Verfassungsrechtliche Ansatzpunkte für einen Diskriminierungsschutz beim öffentlichen Angebot von Gütern und Dienstleistungen, ZESAR 2005, S. 229 (235). 59 Zuletzt BVerfGE 128, 226 (249 f.) – Fraport (2011). 60 Grundsätzlich hierzu Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, 1994. 61 § 14 Satz 2 BImSchG; § 75 Abs. 2 VwVfG; stellvertretend Kahl/Gärditz, Umweltrecht, 11. Aufl. 2019, § 4 Rn. 159. 62 §§ 31, 37 Abs. 2 TKG; vgl. zur privatrechtsgestaltenden Wirkung BVerwGE 156, 59 ff.; BVerwG, Beschl. v. 4.12.2018, 6 B 56/18, Rn. 13 ff.; Kühling/Schall/Biendl, Telekommunikationsrecht, 2. Aufl. 2014, Rn. 379. Zu privatrechtsgestaltenden Entgeltgenehmigungen im Tierkörperbeseitigungsrecht BVerwG, Beschl. v. 17.5.2010, 3 B 61/09. 53 54 55 56
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1. Unmittelbare Bindung des Gesetzgebers 19
Die Bindung des Gesetzgebers, der spezifisch Privatrecht setzt, an die Grundrechte folgt aus Art. 1 Abs. 3 GG.67 Art. 1 Abs. 3 GG adressiert die organisatorisch-funktionalen Gliederungen der öffentlichen Gewalt,68 nicht bestimmte Themengebiete des Staatshandelns. Damit besteht von vornherein keine sektoral-thematische Ausnahme für Gesetzgebung, die sich auf Gegenstände des Privatrechts bezieht. Einen „Privatrechtsgesetzgeber“ hat die Verfassung nicht funktional ausdifferenziert, sondern nur einen (z. B. nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1, 11, 12, 16 GG) jeweils zuständigen (allgemeinen) Gesetzgeber, der Regelungen auf dem Gebiet des Privatrechts erlässt. Zwar binden die Grundrechte den Gesetzgeber materiell nur mit dem Inhalt, den sie nach Tatbestand und Funktion haben, ohne diese – abhängig vom adressierten Akteur – umzuqualifizieren.69 Zum konkreten Inhalt der einzelnen Grundrechte (in Bezug auf Regelungsgegenstände des Privatrechts) lassen sich aber Art. 1 Abs. 3 GG keine Aussagen entnehmen.70 Jedenfalls übt der Gesetzgeber selbst hoheitliche Gewalt aus und verteilt auch bei der Ausgestaltung des Privatrechts rechtlich eingehegte Freiheit, deren gesetzlicher Entfaltungsrahmen verbindlich und gegebenenfalls unter Zuhilfenahme staatlicher Gewalt durchsetzbar ist. Dies gilt nicht zuletzt dort, wo der Gesetzgeber private Rechte schafft. Subjektive Rechte sind regulative Macht kraft gesetzlicher Ermächtigung, mit Max Weber: „Ein subjektives Recht ist eine Machtquelle, welche durch die Existenz des betreffenden Rechtssatzes im Einzelfall auch dem zufallen kann, der ohne ihn gänzlich machtlos wäre. Schon dadurch ist er Quelle gänzlicher neuer Situationen innerhalb des Gemeinschaftshandelns“.71 Dieser gestaltend-eingreifende Zugriff auf die normativen Grenzen praktischer Freiheitsentfaltung ist dann auch regulär an den Grundrechten zu messen.72 Insoweit macht es beispielsweise keinen Unterschied, ob der Gesetzgeber bestimmte Meinungsäußerungen durch öffentlich-rechtliche Sanktion (Bußgeld, Kriminalstrafe, Verbotsverfügung) unterbindet oder Privaten gesetzliche Unterlassungsansprüche einräumt.73 Gerade § 134 BGB ist eine Brückenbestimmung hinein in 63 Vgl. BGHZ 105, 160 ff. 64 §§ 17 ff. KSchG; hierzu BAG, ZTR 2004, S. 535 ff. 65 § 17 Abs. 2 MuSchG; zur privatrechtsgestaltenden Wirkung BAGE 106, 293 ff.; BAG, Urt. v. 17.6.2003,
2 AZR 404/02.
66 § 2 GVO; hierzu BFHE 188, 448 ff. 67 Canaris (Fn. 7), S. 212, 214 f., 245; Hager (Fn. 16), S. 374 f., 376 f.; Jestaedt (Fn. 5), S. 331; Singer (Fn. 8),
S. 621; Wrase (Fn. 58), S. 235 („Selbstverständlichkeit“). Beispielsweise hat BAGE 22, 344 ff. die Regelung des § 60 HGB ohne weiteres an Art. 12 Abs. 1 GG gemessen. 68 Dreier (Fn. 58), Art. 1 III Rn. 53. 69 Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), S. 1 (2 f.). 70 Insoweit nicht überzeugend Canaris (Fn. 7), S. 212 ff. 71 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1972, S. 398. 72 Hager (Fn. 16), S. 375; Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992, S. 56; Pietzcker, Drittwirkung – Schutzpflicht – Eingriff, in: FS Dürig, 1990, S. 345 (350). 73 In diesem Sinne auch Schwabe, Bundesverfassungsgericht und „Drittwirkung“ der Grundrechte, AöR 100 (1975), S. 442 (444). Namentlich im Kartellrecht knüpfen an einheitliche Verbotstatbestände (§§ 1, 19–21 GWB; Art. 101 f. AEUV ) sowohl privatrechtliche Abwehrrechte als auch behördliche EingriffserKlaus Ferdinand Gärditz
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das Öffentliche Recht, durch die an öffentlich-rechtliche Verbote auch normativ gesteuert privat-rechtliche Rechtsfolgen geknüpft werden. Entsprechendes gilt für Gleichheitsgrundrechte. Der Gesetzgeber kann zwar – jen- 20 seits positiver Schutzpflichten oder unions- bzw. völkerrechtlicher Legislativaufträge – auf eine gesetzliche Normierung von Gleichbehandlungspflichten im Privatrechtsverhältnis verzichten und insoweit die Ausgestaltung von Rechtsverhältnissen der Willkür Privater überlassen, die dann als nicht grundrechtsgebundene Akteure ihren rechtlich belassenen Handlungsradius auch zu unsachlichen (diskriminierenden) Praktiken nutzen dürfen. Wenn der Gesetzgeber jedoch durch Gesetz das Horizontalverhältnis zwischen Privaten hoheitlich-vertikal verbindlich normiert und hierbei differenziert (oder entdifferenziert), ist er an Gleichheitsgrundrechte gebunden. Dass der Gesetzgeber privater Willkür Raum belassen darf (und gegebenenfalls muss), ist kein Freibrief für willkürliche Gesetzgebung, die gerade positive normative Vorgaben aufstellt, die Private binden und in ihrem Anwendungsbereich privater Autonomie Grenzen setzen. Gerade gesetzliche Begrenzungen der Privatautonomie müssen daher den rationalisierenden Anforderungen aus Art. 3 Abs. 1 bis Abs. 3 GG genügen. Auch insoweit macht es etwa keinen Unterschied, ob der Gesetzgeber beispielsweise den gleichheitskonformen Zugang zu Berufsausbildungs- oder Arbeitsverhältnissen durch öffentlich-rechtliches Berufsrecht regelt und mit Sanktionen bewehrt oder den Privaten, die Zugang zur Lehrstelle oder zu einem Arbeitsplatz suchen, einen zivilrechtlichen Anspruch auf eine diskriminierungsfreie Auswahlentscheidung einräumt. 2. Mittelbare Drittwirkung im Verhältnis zu Privaten
Gerichte, die Privatrecht anwenden, sind zwar fraglos an Grundrechte gebunden (Art. 1 21 Abs. 3 GG),74 haben aber die Grundrechte nur insoweit anzuwenden, als sie auf eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage tatbestandlich anwendbar sind. Soweit Grundrechte also konkret im Privatrechtsverhältnis nicht gelten, vermag auch die abstrakte Grundrechtsbindung des Gerichts hieran nichts zu ändern. Die Rechtsprechung hat allerdings seit der bahnbrechenden Lüth-Entscheidung75 die Figur der mittelbaren Drittwirkung entwickelt,76 um die in den Grundrechten angelegte objektive Wertentscheidung bzw. deren „Ausstrahlungswirkung“77 interpretationsleitend zur Geltung zu bringen.78 Die Verfassung mächtigungen an (§§ 32–32e, 33–34a GWB). Und die meisten Strafgesetze sind zugleich Schutzgesetze nach § 823 Abs. 2 BGB. 74 Schon BVerfGE 7, 198 (215) – Lüth (1958). Vgl. ferner Isensee (Fn. 7), S. 499. 75 BVerfGE 7, 198 (205 ff.) – Lüth (1958). 76 Zuletzt BVerfGE 148, 267 (280) – Stadionverbot (2018); BVerfGE 152, 152 (184 ff.) – Vergessenwerden I (2019); BAGE 111, 8 (13 f.); BAGE 124, 284 (292); Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Vor Art. 1 Rn. 32; Medicus (Fn. 16), S. 43; Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 75. Sehr zurückhaltend Kischel (Fn. 16), Art. 3 Rn. 93. 77 BVerfGE 7, 198 (207) – Lüth (1958); seitdem ständige Rechtsprechung BVerfGE 24, 236 (244) – Aktion Rumpelkammer (1968); BVerfGE 24, 278 (282) – GEMA (1968); BVerfGE 30, 173 (201) – Mephisto (1971); BVerfGE 32, 311 (318) – Friedhofswerbung (1972); BVerfGE 34, 269 (280) – Soraya (1973); BVerfGE 52, 131 (172) – Arzthaftung (1979); BVerfGE 73, 261 (269) – Barabgeltungsanspruch (1986); BVerfGE Klaus Ferdinand Gärditz
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habe in ihrem Grundrechtsabschnitt „Elemente objektiver Ordnung aufgerichtet“.79 Als „objektive Norm“ sei ein Grundrecht nach seinem „Rechtsgehalt“ in Streitigkeiten zwischen Privaten bei der „Auslegung und Anwendung privatrechtlicher Vorschriften“ zu berücksichtigen.80 Da das Gericht insoweit voraussetzt, dass das einfache Zivilrecht hinreichende Manövrierräume für eine grundrechtsinfluenzierte Rechtsanwendung („wertsetzender Gehalt“) belässt,81 verlagert es den Grundrechtsschutz vornehmlich in deutungselastische Bewertungsermächtigungen82 und Generalklauseln:83 „Im Privatrechtsverkehr entfalten die Grundrechte ihre Wirkkraft als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen durch das Medium der Vorschriften, die das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen, damit vor allem auch durch die zivilrechtlichen Generalklauseln […]. Der Staat hat insoweit die Grundrechte des Einzelnen zu schützen und vor Verletzung durch andere zu bewahren […]. Den staatlichen Gerichten obliegt es, den grundrechtlichen Schutz im Wege der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu konkretisieren“.84 a) Objektive Wertentscheidung oder subjektives Recht? 21
Die Semantik von der objektiven Ordnung bildet freilich die hintergründige Ratio, den Anwendungsbereich der Grundrechte auf Rechtsverhältnisse zwischen Privaten zu erstrecken, nur unvollkommen ab. Da sich Einzelne gegen eine Gerichtsentscheidung auf dem Gebiet des Zivilrechts durch Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) mit dem Argument wehren können, das Gericht habe die Bedeutung und Reichweite der Grundrechte verkannt,85 geht es richtigerweise nicht allein um die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte.86 Die Matrix der Grundrechte ist keine objektive Ordnung, sondern subjektive Freiheit. Rechtsfolgen objektiver Wertentscheidungen haben daher nur eine ergänzende Funktion gegenüber der subjektiv-individuellen Ab96, 375 (398) – Kind als Schaden (1997); BVerfGE 112, 332 (358) – Pflichtteil (2005); BVerfGE 100, 214 (222) – Betriebsratswahlkandidatur auf konkurrierender Liste (1999); BVerfGE 148, 267 (278) – Stadionverbot (2018); BGH, Urt. v. 15.1.2013, XI ZR 22/12, Rn. 27. 78 Zuletzt BVerfGE 152, 152 (185 f., 190) – Vergessenwerden I (2019). 79 BVerfGE 73, 261 (269) – Barabgeltungsanspruch (1986). 80 BVerfGE 84, 192 (194 f.) – Vertragsschluss Entmündigter (1991). 81 BVerfGE 114, 339 (348) – IM Sekretär (2005); vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 10.3.2016, 1 BvR 2844/13 – Kachelmann. 82 Vgl. zur Ermächtigungsstruktur gegenüber Gerichten Jestaedt, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 10 Rn. 33. 83 Vgl. nur Dürig (Fn. 16), S. 176 ff.; Eichenhofer, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, DVBl. 2004, S. 1078 (1081); Kirchhof (Fn. 16), Art. 3 Abs. 1 Rn. 331; Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 182 Rn. 142; Wrase (Fn. 58), S. 235 f. 84 BVerfGE 137, 273 (313) – Kündigungsschutz und kirchliche Selbstbestimmung (2014). 85 BVerfGE 7, 198 (206 f.) – Lüth (1958); BVerfGE 148, 267 (278) – Stadionverbot (2018); kritisch Merten, Zur Nichtigkeit vereinbarter Freizügigkeitsbeschränkung zwischen geschiedenen Eheleuten, NJW 1972, S. 1799; vermittelnd und allgemein für objektive Grundrechtsgehalte Böckenförde (Fn. 69), S. 15: Prüfung aller objektiv-rechtlichen Gehalte von Amts wegen durch das BVerfG, sobald irgendein Grundrecht geltend gemacht werden könne. 86 So schon Canaris (Fn. 7), S. 224. Klaus Ferdinand Gärditz
A. Allgemeine Adressatenfragen des Diskriminierungsschutzes
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wehrdimension87 und werden insoweit – ganz allgemein88, damit nicht auf das Privatrecht beschränkt – resubjektiviert.89 Die hinter den Grundrechten stehende Freiheitsidee, die auf Selbstbestimmung der Einzelnen gründet, verlangt letztlich auch die subjektive Verfügbarkeit grundrechtlicher Verbürgungen. Die unmittelbare Grundrechtsbindung staatlicher Organe einerseits und die mittelbare Drittwirkung andererseits unterscheiden sich daher auch weniger prozessual als durch die Reichweite sowie Intensität inhaltlicher Bindung. Prozessual muss dies freilich nach §§ 23 Abs. 1, 92 BVerfGG hinreichend substantiiert vorgetragen werden, was in Drittwirkungskonstellationen Beschwerdeführern einen höheren Begründungsaufwand abverlangt. b) Grund und Reichweite der Drittwirkung im einfachen Gesetz
Eine Transformation der Drittwirkung gegenüber Privaten allein über zivilrechtliche Ge- 22 neralklauseln wurde mit Recht als zu eng qualifiziert, schon weil es Normen des Privatrechts mit enger tatbestandlicher Programmierung geben kann, die gezielt dem Schutz grundrechtlich definierter Güter dienen.90 Solche Normen bedürfen dann einer Auslegung im Lichte ihres Schutzzweckes, der sich nicht in einer Aktualisierung einfachgesetzlicher Teleologie erschöpft, sondern gegebenenfalls ebenfalls einer ihrer Tragweite und Bedeutung angemessenen Berücksichtigung der einschlägigen Grundrechte bedarf. So wird z. B. eine privatrechtliche Norm zum Schutze der Pressefreiheit auch im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG auszudeuten sein.91 Gestaltet der Gesetzgeber das Zivilrecht gemessen an seinen grundrechtlichen Schutzverpflichtungen (dazu später) unzureichend aus, namentlich weil ein Normenkomplex keine hinreichenden Möglichkeiten bietet, Grundrechte angemessen zu berücksichtigen, kann eine gesetzliche Bestimmung verfassungswidrig sein,92 z. B. wenn sie Privaten unzumutbare Handlungsmacht einräumt, die die praktische Grundrechtsentfaltung unterbindet. Um dies zu vermeiden, kann 87 Vgl. BVerfGE 7, 198 (204) – Lüth (1958); BVerfGE 50, 290 (337) – Mitbestimmung (1979); BVerfGE 61,
82 (101) – Kommunales Eigentum (1982); Bethge, Der Grundrechtseingriff, VVDStRL 57 (1998), S. 7 (14); Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 (1537 f.); Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, in: FG aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des BVerwG, 1978, S. 89; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl. 2005, S. 85; Klein, Über Grundpflichten, Der Staat 14 (1975), S. 153 (165); Kröger, Grundrechtstheorie als Verfassungsproblem, 1978, S. 16; Dreier, Subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte, Jura 1994, S. 505; Ossenbühl, Die Interpretation der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1976, S. 2100. 88 Vgl. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S. 44; Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 569 f.; Gostomyzk, Grundrechte als objektiv-rechtliche Ordnungsidee, JuS 2004, S. 949 (952 f.); Jarass, Die Grundrechte, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 35 (48 f.). Namentlich für die prozessualen Konsequenzen in Bezug auf objektiv-rechtliche Schutzpflichten Möstl, Probleme der verfassungsprozessualen Geltendmachung gesetzgeberischer Schutzpflichten, DÖV 1998, S. 1029 ff. 89 Hiermit freilich fremdelnd Grünberger (Fn. 14), S. 1016 f. 90 Canaris (Fn. 7), S. 223. Ferner Hager (Fn. 16), S. 376. 91 Vgl. nur BVerfGE 101, 361 (387 ff.) – Caroline von Monaco I (1999); BVerfGE 120, 180 (196 f.) – Caroline von Monaco II (2008), jeweils zum zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz i. V. m. den §§ 22, 23 KUG. 92 Vgl. zum Problem schon Schwabe (Fn. 73), S. 447. Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
schon aufgrund der mittelbaren Drittwirkung eine grundrechtskonforme Auslegung des Gesetzes geboten sein. 23 Hängt mithin die interpretationsleitende Funktion der Grundrechte – einschließlich der Gleichheitsrechte – nicht davon ab, ob eine Norm des Zivilrechts generalklauselartig gefasst ist oder für sozialethische Wertungen intentional offengehalten wurde, erscheint der einengende Zugriff nicht plausibel. Grund und Inhalt grundrechtlicher Bindungen können nicht davon abhängen, wie (zumal oftmals vorkonstitutionell konzipierte) Normen des Zivilrechts zufällig ausgestaltet sind, und damit zur Disposition des einfachen Gesetzgebers gestellt werden. Wenn man den Inhalt der von den (mittelbaren) Grundrechtsfolgen im Privatrechtsverhältnis ausgehenden Bindung adäquat bestimmt, besteht für eine strukturelle Einhegung der Drittwirkung auch kein Bedarf. Grundrechte determinieren im Zivilrecht eben aufgrund der permanenten Notwendigkeit, mit Freiheitsrechten anderer abzuwägen und hierbei der legitimen Willkür privatautonomen Handelns Rechnung zu tragen, die Rechtsanwendung deutlich schwächer als in Rechtsverhältnissen, an denen eine einseitig grundrechtsgebundene öffentliche Gewalt beteiligt ist. 24 Die für die Drittwirkung bemühte Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf die Auslegung und Anwendung des Rechts ist umgekehrt auch kein Proprium des Zivilrechts geblieben, sondern von Anfang an („als Elemente einer objektiven Ordnung in alle Rechtsbereiche hinein“93) auch in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten aktiviert worden.94 Die Berücksichtigung der Grundrechte bei der Auslegung und Anwendung des Zivilrechts fügt sich dann ein in die allgemeine – auch auf Gleichheitssätze uneingeschränkt anwendbare95 – verfassungskonforme Interpretation des einfachen Rechts. Deren äußere Grenzen sind sorgfältig zu beachten, namentlich ist keine Umdeutung des einfachen Rechts vorbei an Wortlaut und Normzweck zulässig,96 was aber allgemein gilt. Eine Sonderdogmatik, die verfassungsrechtliche Argumentationsräume auf Generalklauseln begrenzt, erweist sich gemessen hieran als dysfunktional.
93 BVerfGE 111, 45 (84) – Rechnungslegung einer Partei (2004). 94 Vgl. BVerfGE 25, 44 (60) – Betätigungsverbot (1969); BVerfGE 25, 69 (76) – Verfassungsfeindliche Äu-
ßerung (1969); BVerfGE 25, 79 (87) – Kommunistische Geheimbündelei (1969); BVerfGE 25, 230 (234) – Hochverrat und Meinungsfreiheit (1969); BVerfGE 27, 71 (79) – Postüberwachung I (1969); BVerfGE 27, 88 (99) – Postüberwachung II (1969); BVerfGE 27, 104 (110) – Einziehung von Druckwerken nach StPO (1969); BVerfGE 32, 98 (108) – Religiös verweigerte Bluttransfusion (1971); BVerfGE 33, 52 (69) – Filmeinfuhrverbote (1972); BVerfGE 36, 321 (331) – Kunstförderung (1974); BVerfGE 49, 168 (183) – Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis (1978); BVerfGE 107, 299 (334) – Telefonüberwachung von Journalisten (2003); BVerfGE 110, 226 (270) – Geldwäsche und Strafverteidigung (2004); BVerfGE 119, 309 (327) – Sitzungspolizei und Rundfunkfreiheit (2007). In BVerfGE 35, 202 (219) – Lebach (1973) nimmt das BVerfG zwar auf das zivilgerichtliche Verfahren Bezug, jedoch stand auf der Gegenseite das ZDF als grundrechtsgebundener Träger öffentlicher Gewalt. 95 Kischel (Fn. 16), Art. 3 Rn. 94. 96 BVerfGE 126, 170 (197 f.) – Untreue (2010); BVerfGE 128, 326 (371) – Sicherungsverwahrung (2011); BVerfGE 130, 1 (43 f.) – Verwertungsverbot aus präventiv-polizeilicher Wohnraumüberwachung (2011); BVerfGE 134, 33 (55) – Therapieunterbringung (2013); BVerfGE 138, 64 (89 f.) – Unterlassene Richtervorlage (2014). Klaus Ferdinand Gärditz
A. Allgemeine Adressatenfragen des Diskriminierungsschutzes
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Sachgerechter ist es daher, die Drittwirkung mit einer staatlichen Schutzverantwortung 25 zu erklären,97 die immer dort auflebt, wo der Staat als neutrale Instanz in rechtlichen Streitigkeiten oder im gestaltenden Konfliktausgleich zwischen Privaten mit spezifischen grundrechtlichen Schutzbedürfnissen konfrontiert wird. Hierzu gehört dann auch Schutz gegen Diskriminierungen. Schutzpflichten wurden vom BVerfG aus dem objektiven Wertgehalt der Grundrechte abgeleitet, der in der positiven Entscheidung für Schutzgüter Schutzfunktionen und Freiheitsentfaltungskontexte zum Ausdruck kommt. Diese Verantwortung für Schutzgüter ist von vornherein nicht abhängig von einer abwehrrechtlichen Grundrechtsstruktur oder einer bestimmten Dogmatik des Prüfungsaufbaus, die für Gleichheitsrechte abweichend strukturiert sein mag. Entscheidend für die Begründung von Schutzpflichten ist es vielmehr, dass in dem jeweiligen Grundrecht eine positive Entscheidung für eine Rechtsordnung angelegt ist, in der sich auch die positive Ordnungsfunktion des jeweiligen Grundrechts praktisch verwirklichen kann, wofür dann die grundrechtsgebundene öffentliche Gewalt eine Mitverantwortung übernehmen muss. Dies lässt sich aber für die Gleichheitsgrundrechte des Art. 3 GG nicht anders beurteilen als für herkömmliche Abwehrrechte. Hinter den Gleichheitsrechten steht die (ebenfalls liberale) Ordnungsidee einer auf Egalität gründenden Rechtsordnung, in der reale Differenzen zwar hingenommen und als Ausdruck von Vielfalt in Freiheit gegebenenfalls sogar positiv konnotiert werden, aber doch eine egalitäre Matrix voraussetzen, die einer hinreichenden Stützung durch das Recht und einer praktisch wirksamen Durchsetzung innerhalb rechtsanwendender Institutionen bedarf. Verkoppelt man die basale Rechtsgleichheit – wie es das BVerfG getan hat98 – zudem mit der Menschenwürde, deren Schutzauftrag (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) ursprünglich dogmatischer Anknüpfungspunkt für die Formulierung grundrechtlicher Schutzpflichten war,99 liegt auch insoweit eine Parallelführung nahe. Die grundrechtsgebundene öffentliche Gewalt ist dann in der Verantwortung, auch im privaten Horizontalverhältnis über die Gewährleistung formaler Rechtsgleichheit hinaus Regelungsstrukturen zu schaffen, die unzumutbare Quellen von struktureller Ungleichheit insbesondere in den Vertragsbeziehungen abbauen. Dieser offene Auftrag wird auf der Rechtsfolgenseite durch die etablierte – auch in gleichheitsrechtlicher Fundierung im Übrigen nicht völlig neue100 – Schutzpflichtdogmatik adäquat abgebildet, anerkennt diese doch weite Einschätzungsprärogativen, welche Mittel als schutzadäquat einzusetzen sind.101 97 Höfling (Fn. 10), Art. 1 Rn. 118 f.; ähnlich auch Krieger (Fn. 56), Art. 3 Rn. 13, die auf eine Nähe von
Schutzpflicht und Drittwirkung hinweist.
98 BVerfGE 144, 20 (208) – NPD (2017). 99 BVerfGE 39, 1 (41) – Schwangerschaftsabbruch I (1975); BVerfGE 88, 203 (252) – Schwangerschafts-
abbruch II (1993).
100 So hat das BVerfG im Hochschulverfassungsrecht aus der objektiv-verfassungsrechtlichen Schutz-
funktion des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG weitreichende Organisationsanforderungen für staatliche Hochschulen abgeleitet, die Gruppenbildung innerhalb der „Gruppenhochschule“ aber vor allem an der gleichheitskonformen Typisierung gemessen. Vgl. BVerfGE 35, 79 (132) – Hochschulurteil (1973): „Wohl aber verlangt die Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG, daß bei Entscheidungen über Fragen, welche die Forschung unmittelbar betreffen, der Gruppe der Hochschullehrer ein ausschlaggebender Einfluß vorbehalten bleibt.“ Auch in anderen Entscheidungen klingt – ohne dies dogmatisch genauer zu konturieren – eine Nähe zur Schutzpflichtdogmatik an. Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
c) Unterschied zwischen unmittelbarer Bindung und Drittwirkung 26 Die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte zwischen Privaten ist nicht nur in ihrer
dogmatischen Konstruktion, sondern auch dem Inhalt nach nicht mit der unmittelbaren Grundrechtsbindung staatlicher Organe i. S. des Art. 1 Abs. 3 GG gleichzusetzen.102 Staatliche Organe selbst sind unmittelbar grundrechtsgebunden, aber reziprok gerade nicht selbst grundrechtsberechtigt.103 Daher stehen dem Staat auch keine eigenen Grundrechte zu, um Ungleichbehandlungen – z. B. mit der Meinungsfreiheit einer aktuellen Mehrheit – zu rechtfertigen. Dies ist bei Privaten anders, stehen sich doch hier zwei selbstständige Grundrechtssubjekte gegenüber.104 Diese können tatbestandliche Ungleichbehandlungen grundsätzlich damit rechtfertigen, dass sie Freiheitsrechte wahrnehmen, zumal wenn deren Zurückdrängung zugunsten egalitärer Gemeinwohlziele im konkreten Fall unzumutbar wäre.105 Die meisten Diskriminierungen stützen sich gerade auf Wertprägungen, Einstellungen und Vorurteile, die im Einzelnen irrational sein mögen, aber eben eine von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Meinung ausdrücken oder weltanschaulichen bzw. religiösen Überzeugungen i. S. von Art. 4 Abs. 1 bis Abs. 2 GG folgen. Die Differenz zeigt sich mit besonderer Schärfe bei den strikten Verboten des Art. 3 Abs. 3 GG, die durch staatliche Organe nur ausnahmsweise aus zwingenden verfassungsrechtlichen Gründen durchbrochen werden dürfen,106 im Rahmen ihrer Drittwirkung hingegen dem Abwägungsvorbehalt mit gegenläufigen Freiheitsinteressen unterliegen.107 101 BVerfGE 77, 170 (214 f.) – C-Waffen (1977); BVerfGK 10, 208 (211 f.) – Baugenehmigung für Mobil-
funksendeanlage (2007); BVerfG, Beschl. v. 26.10.1995, 1 BvR 1348/95, Rn. 6 – Festsetzung von Geschwindigkeitsbeschränkungen; BVerfG, Beschl. v. 29.11.1995, 1 BvR 2203/95 – Schutz vor unzumutbaren OzonBelastungen; BVerfG, Beschl. v. 17.2.1997, 1 BvR 1658/96 – Elektrosmog; BVerfG, Beschl. v. 28.2.2002, 1 BvR 1676/01, Rn. 11 ff. – Mobilfunkanlage; BVerfG, Beschl. v. 15.10.2009, 1 BvR 3474/08, Rn. 27 – Ergänzungsplanfeststellungsbeschluss Flughafen Leipzig/Halle; BVerfG, Beschl. v. 18.2.2010, 2 BvR 2502/08, Rn. 14 ff. – Versuchsreihen am „CERN“; BVerfG, Beschl. v. 4.5.2011, 1 BvR 1502/08, Rn. 38 – Novellierung des Fluglärmschutzgesetzes; BVerfG, Beschl. v. 23.1.2013, 2 BvR 1677/10, Rn. 5 – Waffengesetz; BVerfG, Beschl. v. 23.1.2013, 2 BvR 1645/10, Rn. 5 – Waffengesetz. 102 Explizit BVerfGE 152, 152 (190) – Vergessenwerden I (2019). Vgl. auch Grünberger (Fn. 14), S. 1034. Fragwürdig ist es daher, wenn das BAG teilweise offenlässt, ob es um eine unmittelbare Grundrechtsbindung der Tarifparteien oder eine mittelbare Drittwirkung geht, weil in jedem Fall die Grundrechte Anwendung fänden. So aber BAGE 119, 41 (45). 103 Vgl. BVerfGE 15, 256 (262) – Grundrechtsfähigkeit von Hochschulen (1963); BVerfGE 68, 193 (206 ff.) – Grundrechtsfähigkeit von Innungen (1984); BVerfGE 75, 192 (196 f.) – Grundrechtsfähigkeit kommunaler Sparkassen (1987); BVerfGE 128, 226 (247 f.) – Fraport (2011); BVerfGE 143, 246 (315) – Atomausstieg (2016); Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 245; Kloepfer, Verfassungsrecht II: Grundrechte, 2010, § 49 Rn. 57; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 92. 104 Vgl. Horcher, Kontrahierungszwang im Arbeitsrecht, RdA 2014, S. 93 (94); Schwabe (Fn. 73), S. 458. 105 So konkret der BGH, Urt. v. 15.1.2013, XI ZR 22/12, Rn. 29, in Bezug auf eine Diskriminierung aufgrund einer ablehnenden Haltung zur politischen Anschauung des Vertragspartners, der ein Girokonto fortführen wollte. 106 BVerfGE 114, 357 (364) – Geschlechterdiskriminierende Aufenthaltserlaubnis (2005). 107 Ähnlich Looschelders, Anmerkung zu BGH, Urt. v. 15.1.2013, XI ZR 22/12, JZ 2013, S. 570 (572); Poscher (Fn. 16), S. 342 f.; Wrase (Fn. 58), S. 236. Klaus Ferdinand Gärditz
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Zudem ist die Bindung der Zivilgerichte qua mittelbarer Drittwirkung nicht inhaltlich 27 gleichlaufend mit der des Gesetzgebers.108 Die das Zivilrecht anwendenden Richterinnen und Richter sind an ein – mitunter detailliertes – einfach-gesetzliches Normprogramm gebunden, das die möglichen Spielräume für eine grundrechtskonforme Auslegung fixiert.109 Hierbei gilt für Gerichte grundsätzlich der Vorbehalt des Gesetzes, jedenfalls soweit durch Privatrecht grundrechtswesentliche Fragen110 geregelt werden.111 Damit verweist die mittelbare Drittwirkung zunächst einmal auf die Leistungen der politischen Verfahren der Gesetzgebung, verfassungsrechtliche Wertungen der Gleichheitsgebote in konkrete – relativ betrachtet kontingente112 – Rechtsfolgen zwischen Privaten zu übersetzen.113 Es geht mithin um eine andere Konkretisierungsebene der Rechtserzeugung, was aber für eine Rechtsordnung, die Legitimation aus dem Demokratiegebot (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG), der funktionalen Gewaltengliederung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) sowie der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) zieht, eine fundamentale Differenz darstellt. d) Drittwirkung als institutionelles Kompetenzproblem?
Soweit die mittelbare Drittwirkung institutionell kritisiert wird, weil hiermit eine De- 28 tailintervention des BVerfG in das Privatrecht einhergehen soll,114 überzeugt dies nicht. Dass der Einfluss der Verfassungsgerichtsbarkeit der Reichweite der Grundrechtsbindung folgt, ist unvermeidbar und nicht zu beanstanden. Die Detaildichte der Maßstabssetzung ist hierbei kein Problem des Zivilrechts, das schon mit Blick auf die Normenhierarchie von vornherein keine exzeptionelle Abschirmung gegenüber konstitutionellen Bindungen beanspruchen kann; es könnte hier allenfalls um eine allgemeine – gleichermaßen das Verwaltungsrecht betreffende – Überdetermination durch sedimentierte Verfassungs108 So aber letztlich Hager (Fn. 16), S. 377. 109 Noch weitergehend Jestaedt (Fn. 5), S. 335: Keine unmittelbare Grundrechtsbindung, sondern eine
Argumentation auf einfach-gesetzlicher Ebene qua paralleler Maßstäbe.
110 Vgl. allgemein BVerfGE 40, 237 (249) – Strafgefangene (1975); BVerfGE 47, 46 (79) – Sexualkunde
(1977); BVerfGE 49, 89 (126 f.) – Kalkar (1977); BVerfGE 80, 124 (132) – Presseförderung (1989); BVerfGE 95, 267 (307 f.) – LPG-Altschulden (1997); BVerfGE 101, 1 (34) – Legehennen-Verordnung (1997); BVerfGE 108, 282 (311) – Kopftuch I (2003). 111 Vgl. Gärditz, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), GG, Stand: Januar 2011, Art. 20 Abs. 3 (Rechtsstaat), Rn. 195. Anders offenbar Hellgardt, Wer hat Angst vor der unmittelbaren Drittwirkung?, JZ 2018, S. 901 (908), der hier den Gerichten eine weitergehende Aufgabe der Lückenfüllung zuweisen möchte. Allgemein zur Geltung des Vorbehalts des Gesetzes für Gerichte einerseits bejahend Hillgruber, Richterliche Rechtsfortbildung als Verfassungsproblem, JZ 1996, S. 118 (123 f.); Gärditz, Das Steuerungspotential der Rechtsprechung, in: Kahl/Mager (Hrsg.), Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungsrechtspraxis, 2019, S. 207 (232); andererseits ablehnend Classen, Gesetzesvorbehalt und Dritte Gewalt, JZ 2003, S. 693 (697 ff.); Haltern/Mayer/Möllers, Wesentlichkeitstheorie und Gerichtsbarkeit, Die Verwaltung 30 (1997), S. 51 (62 ff.). 112 Unklar Boysen (Fn. 21), Art. 3 Rn. 151. 113 Vgl. Isensee (Fn. 7), S. 496: „Koordinierungsaufgabe des Rechtsstaats“. 114 Honsell/Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 7. Aufl. 2017, S. 151 ff.; tendenziell auch Michl (Fn. 9), S. 917. Ferner allgemein für die objektive Grundrechtsdimension Böckenförde (Fn. 69), S. 29; Isensee (Fn. 7), S. 511 („Selbstermächtigung des Bundesverfassungsgerichts“). Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
rechtsprechung gehen.115 Gerade das Zivilrecht ist freilich von einem verfassungsdogmatischen Overkill bislang verschont geblieben. Die höchst punktuellen Einflüsse, die sich die Grundrechte seit der – heute ungeachtet der historischen Kontextabhängigkeit116 weitgehend unverändert kanonisierten117 – Lüth-Entscheidung118 in die wertungsoffenen Generalklauseln des Zivilrechts gebrochen haben, waren offensichtlich ungeeignet, den Gesetzgeber institutionell aus dem Privatrecht zu verdrängen. Das Antidiskriminierungsrecht ist im Privatrecht vornehmlich Produkt europäischer und deutscher Gesetzgebung, nicht einer proaktiven Rechtsprechung. 3. Privatautonomie als Gegenargument? 29
Einwände gegen eine Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht sind bisweilen unter Berufung auf die „Privatautonomie“ formuliert worden,119 wobei teilweise auch sehr schrille Töne angeschlagen wurden.120 Als Pauschaleinwand überzeugt dies ebenfalls nicht.121 Obgleich unstreitig die Vertragsfreiheit grundrechtlich als Bestandteil der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) geschützt ist,122 lässt sich – wie für andere Freiheiten auch – aus dem bloßen Grundrechtsschutz (sprich: der Eröffnung des Schutzbereichs) keine endgültige Entscheidung über die Reichweite des Schutzes und das effektive Schutzniveau ableiten. Ein abstrakter Rekurs auf die Vertragsfreiheit ist zum einen zu unterkomplex, die vielschichtige Adressatenfrage zu entscheiden, und bleibt zum anderen hinter der differenzierten Schrankendogmatik des Grundgesetzes zurück, die Grundrechte nie als „Trümpfe“123 über andere Interessen, sondern vornehmlich als abwägungsoffene Instrumente der Argumentationslastverteilung konzipiert hat.
115 Hierzu etwa Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das ent-
grenzte Gericht, 2011, S. 159 ff.
116 Dazu Collings, Democracy’s Guardians, 2015, S. 54 ff.; Henne/Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus
(rechts-)historischer Sicht, 2005.
117 Vgl. auch Schwabe (Fn. 73), S. 469. 118 BVerfGE 7, 198 (205 ff.) – Lüth (1958). 119 Badura (Fn. 16), S. 349 f.; Braun, Übrigens – Deutschland wird wieder totalitär, JuS 2002, S. 424; Fahr,
Deutschland wird wieder totalitär, JuS 2002, S. 727; Picker, Antidiskriminierungsgesetz, JZ 2002, S. 880; ders., Antidiskriminierung als Zivilrechtsprogramm?, JZ 2003, S. 540; Repgen, Antidiskriminierung, in: Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, S. 11 (69 ff.); Säcker, „Vernunft statt Freiheit!“, ZRP 2002, S. 286. 120 Etwa Fahr (Fn. 119), S. 727, der hier Vergleiche zum totalitären System der DDR zieht, im Gleichstellungsrecht „massive staatliche Umerziehungsversuche“ sieht und meint, es werde „staatlichem Totalitarismus“ der Boden bereitet. In einem albernen, pseudo-aufklärerischen Diskurs verpackend Braun (Fn. 119), S. 424 f., der schon die seit Ende der 1950er Jahre fest etablierte Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf die Gesamtrechtsordnung als „Sündenfall“ diskreditiert (S. 425). Ferner Säcker (Fn. 119): „Tugendrepublik der neuen Jakobiner“. 121 Wie hier z. B. Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 417. 122 Hierzu etwa Höfling, Vertragsfreiheit, 1991; Kirchhof (Fn. 16), Art. 3 Abs. 1 Rn. 144. 123 Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. XI. Klaus Ferdinand Gärditz
A. Allgemeine Adressatenfragen des Diskriminierungsschutzes
191
a) Keine vorrechtliche Privatautonomie
Indem einige Teile der Zivilrechtswissenschaft – in romantischer Verklärung frühliberaler 30 Ideale,124 die schon für sich ahistorisch sind125 – die Vertragsfreiheit zur vorpositiven Matrix der Verfassungsordnung hypostasieren,126 wird letztlich unterschwellig mit – sozialphilosophisch inspirierten – Naturrechtsäquivalenten127 argumentiert, was der Vollpositivität einer modernen Verfassungsordnung128 zuwider läuft und damit die positivistischen Funktionsbedingungen des Rechtsstaats wie der Demokratie untergräbt.129 Schon die geläufige – im deutschen rechtswissenschaftlichen Denken zu einer starren Säulenarchitektur petrifizierte130 – Trennung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht ist kein ontologisches Schisma in der Rechtsstruktur, sondern kontingentes Produkt politischer Setzung.131 Das Zivilrecht ist – ungeachtet seiner vorkonstitutionellen Traditionslinien – keine extrakonstitutionelle Sphäre freischwebender bürgerlicher Autonomie-Romantik, sondern Gestaltungsobjekt demokratischer – grundrechtsgebundener – Gesetzgebung in einer Verfassung, die zwar Privatautonomie grundrechtlich schützt, ihr aber keinen herausgehobenen Rang innerhalb grundrechtlicher Verbürgungen einräumt. b) Ambivalenzen im Haus der Freiheit
„Die“ Freiheit als Wert lässt sich zudem nicht von ihren sozialen Kontexten abstrahieren. 31 Es wäre verkürzend, wenn man die Zuweisung von autonomen Handlungsräumen von den dahinter stehenden – stets auch kontingenten – Zuweisungsentscheidungen entkoppelt, die Handlungsfreiheit erst normativ relevant definieren und anerkennen.132 Die Freiheit der einen ist stets Beschränkung für die anderen,133 was überhaupt erst eine auf Gegenseitigkeit gründende Rechtsordnung als gesellschaftliches Konstrukt ausmacht. Auch die Privatautonomie ist keine vorrechtliche Sphäre der Freiheit, sondern ein Produkt des Rechts, damit aber von vornherein rechtlich konditioniert.134 Verträge sind nicht aufgrund eines „natürlichen“ Konsenses verbindlich, sondern weil die Rechtsordnung verbindliche 124 Vgl. auch Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, in: FS Molitor, 1962, S. 17 (25). 125 Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, 2001; im Anschluss Britz, Diskriminierungsschutz und Privatauto-
nomie, VVDStRL 64 (2005), S. 355 (366).
126 Allgemeine Kritik der Renaissance kontraktualistischer Argumentationsmuster Hofmann, Die klassi-
sche Lehre vom Herrschaftsvertrag und der „Neo-Kontraktualismus“, in: Morlok/Engel (Hrsg.), Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, S. 257 ff. 127 Zu den geistesgeschichtlichen Hintergründen Arnold, Vertrag und Verteilung, 2014, S. 103 ff. Kritisch schon Leisner (Fn. 15), S. 323 ff. 128 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 292. 129 Im Ergebnis wie hier Isensee (Fn. 36), S. 257; Mangold (Fn. 40), S. 199 ff. 130 Mit Recht kritisch Jestaedt, Die Dreiteilung der juridischen Welt, in: FS Stürmer, 2013, S. 917 (933 ff.). Skeptisch im vorliegenden Kontext auch Mangold (Fn. 40), S. 203 ff. 131 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 80 ff. 132 Arnold (Fn. 127), S. 109 ff.; Grünberger (Fn. 14), S. 810 ff.; ders. (Fn. 6), S. 29. 133 Eichenhofer (Fn. 83), S. 1084; Poscher (Fn. 16), S. 353; ähnlich Pietzcker (Fn. 72), S. 354 ff. 134 Baer, „Ende der Privatautonomie“ oder grundrechtlich fundierte Rechtsetzung?, ZRP 2002, S. 290 (291); Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 417, ähnlich Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 104 ff.; entsprechend für den Wettbewerb Lepsius, Ziele der RegulieKlaus Ferdinand Gärditz
192
§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
Rechtsfolgen an private Vereinbarungen knüpft, die rechtlich normierten Anforderungen (z. B. § 104 bis § 185 BGB) genügen. Auch vor der Vergesetzlichung des Zivilrechts gründete die Verbindlichkeit von Verträgen nicht auf einem „natürlichen“ Konsens, sondern auf der ungeschriebenen Anerkennung von Rechtserzeugungsmacht durch eine institutionell anders ausdifferenzierte – stärker dezentrale – Rechtsordnung. Die Rechtsordnung ermächtigt Private auf unterschiedliche Weise, Recht zu setzen,135 indem bestimmten Willensakten eine relationale Verbindlichkeit zugeschrieben wird.136 Beispielsweise das Eigentum ist kein „natürliches“ Herrschaftsrecht über Sachen, sondern eine gesetzlich konstitutiv eingeräumte Rechtsmacht, die erst in den Bindungen des Rechts entsteht, wie dies Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG mit besonderer Klarheit zum Ausdruck bringt. Wenn das Antidiskriminierungsrecht in diesem Rahmen z. B. bestimmte missbilligte Folgen struktureller Asymmetrien zwischen den Vertragspartnern abzumildern versucht, modelliert es die rechtlichen Bedingungen der erst durch und im Recht entstehenden Privatautonomie, was im Übrigen auch in anderen – freilich in der Zivilrechtswissenschaft ebenfalls immer wieder kritisierten – Regelungsfeldern (z. B. im Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, im Verbraucherschutz-, Wohnraummiet- oder Arbeitsrecht) geschieht.137 Schützende Eingriffe der Vertragsfreiheit sind daher immer ambivalent. So nimmt es nicht wunder, dass Diskriminierungsschutz von den einen als Gefährdung der Vertragsfreiheit, von anderen gegenläufig gerade als deren autonomiesichernde Bedingung bewertet wird138. Vor allem materialisieren Diskriminierungsverbote die Vertragsfreiheit;139 Materialisierungen von Freiheit kennen aber stets Gewinner und Verlierer.
rung, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2009, § 19 Rn. 35; mit grundrechtlichen Konsequenzen ders., Grundrechtsschutz gegen Regulierungsgesetze, WiVerw 2011, S. 206. 135 Zum Ermächtigungsgedanken als Grundlage verbindlicher privater Rechtsetzung durch Verträge schon Weber (Fn. 71), S. 398; ferner Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 70 ff. Frühzeitig Enneccerus, Rechtsgeschäft, Bedingung und Anfangstermin, Bd. 2, 1889, S. 154: das ermächtigende Gesetz sei die Ursache, dass der Wille rechtlich relevant werde. Ablehnend Canaris (Fn. 7), S. 218 f., der behauptet, das Recht erkenne lediglich „eine allem positiven Recht vorausliegende Gestaltungsmöglichkeit“. Das erscheint schon historisch zumindest ungesichert, weil der Vertrag als Praxis verbindlicher Vereinbarung ohne eine zumindest primitive Rechtsordnung kaum denkbar ist, entspricht aber jedenfalls nicht dem Zivilrecht unter einer ausdifferenzierten modernen Rechtsordnung, deren Recht auf Vollpositivität gründet. 136 Isensee (Fn. 36), S. 257; Roth, Die Grundrechte als Maßstab einer Vertragsinhaltskontrolle, in: Wolter/ Riedel/Taupitz (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 229 (233 ff.). 137 Vgl. Gerdes, Anmerkung, InfAuslR 2005, S. 165. 138 Vgl. zur Debatte Coester, Diskriminierungsschutz im Privatrechtssystem, in: FS Canaris, Bd. 1, 2007, S. 115 (118 ff.); Eichenhofer (Fn. 83), S. 1084; Lauber, Paritätische Vertragsfreiheit durch reflexiven Diskriminierungsschutz, 2010, S. 151 ff.; Mangold (Fn. 40), S. 202 f.; Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018, S. 31 f.; Riesenhuber/Franck, Verbot der Geschlechtsdiskriminierung im Europäischen Vertragsrecht, JZ 2004, S. 529 (536 f.); Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 2000, S. 346 ff.; Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, Einl. AGG Rn. 38. 139 Zoppel, Europäische Diskriminierungsverbote und Privatrecht, 2015, S. 48. Klaus Ferdinand Gärditz
A. Allgemeine Adressatenfragen des Diskriminierungsschutzes
193
c) Privatautonomie im Rahmen gesetzlicher Gemeinwohlbindungen
Das Grundgesetz ist keine frühliberale Verfassung, die sich darauf beschränkt, eine private 32 Freiheitssphäre des Kontrakts weitgehend sozial unkonditioniert abzuschirmen. Die Verfassung hat von Anfang an mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), der Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) und den gemeinschaftsbezogenen Grundrechtsschranken ein sozial moderiertes Gemeinwohlkonzept zugrunde gelegt.140 Individuelle Freiheit wird zwar gewiss nicht kollektiviert, aber in ihren sozialen Voraussetzungen und Bedingtheiten konstruiert, die eine moderne Rechtsordnung durch demokratische Gestaltung von Schranken abbildet. Die Vertragsfreiheit bildet hiervon keine strukturelle Ausnahme in konstitutioneller Insellage. Privatautonomie ist im geltenden Verfassungsrecht – außerhalb besonderer Regelungsbereiche – schlicht durch die Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)141 oder im beruflichen Kontext gegebenenfalls durch Art. 12 Abs. 1 GG142 und damit im Vergleich mit dem niedrigsten Schutzniveau geschützt, das das Tableau der Grundrechte aufzubieten hat.143 Einen pauschalen Vorrang der Vertragsfreiheit gibt es daher nicht,144 zumal vertragliches Handeln Privater von vornherein nicht gegenüber sonstigen (nicht-kontraktualistischen) Formen privater Freiheitsentfaltung privilegiert ist, die mitunter sogar durch vorbehaltlose Grundrechte qualifiziert geschützt sind. Diskriminierungsverbote unterscheiden sich insoweit nicht strukturell von anderen Beschränkungen der Vertragsfreiheit (wie §§ 134, 138 BGB oder sonstiges ius cogens).145 Eingriffe sind gewiss rechtfertigungsbedürftig, hier aber grundsätzlich auch rechtfer- 33 tigungsfähig.146 Beschränkungen der Privatautonomie sind im Rahmen der Verhältnismäßigkeit aus sachlichen Gründen des Gemeinwohls möglich, zu denen fraglos auch der Schutz vor Diskriminierungen zählt. Schutz vor Diskriminierungen ist daher verfassungsrechtlich nicht anders zu beurteilen als die Integration anderer Gemeinwohlziele, gegen die sich auch das Privatrecht in einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat von vorn140 Etwa BVerfGE 4, 7 (15 f.) – Investitionshilfe (1954); BVerfGE 35, 202 (220 f.) – Lebach (1973); Dürig (Fn. 16), S. 167; Nipperdey (Fn. 124), S. 19 f.; Volkmann, Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, 1999, S. 217 ff., 300 ff. 141 BVerfGE 89, 214 (231) – Ehegattenbürgschaft (1993); BVerfGE 126, 286 (300) – Mangold/Honeywell (2010); Barczak (Fn. 25), S. 97; Horcher (Fn. 104), S. 94; Lobinger, Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote, in: Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, S. 99 (110); Poscher (Fn. 16), S. 356. 142 BVerfGE 126, 286 (300) – Mangold/Honeywell (2010). 143 Dies wird gerade im Zivilrecht oft verkannt. Etwa Lobinger (Fn. 141), S. 111 f. 144 Wrase (Fn. 58), S. 238, 241. Vgl. aber BAGE 13, 103 (105 ff.): Der Grundsatz der Vertragsfreiheit habe Vorrang vor dem arbeitsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung. Insbesondere auf dem Gebiet der Lohngestaltung könne sich daher ein Arbeitnehmer mit einer ihn benachteiligenden ungleichen Behandlung einverstanden erklären. Wie hier auch BVerfGE 126, 286 (300) – Mangold/Honeywell (2010): „Die Privatrechtsordnung ist gesetzlich gestaltet. Gesetze regeln die Ausübung der Vertragsfreiheit nicht nur zu ihrem institutionellen Schutz, sondern auch um soziale Belange strukturell schwächerer Marktteilnehmer zu wahren“. 145 Mangold (Fn. 40), S. 202 f. 146 Britz (Fn. 125), S. 367; ferner Eichenhofer (Fn. 83), S. 1086. Skeptisch aber Badura (Fn. 16), S. 355 f.
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
herein nicht immunisieren kann. Das BVerfG hat dies namentlich in seiner Handelsvertreter-Entscheidung unmissverständlich klargestellt: „Privatautonomie besteht nur im Rahmen der geltenden Gesetze, und diese sind ihrerseits an die Grundrechte gebunden. Das Grundgesetz will keine wertneutrale Ordnung sein, sondern hat in seinem Grundrechtsabschnitt objektive Grundentscheidungen getroffen, die für alle Bereiche des Rechts, also auch für das Zivilrecht, gelten. Keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu den Prinzipien stehen, die in den Grundrechten zum Ausdruck kommen. Das gilt vor allem für diejenigen Vorschriften des Privatrechts, die zwingendes Recht enthalten und damit der Privatautonomie Schranken setzen“.147 d) Spezialgrundgesetzliche Autonomie 34
Privatautonomie erlangt vor allem dort Bedeutung, wo Antidiskriminierungsrecht in private Handlungsfreiheit eingreift, die spezialgrundrechtlich jenseits der Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG qualifiziert geschützt ist.148 Beispiele wären – die Autonomie der Ehepartner hinsichtlich der Gestaltung der innerehelichen Beziehungen (Art. 6 Abs. 1 GG);149 – die Freiheit zur Kindererziehung (Art. 6 Abs. 2 GG), die auch das Recht garantiert, wertethische Inhalte zu vermitteln, die Diskriminierungsmuster befördern; – die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 bis Abs. 2 GG), die im Hinblick auf die religionsinhärente Differenzierung zwischen Gläubigen und Ungläubigen oder einem – möglicherweise von den Wertungen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG abweichenden – Gut und Böse (z. B. in einer Sexualethik) legitimierweise auch diskriminierende Praktiken einschließen wird, mag man dann als Grundrechtseingriff zu bewertende Einschränkungen der – auch religiös motiviertes Handeln schützenden150 – Religionsfreiheit aus Gründen des Diskriminierungsschutzes auch im Einzelfall unter den allgemeinen Voraussetzungen rechtfertigen; – die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG), deren Richtigkeitsansprüche grundsätzlich nicht an rechtsnormativen Kriterien zu messen sind,151 die aber zu Ergebnissen führen können, die andere Private als diskriminierend wahrnehmen. Insoweit geht es jedoch jeweils nicht um eine abstrakte „Privatautonomie“ und oftmals auch nicht um Vertragsfreiheit, sondern um gewöhnliche Grundrechtseingriffe, deren Rechtfertigung nach allgemeinen Regeln zu bestimmen ist.
147 BVerfGE 81, 242 (254) – Handelsvertreter (1990). 148 Vgl. Isensee (Fn. 7), S. 494 f.; allgemein Poscher (Fn. 16), S. 356. 149 Vgl. BVerfGE 66, 84 (94) – Nachehelicher Unterhalt (1984); BVerfGE 87, 234 (258 f.) – Anrechnung
von Arbeitslosenhilfe (1992); BVerfGE 133, 377 (410) – Ehegattensplitting und Lebenspartnerschaft (2013). Siehe aber für den Fall einer strukturellen Asymmetrie, die korrekturbedürftig sein kann, BVerfGE 103, 89 (100 ff.) – Ehevertrag (2001). 150 Etwa BVerfGE 41, 29 (49) – Bekenntnisschule (1975). 151 Gärditz, Die äußeren und inneren Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, WissR 51 (2018), S. 5 (40). Klaus Ferdinand Gärditz
A. Allgemeine Adressatenfragen des Diskriminierungsschutzes
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III. Diskriminierungsschutz als Eingriffsrechtfertigung
Konsequenz der Absage an eine unmittelbare Grundrechtsbindung Privater ist die Ver- 35 lagerung von Konflikten, die Diskriminierungen auslösen, in die Eingriffsrechtfertigung und deren Rationalisierungsmechaniken. Gesetzlicher Diskriminierungsschutz ist vor den Grundrechten derjenigen zu rechtfertigen, deren Freiheitssphäre beschränkt wird.152 Wirksamer Schutz vor Diskriminierungen ist zugleich ein grundsätzlich valides Argument, um Eingriffe in Grundrechte im Rahmen der – insoweit dann auch konkreten Schutzbedarf voraussetzenden153 – Verhältnismäßigkeit zu rechtfertigen.154 Dies gilt insbesondere für die starken Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG, die Eingriffe in die Vertragsfreiheit (z. B. durch das AGG) legitimieren können.155 Die Verhältnismäßigkeit von Antidiskriminierungsrecht kann insbesondere unterstützen, wenn Verbote dem Schutz der indirekt angegriffenen Menschenwürde dienen,156 die freilich sämtlichen Tatbeständen des Art. 3 Abs. 3 GG anhaftet,157 weil diese auf für die Betroffenen angeborene bzw. anderweitig unverfügbare Eigenschaften der Persönlichkeit von kategorialer Bedeutung verweisen. Über den Schutz einzelner Privater vor der konkreten Diskriminierungsmacht anderer Privater hinaus kann das Antidiskriminierungsrecht auf einer abstrakteren Ebene auch darauf zielen, Vertragspraktiken zu verhindern, die nicht gerechtfertigte Stereotype und Vorurteile stabilisieren, die insgesamt diskriminierende Strukturen begünstigen. Antidiskriminierungsrechtliche Regelungen als Eingriffe in Freiheitsrechte lassen sich gegebenenfalls auch dadurch rechtfertigen, dass Nachteile benachteiligter Gruppen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ausgeglichen werden.158 Je weiter ein Eingriffszweck vom kon152 Isensee (Fn. 7), S. 259 ff.; Jestaedt (Fn. 5), S. 332 f., 335, 337 ff.; Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 3 Rn. 81;
Lehner (Fn. 27), S. 328. Anders etwa Schachtschneider, Redebeitrag, VVDStRL 64 (2005), S. 418, der die Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG als inhärente Vernunftgrenze von Freiheitsausübung betrachtet und daher grundrechtsunmittelbar die Vertragsfreiheit beschränken will. Missverständlich aber Baer (Fn. 134), S. 291: „Durch den Gebrauch individueller Freiheit dürfen Rechte anderer nicht unverhältnismäßig beschränkt werden“. Ohne rechtliche Beschränkungen dürfen die Rechte anderer durchaus „beschränkt“ werden; ohne das strafrechtliche Verbot des § 212 StGB wäre nach der allgemeinen rechtsstaatlichen Verteilung von Freiheit zunächst einmal auch der Totschlag legal. Die faktischen Gefährdungen von Rechten anderer bieten aber Rechtfertigung, Freiheit zu beschränken. Das ist nicht das Gleiche, zumal zur wirksamen Beschränkung nicht nur ein vernünftiger Grund gehört, sondern auch ein ordnungsgemäß vom zuständigen Rechtsträger verabschiedetes, hinreichend bestimmtes und verhältnismäßiges Gesetz. 153 Singer (Fn. 8), S. 624. 154 Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 417; Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 2 Rn. 126 und Art. 3 Abs. 3 Rn. 92 f. 155 Lehner, Diskriminierungen im allgemeinen Privatrecht als Grundrechtsproblem, JuS 2013, S. 410 (412). 156 Jestaedt (Fn. 5), S. 347. 157 Vgl. BVerfGE 144, 20 (208) – NPD (2017); Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 407; Pieroth (Fn. 16), S. 693; konkret für die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung Neuner (Fn. 7), S. 1822 f. 158 Vgl. auch BVerfGE 90, 27 (36) – Parabolantenne (1994). Bemerkenswerterweise bejaht das BVerfG hier eine Verletzung der Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) von ausländischen Mietern, denen das Recht abgesprochen wurde, zum Empfang von Heimatsendern eine Parabolantenne anzubringen. Der darin liegende Gleichheitsaspekt wird aber nicht positiv anspruchsbegründend aufgegriffen, sondern erst als Rechtfertigung, insoweit mittelbar ausländische Mieterinnen und Mieter zu bevorzugen: „Eine verfassungswidrige Bevorzugung von Ausländern liegt darin nicht. Zwar verbietet Art. 3 Abs. 3 GG eine UnKlaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
kreten Schutz individueller Rechte abstrahiert wird, desto höher sind im Rahmen der Verhältnismäßigkeit die Rechtfertigungsanforderungen. Die im Zivilrecht etablierten – insoweit politisch kontingenten – Gründe für Eingriffe in die Vertragsfreiheit (z. B. gestörte Parität, Marktversagen, Verbraucherschutz) bilden für den Gesetzgeber keine verbindliche Matrix, in die sich das Antidiskriminierungsrecht einzufügen hätte.159 Die Verarbeitung von Konflikten im Rahmen der Rechtfertigung von Grundrechtsein36 griffen leitet das Antidiskriminierungsrecht in rationalisierende sowie mäßigende Bahnen. Grundrechtseingriffe in Freiheitsrechte zwingen zur Rechtfertigung, zur Benennung rationaler Gründe und verhältnismäßiger Reaktionen. Aktiviert werden die besonderen freiheitssichernden Leistungen des demokratischen Rechtsstaats, im Rahmen einer funktional gegliederten öffentlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 GG) arbeitsteilig Gemeinwohlverantwortung zu verarbeiten und in verbindliche Regeln zu übersetzen. Im Mittelpunkt stehen natürlich die Rationalisierungsleistungen der Verhältnismäßigkeitskontrolle,160 die – ins Institutionelle übersetzt – auch als Matrix diskursiver Konflikt-Abschichtung in juridischen Entscheidungsverfahren dient.161 Wer Diskriminierungen durch Freiheitsbeschränkungen begegnet, kann Benachtei37 ligungen oder Bevorzugungen nicht einfach behaupten, sondern muss diese plausibilisieren und gegebenenfalls nachprüfbar machen. Die Verhältnismäßigkeit ist insoweit auch der geeignete Ort, soziale Empirie zu verarbeiten bzw. streitig zu stellen.162 Die Angemessenheitskontrolle dient der Mäßigung und als Barriere gegen autoritäre Einseitigkeit, die immer dort droht, wo jemand glaubt, jenseits der eigenen Rationalität keine anderen Überzeugungen gelten lassen zu müssen. In einem säkularen demokratischen Rechtsstaat genießt auch der Irrtum Freiheit. Schließlich ermöglicht die Eingriffsrechtfertigung Anschluss an den Vorbehalt des Gesetzes163, das Bestimmtheitsgebot164 oder die gleichbehandlung wegen bestimmter Merkmale. Zu diesen zählt nicht die Staatsangehörigkeit, wohl aber die Heimat. Die Berücksichtigung der gesteigerten Informationsinteressen ausländischer Mieter bevorzugt diese aber nicht wegen ihrer Heimat und stellt umgekehrt keine Benachteiligung der deutschen Mieter wegen ihrer Heimat dar“. 159 Unklar Jestaedt (Fn. 5), S. 339 ff., der hier untersucht, inwiefern sich die dortigen Rechtfertigungsmuster auf das Antidiskriminierungsrecht übertragen lassen. Dies ist aus grundrechtlicher Sicht jedoch weder hinreichende noch notwendige Bedingung einer Eingriffsrechtfertigung. Mich hat dieses Vorgehen eher verwundert, wendet sich gerade dieser Autor doch ansonsten (mit Recht) gegen die Projektion apokrypher Systemideale der Wissenschaft in das positive Recht. Etwa Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, 2006, S. 81 f. 160 Gärditz, Schutzbereich und Grundrechtseingriff, in: Grabenwarter (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz, Bd. 2, 2014, § 7 Rn. 28 f.; Kahl (Fn. 26), S. 189; ders., Grundrechte, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 24 Rn. 24. 161 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 520 f. 162 Vgl. zur Faktenorientierung Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 128; Reimer, Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht, ein heterogenes Konzept, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 60 (67); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 280. 163 Zur freiheitsschützenden Funktion Burkiczak, Der Vorbehalt des Gesetzes als Instrument des Grundrechtsschutzes, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 129 ff. 164 Schon Hesse (Fn. 16), Rn. 354. Klaus Ferdinand Gärditz
B. Allgemeiner Gleichheitssatz
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föderale Gliederung der Regelungsebenen. Wo der Staat hingegen Privaten formale Autonomie (insbesondere ihrer Vertragsgestaltung) überlassen will, muss er keine bestimmten Regelungen treffen.165 Dass eine Nichtregelung (ein legislatives Unterlassen) dann in der Regel Gewinner und Verlierer kennt, ändert hieran nichts. Grundrechtliche Freiheitsausübung legitimiert sich, anders als die Ausübung von Hoheitsgewalt, selbst und bedarf keiner konkreten gesetzlichen Programmierung, die über die allgemeine Anerkennung von Rechtsfolgen hinausgeht.
B. Allgemeiner Gleichheitssatz Nach Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Zu beachten ist dies von 38 den nach Art. 1 Abs. 3 GG grundrechtsgebundenen Gliederungen öffentlicher Gewalt. I. Unmittelbare Bindung staatlicher Organe
Zunächst ist nach heutigem Verständnis – ungeachtet des missverständlichen Wortlauts 39 („vor dem Gesetz“) – auch der Gesetzgeber selbst an Art. 3 Abs. 1 GG gebunden;166 dies schließt den „Zivilgesetzgeber“ ein.167 Aus diesem Grund haben zugleich die Rechtsanwender Gesetze mit privatrechtlichem Gehalt im Lichte des Art. 3 Abs. 1 GG verfassungskonform auszulegen.168 In der Entstehungsgeschichte war die Bindung des Gesetzgebers umstritten und wurde letztlich – wie vieles, was sich später als konfliktintensiv erwies – in der Schwebe gelassen. Jedoch bemerkte man bereits im Parlamentarischen Rat, dass ein Gleichheitssatz, der den Gesetzgeber bindet, auch Auswirkungen auf das Zivilrecht haben müsse, sofern das Bürgerliche Recht tradierte Ungleichbehandlungen enthalte, konkret seinerzeit in Bezug auf die – in den bürgerlich-rechtlichen Konsequenzen seinerzeit keineswegs unumstrittene – Gleichbehandlung von Männern und Frauen.169 Fragen der Grundrechtsgeltung unter Privaten spielten in der Debatte – anders als der letztlich verworfene Vorstoß, auch die Wirtschafts- und Sozialordnung grundrechtlich zu regeln170 – hingegen keine Rolle.
165 Poscher (Fn. 16), S. 347. 166 BVerfGE 99, 341 (352) – Testiermöglichkeit Schreib- und Sprechunfähiger (1999); BVerfGE 116, 243
(259 f.) – Ausländische Transsexuelle (2006); Kempny/Reimer, Die Gleichheitssätze, 2012, S. 31 ff.
167 Heun (Fn. 19), Art. 3 Rn. 70; Krieger (Fn. 56), Art. 3 Rn. 13; Sachs, Auswirkungen des allgemeinen
Gleichheitssatzes auf die Teilrechtsordnungen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 183 Rn. 168. Ohne Diskussion schlicht vorausgesetzt BVerfGE 82, 126 (146 ff.) – Kündigungsfristen (1990). 168 BVerfGE 70, 115 (125) – AGB-Kontrolle (1985). 169 Vgl. 26. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen v. 30.11.1948, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 5/II, 1993, S. 712 (742 f.). 170 8. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen v. 7.10.1948, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 5/I, 1993, S. 172 (215 ff.). Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
II. Bindung Privater 40 Private werden durch Art. 3 Abs. 1 GG nicht unmittelbar gebunden.171 Ausnahmen wur-
den auch hier wieder im Arbeitsrecht entwickelt, das seit jeher gelegentlich gegen den verfassungsrechtsdogmatischen Strom geschwommen ist und Parallelwelten ausdifferenziert hat. Insoweit hat das BAG ein allgemeines Gleichbehandlungsgebot zwar mit der Wertentscheidung des Art. 3 Abs. 1 GG begründet, aber letztlich als einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Arbeitsrechts verselbstständigt,172 der richtigerweise dann normenhierarchisch dem einfachen Recht zuzuordnen ist.173 Historisch-genetisch betrachtet erscheint der Sonderweg im Arbeitsrecht im Übrigen nicht völlig unplausibel. Im Parlamentarischen Rat wurde nämlich breit debattiert, ob die Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen, nachdem man eine Sonderregelung nach dem Vorbild der Landesverfassungen von Bayern und Hessen aufgegeben hatte, vom Gleichheitssatz mitumfasst sei. Eine solche Bindung wurde – ohne filigrane Diskussionen über Drittwirkungsfragen – schlicht hingenommen.174 Auch über die künftige Unzulässigkeit von Tarifverträgen, die für gleiche Arbeit unterschiedlichen Lohn für Männer und Frauen vorsahen, bestand im Grundsatz Einigkeit, es wurde eher über die geeignete Regelungstechnik und Regelungsebene gerungen.175 Für die Auslegung des Art. 3 Abs. 1 GG lassen sich hieraus freilich kaum ergiebige Schlüsse ziehen, weil die Positionen letztlich zu inkohärent und unausgegoren blieben, sich oftmals in Konfrontation mit Regelungsvorschlägen auskristallisierten, die sich letztlich nicht durchzusetzen vermochten, und insgesamt eher erhebliche Unsicherheit über die künftige Bedeutung der Gleichheitsgebote denn einen klaren Regelungswillen offenbarten. 1. Keine Drittwirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes
41 Ob Art. 3 Abs. 1 GG hingegen eine mittelbare Drittwirkung entfaltet, ist umstritten geblie-
ben.176 Das BVerfG schien eine solche zunächst grundsätzlich abzulehnen. In seiner Zweitregister-Entscheidung prüfte es namentlich die Gleichheitskonformität gesetzlicher Regelungen, die das Privatrechtsverhältnis ausgestalten, nicht aber deren Anwendung unter Privaten am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG: „Diese weitere Ungleichbehandlung liegt aber nicht in der gesetzlichen Regelung selbst begründet, sondern ist Folge der den Arbeits171 BVerfGE 148, 267 (283) – Stadionverbot (2018); Heun (Fn. 19), Art. 3 Rn. 70. Abweichend etwa Nip-
perdey (Fn. 124), S. 31.
172 BAGE 71, 29 (34 f.). 173 Zutreffend Nußberger (Fn. 76), Art. 3 Rn. 191; Wolff, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG, 12. Aufl. 2018,
Art. 3 Rn. 10.
174 27. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen v. 30.11.1948, in: Deutscher Bundestag/Bundes-
archiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 5/II, 1993, S. 771 (776 f.).
175 Vgl. 6. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen v. 5.10.1948, in: Deutscher Bundestag/Bundes-
archiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 5/I, 1993, S. 117 (144 f.). Bereits seinerzeit bemerkte der Abgeordnete Bergsträsser (SPD) freilich: „Ein Tarifvertrag ist kein Gesetz“ (S. 145). 176 Bejahend BAGE 128, 219; BAGE 147, 33; Heun (Fn. 19), Art. 3 Rn. 67; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 17 (die in Bezug genommenen Entscheidungen des BVerfG tragen nicht, weil diese jeweils öffentlich-rechtliche Streitigkeiten betrafen); Kirchhof (Fn. 16), Art. 3 Abs. 1 Rn. 331; Krieger (Fn. 56), Art. 3 Rn. 13. Ablehnend Boysen (Fn. 21), Art. 3 Rn. 50. Klaus Ferdinand Gärditz
B. Allgemeiner Gleichheitssatz
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vertragsparteien freistehenden rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten. In die verfassungsrechtliche Überprüfung der angegriffenen Regelung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG ist diese faktische Ungleichbehandlung daher nicht einzubeziehen“.177 Die zivilgerichtliche Rechtsprechung bleibt hierzu jedenfalls undeutlich.178 Eine Schutzpflicht gegen allgemeine Ungleichbehandlungen durch Private wird aus dem allgemeinen Gleichheitssatz jedenfalls nicht abgeleitet.179 Der allgemeine Gleichheitssatz bietet grundsätzlich keine selbstständigen Relationie- 42 rungskoordinaten, die eine allgemeine verfassungsunmittelbare Wertentscheidung für eine Gleichheit unter Privaten enthalten.180 Der unmittelbar adressierte Gesetzgeber hat Privatrechtsverhältnisse nach sachlichen Differenzierungskriterien auszugestalten und Ungleichbehandlungen gegebenenfalls am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG zu rechtfertigen. Behörden und Gerichte haben dann schlichte Rechtsanwendungsgleichheit zu gewährleisten.181 Zwar kann Art. 3 Abs. 1 GG insoweit (sekundäre) Bedeutung erlangen, als eine Verpflichtung besteht, eine materielle Chancengleichheit in der Rechtsdurchsetzung (namentlich vor Gericht) sicherzustellen.182 Ansprüche auf Rechtsschutzgleichheit richten sich dann aber unmittelbar gegen den nach Art. 1 Abs. 3 GG grundrechtsgebundenen Staat, dessen Organe für die Durchsetzung des Rechts zwischen Privaten sorgen, sind also kein Drittwirkungsproblem. Anders als im Rahmen von Art. 3 Abs. 2 bis Abs. 3 GG steht 177 BVerfGE 92, 26 (51) – Zweitregister (1995). 178 Der BGH hatte in einem Fall vertreten, dass das allgemeine Diskriminierungsverbot (bezeichnender-
weise denkbar unpräzise mit „Art. 3 GG“ nachgewiesen) bei einer Ungleichbehandlung „gewichtige Sachgründe“ fordere, so BGH, Urt. v. 9.3.2012, V ZR 115/11, Rn. 14. Im maßgeblichen Fall hatte der Betroffene allerdings einen bindenden vertraglichen Anspruch (konkret auf Hotelnutzung), der durch ein ausgesprochenes Hausverbot vereitelt worden wäre. Der BGH bringt also das Diskriminierungsverbot nicht gegen die Vertragsfreiheit in Stellung, sondern bemüht dieses – im Gegenteil –, um von der diskriminierenden Partei Vertragstreue einzufordern. 179 Dietlein (Fn. 87), S. 84; Ruffert (Fn. 134), S. 175; Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 1 Rn. 177. Abweichend Hellgardt (Fn. 111), S. 906; Heun (Fn. 19), Art. 3 Rn. 67; Ruffert, Zutreffendes aus Karlsruhe zu Stadionverboten, BDVR-Rundschreiben 2018, S. 18 (19); tendenziell auch Smets, Die Stadionverbotsentscheidung des BVerfG und die Umwälzung der Grundrechtssicherung auf Private, NVwZ 2019, S. 34 (36). 180 Dietlein (Fn. 87), S. 84; Wollenschläger (Fn. 179), Art. 3 Rn. 177 („Maßstabsarmut“); ähnlich Heun (Fn. 19), Art. 3 Rn. 69, 71: „Wertungsoffenheit“ des allgemeinen Gleichheitssatzes. 181 Vgl. Kirchhof (Fn. 16), Art. 3 Abs. 1 Rn. 113. 182 Zur (schwankenden) dogmatischen Begründung BVerfGE 9, 124 (130 f.) – Rechtsschutz Mittelloser (1959); BVerfGE 81, 347 (357 f.) – Prozesskostenhilfe (1990); BVerfGK 2, 279 (281) – Versagung Prozesskostenhilfe (2004); BVerfG, Beschl. v. 19. 2. 2008, 1 BvR 1807/07 – Prozesskostenhilfe; BVerfG, Beschl. v. 14.10.2008, 1 BvR 2310/06 – Rechtsschutzgleichheit; BVerfG, Beschl. v. 2.7.2012, 2 BvR 2377/10 – Prozesskostenhilfe für Vergleichsabschluss; BVerfG, Beschl. v. 28.1.2013, 1 BvR 274/12 – Rechte mittelloser Patienten; BVerfG, Beschl. v. 18.8.2013, 2 BvR 1380/08 – Prozesskostenhilfe für Restitutionsklage; BVerfG, Beschl. v. 15.11.2017, 2 BvR 902/17, Rn. 10 – Prozesskostenhilfe im Asylverfahren; Behn, Die verfassungsrechtliche Rechtsschutzgleichheit, SozVers 1991, S. 309 ff.; Gaier, Der moderne liberale Zivilprozess, NJW 2013, S. 2871 (2872); Möbius, Das Prinzip der Rechtsschutzgleichheit im Recht der Prozesskostenhilfe, 2014, S. 218 ff.; Schweigler, Materiell-rechtliche Implikationen der Rechtsschutzgleichheit und des effektiven sozialen Rechtsschutzes, SGb 2017, S. 314 ff. Namentlich aus der zivilgerichtlichen Rechtsprechung BGH, Beschl. v. 9.9.1997, IX ZB 92/97; BGH, Beschl. v. 17.3.2004, XII ZB 192/02; BGH, Beschl. v. 4.5.2011, XII ZB 69/11; BGH, Beschl. v. 12.12.2012, XII ZB 190/12; BGH, Beschl. v. 27.8.2019, VI ZB 32/18. Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
hinter Art. 3 Abs. 1 GG auch keine über die formale Gleichheit hinausgehende Wertentscheidung für einen materialen Gerechtigkeitsanspruch.183 Auf Rationalität und Sachrichtigkeit innerhalb der Rechtsanwendung sind Zivilgerichte ohnehin nach Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet, ohne dass es auf Drittwirkungsfragen ankäme. Zur Frage, wieviel Freiraum den privaten Parteien belassen wird, ihre rechtlichen Beziehungen im Horizontalverhältnis (willkürlich) zu regeln, enthält Art. 3 Abs. 1 GG hingegen keine Aussagen. Wie dargelegt, sind Private gerade nicht auf Rationalität und Sachlichkeit verpflichtet. Hinter jedem Freiheitsgrundrecht steht vielmehr eine themenbezogene Wertentscheidung, sich innerhalb der Legalität willkürlich nach eigenen Präferenzen verhalten zu dürfen.184 Der allgemeine Gleichheitssatz bleibt ohne gesetzliche Konkretisierung nicht nur zu abstrakt,185 die starke Wertentscheidung der Freiheitsrechte auszuhebeln, sondern er erfüllt auch gar nicht diese Funktion. Seine Kerngewährleistungen – Rationalisierung der Gesetzgebung und Rechtsanwendungsgleichheit – sind funktional gesetzesbezogen186 und damit allein an die in Art. 1 Abs. 3 GG genannten Organe adressiert. Letztlich sind die unspezifischen Fragen des sozialen Ausgleichs faktischer Voraussetzungen wirksamer Freiheitsverwirklichung vorrangig im (objektiv-rechtlichen) Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) aufgehoben, das strukturanaloge Funktionen erfüllt,187 aber es ermöglicht, die von Art. 3 Abs. 1 GG nicht erfasste188 tatsächliche (sozioökonomische) Gleichheit rechtlich zu thematisieren. 2. Sonderkonstellationen gestörter Parität 43 In Anlehnung an die – letztlich ältere Vorarbeiten aus der Wissenschaft aufgreifende189 –
Rechtsprechung des BVerfG zur gestörten Parität190 wird eine Einschränkung der Bindung an zivilrechtliche Verträge befürwortet,191 deren Zustandekommen auf struktureller Ungleichheit beruht.192 Bereits die Blinkfüer-Entscheidung des BVerfG begründete die 183 Tendenziell anders aber Kirchhof (Fn. 16), Art. 3 Abs. 1 Rn. 444 ff. 184 Wie hier Boysen (Fn. 21), Art. 3 Rn. 50; Ruffert (Fn. 134), S. 175. Gerade Marktgeschehen, welches die
Verfassung unbestritten schützt, folgt nicht Mechaniken der Gleichheit, sondern der Differenzierung, zutreffend Kirchhof (Fn. 16), Art. 3 Abs. 1 Rn. 331; vgl. zurückhaltend (sub specie Diskriminierung aufgrund sozio-ökonomischer Herkunft) Mangold (Fn. 40), S. 310 ff. 185 Vgl. Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1998, S. 244 ff.; Maidowski, Umgekehrte Diskriminierung, 1989, S. 111 f. 186 Vgl. allgemein Kirchhof (Fn. 16), Art. 3 Abs. 1 Rn. 181; konkret für eine lediglich „gesetzesmediatisierte Bindung“ Heintz, Reichweite und Wirkkraft der Grundrechte im Privatrechtsverkehr, jM 2018, S. 474 (476). 187 Eingehend Neumann, Sozialstaatsprinzip und Grundrechtsdogmatik, DVBl. 1997, S. 92 ff. 188 Jarass (Fn. 176), Art. 3 Rn. 16. 189 Etwa Nipperdey (Fn. 124), S. 27. 190 BVerfGE 81, 242 (254 f.) – Handelsvertreter (1990); BVerfGE 89, 214 (232 ff.) – Ehegattenbürgschaft (1993); BVerfG, Beschl. v. 6.11.2019, 1 BvR 16/13, Rn. 77 – Vergessenwerden I (2019). Für die ablehnende Gegenansicht statt vieler Isensee (Fn. 7), S. 503 ff. 191 Kritisch aber Jestaedt (Fn. 5), S. 339 ff. 192 Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 415; Eichenhofer (Fn. 83), S. 1085 f.; ähnlich Pieroth (Fn. 16), S. 693. Klaus Ferdinand Gärditz
B. Allgemeiner Gleichheitssatz
201
Grundrechtsbindung im Privatrechtsverhältnis – freilich nicht explizit in einem gleichheitsgrundrechtlichen Kontext – mit dem Missbrauch wirtschaftlicher Druckmittel durch einen übermächtigen Wettbewerber.193 Auch das BVerfG hat in seiner Entscheidung zu privaten Stadionverboten194 eine entsprechende Position eingenommen und auf „die Unausweichlichkeit von Situationen, das Ungleichgewicht zwischen sich gegenüberstehenden Parteien, die gesellschaftliche Bedeutung von bestimmten Leistungen oder die soziale Mächtigkeit einer Seite“ rekurriert.195 Dies ist im Grundsatz überzeugend, bedarf aber bei der Umsetzung im Rahmen der 44 Rechtsanwendung besonderer Sorgfalt in zwei Richtungen: – Erstens sind strukturelle Ungleichheiten der Vertragspartner in einer arbeitsteiligen 45 Rechts- und Gesellschaftsordnung ubiquitär und als solche auch kein Indiz gestörter Vertragsbeziehungen. Kaum jemand verhandelt mit seiner Bank über einen Kredit auf Augenhöhe oder verfügt über reale Möglichkeiten, die Qualität eines angebotenen Produkts wirklich zu durchschauen. Der Preisbildung nach Angebot und Nachfrage ist inhärent, dass eine Marktseite am „längeren Hebel“ sitzt. Insoweit bedarf es einer sorgfältigen (gegebenenfalls empirisch zu untermauernden) Analyse der konkreten Machtstrukturen. Missbrauch kann sehr unterschiedliche Gründe haben, es kann auch um die missbräuchliche Ausnutzung wirtschaftlicher Macht (vgl. Art. 102 AEUV; Art. 19 GWB; §§ 19, 21, 28 TKG; § 30 EnWG; § 19 PostG usf.) gehen,196 die gleichförmig alle Akteure der Marktgegenseite allein aufgrund ihrer unterlegenen Marktmacht zu spüren bekommen (z. B. die Verweigerung des Zugangs zu essentiellen Infrastrukturen oder das Diktat unangemessener Nutzungsbedingungen).197 Eine strukturelle Störung des Vertrages liegt erst dann vor, wenn schwerwiegende – atypische – Ungleichheiten als solche ausgenutzt werden (können), der Vertragsgegenseite Bedingungen zu diktieren, die offensichtlich unangemessen sind und unter fairen Marktbedingungen nicht annahmefähig gewesen wären. – Zweitens müssen aber auch beim Vorliegen einer strukturellen Benachteiligung die 46 Rechtsfolgen mit Vorsicht bestimmt werden. Etwa die Nichtigkeit eines Vertrages kann für die übervorteilte Partei mitunter noch ungünstiger sein als die Aufrechterhaltung der Vertragsbeziehung unter kompensatorischen Bedingungen. Das (verbraucherschützende und daher durchaus als Matrix für den Umgang mit Ungleichheiten geeignete) Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (§§ 305 ff. BGB) kennt daher sehr unterschiedliche Möglichkeiten, der Schutzfunktion in asymmetrischen Rechtsbeziehungen gerecht zu werden, indem z. B. nur einzelne Klauseln für unwirksam erklärt werden. Dass die Rechts193 BVerfGE 25, 256 (268) – Boykottaufruf Blinkfüer (1969). 194 Bezugnehmend auf BVerfGE 89, 214 (232 ff.) – Ehegattenbürgschaft (1993); BVerfGE 128, 226
(249 f.) – Fraport (2011).
195 BVerfGE 148, 267 (280 f.) – Stadionverbot (2018). 196 Verdienstvolle Integration in die Debatte um das Antidiskriminierungsrecht bei Mangold (Fn. 40),
S. 46 ff.
197 Etwa der Zugang zu TK-Netzinfrastrukturen eines marktbeherrschenden Unternehmens durch einen
konkurrierenden Kleinanbieter als typisches Problem des Regulierungsrechts bezieht sich auf als Kapitalgesellschaften verfasste Unternehmen, die um Gewinnmöglichkeiten auf dynamischen Märkten ringen, und steht in keinem Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 3 GG. Klaus Ferdinand Gärditz
202
§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
folgen differenziert im Lichte der verfolgten Schutzziele auszugestalten sind198 und der Diskriminierungsschutz mitunter passgenauere Lösungen erfordert als die Nichtigkeit von Verträgen mit Übervorteilten, ist freilich kein Hinderungsgrund, die dahinterstehenden Paradigmen für das Antidiskriminierungsrecht fruchtbar zu machen.199 47 Inzwischen entnimmt das BVerfG Art. 3 Abs. 1 GG ausnahmsweise in atypischen Sonderkonstellationen200 eine Drittwirkung zwischen Privaten, die freilich – soweit sie greift – über die herkömmliche Intensität grundrechtlicher Bindung in Fällen einer mittelbaren Drittwirkung hinausgeht und sich einer staatsanalogen Verpflichtung annähert201.202 Mittelbare Drittwirkung entfalte – so das Gericht – Art. 3 Abs. 1 GG etwa dann, wenn Einzelne mittels des privatrechtlichen Hausrechts von Veranstaltungen ausgeschlossen werden, die von Privaten aufgrund eigener Entscheidung einem großen Publikum ohne Ansehen der Person geöffnet werden, und wenn der Ausschluss für die Betroffenen in erheblichem Umfang Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verhindert. Die Veranstalter dürften in solchen Fällen ihre Entscheidungsmacht nicht missbräuchlich dazu nutzen, bestimmte Personen ohne sachlichen Grund auszuschließen.203 Die Intensität hänge von den Umständen des jeweiligen Falles ab, insbesondere davon, inwiefern Private den Zugang zu den für das soziale Leben essentiellen Infrastrukturen beherrschen.204
C. Besondere Gleichheitssätze 48 Besondere Gleichheitssätze (Art. 3 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 GG) sind – aus spezifischen his-
torischen Vulnerabilitätserfahrungen205 erwachsene206 – Abwehrrechte gegen Diskrimi198 Hierzu Mörsdorf (Fn. 138), S. 373 ff. (auch mit Blick auf die unionsrechtlichen Mindestanforderun-
gen).
199 So aber Jestaedt (Fn. 5), S. 342. Schon dessen zivilrechtlicher Vergleichsansatz ist nicht stimmig. Dass
es bei der gestörten Parität um die Nichtigkeit geschlossener Verträge gehe, im Antidiskriminierungsrecht hingegen um das Vorfeld des Vertragsschlusses, überzeugt nicht. Schon die Bürgschafts-Rechtsprechung des BVerfG ließe sich auch als Rechtsfolge aus einem Fehlverhalten im Vorfeld des Vertragsschlusses (Übervorteilung des strukturell benachteiligten Vertragspartners) deuten; und auch im Antidiskriminierungsrecht kann es um die Unwirksamkeit diskriminierender Klauseln gehen. 200 Hierzu (kritisch) Michl (Fn. 9), S. 913, 916 f. 201 Zutreffend Barczak (Fn. 25), S. 113; Hellgardt (Fn. 111), S. 901; Michl (Fn. 9), S. 911 f. 202 Vgl. schon den Beschluss über eine einstweilige Anordnung in Sachen „Bierdosen-Flashmob“ BVerfG, Beschl. v. 18.7.2015, 1 BvQ 25/15, Rn. 6 – Versammlung auf Privateigentum. 203 BVerfGE 148, 267 (284) – Stadionverbot (2018). 204 BVerfGE 128, 226 (249 f.) – Fraport (2011): „Je nach Gewährleistungsinhalt und Fallgestaltung kann die mittelbare Grundrechtsbindung Privater einer Grundrechtsbindung des Staates vielmehr nahe oder auch gleich kommen. Für den Schutz der Kommunikation kommt das insbesondere dann in Betracht, wenn private Unternehmen die Bereitstellung schon der Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation selbst übernehmen und damit in Funktionen eintreten, die […] früher dem Staat als Aufgabe der Daseinsvorsorge zugewiesen waren.“ 205 Zum Begriff der Vulnerabilität in diesem Kontext BVerfGE 147, 1 (28) – Geschlechtsidentität und Personenstandsrecht (2017); dazu auch → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 29, im Übrigen 71 ff. 206 Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 387; Wrase (Fn. 58), S. 233. Siehe hierzu bereits die Begründung des sogenannten Bergsträsser-Entwurfs eines Grundrechtskatalogs, abgedruckt in: Deutscher Klaus Ferdinand Gärditz
C. Besondere Gleichheitssätze
203
nierung.207 Die besonderen Gleichheitssätze berücksichtigen daher Gefährdungslagen strukturtypischer Diskriminierungen.208 Oft – freilich nicht zwingend209 – liegt in der Anwendung entsprechender Kriterien eine Hierarchisierung,210 die Betroffene sozialkommunikativ herabsetzt („Mensch zweiter Klasse“), also in erheblicher Weise gleichberechtigte Mitgliedschaft in der Gesellschaft abspricht.211 In Diskriminierungen aufgrund diskreditierter Unterscheidungskriterien verwirklicht sich zugleich eine Persönlichkeitsrechtsverletzung.212 Die Abwehrrechte aus Art. 3 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 GG sind Individualgrundrechte, keine Gruppenrechte.213 Unabhängig von einer Hierarchisierung wird eine Diskriminierung häufig auch mit einer Essentialisierung von Gruppenmerkmalen einhergehen,214 die Betroffene unentrinnbar und unabhängig von ihrem Selbstverständnis und ihren individuellen Interessen zu Mitgliedern einer statisch konstruierten Gruppe macht, sie also letztlich entindividualisiert und auf eine Gruppenmitgliedschaft215 zurückwirft. Die Diskriminierungsverbote richten sich daher gerade gegen Benachteiligungen oder Bevorzugungen Einzelner aufgrund einer (homogenen) Gruppenkonstruktion.216 Auch die Reduktion auf essentialisiert zugeschriebene Gruppenmitgliedschaft verletzt das Persönlichkeitsrecht. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG richtet sich daher gleichermaßen gegen vermeintlich ontologische wie gegen eine (vermeintlich) „strategische“ Essentialisierung von Gruppenmitgliedschaft, um abstrakte Fernziele zu erreichen. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG enthält Individualrechte, die alle Menschen als individuelle Subjekte gegen diskriminierende ZuschreiBundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 5/I, 1993, S. 15 (16): „Nach den Erfahrungen der Hitlerzeit erscheint es notwendig, den Grundsatz der Gleichheit ausdrücklich auszusprechen“. Nochmals dann in der Aussprache in der 3. Sitzung am 21.9.1948, ebd., S. 28 (51). Vgl. im Übrigen von Doemming/Füßlein/Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR n. F. 1 (1951), S. 67. 207 Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 2 Rn. 364; Kirchhof (Fn. 16), Art. 3 Abs. 1 Rn. 292; Nußberger (Fn. 76), Art. 3 Rn. 233; Sachs, Quotenregelungen für Frauen im staatlichen und im gesellschaftlichen Bereich, insbesondere für die Wirtschaft, ZG 2012, S. 52 (63). Historisch elaboriert bei Mangold (Fn. 40), S. 306 ff. 208 BVerfGE 147, 1 (28) – Geschlechtsidentität und Personenstand (2017): schützt „Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung“; Sacksofsky, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Bd. I, 2002, Art. 3 II, III Rn. 290. 209 Etwa die gruppenspezifische Zuordnung gleichwertiger, aber getrennter Rechte („separate but equal“) wäre ein mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG unvereinbares Apartheidregime. 210 Hierzu Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, S. 221 ff.; Sacksofsky (Fn. 208), Art. 3 II, III Rn. 332 ff.; dies. (Fn. 45), S. 312 ff. 211 Z. B. Röhner, Ungleichheit und Verfassung, 2019, S. 167. 212 BAGE 61, 209 ff.; Mörsdorf (Fn. 138), S. 32 ff.; Salzwedel, Gleichheitsgrundsatz und Drittwirkung, in: FS Jahrreiß, 1964, S. 339 (346); tendenziell Ruffert (Fn. 134), S. 177. Das Persönlichkeitsrecht fand insoweit schon bislang unmittelbare Anwendung im Privatrecht. Vgl. zutreffend Hellgardt (Fn. 111), S. 901. 213 Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 411 f. 214 Hiergegen mit Recht Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 441. 215 Zum Problem des Groupism und der darin liegenden Kulturalisierung sowie Essentialisierung zutreffend Baer, A closer look at law, Utrecht Law Review 2010, S. 56 (59 ff.); dies., Rechte und Regulierung, in: Dennerlein/Frietsch/Steffen (Hrsg.), Verschleierter Orient – entschleierter Okzident?, 2012, S. 23 ff. Hiergegen inkohärent und apodiktisch Röhner (Fn. 211), S. 181 f.; dazu auch → Baer, § 5 Rn. 43 ff., 82. 216 Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 412. Klaus Ferdinand Gärditz
204
§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
bungen in jeder Situation und unabhängig von vermeintlichen Fernzielen schützen.217 Dieser spezifische Persönlichkeitsschutz schlägt auch auf die Adressatenstruktur durch. I. Unmittelbare Bindung staatlicher Organe
Die besonderen Gleichheitssätze des Art. 3 Abs. 2 bis Abs. 3 GG binden unmittelbar auch den „Privatrechtsgesetzgeber“,218 was im Übrigen bereits der (erledigte) Regelungsauftrag des Art. 117 Abs. 1 GG indirekt bekräftigt hatte.219 Das BVerfG hat dies beispielsweise für Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ausdrücklich klargestellt und diskriminierende Testierbestimmungen im Erbrecht des BGB, die Menschen mit Behinderung benachteiligten, für verfassungswidrig erachtet.220 Der Gesetzgeber wird allerdings nur unmittelbar adressiert, insoweit er selbst diskriminierende Gesetzgebung unterlassen muss. Der Gesetzgeber kann bei der Ausgestaltung des Privatrechts indes – vorbehaltlich der sich aus einer Schutzpflicht oder aus Völker- und Unionsrecht ergebenden Mindestanforderungen – auf Antidiskriminierung verzichten bzw. neutrale Regelungen schaffen, die keine spezifischen Vorkehrungen gegen Diskriminierung durch Private enthalten.221 Das Untermaßverbot wird nur ganz ausnahmsweise zielgerichtetes Antidiskriminierungsrecht erfordern, wenn allgemeine Regelungen nachweislich strukturell versagt haben. Jenseits dieser Schwelle diskriminiert der Staat nicht, wenn er gesetzlich Privaten die Möglichkeit offenhält, in grundrechtlich geschützter Autonomie zu diskriminieren.222 50 Unbestritten besteht zudem nach Art. 1 Abs. 3 GG eine unmittelbare Bindung von Rechtsprechung und Verwaltung an Art. 3 Abs. 2 bis Abs. 3 GG.223 Diese Bindung kommt – jenseits besonderer Rechtsfolgen – ohne relationierende Vorleistungen des Gesetzgebers aus, weil verfassungsunmittelbar ganz konkrete Unterscheidungsmerkmale benannt werden, die auch ohne weitere Konkretisierungen einen operablen Verbotstatbestand begründen. Ergänzt wird der Katalog durch Art. 33 Abs. 2 GG, der eine spezifische Konkretisierung für die öffentliche Gewalt enthält. 49
217 Das Argumentieren mit Fernzielen, die dann die anstößigen Mittel heiligen sollen, ist eine struktur-
typische Argumentation autoritärer Ordnungen, die behaupten, über Einsichten in Notwendigkeiten zu verfügen. Vgl. insoweit immer noch aktuell BVerfGE 5, 85 (197 f.) – KPD-Verbot (1956). Legitime Antidiskriminierungsmaßnahmen, die die Muster der Diskriminierung natürlich identifizieren und benennen können müssen, richten sich daher auf die Beseitigung dieser Muster. Wer hingegen gegenläufig Anerkennung für Gruppenzugehörigkeiten z. B. durch Historisierung essentialisiert und von den Verletzungen grundrechtsberechtigter Individuen abstrahiert, eignet sich diskreditierte Zuschreibungen an, gegen die nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG vorgegangen werden kann. Wer etwa ethnische Zugehörigkeit oder Geschlechteridentitäten aus gruppenbezogenem Nutzenkalkül essentialisiert, ist Rassist oder Sexist. 218 Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 2 Rn. 364, Abs. 3 Rn. 481; Jarass (Fn. 176), Art. 3 Rn. 104; Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 2 Rn. 126 und Art. 3 Abs. 3 Rn. 80. 219 Badura (Fn. 16), S. 348. Vgl. zur Regelungsstruktur BVerfGE 3, 225 ff. – Vorschusspflicht (1953); Dölle, Die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Familienrecht, JZ 1953, S. 353. 220 BVerfGE 99, 341 (352 f.) – Testiermöglichkeit Schreib- und Sprechunfähiger (1999). 221 Eindrücklich Poscher (Fn. 16), S. 347: „Die vertragliche Generalklausel ist das konkurrenzlos verhältnismäßige Mittel zur Einrichtung und Sicherung von Privatautonomie“. 222 Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 3 Rn. 80; Poscher (Fn. 16), S. 341. 223 Vgl. BT-Drs. 12/8165, S. 29. Klaus Ferdinand Gärditz
C. Besondere Gleichheitssätze
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II. Staatliche Schutzpflichten gegen Diskriminierung
Richtigerweise enthalten die besonderen Gleichheitssätze in Art. 3 Abs. 2 bis Abs. 3 GG 51 zudem Schutzpflichten.224 Versteht man – wie hier – die besonderen Gleichheitssätze als Abwehrrechte gegen Diskriminierungen mit einem qualifizierten Persönlichkeitsbezug, besteht eine strukturelle Ähnlichkeit der Gefährdungslagen gegenüber Rechtsgutsverletzungen durch Private.225 Gleichwohl wird eine vergleichbare Schutzpflichtwirkung für Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG überwiegend abgelehnt226 – zu Unrecht. Das BVerfG hat sich zwar hierzu bislang nicht abschließend festgelegt, aber immerhin konsequent arbeitsrechtliche Bestimmungen (im Fall § 611a BGB a. F., abgelöst durch das AGG), die eine Diskriminierung wegen des Geschlechts verbieten, den „Vorschriften, die grundrechtliche Schutzpflichten erfüllen sollen“, zugerechnet.227 Auch aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG wurde eine besondere Schutzverantwortung des Staates abgeleitet.228 Einen besonderen Schutzauftrag enthält schließlich Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG. Schon vor der Klarstellung229 durch den heutigen Satz 2 hat das BVerfG die Regelung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ materialisiert. Die Bestimmung solle „nicht nur Rechtsnormen beseitigen, die Vor- oder Nachteile an Geschlechtsmerkmale anknüpfen, sondern für die Zukunft Gleichberechtigung der Geschlechter durchsetzen“. Art. 3 Abs. 2 GG ziele auf „Angleichung der Lebensverhältnisse“.230 Die Rechtsprechung folgt hier der strukturtypischen Schutzpflichtensemantik,231 die auch – wie dargelegt – geeignet ist, Mindestanforderungen gegen ein Antidiskriminierungsrechts kohärent zu strukturieren. Auf die unterschiedlichen Prüfungsstrukturen 224 Mager, Redebeitrag VVDStRL 64 (2005), S. 417; Neuner (Fn. 7), S. 1824; Sachs, Redebeitrag
VVDStRL 64 (2005), S. 419 f.; ders. (Fn. 207), S. 63 f.; Temming, Unisex-Tarife auf dem verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Prüfstand, ZESAR 2005, S. 72 (75); Uerpmann-Wittzack, Gleiche Freiheit im Verhältnis zwischen Privaten: Artikel 3 Abs. 3 GG als unterschätzte Verfassungsnorm, ZaöRV 68 (2008), S. 359 (364 ff.); Wrase (Fn. 58), S. 241; tendenziell auch Ruffert, Redebeitrag VVDStRL 64 (2005), S. 422; differenziert und ausführlicher Ruffert (Fn. 134), S. 177 ff., 493 f.; begrenzt auch Art. 3 Abs. 2 GG Jarass (Fn. 176), Art. 3 Rn. 112, 114. Offen gelassen Lehner (Fn. 155), S. 414. 225 Anders Jestaedt (Fn. 5), S. 346. 226 Badura (Fn. 16), S. 351; Britz (Fn. 125), S. 362 f.; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 252; Kischel (Fn. 16), Art. 3 Rn. 91; Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 2 Rn. 125 und Art. 3 Abs. 3 Rn. 83 ff.; Reichold, Sozialgerechtigkeit versus Vertragsgerechtigkeit, JZ 2004, S. 384 (387); Sacksofsky (Fn. 45), S. 201; letztlich auch Jestaedt (Fn. 5), S. 346, der von einem „freien gesetzgeberischen Ermessen“ beim Diskriminierungsschutz ausgeht. 227 BVerfGE 89, 276 (286) – Geschlechterdiskriminierung im Arbeitsverhältnis (1993); ablehnend Ruffert (Fn. 134), S. 180 f. 228 BVerfGE 96, 288 (304) – Benachteiligung Behinderter im Schulwesen (1997); Dietlein (Fn. 87), S. 84 f.; Sachs (Fn. 207), S. 64; ders., Gleichberechtigung und Frauenquoten, NJW 1989, S. 553 (556). Inzwischen integriert in die allgemeine Schutzpflichtdogmatik BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20, Rn. 68 ff. 229 Vgl. BVerfGE 92, 91 (109) – Feuerwehrabgabe (1995). 230 BVerfGE 89, 276 (286) – Geschlechterdiskriminierung im Arbeitsverhältnis (1993). Zuvor bereits BVerfGE 85, 191 (207) – Arbeitszeitordnung (1992). Ferner Di Fabio (Fn. 16), S. 408 ff.; Kokott, Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbote in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 127 (146 f.); Sacksofsky (Fn. 45), S. 192 ff. 231 Andeutungsweise Britz (Fn. 125), S. 364. Ablehnend aber Hillgruber (Fn. 20), Art. 2 I Rn. 121; Jestaedt (Fn. 5), S. 344 f.; Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 2 Rn. 124. Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
von Abwehr- und Gleichheitsgrundrechten kommt es insoweit nicht an. Entscheidend ist vielmehr die Gefährdung der hinter den Schutzgütern stehenden normativen Ordnungsfunktionen.232 1. Menschenwürdenähe als Schutzgrund 52 Bereits die strukturelle Nähe der in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Kriterien zur Menschen-
würde233 spricht für eine – dann dogmatisch in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG radizierte – Schutzpflicht.234 Die Anerkennung aller Menschen als Gleiche in einer politischen Gemeinschaft235 ist eine kategoriale Voraussetzung des Wertgehalts aller Menschenrechte innerhalb des Grundrechtskatalogs, bei denen Schutzpflichten aber durchweg akzeptiert sind. Ein – normenhierarchisch auf gleicher Ebene positioniertes – Recht auf Gleichheit ist zudem nicht weniger schutzwürdig als ein Recht auf Freiheit.236 Eine objektive Wertentscheidung, die den dogmatischen Ausgangspunkt staatlicher Schutzpflichten gegen Grundrechtsgefährdungen durch Private bildet,237 enthalten nicht nur Abwehrrechte, sondern auch die besonderen Gleichheitssätze in Art. 3 Abs. 2 bis Abs. 3 GG.238 Dass es insoweit an einer grundrechtstypischen Gefahrenlage fehle, die eine Schutzpflicht aber voraussetze,239 überzeugt nicht, weil auch das Abwehrrecht gegen Diskriminierungen ein grundrechtliches Schutzgut darstellt, das typischerweise gerade im Privatrechtsverkehr besonders gefährdet ist. Eine Diskriminierung ist insoweit Übergriff in fremde Rechte,240 was aber allgemein eine Schutzpflichtlage bildet.
232 Siehe oben Rn. 49 ff. (C.). 233 BVerfGE 144, 20 (208) – NPD (2017); Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 407; Eichenhofer
(Fn. 83), S. 1081; Krieger (Fn. 56), Art. 3 Rn. 14; Lauber (Fn. 138), S. 142; Suelmann, Die Horizontalwirkung von Art. 3 II GG, 1994, S. 127; Payandeh, Verfassungsgerichtliche Konturierung des Verbots rassistischer Diskriminierung, NVwZ 2021, S. 1830 (1832 f.) – dort konkret zu rassistischen Diskriminierungen; Salzwedel (Fn. 212), S. 347 ff.; Thüsing (Fn. 138), Einl. AGG Rn. 38; Wrase (Fn. 58), S. 333; allgemein auch für zivilrechtliche Verbote Thüsing, Gerechtigkeit à la européenne, ZESAR 2014, S. 364 (367). 234 Krieger (Fn. 56), Art. 3 Rn. 14; Mager (Fn. 224), S. 417; Payandeh (Fn. 233), S. 1833; UerpmannWittzack (Fn. 224), S. 367 f. Der Erste Senat das BVerfG hat dies in einer Grundsatzentscheidung jedenfalls für Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG inzwischen explizit bejaht. S. BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20, Rn. 68 ff. 235 Nettesheim, Redebeitrag, VVDStRL 64 (2005), S. 410 (411); jetzt vor allem eingehend Mangold (Fn. 40), S. 347 ff. 236 Allgemein und mit Recht gegen eine Rangordnung der Schutzgüter Dietlein (Fn. 87), S. 86 f. 237 BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth (1958). Aus der späteren Rechtsprechung stellvertretend BVerfGE 73, 261 (269) – Auslegung von Sozialplänen (1986). 238 Dietlein (Fn. 87), S. 84; Nußberger (Fn. 76), Art. 3 Rn. 233; Scholler, Die Störung des Urlaubsgenusses eines „empfindsamen Menschen“ durch einen Behinderten, JZ 1980, S. 672 (673); Uerpmann-Wittzack (Fn. 224), S. 266 f.; ähnlich Ruffert (Fn. 134), S. 177. Jedenfalls sinngemäß auch Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 2 Rn. 364, die sich auf die „Ausstrahlungswirkung“ berufen, die aber ihrerseits als Konsequenz der objektiven Wertdimension der Grundrechte entwickelt wurde. 239 So Isensee (Fn. 7), S. 501 f. 240 Zweifelnd aber Britz (Fn. 125), S. 364. Klaus Ferdinand Gärditz
C. Besondere Gleichheitssätze
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2. Heterogenität der Schutzgüter als Einwand?
Das Argument, die in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG enthaltenen Schutzgüter seien zu hetero- 53 gen, Schutzpflichten zu begründen,241 verfängt nicht. Angesichts der verbindenden Nähe tatsächlich oder normativ unaufgebbarer Persönlichkeitsmerkmale zur Menschenwürde ist schon die Auswahl der Topoi systematisch nicht so inkohärent wie behauptet. Auch das BVerfG geht davon aus, dass Art. 3 Abs. 3 GG eine verklammernde Vulnerabilitätsratio zugrunde liegt, die dann gegebenenfalls im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG auf die Rechtfertigungsanforderungen zu erstrecken ist, wenn es um vergleichbar gewichtige Diskriminierungsmuster geht.242 Für die sexuelle Orientierung hat die Rechtsprechung dies anerkannt;243 für andere Merkmale, die für Betroffene nicht oder nur begrenzt verfügbar sind, aber einen intensiven Persönlichkeitsbezug aufweisen (z. B. Diskriminierung wegen des Aussehens244, sofern nicht ohnehin schon über „Geschlecht“ erfasst; Diskriminierungen wegen des Alters, die das europäische Antidiskriminierungsrecht sowie § 1 AGG erfassen), gilt dies entsprechend.245 Gerade aus dieser – auch innerhalb des Art. 3 Abs. 3 GG grundsätzlich nichthierarchischen246 – Vulnerabilitätskonstante lässt sich ein Schutzauftrag ableiten. Ungeachtet dessen kommt es auf eine Binnenhomogenität verpönter Merkmale, die eben sehr unterschiedliche Machtstrukturen abbilden,247 für die Frage der Schutzpflicht241 Britz (Fn. 125), S. 362. 242 BVerfGE 124, 199 (220) – Eingetragene Lebenspartnerschaft und Hinterbliebenenversorgung (2009):
„Die Anforderungen bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen sind umso strenger, je größer die Gefahr ist, dass eine Anknüpfung an Persönlichkeitsmerkmale, die mit denen des Art. 3 Abs. 3 GG vergleichbar sind, zur Diskriminierung einer Minderheit führt“. 243 BVerfGE 124, 199 (220) – Eingetragene Lebenspartnerschaft und Hinterbliebenenversorgung (2009); BVerfGE 126, 400 (419) – Eingetragene Lebenspartner im Erbschafts- und Schenkungssteuerrecht (2010); BVerfGE 131, 239 (256) – Familienzuschlag für Eingetragene Lebenspartner (2012); BVerfGE 133, 377 (408) – Ehegattensplittung und Eingetragene Lebenspartnerschaft (2013). 244 Lehner (Fn. 155), S. 410. Zu denken ist etwa an Einlasskontrollen vor Clubs und Diskotheken, bei denen z. B. Dicke ferngehalten werden, oder die arbeitsrechtliche Bevorzugung physisch attraktiver Mitarbeitender oder Bewerbender. 245 Dies wird teils aufgrund ihrer begrenzten Verfügbarkeit auch für die Staatsangehörigkeit angenommen, so Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 483. Das BVerfG hat die Staatsangehörigkeit hingegen – mit Recht – nicht als verpöntes Merkmal vergleichbar denen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG behandelt, sondern lediglich – ebenso mit Recht – einen pauschalen Rekurs darauf nicht akzeptiert und Argumente zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung verlangt, die plausibilisieren, weshalb es auf die Staatsangehörigkeit im jeweiligen Regelungskontext ankommt. Siehe BVerfGE 111, 160 (171 ff.) – Kindergeld für Nichtstaatsangehörige (2004); BVerfGE 111, 176 (185 f.) – Erziehungsgeld für Nichtstaatsangehörige (2004); BVerfGE 130, 240 (253 ff.) – Bayerisches Landeserziehungsgeldgesetz (2012); BVerfGE 132, 72 (82 ff.) – Bundeserziehungsgeldgesetz (2012). In der Genese des Grundgesetzes wurde ursprünglich vom Redaktionsausschuss noch vorgeschlagen, Abs. 1 als Deutschengrundrecht auszugestalten, um eine Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit zu ermöglichen, was aber auf Intervention des Abgeordneten von Mangoldt (CDU) zugunsten eines Menschenrechts aufgegeben wurde, vgl. hierzu die 26. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen v. 30.11.1948, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 5/II, 1993, S. 712 (739 ff.). 246 Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 3 Rn. 85; Lehner (Fn. 155), S. 412, der aber auf eine relative Hierarchie insoweit hinweist, als Geschlecht über Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG und Behinderung über Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG besonderen Regeln unterliegen (S. 413); Wrase (Fn. 58), S. 234. 247 Mangold (Fn. 40), S. 193. Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
begründung aber auch nicht entscheidend an: Schutzpflichten sind inzwischen für sämtliche Abwehrgrundrechte prinzipiell anerkannt, obwohl diese eine weitaus größere Heterogenität aufweisen. Schutzpflichten sind Konsequenz aus einer Schutzbedürftigkeit kraft normativer Wertentscheidung für ein bedrohtes Schutzgut, hängen aber nicht von einer systematischen Klassifikation oder Homogenität der Güter ab. 3. Freiheitsbeschränkende Schutzrichtung als Einwand? 54 Teilweise wird eine Schutzpflicht abgelehnt, weil es in Bezug auf Gleichheitsrechte an
einer gleichen Schutzrichtung fehle,248 es also zu einer unzulässigen Verselbstständigung der Schutzpflicht gegenüber ihrem individual-grundrechtlichen Substrat kommen solle. Auch dieser Einwand überzeugt nicht. Zwar dient richtigerweise die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte, der auch die Schutzpflichten zuzurechnen sind, nur der Verstärkung der individuellen Abwehrrechte.249 Das BVerfG hat überzeugend herausgearbeitet, dass sich die objektive Grundrechtsdimension „nicht von dem eigentlichen Kern lösen und zu einem Gefüge objektiver Normen verselbstständigen [lässt], in dem der ursprüngliche und verbleibende Sinn der Grundrechte zurücktritt“250. Objektiv-rechtliche Gehalte dürfen daher vor allem nicht gegen die konkreten Grundrechtsträger instrumentalisiert werden.251 Das ist aber nicht der Fall, wenn Gleichheitsrechte durch staatliche Schutzpflichten flankiert werden, die staatliche Organe zu positivem Handeln verpflichten. Gewiss führt dies dazu, dass Schutzpflichten mit Eingriffen in Freiheitsrechte Privater (hier also derjenigen, die diskriminieren) einhergehen und insoweit Konflikte auslösen. Das ist aber für Schutzpflichten strukturtypisch und betrifft gleichermaßen Freiheitsrechte, deren Schutz in der Regel durch Eingriffe in Rechte der privaten Grundrechts-Gefährder erreicht wird.252 Auch hier lassen sich konkrete Handlungsmaximen nicht verfassungsunmittelbar ableiten. Eingriffsrecht bleibt immer auf gesetzliche Vermittlung angewiesen, die dann – im Rahmen des Untermaßverbots – wiederum auf weite legislative Gestaltungsspielräume verweist.253 55 Strukturelle Unterschiede bestehen also nicht, wenn ein Abwehrrecht gegen Diskriminierungen auch gegen Gefährdungen armiert wird, die von Privaten ausgehen, in deren Rechte dann schutzaktualisierend eingegriffen wird. Auch Diskriminierungen behindern die Freiheitsentfaltung von Grundrechtsträgerinnen und -trägern, die abhängig von der Intensität, der Qualität und der Bedeutung des tangierten Lebensbereichs für die praktische Freiheitswahrnehmung eine staatliche Verantwortung auf den Plan rufen können, einen rechtlichen Mindestschutz254 (namentlich durch AntidiskriminierungsgesetzgeDietlein (Fn. 87), S. 85. Siehe oben Fn. 87. BVerfGE 50, 290 (337) – Mitbestimmung (1979). Stern, Die normative Dimension der Menschenwürdegarantie, in: FS Badura, 2004, S. 571 (578). Vgl. Wahl/Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, S. 553. Siehe oben Rn. 50 (C. I.) und unten Rn. 56 (C. II. 4.). Für eine solche Begrenzung im rechtsgeschäftlichen Bereich Neuner (Fn. 7), S. 1824. Vgl. auch Hager (Fn. 16), S. 376.
248 249 250 251 252 253 254
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C. Besondere Gleichheitssätze
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bung255) zu institutionalisieren.256 Dieser kann z. B. auch darin bestehen, den Einzelnen eigenverantwortlich durchsetzbare Ansprüche gegen diskriminierende Private einzuräumen, die dann ihrerseits privatautonom aktiviert (geltend gemacht) werden müssen, was sich wiederum zwanglos in die Matrix eines liberalen Koordinationsmodells einfügt.257 Verbandsklagen mögen die kollektiv-gruppenbezogene Seite von Diskriminierungen unterstreichen, werfen dafür aber wiederum (nicht minder schwierige) Folgeprobleme auf, nicht zuletzt, wer eigentlich berechtigt sein soll, Rechte vulnerabler Gruppen (gegebenenfalls auch gegen den Wunsch individueller Betroffener) geltend zu machen, ohne erneut die Essentialisierung von Gruppenkonstruktionen oder aktivistischen Korporatismus zu begünstigen. Institutionelle Folgeprobleme (etwa Beibringungsgrundsatz im Zivilprozess, Beweislastregeln, Kostenfragen) sind unübersehbar von großer praktischer Bedeutung, aber nicht verfassungsunmittelbar entscheidbar. 4. Rechtsfolgen
Innerhalb des Privatrechts ist die Schutzpflicht vor allem durch Privatrechtsgesetzgebung 56 einzulösen,258 zumal Beschränkungen der Privatautonomie zwischen Privaten aus Gründen des Diskriminierungsschutzes im Vergleich zu hoheitlichen Interventionstiteln (etwa ordnungsrechtliche Maßnahmen der Wirtschaftsaufsicht oder Pönalisierung von Pflichtverletzungen) oft ein milderes Mittel sein werden. Insoweit richtet die in Art. 3 Abs. 2 bis Abs. 3 GG angelegte Schutzverantwortung zuvörderst Gebote an den Gesetzgeber, ein wirksames Antidiskriminierungsrecht zu schaffen. Der Gesetzgeber hat sicherzustellen, dass gegen Diskriminierungen durch Private aufgrund diskreditierter Merkmale hinreichende Abwehrmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Hierbei ist freilich die Verhältnismäßigkeit zu wahren, die zugleich verlangt, dass auf die Freiheitsinteressen der Diskriminierenden hinreichend Rücksicht genommen wird. Hinsichtlich der instrumentellen Ausgestaltung und der Definition der Anwendungsbereiche des Antidiskriminierungsrechts stehen dem Gesetzgeber – nach allgemeinen Grundsätzen259 – weite Gestaltungsspielräume zu (Untermaßverbot).260 255 Wie hier Sachs (Fn. 207), S. 63. 256 Allgemeines Zivilrecht (z. B. Deliktsrecht) mag hierfür genügen – so Lehner (Fn. 155), S. 414 –, wobei
es maßgeblich darauf ankommt, ob Generalklauseln von der Rechtsprechung auch wirklich so ausgelegt und angewendet werden, dass zielgenauer und wirksamer Schutz gegen Diskriminierungen etabliert wird. Zum Zusammenhang von Schutzpflicht und Deliktsrecht auch Isensee (Fn. 7), S. 497. 257 Vgl. auch Coester (Fn. 138), S. 119: Diskriminierte wollen nicht als „Sozialfall“ Almosen empfangen, sondern gleiche Marktchancen. Zu weiteren Optionen siehe Kocher, Zehn Jahre AGG – brachliegende Potenziale, ZRP 2017, S. 112 (114). Der dort vorgeschlagene Verbandsrechtsschutz erscheint mir eher inadäquat. Er kann zwar fraglos zur Effektuierung beitragen, trägt aber die Keimzelle der Kollektivierung in sich, wenn dann Verbände sich zum „Leader“ essentialisierter (vermeintlicher) Gruppeninteressen aufschwingen und diese gegebenenfalls auch gegen die konkreten Interessen von Individuen durchsetzen. 258 Canaris (Fn. 7), S. 227. 259 BVerfGE 77, 170 (214 f.) – C-Waffen (1987); BVerfGE 96, 56 (64) – Kenntnis der Abstammung (1997); BVerfGE, 121, 317 (356) – Nichtraucherschutz (2008); BVerfGE 133, 59 (76) – Sukzessivadoption (2013); BVerfGE 141, 186 (205) – Vaterschaftsfeststellung (2016); BVerfGE 142, 313 (337 f.) – Nichteinsichtsfähige Betreute (2016); BVerfGE 146, 216 (262) – EZB-Staatsanleihenkauf (2017); BVerfGE 149, 293 (322) – PaKlaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
III. Bindung Privater
Die Bindung der besonderen Gleichheitssätze innerhalb des Privatrechts ist differenziert zu bewerten. Richtigerweise wird – aus den oben dargelegten Gründen – Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG eine unmittelbare Drittwirkung abgesprochen.261 Gleiches gilt für Art. 3 Abs. 2 GG,262 obgleich dies im Arbeitsrecht teils abweichend bewertet wurde.263 Private Willkür ist – wie dargelegt – nicht gemeinwohlorientiert konditioniert. Auch das Handeln nach subjektiven Vorurteilen und gesellschaftlich etablierten Diskriminierungsmustern ist innerhalb der Legalität legitime Freiheitsentfaltung. Um ein anschauliches Beispiel aufzugreifen, das Ralf Poscher formuliert hat: Ein Erblasser, der in seinem Testament den Sohn zum Alleinerben einsetzt, weil er aus sexistischen Vorbehalten die Tochter für ungeeignet hält, das vererbte Vermögen angemessen zu verwalten, verletzt nicht Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, sondern nutzt seine (höchstpersönliche) Testierfreiheit (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG).264 58 Richtigerweise entfalten die besonderen Gleichheitssätze jedoch eine mittelbare Drittwirkung im Verhältnis Privater zueinander.265 Schon die Nähe der in Art. 3 Abs. 3 GG ent57
tientenfixierung (2018); BVerfG, Beschl. v. 26.10.1995, 1 BvR 1348/95, Rn. 6 – Festsetzung von Geschwindigkeitsbeschränkungen; BVerfG, Beschl. v. 29.11.1995, 1 BvR 2203/95 – Schutz vor unzumutbaren Ozon-Belastungen; BVerfG, Beschl. v. 17.2.1997, 1 BvR 1658/96 – Elektrosmog; BVerfG, Beschl. v. 28.2.2002, 1 BvR 1676/01, Rn. 11 – Mobilfunkanlage; BVerfGK 10, 208 (211 f.) – Baugenehmigung für Mobilfunksendeanlage (2007); BVerfG, Beschl. v. 15.10.2009, 1 BvR 3474/08, Rn. 30 – Ergänzungsplanfeststellungsbeschluss Flughafen Leipzig/Halle; BVerfG, Beschl. v. 18.2.2010, 2 BvR 2502/08, Rn. 11 – Versuchsreihen am „CERN“; BVerfG, Beschl. v. 4.5.2011, 1 BvR 1502/08, Rn. 38 – Novellierung des Fluglärmschutzgesetzes; BVerfG, Beschl. v. 23.1.2013, 2 BvR 1677/10, Rn. 5 – Waffengesetz; BVerfG, Beschl. v. 23.1.2013, 2 BvR 1645/10, Rn. 5 – Waffengesetz; BVerfG, Beschl. v. 17.2.2017, 1 BvR 781/15, Rn. 25 – Überschussbeteiligung. 260 So auch Ruffert (Fn. 134), S. 494. 261 Britz (Fn. 125), S. 361 f.; Heun (Fn. 19), Art. 3 Rn. 139; Jarass (Fn. 176), Art. 3 Rn. 104; Nußberger (Fn. 76), Art. 3 Rn. 238 i. V. m. Rn. 75; Rädler, Art. 3 III GG als Schutzgesetz i. S. von § 823 II BGB?, NJW 1998, S. 1621 (1621 f.); Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 1580 f.; Umbach, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Bd. I, 2002, Art. 3 I Rn. 409. Anders (und ohne sichtbare Gefolgschaft) Leisner (Fn. 15), S. 348 ff.; Suelmann (Fn. 233), passim. Offen gelassen BVerfGE 148, 267 (283) – Stadionverbot (2018). 262 Heun (Fn. 19), Art. 3 Rn. 114; Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 2 Rn. 123. Offen gelassen BVerfGE 148, 267 (283) – Stadionverbot (2018). 263 BAGE 66, 264 (277); Pieroth (Fn. 16), S. 693. Siehe eingehend Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 2 Rn. 153 ff. 264 Poscher (Fn. 16), S. 340. Letztlich auch BGHZ 140, 118 (131 ff.): Hier wurde eine Erbunfähigkeitsklausel nach § 138 BGB im Lichte des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG geprüft, weil diese zu Benachteiligungen nach Herkunft und Abstammung führte. Der BGH stellt insoweit aber klar, dass mit Blick auf die Testierfreiheit nicht jede Diskriminierung automatisch zur Sittenwidrigkeit führe. 265 BGH, Urt. v. 9.3.2012, V ZR 115/11, Rn. 14; BGH, Urt. v. 15.1.2013, XI ZR 22/12, Rn. 27; Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 415; Caspar, Das Diskriminierungsverbot behinderter Personen nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und seine Bedeutung in der aktuellen Rechtsprechung, EuGRZ 2000, S. 135 (140 ff.); Heun (Fn. 19), Art. 3 Rn. 139; Pieroth (Fn. 16), S. 693; Rädler (Fn. 261), S. 1622 f.; Scholler (Fn. 238), S. 673 ff.; Sachs (Fn. 83), § 182 Rn. 141 ff.; Wrase (Fn. 58), S. 235 f.; begrenzt auf Art. 3 Abs. 2 GG Jarass (Fn. 176), Art. 3 Rn. 114. Kritisch etwa Canaris (Fn. 7), S. 212 ff., der auf die unmittelbare Bindung des Gesetzgebers aus Art. 1 Abs. 3 GG rekurriert. Ablehnend Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 3 Rn. 81. In der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung wurde die Frage, ob ein privater Arbeitgeber seinen Beschäftigten das Tragen reKlaus Ferdinand Gärditz
C. Besondere Gleichheitssätze
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haltenen Diskriminierungsverbote zur Menschenwürde266 spricht für eine Relevanz im Privatrecht. Der Menschenwürde ist ein kategorialer Achtungsanspruch inhärent, der die gesamte Rechtordnung als Matrix durchzieht.267 Gerade die historischen Unrechtserfahrungen mit dem NS-Regime, das von Anfang an seine Vernichtungs- und Ausgrenzungspolitik gesellschaftlich über Alltagsdiskriminierungen („Alltäglichkeit“268) vorbereitet hat, bekräftigt dies.269 Lange vor der Ingangsetzung der hoheitlichen Vernichtungsmaschinerie stand die Entrechtung im bürgerlichen Miteinander. Für das Verbot, Menschen mit Behinderung zu benachteiligen (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG), taucht die Einschränkung der Privatautonomie sogar in den – insoweit freilich nicht zwingend repräsentativen270 – Motiven des verfassungsändernden Gesetzgebers auf.271 1. Einfluss auf Auslegung und Anwendung des Zivilrechts
Aufgrund der „Ausstrahlungswirkung“ der in Art. 3 Abs. 2 bis Abs. 3 GG enthaltenen nor- 59 mativen Wertungen sind namentlich Gerichte dazu verpflichtet, die Gleichheitsrechte bei der Auslegung und Anwendung des geltenden Rechts zu berücksichtigen.272 Etwa die Auslegung, was eine vertraglich geschuldete Leistung ist, kann gegebenenfalls nicht losgelöst von Wertungen erfolgen, ob durch bestimmte Annahmen diskriminierende Wirkungen im Einzelfall oder Strukturen verfestigt werden, zu deren Beseitigung die Gebote der Art. 3 Abs. 2 bis Abs. 3 GG drängen.273 Besondere Gleichheitssätze können beispielsweise relevant sein für: ligiöser Bekleidung (in concreto: Kopftuch) verbieten dürfe, als Problem der mittelbaren Drittwirkung von Art. 4 Abs. 1 bis Abs. 2 GG thematisiert, nicht aber als Frage des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. BAG, Vorlagebeschl. v. 30.1.2019, 10 AZR 299/18 (A), Rn. 36. Dies ist schon deshalb bemerkenswert, weil die Richtervorlage nach Art. 267 AEUV unionsrechtlich primär Fragen des Diskriminierungsschutzes betrifft. Eine Drittwirkung von Art. 3 Abs. 3 GG erläutert das BAG gleichwohl nicht. Dass dieses Gleichheitsgrundrecht tatbestandlich einschlägig sein kann, ist hierbei offenkundig. Siehe nur BVerfGE 138, 296 (347) – Kopftuch II (2015). 266 Oben Fn. 152. 267 Ähnlich wohl Neuner (Fn. 7), S. 1823. 268 Mangold (Fn. 40), S. 268 ff. 269 Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 2 Rn. 364; ferner Eichenhofer (Fn. 83), S. 1081. 270 Zu diesem Erfordernis Wischmeyer, Der „Wille des Gesetzgebers“, JZ 2015, S. 957 (964). 271 Vgl. BT-Drs. 12/8165, S. 29. Die SPD-Fraktion des Deutschen Bundestags hatte hierzu folgende Auffassung vertreten: „Über seine Ausstrahlungswirkung wirke ein Benachteiligungsverbot aber auch auf die rechtlichen Beziehungen Privater untereinander ein und stelle klar, daß allgemeine Handlungsfreiheit und Privatautonomie zur Rechtfertigung kraß diskriminierenden Handelns künftig nicht mehr herangezogen werden können“. An der gleichen Stelle heißt es allerdings, dass die Fraktionen von CDU/CSU und FDP die Änderung zwar im Ergebnis befürworten, „ohne sich allerdings die ursprüngliche Begründung des gleichlautenden Antrags der Fraktion der SPD im ganzen zu eigen zu machen“. Insoweit bleibt undeutlich, inwiefern die oben bezeichnete Stoßrichtung geteiltes Motiv war oder nicht. 272 Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 2 Rn. 364; konkret für das Verbot rassistischer Diskriminierungen Payandeh (Fn. 233), S. 1834. 273 Heute unhaltbar wäre die (im zynischen Duktus abgefasste) Entscheidung des LG Frankfurt, Urt. v. 25.2.1980, 2/24 S 282/79, wonach „die Anwesenheit einer Gruppe von jedenfalls 25 geistig und körperlich Schwerbehinderten […] einen zur Minderung des Reisepreises berechtigenden Mangel“ darstelle, weil „eine Gruppe von Schwerbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des UrlaubsKlaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
– wertungsabhängige Generalklauseln (etwa §§ 138, 242, 826 BGB);274 – Regelungen des Kündigungsschutzes (§ 1 Abs. 2 KSchG), der sich auch gegen Diskriminierungen im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG richtet;275 – die Bewertung der Wirksamkeit und des Inhalts von Eheverträgen im Lichte des Art. 3 Abs. 2 GG;276 – die Bewertung von Geräuschemissionen (§§ 906, 1004 BGB), da von Menschen ausgehender Lärm nach „herkömmlichen“ Mustern nicht zu einer Benachteiligung von Menschen mit Behinderung führen darf;277 – die zulässige Ausübung des Hausrechts (§§ 858 ff., 903, 1004 BGB);278 – die Bestimmung der Schutzgüter des Deliktsrechts und der Rechtswidrigkeit der deliktischen Handlung (§ 823 Abs. 1 bis Abs. 2 BGB);279 – die Ausgestaltung von Verträgen und Regeln im Sport;280 – die wertungsabhängigen Klauseln im Kollisionsrecht des IPR (namentlich OrdrePublic nach Art. 6 Satz 2 EGBGB)281. 61 Diskriminierende Zugangsbedingungen zur Mitgliedschaft von Vereinen können – sofern sich die Diskriminierung nicht ausnahmsweise rechtfertigen lässt – der Gemeinnützigkeit nach § 52 Abs. 1 Satz 1 AO und den damit verbundenen steuerlichen Privilegierungen entgegenstehen,282 was freilich genau besehen eine öffentlich-rechtliche Nebenfolge privatrechtlicher Gestaltung ist. Während im rechtsgeschäftlichen Bereich auf konkurrierenden Grundrechtsschutz der Vertragsfreiheit Rücksicht zu nehmen ist, die ihren freiheitlichen Eigenwert auch dann behält, wenn sie diskriminierend ausgeübt wird, dürften weiterreichende Ingerenzen von Diskriminierungsverboten im Deliktsrecht anzunehmen sein, weil es hier um einseitige Übergriffe auf fremde Güter geht.283 60
2. Abwägung mit Freiheitsrechten Privater 62 Umgekehrt bedeutet die Anwendbarkeit eines Gleichbehandlungsgebotes nicht zugleich
auch, dass damit jedwede Ungleichbehandlung unter Privaten zu unterbinden wäre. Viel-
genusses darstellen kann“, wenn diese empfindsamen Menschen im Urlaub „Leid auf der Welt […] nicht sehen will“. Dies wäre jedenfalls unter dem – erst 1994 eingefügten – Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG kaum mehr vertretbar (vgl. auch Caspar (Fn. 265), S. 141), wurde aber auch seinerzeit schon teils kritisiert, etwa von dem (verfassungsrechtlich sensibilisierten) Zivilrechtler Brox, Störungen durch geistig Behinderte als Reisemängel?, NJW 1980, S. 1939 (1939 f.); ferner von Scholler (Fn. 238), S. 673 ff. 274 Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 415; Gerdes (Fn. 137), S. 166. Ohne differenzierte Prüfung apodiktisch ablehnend AG Tempelhof-Kreuzberg, Urt. v. 16.12.2004, 8 C 267/04. 275 BVerfGE 97, 169 (179) – Kündigungsschutz (1998). 276 Dethloff, Zur Wirksamkeit eines ehevertraglich vereinbarten Verzichts auf nachehelichen Versorgungsausgleich, JZ 1997, S. 414. 277 Caspar (Fn. 265), S. 143. 278 BGH, NJW 2012, S. 1725. 279 BVerfGE 25, 256 (263, 268) – Boykottaufruf Blinkfüer (1969); Canaris (Fn. 7), S. 229 ff. 280 Sachs, Gleichheit im Sport, SpuRt 2019, S. 50 (57). 281 Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 2 Rn. 160 ff. 282 BFHE 258, 124 ff.; Baer/Markard (Fn. 21), Art. 3 Abs. 3 Rn. 415. 283 Neuner (Fn. 7), S. 1824. Klaus Ferdinand Gärditz
C. Besondere Gleichheitssätze
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mehr kann insoweit auch als Gegengewicht die private Freiheit zum Tragen kommen, sich von ablehnenden oder befürwortenden Wertungen leiten zu lassen, die dem Staat verschlossen bleiben. Es kommt insoweit auf eine Abwägung zwischen Freiheits- und Gleichheitsinteressen an,284 die im Einzelnen gegebenenfalls durch den Gesetzgeber näher zu konturieren ist.285 Beispielsweise in einem Fall, der die Kündigung eines Girokontos aus politischen Gründen betraf, ging nach dem BGH die mittelbare Drittwirkung des Art. 3 Abs. 3 GG nicht so weit, „dass die Beklagte bei ihrer Entscheidung über den Fortbestand des Girovertrages nicht die politischen Auffassungen ihres Vertragspartners berücksichtigen durfte“.286 In einem anderen Fall wurde gegenüber dem Gast eines Wellness-Hotels ein Hausverbot ausgesprochen, weil dieser seinerzeit Bundesvorsitzender der NPD war; der BGH hielt dies für eine Diskriminierung, deren – im konkreten Fall gescheiterte – Rechtfertigung von einer Abwägung mit gegenläufigen Freiheitsrechten des Hoteliers (Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG) abhänge.287 Dementsprechend kann sich auch eine Religionsgemeinschaft, die unabhängig von ihrer Organisation (vgl. Art. 137 Abs. 5 WRV ) hier als Private zu behandeln ist,288 auf die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 bis Abs. 2 GG) berufen, wenn sie aus religiösen Gründen bestimmte Anforderungen an den Glauben oder die Lebensführung ihrer Beschäftigten stellt; die Religionsfreiheit hat in der Regel bei kultischen oder mit sakralen Pflichten beladenen Beschäftigungen Vorrang,289 in der Peripherie des Religiösen muss sie gegebenenfalls Gleichheitsrechten weichen.290 Aus der Abwägungsabhängigkeit folgt zugleich, dass die Rechtsfolgen von festgestellten 63 Ungleichbehandlungen sehr unterschiedlich beurteilt werden können. Dass etwa eine Religionsgemeinschaft Homosexuellen oder Frauen den Zugang zu einem Priesteramt unter Verweis auf religiöse Dogmen verweigern, ein Arbeitgeber aber z. B. eine schwarze Bewerberin nicht aus rassistischen Gründen ablehnen darf, obgleich beide Diskriminierungen einen Ausschluss von einem begehrten Arbeitsplatz bedeuten, beruht keinesfalls auf einer Hierarchisierung der Diskriminierungsgründe. Vielmehr ist die Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 bis Abs. 2 GG als vorbehaltloses Grundrecht besonders stark geschützt, 284 So bereits klar Nipperdey (Fn. 124), S. 32. Ferner etwa Horcher (Fn. 104), S. 94 ff.; Wrase (Fn. 58),
S. 238. In diesem Sinne BVerfG-K, Beschl. v. 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19, Rn. 19: „ausgestalten“. BGH, Urt. v. 15.1.2013, XI ZR 22/12, Rn. 29. BGH, Urt. v. 9.3.2012, V ZR 115/11, Rn. 14. Höfling (Fn. 10), Art. 1 Rn. 114. Weder muss eine muslimische Moscheegemeinde nichtmuslimische Bewerber auf eine Imam-Stelle berücksichtigen, noch die Katholische Kirche einen Buddhisten oder eine Frau als Pfarrer(in) einstellen. 290 Dies ist das Problem z. B. des Kirchenmusikers, des Rechnungsprüfers des Bistums oder der Ärztin bzw. des Kindergärtners an einem religiösen Tendenzbetrieb. Hierzu einerseits EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-68/17, Chefarzt; BAG, Urt. v. 20.2.2019, 2 AZR 746/14; andererseits BVerfGE 137, 273 ff. Zum Konflikt stellvertretend Classen, Das kirchliche Arbeitsrecht unter europäischem Druck, EuR 2018, S. 752 ff.; Greiner, Kirchliche Loyalitätsobliegenheiten nach dem „IR“-Urteil des EuGH, NZA 2018, S. 1289; Klein/ Bustami, Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung bei kirchlichen Arbeitgebern, ZESAR 2019, S. 18; Krimphove, Der EuGH und das Wiederverheiratungsverbot der Katholischen Kirche, ArbR 2018, S. 511; Malorny, Diskriminierungsschutz als Grenze kirchlicher Selbstbestimmung, EuZA 2019, S. 441; Stein, Kirchliches Arbeitsrecht im Umbruch, ArbuR 2019, S. 157; Thüsing/Mathy, Kirchliche Loyalitätspflichten im Zugriff des EuGH, BB 2018, S. 2805. 285 286 287 288 289
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG) – zumal im Bereich von bloßen Berufsausübungsregeln291 – hingegen vergleichsweise schwach. Umso stärker der Zugang zu privaten Leistungsangeboten öffentlichkeitsbezogen und/oder für Betroffene existenziell ist, desto intensiver ist die Präformation durch Gleichheitsrechte;292 umso stärker hingegen eine privatautonome Handlung höchstpersönlicher Natur ist, desto weiter müssen Gleichbehandlungsinteressen aus Respekt vor dem – nicht auf Rationalität verpflichteten – (allgemeinen oder besonderen) Persönlichkeitsrecht zurückstehen.293 So wird man eben auch die Wohnungsbaugesellschaft anders behandeln müssen als die Seniorin, die einen Studenten als Untermieter sucht. Mittelbare Drittwirkung führt nach alledem nicht zu einer staatsanalogen Bindung, 64 sondern grundsätzlich nur zu einer Verpflichtung zur angemessenen Interessenabwägung (elastisches Rechtfertigungsmodell294); die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen durch Private unterliegt also von Verfassung wegen nicht notwendig den strikten Anforderungen, die Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG staatlichen Organen auferlegt,295 die sich ihrerseits (anders als Private) nicht auf eigene Grundrechte berufen können. Und staatliche Organe – namentlich (Zivil-)Gerichte –, die über einen diskriminierungsbedingten Rechtsstreit zu entscheiden haben, können dann auch kraft eigener Grundrechtsbindung sich nicht darauf beschränken, Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zu aktivieren, sondern müssen auch konkurrierenden Freiheitsrechten Rechnung tragen.
D. Unionsrechtliche Diskriminierungsverbote 65 Das Unionsrecht enthält vielfältige Diskriminierungsverbote, die partiell auch das Privat-
recht tangieren.296 Das Unionsrecht kennt die – nicht allen Mitgliedstaaten gleichermaßen geläufige – strikte Differenzierung zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht letztlich nicht; es kennt aber ein differenziertes Adressatenregime.
I. Grundrechtecharta 66 Die Grundrechtecharta bindet die Organe der EU und bei der Durchführung des Unions-
rechts die Mitgliedstaaten (Art. 51 Abs. 1 GRCh). Sie entfaltet daher grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung gegenüber Privaten,297 schließt eine solche aber auch nicht für alle
291 Vgl. BVerfGE 117, 163 (182) – Anwaltliche Erfolgshonorare (2006); BVerfGE 123, 186 (238) – PKV-
Basistarif (2009); BVerfGE 141, 82 (100) – Sozietätsverbot (2016).
292 Siehe BVerfGE 128, 226 (249 f.) – Fraport (2011). 293 Allgemein zu einer Prädominanz persönlichkeitsgeprägten Handelns Kirchhof (Fn. 16), Art. 3 Abs. 1
Rn. 190 ff. Vgl. Grünberger (Fn. 14), S. 32 f. So auch Sachs (Fn. 205), S. 57. Kempny/Reimer (Fn. 166), S. 34 f. EuGH, Schlussanträge der GA Trstenjak v. 8.9.2011, Rs. C-282/10, Dominguez, Rn. 80; Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, S. 2385 (2388 ff.); Pache, in: Pechstein/
294 295 296 297
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D. Unionsrechtliche Diskriminierungsverbote
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Grundrechte von vornherein aus. Die Frage einer Drittwirkung wurde im Rahmen des Normgebungsprozesses offengelassen und damit der Konturierung durch die Rechtsprechung überantwortet.298 Letztlich kommt es auf die Ausdeutung der einzelnen Grundrechte an.299 Sekundärrechtliche Maßnahmen sind an den primärrechtlichen Grundrechten zu messen.300 Die Diskriminierungsverbote der Art. 21, 23 GRCh binden die Gesetzgebung, auch so- 67 weit diese Privatrechtsverhältnisse regelt. So hat der EuGH eine gleichheitswidrige Ausnahmebestimmung für den Bereich von Privatversicherungen in einer Richtlinie für primärrechtswidrig erklärt, weil diese die Gleichbehandlungsgebote der Charta verletzte.301 Für das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 21 GRCh302 scheint der EuGH eine Drittwirkung anzunehmen, insoweit er den primärrechtlichen Diskriminierungsverboten subjektive Rechte entnimmt, auf die sich Einzelne auch in privatrechtlichen Streitigkeiten berufen können.303 Der Argumentationsstruktur nach entspricht dies im Wesentlichen der mittelbaren Drittwirkung,304 geht aber in den Rechtsfolgen darüber hinaus, als insoweit entgegenstehendes nationales Recht unanwendbar bleibt.305 Da der Gerichtshof seine Position hier als Melange aus einer Auslegung des nationalen Rechts im Lichte einer Richtlinie und primärrechtlicher Schutzgüter – wenig transparent – entwickelt, bleibt die systematische Verankerung des Ansatzes indes weitgehend opak.306 Insgesamt erscheint die Rechtsprechung bislang zu inkohärent, dürfte aber auf die Anerkennung allgemeiner Rechtsgrundsätze hinauslaufen,307 die Inhalte des sekundärrechtlichen Diskriminierungsverbots mit grundrechtlichen Maßstäben fusionieren und so das unbestritten auf Rechtsverhältnisse zwischen Privaten ausgerichtete Sekundärrecht partiell primärrechtlich armieren. Nowak/Häde (Hrsg.), EUV/GRCh/AEUV, Bd. I, 2017, Art. 51 GRCh Rn. 38; Rolfs, Benachteiligung wegen des Geschlechts in der Alters- und Übergangsversorgung, Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen 2011, S. 241 (243). Eingehende Untersuchung bei Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht, 2013. 298 Ladenburger/Vondung, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, 2016, Art. 51 Rn. 14; Streinz/Michl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 51 GRCh Rn. 30. 299 Bejaht für Art. 27 GRCh EuGH, Urt. v. 15.1.2014, Rs. C-176/12, Association de médiation sociale, Rn. 41 ff. Allgemein Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 51 GRCh Rn. 24 ff. 300 Schöbener/Stork, Anti-Diskriminierungsregelungen der Europäischen Union im Zivilrecht, ZEuS 2004, S. 43 (54 ff.). 301 EuGH, Urt. v. 1.3.2011, Rs. C-236/09, ASBL. 302 Ablehnend Sachs, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, 2016, Art. 21 Rn. 14. 303 EuGH, Urt. v. 19.4.2016, Rs. C-441/14, Dansk Industri, Rn. 28 ff.; deutlich auch EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 76 f. 304 Vgl. Ladenburger/Vondung (Fn. 298), Art. 51 Rn. 14: „eine Art Drittwirkung“; weitergehend sogar für eine unmittelbare Drittwirkung Michl, in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), EUV/GRCh/AEUV, Bd. I, 2017, Art. 21 GRCh Rn. 13. 305 EuGH, Urt. v. 19.4.2016, Rs. C-441/14, Dansk Industri, Rn. 36; EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-68/17, IR/JQ, Rn. 67 ff. 306 Kritisch Streinz/Michl (Fn. 298), Art. 51 GRCh Rn. 30; vgl. ferner analytisch Benecke, Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 19.4.2016, Rs. C-441/14, Danks Industri, EuZW 2016, S. 469. 307 So EuGH, Urt. v. 22.11.2005, Rs. C-144/04, Mangold, Rn. 75; EuGH, Urt. v. 19.1.2010, Rs. C-555/07, Kücükdeveci, Rn. 21. Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
Die praktisch wichtigste Folge dürfte sein, dass insoweit die Grenzen einer unmittelbaren Anwendung von Richtlinien zu Lasten Privater (dazu sogleich) überwunden werden.308 Überzeugend ist dies nicht, weil dem europäischen Gesetzgeber mit Art. 19 AEUV eine positive Regelungskompetenz zur Verfügung stünde,309 die es ohne weiteres erlaubt, Richtlinien zur Durchsetzung von Diskriminierungsverboten auch für den Bereich zwischen Privaten zu erlassen.310 II. Allgemeines Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit
Das Gebot der Entgeltgleichheit von Männern und Frauen (Art. 157 AEUV ) hat unmittelbare Wirkung auch zwischen Privaten.311 Über die grundrechtliche Aufladung durch Art. 21 Abs. 2 GRCh dürfte inzwischen auch das Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit nach Art. 18 AEUV eine Drittwirkung entfalten.312 Die allgemeine Gleichbehandlungs-Rahmenrichtlinie,313 die Richtlinie zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen314 und die Anti-RassismusRichtlinie315 richten sich schon ihrer Rechtsform nach (vgl. Art. 288 AEUV ) an den Gesetzgeber, der die Primärverantwortung für die Umsetzung von Richtlinien trägt. Insoweit gilt die Richtlinie allerdings uneingeschränkt auch für den „Privatrechtsgesetzgeber“.316 Es bestehen insoweit Umsetzungspflichten, keine Schutzpflichten.317 Ausnahmeregelungen im Richtlinienrecht, die Ungleichbehandlungen aus spezifischen Gründen zulassen, ermächtigen nicht die Mitgliedstaaten zur Diskriminierung, sondern erlauben lediglich den adressierten Mitgliedstaaten, private Ungleichbehandlungen zuzulassen.318 69 Setzt der nationale Gesetzgeber die Richtlinie (z. B. in Anwendungsbereich, Rechtsfolgen oder Rechtfertigungsgründen) unzureichend um, stellt sich allenfalls die Frage, inwiefern sich Private in privatrechtlichen Streitigkeiten auf weitergehendes Richtlinienrecht berufen können. Eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien ist zwar unter den 68
Deutlich EuGH, Urt. v. 19.4.2016, Rs. C-441/14, Dansk Industri, Rn. 30–32. Zur Reichweite Zoppel (Fn. 139), S. 50 ff. Rossi, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 21 GRCh Rn. 11. EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Rn. 4, 6 ff.; Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 157 AEUV Rn. 5; Louis, Lohngleichheit vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, EuGRZ 1976, S. 178. 312 Ablehnend Kingreen, Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 13 Rn. 18. Gegen Schutzpflichten und subjektive Rechte ferner Badura (Fn. 16), S. 351. 313 Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303/16. 314 Richtlinie 2004/113/EG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen v. 13.12.2004, ABl. 2004 L 373/37. 315 Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft v. 29.6.2000, ABl. 2000 L 180/22. 316 Vgl. nur Badura (Fn. 16), S. 351 f. 317 Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 3 Rn. 86. 318 Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 2 Rn. 122. 308 309 310 311
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D. Unionsrechtliche Diskriminierungsverbote
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allgemeinen Voraussetzungen möglich. Diese geht jedoch grundsätzlich nicht zu Lasten Privater.319 Im Übrigen verweist der EuGH mit Recht darauf, dass Organen der EU, wenn sie unmittelbar Verpflichtungen der Bürgerinnen und Bürger begründen wollten, die Handlungsform der Verordnung zur Verfügung stehe.320 In Streitigkeiten ausschließlich zwischen Privaten können sich daher Einzelne grundsätzlich nicht auf Richtlinienbestimmungen berufen, die anderen Privaten Verpflichtungen auferlegen, auch wenn die Bestimmung eindeutig und unbedingt ist.321 Möglich bleibt lediglich eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts, die aber nur auf hinreichende Vorleistungen des Gesetzgebers aufsatteln kann. Allerdings hat die Ablehnung einer Horizontalwirkung den EuGH – unter nachträglicher Billigung des BVerfG322 – nicht gehindert, die Verdrängung nationalen Rechts zu Lasten Privater zu fordern, sofern dessen Anwendung mit Unionsrecht unvereinbar wäre.323 Das mit Vorrang ausgestattete Unionsrecht kennt die – innerhalb der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten kontingente – Differenzierung zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht nicht. Es entfaltet daher eine uniforme Wirkung auch gegenüber mitgliedstaatlichem Privatrecht.324 Hierauf sattelt der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung auf, indem er nationale Bestimmungen, die mit den Vorgaben unionsrechtlicher Diskriminierungsverbote nicht in Einklang stehen, auch in privatrechtlichen Streitigkeiten für unanwendbar erklärt.325 Der EuGH hat im Bereich der Grundfreiheiten gelegentlich betont, dass diese nicht nur 70 für die öffentliche Hand, sondern auch für Private unmittelbare Wirkung haben könnten, sofern Vertragspraktiken die Wahrnehmung der unionsrechtlichen Freiheiten zu untergraben drohen.326 Liegt die Beeinträchtigung gerade in einer diskriminierenden Praxis, kommt auch insoweit eine Drittwirkung in Betracht.327
319 EuGH, Urt. v. 26.2.1986, Rs. 152/84, Marshall, Rn. 48; EuGH, Urt. v. 22.2.1990, Rs. C-221/88, Busseni,
Rn. 23; EuGH, Urt. v. 13.11.1990, Rs. C-106/89, Marleasing, Rn. 6; EuGH, Urt. v. 14.7.1994, Rs. C-91/92, Faccini Dori, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 14.12.1997, Rs. C-97/96, Verband deutscher Daihatsu-Händler, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 26.9.2000, Rs. C-443/98, Unilever Italia, Rn. 50; EuGH, Urt. v. 7.1.2004, Rs. C-201/02, Wells, Rn. 56; EuGH, Urt. v. 7.6.2007, Rs. C-80/06, Carp Snc di L. Moleri e V. Corsi, Rn. 20; zu den Durchbrechungen und Aufweichungen eingehend Mörsdorf, Unmittelbare Anwendung von EG-Richtlinien zwischen Privaten in der Rechtsprechung des EuGH, EuR 2009, S. 219. 320 EuGH, Urt. v. 14.7.1994, Rs. C-91/92, Faccini Dori, Rn. 24. 321 EuGH, Urt. v. 7.6.2007, Rs. C-80/06, Carp Snc di L. Moleri e V. Corsi, Rn. 20. 322 BVerfGE 126, 286 (308 ff.) – Mangold/Honeywell (2010). 323 EuGH, Urt. v. 26.9.2000, Rs. C-443/98, Unilever Italia, Rn. 50. 324 Sprenger, Aktuelle Tendenzen des EuGH im Diskriminierungsrecht, BB 2008, S. 2405 (2407). 325 EuGH, Urt. v. 19.4.2016, Rs. C-441/14, Dansk Industri, Rn. 30–36. 326 EuGH, Urt. v. 12.12.1974, Rs. 36/74, Walrave, Rn. 16, 19; EuGH, Urt. v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, Bosman, Rn. 82 ff. 327 Vgl. Grünberger (Fn. 14), S. 1032 f. Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 4 Adressaten des Antidiskriminierungsrechts: Staat und Private
E. Völkerrecht 71
Keine Drittwirkung entfaltet die an die Mitgliedstaaten als Gesamtverbände gerichtete EMRK.328 Dies gilt namentlich für das (schwache) Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK.329 Allerdings kann insoweit nach allgemeinen Grundsätzen330 aus Art. 14 EMRK eine Schutzpflicht abzuleiten sein,331 die dann auch staatliche Organe verpflichten kann, nicht gerechtfertigte Diskriminierungen zu unterbinden.332 Durch die Anerkennung einer mittelbaren Drittwirkung kann freilich insoweit die Schutzpflicht erfüllt werden.333 Hinsichtlich weiterer völkerrechtlicher Verpflichtungen, die teils sehr unterschiedlich strukturiert sind, darf hier auf das Einleitungskapitel verwiesen werden.334
F. Zusammenfassende Würdigung 72
Zusammenfassend hat sich gezeigt, dass Grundrechte als solche nicht in Ge- und Verbote umgedeutet werden können, die unmittelbar Private binden. Diskriminierungsschutz im Privatrecht bedarf daher der Transformation durch den Gesetzgeber. Beschränkungen der Privatautonomie (namentlich der Vertragsfreiheit) sind dann als Grundrechtseingriffe rechtfertigungsbedürftig. Der Rechtfertigungszwang aktiviert dann sowohl die diskursiven politischen Verfahren der Gesetzgebung und deren Leistungen differenzierten Konfliktausgleichs als auch die juridische Rationalität der Verhältnismäßigkeitskontrolle. Versteht man Antidiskriminierungsrecht auch als reflexives Instrument rationaler Selbstvergewisserung einer Gesellschaft,335 ist diese Offenheit in den politischen Diskursraum besonders wichtig. Sie fügt sich ein in eine „Kultur der Rechtfertigungsbedürftigkeit von […] Ungleichheit“336. Insoweit lassen sich freilich Diskriminierungsverbote im Privatrecht auf gewichtige Gemeinwohlbelange stützen, die im Rahmen der proportionalen Güterabwägung ein hohes Gewicht haben. Während sich einerseits die (grundrechtlich über Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG vergleichsweise schwach geschützte) Vertragsfreiheit nicht pauschal gegen eine Drittwirkung der Diskriminierungsverbote in Stellung bringen lässt, ist bei den notwendigen Interessenabwägungen zu berücksichtigen, dass Private (auch für diskriminie328 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl. 2021, § 17 Rn. 6; Kingreen
(Fn. 299), Art. 51 GRCh Rn. 21; Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer (Hrsg.), EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 1 Rn. 19. 329 Langenfeld (Fn. 22), Art. 3 Abs. 3 Rn. 88; Sachs (Fn. 302), Art. 21 Rn. 14. 330 Vgl. nur Meyer-Ladewig/Nettesheim (Fn. 328), Art. 1 Rn. 20. 331 Krieger (Fn. 56), Art. 3 Rn. 14. 332 Sauer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 14 Rn. 48. Siehe auch die Bestandsaufnahme bei Uerpmann-Wittzack, Völker- und verfassungsrechtliche Vorgaben für die Gleichstellung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, SDSRV 66 (2015), S. 29. 333 Grabenwarter/Pabel (Fn. 328), § 19 Rn. 9. 334 → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 27 ff. 335 Mangold (Fn. 40), S. 29 ff. 336 Hofmann, Jenseits von Gleichheit, 2019, S. 311. Klaus Ferdinand Gärditz
F. Zusammenfassende Würdigung
219
rendes Handeln) ihrerseits Schutz durch Freiheitsgrundrechte genießen, die immer auch Rechte auf nicht rationalitätsgebundene Willkür sind. Hinsichtlich der qualifizierten Diskriminierungsverbote nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1, 73 Abs. 3 GG besteht zudem eine Schutzpflicht, die grundrechtsgebundene Träger der öffentlichen Gewalt – zuvörderst den Gesetzgeber – dazu verpflichtet, hinreichenden (freilich gestaltungsbedürftigen) Schutz gegen Diskriminierungen auch im Verhältnis zwischen Privaten zu institutionalisieren. In die Auslegung und Anwendung des Privatrechts fließen über die mittelbare Drittwirkung zudem die den Diskriminierungsverboten inhärenten verfassungsrechtlichen Wertungen ein, was im Übrigen richtigerweise nicht von wertungsoffenen Generalklauseln abhängig ist. Insgesamt lässt sich so die Adressatenfrage der Diskriminierungsverbote ohne Friktionen in die allgemeine Matrix der Grundrechtsdogmatik und deren Rationalisierungsanspruch einfügen, der – wie auch die Rechtsprechung des BVerfG belegt – hinreichenden Raum für die notwendigen Differenzierungen bei der Intensität normativer Bindung Privater belässt. Viele der Probleme hat freilich das Unionsrecht erledigt, indem sekundärrechtlich Diskriminierungsverbote geschaffen wurden, die gezielt zwischen Privaten Anwendung finden sollen. Aus der Perspektive eines europäischen Gesamtverfassungsrechts wird daher die Bedeutung der strikten – insoweit immer auch mit der spezifisch deutschen Sphären-Dogmatik verflochtenen – Differenz zwischen staatlichen und privaten Bindungsadressaten graduell schwinden und Konflikte werden sich stärker auf die Rechtfertigungsebene verlagern.
Klaus Ferdinand Gärditz
Zweiter Teil: Kategorien des Antidiskriminierungsrechts
§ 5 Das Kategorienproblem und die Herausbildung eines postkategorialen Antidiskriminierungsrechts Susanne Baer* Inhaltsübersicht Rn. A. Rechtskämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
B. Rechtslage: „Merkmale“ und „Gründe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ein Oberbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Minderheitenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schutz- und Förderrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Suspekte Eigenschaften, Merkmale, Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Geschlossene und offene Listen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16 17 22 25 28 34
C. Vor- und Nachteile kategorialen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Kategorisierungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Gruppismus-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Essentialisierungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Dilemma der Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Hierarchie der Ungleichheiten und das Problem „Klasse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Intersektionale, mehrdimensionale, mehrfache Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Anerkennung und Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38 39 43 51 57 61 68 71
D. Postkategoriale Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Historische Benachteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausschluss aus dem politischen Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unrechtserfahrung und Vulnerabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Dominanz, Hierarchisierung, Privilegien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73 77 78 80 87
E. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
Recht gegen Diskriminierung ist erkämpft worden, um bestimmte Unrechtserfahrungen 1 zu verhindern. Wie lassen sich diese Erfahrungen beschreiben? Recht gegen Diskriminierung hat zudem die Funktion, Benachteiligung zu verhindern oder auszugleichen. Wie lässt sich adäquat benennen, wogegen sich Antidiskriminierungsrecht genau richtet? Und * Mein Dank gilt Anna-Lena Dohmann für die hilfreichen Recherchen, Anregungen und die Arbeit am
Manuskript.
Susanne Baer
224
§ 5 Das Kategorienproblem
wie lässt sich verhindern, dass Normen gegen dieses spezifische Unrecht genau die Vorurteile und Strukturen bedienen, gegen die sie angehen sollen? 2 Lange schien die Antwort auf die Frage nach den Ansatzpunkten des Antidiskriminierungsrechts offensichtlich: Die Ausgangstatbestände der Diskriminierungsverbote sind Handlungen, die sich auf bestimmte Eigenschaften von Menschen beziehen, als „Merkmale“. Verboten ist dann die Diskriminierung „wegen des Geschlechts usw.“, gefördert werden dann die Angehörigen der unterrepräsentierten oder zuvor benachteiligten Gruppe, also diejenigen, die deren Eigenschaften haben, die so markiert sind. Diesem Ansatz folgen weithin ausdrücklich oder aber in der Auslegung die besonderen Gleichheitsrechte in den Grundrechtskatalogen von Verfassungen und in den internationalen Menschenrechtspakten ebenso wie die Grundnormen des einfachgesetzlichen Antidiskriminierungsrechts. So nennt Art. 3 Abs. 3 GG ebenso wie Art. 21 GRCh oder Art. 14 EMRK oder auch § 1 AGG „Geschlecht“, „Rasse“, „Herkunft“ usw. Danach sind, in einem überkommenen Verständnis, bestimmte benannte Unterscheidungen begründungsbedürftig; es handelt sich um Regeln gegen „verdächtige Klassifikationen“, die „suspect classifications“. Dahinter steht die These, besondere Gleichheitsrechte normierten ein „Differenzierungsverbot“, oder aber die Annahme, für bestimmte Eigenschaften, nach denen sich Menschen unterscheiden, bestünde ein „Anknüpfungsverbot“. 3 Doch ist es damit nicht getan. Daher wurde ein Verständnis von Gleichheitsrechten entwickelt, das nicht mehr allein nach guten Gründen dafür fragte, warum Menschen sich tatsächlich unterscheiden. So ließ sich das Perpetuum Mobile, verfestigte ungleiche Verhältnisse heranzuziehen, um weiterhin ungleiche Regeln zu legitimieren, jedenfalls im Ansatz durchbrechen. Angemessen konzipiert sichert das Recht auf Gleichheit zudem nicht nur formelle Gleichbehandlung, sondern ist materielles oder substantielles (engl. „substantive“) Recht auf Anerkennung in der Unterschiedlichkeit und den Ausgleich von Nachteilen aufgrund der Unterschiede.1 Doch sind auch damit noch nicht alle Probleme gelöst. Materielles Gleichheitsrecht und ausdifferenziertes Antidiskriminierungsrecht beziehen sich weiter auf Eigenschaften, Merkmale oder Kategorien, und müssen sich fragen lassen, ob diese alle relevanten Benachteiligungen erfassen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und ob es überhaupt sinnvoll ist, immer wieder einen Unterschied zu betonen, der tatsächlich keinen (nachteiligen) Unterschied machen soll. Die Spannung, die hier entsteht, ist auch Teil der Auseinandersetzungen um Fallstricke von Multikulturalismus und Identitätspolitiken. Zudem hat auch materielles Antidiskriminierungsrecht an den Verhältnissen bislang eher wenig geändert. 4 Nun wäre es kurzschlüssig, den relativen Misserfolg von Antidiskriminierungsrecht darauf zurückzuführen, dass an den falschen Tatbeständen angesetzt wird, denn monokausal sind die Folgen und Effekte von Recht nicht zu greifen. Die wesentlichen Durchsetzungsprobleme des Antidiskriminierungsrechts dürften woanders liegen.2 Doch erscheint die 1 Dazu grundlegend → Mangold/Payandeh, § 1; zu unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung
→ Sacksofsky, § 14.
2 Dazu auch die Beiträge im vierten Teil von → Towfigh, § 18, → Muthorst, § 19, → Grünberger, § 20, und
→ Schmidt, § 21.
Susanne Baer
E. Ausblick
"
225
Annahme plausibel, das Problem der tatbestandlichen Fassung von Antidiskriminierungsrecht trage dazu bei, dass hier nicht nur Mittel gegen Benachteiligung zur Verfügung gestellt werden, sondern auch Probleme entstehen. Mit ihnen haben sich insbesondere feministische und antirassistische Ansätze in der Rechtswissenschaft in transdisziplinären Zusammenhängen der Geschlechterforschung bzw. Gender Studies befasst,3 mit bahnbrechender Forschung zu Konzepten der Gleichheit, zu unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung, zu Belästigung und Gewalt als Diskriminierung,4 und nicht zuletzt eben zu den Eigenschaften, Merkmalen oder Kategorien, auf die sich Antidiskriminierungsrecht bezieht.5 Insoweit stellt sich die Frage, ob sich Antidiskriminierungsrecht tatsächlich auf die im Recht als Unterschiede oder Merkmale verstandenen „Kategorien“ beziehen sollte, oder ob diese – gänzlich oder in bestimmten Zusammenhängen – verabschiedet werden sollten oder aufgegeben werden können. Der Vorschlag, ein „postkategoriales“ Antidiskriminierungsrecht zu entwickeln,6 geht darauf zurück. Es ist ein Plädoyer für eine tatbestandlich realistische Perspektive im Antidiskriminierungsrecht. Um beurteilen zu können, ob insoweit konzeptionell oder auch normativ Verände- 5 rungen anstehen, müssen also die Rechtskämpfe in den Blick genommen werden, die überhaupt dazu geführt haben, dass Antidiskriminierungsrecht entwickelt worden ist (dazu A.). Daraus sind unterschiedliche Regelungsvarianten entstanden, die wiederum unterschiedliche Fragen aufwerfen (B.). Die Vor- und Nachteile eines bisher kategorial ansetzenden Antidiskriminierungsrechts, also der auf Unterschiede, Eigenschaften oder Merkmale abstellenden Normen, lassen sich dann in übergreifende Problemstellungen des Antidiskriminierungsrechts einordnen, von Homogenisierung und Essentialisierung über das Dilemma der Differenz, die Hierarchie der Ungleichheiten und die Intersektionalität oder Mehrdimensionalität von Antidiskriminierungsrecht bis zur anhaltenden Kontroverse um positive Fördermaßnahmen gegen Benachteiligung (C.). Das alles fundiert die Suche nach einer tatbestandlichen Fassung der Diskriminie- 6 rungsverbote, die nicht das Problem der Merkmale hat, Menschen zu kategorisieren, als Suche nach einem „postkategorialen Antidiskriminierungsrecht“ (D.). Wie wäre wirksames Recht gegen Diskriminierung zu fassen, das Menschen nicht anhand vermeintlicher essentieller oder gar natürlich-biologischer Eigenschaften in Gruppen teilt, aber das spezifische Unrecht benennt, gegen das Antidiskriminierungsrecht wirken soll? Ein Ausblick (E.) schließt den Beitrag ab.
3 In den Kontroversen um Identitätspolitik wird das nicht immer erkannt; an den Rändern der tradierten
Fächer entstandene Arbeiten zu heute viel breiter diskutierten Fragen werden nicht selten verschüttet.
4 Grundlegend zu Belästigung und sexueller Gewalt als Diskriminierung MacKinnon, Sexual Harassment
of Working Women, 1979.
5 Unter anderem Lorber, Man muss bei Gender ansetzen, um Gender zu demontieren, Zeitschrift für
Frauenforschung und Geschlechterstudien 22 (2004), S. 9; Hark, Dissidente Partizipation, 2005.
6 Vgl. Baer, Chancen und Risiken Positiver Maßnahmen: Grundprobleme des Antidiskriminierungs-
rechts, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Positive Maßnahmen, 2010, S. 23 ff. Susanne Baer
226
§ 5 Das Kategorienproblem
A. Rechtskämpfe 7 Recht gegen Diskriminierung wird häufig als junges Rechtsgebiet angesehen. Das trifft
zu, soweit damit die gesetzlich ausdrückliche und differenzierte, dogmatische und auch rechtswissenschaftliche Durchdringung gemeint ist. Allerdings darf nicht verkannt werden, dass die Grundlagen des Antidiskriminierungsrechts zu den Klassikern des modernen Grund- und Menschenrechtsschutzes gehören, aus denen speziellere Regelungen gegen Diskriminierung erst sukzessive entwickelt worden sind. 8 Als normative Grundlage von Antidiskriminierungsrecht gilt weithin das Recht auf Gleichheit. Jedenfalls die allgemeine Forderung nach „Gleichheit“ war Teil der französischen, amerikanischen und weiteren Proklamationen aufgeklärter Rechtsordnungen, und Gleichheit war und ist neben der Freiheit und dann auch der Menschenwürde ein Eckpunkt der Trias der Grund- und Menschenrechte, die dann in den Verfassungstexten und Menschenrechtspakten des 20. Jahrhunderts fixiert wurde. 9 Der historische Rückblick zeigt allerdings, dass die Rechtskämpfe im Hintergrund des Antidiskriminierungsrechts über ein allgemeines Gleichheitsversprechen und ein Recht allein auf formale und symmetrische Gleichbehandlung hinausreichen. Feministische Rechtskämpfe von Frauen zeigen, dass „Emanzipation“, die auffällig gerade keine Gleichheit, sondern die Freiheit betont, jedenfalls auf „Gleichheit ohne Angleichung“ (Ute Gerhard) zielte. In den feministischen Rechtskämpfen war auch von Anfang an umstritten, wie mit der „Differenz“ umzugehen sei, die als kleiner oder großer Unterschied im Geschlechterverhältnis vorausgesetzt wurde oder doch eher als sozial hergestellt verändert werden sollte.7 Ähnliches gilt für die sozialen und politischen Kämpfe gegen rassistisches Recht und für Recht gegen rassistische Diskriminierung. Besonders deutlich wird der Charakter emanzipatorischer Gleichheitsforderungen als Rufen nach materieller Gleichheit und asymmetrischer Gleichbehandlung zudem in den Rechtskämpfen gegen Behinderung im bzw. gegen die Diskriminierung von Behinderten durch Recht. 10 Nicht zu übersehen ist bei genauer Betrachtung der historischen Hintergründe von Antidiskriminierungsrecht zudem, dass die erkämpfte Gleichheit regelmäßig nicht alle Menschen umfasste, die im Geltungsbereich der neuen Normen lebten, sondern mit Ausgrenzung einherging. Der Gleichheit war und ist ganz häufig die Ungleichheit eingeschrieben. So fielen aus dem neuen Rechtsstatus der Bürger der Römischen Republik ebenso wie der „l’homme“ der französischen Aufklärung Menschen insbesondere aufgrund der sozialen Stellung, der Herkunft und Hautfarbe, des Geschlechts und des Alters heraus. Genauso muss auch heute systematisch gefragt werden, ob Antidiskriminierungsrecht als Recht auf Gleichbehandlung in sich die Ungleichbehandlung der anderen Anderen trägt. Ein weltweit etabliertes Beispiel dafür sind Gleichheitsrechte, die nur für eigene Staatsangehörige gelten. 7 Gerhard, Gleichheit ohne Angleichung, 1990; Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts,
1999; Wapler, Frauen in der Geschichte des Rechts, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2012, S. 33. Susanne Baer
A. Rechtskämpfe
227
Die immanente Ungleichheit im Gleichheitsrecht ist jedenfalls mit ein Grund dafür, 11 neben den Grund- und Menschenrechten spezielle Regelungen auch gegen die Diskriminierung zu schaffen, die sonst unhinterfragt bleibt. Ein Recht aller unabhängig von Eigenschaften, also „farbenblind“ oder „geschlechtsblind“ usw., taugte historisch nicht. Antidiskriminierungsrecht – oder darauf gerichtete Rechtspolitik – hat daher oft auf immanente Ungleichheiten der eben nicht ganz so aufgeklärten Rechtsgeschichte reagiert. In Deutschland zeigt das die Geschichte des Rechts gegen homophobe und heteronormative Benachteiligung, gemeinhin: Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung, die zwar in Deutschland eine grausame Geschichte auch vor 1945 hat, aber bis heute im Grundgesetz nach dem Willen politisch verantwortlicher Mehrheiten nicht benannt wird.8 Gewinnbringend wäre es damit, rechtsgeschichtlich zu wissen, worauf genau die 12 Rechtskämpfe der Emanzipationsbewegungen gerichtet waren. Positiv wurde und wird auf Gleichheit und Gleichbehandlung wie auch auf „Befreiung“ als Emanzipation, Selbstbestimmung oder „Barrierefreiheit“, auf die Anerkennung („Menschenwürde“?) als Rechtssubjekt („Mein Bauch gehört mir“) und „Bürger“ (mit „civil rights“) ohne „Ausgrenzung“, sondern „integriert“ oder als „divers“ akzeptiert Bezug genommen. Negativ speisen sich diese Forderungen aus bestimmten Unrechtserfahrungen, die als Ungleichheit, Hierarchie, Benachteiligung, Verletzung usw. beschrieben wurden und werden. Antidiskriminierungsrecht reagiert dann, je nachdem, auf Erfahrungen in Verhältnissen der Über- und Unterordnung, auf Nachteile, die aus einer sozialen Auf- und Abwertung entstehen, auf Verhältnisse der Dominanz,9 auf Hierarchie oder genauer noch: auf Hierarchisierung,10 in spezifischer Hinsicht. Die Geschichte der Rechtskämpfe lässt sich vielleicht aber auch so beschreiben, dass Regeln gegen Diskriminierung von Minderheiten gegen diejenigen Mehrheiten im politischen Sinne erstritten wurden, die von der Privilegierung profitierten, welche eine gesellschaftliche Normalität erzeugt, in der bestimmte Erfahrungen und Perspektiven als Regelfall gesetzt und andere als davon abweichend, als „anders“ abgewertet werden. Ständig fragt sich also, wie Regelungen des Antidiskriminierungsrechts das Unrecht, gegen das sie wirken sollen, angemessen adressieren können. Wie lässt sich das Spezifische benennen? Die juristische – rechtspolitische, legislative, rechtsprechende, rechtswissenschaftli- 13 che – Aufmerksamkeit für das Spezifische ist schließlich kontingent. Die Kategorien, auf die Antidiskriminierungsrecht ausdrücklich Bezug nimmt, unterscheiden sich über Zeit und Raum. Sowohl die rechtspolitischen Bewegungen wie auch die dann entscheidenden politischen Mehrheiten widmeten und widmen ihre Aufmerksamkeit unterschiedlichen Ungleichheiten. Darin liegt ganz offensichtlich keine ab und an in diffamierender Absicht behauptete Beliebigkeit oder gar Inflation der Gleichheitsrechte, sondern rechtsgeschichtliche Entwicklung. So zeigt sich die Kontingenz des Antidiskriminierungsrechts deutlich im Völkerrecht. Dort sind spezifische Unrechtserfahrungen aus historischen Gründen in 8 Baer, Gleichberechtigung revisited, NJW 2013, S. 3145 m. w. N. 9 Grundlegend dafür Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 1996; vgl. auch Rommelspa-
cher, Dominanzkultur, 1995.
10 Baer, Würde oder Gleichheit, 1995, S. 221 ff.
Susanne Baer
228
§ 5 Das Kategorienproblem
den großen, also allgemeineren Völkerrechtsdokumenten sukzessive Thema geworden: 1948 in der Menschenrechtserklärung11 (Art. 2), aber auch in der Völkermord-Konvention12 (Art. II), 1951 in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)13 (Art. 1 Abs. 2, Art. 3), 1966 im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR)14 (Art. 2 Abs. 1, Art. 3) und im Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR)15 (Art. 2 Abs. 2, Art. 3). Ausdrücklich wurde dann zuerst rassistische Diskriminierung mit der Konvention zur Beseitigung der Rassendiskriminierung (ICERD)16 1966 in den Vereinten Nationen zum juristisch anerkannten Unrecht, sexistische Diskriminierung mit der Konvention zu politischen Rechten der Frauen17 1953, der Konvention zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW)18 1979 und der Erklärung gegen Gewalt gegen Frauen19 1993. Glaubensdiskriminierung wurde in der Erklärung 1981 spezifisch adressiert20 und Teile der Altersdiskriminierung, soweit sie Kinder treffen, sind in der KinderrechteKonvention21 von 1989 Thema; Behinderung wurde 2006 völkerrechtlich adressiert22. 14 Ähnlich verhält es sich im deutschen Verfassungsrecht.23 Die Gleichberechtigung von Frauen wurde 1948 mühsam erkämpft und ihre Geltung als Grundrecht in Art. 117 Abs. 1 GG ausdrücklich verzögert,24 die Gleichberechtigung hinsichtlich der Behinderung erst 1994 in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verankert und das Diskriminierungsverbot wegen der sexuellen Orientierung trotz entsprechender Versuche 1993 und 2011 – anders als in einigen Landesverfassungen und in § 1 AGG sowie Gleichstellungsregelungen der Länder im Schulrecht oder zum öffentlichen Dienst – nicht im Grundgesetz verankert. 11 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, UN-Generalversammlung, Resolution 217 (III) v.
10.12.1948, UN Doc. A/RES/217(III) A. Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes v. 9.12.1948, BGBl. 1954 II, S. 729. Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge v. 28.7.1951, BGBl. 1953 II, S. 559. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1533. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1569. 16 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung v. 7.3.1966, BGBl. 1969 II, S. 961. 17 Übereinkommen über die politischen Rechte der Frau v. 31.3.1953, BGBl. 1969 II, S. 1929. 18 Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau v. 18.12.1979, BGBl. 1985 II, S. 647. 19 Erklärung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, UN-Generalversammlung, Resolution 48/104 v. 23.2.1994, UN Doc. A/RES/48/104. 20 Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Überzeugung, UN-Generalversammlung, Resolution 36/55 v. 25.11.1981, UN Doc. A/ RES/36/55. 21 Übereinkommen über die Rechte des Kindes v. 20.11.1989, BGBl. 1992 II, S. 121. 22 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen v. 13.12.2006, BGBl. 2008 II, S. 1419. 23 Die verzögerte Entwicklung lässt sich weltweit illustrieren. So gab es in den USA zunächst kein Grundrecht auf Gleichheit. Erst 1868 wurde der 14. Verfassungszusatz zur allgemeinen Gleichbehandlung ergänzt, noch später der 15. Verfassungszusatz zum Wahlrecht von Schwarzen und ehemals versklavten Menschen. 24 Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 2 Rn. 338 ff. m. w. N.; Sacksofsky, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Bd. I, 2. Aufl. 2005, Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 Rn. 287. 12 13 14 15
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B. Rechtslage: „Merkmale“ und „Gründe“
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Vergleichsweise aktuell ist daneben die Grundrechtecharta der Europäischen Union 15 aus dem Jahr 2000, in der sich allerdings auch eine gewisse Ungleichheit der Gleichheitsrechte zeigt (dazu sogleich); sie schlägt sich auch in den Gleichstellungsrichtlinien der EU nieder. Vor dem Hintergrund dieser historischen Entwicklungen ist jedenfalls davon auszugehen, dass Antidiskriminierungsrecht sich künftig nicht auf diejenigen Ungleichheiten beschränken wird, die derzeit benannt werden.
B. Rechtslage: „Merkmale“ und „Gründe“ Heute ist das Antidiskriminierungsrecht ein vielgestaltiges Rechtsgebiet. Einschlägige 16 Normen finden sich auf allen Ebenen der Regulierung, von innerorganisatorischen bis zu internationalen Regeln, sie finden sich in zahlreichen Rechtsgebieten, und sie arbeiten mit unterschiedlichen Modi, vom Verbot bis zu gestuft-flexiblen Förderregularien. Im Ausgangspunkt stützt sich Antidiskriminierungsrecht allerdings weithin auf ein Recht auf Gleichbehandlung, Gleichberechtigung oder eben gegen Diskriminierung, also auf einen Oberbegriff (I.). Andere Regeln gegen Diskriminierung zielen auf den Schutz bestimmter Minderheiten (II.). Sehr häufig finden sich daneben Listen benannter Ungleichheiten (III.), die teils abschließend und teils unabgeschlossen gefasst sind (IV.). Schließlich gibt es den Korpus der Schutz- und Förderrechte (V.). I. Ein Oberbegriff
Antidiskriminierungsrecht setzt regelmäßig mit der Benennung entweder der positiv ge- 17 fassten Zielvorstellung oder aber des negativ gefassten Unrechts ein, gegen die sich Normund Gesetzgeber, Verfassungsgeber in Bund und Ländern oder Staaten im Völkerrecht wenden. Auch wo derart differenzierte Regeln gegen Diskriminierung vorhanden sind, werden sie dann als Ausprägungen einer solchen grundlegenden Norm verstanden. Diese grundlegende Norm des Antidiskriminierungsrechts ist das Recht auf Gleichheit. 18 Sie wurde in der Französischen und Amerikanischen Revolution als natürliche Gleichheit aller „hommes“ oder „men“ statuiert und wird in modernen Rechtsstaaten weithin als Gleichheit vor dem Gesetz versprochen, wie heute in Deutschland nach Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 20 GRCh und Art. 14 Abs. 1 EMRK. Nicht nur waren mit der „allgemeinen“ Gleichheit regelmäßig entgegen der Begrifflichkeit nicht alle Menschen gemeint.25 Zudem variiert der Oberbegriff durchaus. Das Grund- und Menschenrecht auf Gleichheit bezieht sich manchmal – wie in Art. 14 19 EMRK – akzessorisch auf die grund- und menschenrechtlich garantierte Freiheit oder wird im Wege der Auslegung auf die Menschenwürde bezogen. Einige jüngere Entscheidungen der kanadischen und US-amerikanischen Höchstgerichte zeigen allerdings, dass damit nicht nur ein Anspruch auf Anerkennung als Gleiche verbunden wird, sondern die 25 Dazu oben Rn. 10 (A.).
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§ 5 Das Kategorienproblem
Verletzung eines solchen auch an die hohe Hürde der Missachtung der Menschenwürde gebunden wird.26 Stärker ist das Gleichheitsrecht, wenn es als eigenständig gilt. Dann muss der Schutz20 bereich eigenständig bestimmt werden; das wiederum zwingt dazu, das Ziel dieses Rechts – Gleichheit – oder das Unrecht – Ungleichheit, Diskriminierung – genauer zu greifen, auf oder gegen das sich Antidiskriminierungsrecht wendet. Positiv wird insoweit – wie in Art. 3 Abs. 2 GG – Gleichberechtigung, Gleichbehandlung oder Gleichstellung versprochen, oder negativ – wie in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG oder in § 1 AGG – Benachteiligung verboten. Antidiskriminierungsrecht kann, muss sich daneben aber nicht auf spezifische Benachteiligungen „aus Gründen“ oder „wegen“ einzelner „Merkmale“ beziehen, sondern kann auch ganz allgemein eine „unsachliche“, „unfaire“ oder „ungerechtfertigte“ Ungleichbehandlung verbieten. Das stellt tendenziell Weichen für eine Auslegung von Antidiskriminierungsrecht als eher formalem, symmetrischem Verbot jedweder Differenzierung ohne guten Grund. Dann wird eine formal deutungsoffene „Sachlichkeit“ entscheidend, die allerdings zu Mehrheitsdeutungen des Üblichen oder Normalen neigt. Sie ist traditionell genau da angesiedelt, wo „Unterschiede“ für die einen Privilegien und für die anderen Nachteile, also Diskriminierung schaffen.27 Deshalb wird die Benennung spezifischer Diskriminierungen als Fortschritt begriffen, auch wenn diese nicht nur vorteilhaft wirkt.28 Derartiges Antidiskriminierungsrecht sichert dann, dass alle „unabhängig von“ per21 sönlichen Unterschieden gleichermaßen Freiheiten in Anspruch nehmen können, soll also „blind“ sein gegenüber genau dem, was gesellschaftlich einen erfahrbaren Unterschied macht: Diskriminierung. Damit ist zumindest die Gefahr verbunden, genau die Erfahrungen auszublenden, die historisch dazu führten, Antidiskriminierungsrecht überhaupt zu normieren, als die materielle Benachteiligung und asymmetrische Hierarchie ungleicher Verhältnisse, denen Antidiskriminierungsrecht entgegentreten soll. Beschränkt sich Antidiskriminierungsrecht „neutral“ auf den Oberbegriff, kommt es zwar ohne jede problematische Kategorisierung aus, lässt sich aber nicht als postkategorial bezeichnen,29 soweit und weil dann meist schlicht unreflektiert bleibt, welche spezifischen Ungleichbehandlungen Diskriminierung ausmachen. II. Minderheitenrechte 22
Zum Antidiskriminierungsrecht lassen sich auch Regelungen zum Schutz von Minderheiten zählen. Sie sind stark völkerrechtlich geprägt, seit den Anfängen auf dem Wiener Kongress von 1815 bis zu den Bemühungen der Vereinten Nationen um den Schutz der indige26 Zum Problem m. w. N. zur kanadischen Rechtsprechung Baer, Dignity, Liberty, Equality, University of
Toronto Law Journal 4 (2009), S. 417.
27 Grundlegend MacKinnon, Gleichheit der Geschlechter, in: Appelt/Neyer (Hrsg.), Feministische Po-
litikwissenschaft, 1994, S. 37; siehe auch Maihofer, Gleichheit nur für Gleiche?, in: Gerhard u. a. (Hrsg.), Differenz und Gleichheit, 1990, S. 351. 28 Dazu unten Rn. 38 ff. (C.). 29 Dazu unten Rn. 75 (D.). Susanne Baer
B. Rechtslage: „Merkmale“ und „Gründe“
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nen Bevölkerung, von Teil IV des Kopenhagener Abschlussdokuments der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)30 von 1990 zur Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen31 von 1992.32 Minderheitenrechte unterscheiden sich strukturell von Diskriminierungsverboten im 23 engeren Sinne. Kennzeichnend ist für Minderheitenrechte insbesondere, dass sie nicht als individuelle Rechte gefasst werden, sondern ausdrücklich an Personenkollektive anknüpfen. Damit geht unter anderem das Problem einher, dass Minderheiten innerhalb der Minderheiten, die nicht definieren, was das Kollektiv ausmacht oder will, nicht vor Benachteiligung geschützt werden.33 In Deutschland werden solche Regelungen aufgrund des grundsätzlich individuellen Rechtsschutzes zudem als deutliche Ausnahme begriffen. Zudem sind Minderheitenrechte regelmäßig nicht gegen jede Form der Diskrimi- 24 nierung, sondern auf bestimmte Praktiken gerichtet. So garantiert Art. 6 LV Sachsen der sorbischen Minderheit die „Bewahrung ihrer Identität“, namentlich durch „Pflege und Entwicklung ihrer angestammten Sprache, Kultur und Überlieferung“ und Schutz des Siedlungsgebietes, was allerdings auch die Vernichtung ganzer Ortschaften zur Gewinnung von Bodenschätzen nicht verhindert.34 Daneben findet sich im schleswig-holsteinischen Wahlrecht eine – bundesverfassungsgerichtlich bestätigte – Regelung, mit der die Repräsentation der dänischen Minderheit im Parlament gesichert wird.35 Insofern lässt sich rechtlicher Minderheitenschutz durchaus als ein Modus des Antidiskriminierungsrechts verstehen, der allerdings nur bestimmte Kollektive nur partiell schützen bzw. fördern soll. III. Schutz- und Förderrechte
Im Antidiskriminierungsrecht finden sich auch jenseits der Minderheitenrechte im en- 25 geren Sinne Schutz- oder Fördernormen.36 Sie zeigen besonders deutlich, dass Antidiskriminierungsrecht unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen unterschiedlich oder auch nicht adressiert, also Ungleichheiten hierarchisiert. Ungleiche Regelungen gegen Ungleichheiten gibt es auch in der Grundrechtecharta der EU: Art. 23 GRCh widmet sich der 30 KSZE, Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der
KSZE v. 29.6.1990.
31 Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen v. 5.11.1992, BGBl. 1998 II, S. 1314. 32 Überblick beispielsweise in Pritchard, Der völkerrechtliche Minderheitenschutz, 2001 sowie auf http://
www.humanrights.ch/de/Menschenrechte-Themen/Minderheitenrechte/index.html.
33 Eisenberg/Spinner-Halev, Minorities within Minorities, 2005. 34 Das Verfassungsgericht Brandenburg entschied mit Urt. v. 18.6.1998, VfGBbg 27/97, dass der Min-
derheitenschutz der Sorben in Art. 25 Abs. 1 Satz 1 LV nur als Abwehrrecht gegen gezielte Eingriffe gegen das Sorbentum zu verstehen sei, weshalb eine sorbische Gemeinde – Horno – für den Braunkohlebergbau abgebaggert werden durfte. Damit privilegiert das Gericht die Perspektive der Mehrheit, im Unterschied zur heute anerkannten Dogmatik der mittelbaren – in diesem Sinne: unbeabsichtigten – Diskriminierung. 35 BVerfGE 1, 208 – 7,5 %-Sperrklausel (1952): Erhöhung der Sperrklausel im Wahlrecht verfassungswidrig, zum Schutz der dänischen Minderheit. Weiterhin umstritten ist, wo die Sperrklausel nicht gilt, vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.2.2005, 2 BvL 1/05 – Sperrklausel. 36 Ausführlich dazu → Schuler-Harms, § 16. Susanne Baer
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§ 5 Das Kategorienproblem
Gleichheit von Frauen und Männern mit einer Klarstellung zur Zulässigkeit „spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht“, Art. 24 GRCh sichert Rechte der Kinder, Art. 25 GRCh garantiert Rechte älterer Menschen, reagiert also auf Altersdiskriminierung, und Art. 26 GRCh widmet sich der Integration von Menschen mit Behinderung, aber eben je verschieden. Weitere Beispiele für besondere Schutzregeln, die auf Ungleichheitskategorien Bezug nehmen, finden sich im Völkerrecht. Dazu gehört die GFK von 1951 ebenso wie Teile der Menschenrechtspakte und Konventionen der Vereinten Nationen: Sie richten sich wiederum je verschieden 1945 gegen den Genozid, 1965 gegen Rassismus, 1979 gegen Sexismus gegen Frauen, 1989 gegen die Diskriminierung von Kindern und 2006 gegen die Ausgrenzung wegen beziehungsweise durch Behinderung. 26 Im deutschen Recht ist das ähnlich. Das Grundgesetz hebt die tatsächliche Gleichberechtigung hinsichtlich des Geschlechts in Art. 3 Abs. 2 GG hervor, um die Frauenförderung verfassungsrechtlich abzusichern.37 Zudem betont der im Antidiskriminierungsrecht oft übersehene Art. 6 Abs. 5 GG die Gleichheit von Kindern unabhängig vom Partnerschaftsstatus der Eltern. Die Gleichstellung von Frauen ist zudem Gegenstand der Gleichstellungsgesetze insbesondere für den öffentlichen Dienst; erst später wurden Gleichstellungsgesetze zur Integration von Behinderten verabschiedet, die schon länger bestehende, wenn auch meist anders ansetzende sozialrechtliche Regeln ergänzen. Weitergehend erlaubt § 5 AGG ausdrücklich positive Maßnahmen, um Diskriminierung zu verhindern oder auszugleichen, wenngleich das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)38 dann je unterschiedliche weite Spielräume setzt. 27 So werden insbesondere der Schutz und die Förderung bestimmter Glaubensrichtungen – als Religionsgemeinschaft im Kollektiv oder als einzelne Gläubige – weit gefasst, wenn auch nicht für alle. Das Staatskirchenrecht, mit dem auch Schutz- und Förderrechte der anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften in Deutschland geschaffen und geschützt werden, wird dabei selten als Teil des Antidiskriminierungsrechts begriffen, ist es aber in der Sache, wenn auch eben nicht für alle, die aufgrund ihres Glaubens Nachteile erfahren. Ob ein „Neutralitätsgesetz“, das sichtbare Bekenntnisse zu jedweder Religion verbietet, vor Diskriminierung schützt oder aber selbst diskriminiert, erscheint daneben zweifelhaft; es lässt in Deutschland die Mehrheitsgesellschaft unberührt, deren Glaube normalerweise nicht gezeigt wird und werden muss, anders als die Religion der „anderen“. Insofern muss im Antidiskriminierungsrecht systematisch die Frage gestellt werden, für wen und warum welche Schutz- und Förderrechte angemessen erscheinen und ob mit ihnen tatsächlich Diskriminierung verhindert wird und für wen oder auf wessen Kosten. 37 Die Diskussion wird dokumentiert in Limbach/Eckertz-Höfer (Hrsg.), Frauenrechte im Grundgesetz
des geeinten Deutschland, 1993. Es handelt sich auch um die Positivierung von Entwicklungen im Recht der EU (Art. 147 AEUV ) sowie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 97, 271 – Witwenrenten (1998); BVerfGE 89, 276 – Gleichberechtigungsgebot § 611a (1993); BVerfGE 85, 191 – Nachtarbeit (1992): „überkommene Rollenverteilung“ (Rn. 61). 38 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. Susanne Baer
B. Rechtslage: „Merkmale“ und „Gründe“
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IV. Suspekte Eigenschaften, Merkmale, Gründe
Die Rechtskämpfe von Menschen, die sich gegen Diskriminierung auch juristisch weh- 28 ren wollen, haben jenseits allgemeiner Gleichheitsversprechen und dem Schutz einzelner Minderheiten oder besonderer Schutz- und Förderrechte dazu geführt, dass Antidiskriminierungsrecht auf bestimmte Diskriminierungserfahrungen heute vielfach ausdrücklich reagiert. Antidiskriminierungsrecht bezieht sich dann, so wird dies dominant verstanden, auf bestimmte Ungleichheiten, indem es Eigenschaften von Menschen als „Merkmale“ benennt, an die Ungleichbehandlung nicht anknüpfen, anhand derer also nicht unterschieden oder differenziert werden darf. Antidiskriminierungsrecht ist als solches überhaupt erst zu einem Rechtskorpus geworden, seitdem ausdrücklich bestimmte Ungleichheiten benannt werden. Die Rechtskämpfe, denen es zu verdanken ist, dass derartige Rechte verankert worden 29 sind, unterscheiden sich; also unterscheiden sich auch die Tatbestände, auf die Antidiskriminierungsrecht Bezug nimmt. Was juristisch ausdrücklich als Diskriminierung adressiert wird, hängt unter anderem von den Mobilisierungschancen der Betroffenen und der sie Unterstützenden und von der gesellschaftlichen beziehungsweise politisch mehrheitsfähigen Anerkennung, Tabuisierung oder Verneinung einer Benachteiligung als Unrecht ab.39 Die Kämpfe um die juristische Anerkennung solcher Erfahrungen sind denn auch keineswegs immer erfolgreich. Das zeigt exemplarisch das in den USA seit Jahrzehnten scheiternde „Equal Rights Amendment“ gegen die geschlechtsbezogene Diskriminierung von Frauen, wo auch eine numerische Mehrheit kein Schutzrecht durchsetzt.40 Dafür gibt es jedoch noch weitere Beispiele. In Deutschland werden die Liste des Art. 3 Abs. 3 GG ebenso wie die Listen der meisten 30 Landesverfassungen oft als Fortentwicklung der Gleichheitsrechte der Weimarer Reichsverfassung und dann auch als historisch informierte Reaktion auf die diskriminierende Verfolgung und Ermordung im nationalsozialistischen Deutschland verstanden. Nicht allen fällt dann auf, dass Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben und religiöse oder politische Anschauungen nicht alle Verfolgungstatbestände des Nationalsozialismus benennen. Das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG umfasst – bis heute – nicht ausdrücklich die sexuelle Orientierung, wendet sich also nicht ausdrücklich gegen die Verfolgung von schwulen Männern, die im Nationalsozialismus praktiziert wurde und dann in Form strafrechtlicher Verbote und polizeilicher wie auch gesellschaftlicher Praxis in der Bundesrepublik noch länger anhielt als in der DDR, wo zwar der paradigmatische „§ 175“ (StGB) früher abgeschafft, aber ein § 151 StGB DDR dennoch diskriminierend eingesetzt wurde. Desgleichen ist die Diskriminierung aufgrund der Behinderung in Deutschland erst 1994 im Grundgesetz verboten worden, obwohl auch diese im NS-Deutschland oft grausame Realität war und nach 1945 keineswegs beseitigt 39 Vgl. Baer, Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2021, S. 226 ff. 40 Kretschmer/Mansbridge, The Equal Rights Amendment Campaign and Its Opponents, in: McCam-
mon u. a. (Hrsg.), The Oxford Handbook of US Women’s Social Movement Activism, 2017, S. 71; vgl. auch MacKinnon, Butterfly Politics, 2017, S. 295 ff. Susanne Baer
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§ 5 Das Kategorienproblem
worden ist. Die Liste der suspekten Eigenschaften ist also höchst kontingent, und nicht selten selbst problematisch. 31 In der Europäischen Union begann die Entwicklung des Antidiskriminierungsrechts mit der Aufmerksamkeit für die wettbewerbsverzerrende Ungleichbehandlung; der treibende Konflikt waren anfangs niedrige Löhne von Frauen, also geschlechtsspezifisches Lohndumping.41 Erst im Jahr 2000 wurden, auch in Reaktion auf rassistische Gewalt in Deutschland, sexuelle Orientierung, Behinderung, Alter, Glaube und Weltanschauung hinzugefügt, und dann in der Grundrechtecharta auch die genetischen Merkmale benannt. Das unterscheidet sich von Art. 13 EUV, wo genetische Merkmale oder die soziale Herkunft fehlen. Art. 21 Abs. 2 GRCh adressiert wiederum gesondert die Staatsangehörigkeit als Diskriminierungsgrund. 32 Wieder anders liest sich die Liste der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte (EMRK)42, die ausdrücklich auch Hautfarbe, Sprache, soziale Herkunft, die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, das Vermögen und die Geburt nennt. In anderen Ländern kommen dazu weitere Merkmale, wie der Geschlechtswandel und der Partnerschaftsstatus im UK Equality Act43 von 2010, oder in Art. 9 Abs. 3 der südafrikanischen Verfassung44 von 1996 die lange Liste von „race, gender, sex, pregnancy, marital status, ethnic or social origin, colour, sexual orientation, age, disability, religion, conscience, belief, culture, language and birth“. 33 Sind damit alle heute relevanten Ungleichheiten benannt? Diskutiert wird beispielsweise, ob der HIV-Status oder allgemeiner ein Gesundheitsstatus als Diskriminierungsgrund benannt werden sollten. Zudem wurde schon in den Beratungen zum Entwurf des Grundgesetzes und wird auch heute die Frage gestellt, ob und wie Armut als Ausgrenzungstatbestand in die Liste der Diskriminierungsgründe aufzunehmen sein sollte.45 In die Gegenrichtung zielt der Vorschlag, das Antidiskriminierungsrecht auf nur wenige zentrale Kategorien zu konzentrieren.46 V. Geschlossene und offene Listen 34
Antidiskriminierungsrecht unterschiedet sich also hinsichtlich der genannten Ungleichheiten und darüber hinaus auch hinsichtlich der Abgeschlossenheit oder Offenheit solcher Listen und damit in der Berücksichtigung nicht ausdrücklich benannter Diskriminierung. 41 Ausführlich Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021. 42 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.1950, BGBl. 1952 II, S. 686,
in der Fassung der Bekanntmachung v. 22.10.2010, BGBl. 2010 II, S. 1198; zuletzt geändert mit Wirkung zum 1.8.2021 (BGBl. 2021 II, S. 522) durch Protokoll Nr. 15 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 24.6.2013, BGBl. 2014 II, S. 1034. 43 United Kingdom, Equality Act 2010 (c. 15) v. 8.4.2010. 44 Constitution of the Republic of South Africa, Act No. 108 of 1996 v. 8.5.1996. 45 Vgl. unter anderem Fredman, Discrimination Law, 2. Aufl. 2011, S. 110 ff. 46 Schiek, Sex, Race and Disability, Journal of Diversity and Gender Studies 2 (2015), S. 51. Die Herausforderungen sind aus dem Flüchtlings- und Asylrecht bekannt, soweit die typischen Fluchtgründe von Frauen unter die allgemeinen Tatbestände subsumiert werden müssen. Susanne Baer
C. Vor- und Nachteile kategorialen Rechts
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Eine Regelungsvariante des Antidiskriminierungsrechts ist allerdings die abgeschlos- 35 sene Liste der Ungleichheiten, denen Recht ausdrücklich entgegentreten will. So operiert das deutsche Grundgesetz in Art. 3 Abs. 2 und 3 GG oder auch in Art. 33 Abs. 2 GG. Eine dort nicht benannte Diskriminierung muss dann unter das allgemeine Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG subsumiert werden. Diesen Weg ist das Bundesverfassungsgericht im Fall der Diskriminierung eingetragener Lebenspartner gegangen, als Benachteiligung aufgrund der sexuellen Orientierung, die damals die Eheschließung nicht ermöglichte.47 Häufig sind Regelungen gegen Diskriminierung jedoch als offene Liste von Merkmalen 36 gefasst. Das ermöglicht es, „neue“, aber strukturell gleiche Ungleichheiten zu adressieren. Ein auch für die deutsche Rechtspraxis wichtiges Beispiel dafür ist die EMRK von 1950 bzw. 2002. Sie garantiert in Art. 14 den „Genuss“ von Rechten und Freiheiten – mit dem 12. Zusatzprotokoll auch eigenständig – „ohne Diskriminierung“ und nennt Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politische oder sonstige Anschauung, nationale oder soziale Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Vermögen, Geburt oder einen „sonstigen Status“. Ähnlich offen gefasst ist die Liste in Art. 2 IPbpR, wo im Pakt garantierte Rechte allen Individuen ohne Unterschiede zustehen, wie auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Art. 2 einen Anspruch auf Rechte und Freiheiten ohne irgendeine Unterscheidung zuspricht. Offen ist zudem die Liste der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Im nationalen Verfassungsrecht haben die beiden Staaten, die sich ausdrücklich gegen 37 ihre Geschichte der Diskriminierung gewandt haben, in Art. 15 der kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten48 von 1982 und Art. 9 Abs. 3 der Verfassung des „neuen“ Südafrika nach der Apartheid ebenfalls offene Listen grundsätzlich verbotener Ungleichbehandlung geschaffen. Die Probleme, die mit der ausdrücklichen Bezugnahme auf „suspekte“ Merkmale der Ungleichbehandlung einhergehen, sind damit allerdings nicht gelöst.
C. Vor- und Nachteile kategorialen Rechts Die Begriffe, die das Antidiskriminierungsrecht derzeit verwendet, um spezifische Un- 38 gleichheiten zu adressieren, markieren, welche Diskriminierungserfahrung von verfassungs- oder gesetzgebenden Mehrheiten anerkannt und als Unrecht zurückgewiesen worden ist, denn sie sind erkämpft worden, um genau diese Diskriminierung zu bekämpfen. Insofern lässt sich jede Liste spezieller Diskriminierungsverbote als Erfolg verstehen. Doch gehen mit den Begriffen auch zahlreiche Probleme einher.49 Sie hängen damit zusammen, dass die Begriffe kategorial wirken (I.). Das fördert zumindest die Tendenz, sie als Benen47 BVerfGE 124, 199 – Lebenspartner in der Hinterbliebenenversorgung (2009). 48 Canadian Charter of Rights and Freedoms v. 17.4.1982, Teil 1 des Verfassungsgesetzes von 1982. 49 Dazu auch Liebscher/Naguib/Plümecke/Remus, Wege aus der Essentialismusfalle: Überlegungen zu
einem postkategorialen Antidiskriminierungsrecht, KJ 2012, S. 204; aus der dezidiert europäischen Perspektive gegen die voreilige Vermischung unterschiedlicher Theorietraditionen Soiland, Die Verhältnisse Susanne Baer
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§ 5 Das Kategorienproblem
nung von Gruppen wahrzunehmen (II.), was wiederum oft essentialisierende und insbesondere naturalistisch-biologistische Vorstellungen von bestimmten Eigenschaften aufruft, die Menschen gemeinsam sind und die sie wesentlich prägen (III.). Grundsätzlich entsteht hier das in der feministischen Rechtstheorie bekannte „Dilemma der Differenz“, denn die Begriffe des Antidiskriminierungsrechts reproduzieren genau die Stereotype, die wiederum Benachteiligung bewirken (IV.). Daneben zeigt sich, dass Antidiskriminierungsrecht Ungleichheiten keineswegs gleichrangig, sondern oft hierarchisch normiert (V.). Die Listen im Antidiskriminierungsrecht erschweren es darüber hinaus zumindest, die Verflochtenheit unterschiedlicher Diskriminierungserfahrungen zu verstehen, also Intersektionalität oder Mehrdimensionalität angemessen zu berücksichtigen (VI.). Letztlich bleibt damit ein mit zahlreichen Schwierigkeiten verbundener Vorteil, dass ausdrückliche Nennung auch Anerkennung bedeutet und Schutz vermitteln kann (VII.). I. Das Kategorisierungsproblem 39 Der größte Teil des heutigen Antidiskriminierungsrechts wendet sich gegen Diskrimi-
nierung (Art. 10 AEUV, Art. 21 GRCh), Benachteiligung oder Bevorzugung (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG) oder nur Benachteiligung (§ 1 AGG), oder gegen unmittelbare und mittelbare Diskriminierung (Art. 2 RL 2000/78/EG) und Belästigung (Art. 2 RL 2006/54/EG), jeweils aufgrund bestimmter „Merkmale“. Was jeweils genau gemeint ist, wenn im Antidiskriminierungsrecht von „Geschlecht“, „Rasse“, „Religion“, „Behinderung“, „Alter“ usw. die Rede ist, lässt sich durchaus unterschiedlich verstehen. Die Begriffe sind mit Art. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 kanonisch geworden und werden in Rechtsetzungsdebatten meist nicht als solche in Frage gestellt. Das hat sich erst in jüngerer Zeit für die Begriffe „Rasse“ und „Behinderung“ geändert,50 auch wenn beispielsweise das „Geschlecht“ seit langem oder das „Alter“ spätestens mit der Alternsforschung51 kritisch reflektiert wird. 40 Zunächst lässt sich jedoch davon ausgehen, dass die im Antidiskriminierungsrecht ausdrücklich benannten Merkmale in aller Regel als Rekurs auf persönliche Eigenschaften gerade insofern unterschiedlicher Menschen verstanden werden. Das dürfte auch für die juristische Praxis prägend sein, weil und wenn davon ausgegangen wird, ohne spezielles Wissen, kritische Reflexion oder Kompetenz zu verstehen, was „Geschlecht“, „Rasse“ etc. bedeuten.52 Vielmehr sind es Sammelbegriffe, die Gesellschaft ordnen. Die Kognitionsgingen und die Kategorien kamen, querelles-net 26 (2008) mit soziologischen Kommentaren von Knapp, Pühl und Vinz. 50 Cremer, „… und welcher Rasse gehören Sie an?“, Deutsches Institut für Menschenrechte, Policy Paper No. 10, 2. Aufl. 2009; zu dem Begriff „Behinderung“ ausführlich → Degener, § 15 Rn. 17. 51 Baer, Demografischer Wandel und Generationengerechtigkeit, VVDStRL 68 (2009), S. 290 m. w. N. 52 Zu Vorurteilen Baer (Fn. 39), S. 241 ff.; Baer, Juristische Biopolitik: Das Wissensproblem im Recht am Beispiel „des“ demografischen Wandels, in: Cottier/Estermann/Wrase (Hrsg.), Wie wirkt Recht?, 2010, S. 181. Ein Sonderfall ist Religion oder Glaube, wo allerdings das Neutralitätsgebot Zurückhaltung auferlegt, was juristisch als solcher anerkannt werden darf. Ein weiterer Sonderfall ist Behinderung, wo lange eine medizinisch-pathologische Expertise als entscheidend angesehen wurde, zunehmend aber – mit dem Susanne Baer
C. Vor- und Nachteile kategorialen Rechts
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wissenschaft53 geht entsprechend davon aus, dass kategoriales Denken als Orientierung in solchen Sammelbegriffen funktioniert; Kategorisierung ist danach die intuitive Praxis, sich zur Orientierung in der Welt auf kulturell verfestigte Wissensspeicher zu beziehen. Menschen werden spontan stereotyp wahrgenommen und sortiert, was Erwartungen und Wertungen und auch Handlungen steuert.54 Kategorien sind schon deshalb „Schwachstellen“55 des Antidiskriminierungsrechts oder sogar „fiese Biester“56. Diese Stereotype operieren mit tatsächlich so nicht vorhandenen, aber funktional ent- 41 scheidenden trennscharfen Unterscheidungen. Sie abstrahieren von der immer mehrschichtigen, sich je nach Situation und Interaktion ständig verändernden Persönlichkeit. Zugleich reduzieren Stereotype als Gruppenbezeichnungen Menschen auf bestimmte Essentialia, die sie allein oder jedenfalls wesentlich ausmachen sollen, und werden auch deshalb der jeweiligen Individualität nie gerecht. Kein Mensch ist nur Mann oder alt oder Buddhistin usw. Als Allgemeinbegriffe wirken die Merkmale zudem ordnend, denn als Sozialkategorien sollen sie eine Menge von Menschen mit identischen persönlichen Eigenschaften bezeichnen. Wenn das Antidiskriminierungsrecht auf Merkmale abstellt, bedient es also die menschliche Neigung, derartige Sozialkategorien zu nutzen, operiert mit stark verfestigten Alltagsvorstellungen über Eigenschaften, Werthaltungen und Verhaltensweisen der Angehörigen der jeweiligen Gruppe und orientiert Wahrnehmung maßgeblich auf Stereotype.57 Die Annahme einer wesentlichen Unterschiedlichkeit zwischen Menschen, die mit den 42 Begriffen des Antidiskriminierungsrechts einhergeht, ist daher seit langem Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung mit Kategorien in den Frauen- und Geschlechterstudien beziehungsweise Gender Studies, in den Behinderten- bzw. Enthinderungs- bzw. Dis/Ability Studies, in den Critical Race Studies und anti- oder postkolonialen Perspektiven.58 Das Kategorienproblem ist im Ausgangspunkt auch kein Problem allein des Antidiskriminierungsrechts. Begriffe werden der Wirklichkeit in einem anspruchsvollen Sinne nie gerecht. Endlos unterschiedliche, wechselnde und immer neu interpretierte Erfahrung lässt sich nicht in einen Tatbestand fassen. Jeder Normierung wohnt ein ontologisierender Überschuss inne.59 Doch ist die stereotype Bewertung von Menschen durch den Bezug auf eine Paradigmenwechsel durch die UN-BRK – ein soziales Verständnis zugrunde gelegt wird, das letztlich das Wissen der Betroffenen präferieren müsste. 53 Ebert/Steffens, Explizite und implizite geschlechterbezogene Kognitionen heute, GENDER 5 (2013), S. 26; siehe auch Pendry, Sozialpsychologie, 2014, S. 107–140. 54 In der Forschung bestätigt sich das immer wieder. Dabei funktionieren unterschiedliche Stereotype unterschiedlich. Die Orientierung an Mann/Frau als Geschlechterordnung erscheint dominant, diejenige an der Hautfarbe ebenfalls gängig, aber sehr unterschiedlich im Detail. 55 Hartmann, Diskriminierung durch Antidiskriminierungsrecht?, EuZA 2019, S. 24; siehe auch Iyer, Categorical Denials, Queen’s Law Journal 19 (1993), S. 179. 56 Pohlen, Kategorien, die fiesen Biester, in: Jakob/Köbsell/Wollrad (Hrsg.), Gendering Disability, 2010, S. 95. 57 Baer, Rechte und Regulierung, Das Problem des Gruppismus für die Grund- und Menschenrechte, in: Dennerlein/Frietsch/Steffen (Hrsg.), Verschleierter Orient – entschleierter Okzident?, 2012, S. 23 (41). 58 Lehrreich die Diskussion bei Soiland (Fn. 49); zu frühen Kritiken an Kategorien z. B. Iyer (Fn. 55), S. 181. 59 Ausgangspunkt für MacKinnon, Toward a Feminist Theory of the State, 1991, S. 1 ff. Susanne Baer
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§ 5 Das Kategorienproblem
Kategorie im Antidiskriminierungsrecht juristisch sogar entscheidend und bringt daher spezifische Probleme mit sich.60 II. Das Gruppismus-Problem
Ein solches Problem des Antidiskriminierungsrechts, das auf bestimmte Ungleichheiten im Sinne von Merkmalen abhebt, ist die Homogenisierung. Sie wohnt allen Sozialkategorien inne, die Menschen in Gruppen fassen. So heißt es in der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zu § 5 AGG, man wolle „gezielte Maßnahmen zur Förderung bisher benachteiligter Gruppen“ ermöglichen.61 Rechtspolitische Angriffe auf Antidiskriminierungsrecht argumentieren nicht selten, Antidiskriminierungsrecht beinhalte eine nicht zu rechtfertigende Privilegierung von Gruppen, und rechtspolitische Forderungen nach Antidiskriminierungsrecht werden als Lobbyinteressen einzelner Gruppen abgewertet.62 Vereinzelt haben Gerichte auch Ansprüche auf Schutz vor Diskriminierung zurückgewiesen, weil keine Gruppe erkennbar war, die diesen Schutz verdiene, wie beispielsweise im Fall der Benachteiligung als „Ossi“ oder mangels gewünschter „Muttersprache“ oder der Hetze gegen Menschen aus der „Dritten Welt“.63 44 Tatsächlich orientiert sich die zentrale gesetzliche Regelung des AGG jedoch nicht an sozialen Gruppen. In § 9 AGG erhalten Religionsgemeinschaften besondere Rechte und in § 23 AGG wird Antidiskriminierungsverbänden ermöglicht, benachteiligte Personen zu unterstützen, doch stellen die Benachteiligungsverbote auf Einzelpersonen ab. Der Bezug auf Gruppen ist dem deutschen Recht auch sonst, mit Ausnahme der Schutzrechte für anerkannte Minderheiten, fremd.64 Dennoch geht mit den Merkmalsbegriffen des Antidiskriminierungsrechts das Problem einher, Wahrnehmung auf Gruppen zu orientieren. Es klingt in Pluralformulierungen wie „Frauen“ und „Männer“ in Art. 3 Abs. 2 GG an65 und liegt eben kognitiv aufgrund der damit angebotenen Kategorisierung von Menschen nahe. 45 Der aufgrund der Merkmalsbegriffe unterstellte Bezug des Antidiskriminierungsrechts auf Gruppen ist gerade im Antidiskriminierungsrecht problematisch. Der Soziologe Brubaker hat eine der zentralen, destruktiven Dynamiken des Nationalismus als „Gruppismus“ beschrieben, weil Personen einerseits darauf eingeschworen werden, ihre Identität in 43
60 Kategorien im philosophischen Sinne dienen seit der Antike der Ordnung des Seienden; die – ganz
andere – Kategorienlehre Kants soll das Denken und Urteilen überhaupt erst ermöglichen, was die Psychologie intensiv beschäftigt. 61 Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung, BT-Drs. 16/1780, S. 34. 62 Prominent im Rechtspopulismus ist die These der „Gender-Verschwörung“, die unter anderem gegen die Wissenschaftsförderung der Gender Forschung benutzt wird. Kritisch dazu schon Hark/Villa, AntiGenderismus, 2. Aufl. 2015; siehe auch Sauer, Anti-feministische Mobilisierung in Europa, Kampf um eine neue politische Hegemonie?, Zf VP 3 (2019), S. 339. 63 Zu den Beispielen Liebscher/Naguib/Plümecke/Remus (Fn. 49), S. 208 f. m. w. N. 64 Anders ist dies beispielsweise im kanadischen Verfassungsrecht in Sec. 14 der Charter of Rights and Freedoms. 65 So etwa in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 Abs. 2 GG, siehe z. B. BVerfGE 85, 191 – Nachtarbeit (1992), unter Bezug auf die Gruppe in Rn. 63. Siehe auch Sacksofsky (Fn. 9). Susanne Baer
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erster Linie an die Zugehörigkeit in einem sozialen Netzwerk zu binden, und andererseits insbesondere ethnopolitische Konflikte entlang dieser „Identitäten“ als angeblich feststehenden Einheiten inszeniert werden. Gruppismus ist insofern auch eine Technik des „trenne und beherrsche“ (divide et impera). Brubaker plädiert deshalb dafür, Gruppismus zwar zu untersuchen, aber die Existenz von Gruppen nicht vorauszusetzen.66 Entsprechend zeigen kritische Analysen identitätspolitischer Bewegungen, wie problematisch eine soziale Formation ist, die allein auf einzelne verbindende Eigenschaften setzt, da sie von Ab- und Ausgrenzung lebt, die dann auch die „Minderheiten innerhalb der Minderheiten“ trifft.67 Das gilt rechtsgeschichtlich bereits für die Menschenrechte, die als emanzipatorischer Fortschritt gefeiert werden, aber nicht alle Menschen als Rechtssubjekte anerkannten. Doch ist das nicht nur ein Problem dominanter oder hegenominaler Politik. Daher diskutieren beispielsweise Frauenbewegungen seit langem, ob es überhaupt ein „wir“ gibt, das als politisches Subjekt feministischer Politik fungieren kann, da „die Frauen“ einer Frauenbewegung oftmals nur bestimmte, teils wiederum entlang weiterer Sozialkategorien definierte Frauen – nur weiße, junge, gebildete, heterosexuelle, kinderlose usw. – meinte, so wie andere Bewegungen gegen Diskriminierung mit der reflexiven Frage konfrontiert sind, wen sie selbst einbeziehen oder ausgrenzen.68 Das Kategorienproblem ist also (rechts-) politisch auch ein Mobilisierungsproblem, da es eine Politikfähigkeit unterstellt, die so in aller Regel nicht vorhanden ist. Die These, politische Forderungen nach Gleichberechtigung und Vielfalt seien Ausdruck von Identitätspolitik, ignoriert das meist. Ein Problem juristischer Kategorien, die Tatbestände des Antidiskriminierungsrechts 46 als Sammelbegriffe prägen, liegt also darin, dass Menschen als scheinbar homogene Einheit in einer Gruppe markiert werden. Ein Faktor, der Persönlichkeit durchaus prägen kann, wird hier als allein entscheidende Gemeinsamkeit interpretiert. Die Zusammenfassung von Menschen in eine Gruppe hebt nur einen Aspekt ihres Lebens als Kern ihrer Identität hervor; das Antidiskriminierungsrecht fixiert diesen auch noch normativ. Damit werden Menschen auf diesen Aspekt reduziert, obwohl sie mit Anderen das Eine, aber nie alles gemeinsam haben, und das Eine auch immer je anders erleben. Diese problematische „Homogenisierung“ tut allen Angehörigen der Gruppe unrecht, 47 die so homogen nicht sind. Zudem wird der eine Faktor als angeblich ein Leben oder eine Identität entscheidendes Merkmal entweder von außen zugeschrieben – wie in der kolonialen Praxis der Rassifizierung, den Regeln des Antisemitismus oder auch der dominant medizinischen Definition von Transsexualität – oder das Merkmal wird von denjenigen 66 Vgl. Brubaker, Ethnizität ohne Gruppen, 2007. Zur juristischen Frage Baer, Der problematische Hang
zum Kollektiv und ein Versuch, postkategorial zu denken, in: Jähnert u. a. (Hrsg.), Kollektivität nach der Subjektkritik, 2013, S. 47 ff. 67 Sie sind seit langem Gegenstand der Gender Studies. Die Formel geht zurück auf Eisenberg/SpinnerHalev (Fn. 33). Siehe auch Hark (Fn. 5). 68 In den westdeutschen Frauenbewegungen entzündeten sich daher Kontroversen am „Müttermanifest“ oder der Kritik der „Krüppelfrauen“ oder auch an der Ausgrenzung Schwarzer und migrantischer Frauen unter anderem in der Verfassungsdiskussion um 1990. Vergleichbare Kontroversen finden sich um „gay rights“ zwischen Schwulen und Lesben sowie um alle Kombinationen der LGBTIQ* oder in Debatten um Rassismus und Critical Whiteness entlang der Frage, wer in Deutschland „schwarz“ oder „weiß“ ist. Susanne Baer
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§ 5 Das Kategorienproblem
definiert und als verbindendes Element einer Identität betont, die in einem sozialen Zusammenhang das Sagen haben. Damit begünstigen solche gruppenbezogenen Merkmale Repräsentationspolitiken, in denen „Führer“ für andere sprechen, mit denen regelmäßig selbst nicht gesprochen wird.69 Die „Minderheiten innerhalb der Minderheiten“70 bleiben dann doppelt außen vor: Sie werden als Angehörige der großen Gruppe diskriminiert, wovor sie Antidiskriminierungsrecht schützen soll, und innerhalb der Gruppe, die sie sonst verraten. Wie problematisch das ist, zeigt das Recht der Religionsgemeinschaften ebenso wie die Rechtsregime kultureller Minderheiten.71 48 Die Homogenisierung in Gruppenbegriffen operiert noch darüber hinaus spezifisch ausgrenzend. Sie markiert regelmäßig nur „die Anderen“ und immunisiert eine normale Mehrheit vor einer homogenisierenden Zuschreibung zumindest im Ausgangspunkt. So markiert das Antidiskriminierungsrecht mit den Begriffen „Rasse“, „Geschlecht“, „Glaube“, „Alter“ usw. in aller Regel die „anderen“, beteiligt sich aber wenn auch aus guten, gleichstellungsorientierten Gründen an einem „othering“, also der imperialen Kennzeichnung von Menschen oder Phänomen als grundlegend „anders“.72 Zumindest die rechtspolitische und auch rechtswissenschaftliche Wahrnehmung lässt dann ein allgemeines, normales, nicht benachteiligtes „wir“ unmarkiert. So wird „Geschlecht“ als Begriff des Antidiskriminierungsrechts weithin mit Frauen assoziiert und „sexuelle Orientierung“ nur mit Homosexuellen, „Rasse“ nur mit nicht-Weißen, „Alter“ nur mit sehr alten Personen usw. So werden meist nur Menschen rassialisiert,73 die nicht als weiß gelten, und „sexuelle Identität“ regelmäßig nur denen attestiert, die nicht heterosexuell und damit anders leben als die „normale“ Mehrheit. Üblich ist es auch immer noch, Weiblichkeit als Ausnahme von der männlichen Regel zu beschreiben („yy Professoren, davon xx Frauen“), also ein „Geschlecht“ nur bei Frauen zu thematisieren, womit hegemoniale Vorstellungen von Männlichkeit ungenannt und unhinterfragt bleiben.74 Die Mehrheitsgesellschaft des normalen sozialen Miteinanders beschreibt damit im Antidiskriminierungsrecht die Ausnahmen von der Regel für diejenigen, die ausgegrenzt werden. 49 Die Tendenz, mit den Merkmalen des Antidiskriminierungsrechts immer nur „die Anderen“ zu bezeichnen, hat erhebliche Folgen. Im Antidiskriminierungsrecht wirkt es sich ganz praktisch insbesondere auf die Darlegungs- und Beweislast und die Beweismittel und auf die Rechtsfolgen sowie auf das Verständnis gleichstellungsfördernder Maßnahmen 69 Das diskutiert unter anderem Phillips, Multiculturalism without Culture, 2007. 70 Eisenberg/Spinner-Halev (Fn. 33). 71 MacKinnon, Feminism Unmodified, 1987, S. 63 ff. zu US Supreme Court, Santa Clara Pueblo v. Mar-
tinez, 436 U. S. 49 (1978); zum Problem der Repräsentation des Islams in der deutschen Politik Baer (Fn. 66), S. 52. 72 Das Konzept des „othering“ ist in der Postkolonialen Kritik ausgearbeitet worden (unter anderem von Edward Said in seiner Arbeit zum „Orientalismus“ und von Guayatri Spivak für koloniale Geschlechterverhältnisse; kanonisch auf Deutsch Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, 2007) und wird heute in der machttheoretischen Analyse von unterschiedlichen und miteinander verflochtenen Ungleichheitsverhältnissen benutzt. 73 Zum Begriff und Konzept ausführlich Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021. 74 Zu hegemonialer Männlichkeit Connell, Masculinities, 2005. Susanne Baer
C. Vor- und Nachteile kategorialen Rechts
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(als Ausnahme? als Regel wie in Art. 157 Abs. 4 AEUV?) aus. Besonders schwierig wird es, wenn Antidiskriminierungsrecht einzelne Merkmale doppelt benutzt, also daran Privilegien und Diskriminierungsschutz knüpft. So erlaubt das AGG hinsichtlich des Glaubens in § 9 Differenzierungen bei Maßnahmen der Religionsgemeinschaften, wenn dies „eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt“, und zwar für „eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses […] im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit“ (§ 9 Abs. 1), oder aber, wenn Loyalität im Sinne des Selbstverständnisses verlangt wird (§ 9 Abs. 2). Hier dürfen Religionsgemeinschaften – aber nur diese, nicht Weltanschauungsgemeinschaften – also die eigenen Leute fördern. Bedeutet das aber auch, andere ausgrenzen dürfen, also diejenigen, die den Glauben teilen,75 aber hinsichtlich eines anderen Merkmals nicht passen, wie beispielsweise geschiedene Männer76 oder Frauen oder Homosexuelle? Hier zeigt sich das Problem des Gruppismus, wenn die Rechte des Kollektivs dazu dienen, die Rechte des (gläubigen) Individuums, selbstbestimmt zu leben, zu verletzen. Das gilt allerdings auch umgekehrt: Wenn die Begriffe des Antidiskriminierungsrechts 50 so verstanden werden, als markierten sie nur eine Eigenschaft der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, verfehlen auch positive Fördermaßnahmen regelmäßig ihr Ziel. Ohne ein vertieftes Verständnis dafür, was eine Benachteiligung aufgrund eines Merkmals konkret ausmacht, führt der schlichte Bezug auf die scheinbar homogene Gruppe dazu, dass genau diejenigen gefördert werden, die am wenigsten unter Diskriminierung zu leiden haben. Beispielsweise scheint die gesetzlich vielfach vorgegebene Frauenförderung im öffentlichen Dienst, wenn sie überhaupt zur Anwendung kommt, insbesondere Frauen zu erfassen, die den Mehrheitsnormen weitgehend entsprechen, nicht aber diejenigen, die allzu „anders“ sind. Das zeigt sich auch, wenn Menschen sich auf der Grundlage der im Antidiskriminierungsrecht benutzten Begriff gegen Benachteiligung wehren wollen, die gemeinhin nicht unter den Gruppenbegriff gefasst wird, wie die Herkunft aus den neuen Bundesländern als vor Gericht nicht als solche anerkannte ethnische Herkunft.77 Das gilt erst recht, wenn Menschen nicht nur Teil der einen Gruppe sind, sondern gleichzeitig aufgrund weiterer Merkmale benachteiligt werden.78
75 Die Privilegierung religiöser Gemeinschaften soll so weit reichen, dass auch die Frage, wie weit sie
reicht, von diesen selbst zu entscheiden sein soll. Daran entzündet sich der Streit um ein europäisches Urteil zum kirchennahen Arbeitsrecht, vgl. EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger; dazu → Walter/Tremml, § 8 Rn. 44 ff. 76 Siehe BVerfGE 70, 138 – Loyalitätspflicht (1985); BVerfGE 137, 273 – Katholischer Chefarzt (2014); BAG, Urt. v. 8.9.2011, 2 AZR 543/10; BAG, Urt. v. 28.7.2016, 2 AZR 746/14; BAG, Urt. v. 20.2.2019, 2 AZR 746/14; EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-68/17, IR/JQ; daneben EGMR, Urt. v. 3.2.2011, BeschwerdeNr. 18136/02, Siebenhaar v. Deutschland. 77 Vgl. ArbG Stuttgart, Urt. v. 15.4.2010, 17 Ca 8907/09: Entscheidung über eine mit der Bemerkung „Ossi“ zurückgewiesene Bewerbung; ArbG Berlin, Urt. v. 15.8.2019, 44 Ca 8580/18: Mobbing als Ostdeutscher. 78 Zu Intersektionalität unten Rn. 68 ff. (C. VI.). Susanne Baer
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§ 5 Das Kategorienproblem
III. Das Essentialisierungsproblem
Ein weiteres, eng mit der Homogenisierung und dem Bezug auf Gruppen zusammenhängendes Problem der Merkmale im Antidiskriminierungsrecht ist die durch den einen Begriff erzeugte spezifische Verallgemeinerung unter Bezug auf eine essentielle, meist als naturgegeben verstandene biologische Eigenschaft von Menschen. Mit der „Essentialisierung“ wird häufig biologistisch suggeriert, es gebe eine „natürliche“ soziale Lage, also wird eine „Naturalisierung“ der Merkmale des Antidiskriminierungsrechts vorgenommen. Ebenso problematisiert wie umstritten ist das heute bei der Verwendung des Begriffs „Rasse“, doch stellt sich das Problem bei genauer Betrachtung auch bei weiteren Merkmalsbegriffen des Antidiskriminierungsrechts. 52 Im Antidiskriminierungsrecht nach wie vor gängig, aber auch juristisch problematisiert ist der Begriff der „Rasse“. Die Wortwahl in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG und auch in § 1 AGG suggeriert – ebenso wie Art. 14 EMRK oder Art. 21 GRCh – als Teil einer Liste, es handele sich bei „Rasse“ um ein Merkmal von Menschen. Das bedient naturalisierende „Rassenlehren“, die Phänotypen mit sozialen Eigenschaften, intellektuellen Fähigkeiten, Neigungen usw. verbinden und so letztlich koloniale Verhältnisse der Über- und Unterordnung zu legitimieren suchen.79 Die Bezugnahme auf „Rassen“ als derartige Unterscheidung zwischen Menschen gilt deshalb heute als Kern des Rassismus selbst. Das wird zwar heute völkerrechtlich – mit der Erklärung von Durban80 – und europarechtlich – in den Erwägungsgründen zur RL 2000/43/EG81 – ebenso betont wie in den meisten fachwissenschaftlichen Interpretationen dieser Normen. Doch hat die Normsetzung darauf bislang nicht reagiert. Soweit sich Antidiskriminierungsrecht auf „das Geschlecht“ bezieht, wird zudem weit53 hin davon ausgegangen, dabei handele es sich eben um eine natürliche Eigenschaft von Menschen, die eine klare Unterscheidung zwischen Männern und Frauen markiere. Auch der Sexismus lebt von der These, es gebe eine natürliche zweigeschlechtliche Ordnung, die dann patriarchal in „verschiedenen“ Rollen, Sphären usw. hierarchisch gefasst wird. Tatsächlich lässt sich das Geschlecht jedoch als biologischer „Unterschied“ nicht beschreiben, da – in der derzeitigen Deutung in Medizin und Naturwissenschaften – tatsächlich eine Skala variabler Kombinationen von Geschlechtsspezifika zu beobachten ist,82 einschließlich der Intersexuellen, die beiden Geschlechtern (beziehungsweise keinem Geschlecht) zuzurechnen sind,83 und Geschlechtsidentität sehr unterschiedlich gelebt wird. Die Bezugnahme auf „das Geschlecht“ ist daher genau genommen ebenfalls problematisch. Sie wird 51
79 Aus rechtswissenschaftlicher Sicht Haney López, White By Law, 2006. 80 World Conference against Racism, The Durban Declaration and Programme of Action, 2009. 81 Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unter-
schied der Rasse oder der ethnischen Herkunft v. 29.6.2000, ABl. 2000 L 180/22, Erwägungsgrund (6): „Die Europäische Union weist Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, zurück. Die Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ in dieser Richtlinie impliziert nicht die Akzeptanz solcher Theorien.“ 82 Dagegen schon früh de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 1951; dann Honegger, Die Ordnung der Geschlechter, 1996; medizinhistorisch Laqueur, Auf den Leib geschrieben, 1996. 83 Unter anderem Lang, Intersexualität – Menschen zwischen den Geschlechtern, 2006; Polymorph (Hrsg.), Kein Geschlecht oder viele?, 2002 und Greif, Doing Trans/Gender: Rechtliche Dimensionen, Susanne Baer
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auch deshalb in der einschlägigen Forschung ebenso wie in der Gleichstellungspolitik oder in kulturellen Praxen durch den englischen Begriff Gender ersetzt, der anfangs die soziale Dimension des Geschlechts bezeichnete, heute aber die Vielschichtigkeit der Geschlechterverhältnisse und -identitäten in der Verflechtung biologischer und sozialer Faktoren abzubilden sucht. Der diffamierende Widerstand gegen diesen Begriff als „Gender-Wahn“, „Gender-Verschwörung“ etc. lässt sich insofern auch als Plädoyer für genau die Diskriminierung verstehen, die essentialistisch-naturalistische Normalvorstellungen der zwei Geschlechter durchzusetzen sucht. Das Problem der Essentialisierung insbesondere durch Naturalisierung stellt sich auch 54 darüber hinaus. So wurde „sexuelle Orientierung“ oder „sexuelle Identität“ lange auch in Europa als Abnormalität oder Krankheit pathologisiert und wird auch heute – beispielsweise in der erstaunlich prominenten Zwillingsforschung, aber auch in dem Bestreben, dann als diskriminierte Gruppe mit unveränderlichen Eigenschaften zu gelten – naturalisiert. Desgleichen findet sich die Tendenz zur Naturalisierung beim Alter, obwohl die Alternsforschung zeigt, wie unterschiedlich sich Lebenszeit auf Menschen auswirkt.84 Es gibt nicht Alte und Junge oder natürliche Altersgruppen, sondern Menschen unterschiedlichen biologischen, aber auch unterschiedlich erlebten und gelebten Lebensalters. Schließlich lässt sich am Begriff der Behinderung gut erkennen, wie problematisch Naturalisierungen sind: Traditionell wurden so im medizinischen Modell „die Behinderten“ pathologisiert; hingegen setzt das soziale Modell darauf, Menschen unterschiedlicher Befähigung vor der Behinderung durch „normale“ Barrieren zu schützen. Diese Tendenz, auf Sozialkategorien abhebende Merkmale des Antidiskriminierungs- 55 rechts als biologische oder natürliche Essenz von Menschen zu begreifen, hat sich im Verfassungsrecht auch dogmatisch niedergeschlagen. So soll für den Diskriminierungsschutz entscheidend sein, dass die in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale „unveränderlich“ (in der US-amerikanischen Diktion zum 14. Verfassungszusatz „immutable“) sind.85 So werden in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG das Geschlecht oder die Behinderung als biologisch unveränderlich verstanden; in Satz 1 gelten die Abstammung, Herkunft und Heimat oder auch die (Erst-)Sprache daneben als essentiell und biografisch unveränderlich und die religiöse oder politische Überzeugung als Identität, die als solche geschützt ist, weshalb nicht verlangt werden kann, sie zu ändern. Eine Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Identität, die in Art. 3 Abs. 3 GG nicht genannt ist, wird vergleichbar hohen Rechtfertigungsanforderungen unterworfen, denn es handele sich um eine höchstpersönliche Eigenschaft.86 Unklar ist dabei, ob Homosexualität als biologisch-erblich oder als höchstpersönlich identitätsstiftend und daher geschützt begriffen wird.
2005 sowie die 12 Bände Begleitmaterial der Interministeriellen Arbeitsgruppe „Inter- und Transsexualität“ (IMAG), aufrufbar auf www.bmfsfj.de im Bereich Service/Publikationen. 84 Baer (Fn. 51), S. 342 m. w. N. 85 Besonders deutlich in BVerfGE 96, 288 (302) – Integrative Beschulung (1997). 86 Seit BVerfGE 115, 1 – Transsexuelle III (2005), dann insbesondere BVerfGE 147, 1 – Dritte Option Personenstandsrecht (2017). Susanne Baer
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§ 5 Das Kategorienproblem
So steht hinter den Merkmalen des Antidiskriminierungsrechts eine bestimmte Vorstellung: Weil Menschen essentiell „so“ sind, muss das Recht sie vor daran anknüpfenden Nachteilen schützen. Identitätskategorien setzen sich zwar von der Naturalisierung und Biologisierung oft ab, weil sie darauf abstellen, dass und ob Menschen „so“ sein wollen. Auch sie arbeiten aber mit einer Vorstellung dessen, was ein Subjekt essentiell ausmacht. Prägend ist die an ein ganz bestimmtes Bild autonomer Freiheit gebundene Vorstellung, es sei unzumutbar, Menschen an etwas zu binden, was sie nicht selbst in der Hand hätten; es sei unfair, an ein Schicksal gebunden zu sein. Das Recht auf Nichtdiskriminierung zielt dann auch auf die Freiheit, frei von den Ketten der Vergangenheit anders als geboren zu leben. IV. Das Dilemma der Differenz
Die Begriffe zur Markierung von Ungleichheiten im Antidiskriminierungsrecht werfen also mehrere Probleme auf. Das erhält zudem gerade durch die Verwendung in Regelungen, die selbst gegen Diskriminierung wirken wollen, eine besondere Wendung. Zwar fasst jede Sozialkategorie Menschen in Gruppen zusammen, essentialisiert und naturalisiert oder biologisiert eventuell auch. Das ist schon für Vorstellungen individueller Gerechtigkeit herausfordernd. Im Antidiskriminierungsrecht rufen die Merkmalsbegriffe aber darüber hinaus genau das auf, was im Mittelpunkt der Benachteiligung selbst steht, die es bekämpfen soll. Soweit die Leitbegriffe des Antidiskriminierungsrechts auf eine vereinheitlichende Eigenschaft oder Erfahrung Bezug nehmen, sollen sie Diskriminierung beschreiben, sind aber zugleich selbst Teil des Problems: Sie normieren Stereotype und bedienen so den kognitiven Impuls, der Stereotype wirksam werden lässt; sie festigen genau die Zuschreibungen, die Benachteiligungen mit verursachen, perpetuieren also Diskriminierung. Das Problem ist als „Dilemma der Differenz“ und insbesondere als feministisches Dilemma im Antidiskriminierungsrecht bekannt.87 58 Das Dilemma zeigt sich auch durchaus häufig. Es wird beispielsweise deutlich, wenn in Diskussionen um Antidiskriminierungsrecht vorgebracht wird, es wäre doch wünschenswert, Menschen endlich einmal als Menschen zu sehen – und nicht als Frauen oder Männer, hetero- oder homosexuell, Schwarze oder weiß usw., oder wenn sozialen Bewegungen gegen Diskriminierung vorgeworfen wird, sie überbetonten diese Fragen, anstatt die Gemeinsamkeiten als Menschen in den Vordergrund zu stellen. Und kognitiv trifft zu: Wer Unterschiede betont, erntet zumindest im Hinterkopf Stereotype. 59 Diese Stereotype sind wiederum nicht neutrale Verallgemeinerungen über Menschen in konstruierten Gruppen. Vielmehr wurden die Merkmalsbegriffe des Antidiskriminie57
87 Baer/Markard (Fn. 24), Art. 3 Abs. 2 Rn. 374; vertiefend Cornell, Gender, Geschlecht und gleichwer-
tige Rechte, in: Benhabib u. a. (Hrsg.), Der Streit um Differenz, 1993, S. 80; dazu Baer, Dilemmata im Recht und Gleichheit als Hierarchisierungsverbot, Kriminologisches Journal 28 (1996), S. 242; Gransee/ Stammermann, Konstruktion von Wirklichkeit und die Kategorie Geschlecht, 1992; Minow, Not only for myself, 1992. Zur „falschen Alternative“ Prengel, Gleichheit versus Differenz – eine falsche Alternative im feministischen Diskurs, in: Gerhard u. a. (Hrsg.), Differenz und Gleichheit, 1990, S. 120. Susanne Baer
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rungsrechts erkämpft, um ausdrücklich anzuerkennen, dass bestimmte Menschen aufgrund der Zuschreibung bestimmter Eigenschaften spezifisch benachteiligt werden: Als Andere ausgegrenzt, abgewertet, belästigt, verletzt, diskriminiert. Das Dilemma der Differenz liegt daher auch darin, dass die Merkmalsbegriffe als Benennungen sozialer Unterschiede suggerieren, diese Unterschiede seien für alle Angehörigen dieser „Gruppen“ gleichermaßen problematisch. Das trifft jedoch offensichtlich nicht zu, auch wenn es erstaunlich oft zumindest implizit behauptet wird. Das Verbot der Benachteiligung wegen des „Geschlechts“ ist ebenso wie das Gleichstellungsgebot ein juristisches Mittel gegen die Diskriminierung von Frauen, die im patriarchalen Geschlechterverhältnis benachteiligt sind, und gegen die entsprechende Diskriminierung von Männern, die – beispielsweise als aktive oder alleinerziehende Väter, als Schwule – in der patriarchalen Ordnung letztlich wie Frauen behandelt werden. Die Merkmalsbegriffe transportieren also eine Neutralität, die es nicht gibt. Die Merkmale sind auch kein nur linguistisches Problem. Das Antidiskriminierungs- 60 recht nutzt mit der Bezugnahme auf die Merkmale vielmehr genau die Begriffe, die traditionell und auch heute oft als Benennung „tatsächlicher Unterschiede“ dazu dienen, Diskriminierung zu normalisieren, zu naturalisieren, zu legitimieren. So hat auch die deutsche Grundrechtsdogmatik zu Art. 3 GG lange auf natürliche Unterschiede rekurriert, die eine ungleiche Behandlung rechtfertigen konnten.88 Desgleichen war lange streitig, ob die Benachteiligung von schwangeren Frauen als Diskriminierung wegen des Geschlechts gilt oder als nur unterschiedliche Behandlung aufgrund eines anderen körperlichen Zustands, so der US Supreme Court, „schwangerer Personen“ zu erklären sei.89 Je mehr die Merkmalsbegriffe als Bezeichnungen für Unterschiede verstanden werden, desto eher besteht das Risiko, das nicht Gleiche auch ungleich zu behandeln, also ein formal-symmetrisches Gleichheitsverständnis mit einem unreflektierten Merkmalsbegriff zu verbinden und Diskriminierung nicht zu adressieren, sondern als Differenzierung zu perpetuieren.
88 Zur Entwicklung Sacksofsky (Fn. 9). Der gängige Obersatz: Eine Benachteiligung wegen des Ge-
schlechts ist nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nur zulässig, soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur bei Männern oder nur bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich ist, vgl. BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeitsverbot (1992); BVerfGE 92, 91 (109) – Feuerwehrabgabe (1995); BVerfGE 114, 357 (367) – Aufenthaltserlaubnis (2005). 89 Klar zu geschlechtsbezogener Diskriminierung BVerfGE 132, 72 (97 f.) – Ausländische Staatsangehörige und Erziehungsgeld (2012): Eine Regelung, die Frauen aufgrund rechtlicher und biologischer Umstände der Mutterschaft gegenüber Männern benachteiligt, unterliegt nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ebenfalls strengen Rechtfertigungsanforderungen. Ausnahmsweise mag sie vor Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auch durch sonstige Sachgründe zu rechtfertigen sein, die jedoch von erheblichem Gewicht sein müssten. Siehe auch BVerfG, Beschl. v. 28.4.2011, 1 BvR 1409/10, Rn. 54 – Nichtberücksichtigung von Mutterschutzzeiten: „Soweit eine Regelung an Schwangerschaft oder Mutterschaft anknüpft, differenziert sie unmittelbar nach dem Geschlecht. Es handelt sich nicht etwa um eine neutrale Vorschrift, die sich eventuell mittelbar ganz überwiegend auf Frauen oder ganz überwiegend auf Männer nachteilig auswirkt. Vielmehr trifft eine solche Regelung normativ kategorial ausschließlich Frauen.“ Susanne Baer
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§ 5 Das Kategorienproblem
V. Hierarchie der Ungleichheiten und das Problem „Klasse“
Je nachdem, wie die „Merkmale“ des Antidiskriminierungsrechts verstanden werden, ergeben sich weitere Probleme. Dazu gehört die Ungleichheit der Gleichheiten,90 da nicht etwa alle Diskriminierungserfahrungen in gleicher Weise adressiert werden, sondern einige deutlicher als andere und einige auch überhaupt nicht. Ungleichheiten werden hierarchisiert, also als unterschiedlich „schlimm“ bewertet, was Regeln prägt und nicht zuletzt als Vorverständnis in die juristische Arbeit einfließt; einige Ungleichheiten finden als „Merkmale“ auch überhaupt nicht Eingang in Antidiskriminierungsrecht, wobei insbesondere fraglich ist, ob „Klasse“ oder soziale Herkunft eine Ungleichheit ist, der Antidiskriminierungsrecht begegnen sollte. 62 Die Ungleichheit der Gleichheitsrechte ist geltendes Recht. So sind im Grundgesetz nicht nur einige Ungleichheiten nicht benannt, die aber Eingang in die Grundrechtecharta der EU gefunden haben. Zudem hebt Art. 3 Abs. 2 GG gesondert hervor, dass „Männer und Frauen“ gleichberechtigt sind und der Staat diesbezüglich für die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung und die Beseitigung bestehender Nachteile Sorge trägt, und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verbietet Bevorzugung und Benachteiligung hinsichtlich der Merkmale Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöse oder politische Anschauung, Satz 2 dann aber nur Benachteiligung „wegen seiner Behinderung“, um Fördermaßnahmen nicht im Wege zu stehen. Meist übersehen wird auch, dass Art. 33 Abs. 3 GG beim Zugang zum öffentlichen Dienst ausdrücklich nur vor der Diskriminierung wegen des Glaubens und der Weltanschauung schützt, oder Art. 6 Abs. 5 GG ausdrücklich nur die Benachteiligung von unehelichen Kindern adressiert. Weder das Alter noch die sexuelle Orientierung sind in der Bundesverfassung erwähnt. 63 Auch auf anderen Regelungsebenen werden bestimmte „Merkmale“ ausdrücklich anders geschützt als andere. Differenzierten Schutz vor Diskriminierung versprechen im Völkerrecht insbesondere die CEDAW, ICERD, die Kinderrechte-Konvention und die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung. In Europa widmet sich die Grundrechtecharta insbesondere dem Geschlecht, dem Alter und der Behinderung. Das AGG wendet sich insbesondere – aber mit Sonderregeln auch ambivalent91 – gegen Rassismus, und dann gestuft den Benachteiligungen wegen der Religion, der Behinderung und des Alters. Gegen Rassismus wird auch Strafrecht in Stellung gebracht, mit dem Verbot der Volksverhetzung, das sich durchaus als Regel gegen Diskriminierung verstehen lässt, und seit 2015 unter dem Eindruck der rechtsterroristisch-rassistischen Morde des NSU mit der Strafzumessungsregel des § 46a StGB bei „rassistischer, fremdenfeindlicher 61
90 Baer, Ungleichheit der Gleichheiten?, in: Klein/Menke (Hrsg.), Universalität – Schutzmechanismen –
Diskriminierungsverbote, 2008, S. 420.
91 § 19 Abs. 3 AGG lässt „im Hinblick auf die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstruktu-
ren und ausgewogener Siedlungsstrukturen sowie ausgeglichener wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse“ zu, aufgrund von Rasse oder Ethnizität zu differenzieren. Hier sind Vermietungen gemeint, die verhindern, dass Wohngebiete „kippen“. Die Verweigerung der gewünschten Wohnung verhindert das nicht. Susanne Baer
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oder sonstiger menschenverachtender Gesinnung“.92 Sondervorschriften beispielsweise im Bildungsrecht, wie in § 1 Abs. 2 Nr. 8 des Sportfördergesetzes Sachsen-Anhalt, adressieren mehr, aber noch lange nicht alle Formen der Diskriminierung, unter der Menschen aktuell leiden, namentlich die „Bekämpfung menschenverachtender, rechtsextremer, rassistischer und sexistischer Einstellungen“.93 Zudem ist eine Hierarchisierung der Ungleichheiten auch im Alltagsverständnis tief ver- 64 ankert. So wird in Deutschland zum Beispiel rassistische Belästigung anders gewichtet als sexistische (oder verkürzt und merkmalsbezogen: sexuelle) Belästigung,94 auch wenn – wie im Schulrecht – beide thematisiert werden, andere aber nicht. Die Altersdiskriminierung gilt daneben weithin als sachliche Ungleichbehandlung und normal, und Behinderung wird nach wie vor weithin als medizinisches Schicksal und nicht als Behinderung durch die Normalität der Barrieren verstanden. Auch hier spielt eine Rolle, dass die Merkmale auf essentialistische und naturalisierte Vorstellungen bestimmter „Unterschiede“ rekurrieren. Die jeweilige soziokulturelle Tradition der Ächtung bis hin zur Tabuisierung einer Diskriminierung spielt im Umgang mit Antidiskriminierungsrecht auch insoweit eine wichtige Rolle. So wird in Deutschland zumindest weithin davon ausgegangen, dass jede Unterscheidung anhand des „Judentums“ diskriminierend ist, weil der Holocaust einen Ächtungskonsens begründet hat, aber die „Fremdenfeindlichkeit“ gegenüber Menschen muslimischen Glaubens anders konnotiert wird. Umgekehrt führt fehlende Ächtung dazu, Diskriminierungen im Alltag aus einer Perspektive der Dominanz heraus zu bagatellisieren. Eine solche Bagatellisierung bestimmter Diskriminierungen betraf lange und trifft 65 in der Praxis immer noch sehr oft Diskriminierung durch sexuelle Belästigung, worauf der Gesetzgeber in den europäischen Richtlinien und dem AGG ausdrücklich reagiert. Pauschal wird dennoch behauptet, Diskriminierungsgegner wollten „eine Welt der Geschmacksfragen“, verlangten übertriebene Rücksichtnahme auf „Empfindlichkeiten“95 oder „Befindlichkeiten“ oder normierten eine „Gedankenpolizei“ der „political correctness“. Dieser konservative Kampfbegriff gegen Gleichstellungsmaßnahmen hat auch darüber hinaus beunruhigend großen Erfolg. Ungeklärt bleibt regelmäßig, was genau wer empfindet (oder: erlebt, erfährt), was mit „Geschmack“ (oder doch: Schaden, Schmerz, Nachteil) gemeint ist, und welche Gedanken warum genau nicht mehr denkbar sein sollen. Juristisch finden solche diffusen Thesen ihren Ort in Erwägungen zur „Erheblichkeit“ beispielsweise von Belästigung, zum „Gewicht“ einer Ungleichbehandlung, wiederum zur Darlegungsund Beweislast für Diskriminierung und in der Bestimmung der Rechtsfolgen einschließlich dann eventuell zu niedriger Schadensersatzsummen. Andererseits gibt es aber auch Arbeiten, die zu begründen suchen, warum sich Antidiskriminierungsrecht nur auf wenige 92 Dazu → Schmidt, § 21. 93 Auch in sozialwissenschaftlichen Arbeiten und in der Genderforschung dominiert die Aufmerksamkeit
für Rassismus und Sexismus. Vgl. Lorde, Age, Race, Class, Gender, in: Lorde (Hrsg.), Sister Outsider, 1984, S. 114 (119); MacKinnon (Fn. 71), S. 166 ff. 94 Beispielsweise adressiert § 104 BetrVG ausdrücklich die Störung des Betriebsfriedens „insbesondere durch rassistische oder fremdenfeindliche Betätigungen“. 95 Vgl. Rixen, Geschlechtertheorie als Problem der Verfassungsauslegung, JZ 2018, S. 317 (320): „Empfängersubjektivismus“. Susanne Baer
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Diskriminierungsmerkmale konzentrieren sollte, eine „multidimensional [in]equality“ also auf zentrale Knotenpunkte konzentrieren.96 66 Neben der Frage nach den Unterschieden und ungleichen Bewertungen der jeweiligen Diskriminierungsmerkmale stellt sich die weitere Frage, ob alle Erfahrungen, die sich sozial, ökonomisch, politisch und kulturell als Ungleichheit und Diskriminierung beschreiben lassen oder so erlebt werden, als „Merkmale“ des Antidiskriminierungsrechts taugen. Ist „Klasse“ im Sinne sozio-ökonomischer Position, Lebenslage oder Schicht ein solches Merkmal? Sie gehört in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion zur Trias „race – class – gender“97 oder, beim Combahee River Collective, das zuerst über Intersektionalität nachdachte, „race, class, gender and sexuality“,98 findet sich aber nicht in den Katalogen des Antidiskriminierungsrechts (die Herkunft in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG meint den Adel). Teils wird argumentiert, „Klasse“ oder auch „Armut“ taugten als Kategorie des Antidiskriminierungsrechts überhaupt nicht.99 Anhaltende soziale Deklassierung erzeugt allerdings strukturell eine Lebenslage, die von Nachteilen und Chancenlosigkeit gekennzeichnet ist und als Prekarisierung den bisher anerkannten „Merkmalen“ ähnelt. Das zeigt sich besonders deutlich, wo soziale Deklassierung und ethnische Inferiorisierung zusammentreffen.100 Da Armut sich über Generationen hinweg fortsetzt, also „vererbt“, hat sie auch einen relativ „unveränderlichen“ Charakter. Allerdings ist Armut auch typische Folge von Diskriminierung, der rechtlich über Ansprüche auf ein Existenzminimum und weitere soziale Sicherung begegnet wird. Die Verortung bestimmter Ausgrenzungserfahrungen in bestimmten Rechtsgebieten 67 hat ebenso wie die Ungleichheit der Ungleichheiten auch politische Folgen. Sie geht darauf zurück und bewirkt, politisch nicht gemeinsam mobilisieren zu können, bedient also ein „divide et impera“ als politische Schwächung. Die Aufspaltung zeigt sich auch in der Wissenschaft als getrennte Expertise, die übergreifende Erkenntnisse erschwert.101 Das trifft das Antidiskriminierungsrecht insgesamt, solange es nicht als komplexes und mehrschichtiges Feld verstanden, sondern auf Teilregelungen – das AGG, allein Art. 3 GG usw. – reduziert wird. Schlimmstenfalls führt eine Hierarchisierung der Ungleichheiten zu konkurrierenden Ansprüchen in der „Unterdrückungs-Olympiade“ („oppression olympics“).102 96 Schiek/Mulder, Intersektionelle Diskriminierung und EU-Recht, in: Phillip u. a. (Hrsg.), Intersektio-
nelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, S. 43 (66 ff.): „Rasse“, Geschlecht und Behinderung.
97 Vgl. Frietsch, Die Abwesenheit des Weiblichen, 2002, S. 160 ff.; Lutz, „Die 24-Stunden Polin.“ Eine in-
tersektionelle Analyse transnationaler Dienstleistungen, in: Klinger/Knapp/Sauer (Hrsg.), Achsen der Ungleichheit, 2007, S. 210. 98 Combahee River Collective, A Black Feminist Statement, in: Moraga/Anzaldua (Hrsg.), This Bridge Called my Back, 1983, S. 210. 99 Schiek, Revisiting intersectionality for EU anti-discrimination law in an economic crisis, Sociologia del Diritto 2 (2016), S. 23 (40). 100 Marko, Vom Diskriminierungsverbot zu „effektiver“ Gleichheit?, in: Phillip u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, S. 19 (24 f.). 101 Vgl. Cho/Crenshaw/McCall (Hrsg.), Intersectionality: Theorizing Power, Empowering Theory, Signs 38 (2013), S. 785. 102 Vor der „Kompartmentalisierung“ warnt auch Schiek, Intersectionality and the notion of disability in EU discrimination law, Common Market Law Review 53 (2016), S. 35 (36). Susanne Baer
C. Vor- und Nachteile kategorialen Rechts
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VI. Intersektionale, mehrdimensionale, mehrfache Diskriminierung
Das wohl bekannteste Problem der Orientierung des Antidiskriminierungsrechts an Merk- 68 malen ist die Realität der einander überschneidenden, „intersektionalen“ oder „mehrdimensionalen“ Diskriminierungserfahrungen. Das dahinterstehende juristische Problem hat in den US-amerikanischen Critical Race Studies Kimberlé Crenshaw aufgezeigt: Die im dortigen Verfassungsrecht gängige Gleichheitsrechtsdogmatik arbeitet mit unterschiedlichen Schutzniveaus für unterschiedliche „Merkmale“.103 Ebenso adressiert auch heute geltendes Antidiskriminierungsrecht unterschiedliche Merkmale separat und zudem ungleich. Auch dies ist ein Motiv für die Versuche, postkategoriales Antidiskriminierungsrecht zu entwickeln.104 Das Problem, auf das hier aufmerksam gemacht wird, besteht darin, dass sich Erfahrun- 69 gen, Verhältnisse, Achsen der Ungleichheit105 usw. nicht in scharf voneinander getrennte „Gründe“ aufteilen lassen, von denen die Stereotype leben, sondern sich regelmäßig aus dem Zusammenwirken mehrerer Faktoren und dem Bezug auf mehrere Merkmale speisen. Es sind „simultane Erfahrungswerte“.106 Auch hier zeigt sich zudem das Problem der Ungleichheit der Gleichheiten, da mit dem Blick auf nur ein Merkmal nicht zufällig irgendetwas anderes ausgeblendet wird, sondern wiederum typischerweise bestimmte Erfahrungen marginalisiert oder verschwiegen werden. Die Begriffe, die sprachlich eine Eigenschaft hervorheben – Geschlecht, Alter, Glaube usw. – benennen nicht nur nicht alles, was eine Benachteiligung ausmacht. Sie werten auch, was als Erfahrung rassistisch diskriminierter Männer, sexistisch benachteiligter weißer heterosexueller Frauen, oder als Behinderung spezifisch eingeschränkter Menschen usw. zählt.107 Darauf weisen die Rechtsgrundlagen des Antidiskriminierungsrechts mittlerweile partiell auch hin. So wird im Rahmen der ICERD die Situation rassistisch diskriminierter Frauen und Kinder besonders betont.108 Wenn weiter auf Merkmale rekurriert wird, ist daher jedenfalls regelmäßig von Inter- 70 sektionalität oder, im Antidiskriminierungsrecht, von mehrdimensionaler Diskriminie103 Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminst Critique of Antidis-
crimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, The University of Chicago Legal Forum (1989), S. 139; dazu auch MacKinnon, Intersectionality as Method, Signs 38 (2013), S. 1019: das Problem sei weniger die Ausblendung von „race“ und „class“, sondern die defizitäre Art, „gender“ zu denken; MacKinnon, From Practice to Theory, or What is a White Woman Anyway?, Yale Journal of Law & Feminism 4 (1991), S. 13 (20): Es handele sich immer um „composite units“, nicht um „divided unitary wholes“. 104 Voithofer, Mehrfach- und intersektionelle Diskriminierung als Herausforderung für den Zugang zum Recht, in: Phillip u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, S. 89; Meier, „Ich habe in meinem Leben noch nie so viel geputzt.“, in: Phillip u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, S. 127. 105 In der Tradition der kritischen Theorie Klinger/Knapp, Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz, Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht, „Rasse“/Ethnizität, online in Transit 29 (2005) und in Klinger/Knapp/Sauer (Fn. 97), S. 19: nominalistisch und realistisch seien race, class und gender aus den Trümmern der 1968er Bewegungen in den neuen sozialen Bewegungen entstanden. 106 Combahee River Collective (Fn. 98), S. 213. 107 Vgl. Beale, Double Jeopardy, in: Cade (Hrsg.), The Black Woman, 1979, S. 90; Lorde (Fn. 93), S. 114. 108 CERD, General recommendation No. 34, Racial discrimination against people of African descent, UN Doc. CERD/C/GC/34 (2011). Ausführlich zu den Rechtsgrundlagen → Holzleithner, § 13. Susanne Baer
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§ 5 Das Kategorienproblem
rung auszugehen.109 Auch das sagt sich allerdings leichter als es juristisch umsetzbar ist: Regelmäßig wird geraten, Diskriminierung „auf der Basis mehrerer Gründe“110 zu prüfen. Was daraus aber für die Rechtfertigungslasten, Rechtsfolgen und Fördermaßnahmen folgt, ist zumindest nicht offensichtlich. VII. Anerkennung und Förderung 71 Die Orientierung des Antidiskriminierungsrechts auf Merkmale ist also mehr als ambiva-
lent. Jede ausdrückliche Nennung geteilter Unrechtserfahrungen ist zwar ein Erfolg der Rechtskämpfe sozialer Bewegungen, in denen Minderheiten fordern, dass auch juristisch gegen ihre Ausgrenzung vorgegangen wird. Der Vorteil der ausdrücklichen Bezugnahme auf Merkmale liegt insoweit darin, dass rechtsetzend anerkannt wird, welche Diskriminierung grundsätzlich inakzeptabel sein soll. Und Anerkennung ist grund- und menschenrechtlich ein zentrales Ziel.111 Die Nennung lasse Antidiskriminierungsrecht real bleiben: „keeping it real“, argumentiert MacKinnon.112 Kategorien sind immerhin Teil der diskriminierenden Praxis.113 Doch gehen damit eben auch die aufgezeigten Probleme einher. Daher gibt es mittlerweile auch Plädoyers dafür, im Förderrecht ganz ohne die Diskriminierungsmerkmale auszukommen.114 72 Sie zeigen sich im Antidiskriminierungsrecht besonders deutlich an den mittlerweile in der EU sogenannten „positiven Maßnahmen“ („affirmative“ oder – in der EU – „positive action“) zur „Förderung benachteiligter Gruppen“, ausdrücklich zugelassen nach § 5 AGG.115 An ihnen entzündet sich auch eine häufige Kritik postkategorialer Ansätze: Es sei ohne den Bezug auf Merkmale nicht möglich, gezielt Fördermaßnahmen zugunsten Dis109 Zur Begriffsgeschichte Chebout, Wo ist Intersectionality in bundesdeutschen Intersektionalitätsdis-
kursen?, in: Smykalla (Hrsg.), Intersektionalität zwischen Gender und Diversity, 2011, S. 46; zum Antidiskriminierungsrecht Baer/Bittner/Goettsche, Mehrfach-, mehrdimensionale und intersektionale Diskriminierung im Rahmen des AGG, 2010. Siehe auch Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit?, 2000; Schiek, European Union Discrimination Law, 2008. In den deutschsprachigen Sozialwissenschaften Klinger/ Knapp/Sauer (Fn. 97). In den Gender Studies werden „Interdependenzen“ diskutiert, um mit den Sektionen oder Achsen nicht mehr auf abgrenzbare Unterschiede, sondern auf das auch wechselseitig konstitutive Zusammenspiel verschiedener Ungleichheiten hinzuweisen, Walgenbach u. a. (Hrsg.), Gender als interdependente Kategorie, 2007. Siehe auch McCall, Complex Inequality, 2001. 110 Europarat, Handbook on European Union Antidiscrimination Law, 2018. 111 Nicht zu übersehen ist allerdings die gerechtigkeitstheoretische Kontroverse um Anerkennung oder Umverteilung, die Anerkennung betont. Juristisch z. B. Rixen (Fn. 95), S. 317. 112 MacKinnon, Keeping it Real – on „anti-essentialism“, in: Women’s Lives – Men’s Laws, 2007, S. 84. 113 Mangold, Mehrdimensionale Diskriminierung, RPhZ 7 (2016), S. 152 (166 ff.). 114 Völzmann, Postgender im Recht?, JZ 2019, S. 371: Die Kategorien seien allerdings eventuell „notwendiges Werkzeug“, das nur nicht – im Personenstandsrecht – juristisch fixiert werden müsse. Die Kategorie habe „keineswegs ausgedient“ (S. 390), aber die Selbstbezeichnung solle entscheiden. 115 Art. 5 RL 2000/43/EG; Art. 7 Abs. 1 RL 2000/78/EG; Art. 2 Abs. 8 RL 76/207/EWG. Es ist auch ein rechtspolitischer Fortschritt, wenn der Gesetzgeber nicht mehr von „umgekehrter Diskriminierung“ oder von „Bevorzugung“ spricht, sondern klarstellt, dass Diskriminierung benachteiligend wirkt und Differenzierung die Nachteile beseitigen kann, was in gesellschaftlich ungleichen Verhältnissen keine Bevorzugung ist. Susanne Baer
D. Postkategoriale Konzepte
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kriminierter zu regeln.116 Tatsächlich normieren diese aber das Dilemma der Differenz. Eine positive Maßnahme zur Förderung von Vielfalt wie in § 19 AGG ist auch eine Ausgrenzungsmaßnahme rassifizierter Menschen aus weißen Räumen. Auch hier zeigt sich: Wer Unterschiede sät, kann Diskriminierung ernten.117
D. Postkategoriale Konzepte Gibt es – zumindest für das Antidiskriminierungsrecht – ein besseres Konzept? Die mit 73 den bisherigen „Merkmalen“ einhergehende Kategorisierung ist selbst ein nicht zu vernachlässigender Aspekt von Diskriminierung;118 entsprechende Normen bedienen Stereotype über Gruppen, operieren damit essentialisierend und oft naturalisierend, und schaffen zumindest ein Dilemma. Sie sind noch dazu in sich hierarchisiert und erschweren es, die tatsächliche Mehrdimensionalität von Diskriminierung adäquat zu fassen. Diese problematischen Effekte, die erzeugt werden, wenn Diskriminierung als Handlung aufgrund oder wegen einer „unveränderlichen Eigenschaft“ beschrieben wird, sind auch in der Rechtsanwendung schwer zu bewältigen.119 Darauf reagiert die Suche nach einem „postkategorialen“ Antidiskriminierungsrecht.120 Das Ziel ist Gleichstellungsrecht ohne negative Lateraleffekte. Dazu gehört es auch, den immer wieder verbreiteten Annahmen, Diskriminierung sei ein „Minderheitenproblem“ oder „Sonderrecht für bestimmte Gruppen“, „Ausdruck übertriebener Identitätspolitik“ oder „Reaktion auf allzu große Empfindlichkeit“ und letztlich auch „politisch korrekte Zensur“, entgegenzutreten. Wie aber lassen sich die „diversen und durchgängigen konkreten materiellen Realitäten sozialer Bedeutung und Praxen“121 tatbestandlich fassen? 116 Einerseits Baer (Fn. 6), andererseits z. B. Lee, Being Wary of Categories, University of Vienna Law
Review 1 (2017), S. 107.
117 Nicht unproblematisch ist auch die in § 19 Abs. 4 AGG eingeräumte Möglichkeit zur „Unterschei-
dung“ bei familien- und erbrechtlichen Schuldverhältnissen, denn eine private Erbentscheidung zugunsten merkmalsbestimmter Menschen ist also erlaubt, sie wird nur mehrheitlich Privilegien stärken; und bei zivilrechtlichen Schuldverhältnissen, „bei denen ein besonderes Nähe- oder Vertrauensverhältnis der Parteien oder ihrer Angehörigen begründet wird“, insbesondere bei Vermietung auf demselben Grundstück und bei Vermietungen von weniger als 50 Wohnungen (§ 19 Abs. 5 AGG), um die Privatsphäre zu schützen. So dürften kleine Privatvermietungen durchaus gezielt merkmalsbezogen fördern; im Regelfall schützt dies aber privilegierte Positionen. 118 So auch Lembke/Liebscher, Postkategoriales Antidiskriminierungsrecht?, in: Phillip u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, S. 261 (283 f.); Greif/Ulrich, Legal Gender Studies und Antidiskriminierungsrecht, 2. Aufl. 2019, Rn. 50 ff. 119 Dazu auch Lembke/Liebscher (Fn. 118). 120 Mehrere Positionen zu Kategorien diskutiert McCall, The Complexity of Intersectionality, Signs 30 (2005), S. 1771. Als Option des Antidiskriminierungsrechts Baer (Fn. 6); dazu dann Naguib, Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz‘, in: Ast u. a. (Hrsg.), Gleichheit und Universalität, ARSP-Beiheft 128 (2012), S. 179; Hartmann (Fn. 55), S. 24. Vgl. auch Choudhry, Distribution vs. Recognition, George Mason Law Review 9 (2000), S. 145; Grenfell, Embracing Law’s Categories, Yale Journal of Law & Feminism 15 (2003), S. 51. 121 MacKinnon (Fn. 112), S. 25 ff. Eine gemischte Definition nutzt die Ontario Human Rights CommisSusanne Baer
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§ 5 Das Kategorienproblem
Im geltenden Recht finden sich jenseits der Leitbegriffe Benachteiligung oder Diskriminierung bereits Ansätze dazu. So heißt es in Art. 2 der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK), „Diskriminierung aufgrund von Behinderung“122 bedeute jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasse alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen. In der Präambel der UN-BRK wird zudem (unter e) erläutert, dass „Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“. Das ist ein stark kontextgebundenes Verständnis von Diskriminierung, das unabhängig von einer Intention sowohl die Missachtung wie auch die aktive Ausgrenzung sanktioniert. Von der Fixierung auf bestimmte Kategorien trennt sich geltendes Recht auch an anderer Stelle. So definiert § 7 Abs. 1 AGG das Diskriminierungsverbot von Beschäftigten als Verbot einer Benachteiligung wegen eines bestimmten Grundes gerade unabhängig davon, ob dieser tatsächlich vorliegt oder nicht. Eine essentielle Differenz ist also nicht entscheidend. Daneben gibt § 4 AGG vor, dass sich eine eventuelle Rechtfertigung für Ungleichbehandlungen auf alle Gründe erstrecken muss, die im Einzelfall relevant sind. Das konterkariert zumindest im Ansatz die Hierarchie der Ungleichheiten. 75 Postkategoriales Antidiskriminierungsrecht ist also kein Recht, das ohne den Bezug auf benannte Diskriminierungen auskommt. Es ist post-, aber nicht antikategorial. Wer meint, auf eine ausdrückliche Bezugnahme auf spezifische Unrechtserfahrungen verzichten zu können, und alles auf ein allgemeines Gleichbehandlungsgebot, das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder die Menschenwürde reduzieren würde, ignoriert die historisch erstaunlich ubiquitäre Erfahrung, dass sich ohne ausdrückliche Bezugnahme an hierarchischen Verhältnissen nichts ändert. Ein „de-gendering“ als Verzicht auf die Nennung von „Geschlecht“, ein „de-racializing“ etc. im Antidiskriminierungsrecht lässt auch das juristisch Erreichte wieder in der Versenkung verschwinden; ein Scheinhumanismus meint dann wieder nicht alle Beteiligten. Der Rückzug auf die allgemeinen Formeln erleichtert zudem eine formalistisch-symmetrische Deutung von Gleichheitsrecht. Er riskiert, konkret-spezifische Ziele und Instrumente des Antidiskriminierungsrechts zu verwässern, wenn beispielsweise „Alleinerziehende“ gefördert werden, aber unberücksichtigt bleibt, dass die Benachteiligung einzelner Eltern, die tatsächlich Verantwortung für Kinder übernehmen, geschlechtsspezifisch und oft heteronormativ ausfällt, häufig rassialisiert und auf eine „unbehinderte“ Norm bezogen ist. „Neutrales Recht“ „für alle“ ist daher eine wun74
sion: „Discrimination … usually includes the following elements: not individually assessing the unique merits, capacities and circumstances of a person, instead, making stereotypical assumptions based on a person’s presumed traits, having the impact of excluding persons, denying benefits or imposing burdens.“, Ontario Human Rights Commission, Human Rights at Work, 3. Aufl. 2008. 122 Ausführlich dazu → Zinsmeister, § 9. Susanne Baer
D. Postkategoriale Konzepte
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derbare Vision, aber kein vielversprechender Weg, um die Probleme der Kategorien zu bewältigen. Die Probleme der derzeit gängigen Merkmalsbegriffe müssen zumindest dogmatisch 76 verarbeitet werden. Eine subversive Strategie, sich den Begriffen zu verweigern, kann kulturell vielversprechend sein, ist juristisch aber nicht angezeigt, da die juristischen Foren nicht zu unterschätzende Chancen bieten und Recht von der nachvollziehbaren Argumentation lebt.123 Fortschritte können durch Auslegung erreicht werden, also interpretatorisch, oder durch Rechtsetzung, die Klarstellungen vornehmen kann. In beiden Feldern juristischer Praxis kommen mehrere Anknüpfungspunkte in Betracht, an denen sich Recht gegen Diskriminierung orientieren könnte, um zumindest einige Probleme der Kategorien zu überwinden:124 Die historische Benachteiligung, die politische Exklusion, die Unrechtserfahrung und Verletzbarkeit und die Hierarchisierung, auf der Diskriminierung ruht und die sie fortschreibt. Alle Ansätze müssen sich fragen lassen, wie gut es gelingt, Diskriminierung als Sachverhalt zu verstehen und sprachlich zu fassen. I. Historische Benachteiligung
Eine Möglichkeit, Diskriminierung juristisch zu adressieren, eröffnet die historische Per- 77 spektive. Sie wendet sich insbesondere gegen eine formal-symmetrische Deutung von Gleichheit, die der Apartheid ebenso wie dem Holocaust als legitimatorische Formel diente.125 Eine historische Deutung kann zudem konkreter dazu beitragen, Diskriminierung als Aktualisierung verfestigter, nicht nur zurückliegender, sondern weit zurückreichender und auch deshalb als schlichte „Differenz“ oder „Unterschiede“ normalisierte Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu verstehen.126 Diskriminierung liegt danach vor, wenn in einem konkreten Fall eine historisch verfestigte gesellschaftliche Struktur wirksam wird, die sich materiell in Rollenzuweisungen, symbolischen Bedeutungen usw. niederschlägt, oft auch in der Herausbildung einer abgewerteten Minderheit entlang stigmatisierender Stereotype. Hier spielen Merkmale also weiter eine Rolle, aber nicht als persönliche Eigenschaften, die Menschen haben oder nicht haben, sondern als geronnene Erfahrung historisch kontextualisiert. Daraus folgt beispielsweise die Benachteiligung muslimischer Frauen, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, im Zugang zum öffentlichen Dienst. Es muss nicht 123 Für subversive Strategien z. B. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 22. Aufl. 2021. Gegen eine
verkürzte Sicht Baer, Inexcitable Speech, in: Hornscheidt u. a. (Hrsg.), Kritische Differenzen – geteilte Perspektiven, 1998, S. 229. 124 Young hat fünf „faces of oppression“ als „Formen der Unterdrückung“ und als „Kriterien“ der Ungerechtigkeit identifiziert: Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, kultureller Imperialismus und Gewalt, siehe Young, Fünf Normen der Unterdrückung, in: Nagl-Docekal/Pauer-Studer (Hrsg.), Politische Theorie, Differenz und Lebensqualität, 1996, S. 99. 125 Die insoweit wegweisende Entscheidung ist aus Kanada: Supreme Court of Canada, Andrews v. Law Society of British Columbia, [1989] 1 SCR 143 mit einer ausdrücklichen Zurückweisung der aristotelischen Formel „Jedem das Seine“, mit der NS-Juristen – wie Ulrich Scheuner 1939 – auch den Holocaust legitimierten. Vertiefend Fredman (Fn. 45), S. 134 ff. 126 M. w. N. aus der Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte Fredman (Fn. 45), S. 138 f. Susanne Baer
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nur in einer gesellschaftlichen Normalität verstanden werden, in der ein nicht sichtbar gelebtes Christentum dominiert; zudem wird das Kopftuch in einem Kontext verboten, in dem Glaubensgemeinschaften Vorrechte zugestanden werden, aber Frauen eine gegenüber Männern regelmäßig untergeordnete Rolle zugewiesen wird. Schließlich spielt eine Rolle, dass ein Kopftuchverbot gerade diejenigen trifft, die in den öffentlichen Dienst der Schule wollen, um durch eigenständige Berufstätigkeit auch aus patriarchalen Ordnungen ein Stück weit auszubrechen. Mit der Orientierung auf die historische Benachteiligung lässt sich auch begründen, warum Fördermaßnahmen ein Ausdruck des Gleichheitsrechts sind und kein Verstoß dagegen, im Einklang mit zahlreichen Vorgaben geltenden Rechts – wie Art. 157 Abs. 4 AEUV, Art. 23 GRCh, § 5 AGG, recht verstanden auch Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG. Dies ist aber in Deutschland keineswegs dogmatisierter Konsens. Zudem erhalten Menschen, die historisch von Diskriminierung betroffen sind, in dieser Perspektive eine Subjektposition, von der aus ihre Geschichten erzählt werden können und Gehör finden müssen.127 Ein Nachteil der historischen Betrachtung besteht allerdings darin, dass neue Erscheinungsformen von Diskriminierung nicht ohne weiteres erfasst sind,128 sich die Art und Weise, wie Vergangenheit erzählt wird, verändert und Erfahrungen der Ausgrenzung durchaus umstritten sind, weshalb es weitere Kriterien braucht, um zu entscheiden, wer tatsächlich Diskriminierung erfahren hat und wer nicht. II. Ausschluss aus dem politischen Prozess 78 Eine weitere Möglichkeit, Antidiskriminierungsrecht postkategorial zu verstehen, liegt
darin, sich auf die demokratischen Effekte der Benachteiligung zu beziehen. Damit können insbesondere positive Maßnahmen demokratietheoretisch gerechtfertigt werden. Der USamerikanische Rechtswissenschaftler John Hart Ely hat dazu mit der Studie „Democracy and Distrust“ einen kanonischen Beitrag vorgelegt.129 Antidiskriminierungsrecht wäre danach das Recht gegen den Ausschluss von Minderheiten aus dem politischen Prozess. Das passt auch zu der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der nationalen Verfassungsrechte wie in Art. 3 GG, die sich gegen die kategoriale Ausgrenzung aus der Gemeinschaft der Gleichen stellen sollten, gegen das Absprechen der Menschenwürde. Tendenziell bedingt dies eine Wahrnehmung von Menschen als Teil kollektiver Prozesse, da jedenfalls der demokratische Prozess in Kollektiven 127 Vgl. z. B. Yuval-Davis, Situated Intersectionality and Social Inequality, Raisons politiques 58 (2015),
S. 91.
128 Allerdings lassen sie sich als analoge Tatbestände verstehen. So verarbeitet das Bundesverfassungs-
gericht die historische Tabuisierung der Diskriminierung von Homosexuellen, die in Art. 3 GG keine ausdrückliche Aufnahme fand. Vgl. Baer (Fn. 8), S. 3145 ff. m. w. N. 129 Ely, Democracy and Distrust, 1980, unter anderem S. 103. Berühmt ist dazu Fußnote 4 in der Entscheidung des US Supreme Court, U. S. v. Carolene Products, 308 U. S. 144 (1938), wonach eine strengere Prüfung gefordert sein könne, weil Vorurteile gegenüber Minderheiten dazu tendierten, deren Chancen im politischen Prozess ernsthaft zu beeinträchtigen. Gerichtliche Kontrolle, um die es Ely primär geht, habe daher eine „representation-reenforcing“ Funktion. Zu Ely und Antidiskriminierungsrecht vgl. Sacksofsky (Fn. 9). Susanne Baer
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operiert. Vor diesem Hintergrund liegt der Schluss nahe, eine Ungleichbehandlung dürfe nicht zur „Diskriminierung einer Minderheit“ führen.130 Ein Vorteil dieser Perspektive liegt darin, die politischen Wirkungen von Diskriminie- 79 rung in den Vordergrund zu stellen. Sie reichen weit über Ausschlüsse vom Wahlrecht hinaus, die – beispielsweise durch Barrieren – nicht der Vergangenheit angehören.131 Zugleich kann die Reichweite des Antidiskriminierungsrechts sehr eng werden, wenn es nur auf den politischen Prozess und demokratische Teilhabe bezogen wird. III. Unrechtserfahrung und Vulnerabilität
Die Rechtskämpfe, die zur Entwicklung des Antidiskriminierungsrechts geführt haben, 80 sprechen dafür, die „Merkmale“ im Antidiskriminierungsrecht als Bezeichnungen bestimmter Unrechtserfahrungen zu verstehen. Sie werden oft als „Ausgrenzung“ oder „Ausschluss“ oder Exklusion beschrieben. Das könnte jedoch zu eng sein, denn es lässt die Normalität, in die integriert oder inkludiert werden soll, tendenziell unhinterfragt. Daher sollte postkategoriales Antidiskriminierungsrecht, das genau dort anzusetzen sucht, wo Diskriminierung tatsächlich erlebt wird, über Ausgrenzung aus einem bereits definierten Normalen hinausgehen. Das spricht für eine Verankerung des materiellen Gleichheitsrechts in einem realistischen Schadens-Prinzip, dem auf John Stuart Mill zurückgehenden „harm principle“.132 Was genau der Schaden ist, der Diskriminierung ausmacht, liegt nicht auf der Hand. 81 Der allgemeine übergreifende Bezug auf die Menschenwürde, der auch im deutschen Recht verbreitet ist, ist letztlich nicht gewinnbringend, denn er birgt das Risiko, nur noch extreme, nicht mehr sozial kontextualisierte und als strukturell wirksam verstandene Ausnahmefälle als Diskriminierung zu begreifen.133 Antidiskriminierungsrecht muss genauer arbeiten. Wie kann es Ungleichheitserfahrungen ins Zentrum stellen? 130 Unter anderem BVerfGE 88, 87 (96) – Transsexuelle II (1993); BVerfGE 97, 169 (181) – Kleinbetriebsklausel 1 (1998); BVerfGE 124, 199 (220) – Gleichbehandlung eingetragener Lebenspartnerschaften (2009); BVerfGE 133, 377 – Ehegattensplitting (2013). 131 Vgl. zum Wahlrecht von Betreuten BVerfGE 151, 1 – Wahlrechtsausschluss von Betreuten (2019). Das Gericht stellt darauf ab, dass nur Personen ausgeschlossen werden dürfen, „die typischerweise nicht über die Fähigkeit zur Teilnahme am demokratischen Kommunikationsprozess“ verfügen. Im Wahlrecht als Massengeschäft dürfe der Gesetzgeber typisieren (Rn. 47). Dann stellt sich die Frage, wann eine Typisierung eine stigmatisierende Stereotypisierung ist. 132 Mill formulierte damit 1859 die freiheitsrechtliche Rechtfertigung für staatliche Regulierung: Der Staat dürfe nur eingreifen, um Schaden abzuwenden. Grundlegend Mill, Über die Freiheit, 1988 (Erstveröffentlichung 1859), S. 16 f. 133 Ausführlich Baer (Fn. 10), rechtsvergleichend dann Baer (Fn. 26), S. 417 ff. Die Menschenwürde war in Kanada zeitweise (Supreme Court of Canada, Law v. Canada (Minister of Employment and Immigration), [1999] 1 SCR 497, anders dann Supreme Court of Canada, R. v. Kapp, [2008] 2 SCC 41) und in den USA Bezugspunkt unter anderem der Entscheidungen zur Diskriminierung homosexueller Paare im Eherecht geworden, siehe US Supreme Court, Obergefell v. Hodges, 576 U. S. 644 (2015). Da dieses Verständnis Antidiskriminierungsrecht schwächt, bezieht sich das kanadische Gericht nun wieder auf die materielle Gleichheit.
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Eine Möglichkeit läge darin, auf die subjektive Erfahrung und Selbstbezeichnung abzustellen: Wer sich „als“ xyz benachteiligt erlebt, hat eine Anspruchsposition.134 Dagegen spricht, dass damit wieder der Zwang zur Zuordnung zu Kategorien verbunden ist, was das Problem des Gruppismus und der Minderheiten innerhalb der Gruppe nicht löst. Zudem ist keineswegs selbstverständlich oder gar immer zu verlangen, dass sich Menschen selbst stigmatisieren. Das zeigt beispielsweise der Schutz des Forum Internum eines Glaubens wie auch im Asylrecht, wo ein Bekenntnis zu einer homosexuellen Orientierung als erzwungenes Coming Out erlebt wird und nicht gefordert werden darf.135 83 Eine weitere Möglichkeit, Antidiskriminierungsrecht postkategorial zu verstehen, liegt in der Orientierung auf Rollenzuweisungen und Stereotype.136 Diskriminierung liegt dann vor, wenn Menschen auf Rollen festgelegt und stereotyp bewertet werden.137 Ein Rollenzuweisungsverbot, die jede Kategorie als „Zumutung“ erscheinen lässt,138 erfasst tatsächlich, dass Diskriminierung vielfach als ungerecht erlebt wird, weil Wahrnehmung und Wertung nicht das Individuum, sondern eine zugeschriebene Rolle – oder die Verletzung derselben – fokussieren. Ein Nachteil der Orientierung auf ein Rollenzuweisungsverbot liegt aber darin, dass sich Diskriminierung dann im Kopf der Handelnden abspielt, als eine Täterperspektive privilegiert wird. Zudem droht dieses Verständnis von Diskriminierung, sehr allgemein zu werden: Rollen als Stereotype sind ungerecht, weil sie Individualität nicht anerkennen, und das kann natürlich jede_n treffen. Der soziale Kontext der „Verhältnisse“ tritt dann jedenfalls in den Hintergrund. In eine ähnlich individualisierende Richtung geht der Vorschlag, Antidiskriminierungsrecht in erster Linie als Identitätsschutz zu fassen.139 Ob das dazu führt, die konkrete Verletzung der Diskriminierung angemessen zu werten, erscheint zumindest fraglich. 84 Die Orientierung auf Stereotype ist so liberal wie gängig. Etwas genauer setzt der Vorschlag an, auf die negativen, verfestigten Stereotype zu reagieren, also Antidiskriminierungsrecht auf das Stigma140 zu beziehen. Nach Solanke liegt in der Stigmatisierung eine 82
134 Vgl. Völzmann (Fn. 114), S. 381 ff. 135 Vertiefend Spijkerboer/Jansen, Fleeing Homophobia, 2011. Lesenswert EuGH, Urt. v. 2.12.2014,
Rs. C-148/13, C-149/13, C-150/13, A, B und C v. Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie; EuGH, Urt. v. 25.1.2018, Rs. C-473/16, F v. Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal. 136 Ausführlich Brems/Timmer (Hrsg.), Stereotypes and Human Rights Law, 2016. Siehe auch Petersen/ Six (Hrsg.), Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung, 2008. 137 Z. B. EGMR, Urt. v. 10.7.2012, Beschwerde-Nr. 58369/10, SGP v. Niederlande; EGMR, Urt. v. 22.3.2012, Beschwerde-Nr. 30078/06, Markin v. Russland zu Elternstereotypen; zum Fall rassistischer Elternstereotype vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.11.2014, 1 BvR 1178/14 – Sorgerechtsentziehung. Desgleichen BVerfGE 133, 59 – Sukzessivadoption (2013) mit Anm. Mangold, Nicht nur ‚kompetente Eltern‘, Streit 2013, S. 107. 138 Adamietz, Geschlecht als Erwartung, 2011; schon früh rollentheoretisch Slupik, Die Entscheidung des Grundgesetzes für Parität im Geschlechterverhältnis, 1988. 139 Grünberger, Personale Gleichheit, 2013. 140 Grundlegend beschreibt Goffman, Stigma, 1963 (deutsch 1967), insbesondere S. 9–30, 156–171 die Diskreditierung, die mit einem Stigma einhergeht und die auf eine Ideologie zurückgeht, die zugleich die Animosität rationalisiert, in der wir dann Eigenschaften verdichten und andichten (S. 14). Das soziologische Hauptproblem sei allerdings der Platz der Stigmatisierten in der Sozialstruktur (S. 156), wiederum aufgrund bestimmter Normen. Susanne Baer
D. Postkategoriale Konzepte
257
Verletzung von Menschenwürde und Gleichheit.141 Das Stigma verbindet sich gut mit der in Deutschland gängigen Deutung der Leitbegriffe des Antidiskriminierungsrechts als „Merkmale“, da das „Mal“ der Person anhaftet und sie einem negativen Typus zuordnet. Das Bundesarbeitsgericht hat zum Schutz von Beschäftigten mit einer symptomlosen HIVInfektion ebenfalls auf die „darauf beruhende Stigmatisierung“ abgestellt.142 Daneben könnte Antidiskriminierungsrecht auf die Vulnerabilität oder Verletzbarkeit 85 derjenigen fokussieren, die diskriminiert werden. Das bedeutet, nicht eine im Einzelfall klare Kausalität zu erwarten, sondern Ansprüche aus den Folgen struktureller Benachteiligung herzuleiten, die sich im Einzelfall aktualisiert, weil eben eine spezifische Verletzbarkeit vorliegt.143 Zum einen wird das der historischen Entwicklung gerecht, da Antidiskriminierungsrecht aus Rechtskämpfen gegen diese Nachteile entstanden ist. Zudem kann so verhindert werden, doch durch den Vergleich zu einer Angleichung an eine problematische Norm zu tendieren. Die Substanz eines substantiellen Gleichheitsrechts muss dann als konkreter Nachteil benannt werden. Allerdings sollte postkategoriales Antidiskriminierungsrecht damit nicht neutral fassen, 86 was doch spezifisch ist. So liegt es durchaus nahe, Diskriminierung als Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu verstehen.144 Doch wird das dem hier relevanten Unrecht nur gerecht, wenn der spezifische Gehalt benannt wird, den diese Verletzung als Diskriminierung hat. Das ist alles andere als leicht oder breit konsentiert. Die Herausforderung besteht im Unterschied zu stereotyp-gruppistischen Kategorien gerade darin, für den jeweiligen Kontext Erfahrungen zu beschreiben, die ebenso individuell erlebt wie sozial geteilt werden. So wäre Sexismus nicht einfach eine Missachtung der Persönlichkeit, sondern die sich konkret realisierende sexualisierende Abwertung als Frau durch die Zuordnung zu einem Geschlecht, das als „weiblich“ und nicht nur als „anders“ gefasst wird und gelebt werden soll. Desgleichen wäre Rassismus spezifischer zu fassen als Fremdenfeindlichkeit, um den biologistischen, kolonialen, exotisierend-sexualisierten Gehalt benennen zu können, der mit je eigenen Modi der Abwertung von Menschen einhergeht. Beide nehmen zudem je besondere konkrete Formen der Gewalt an, sind also erst dann adäquat adressiert, wenn das auch in der rechtlichen Bewertung – als Gewalt und Diskriminierung – zum Tragen kommt. So betont der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einigen Entscheidungen zu rassistischer Gewalt gegen Roma, dass diese spezifische Verletzung von Grundrechten unter anderem in der Arbeit der Behörden beachtet werden muss,145 und hat rassistische Gewalt gegen eine nigerianische Prostituierte in Spanien als Diskriminierung bewertet.146 Solanke, Discrimination as Stigma, 2017. BAG, Urt. v. 19.12.2013, 6 AZR 190/12. Vgl. Baer/Markard (Fn. 24), Art. 3 Abs. 3 Rn. 387. Grünberger (Fn. 139), S. 595 ff. Die erzwungene Sterilisation von Romani wurde vom EGMR, Urt. v. 8.11.2011, BeschwerdeNr. 18968/07, V. C. v. Slovakei nicht unter Art. 14 EMRK subsumiert. Eine Verletzung von Gleichheitsrechten erkannte eine Kammer in EGMR, Urt. v. 11.12.2018, Beschwerde-Nr. 655/16, Lakatosova und Lakatos v. Slovakei. Dort heißt es, mit Hervorhebungen von mir, in Rn. 75: In relation to alleged racist attacks, …
141 142 143 144 145
Susanne Baer
258
§ 5 Das Kategorienproblem
IV. Dominanz, Hierarchisierung, Privilegien 87 Schließlich bietet es sich an, ein angemessenes Verständnis von Antidiskriminierungs-
recht unter Berücksichtigung genau des Rechts zu konzipieren, das dem gesamten Rechtsgebiet zugrunde liegt: der Gleichheit, wenn auch: realistisch verstanden. Das lenkt den Blick nicht auf Unterschiede, Diversität oder Differenz, sondern auf Unterdrückung, Hierarchie und Dominanz. Es scheint auch hilfreich, den sich ständig ändernden Charakter von Diskriminierung zu berücksichtigen, weshalb kein bestimmtes Verhältnis und keine statische Hierarchie adressiert werden, sondern eine bestimmte soziale Dynamik, also nicht Hierarchie, sondern Hierarchisierung. Das folgt wiederum der historischen Entwicklung der Rechtskämpfe, die sich gegen diejenigen Dynamiken, Muster und gesellschaftlich wirksamen Kräfte wandten und wenden, die Diskriminierung ausmachen. Das Verbot der Ungleichbehandlung aufgrund der „Rasse“ ist deshalb sachgerechter als ein Verbot des Rassismus147 zu bezeichnen, der Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Haare, Nase, Kopfform usw. verletzt. Es kann auch als Verbot einer rassistischen Benachteiligung gefasst werden, um näher am Duktus von § 1 AGG usw. zu bleiben.148 Nicht ungefährlich ist es demgegenüber, auf „rassistische Gründe“ abzustellen, weil das vielfach als Aufforderung missverstanden wird, nach den Motiven bestimmter Handlungen zu suchen, anstatt auf deren realen Gehalt im jeweiligen Kontext abzustellen.149 Das Verbot der Ungleichbehandlung „wegen seines Geschlechts“ ist dann ein Verbot des Sexismus,150 der Frauen als natürlich ungeordnete, auf die Privatsphäre beschränkte Ergänzung von Männern behandelt und nicht dem hegemonialen Modell entsprechende Männer benachteiligt.151 Dementsprechend nennt die südafrikanische Verfassung von 1996 als (zweiten) Wert, dass das Land auf non-racialism and non-sexism orientiert sei. Desgleichen ist das Verbot der Benachteiligung wegen der Behinderung dann ein Verbot der Barrieren, die Menschen gesetzt werden, die nicht einer körperlichen oder geistigen Norm entsprechen, the State authorities have the additional duty to take all reasonable steps to unmask any racist motive and to establish whether or not ethnic hatred or prejudice may have played a role in the events. Treating racially induced violence and brutality on an equal footing with cases that have no racist overtones would be to turn a blind eye to the specific nature of acts which are particularly destructive of fundamental rights. A failure to make a distinction in the way in which situations that are essentially different are handled may constitute unjustified treatment irreconcilable with Article 14 of the Convention. Das Gericht verweist unter anderem auf EGMR, Urt. v. 31.5.2007, Beschwerde-Nr. 40116/02, Šečić v. Kroatien, Rn. 66 und EGMR, Urt. v. 27.1.2015, Beschwerde-Nr. 29414/09, 44841/09, Ciorcan u. a. v. Rumänien, Rn. 158. 146 EGMR, Urt. v. 24.7.2012, Beschwerde-Nr. 47159/08, B. S. v. Spanien. 147 Vgl. Möschel, Racial Stereotypes and Human Rights, in: Brems/Timmer (Hrsg.), Stereotypes and Human Rights Law, 2016, S. 119. 148 Die Frage war bereits Gegenstand rechtspolitischer Debatten. Nachweise bei Liebscher/Naguib/Plümecke/Remus (Fn. 49), S. 214. 149 Hier liegt ein zentrales Problem des Strafrechts, das Motive in der Strafzumessung adressiert, anstatt objektive Tatbestandsmerkmale zu identifizieren, die eine Tat als rassistisch kennzeichnen. 150 Liebscher/Naguib/Plümecke/Remus (Fn. 49), S. 213 plädieren für Heterosexismus, unter anderem in Orientierung an Adamietz (Fn. 138). 151 Sexismus ist insofern geteilte Erfahrung als gesellschaftliches Verhältnis; vgl. grundlegend MacKinnon (Fn. 59), S. 639 Fn. 8, S. 520 Fn. 7. Susanne Baer
E. Ausblick
259
ein Verbot des ableism152 – ein Verständnis, das die UN-Konvention bereits in Ansätzen prägt.153 Mit dieser Orientierung auf Unrechtserfahrungen zielt Antidiskriminierungsrecht aus- 88 drücklich auf die Dynamik der Ausgrenzung. Damit wird begrifflich zugleich auf bestimmte „gleichheitsrechtliche Gefährdungslagen“ hingewiesen, in denen sich Menschen befinden, die von Rassismus, Sexismus usw. betroffen sind. Die ausdrückliche Benennung ist hier nicht konstitutiv für eine Subjekt- und Anspruchsposition, sondern erzeugt Aufmerksamkeit für eine bestimmte gesellschaftliche Praxis, deren genaue Gestalt und Wirkung je im Einzelfall geklärt werden muss. Das passt zum juristisch etablierten Begriff des „Merkmals“, da verdeutlicht werden soll, wo eine diskriminierende Benachteiligung ansetzt: Das Mal ist ein Stigma.154 Antidiskriminierungsrecht ist danach Recht auf Schutz vor der Verletzung durch Ausgrenzung aus Gründen der zugeschriebenen Andersartigkeit.155 So lässt sich begründen, dass Diskriminierung völlig unabhängig davon auftauchen kann, ob dies gewollt oder beabsichtigt oder gar von ernsthafter Feindseligkeit getragen ist, weshalb – auch schon nach geltendem Antidiskriminierungsrecht – Rechtsfolgen auch eintreten, wenn kein Vorsatz vorhanden ist.156 Schließlich lässt sich diese Perspektive auf das Herrschaftsverhältnis, das die Benach- 89 teiligung erzeugt, verfestigt und legitimiert, auch mit einer wichtigen Entwicklung in der Ungleichheits-, Gender- und Rassismusforschung zusammenbringen: Der Auseinandersetzung mit Privilegien.157
E. Ausblick Wenn Antidiskriminierungsrecht tatsächlich gegen Diskriminierung wirksam werden 90 soll – wie soll es dann Diskriminierung von Geschlecht und sexueller Orientierung, Rasse, Ethnie, Ethnizität, ethnischer, nationaler oder kultureller Herkunft oder Zugehörigkeit, eventuell auch Klasse, Schicht, sozialem Status und familialer Herkunft und von Glaube, Weltanschauung und politischer Überzeugung unterscheiden, und Diskriminierung von Alter, Genen und physischer und mentaler Befähigung strategischer begreifen? Wie kann Antidiskriminierungsrecht den diesen Begriffen regelmäßig eingeschriebenen Essentialismus beseitigen? 152 Liebscher/Naguib/Plümecke/Remus (Fn. 49), S. 215. 153 Quinn/Degener, Human Rights and Disability, The current use and future potential of United Nations
human rights instruments in the context of disability, OHCHR 2002. Baer/Markard (Fn. 24), Art. 3 Abs. 3 Rn. 439; dazu Solanke (Fn. 120). Schiek (Fn. 102), S. 62. Grundlegend unter anderem EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draehmpaehl. Als kanonisch gelten die Arbeiten von Peggy McIntosh und Paula Rothenberg, in: Johnson (Hrsg.), Privilege, Power and Difference, 2. Aufl. 2005, S. 12 ff. Dazu haben Lesch McCaffry in den USA und Baer/ Hrzán in Deutschland einen Privilegien-Test entwickelt. Er findet sich online unter https://www.rewi.huberlin.de/de/lf/ls/bae/w/files/lsb_wissen/pivilege_test_en_02-03-09.pdf/view.
154 155 156 157
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260 91
§ 5 Das Kategorienproblem
Solange Recht mit derartigen Begriffen arbeitet, gilt es, gut mit ihnen umzugehen. Adäquate Deutungen lassen sich nicht zuletzt in Musterprozessen erarbeiten,158 wenn beispielsweise Geschlecht nicht mehr als Frage der (meisten) Frauen oder Männer thematisiert werden würde, sondern einschließlich der Problematik der Körper, der sexualisierenden Praxen und der Heteronormativität,159 als Aktualisierung hierarchischer Geschlechterverhältnisse mit ganz konkreten Folgen. Die US-amerikanische Rechtswissenschaftlerin Patricia Williams hat dazu formuliert: „Die Perspektive, die wir einnehmen müssen, liegt jenseits der Schubladen, die wir kennen. Es ist eine Perspektive, die auf zwei Ebenen und noch auf 85 weiteren existiert – und zwar gleichzeitig. Es ist diese Perspektive, die ambivalente, multivalente Art des Sehens, die den Kern dessen ausmacht, was wir kritische Theorie, feministische Rechtswissenschaft, oder Minderheitenkritik am Recht nennen. Es hängt mit einer fluiden Positionierung zusammen, die über Grenzen hinweg hin und her schaut, die anerkennt, dass ich schwarz und gut und schwarz und schlecht sein kann, und dass ich auch schwarz und weiß, männlich und weiblich, yin und yang, Liebe und Hass sein kann. – Nichts ist einfach. Jeder Tag bedeutet neue Arbeit.160
158 Carbado, Colorblind Intersectionality, Signs 38 (2013), S. 881. 159 So schon Baer, in: Beger u. a. (Hrsg.), Queering Demokratie. Sexuelle Politiken, 2000, S. 27. 160 Williams, The Alchemy of Race and Rights, 1991, S. 130.
Susanne Baer
§ 6 Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Diskriminierungskategorien Nora Markard* Inhaltsübersicht Rn. A. Begriffe und Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Sexuelle Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Geschlechtsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 3 8 11
B. Normative Verankerungen und Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Internationales Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) CEDAW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Europarat: Menschenhandel- und Istanbul-Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Internationales Flüchtlings- und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unionales Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14 15 15 18 20 22 23 27 28 31 33 33 36
C. Konzeptioneller Zugriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Geschlecht: Zwischen Verschiedenheit und Gleichstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwischen Schutz der Privatheit und Anspruch auf gleiche Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtfertigungsmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39 39 42 42 47
D. Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gewaltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutz vor Gewalt im sozialen Nahbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Recht gegen sexuelle Belästigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Digitale Gewalt und Hassrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Flüchtlingsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50 52 53 59 62 66
* Die Verfasserin dankt Eva Bredler, Victoria Guijarro Santos und Pia Storf für Anmerkungen und Diskus-
sionen, Johanna Schlingmann und Marlene Stiller für weiterführende Recherchen und Mehrdad Payandeh für hilfreiche editorische Kommentare. Dieser Beitrag baut zudem auf die gemeinsame Arbeit mit Susanne Baer auf, Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 2 und 3. Nora Markard
262
§ 6 Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Diskriminierungskategorien
II. Partnerschaft, Reproduktion und Personenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gleichstellung in Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anerkennung der Geschlechtsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gleichstellung im Erwerbsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zugang zu Berufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entgeltgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Quoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gleichstellung im Wirtschaftsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
68 68 70 73 74 78 81 84
Das Geschlecht bildet im deutschen Antidiskriminierungsrecht die Leitkategorie. Anders als in den USA, wo die entscheidenden Fortschritte von der Civil Rights-Bewegung erkämpft wurden,1 wurden in Deutschland die ersten Gleichstellungsgesetze von der Frauenbewegung erkämpft.2 Auch in der deutschen Rechtswissenschaft hat die feministische Rechtsforschung zentrale Vorarbeiten für die Dogmatik des Antidiskriminierungsrechts erbracht3 und ihm gedanklich, begrifflich und methodisch den Weg geebnet; freilich konnte sie dabei ihrerseits auf US-amerikanische Vorarbeiten auch zur rassistischen Diskriminierung zurückgreifen. Von diesem transatlantischen Wissenstransfer profitierte auch der EuGH, der seinerseits im Bereich der Geschlechtsdiskriminierung eine entscheidende Triebkraft darstellte.
A. Begriffe und Konzepte 2
Das Verhältnis zwischen den Rechtsbegriffen Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung wird sehr unterschiedlich konzipiert. Teils werden diese Begriffe unterschieden, teils werden letztere als Aspekte eines umfassenderen Geschlechtsbegriffs verstanden; häufig werden sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität gemeinsam behandelt, wie sich dies in der Bezeichnung „LGBT“4 ausdrückt. Wie auch bei anderen Diskriminierungskategorien werden diese neutral gefassten Begriffe – „Geschlecht“ erfasst sowohl Männer als auch Frauen und diverse Personen, „sexuelle Orientierung“ sowohl Heterosexuelle als auch Homo- oder Bisexuelle – regelmäßig mit der marginalisierten 1 Der Civil Rights Act (Public Law 88–352, 78 Stat. 241), verabschiedet am 2.7.1964, erfasst allerdings
auch Religion, Geschlecht und nationale Herkunft.
2 Das Schwerbeschädigtenrecht, das bereits auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurückgeht, zielt we-
niger auf eine Gleichstellung behinderter Menschen insgesamt als auf eine Integration Kriegsbeschädigter ab. 3 Siehe unter anderem Pfarr, Quoten und Grundgesetz, 1988; Slupik, Die Entscheidung des Grundgesetzes für Parität im Geschlechterverhältnis, 1988; Raasch, Frauenquoten und Männerrechte, 1991; Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 1991; Baer, Würde oder Gleichheit, 1995; dazu auch → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 18. 4 Diese Abkürzung steht für „lesbian, gay, bisexual, transgender“ inzwischen meist ergänzt um „intersexual“ (LGBTI), eingedeutscht als „LSBTI“. Sie wird vielfach erweitert, etwa um ein Q für „queer“, ein A für „asexual“ oder ein Sternchen oder Plus-Zeichen für weitere Identitäten. Nora Markard
A. Begriffe und Konzepte
263
Ausprägung der Kategorie – Frauen, LGBT – kurzgeschlossen. Indem damit nur die diskriminierungsrelevante Abweichung von der Normalität spezifisch benannt wird, bleibt allerdings die Geschlechtsspezifik und Heteronormativität dieser „Normalität“ ebenso unsichtbar wie die hieraus resultierenden Privilegien derer, die ihr entsprechen.5 I. Geschlecht
Das Verbot der Geschlechtsdiskriminierung bezieht sich im herkömmlichen Verständnis 3 auf die Ungleichbehandlung im Geschlechterverhältnis zwischen Männern und Frauen. Diesem Verständnis liegt ein binäres Geschlechterkonzept zugrunde, wonach Menschen jedenfalls dem Grundsatz nach in zwei Kategorien eingeteilt werden können, die klar voneinander unterschieden werden können: männlich und weiblich. Dieses Paradigma der Zweigeschlechtlichkeit rekurriert im Wesentlichen auf die körperlichen Merkmale, die sich bei der jeweils typischen Ausprägung und Kombination von Chromosomen und Hormonspiegeln entwickeln („biologisches Geschlecht“, englisch sex). Entsprechend werden Neugeborene traditionell anhand ihrer äußeren Merkmale einem von zwei rechtlichen Geschlechtern zugeordnet.6 Das Paradigma der Zweigeschlechtlichkeit stößt jedoch bereits aus medizinischer Sicht 4 an Grenzen. So lassen sich keineswegs alle Menschen aufgrund ihrer angeborenen körperlichen Merkmale problemlos in das binäre Schema männlich/weiblich einordnen. Um das Schema aufrechtzuerhalten, wird in solchen Fällen von Intersexualität oder Zwischengeschlechtlichkeit gesprochen. In der Medizin werden diese „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ als „disorders of sex development“ (DSD) pathologisiert.7 Der Zwang der Zuordnung auch von Neugeborenen mit solchen Varianten der Geschlechtsentwicklung zu einem von zwei rechtlichen Geschlechtern im Personenstandsrecht wurde erst 2013 dadurch entschärft, dass es § 22 Abs. 3 PStG ermöglichte, den Geschlechtseintrag offen zu lassen;8 seit Ende 2018 ist auch der Eintrag „divers“ möglich (siehe nun auch § 45b PStG).9 Anknüpfend an die Unterscheidung zweier biologischer Geschlechter werden den bei- 5 den Geschlechtern auch jeweils unterschiedliche Eigenschaften, Interessen, Verhaltensweisen und Rollen zugeschrieben („soziales Geschlecht“, englisch gender). Diese gelten zwar als komplementär und grundsätzlich gleichwertig, werden jedoch kontextspezifisch hierarchisiert. So werden – mit teils biologistischen Begründungen – Frauen tendenziell 5 Zum Begriff der Privilegien prägend McIntosh, White Privilege and Male Privilege, Wellesley Center for
Research on Women Working Paper 189 (1988).
6 Ausführlich Adamietz, Geschlecht als Erwartung, 2011, S. 62 ff. 7 Dies gilt auch für die 2019 von der WHO verabschiedete International Classification of Diseases – 11th
Revision (ICD-11). Für die deutsche Debatte siehe Bundesärztekammer, Stellungnahme der Bundesärztekammer „Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Varianten/Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD)“, Deutsches Ärzteblatt 2015, S. 1. 8 Gesetz zur Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften (Personenstandsrechts-Änderungsgesetz, PStRÄndG) v. 7.5.2013, BGBl. 2013 I, S. 1122. 9 Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben v. 18.12.2018, BGBl. 2018 I, S. 2635. Nora Markard
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§ 6 Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Diskriminierungskategorien
Eigenschaften zugeschrieben, die im familiär-sozialen Bereich gefragt sind (Weichheit, Emotionalität, Empathie), während Männern tendenziell Eigenschaften zugeschrieben werden, die im professionell-politischen Bereich als zentral gelten (Härte, Rationalität, Autonomie). 6 Diese Dichotomie „privat/öffentlich“ ist für die Geschlechterordnung konstitutiv und durchzieht zugleich die Rechtsordnung.10 Beispielsweise haben die Zuordnung „der Frau“ zum häuslichen Bereich und ihre stereotype Unzulänglichkeitserklärung für Tätigkeiten außerhalb des Erziehungs- und Pflegebereichs bis ins 20. Jahrhundert hinein den Zugang von Frauen zu vielen Berufsfeldern behindert; erst 1919 erhielten Frauen in Deutschland das Wahlrecht.11 Insoweit der private Bereich als vor dem Zugriff des Staates geschützt galt, waren Frauen auch lange Zeit familiärer und partnerschaftlicher Gewalt schutzlos ausgesetzt. Dieses Dogma prägte auch die Debatte um die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe.12 7 In welchem Umfang das „soziale Geschlecht“ biologisch determiniert und/oder sozial geprägt ist, bleibt umstritten. Gleichstellungspolitik geht davon aus, dass tradierte Rollenbilder und Stereotype nach wie vor nicht nur gesellschaftlich wirksam sind, sondern sich auch in institutionalisierten Strukturen niederschlagen, die Frauen – aber auch Männer – dabei behindern, stereotype Rollenerwartungen zu durchbrechen. Hiergegen wird immer wieder eingewandt, solche Politik verkenne die natürliche Unterschiedlichkeit von Männern und Frauen und versuche sie zum geschlechtslosen Einheitsmenschen zu formen.13 Mit diesem Argument werden jedoch nicht nur freie Entscheidungen, sondern auch gesellschaftlich verengte Wahlmöglichkeiten naturalisiert und dadurch normalisiert.14 Mit dem Begriff der Intersektionalität lässt sich zudem erfassen, dass Geschlechtserwartungen beispielsweise rassifiziert, altersspezifisch ausdifferenziert oder durch mit Behinderungen verbundenen Stereotypen geprägt sind.15 II. Sexuelle Orientierung 8 Zu den normativen und gesellschaftlichen „Erwartungen“,16 die sich an die Geschlechts-
zugehörigkeit knüpfen, gehört zudem die Erwartung eines exklusiv auf Angehörige des jeweils anderen Geschlechts gerichteten Begehrens. Die Erwartung der Heterosexualität
10 Pateman, The Sexual Contract, 1988; Hausen, Überlegungen zum geschlechtsspezifischen Struktur-
wandel der Öffentlichkeit, in: Gerhard u. a. (Hrsg.), Differenz und Gleichheit, 1990, S. 155.
11 Überblick bei von Hindenburg, Erwerbstätigkeit von Frauen im Kaiserreich und in der Weimarer Re-
publik, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv v. 13.9.2018.
12 Dazu unten Rn. 56 (D. I. 1.). 13 Exemplarisch: Lenzen, Den Tod mit der Lebenslust versöhnen, Wer die Geschlechterdifferenz beseiti-
gen will, hofft auf Unsterblichkeit, Der Tagesspiegel v. 22.11.2006; Zastrow, Gender, 2006.
14 Zu Naturalisierung und Normalisierung Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021,
S. 313 ff.
15 Zu letzterem beispielsweise Zinsmeister, Mehrdimensionale Diskriminierung, 2005, S. 88–90; allg.
Markard, Die andere Frage stellen, KJ 2009, S. 353 (354 f.), m. w. N. 16 Adamietz (Fn. 6). Nora Markard
A. Begriffe und Konzepte
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wird auch als Heteronormativität bezeichnet.17 Insofern heteronormatives Verhalten als Teil der weiblichen bzw. männlichen gender performance verstanden wird, also der Ausfüllung von Geschlechterrollen und Codes, lässt sich die sexuelle Orientierung auch als Teil von gender fassen.18 Dieses Verständnis deutet sich auch im Geschlechtsverständnis der Istanbul-Konvention an.19 Rechtlich äußert sich diese Erwartung in Institutionen und Regelungen, die auf hetero- 9 sexuelle Paare zugeschnitten sind, namentlich im Eherecht. 2001 schuf das Lebenspartnerschaftsgesetz (LPartG)20 eine Möglichkeit, auch gleichgeschlechtliche Verbindungen rechtlich anerkennen zu lassen, stattete diese jedoch mit deutlich weniger Rechten aus. Nachdem der EuGH diese Rechtslage in Maruko21 für rechtfertigungsbedürftig erklärt hatte, kippte das BVerfG Schlechterbehandlungen im LPartG vom Steuerrecht bis zum Adoptionsrecht,22 bis der Gesetzgeber schließlich 2017 die Ehe öffnete.23 Ungelöst bleiben bisher zahlreiche kindschaftsrechtliche Fragen in gleichgeschlechtlichen Familien.24 Die Erwartung der Heterosexualität war lange Zeit auch strafbewehrt; erst 1994 wurde 10 in der Bundesrepublik die Strafbarkeit sexueller Handlungen zwischen Männern aufgehoben.25 Dass bei der letzten Verschärfung der Norm 1935 die weibliche Homosexualität nicht unter Strafe gestellt wurde, hängt mit Geschlechterstereotypen zusammen, die das BVerfG 1957 ausführlich ausbuchstabierte: „Schon die körperliche Bildung der Geschlechtsorgane weist für den Mann auf eine mehr drängende und fordernde, für die Frau auf eine mehr hinnehmende und zur Hingabe bereite Funktion hin.“26 Aufgrund des „auf Mutterschaft angelegte[n] Organismus“ gelinge „der lesbisch veranlagten Frau das Durchhalten sexueller Abstinenz leichter, während der homosexuelle Mann dazu neigt, einem hemmungslosen Sexualbedürfnis zu verfallen“.27 Diese und weitere Gründe bewegten das BVerfG zu dem Schluss, dass im Rahmen des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG „lesbische Liebe und männliche Homosexualität im Rechtssinne als nicht vergleichbare Tatbestände erscheinen“.28
17 Vgl. etwa Hartmann u. a. (Hrsg.), Heteronormativität, 2007; grundlegend Rich, Zwangsheterosexualität
und lesbische Existenz, in: List/Studer (Hrsg.), Denkverhältnisse, 1989, S. 244.
18 Butler, Gender Trouble, 2. Aufl. 1990, S. 165–168. 19 Dazu unten Rn. 21 (B. I. 1. b). 20 Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft (Lebenspartnerschaftsgesetz, LPartG) v. 16.2.2001,
BGBl. 2001 I, S. 266.
21 EuGH, Urt. v. 1.4.2008, Rs. C-267/06, Maruko. 22 Dazu unten Rn. 36 (B. III. 2.). 23 Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts, BGBl. 2017
I, S. 2787. Dazu unten Rn. 69 (D. II. 1.). Siehe unten Rn. 36 (B. III. 2.). BVerfGE 6, 389 (425) – Homosexualität (1957). BVerfGE 6, 389 (426) – Homosexualität (1957). BVerfGE 6, 389 (432) – Homosexualität (1957).
24 25 26 27 28
Nora Markard
266
§ 6 Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Diskriminierungskategorien
III. Geschlechtsidentität
Das selbst empfundene – im Unterschied zum rechtlich zugeordneten – Geschlecht29 wird als Geschlechtsidentität bezeichnet. Während sich die meisten Menschen mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen auch rechtlich zugewiesen ist, werden Abweichungen des empfundenen vom rechtlichen Geschlecht als Transsexualität bezeichnet. Solche Abweichungen sind lange Zeit medizinisch pathologisiert worden, ebenso wie die vom biologischen Geschlecht abweichende gender performance, z. B. durch cross-dressing bzw. Transvestitismus. Erst 2019 entfernte die WHO solche Abweichungen von den normativen sozialen Geschlechtserwartungen in ihren Krankheits-Klassifikationen aus dem Kapitel zu mentalen und Verhaltensstörungen.30 12 Rechtlich sind damit die Probleme keineswegs gelöst. Denn das Personenstandsrecht verlangt nicht nur zwingend einen Geschlechtseintrag, sondern steht grundsätzlich auch einer nachträglichen Änderung oder Korrektur dieses Eintrags im Wege. Erst seit 1980 ermöglicht es das Transsexuellengesetz (TSG),31 vom einen in das andere rechtliche Geschlecht zu wechseln. Die rechtliche Anerkennung des empfundenen Geschlechts war allerdings mit umfangreichen Eingriffen in die körperliche Integrität zur Aufrechterhaltung des Paradigmas der Zweigeschlechtlichkeit sowie mit Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Heteronormativität – insb. Scheidungserfordernis – verbunden, die in den folgenden Jahren nach und nach vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt wurden.32 13 Unter den Begriff der Geschlechtsidentität wird auch die (zunächst unter Bezug auf körperliche Merkmale definierte) Intersexualität gefasst. Geschlechtsidentitäten jenseits des Männlich-Weiblich-Schemas – wie sie insbesondere manche intersexuelle Personen reklamieren, aber auch Personen, die sich unabhängig von ihren körperlichen Merkmalen jenseits der Zweigeschlechtlichkeit positionieren – sind im TSG nach wie vor nicht ausdrücklich vorgesehen. Seit einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde zur Dritten Option33 können Personen mit „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ den männlichen oder weiblichen Geschlechtseintrag streichen oder durch „divers“ ersetzen lassen (§ 45b PStG).34 11
29 Der Begriff des „empfundenen“ Geschlechts wird im Weiteren in Abgrenzung zum „rechtlichen“ Ge-
schlecht verwendet; letzteres findet sich in Geburtsurkunden und Personenstandsregistern, ersteres betrifft die Selbstzuordnung der jeweiligen Person. 30 WHO, International Classification of Diseases – 11th Revision (ICD-11), Mai 2019, Kapitel 06; siehe dagegen 10th Revision (ICD-10), 2016, Kapitel 05, F64 (Gender identity disorders). 31 Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz, TSG), BGBl. 1980 I, S. 1654. 32 BVerfGE 115, 1 – Transsexuelle III (2005); BVerfGE 121, 175 – Transsexuelle V (2008); BVerfGE 128, 109 – Lebenspartnerschaft von Transsexuellen (2011). Siehe auch unten Rn. 72 (D. II. 2.). 33 BVerfGE 147, 1 – Dritte Option (2017). 34 Dazu unten Rn. 71 (D. II. 2.). Nora Markard
B. Normative Verankerungen und Entwicklungslinien
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B. Normative Verankerungen und Entwicklungslinien Während die Diskriminierungskategorie „Geschlecht“ bereits seit den 1940er Jahren zum 14 Kanon der Diskriminierungsverbote gehört, sind „Geschlechtsidentität“ und „sexuelle Orientierung“ erst in jüngerer Zeit anerkannt worden, sowohl international als auch im Europarecht und in nationalen Rechtssystemen. Die verschiedenen Instrumente gewähren dabei nicht nur Schutz vor staatlicher Diskriminierung, sondern adressieren auch private Diskriminierung; teils sehen sie zudem aktive Gleichstellungsmaßnahmen vor. I. Internationales Antidiskriminierungsrecht 1. Geschlecht
Im internationalen Recht findet sich das Prinzip der Gleichberechtigung von Frauen und 15 Männern bereits in der Präambel der UN-Charta von 1945.35 In der UN-Menschenrechtskommission stellte Eleanor Roosevelt als Leiterin des Entwurfsausschusses sicher, dass das Verbot der Geschlechtsdiskriminierung in Art. 2 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR)36 von 1948 enthalten und der Rest der Erklärung geschlechtsneutral formuliert ist; beispielsweise indem in Art. 1 AEMR für den Begriff „alle Menschen“ nicht die Formulierung „all men“ sondern „all human beings“ verwendet wurde. Wie sie später berichtete: „the women said ‚All men,‘ oh, no. In this document we are not going to say ‚all men‘ because in some of our countries we are just struggling to recognition and equality. (…) If we say ‚all men,‘ when we get home it will be ‚all men.‘“37 Explizit werden die gleichen Rechte von Männern und Frauen noch einmal in Art. 16 AEMR hervorgehoben, der sich mit der Ehe befasst. Die im Nachgang zur AEMR erarbeiteten UN-Menschenrechtspakte von 196638 ver- 16 bieten in Bezug auf die Pakt-Rechte die Diskriminierung wegen des Geschlechts und gebieten die Sicherstellung der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 IPbpR, Art. 2 Abs. 3 und Art. 3 IPwskR). Art. 26 IPbpR verlangt darüber hinaus ein gesetzliches Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts und einen gleichen und wirksamen Schutz hiergegen. Art. 23 IPbpR garantiert zudem explizit gleiche Rechte bezüglich der Ehe, Art. 7 lit. a) i) IPwskR garantiert ein Recht auf Entgeltgleichheit. Die zuständigen UN-Menschenrechtsausschüsse haben das Gebot der Geschlechtergleichheit in 35 Dort heißt es: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, (…) unseren Glauben an
die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen (…).“ In der amtlichen englischen Fassung heißt es „the equal rights of men and women“, Charta der Vereinten Nationen v. 26.6.1945. 36 UN General Assembly, Resolution 217 (III) v. 10.12.1948, UN Doc. A/RES/217(III) A. 37 Roosevelt, Making Human Rights Come Alive, Speech To Pi Lambda Theta, Columbia University, 30.3.1949. 38 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1533; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1569. Nora Markard
268
§ 6 Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Diskriminierungskategorien
ihren Allgemeinen Bemerkungen genauer konkretisiert.39 Die verschiedenen UN-Agenturen für Frauenrechte wurden 2011 in UN Women zusammengeführt.40 17 Auch in weiteren UN-Antidiskriminierungsinstrumenten,41 in bereichsspezifischen Instrumenten42 und im regionalen Völkerrecht43 ist das Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts verankert, nicht zuletzt in Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)44. Protokoll Nr. 12 zur EMRK erstreckt dieses akzessorische Diskriminierungsverbot auf das gesamte Rechtssystem der Konventionsstaaten; weder die Bundesrepublik noch die Schweiz noch Österreich haben dieses Protokoll allerdings ratifiziert.45 Protokoll Nr. 7 zur EMRK gewährleistet darüber hinaus in Art. 5 die Gleichbehandlung im Eherecht.46 a) CEDAW 18
Erst viele Jahre nach der UN-Antirassismuskonvention ICERD (1965)47 wurde die UNFrauenrechtskonvention CEDAW (1979)48 verabschiedet. Ihr voraus gingen aber verschie39 CCPR, General Comment No. 4: Article 3 (Equal Right of Men and Women to the Enjoyment of All
Civil and Political Rights) v. 30.7.1981, UN Doc. HRI/GEN/1/Rev.6, S. 126; ersetzt durch CCPR, General Comment No. 28: Article 3 (The Equality of Rights Between Men and Women) v. 29.3.2000, UN Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add.10; CESCR, General Comment No. 16: The Equal Right of Men and Women to the Enjoyment of All Economic, Social and Cultural Rights (Art. 3 of the Covenant) v. 11.8.2005, UN Doc. E/C.12/2005/4. 40 UN General Assembly, Resolution 64/289 v. 2.7.2010, UN Doc. A/RES/64/289. 41 Art. 2 UN-Kinderrechtskonvention (KRK): akzessorisches Diskriminierungsverbot, Art. 6 UN-Behindertenrechtskonvention (UNBRK): Mehrfachdiskriminierung von behinderten Frauen und Mädchen. 42 Insbesondere Internationale Arbeitsorganisation (International Labor Organization, ILO), Übereinkommen Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf v. 25.6.1958, BGBl. 1961 II, S. 97, in Kraft seit 15.6.1960, 175 Ratifikationen (Stand: Dezember 2021), einschließlich Bundesrepublik (1961), Österreich (1973), Schweiz (1961). ILO-Konvention Nr. 111 gehört zu den Kernarbeitsnormen. Siehe auch ILO-Übereinkommen Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt v. 22.11.2019, 10 Ratifikationen, davon in drei Staaten bereits in Kraft, in den sieben weiteren (darunter Italien) ab 2022 (Stand: Dezember 2021). 43 Art. 1 Abs. 1 der American Convention on Human Rights v. 22.11.1969, UNTS 1144, in Kraft seit 18.7.1978; Art. 2 und Art. 18 Abs. 3 der African Charter on Human and Peoples’ Rights v. 27.6.1981, UNTS 1520, in Kraft seit 21.10.1986. Hier liegt inzwischen eine ausdifferenzierte Rechtsprechung vor; siehe Inter-American Commission on Human Rights, Compendium on Equality and Non-Discrimination, InterAmerican Standards, 2019. 44 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.1950, BGBl. 1952 II, S. 685, in der Fassung der Bekanntmachung v. 1.10.2010, BGBl. 2010 II, S. 1196; zuletzt geändert durch Protokoll Nr. 15 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 24.6.2013, SEV Nr. 213, BGBl. 2014 II, S. 1034, in Kraft seit 1.8.2021 (von allen EMRK-Staaten ratifiziert). 45 Protokoll Nr. 12 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, SEV Nr. 177, in Kraft seit 1.4.2005; Österreich hat es 2000 unterzeichnet. 46 Protokoll Nr. 7 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, SEV Nr. 117, in Kraft seit 1.11.1988; die Bundesrepublik hat das Protokoll bisher nur unterzeichnet (1985), die Schweiz und Österreich sind seit 1988 Parteien. 47 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung v. 7.3.1966, BGBl. 1969 II, S. 961, in Kraft seit 4.1.1969. 48 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau v. 18.12.1979, BGBl. 1985 II, S. 647. Nora Markard
B. Normative Verankerungen und Entwicklungslinien
269
dene spezialisierte Konventionen zur Situation von Frauen, so zum Frauen- und Mädchenhandel,49 zum Verlust der Staatsangehörigkeit von Frauen durch Heirat50 und über die politischen Rechte der Frau.51 Die CEDAW ist das umfassendste universelle Menschenrechtsinstrument zum Schutz 19 vor Geschlechtsdiskriminierung. Diese wird in Art. 1 CEDAW definiert als „jede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung, die zur Folge oder zum Ziel hat, dass die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Frau – ungeachtet ihres Familienstands – im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, staatsbürgerlichen oder jedem sonstigen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird.“ Wie der CEDAW-Ausschuss klargestellt hat, umfasst dies auch Gewalt gegen Frauen.52 Die Vertragsstaaten sind gem. Art. 2 CEDAW verpflichtet, durch Maßnahmen und Sanktionen jede Diskriminierung von Frauen zu verbieten und sie durch Gerichte wirksam zu schützen; dies umfasst auch die Pflicht, gegen private Diskriminierung und private Gewalt vorzugehen.53 Art. 3 CEDAW verpflichtet die Vertragsstaaten zu Gleichstellungsmaßnahmen; dazu gehören nach Art. 4 CEDAW neben Maßnahmen zum Schutz der Mutterschaft auch „zeitweilige Sondermaßnahmen (…) zur beschleunigten Herbeiführung der De-facto-Gleichberechtigung von Mann und Frau“, bis Chancengleichheit und Gleichbehandlung erreicht sind. Die Allgemeinen Empfehlungen des UN-Frauenrechtsausschusses (CEDAW-Ausschuss) haben den Gehalt dieser Verpflichtungen für die wichtigsten Bereiche genauer konkretisiert. Allerdings haben viele Staaten Vorbehalte zu dieser Konvention erklärt.54
49 Z. B. Internationales Übereinkommen zur Gewährleistung eines wirksamen Schutzes gegen Mädchen-
handel v. 18.5.1904, RGBl. 1905, S. 695; Internationales Übereinkommen zur Bekämpfung des Mädchenhandels v. 4.5.1910, RGBl. 1913, S. 31; Internationales Übereinkommen zur Unterdrückung des Frauenund Kinderhandels v. 30.9.1921, RGBl. 1924 II, S. 180; Internationales Abkommen über die Unterdrückung des Handels mit volljährigen Frauen v. 11.10.1933, BGBl. 1973 II, S. 1677 (GBl. DDR 1975 II, Nr. 4); alle vier geändert durch die Protokolle v. 4.5.1949 und 12.11.1949 (keine Zustimmung der Bundesrepublik zur Änderung der Konvention von 1933), BGBl. 1972 II, S. 1074, 1081, 1479, 1482, 1489 (GBl. DDR 1975 II, Nr. 4). Dazu kritisch Markard, Prostitution im internationalen Recht zwischen moralischer Panik und organisierter Kriminalität, in: Thiée (Hrsg.), Menschenhandel, 2008, S. 129 (130–132). 50 Übereinkommen über die Staatsbürgerschaft der verheirateten Frau v. 20.2.1957, UNTS 309, S. 65, BGBl. 1973 II, S. 1249 (GBl. DDR 1974 II, S. 349), in Kraft seit 11.8.1958. 51 Übereinkommen über die politischen Rechte der Frau v. 31.3.1953, BGBl. 1969 II, S. 1929 und BGBl. 1970 II, S. 46 (GBl. DDR 1974 II, Nr. 9). 52 CEDAW, General Recommendation No. 19: Violence against women v. 30.1.1992, UN Doc. A/47/38; siehe auch CEDAW, General Recommendation No. 12: Violence against women v. 3.3.1989, UN Doc. A/44/38, S. 75. Siehe auch UN General Assembly, Resolution 48/104, Declaration on the Elimination of Violence Against Women (DEVAW) v. 20.12.1993, UN Doc. A/RES/48/104. 53 CEDAW, General Recommendation No. 19 (Fn. 52), Rn. 9, 24. Siehe auch Declaration on the Elimination of Violence Against Women (Fn. 52). 54 Vgl. CEDAW, Declarations, reservations, objections and notifications of withdrawal of reservations relating to the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women v. 10.4.2006, UN Doc. CEDAW/SP/2006/2, S. 6 ff. Nora Markard
270
§ 6 Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Diskriminierungskategorien
b) Europarat: Menschenhandel- und Istanbul-Konvention
Über das Verbot der Geschlechtsdiskriminierung in der EMRK hinaus hat der Europarat auch spezialisierte Konventionen gegen die Diskriminierung von Frauen und Mädchen entwickelt. Hierzu gehört auch die Konvention zur Bekämpfung des Menschenhandels.55 Diese stellt klar, dass Geschlechtsdiskriminierung Frauen und Mädchen für den Menschenhandel verletzlich macht, und stellt daher besondere Vorgaben zum Schutz von Frauen und Pflichten zur Bekämpfung der Geschlechtsdiskriminierung auf.56 21 „Allen Formen von Gewalt gegen Frauen“ widmet sich die sogenannte Istanbul-Konvention (IK) des Europarats.57 Sie enthält in Art. 5 IK Achtungs-, Schutz-, Durchsetzungs- und Entschädigungspflichten. Zwar ist die Konvention auf „Gewalt gegen Frauen“ beschränkt, doch eröffnet sie die Möglichkeit, Gewalt wegen nicht-normativer Sexualität und Geschlechtsidentität als geschlechtsspezifische Gewalt zu verstehen, indem sie „Geschlecht“ definiert als „die gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Merkmale, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht“ (Art. 3 lit. c IK). 20
2. Internationales Flüchtlings- und Strafrecht 22
Der Schutz der internationalen Menschenrechte wird komplettiert durch das internationale Flüchtlingsrecht, das subsidiären Schutz gewährt, wenn der Heimatstaat schwere diskriminierende Menschenrechtsverletzungen – also Verfolgung – selbst begeht oder nicht verhindert.58 Zwar enthält die Liste der Verfolgungsgründe in der Flüchtlingsdefinition des Art. 1 A (2) der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)59 nicht das Geschlecht, obwohl die AEMR hier bereits drei Jahre zuvor einen Präzedenzfall gesetzt hatte; allerdings ist inzwischen anerkannt, dass das Geschlecht eine „bestimmte soziale Gruppe“ im Sinne der Konvention definieren kann.60 So stellt es daher auch Art. 10 lit. d der EU-Qualifikationsrichtlinie (QRL)61 klar. Schwerste diskriminierende Menschenrechtsverletzungen gegen 55 Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels v. 16.5.2005, SEV Nr. 197,
BGBl. 2012 II, S. 1107, in Kraft seit 2008.
56 Dieser antidiskriminierungsrechtliche Ansatz hebt diese Konvention von ihren Vorgängerinnen ab;
dazu Markard (Fn. 49), S. 140 f.
57 Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häus-
licher Gewalt, SEV Nr. 210, BGBl. 2017 II, S. 1026 (mit aufenthaltsrechtlichem Vorbehalt), in Kraft seit 1.8.2014. Der Begriff „Gewalt gegen Frauen“ erfasst „alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben“ (Art. 3 lit. a IK). 58 Grundlegend Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991. 59 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge v. 28.6.1951, BGBl. 1953 II, S. 559. 60 UNHCR, Guidelines on International Protection, Gender-Related Persecution within the context of Article 1A(2) of the 1951 Convention and/or its 1967 Protocol relating to the Status of Refugees v. 7.5.2002, UN Doc. HCR/GIP/02/01; UNHCR, Guidelines on International Protection, „Membership of a particular social group“ within the context of Article 1A(2) of the 1951 Convention and/or its 1967 Protocol relating to the Status of Refugees v. 7.5.2002, UN Doc. HCR/GIP/02/02. 61 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Normen für die Anerkennung Nora Markard
B. Normative Verankerungen und Entwicklungslinien
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Frauen können darüber hinaus eine individuelle Strafbarkeit nach internationalem Strafrecht begründen.62 3. Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität
Das Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und wegen der Ge- 23 schlechtsidentität ist wesentlich jünger als das Recht gegen Geschlechtsdiskriminierung. Weltweit gilt es bis heute als keineswegs selbstverständlich, obwohl es auf UN-Ebene inzwischen schon vielfach bekräftigt worden ist (wobei die Kategorien oft gemeinsam behandelt werden).63 Entsprechend gibt es in UN-Gremien häufig Gegenstimmen oder werden Abstimmungen deswegen vermieden. Namentlich der UN-Menschenrechtsrat hat seit 2011 bereits drei Resolutionen zu die- 24 sem Thema verabschiedet,64 zwei Berichte des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte in Auftrag gegeben65 und 2016 einen UN Independent Expert on Protection against violence and discrimination based on sexual orientation and gender identity (IE-SOGI) bestellt.66 2015 veröffentlichten zwölf UN-Organisationen eine Gemeinsame Stellungvon Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) (QRL) v. 13.12.2011, ABl. 2011 L 337/9. 62 ICC Elements of Crime, Art. 7 (1)(g), 8 (2)(b)(xxii)-I; siehe auch International Criminal Tribunal for Rwanda, Judgment v. 1.6.2001, Case No. ICTR-96–4-T, Prosecutor v. Akayesu. 63 Zusammenfassung in: UN, The Role of the United Nations in Combatting Discrimination and Violence against Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender and Intersex People, A Programmatic Overview v. 20.9.2019. Siehe auch Suhr, Rainbow Jurisdiction at the International Criminal Court, 2022, S. 199 ff. 64 Human Rights Council, Resolution 17/19, Human rights, sexual orientation and gender identity v. 17.6.2011, UN Doc. A/HRC/RES/17/19 (23 Ja-Stimmen, 19 Nein-Stimmen, 3 Enthaltungen); Human Rights Council, Resolution 27/32, Human rights, sexual orientation and gender identity v. 26.9.2014, UN Doc. A/HRC/RES/27/32 (25 Ja-Stimmen, 14 Nein-Stimmen, 7 Enthaltungen); Human Rights Council, Resolution 32/2, Protection against violence and discrimination based on sexual orientation and gender identity v. 30.6.2016, UN Doc. A/HRC/RES/32/2. 65 Human Rights Council, Discriminatory laws and practices and acts of violence against individuals based on their sexual orientation and gender identity, Report of the United Nations High Commissioner for Human Rights v. 17.11.2011, UN Doc. A/HRC/19/41; Discrimination and violence against individuals based on their sexual orientation and gender identity, Report of the Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights v. 4.5.2015, UN Doc. A/HRC/29/23. 66 Human Rights Council, Resolution 32/2, Protection against violence and discrimination based on sexual orientation and gender identity v. 30.6.2016, UN Doc. A/HRC/RES/32/2. Ein von Botswana eingebrachter Änderungsantrag sollte die Bestellung unbefristet verschieben, bis die Rechtsgrundlage des Mandats geklärt sei: UN Doc. A/C.3/71/L.46 v. 3.11.2016. Dieses stelle eine Einmischung in innere Angelegenheiten dar. „More importantly, it arises owing to the ominous usage of the two notions: sexual orientation and gender identity. We wish to state that those two notions are not and should not be linked to existing international human rights instruments.“ Statement of the African Group on the Presentation of the Annual Report of the United Nations Human Rights Council delivered by H. E. Mr. Charles T. Ntwaagae (Botswana) v. 4.11.2016, abrufbar unter: https://www.outrightinternational.org/sites/default/files/ BotswanaonbhlfofAfricanStates.pdf. Dies wurde auf Antrag von acht lateinamerikanischen Staaten abgelehnt (84 Ja-Stimmen, 77 Nein-Stimmen, 17 Enthaltungen). Das Mandat wurde 2019 auf Antrag von 52 Staaten verlängert (27 Ja-Stimmen, 12 Nein-Stimmen, 7 Enthaltungen). Nora Markard
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§ 6 Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Diskriminierungskategorien
nahme gegen Gewalt und Diskriminierung gegen LGBTI-Personen.67 Bereits 2003 hat die UN-Generalversammlung willkürliche Tötungen wegen der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität als diskriminierend angesehen,68 eine gemeinsame Erklärung von 96 UN-Mitgliedern zu sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität und Menschenrechten wurde jedoch 2008 nur in der Generalversammlung verlesen und nicht als Resolution verabschiedet.69 Die Verurteilung des Anschlags auf einen queeren Club in Orlando, Florida durch den UN-Sicherheitsrat („targeting persons as a result of their sexual orientation“) im Jahr 201670 galt insofern als Durchbruch. 25 Das einzige internationale Instrument zum Schutz der Rechte von LGBTI-Personen ist daher ein nicht-bindendes Soft law-Instrument. Die Yogyakarta-Prinzipien wurden 2006 von 29 Expert*innen aus 25 Staaten erarbeitet und wenden die existierenden Menschenrechte auf die Situation von LGBT-Personen an;71 2017 wurden sie um weitere zehn Prinzipien ergänzt (YP+10).72 Allerdings erlauben es offene Listen von Diskriminierungsgründen in bindenden Menschenrechtsverträgen, wie sie z. B. der IPbpR und der IPwskR, aber auch Art. 14 EMRK enthalten, auch die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität einzubeziehen.73 Der UN-Menschenrechtsausschuss ordnet allerdings die sexuelle Orientierung dem Verbot der Geschlechtsdiskriminierung zu.74 Zudem kann die Istanbul67 ILO, OHCHR, UNAIDS Secretariat, UNDP, UNESCO, UNFPA, UNHCR, UNICEF, UNODC, UN
Women, WFP and WHO, Ending Violence and Discrimination against Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender and Intersex People, September 2015. 68 Siehe z. B. UN General Assembly, Resolution 57/214, Extrajudicial, summary or arbitrary executions v. 25.2.2003, UN Doc. A/RES/57/214, Rn. 6. 69 Statement on Human Rights, Sexual Orientation and Gender Identity, French-Dutch-sponsored Declaration Read in the General Assembly by Argentina v. 18.12.2008. Eine Gegenerklärung von 54 Staaten wurde ebenfalls verlesen: Joint Statement, Issued by the Syrian Delegation, Organization of Islamic Conference-sponsored Declaration Read in the General Assembly by Syria v. 18.12.2008; auch der Heilige Stuhl veröffentlichte eine Gegenerklärung: Statement of the Holy See Delegation at the 63rd Session of the General Assembly of the United Nations on the Declaration on Human Rights, Sexual Orientation and Gender Identity v. 18.12.2008. 70 Security Council Press Statement on Terrorist Attack in Orlando, Florida v. 13.6.2016, UN Doc. SC/12399. 71 Yogyakarta Principles, Principles on the application of international human rights law in relation to sexual orientation and gender identity, 2006. 72 Yogyakarta Principles plus 10, Additional Principles and State Obligations on the Application of International Human Rights Law in Relation to Sexual Orientation, Gender Identity, Gender Expression and Sex Characteristics to Complement the Yogyakarta Principles, 2017. 73 Dazu etwa Adamietz (Fn. 6), S. 49–51. 74 CCPR, Decision v. 31.3.1994, Communication No. 488/1992, Toonen v. Australia, UN Doc. CCPR/ C/50/D/488/1992; als „established view of the Committee“ bezeichnet in CCPR, Decision v. 17.7.2002, Communication No. 902/1999, Joslin u. a. v. New Zealand, UN Doc. CCPR/C/75/D/902/1999, zustimmendes Sondervotum Lallah und Scheinin. Siehe auch CCPR, Decision v. 6.8.2003, Communication No. 941/2000, Young v. Australia, UN Doc. CCPR/C/78/D/941/2000, Rn. 10.3; CCPR, Decision v. 30.3.2007, Communication No. 1361/2005, X v. Colombia, UN Doc. CCPR/C/89/D/1361/2005, Rn. 9 („sex or sexual orientation“) und Rn. 7.2 („on the basis of his sexual orientation“), abweichendes Sondervotum Amor und Khalil; CCPR, Decision v. 30.12.2012, Communication No. 1932/2010, Fedotova v. Russian Federation, UN Doc. CCPR/C/89/D/1361/2005, Rn. 10.5 („sexual orientation“). Auch der US Supreme Court hat Nora Markard
B. Normative Verankerungen und Entwicklungslinien
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Konvention Gewalt gegen Frauen aufgrund der Non-Konformität mit geschlechtsbezogenen (z. B. heteronormativen) Rollen- oder Verhaltenserwartungen erfassen.75 Im internationalen Flüchtlingsrecht sind die Entwicklungen im Bereich „Geschlecht“ 26 auf die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität übertragen worden, so dass die Verfolgung von „sexuellen Minderheiten“ als Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe angesehen wird.76 II. Unionales Antidiskriminierungsrecht
Das Unionsrecht hat sich immer wieder als Motor des deutschen Antidiskriminierungs- 27 rechts erwiesen; dies gilt insbesondere im Bereich der Geschlechtsdiskriminierung und Gleichstellung. Hierbei konnte er an die im US-amerikanischen Recht – dort vor allem bezüglich der Kategorie race – entwickelten Rechtsfiguren (z. B. disparate impact) anknüpfen und diese fortentwickeln.77 1. Geschlecht
Das Verbot der Geschlechtsdiskriminierung findet sich – neben dem Verbot der Dis- 28 kriminierung wegen der Staatsangehörigkeit – von Anfang an im europäischen Gemeinschaftsrecht und ist unter den europäischen Diskriminierungsverboten damit das mit der längsten Tradition. Schon die europäischen Gründungsverträge von 1957 enthielten in Art. 119 EWG-Vertrag (heute Art. 157 AEUV ) ein Gebot der Entgeltgleichheit für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit. Eingeführt wurde diese Norm auf Betreiben Frankreichs, um befürchtete Wettbewerbsnachteile gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zu verhindern.78 Wie der EuGH 1976 klargestellt hat, ist dieses Gebot unmittelbar anwendbar und gewährt einklagbare subjektive Rechte auch gegenüber privaten Arbeitgeber*innen.79 Ebenfalls seit 1976 widmet sich das EU-Sekundärrecht der Gleichbehandlung von Män- 29 nern und Frauen im Berufsleben; diese Instrumente wurden inzwischen in RL 2006/54/ EG konsolidiert.80 RL 2004/113/EG ergänzt sie für den Sektor der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen.81 Während die frühen Instrumente zunächst auf die VertragsabrunLGBT-Personen in den Schutz des Verbots der Diskriminierung „because of sex“ in Titel VII des Civil Rights Act einbezogen; US Supreme Court, Bostock v. Clayton County, 590 U. S. ____ (2020). 75 Siehe oben Rn. 21 (B. I. 1. b). 76 UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9: Claims to Refugee Status based on Sexual Orientation and/or Gender Identity within the context of Article 1A(2) of the 1951 Convention and/or its 1967 Protocol relating to the Status of Refugees v. 23.10.2012, UN Doc. HCR/GIP/12/09. 77 Dazu m. w. N. Mangold (Fn. 14), S. 248 ff. Siehe auch → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 21. 78 Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 31; Langenfeld, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand: September 2021, Art. 157 Rn. 3. 79 EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75, Defrenne II. 80 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung) v. 5.7.2006, ABl. 2006 L 204/23. 81 Richtlinie 2004/113/EG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Nora Markard
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§ 6 Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Diskriminierungskategorien
dungskompetenz (heute Art. 352 AEUV ) gestützt wurden, ermöglicht seit 1997 der heutige Art. 19 AEUV explizit „geeignete Vorkehrungen“ gegen Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts oder der „sexuellen Ausrichtung“. Zudem wurde der heutige Art. 157 AEUV in Abs. 3 um eine explizite Maßnahmen-Kompetenz „zur Gewährleistung der Anwendung des Grundsatzes der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen“ einschließlich der Entgeltgleichheit ergänzt; Abs. 4 stellt seit 1997 klar, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz positiven Maßnahmen zur Erleichterung der Berufstätigkeit „des unterrepräsentierten Geschlechts“ und zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn nicht entgegensteht. Auch im Gleichheitskapitel der EU-Grundrechtecharta hebt neben Art. 21 Abs. 1 auch Art. 23 GRCh das Verbot geschlechtsbezogener Diskriminierung in allen Bereichen und die Zulässigkeit von Fördermaßnahmen hervor. Die Vorarbeiten zu diesen Primärrechtsnormen hatte freilich längst der EuGH ge30 leistet, der im Bereich der Geschlechtsdiskriminierung die Grundlagen des Antidiskriminierungsrechts erarbeitete: Hier entwickelte er die dogmatische Figur der mittelbaren Diskriminierung,82 adressierte typische Beweisschwierigkeiten im Antidiskriminierungsrecht83 und stellte klar, unter welchen Voraussetzungen Gleichstellungsmaßnahmen zulässig sind.84 Auf diese Weise trieb der EuGH nicht nur den europäischen Gesetzgeber an, der diese Rechtsprechung immer wieder nachzeichnete, sondern wurde auch zum Motor des Gleichstellungsrechts in den EU-Mitgliedstaaten. 2. Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität 31
Die Diskriminierung wegen der Geschlechtsidentität wird vom Unionsrecht nicht explizit geschützt; sie wird als verbotene Diskriminierung wegen des Geschlechts behandelt. Bereits 1996 hatte der EuGH über den Fall einer Transperson zu entscheiden, die sich gegen ihre Entlassung wendete. Der EuGH befand, dass auch die Entlassung wegen „Geschlechtsumwandlung“ eine geschlechtsdiskriminierende Entlassung darstellt,85 denn „solche Diskriminierungen beruhen hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, auf dem Geschlecht des Betroffenen“: Werde eine Transperson entlassen, „wird sie im Vergleich zu den Angehörigen des Geschlechts, dem sie vor dieser Operation zugerechnet wurde, schlechter behandelt.“86 Auch Art. 157 AEUV zur Entgeltgleichheit ist anwendbar, wenn eine Frau keine Hinterbliebenenrente erhält, weil sie wegen der fehlenden rechtlichen Anerkennung der Transition ihres Partners diesen nicht heiraten durfte.87 Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen v. 13.12.2004, ABl. 2004 L 373/37. 82 EuGH, Urt. v. 31.3.1981, Rs. 96/80, Jenkins. Dazu → Sacksofsky, § 14 Rn. 101. 83 Dazu → Towfigh, § 18 Rn. 106; → Muthorst, § 19 Rn. 30; siehe auch unten Rn. 79 (D. III. 2.) (zum Beispiel Entgeltdiskriminierung). 84 Dazu → Schuler-Harms, § 16 Rn. 32; siehe auch unten Rn. 82 (D. III. 3.) (zu Frauenquoten). 85 EuGH, Urt. v. 30.4.1996, Rs. C-13/94, P v. S. and Cornwall County, Rn. 20–22 (zu Art. 5 RL 76/207/ EWG). 86 EuGH, Urt. v. 30.4.1996, Rs. C-13/94, P v. S. and Cornwall County, Rn. 21. 87 EuGH, Urt. v. 7.1.2004, Rs. C-117/01, K. B. v. National Health Service Pensions Agency. Nora Markard
B. Normative Verankerungen und Entwicklungslinien
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Dagegen hat es der EuGH abgelehnt, die Ungleichbehandlung von gleich- und verschie- 32 dengeschlechtlichen Partnerschaften im Rahmen von Art. 157 AEUV als Geschlechtsdiskriminierung zu behandeln.88 Ein explizites Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung wurde erst im Jahr 2000 mit der sogenannten Rahmenrichtlinie gegen Diskriminierung im Arbeitsleben89 eingeführt. Dort – und in Art. 21 Abs. 1 GRCh – ist zwar in der deutschen Sprachfassung von der „sexuellen Ausrichtung“ die Rede, dies soll aber wohl die sexuelle Orientierung und nicht die Geschlechtsidentität bezeichnen;90 in anderen Bereichen ist auch von der „sexuellen Orientierung“ die Rede.91 Das AGG wählt, abweichend von der Richtlinie, den Begriff der „sexuellen Identität“, dem nach dem Willen der Gesetzgebung (und wiederum abweichend vom Unionsrecht) auch die Geschlechtsidentität zugeordnet werden soll.92 III. Verfassungsrecht 1. Geschlecht
Zwar ist das Recht auf Gleichheit bereits in den frühen Verfassungen der Aufklärung ent- 33 halten, doch war hiermit zunächst nur die Gleichheit der (weißen) Männer untereinander gemeint – eine vermeintliche Selbstverständlichkeit, die Frauen von Beginn an in Frage stellten. So publizierte Olympe de Gouges 1791 eine „Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne“,93 die Erklärung von Seneca Falls orientierte sich 1848 an der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.94 In Deutschland entstanden vergleichbare Initiativen erst im „Kampf ums BGB“.95 Das Frauenwahlrecht wurde 1919 erfolgreich erkämpft,96 doch blieb die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen in Art. 119 der Weimarer Reichsverfassung Programmsatz, und auf die staatsbürgerlichen Rechte beschränkt. 88 EuGH, Urt. v. 17.2.1998, Rs. C-249/96, Grant v. South-West Trains. 89 Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung
der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303/16 (Rahmenrichtlinie).
90 Vgl. zu Homosexualität EuGH, Urt. v. 23.4.2020, Rs. C-507/18, Associazione Avvocatura per i diritti
LGBTI; EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, Léger; EuGH, Urt. v. 12.12.2013, Rs. C-267/13, Hay.
91 So im Datenschutzrecht, etwa in Art. 9 DSGVO (dort wird auch das „Sexualleben“ geschützt), oder im
Asylrecht, etwa in Art. 10 Abs. 1 lit. d QRL. VO (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung, DSGVO) v. 27.4.2016, ABl. 2016 L 119/1. 92 BT-Drs. 16/1780, S. 31. Das BAG nimmt in unionsrechtskonformer Auslegung eine Zuordnung auch zu „Geschlecht“ vor; BAG, Urt. v. 17.12.2015, 8 AZR 421/14, Rn. 31. 93 Gerhard, Menschenrechte auch für Frauen, KJ 1987, S. 127; grundsätzlich Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, 1997. 94 Declaration of Rights and Sentiments, 1848. 95 St. (= Stritt), Frauen-Landsturm, 1896; vgl. Riedel, Gleiches Recht für Mann und Frau, 2008, S. 466 ff.; Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus, 2009. 96 Siehe etwa Schaser, Frauenbewegung in Deutschland 1848–1933, 2. Aufl. 2020, S. 66 ff.; Müller, Ein langer, steiniger Weg, Blätter für deutsche und internationale Politik 2018, S. 71. Nora Markard
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§ 6 Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Diskriminierungskategorien
In der Bundesrepublik mussten 1948 im Parlamentarischen Rat noch große Widerstände überwunden werden.97 Insbesondere Elisabeth Selbert erkämpfte – mit von ihr organisierter breiter zivilgesellschaftlicher Unterstützung in Form von Körben voller Postkarten98 – das Verbot der Bevorzugung und Benachteiligung wegen des Geschlechts in Art. 3 Abs. 3 (Satz 1) GG.99 Die Klarstellung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ in Art. 3 Abs. 2 (Satz 1) GG signalisierte unmissverständlich, dass eine grundlegende Umwälzung der bisherigen Verhältnisse erforderlich war. Aufgrund der umfangreichen erforderlichen Anpassungen insbesondere des Ehe- und Familienrechts sah Art. 117 Abs. 1 GG eine Übergangsfrist vor. Doch bedurfte es in den 1950er Jahren mehrfacher Interventionen des BVerfG, um klarzustellen, dass auch das Zivilrecht (insbesondere das Ehe- und Familienrecht) an Art. 3 Abs. 2 GG zu messen ist.100 35 In der DDR sollte die Gleichstellung in erster Linie durch die volle Integration von Frauen ins Erwerbsleben erreicht werden.101 Die Vollzeitarbeit beider Elternteile wurde durch umfangreiche Vereinbarkeitsmaßnahmen, insbesondere bei der Kinderbetreuung gefördert.102 Als nach der Wiedervereinigung über eine neue Verfassung oder eine Reform des GG diskutiert wurde, artikulierten Frauen daher auch Forderungen nach einer Garantie der Vereinbarkeit von Familie und Beruf; das schließlich in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG eingefügte Gleichstellungsgebot – das das BVerfG bereits aus Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG abgeleitet hatte103 – wurde mit über 100.000 Eingaben von der Zivilgesellschaft eingefordert.104 Der Streit um „die Quote“ wurde mit diesem Formelkompromiss freilich bewusst nicht entschieden.105 34
97 Zur Entstehungsgeschichte Sacksofsky, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Bd. 1, 2002, Art. 3 II, III 1
Rn. 287; Eckertz-Höfer, in: Denninger u. a. (Hrsg.), AK-GG, Bd. I, 3. Aufl. 2001, Art. 3 Abs. 2, 3 Rn. 5; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, § 121, S. 1599 ff. und S. 1620 ff. 98 Zur Diskussion im Parlamentarischen Rat Sacksofsky (Fn. 97), Art. 3 II, III 1 Rn. 287; Reich-Hilweg, Männer und Frauen sind gleichberechtigt, 1979. 99 Rust, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur garantierten Gleichberechtigung, Aus Politik und Zeitgeschichte 2001, S. 26; Peters/König, Das Diskriminierungsverbot, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Bd. II, 2. Aufl. 2013, Rn. 4; biografisch Böttger, Das Recht auf Gleichheit und Differenz, 1990; siehe auch Meyer, Elisabeth Selbert (1896–1986), in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare Juristen, 1988, S. 427. 100 Erstmals in BVerfGE 3, 225 (239 f.) – Art. 117 GG (1953). 101 Art. 20 Abs. 2 Verfassung der DDR 1968: „Die Förderung der Frau, besonders in der beruflichen Qualifizierung, ist gesellschaftliche und staatliche Aufgabe.“ 102 Vgl. Schiefer, Familienleitbilder in Ost- und Westdeutschland, 2018, S. 69–70. 103 BVerfGE 85, 191 (221) – Nachtarbeitsverbot (1992), unter Verweis auf BVerf GE 15, 337 (345) – Höfeordnung (1963); BVerfGE 48, 327 (340) – Familiennamen (1978); BVerfGE 57, 335 (345 f.) – Rentenberechnung (1981); BVerfGE 74, 163 (180) – Altersruhegeld (1987). 104 Dokumentiert in Limbach/Eckertz-Höfer (Hrsg.), Frauenrechte im Grundgesetz des geeinten Deutschland, 1990; siehe auch Sacksofsky (Fn. 97), Art. 3 II, III 1 Rn. 288. 105 Ausführlicher Sacksofsky (Fn. 97), Art. 3 II, III 1 Rn. 286–288; Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 225–232; insgesamt Degener, Der Streit um Gleichheit und Differenz in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945, in: Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, 1997, S. 871. Anders Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Bd. 1, Stand: September 2015, Art. 3 Abs. 2 Rn. 1 („verworren“). Nora Markard
B. Normative Verankerungen und Entwicklungslinien
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2. Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität
Obwohl auch Homosexuelle im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden,106 36 wurde die sexuelle Orientierung 1949 nicht in die Liste der verbotenen Diskriminierungsgründe des Art. 3 Abs. 3 GG aufgenommen.107 Im Gegenteil setzte sich die Diskriminierung fort, insbesondere durch die fortgesetzte Strafbarkeit sexueller Handlungen zwischen männlichen Personen gem. § 175 StGB, die in der DDR erst 1988, in der Bundesrepublik erst 1994 abgeschafft wurde.108 Das Bundesverfassungsgericht, das die diskriminierende Rechtslage zunächst mittrug,109 schlug erst nach Einführung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft im Jahr 2001110 einen neuen Weg ein. Wesentlicher Impuls war die oben (A. II.) erwähnte EuGH-Leitentscheidung Maruko zur Benachteiligung der Lebenspartnerschaft gegenüber der Ehe.111 Im Fahrwasser des EuGH entwickelte das BVerfG in einer Serie von Entscheidungen erhöhte Rechtfertigungsanforderungen für Ungleichbehandlungen aufgrund der sexuellen Orientierung im Rahmen des allgemeinen Gleichheitsrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG.112 2017 wurde die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet;113 allerdings lässt die fehlende familienrechtliche Flankierung115 weitere verfassungsgerichtliche Entscheidungen erwarten. 106 Vgl. Bastian, Homosexuelle im Dritten Reich, 2000; Grau (Hrsg.), Homosexualität in der NS-Zeit,
2004.
107 Vorstöße zur Ergänzung um „sexuelle Identität“ scheiterten bisher: 1994, weil in der Gemeinsamen
Verfassungskommission eine Mehrheit, aber keine Zwei-Drittel-Mehrheit erreicht wurde, siehe BT-Drs. 12/6000, S. 54; 2009, weil ein Antrag von Berlin, Bremen, Hamburg (BR-Drs. 741/09) im Bundesrat am 27.11.2009 keine Mehrheit für die Einbringung im Bundestag fand; 2010, weil Anträge der SPD, der Linken und der Grünen (BT-Drs. 17/88, 17/254, 17/472) im Rechtsausschuss des Bundestages von der Koalitionsmehrheit von CDU/CSU und FDP abgelehnt wurden (BT-Drs. 17/4775). Ein Entwurf der Länder Berlin, Brandenburg, Bremen, Rheinland-Pfalz und Thüringen v. 30.5.2018 (BR-Drs. 225/18) wurde im Juli 2018 mangels erwartbarer Mehrheit auf Antrag Berlins vertagt. Zuletzt wurde ein am 12.9.2019 von FDP, Linke und Grüne in den Bundestag eingebrachter Antrag (BT-Drs. 19/13123) am 12.2.2020 im Rechtsausschuss von den Expert*innen einhellig befürwortet. 1993 war die sexuelle Orientierung im Vorschlag des „Runden Tischs“ von 1990 für Art. 1 Abs. 3 einer neuen Verfassung der DDR enthalten; Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder/Heinrich-Böll-Stiftung, In freier Selbstbestimmung, 1990, S. 125 ff. 108 In der DDR trat 1968 ein neues StGB in Kraft, das die Strafbarkeit auf sexuelle Handlungen mit Jugendlichen beschränkte, sowohl für Männer als auch für Frauen. In der BRD erfolgte die altersmäßige Einschränkung 1973. Vgl. Freunde eines schwulen Museums (Berlin)/Emanzipation e. V., Die Geschichte des § 175, 1990. 109 Das BVerfG erklärte die Norm für verfassungsmäßig und hielt die unterschiedliche Behandlung männlicher und weiblicher Homosexualität aufgrund „biologischer Verschiedenheiten“ für gerechtfertigt, BVerfGE 6, 389 (422, 425–432) – Homosexualität (1957); siehe auch oben Rn. 10 (A. II.). Bestätigt in BVerfGE 36, 41 – Strafbarkeit homosexueller Handlungen (1973). 110 Siehe Fn. 20. Zur Verfassungsmäßigkeit BVerfGE 105, 313 – Lebenspartnerschaftsgesetz (2002), mit abweichender Meinung Haas (362 f. Rn. 140), in der sich der strengere Maßstab bereits ankündigt. 111 EuGH, Urt. v. 1.4.2008, Rs. C-267/06, Maruko. 112 BVerfGE 124, 199 (221 f.) – Hinterbliebenenversorgung (2009); BVerfGE 126, 400 – Erbschafts- und Schenkungssteuer (2010); BVerfGE 131, 239 – Familienzuschlag (2012); BVerfGE 132, 179 – Grunderwerbssteuer (2012); BVerfGE 133, 59 – Sukzessivadoption (2013); BVerfGE 133, 377 – Ehegattensplitting (2013). 113 Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts (EheRÄndG) v. 20.7.2017, BGBl. 2017 I, S. 2787. Nora Markard
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§ 6 Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Diskriminierungskategorien
Auch die Geschlechtsidentität ist in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht erwähnt. Für Diskriminierungen zeigte sich das BVerfG hier jedoch schon viel früher sensibel. Bereits 1978 forderte es die Anerkennung der Geschlechtsidentität von Transpersonen und beseitigte nach und nach die gesetzlich eingeführten massiven Hindernisse hierfür115 – allerdings auf Basis des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG116. Erst in der Entscheidung zur Dritten Option hat das BVerfG die Diskriminierung wegen der (nicht-binären) Geschlechtsidentität auch als Geschlechtsdiskriminierung i. S. d. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG eingeordnet.117 38 Bei der textlichen Lücke bleibt es vorerst: Während sich in der Mehrzahl der Landesverfassungen inzwischen explizite Verbote der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung bzw. Identität finden,118 ist eine Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG um das Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung (und gegebenenfalls der Geschlechtsidentität) bisher trotz mehrfacher Vorstöße nicht erfolgt.119 Hierfür steht bisher der Begriff der „sexuellen Identität“ im Raum, teils nur auf die sexuelle Orientierung, teils auch auf die Geschlechtsidentität bezogen.120 37
C. Konzeptioneller Zugriff I. Geschlecht: Zwischen Verschiedenheit und Gleichstellung 39 Die Entwicklung des Rechts gegen Geschlechtsdiskriminierung kann – wie auch andere
Bereiche des Antidiskriminierungsrechts – in drei Phasen beschrieben werden:121 In der
114 Vgl. Wapler, Die Öffnung der Ehe und ihre Folgen – Hinweise für eine erfolgreiche Begleitung ihrer
Umsetzung, 2018, S. 10 ff.; Chebout/Richarz, Lesbische Eltern! Warum das Kindeswohl keinen Aufschub mehr verträgt, Verfassungsblog v. 27.10.2018; siehe auch Deutscher Juristinnenbund (djb), Stellungnahme: 19–11 zum Diskussionsteilentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz – Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Abstammungsrechts (Stand: 12.3.2019) v. 6.5.2019. 115 BVerfGE 49, 286 – Geburtsurkunde (1978); BVerfGE 60, 123 – Altersgrenze für Änderung der Geburtsurkunde (1982); BVerfGE 88, 87 – Altersgrenze für Änderung des Vornamens (1993); BVerfG, Beschl. v. 15.8.1996, 2 BvR 1833/95 – Anrede durch Beamte; BVerfGE 115, 1 – Rückänderung des Vornamens nach Eheschließung (2005), dazu Adamietz, Transgender ante portas?, KJ 2006, S. 368; BVerfGE 116, 243 – Anwendung TSG auf Ausländer*innen (2006); BVerfGE 121, 175 – Ehelosigkeitserfordernis (2008); BVerfGE 128, 109 – Operationszwang (2011). Nicht gekippt wurde bisher das Begutachtungserfordernis, vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.10.2017, 1 BvR 747/17 – Versagung des Namens- und Personenstandswechsels. 116 Siehe dazu unten Rn. 43 (C. II. 1.). 117 BVerfGE 147, 1 (27 ff. Rn. 56 ff.) – Dritte Option (2017). 118 Art. 10 Abs. 2 Verfassung von Berlin; Art. 12 Abs. 2 Verfassung des Landes Brandenburg; Art. 2 Abs. 3 Verfassung des Freistaats Thüringen; Art. 2 Abs. 2 und Art. 21 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen; Art. 3 Abs. 3 Verfassung des Saarlandes. 119 Siehe oben Fn. 107. 120 Die Entwürfe von 2011 und 2018 nannten nicht nur „Lesben, Schwule, Bisexuelle“, sondern auch „Transgender, transsexuelle und intersexuelle Menschen“ als Betroffene; der Entwurf von 2019 bezieht sich – wie der von 1993/94 – nur auf die sexuelle Orientierung, was in der Anhörung teils als unzureichend empfunden wurde. 121 Mangold (Fn. 14), S. 4 f., 185–187. Nora Markard
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ersten Phase wurden gleiche Rechte ganz grundlegend verwehrt und mussten zunächst gegenüber der Annahme der grundsätzlichen Verschiedenheit von Mann und Frau der Anspruch formaler Gleichheit durchgesetzt werden, etwa bei der Zulassung zum Studium122 oder dem Frauenwahlrecht. Auch die frühen Entscheidungen des BVerfG, etwa zu den verbleibenden Benachteiligungen von Frauen im Familienrecht,123 sind vom Paradigma der „Gleichwertigkeit bei Andersartigkeit“ geprägt.124 In der Nachtarbeit-Entscheidung hat das BVerfG dann klargestellt, dass Ungleichbehandlungen nicht an gesellschaftlich-funktionale Unterschiede anknüpfen dürfen, sondern nur zulässig sind, „soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind“.125 Ähnlich strenge Maßstäbe legen auch der EuGH126 und der EGMR an.127 Die traditionelle Doppelbelastung berufstätiger Frauen und ihre Gefährdung durch nächtliche sexuelle Übergriffe etwa, so das BVerfG, dürften nicht zu ihrer Benachteiligung führen – zumal wenn dies bestehende Rollenbilder perpetuiert.128 Damit ist bereits die zweite Phase angesprochen, in der deutlich wird, dass die erreich- 40 te formale Gleichheit noch nicht ausreicht, weil strukturelle Nachteile weiter ungleiche Chancen erzeugen. In der dritten Phase geht es daher darum, die gleichen Rechte auch tatsächlich durchzusetzen. Verfassungsrechtlich ist mittelbare Geschlechtsdiskriminierung nur ausnahmsweise „durch sonstige Sachgründe zu rechtfertigen (…), die jedoch von erheblichem Gewicht sein müssten.“129 Insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist hier Thema,130 aber auch vermeintlich neutrale Kriterien, die stereotypisierend mit männlichen Eigenschaften assoziiert werden und für Frauen nachteilig wirken können.131 Dies greift etwa die Definition in der Gleichstellungs-Richtlinie auf, wonach ein Kriterium dann nicht diskriminierend ist, wenn es „eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“132 Dazu unten Rn. 74 (D. III. 1.). Dazu unten Rn. 68 (D. II. 1.). So Sacksofsky (Fn. 97), Art. 3 II, III Rn. 399. BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeit (1992); Hervorhebung durch Verfasserin. EuGH, Urt. v. 1.3.2011, Rs. C-236/09, Test-Achats; vgl. ebd., Schlussanträge der GA Kokott v. 30.9.2010, Rn. 60: „wenn sich mit Sicherheit feststellen lässt, dass es relevante Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, die eine solche Behandlung erfordern“. 127 „Very weighty reasons“: EGMR, Urt. v. 24.6.1993, Beschwerde-Nr. 14518/89, Schuler-Zgraggen v. Schweiz, Rn. 67; EGMR, Urt. v. 22.2.1994, Beschwerde-Nr. 16213/90, Burghartz v. Schweiz, Rn. 27; EGMR, Urt. v. 21.2.1997, Beschwerde-Nr. 20060/92, van Raalte v. Niederlande, Rn. 39; EGMR, Urt. v. 27.3.1998, Beschwerde-Nr. 20458/92, Petrovic v. Österreich, Rn. 37; siehe auch EGMR, Urt. v. 22.3.2012, BeschwerdeNr. 30078/06, Konstantin Markin v. Russland, Rn. 127. „Compelling reasons“: EGMR, Urt. v. 21.2.1997, Beschwerde-Nr. 20060/92, van Raalte v. Niederlande, Rn. 42. 128 BVerfGE 85, 191 (207, 210) – Nachtarbeit (1992). 129 BVerfGE 132, 72 (98) – Erziehungsgeld (2012). 130 Zur Schlechterbezahlung überwiegend weiblicher Teilzeit-Arbeit: EuGH, Urt. v. 13.5.1986, Rs. 170/84, Bilka. Dazu auch unten Rn. 78 (D. III. 2.). 131 Dazu unten Rn. 78 (D. III. 2.). 132 Art. 14 Abs. 2 RL 2006/54/EG. Siehe auch Art. 4 RL 2000/78/EG. 122 123 124 125 126
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Über dieses reaktive Gleichstellungsrecht hinaus gehen positive Gleichstellungsmaßnahmen zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung; im Zentrum stehen hier insbesondere Frauenquoten. Umkämpft bleibt die Frage, wieweit verbleibende Ungleichheiten tatsächlich das Ergebnis struktureller Nachteile (also möglicherweise mittelbarer Diskriminierung) oder vielmehr Effekt geschlechtsspezifischer Präferenzen (und damit individueller Autonomie) sind – und ob es sich hierbei um eine verbotene Benachteiligung von Männern handelt.133 II. Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität 1. Zwischen Schutz der Privatheit und Anspruch auf gleiche Teilhabe
42 Wie der Überblick über die normativen Verankerungen gezeigt hat, sind die Diskriminie-
rungsverbote bezüglich der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität noch in Entwicklung begriffen. Für die formale Gleichbehandlung ist daher oft nicht das Diskriminierungsverbot, sondern das allgemeine Persönlichkeitsrecht bzw. der Schutz des Privatlebens mobilisiert worden. 43 So hatte das BVerfG die Diskriminierung von Transpersonen wegen der Geschlechtsidentität zunächst nur als Verletzungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG eingeordnet. Auf seine erste Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der fehlenden rechtlichen Anerkennungsmöglichkeit des empfundenen Geschlechts134 folgte eine Serie von Entscheidungen zur Verfassungswidrigkeit der massiven Hindernisse, die das neue Transsexuellengesetz (TSG) für die Anerkennung des empfundenen Geschlechts errichtet hatte – sämtlich auf der Basis des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.135 Erst mit der Entscheidung zur Dritten Option hat das BVerfG die fehlende rechtliche Anerkennung des empfundenen Geschlechts einer intersexuellen Person, die einen Eintrag als „inter/divers“, hilfsweise als „inter“ begehrte, auch als Geschlechtsdiskriminierung gem. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG eingeordnet.136 Damit schließt das BVerfG in der Sache an das Unionsrecht an, wo der EuGH bereits 1996 in P v. S. and Cornwall County klargestellt hatte, dass Nachteile wegen der „Geschlechtsumwandlung“ „hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich auf dem Geschlecht“ beruhen.137 Der EGMR dagegen hat die Diskriminierungsdimension gegenüber dem Schutz des Privatlebens, dem er die Geschlechtsidentität zuordnet, lange vernachlässigt.138 Erst 2014, in Hämäläinen, hat er sie in den Blick genommen – mit negativem Ergebnis, weil mit der Umwandlung der Ehe in Dazu unten Rn. 78 (D. III. 2.) und Rn. 82 (D. III. 3.). BVerfGE 49, 286 – Geburtsurkunde (1978). Siehe oben Fn. 115. BVerfGE 147, 1 (27 Rn. 56) – Dritte Option (2017). EuGH, Urt. v. 30.4.1996, Rs. C-13/94, P v. S. and Cornwall County, Rn. 19–21. Keine Prüfung des Art. 8 i. V. m. Art. 14 EMRK, da hier im Vergleich zu Art. 8 EMRK keine separaten Fragen entstünden: EGMR, Urt. v. 11.7.2002, Beschwerde-Nr. 28957/95, Christine Goodwin v. Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt. v. 12.6.2003, Beschwerde-Nr. 35968/97, van Kück v. Deutschland; EGMR, Urt. v. 23.5.2006, Beschwerde-Nr. 32570/03, Grant v. Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt. v. 11.9.2007, Beschwerde-Nr. 27527/03, L. v. Litauen; EGMR, Urt. v. 8.1.2009, Beschwerde-Nr. 29002/06, Schlumpf v. Schweiz.
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eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft (die für eine volle Anerkennung des Geschlechts nötig war und die die Ehefrau verweigerte) in Finnland nur geringfügige Nachteile verbunden seien.139 Auch Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung – im deutschen Verfassungs- 44 recht seit Maruko im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG behandelt140 – ist international immer wieder vor allem als Eingriff in das Privatleben behandelt worden. Dies gilt vor allem im Bereich der Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität (zwischen Männern). Beispielsweise stützte sich der EGMR 1981 in Dudgeon auf den Schutz des Privatlebens in Art. 8 EMRK,141 der US Supreme Court in Lawrence v. Texas auf das aus der due process clause abgeleitete Recht auf Privatsphäre (privacy).142 Der EGMR hat gleichgeschlechtlichen Paaren die Berufung auf das Recht von Männern und Frauen zu heiraten – wie es beispielsweise Art. 12 EMRK enthält – mit der Begründung verwehrt, dass dieses nur für geschlechtsverschiedene Paare gelte; dies schließe einen Zugang über das Diskriminierungsverbot aus.143 Stattdessen sprach er ihnen auf der Basis von Art. 8 EMRK ein (Freiheits-)Recht auf Anerkennung ihrer nichtehelichen Partnerschaft zu.144 Die freiheitsrechtliche Behandlung der Geschlechtsidentität und der sexuellen Ori- 45 entierung hat durchaus expressive Kraft; sie betont die Autonomie der Entscheidung über die eigene Lebensführung, trägt der identitätsprägenden Rolle von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung Rechnung und anerkennt, dass der Schutz vor Outing in einer diskriminierenden Gesellschaft einen hohen Wert hat. Doch der Schutz der Privatheit dieser Geschlechtsdimensionen signalisiert gleichzeitig, dass das Verbleiben im closet145, also ihre Nichtöffentlichkeit, Voraussetzung des Schutzes sind.146 In dieser „Privatisierung“ von Geschlechterdimensionen lässt sich gleichzeitig eine Fortsetzung der Trennung von Öffentlichem und Privatem erkennen, die die Geschlechterordnung durchzieht:147 Abweichungen vom binären, heteronormativen Maßstab werden ebenso ins Private relegiert wie das Weibliche als Abweichung vom traditionellen männlichen Maßstab. Wird die Verweigerung der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare als Würdeverletzung behandelt, 139 EGMR, Urt. v. 16.7.2014, Beschwerde-Nr. 37359/09, Hämäläinen v. Finnland, Rn. 98–113. 140 Siehe oben Rn. 9 (A. II.) und Rn. 36 (B. III. 2.). 141 EGMR, Urt. v. 22.10.1981, Beschwerde-Nr. 7525/76, Dudgeon v. Vereinigtes Königreich. Anders 1994
der UN-Menschenrechtsausschuss (CCPR), Decision v. 31.3.1994, Communication No. 488/1992, Toonen v. Australia, UN Doc. CCPR/C/50/D/488/1992: Geschlechtsdiskriminierung. 142 US Supreme Court, Lawrence and Garner v. Texas, 539 U. S. 558 (2003). Erst in US Supreme Court, Obergefell v. Hodges, 576 U. S. ___ (2015), hat das Gericht auch die Gleichheitsdogmatik bemüht, allerdings eng verkoppelt mit der Menschenwürde; dazu ausführlich Markard, Unausweichliche Gleichheit, JöR n. F. 64 (2016), S. 767. 143 EGMR, Urt. v. 24.6.2010, Beschwerde-Nr. 30141/04, Schalk und Kopf v. Österreich. 144 EGMR, Urt. v. 24.6.2010, Beschwerde-Nr. 30141/04, Schalk und Kopf v. Österreich; siehe auch EGMR, Urt. v. 21.7.2015, Beschwerde-Nr. 18766/11 und 36030/11, Oliari u. a. v. Italien, Rn. 177. 145 Der closet bezeichnet den metaphorischen Kleiderschrank, in dem die sexuelle Orientierung versteckt wird. Dazu Sedgwick, Epistemology of the Closet, 1990. 146 Hierzu ausführlich Markard, Private but Equal?, in: Frankenberg (Hrsg.), Order from Transfer, 2013, S. 87. 147 Zu dieser Trennung etwa Hausen, Öffentlichkeit und Privatheit, in: Hausen/Wunder (Hrsg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, 1992, S. 81. Nora Markard
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schwingt mit, dass diese sich der Gleichbehandlung mit heterosexuellen „Norm-Paaren“ als würdig erweisen müssen.148 Ähnliches lässt sich für die Behandlung sexueller Belästigung als Würdeverletzung argumentieren.149 46 Gleichheitsargumente beanspruchen demgegenüber eine umfassende Anerkennung – mit allen Folgen, wie die Öffnung der Ehe in Deutschland150 und den USA151 exemplarisch erkennen lässt. Sie zeigen zudem, dass es nicht nur um eine persönliche Präferenz oder gar einen bedauerlichen „Zwang“ geht,152 sondern um eine gleichberechtigte Teilhabe an einer Normalität, die anderen problemlos zugänglich ist.153 Damit verweisen sie auf die gesellschaftliche und strukturelle Dimension, die in der individualisierenden Perspektive der Freiheitsrechte in den Hintergrund tritt. 2. Rechtfertigungsmaßstäbe
An den strengen Rechtfertigungsmaßstab für Geschlechtsdiskriminierung nähert sich jener für Benachteiligungen wegen der sexuellen Orientierung erst langsam an,154 während er für die Geschlechtsidentität bisher ungeklärt ist155. 48 So fordert der EGMR besonders schwere Gründe156 und geht inzwischen von einem reduzierten Entscheidungsspielraum der Konventionsstaaten aus.157 Der EuGH formuliert bisher keinen solchen Maßstab, verlangt aber empirische, rationale Gründe. So fragte er in Maruko nicht nach dem besonderen Status der Ehe, sondern danach, ob gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften in Bezug auf die leistungsrelevanten Kriterien vergleichbar seien.158 Auch den gesetzlichen Ausschluss von MSM159 von Blutspenden aufgrund ihrer hohen HIV-Inzidenz hat er zwar nicht für grundsätzlich unzulässig erklärt, aber die Prüfung milderer Mittel zum Gesundheitsschutz der Empfänger*innen angemahnt, etwa eine 47
Ausführlich Markard (Fn. 146), S. 103; Markard (Fn. 142), S. 771–773, 790. Dazu unten Rn. 59 (D. I. 2.). Ausführlich Baer (Fn. 3). Siehe oben Fn. 23, 113. Vgl. die Entscheidungen im Vorlauf zu US Supreme Court, Obergefell v. Hodges, 576 U. S. ___ (2015); dazu Markard (Fn. 142), S. 767. 152 So, zur Homosexualität eines Asylsuchenden aus dem Iran, im Jahr 1988 BVerwGE 79, 143 (151 f.). 153 Markard, Struktur und Teilhabe: zur gleichheitsdogmatischen Bedeutung der „dritten Option“, Verfassungsblog v. 14.11.2017. 154 Zu Unterschieden zwischen den Diskriminierungsverboten: Baer, Ungleichheit der Gleichheiten?, in: Klein/Menke (Hrsg.), Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote, 2008, S. 421. 155 BVerfGE 147, 1 (30 Rn. 64) – Dritte Option (2017), mit Verweis auf Rn. 49–55 zu Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG („Wie gesehen, gibt es hierfür keinen tragfähigen Grund“). 156 „Particularly serious reasons“: EGMR, Urt. v. 27.9.1999, Beschwerde-Nr. 33985/96, Smith and Grady v. Vereinigtes Königreich, Rn. 90; EGMR, Urt. v. 9.1.2003, Beschwerde-Nr. 45330/99, S. L. v. Österreich, Rn. 37; „convincing and weighty reasons“: EGMR, Urt. v. 24.7.2003, Beschwerde-Nr. 40016/98, Karner v. Österreich, Rn. 42. 157 So erstmals EGMR, Urt. v. 24.7.2003, Beschwerde-Nr. 40016/98, Karner v. Österreich, Rn. 41. 158 EuGH, Urt. v. 1.4.2008, Rs. C-267/06, Maruko, Rn. 72. 159 Diese Abkürzung steht für „men who have sex with men“. Sie stellt insofern auf die tatsächliche sexuelle Praxis ab, nicht auf die sexuelle Orientierung. Der EuGH hat hierin jedoch richtigerweise eine Differenzierung aufgrund der „sexuellen Ausrichtung“ i. S. d. Art. 21 GRCh erkannt; EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, Léger, Rn. 49. 148 149 150 151
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Befragung der Spender zu ihrem letzten Sexualkontakt innerhalb des „diagnostischen Fensters“ (in dem eine HIV-Infektion noch nicht feststellbar ist), zur Beständigkeit ihrer Beziehung und zum Schutz in ihrer sexuellen Beziehung.160 Das BVerfG schärft den Maßstab im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, „je mehr sich die 49 zur Unterscheidung führenden personenbezogenen Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmalen annähern, das heißt je größer die Gefahr ist, dass eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt“,161 und hat dies auch auf die sexuelle Orientierung angewandt162. Bisher ist die am EGMR orientierte163 „strenge Prüfung“ in den Entscheidungen zur Lebenspartnerschaft in der Nachfolge zu Maruko allerdings mangels diskutabler Differenzierungsgründe noch farblos geblieben.164
D. Problemfelder Die folgenden Abschnitte widmen sich einer Auswahl der wichtigsten Problemfelder 50 der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität. Direkte Geschlechtsdiskriminierung ist in den deutschsprachigen Rechtsordnungen 51 heute nur noch selten zu finden. Doch die lange Geschichte der auch rechtlichen Ungleichbehandlung von Männern und Frauen hat zu tief verwurzelter sozialer Ungleichheit geführt, die auf Rollenerwartungen und Stereotypen ebenso wie auf (rechtlich) institutionalisierten Anreizen und Machtgefällen basiert, die wiederum individuelle Entscheidungen strukturieren und dadurch zur Perpetuierung dieser Ungleichheit beitragen. In dem Maße, wie diese Ungleichheit damit zur gesellschaftlichen Normalität gehört und gar als natürlich empfunden wird, erzeugt ihr Abbau durch rechtliche Instrumente auch Konflikte und Widerstände – vor allem, wenn dabei auch spürbar Privilegien abgebaut werden, wie etwa im Erwerbsleben (III.). Gleichzeitig gelten viele Bereiche, in denen Frauen nach wie vor massiv von Ungleichheit betroffen sind – Eheleben, Familie, Sexualität, aber auch religiöse Ordnungen – als „privat“ und damit tendenziell regelungsfern, obwohl gerade der Bereich der Reproduktion für Frauen stark reguliert ist; entsprechend spät konnte der Gewaltschutz in der Familie erkämpft werden (I.). Auch Intersektionalität kann das Bild durchaus verschieben: So werden etwa den Kirchen Diskriminierungsprivilegien eingeräumt, das individuell gewählte Kopftuch berufstätiger Frauen dagegen als gleichstellungsfeindlich diskutiert. Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit sind gesellschaftlich ebenso tief verankert; während ihre rechtliche Institutionalisierung im Personenstands-, Ehe- und Fa160 EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, Léger, Rn. 52 ff., insbesondere Rn. 67. 161 Vgl. BVerfGE 88, 87 (96) – Vornamensänderung (Transsexualität II) (1993); BVerfGE 97, 169 (181) –
Kleinbetriebsklausel (1998). 162 BVerfGE 124, 199 (220) – Hinterbliebenenversorgung (2009); ständige Rechtsprechung. 163 EGMR, Urt. v. 24.7.2003, Beschwerde-Nr. 40016/98, Karner v. Österreich, Rn. 37: „particularly serious reasons“. 164 Vgl. BVerfGE 124, 199 (222) – Hinterbliebenenversorgung (2009); BVerfGE 126, 400 (419) – Erbschaftssteuer (2010); BVerfGE 132, 179 (190 Rn. 35) – Grunderwerbsteuer (2012). Nora Markard
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milienrecht erst langsam abgebaut wird (II.), bleibt Diskriminierung im gesellschaftlichen Leben wirksam. Teils werden hierfür religiöse Normen oder der Grundsatz der Privatautonomie angeführt (IV.). I. Gewaltschutz 52
Rechtliche Instrumente zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt wurden in Deutschland erst spät eingeführt und bleiben umstritten. Hier sollen vor allem der Schutz vor häuslicher und sexualisierter Gewalt165 (1.) und das Recht gegen sexuelle Belästigung (2.) sowie die digitale Gewalt (3.) und das Flüchtlingsrecht beleuchtet werden (4.). 1. Schutz vor Gewalt im sozialen Nahbereich
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Eine Befragung von 10.264 Mädchen und Frauen in Deutschland im Jahr 2003 ergab, dass seit dem 16. Lebensjahr 37 Prozent von ihnen körperliche und 13 Prozent sexuelle Gewalt erfahren hatten.166 Etwa 70 Prozent dieser Gewalttaten fand in der eigenen Wohnung statt.167 Ein Viertel der Befragten berichteten von Gewalt in einer Paarbeziehung,168 wobei Bildungsgrad und Einkommenshöhe des gewalttätigen Partners keine erkennbare Rolle spielten.169 2017 war durchschnittlich jeden Tag eine Frau von einer versuchten oder vollendeten Trennungstötung betroffen, jede Woche starben drei Frauen an einem solchen Femizid.170 Frauen mit Behinderungen sind von sexueller Gewalt zwei- bis dreimal häufiger betroffen als nichtbehinderte Frauen.171 LGBTI-Personen drohen spezifische Hassverbrechen insbesondere außerhalb des sozialen Nahbereichs.172 Besondere Gefahren bestehen für Frauen, Mädchen und LGBTI-Personen in Flüchtlingsunterkünften.173 165 Nicht näher angesprochen werden können hier der Schutz vor Menschenhandel und die Rolle von
Gewalt in Pornographie und in der Sexarbeit. Dazu etwa Krieg, Multilevel Regulation against Trafficking in Human Beings, 2014; Kempadoo u. a. (Hrsg.), Trafficking and Prostitution Reconsidered, 2005; MacKinnon, Nur Worte, 1994. 166 BMFSFJ, Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, 2005, S. 28. Aufschlüsselung nach Art der Gewalthandlung ebd., S. 39 (körperliche Gewalt), S. 69 (sexuelle Gewalt). 167 BMFSFJ (Fn. 166), S. 50, 82. 168 BMFSFJ (Fn. 166), S. 28; 23 Prozent berichteten körperliche, 7 Prozent sexuelle Gewalt. Erfasst wurde nur sexuelle Gewalt unter Anwendung von körperlichem Zwang oder Drohungen. Aufschlüsselung nach Art der Gewalthandlung ebd., S. 39 (körperliche Gewalt), S. 69 (sexuelle Gewalt). 169 BMFSFJ (Fn. 166), S. 241–246; Arbeitslosigkeit scheint jedoch eine Rolle zu spielen. Der gewalttätige Partner war in 99 Prozent der Fälle männlich; ebd., S. 30. 170 Bundeskriminalamt, Partnerschaftsgewalt, Kriminalstatistische Auswertung, Berichtsjahr 2017, S. 25 f. 171 BMFSFJ, Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland, Ergebnisse der quantitativen Befragung, Endbericht, 2013, S. 264–266. 172 2013 kamen in Österreich und der Bundesrepublik auf 1.000 Studienteilnehmende durchschnittlich 200 Gewalttaten innerhalb der letzten 12 Monate, welche über 50 Prozent von ihnen auf ihren LGBT-Status zurückführten. Nur 8 Prozent der Taten fanden in der eigenen Wohnung statt. EU Fundamental Rights Agency (FRA), EU LGBT Survey, European Union lesbian, gay, bisexual and transgender survey, Main results, 2014, S. 58, 60, 65. EU-weit waren nur in 4 Prozent der Fälle ausschließlich Frauen die Täterinnen, in 12 Prozent waren sie beteiligt; ebd. S. 63–64. 173 Rabe, Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften, 2015. Nora Markard
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Gewalt gegen Frauen stellt eine Form der Diskriminierung dar, wie der UN-Frauen- 54 rechtsausschuss bereits 1992 anerkannte.174 Sie ist daher auch von der Maßnahmen-Pflicht der Vertragsstaaten gem. Art. 2 CEDAW umfasst. Der EGMR hat eine Pflicht zum Schutz vor häuslicher Gewalt aus Art. 2 und 3 i. V. m. Art. 14 EMRK abgeleitet.175 Die IstanbulKonvention enthält detaillierte Pflichten, darunter unter anderem die Pflicht zur Einwirkung auf soziale und kulturelle Verhaltens- und Begründungsmuster (Art. 12) und zur Einrichtung ausreichender geeigneter, leicht zugänglicher Schutzunterkünfte (Art. 23). Zudem sind alle nicht einverständlichen sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen (Art. 36) und Beziehungstaten strafschärfend zu berücksichtigen (Art. 46 lit. a). Die UN-BRK erfordert besondere Maßnahmen zum Schutz behinderter Frauen vor Diskriminierung und Gewalt (Präambel lit. q, Art. 6 und Art. 16 Abs. 5 UN-BRK). Dass Partnerschaft und Familie im bürgerlichen Verfassungsstaat traditionell als 55 Räume der privaten Freiheitsverwirklichung gelten, in die der Staat nicht regulierend eingreifen sollte,176 hat den Schutz Gewaltbetroffener stark erschwert. Erst 2001 wurde in der Bundesrepublik ein Gewaltschutzgesetz eingeführt, das den Erlass strafbewehrter Schutzanordnungen ermöglicht und einen Anspruch auf Wohnungsüberlassung enthält, so dass der Täter aus der gemeinsamen Wohnung gewiesen werden kann.177 Stalking wurde 2007 unter Strafe gestellt (§ 238 StGB).178 Während Gewaltbetroffene zuvor häufig auf den Privatklageweg verwiesen wurden,179 wurden seit 2001 zunehmend Sonderdezernate für häusliche Gewalt eingerichtet. Dennoch fehlen entgegen Art. 23 der Istanbul-Konvention weiterhin chronisch Plätze in Frauenhäusern,180 und auch zum Schutz behinderter Frauen vor Gewalt fehlt es bisher an wirksamen Maßnahmen.181 174 CEDAW (Fn. 53). Siehe auch DEVAW (Fn. 52). 175 EGMR, Urt. v. 9.6.2009, Beschwerde-Nr. 33401/02, Opuz v. Türkei; EGMR, Urt. v. 24.7.2010, Be-
schwerde-Nr. 47159/08, S. v. Spanien. Siehe auch Inter-American Commission on Human Rights, Report No. 80/11 v. 21.7.2011, Case 12.626, Jessica Lenahan (Gonzales) u. a. v. United States. 176 Hausen (Fn. 10), S. 155. 177 Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen (Gewaltschutzgesetz, GewSchG), BGBl. 2001 I, S. 3513, zuletzt geändert am 1.3.2017. Polizeigesetze der Länder enthalten entsprechende Spezialbefugnisse, z. B. § 17a Nds. POG, § 34a POG NRW, § 34a PolG NRW, § 29a ASOG, § 21 Abs. 3 SächsPolG. 178 Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen v. 22.3.2007, BGBl. 2007 I, S. 354; BT-Drs. 16/575. 179 Nr. 86 Abs. 2 Satz 2 RiStBV sieht allerdings vor, dass ein öffentliches Interesse an einer Verfolgung von Amts wegen auch dann vorliegen kann, wenn dem Verletzten wegen seiner persönlichen Beziehung zum Täter nicht zugemutet werden kann, die Privatklage zu erheben, und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist. Darüber hinaus erlaubt seit 2015 die Ergänzung der Nr. 86 Abs. 2 Satz 1 RiStBV um den Grund der „rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Beweggründe des Täters“, ein öffentliches Interesse auch bei frauenfeindlichen Beweggründen zu bejahen (BAnz AT 31.7.2015 B1). 180 2019 fehlten etwa 14.600 Plätze; Wissenschaftliche Dienste des Bundestags, Sachstand, Frauenhäuser in Deutschland, WD 9–3000–030/19, 27.5.2019, S. 10, m. w. N. Siehe auch die Kritik in CEDAW, Concluding observations on the sixth periodic report of Germany, UN Doc. CEDAW/C/DEU/CO/6 v. 10.2.2009, Rn. 43–44. 181 CEDAW, Concluding observations on the combined seventh and eighth periodic reports of Germany v. 9.3.2017, UN Doc. CEDAW/C/DEU/CO/7–8, Rn. 25–26. Nora Markard
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Das Privileg der „Privatsphäre“ galt auch für die Verfolgung sexueller Gewalt.182 Als Vergewaltigung (§ 177 StGB) galt in der Bundesrepublik bis 1997 nur „außereheliche“ sexualisierte Gewalt; in der Ehe galt sie nur als Nötigung (§ 240 StGB).183 Erste Vorstöße zur Abschaffung dieser Ausnahme scheiterten unter anderem 1973 und 1983; eingewandt wurde insbesondere, dass der Vergewaltigungsvorwurf zur Abtreibung genutzt werden könnte. Erst 1997 gelang die Abschaffung des Eheprivilegs mit 470 zu 138 Stimmen und bei 35 Enthaltungen;184 1998 wurde der Strafrahmen des Sexualstrafrechts an den höheren der Vermögensdelikte angeglichen.185 Das in der Istanbul-Konvention enthaltene Einverständniserfordernis ist im deutschen Recht nach wie vor nicht umgesetzt. Bis 2016 erforderte § 177 StGB Gewalt, Drohung oder das Ausnutzen einer schutzlosen Lage, nun muss die Tat „gegen den erkennbaren Willen“ der anderen Person erfolgen; ein fehlendes „Nein“ ist allerdings noch kein Einverständnis.186 57 Im Umgang mit Gewalt im sozialen Nahbereich zeigen sich zudem problematische Kulturalisierungstendenzen. Erst als sich infolge der Ereignisse der Kölner Silvesternacht 2015/16 der Fokus der öffentlichen Debatte auf migrantische Gewalt verschoben hatte, wurde die alte Forderung „Nein heißt Nein“ durchsetzbar187 – verbunden mit massiven aufenthaltsrechtlichen Verschärfungen.188 Auch Trennungstötungen werden in der Bundesrepublik vor allem mit Bezug auf migrantische Täter diskutiert und als „Ehrenmord“ kulturalisiert, während die Trennung oder Trennungsabsicht entgegen der Istanbul-Konvention nicht konsistent im Rahmen des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe geprüft wird.189 58 Nachgezogene nichtdeutsche Frauen müssen bei Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft vor Ablauf von drei Ehejahren den Verlust des Aufenthaltsrechts befürchten, § 31 Abs. 1 AufenthG; erst 2011 wurde klargestellt, dass häusliche Gewalt eine „besondere 56
182 Zu den Geschlechterstereotypen Lembke, Vis haud ingrata – die „nicht unwillkommene Gewalt“, Die
kulturellen Wurzeln sexualisierter Gewalt und ihre rechtliche Verarbeitung, 2008.
183 Rechtsvergleichend: Wissenschaftliche Dienste des Bundestags, Vergewaltigung in der Ehe, Straf-
rechtliche Beurteilung im europäischen Vergleich, WD 7 – 307/07, 28.1.2008.
184 Vgl. Dackweiler, Rechtspolitische Konstruktionen sexueller Verletzungsoffenheit und Verletzungs-
mächtigkeit, in: Koher (Hrsg.), Gewalt und Geschlecht, 2003, S. 43 (55–59).
185 6. Strafrechtsreformgesetz, BGBl. 1998 I, S. 164. 186 Lembke, Sexuelle Übergriffe im öffentlichen Raum, KJ 2016, S. 2; Herning/Illgner, „Ja heißt Ja“ – Kon-
sensorientierter Ansatz im deutschen Sexualstrafrecht, ZRP 2016, S. 77; für die Vereinbarkeit mit der Istanbul-Konvention dagegen Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 177 Rn. 11 f.; Renzikowski, Nein! – Das neue Sexualstrafrecht, NJW 2016, S. 3553; Hörnle, Das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes sexueller Selbstbestimmung, NStZ 2017, S. 13 (15); kritisch zum Ganzen Fischer, Normative Tatbestandsausweitung bei sexuellem Übergriff, NStZ 2019, S. 580. 187 Vgl. etwa Boulila/Carri, On Cologne: Gender, migration and unacknowledged racisms in Germany, European Journal of Women’s Studies 24 (2017), S. 286. 188 Das „Asylpaket II“ v. 25.2.2016 kombinierte das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren und das Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern v. 11.3.2016, BGBl. 2016 I, S. 390 und S. 394. Hiergegen wendete sich beispielsweise die feministische Initiative #ausnahmslos (https://ausnahmslos. org), die an die Kampagne #Aufschrei anknüpft; dazu sogleich Rn. 60 (D. I. 2.). 189 Siehe dazu Foljanty/Lembke, Die Konstruktion des Anderen in der „Ehrenmord“-Rechtsprechung, KJ 2014, S. 298. Nora Markard
D. Problemfelder
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Härte“ i. S. d. § 31 Abs. 2 AufenthG darstellt, die zu einem eigenständigen Aufenthaltsrecht auch vor Ablauf der Bestandszeit berechtigt.190 Die aufenthaltsrechtlichen Mittel zum Schutz von Mädchen und Frauen vor Zwangsehen im Rahmen des Familiennachzugs lassen derweil problematische intersektionale Stereotypen erkennen.191 2. Recht gegen sexuelle Belästigung
Sexuelle Belästigung stellt ebenfalls eine Form der Geschlechtsdiskriminierung dar. The- 59 matisiert wurde sie aber zunächst als Würdeverletzung, namentlich im 1994 eingeführten Beschäftigtenschutzgesetz (BSchG).192 Erst 2006 wurde dieses Gesetz durch § 3 Abs. 4 AGG und § 75 Abs. 2 BetrVG abgelöst, die diese Form der Belästigung als Diskriminierung fassen. Außerhalb des Beschäftigungskontextes jedoch, insbesondere im öffentlichen Leben, 60 galt sexuelle Belästigung weiterhin als Bagatelle. Dies zeigten nicht zuletzt die Reaktionen auf die Kampagne #aufschrei, die Anfang 2013 auf einen Bericht über die Belästigung einer Journalistin durch einen Politiker193 startete und innerhalb der ersten Woche bereits über 57.000 Tweets erntete.194 Der damalige Bundespräsident Gauck sprach daraufhin von einem „Tugendfuror“.195 Auch hier haben erst die massenhaften sexuellen Belästigungen in der Kölner Silvester- 61 nacht 2015/16 zu einem Umdenken geführt; rasch wurden Berührungen einer anderen Person „in sexuell bestimmter Weise“, die für das Opfer eine Belästigung darstellen, unter Strafe gestellt (§ 184i StGB). Unerwünschte sexuelle Handlungen ohne Berührung blieben weiterhin nur strafbar, soweit sie den Tatbestand der Beleidigung erfüllen (§ 185 StGB); erst 2021 wurde die „Verletzung des Intimbereichs durch Bildaufnahmen“ (sog. Upskirting/ Downblousing) unter Strafe gestellt (§ 184k StGB).196 2017 hat die #MeToo-Bewegung das Thema neu auf die Tagesordnung gesetzt und dabei den Schwerpunkt auf die Ausnutzung von Machtstrukturen gelegt.197
190 Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat
sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften v. 23.6.2011, BGBl. 2011 I, S. 1266. Mit diesem Gesetz wurde auch der Straftatbestand der Zwangsehe eingeführt (§ 237 StGB). 191 Ausführlich Markard, Eheschließungsfreiheit im Kampf der Kulturen, in: Lembke (Hrsg.), Regulierungen des Intimen, 2017, S. 139. 192 Gesetz zum Schutz der Beschäftigten vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, BGBl. 1994 I, S. 1406. 193 Himmelreich, Der Herrenwitz, Stern.de v. 1.2.2013. 194 Interview zu einem Jahr Sexismus-Debatte, „Wir haben das Schweigen gebrochen“, tagesschau.de v. 25.1.2014. Die Kampagne erhielt 2013 einen Grimme Online Award. 195 Sexismus-Debatte, Gauck beklagt „Tugendfuror“ im Fall Brüderle, Spiegel online v. 3.3.2013. 196 Dazu djb, Policy Paper: „Catcalling“ – Rechtliche Regulierung verbaler sexueller Belästigung und anderer nicht körperlicher Formen von aufgedrängter Sexualität, 14.4.2021. 197 Zur US-Debatte siehe etwa das Sonderheft „Law in the Era of #MeToo“, University of Chicago Legal Forum 2019, S. 1 ff.; vergleichend: Noel/Oppenheimer (Hrsg.), The Global #MeToo Movement, 2020, darin zur deutschen Debatte Lembke, Early Start, Slow Progress, Racist Takeover, but Destined Not to Yield, in: Noel/Oppenheimer (Hrsg.), The Global #MeToo Movement, 2020, S. 193. Nora Markard
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3. Digitale Gewalt und Hassrede198
Im digitalen Raum setzen sich Ungleichheitsverhältnisse aus der analogen Sphäre fort199 und finden Gewaltformen ihr digitales Pendant.200 Dazu gehören etwa Revenge Porn, das Veröffentlichen von privaten Nacktbildern;201 Doxing, das Zusammenstellen und Verbreiten von Informationen über eine Person;202 Cyberstalking, die Nachstellung mittels Spyware oder digitaler Kommunikationstechnologien;203 oder Smart Abuses, die Kontrolle und Belästigung mittels Smart-Home bzw. Internet-of-Things-Anwendungen.204 Menschenrechtsorgane erfassen dies zunehmend als digitale Formen geschlechtsbezogener Gewalt;205 so empfiehlt der GREVIO-Ausschuss zur Überwachung der Istanbul-Konvention: „Online violence against women and girls should therefore be seen as a continuum of offline violence.“206 Die EU-Kommission hat die Aufforderung des EU-Parlaments, eine Richtlinie zu Gewalt gegen Frauen einschließlich digitaler Gewalt zu erlassen,207 bisher nicht aufgegriffen.208 In diesem Bereich sind auch noch gleichheitsrechtliche Forschungslücken zu verzeichnen, insbesondere im Hinblick auf das Datenschutzrecht209 oder das Recht der IT-Sicherheit210. Größere Aufmerksamkeit erhält die digitale Hassrede, von der vor allem junge, gesell63 schaftlich marginalisierte Personen – und damit insbesondere auch junge Frauen – betroffen sind.211 Im Netz sind beleidigende oder hetzerische Äußerungen grundsätzlich 62
198 Dieser Abschnitt entstand gemeinsam mit Victoria Guijarro Santos. 199 Ganz, Feministische Netzpolitik, Perspektiven und Handlungsfelder, 2013, S. 3; Hentschel/Schmidt,
Regulierung gewaltvoller Online-Kommunikation, Femina Politica 2014, S. 83 (85 f.).
200 Überblick bei Lange, Digitale Gewalt gegen Frauen in Europa, ISS Newsletter Nr. 2/2019; siehe auch
Council of Europe, Cybercrime Convention Committee (T-CY ), Mapping Study on Cyberviolence v. 9.7.2018, T-CY(2017)10, S. 6. 201 Hohenstein, Der Schutz vor der Herstellung und Verbreitung von Nackt- und Intimaufnahmen, 2020, S. 140 ff.; siehe auch Glynn/Rackley/Houghton, Beyond ‚Revenge Porn‘, Feminist Legal Studies 2017, S. 25. 202 Douglas, Ethics and Information Technology, 2016, S. 199. 203 Huber, Cyberstalking und Cybercrime, 2013, S. 67 ff. 204 Lopez-Neira/Patel/Parkin/Danezis/Tanczer, ‚Internet of Things‘, Safe – The Domestic Abuse Quarterly 63 (2019), S. 22; Stelkens, Smarte Gewalt, STREIT 2019, S. 3–9. 205 Simonovic, Report of the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences on online violence against women and girls from a human rights perspective v. 18.6.2019, UN Doc. A/ HRC/38/47; Council of Europe, Gender Equality Strategy 2018–2023, 2018, S. 19; Organization of American States, Combating Online Violence Against Women, A Call for Protection, White Paper Series 7 (2019). 206 GREVIO, unveröffentlichter Kommentar, zitiert in: Council of Europe, T-CY (Fn. 200), S. 24. 207 European Parliament, resolution on combating sexual harassment and abuse in the EU v. 26.10.2017 (2017/2897(RSP)), P8_TA(2017)0417, Rn. 8, 11. Vgl. auch European Institute for Gender Equality, Cyber Violence Against Women and Girls, 2017. 208 Siehe aber Europäische Kommission, Eine Union der Gleichheit: Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020–2025, COM(2020) 152 final, sowie den Entwurf des Digital Services Act, COM(2020) 825 final. 209 Ansätze etwa in: Schröder, Feminist Post-Privacy?, in: Loh/Coeckelbergh (Hrsg.), Feminist Philosophy of Technology, 2019, S. 207; Drüeke/Klaus, Öffentlichkeiten im Internet, Femina Politica 2014, S. 59. 210 Kritisch etwa Stelkens (Fn. 204), S. 6. 211 Duggan, Online Harassment, Pew Research Center, 22.10.2014. Nora Markard
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unbegrenzt lang verfügbar und erzielen auch deswegen eine deutlich größere Reichweite als analoge Äußerungen, bis hin zum sogenannten „Shitstorm“.212 Digitale Hassrede und Cyberharassment, etwa Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, können erhebliche psychische Belastungen erzeugen.213 Nicht selten ziehen sich die Betroffenen aufgrund dieser Erfahrungen aus der (digitalen) Öffentlichkeit zurück (sogenanntes Silencing).214 In der Bundesrepublik konzentriert sich die Gesetzgebung dabei auf das Strafrecht: 64 2015, auf Druck des NSU-Untersuchungsausschusses, wurden diskriminierende Motive in die Liste der Strafzumessungskriterien in § 46 Abs. 2 StGB aufgenommen.215 Die offene Kategorie der „sonstigen menschenverachtenden“ Beweggründe und Ziele kann sowohl geschlechtsdiskriminierende als auch homo- und transfeindliche Motive erfassen.216 Wie der Fall Künast deutlich gezeigt hat, bereitet allerdings bereits die Anwendung der vom BVerfG entwickelten Grundsätze zur Abwägung von Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht auf sexistische Hassrede den Fachgerichten deutliche Schwierigkeiten.217 Um einen Meinungsaustausch in „gleicher Freiheit“218 zu sichern, wäre es zudem angezeigt, auch das Recht gegen Diskriminierung aus Art. 3 Abs. 3 GG in die Abwägung einzubeziehen.219 § 185 StGB ist zudem nicht geeignet, Äußerungen gegen Frauen allgemein zu erfassen, etwa wenn diese in einem Blog als „Menschen zweiter Klasse“ bezeichnet werden;220 das OLG Köln hat solche Äußerungen unter den Straftatbestand der Volksverhetzung subsumiert.221 Das Antidiskriminierungsrecht könnte hier einen effektiveren Rechtsschutz bieten.222 Der Umstand, dass diese Äußerungen in der Regel auf privat betriebenen Plattformen 65 und teils ohne Klarnamen getätigt werden, erschwert die Rechtsdurchsetzung zusätzlich. § 3 Abs. 2 NetzDG verpflichtet daher Betreiber sozialer Netzwerke, strafbare Äußerungen 212 Vgl. Gümüşay, Sprache und Sein, 2019, S. 118: „Dieser flüchtige Moment, in dem der Hassende seinen
Hass dem Gehassten offenbart, findet im Netz einen Echoraum, wiederholt sich, radikalisiert sich – und manifestiert sich so zu einer dauerhaften Öffentlichkeit.“ (Hervorhebung im Original). 213 Dhrodia, Unsocial Media: The Real Toll of Online Abuse against Women, Amnesty Global Insights v. 20.11.2017; Geschke/Klaßen/Quent/Richter, #Hass im Netz: Der schleichende Angriff auf unsere Demokratie, 2019, S. 20 ff., 27 ff.; Nowak u. a., Gewalt im Netz gegen Frauen & Mädchen in Österreich, 2018, S. 64 ff. 214 Dhrodia (Fn. 213); Geschke u. a. (Fn. 213), S. 28; Nowak u. a. (Fn. 213), S. 68 f. 215 Gesetz zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages v. 12.6.2015, BGBl. 2015 I, S. 925. Zur Vorarbeit bereits Deutsches Forum für Kriminalprävention, Projekt Primäre Prävention von Gewalt gegen Gruppenangehörige – insbesondere: junge Menschen, 2006. 216 Der Gesetzentwurf nennt hiervon nur die sexuelle Orientierung; BT-Drs. 18/3007, S. 15. 217 LG Berlin, Beschl. v. 9.9.2019, 27 AR 17/19; vgl. klärend BVerfG, Beschl. v. 19.6.2020, 1 BvR 2433/17, 1 BvR 3297/19, 1 BvR 1094/19, 1 BvR 362/18. Für Österreich vgl. den Fall Sigi Maurer, OLG Wien, Urt. v. 12.3.2019, 17 Bs 47/19i, S. 3. 218 BVerfGE 7, 198 (219) – Lüth. 219 Zum Ganzen Bredler/Markard, Grundrechtsdogmatik der Beleidigungsdelikte im digitalen Raum, JZ 2021, S. 865. 220 Vgl. zur Gruppenbeleidigung Eisele/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor. §§ 185 ff. Rn. 5 ff. Auch der 2021 eingeführte § 192a StGB (verhetzende Beleidigung) verbietet keine Beleidigung wegen des Geschlechts, jedoch wegen der sexuellen Orientierung; dazu BT-Drs. 19/31115, S. 15. 221 OLG Köln, Urt. v. 9.6.2020, 1 RVs 77/20. 222 Lembke (Fn. 186), S. 385. Nora Markard
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i. S. d. § 1 Abs. 3 NetzDG zu löschen. Die Abwägungsschwierigkeiten treffen damit freilich Private, mit der möglichen Folge des Overblockings.223 Daher wird über die Reform des NetzDG intensiv diskutiert.224 Dahinter liegt die Frage, welche Grundrechtsbindung Private trifft, die digitale Räume schaffen, aus denen ein Teil der Öffentlichkeit herausgedrängt wird.225 4. Flüchtlingsrecht
Gewalt und Diskriminierung, die an Geschlecht, sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität anknüpft, erzeugt auch internationalen Schutzbedarf. Bis in den 1990er Jahren Frauenrechte als Menschenrechte eingefordert wurden, war es jedoch im vom „männlichen Paradigma“ gekennzeichneten Flüchtlingsrecht kaum möglich, schwerste Verletzungen im privaten Bereich als Verfolgung zu thematisieren.226 Gerade in der Bundesrepublik sollten im Rahmen der verfassungsrechtlichen Auslegung des Flüchtlingsbegriffs Misshandlungen durch private Akteure grundsätzlich nicht als „politische Verfolgung“ i. S. d. Asylgrundrechts gelten.227 Eine Wende brachte wiederum das Unionsrecht: Die EU-Qualifikationsrichtlinie legt 67 nicht nur einen menschenrechtlichen Verfolgungsbegriff zugrunde, sondern erkennt – zunächst vage, nun etwas entschiedener – im Rahmen des Verfolgungsgrunds der „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ auch das Geschlecht einschließlich der Geschlechtsidentität und die sexuelle Orientierung an.228 Allerdings wurde ein Schutzbedarf vielfach mit der Begründung verneint, die Betroffenen könnten sich im Herkunftsland „diskret“ verhalten und so der Verfolgung entgehen (das BVerwG hatte bereits 1988 nach alter Rechtslage homosexuellen Flüchtlingen nur dann Asyl zugesprochen, wenn zu erwarten sei, dass sie ihrer „unentrinnbaren“, „schicksalhafte[n] Festlegung des Sexualtriebes (…) mehr oder weniger zwangsläufig“ nachgeben würden229). Der EuGH stellte schließlich klar, dass dies mit dem Zweck des Flüchtlingsrechts gerade nicht vereinbar 66
223 Schiff, Meinungsfreiheit in mediatisierten digitalen Räumen, MMR 2018, S. 366; Ganz/Meßmer/
Niemeyer, Effective Legal Protection Against Hate Speech Online As Anti-Discrimination Measure, in: Kettemann/Mosene (Hrsg.), Many Worlds, Many Nets, Many Visions, 2019, S. 31 f. 224 Kritisch etwa djb, Stellungnahme: 19–23, Mit Recht gegen Hate Speech – Bekämpfung digitaler Gewalt gegen Frauen v. 4.11.2019; Buermeyer, Statt Klarnamen: Digitales Gewaltschutzgesetz, Tagesspiegel v. 19.6.2019; Lembke, Kollektive Rechtsmobilisierung gegen digitale Gewalt, 2017. Siehe nun Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, BGBl. 2021 I, S. 441; Gesetz zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, BGBl. 2021 I, S. 1436. 225 Zur Grundrechtsbindung Privater BVerfGE 128, 226 – Fraport (2011); BVerfGE 148, 267 – Stadionverbot (2018); BVerfG, Beschl. v. 22.5.2019, 1 BvQ 42/19 – III. Weg; EuGH, Urt. v. 3.10.2019, Rs. C-18/18, Glawischnig-Piesczek; siehe auch Art. 17 Istanbul-Konvention; Eifert, Rechenschaftspflichten für soziale Netzwerke und Suchmaschinen, NJW 2017, S. 1450. 226 Greatbach, The Gender Difference, International Journal for Refugee Law 1989, S. 518; Crawley, Refugees and Gender, 2001, S. 5; Jensen, Frauen im Asyl- und Flüchtlingsrecht, 2003, S. 28. 227 Überblick zur Rechtsprechung bei Jensen (Fn. 226), S. 101–104; siehe auch Brabandt, Internationale Normen und das Rechtssystem, 2011. 228 Art. 10 Abs. 1 lit. d RL 2004/83/EG, Neufassung RL 2011/95/EU. 229 BVerwGE 79, 143 (152). Nora Markard
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sei.230 Ein Problem bleibt die nicht-diskriminierende Prüfung des Schutzanspruchs, wenn in Zweifel steht, ob die antragstellende Person tatsächlich homosexuell oder transgender ist.231 Ungenügend ist in Deutschland auch die Prüfung besonderer Bedarfe im Rahmen der Aufnahme-Richtlinie.232 II. Partnerschaft, Reproduktion und Personenstand 1. Gleichstellung in Ehe und Familie
Die Vorschriften des BGB zum Ehe- und Familienrecht wurden auch nach Ablauf der 68 Übergangszeit in Art. 117 GG nur schleppend und teils erst auf Intervention des Bundesverfassungsgerichts an die Vorgaben des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG angeglichen.233 Wenngleich inzwischen die direkte Diskriminierung von Frauen beseitigt ist, verbleiben strukturelle Probleme. So bestärken insbesondere das Ehegattensplitting und die Vereinbarkeitsprobleme aufgrund mangelnder Kinderbetreuungsmöglichkeiten eine traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, wobei auch die geringere Bezahlung der typischerweise von Frauen präferierten Berufe eine Rolle spielt.234 Im Scheidungsfall dagegen werden die Unterhaltsansprüche der bis dahin daheimgebliebenen Ehefrau zunehmend reduziert.235 Die reproduktiven Freiheiten von Frauen236 bleiben durch §§ 218 ff. StGB beschränkt; § 219a StGB verbot es zudem Gynäkolog*innen, Informationen über nach §§ 218 ff. StGB straflose medizinischen Leistungen auf der eigenen Website einzustellen.237 Diese Norm wurde erst 2022 nach unzureichender Reform anlässlich des von sogenannten Lebensschützern veranlassten Strafverfahrens gegen die Gynäkologin Kristina Hänel und andere Kolleginnen abgeschafft.238 Auf der anderen Seite hat das BVerfG klargestellt, dass auch die Rechte von Kindesvätern angemessene Beachtung finden müssen, soweit dies dem Kindeswohl entspricht.239 230 EuGH, Urt. v. 7.11.2013, Rs. C-119/12, C-200/12, C-201/12, X, Y, Z, Rn. 71–76 (Anmerkung Markard,
EuGH zur sexuellen Orientierung als Fluchtgrund, Asylmagazin 2013, S. 402). Dazu EuGH, Urt. v. 25.1.2018, Rs. C-473/16, F. (keine „gay tests“). Dazu etwa Kanalan, Medizinische Versorgung transgeschlechtlicher Flüchtlinge, VSSR 2016, S. 161. BVerfGE 10, 59 – Väterlicher Stichentscheid (1959); BVerfGE 48, 327 – Familienname (1978). Spangenberg, Mittelbare Diskriminierung im Einkommenssteuerrecht, 2013, S. 41, 109 f.; Fredman, Taxation as a Human Rights Issue, in: Alston/Reisch (Hrsg.), Tax, Inequality, and Human Rights, 2019, S. 81 (86). Zur Bezahlung oben D. III. 2. 235 Vgl. Willenbacher, Die Umgestaltung des Geschlechterkontraktes durch das nacheheliche Unterhaltsrecht, in: Cottier u. a. (Hrsg.), Wie wirkt Recht?, 2010, S. 369. 236 Siehe Art. 12 und 16 Abs. 1 lit. e CEDAW; dazu CEDAW, General Recommendation No. 24: Article 12 of the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women – women and health v. 5.2.1999, UN Doc. A/54/38/Rev.1, chap. I., Nr. 31 (c). Ein Recht auf Bildung zur Familienplanung enthält Art. 10 lit. h CEDAW. 237 Überblick: Wersig, Reproduktion zwischen „Lebensschutz“, Selbstbestimmung und Technologie, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2012, S. 197. 238 Gesetz vom 11.7.2022, BGBl. 2022 I, S. 1802; gem. § 316n EGStGB werden auch entsprechende Strafurteile ab 1990 aufgehoben. Zuvor Gesetz zur Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsabbruch v. 22.3.2019, BGBl. 2019 I, S. 350; Fischer/von Scheliha, Alles verfassungswidrig? Wie das BVerfG beim Werbeverbot für Abtreibung zum Rosinenpicken einlädt, Verfassungsblog v. 16.3.2018. 239 BVerfGE 127, 132 – Elternrecht des Vaters (2010). Zu weit geht aber BGH, Beschl. v. 16.6.2021 – XII 231 232 233 234
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§ 6 Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Diskriminierungskategorien
Gleichgeschlechtliche Paare waren bis zur Einführung der Lebenspartnerschaft von jeglicher rechtlichen Anerkennung ihrer Beziehung ausgeschlossen. Die auch unter dem „Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften“240 verbleibenden Diskriminierungen wurden nach und nach durch das BVerfG gekippt, bis schließlich 2017 die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet wurde.241 Ungelöst bleiben familienrechtliche Diskriminierungslagen. Während etwa ein mit der Geburtsmutter eines Kindes verheirateter Mann automatisch rechtlicher Vater des Kindes wird, muss eine mit ihr verheiratete Frau das Kind adoptieren.242 Zusätzlichen Problemen begegnen Männer, die im Ausland eine in Deutschland verbotene Leihmutterschaft in Anspruch nehmen; der Anerkennung der Elternschaft des Co-Vaters steht der ordre public jedoch nicht zwingend entgegen.243 2. Anerkennung der Geschlechtsidentität
Das Personenstandsrecht gehört zu den zentralen Hindernissen für die Anerkennung der Geschlechtsidentität. Für inter*-Personen war insbesondere problematisch, dass das PStG bei der Geburt eine Zuordnung entweder zum männlichen oder zum weiblichen Geschlecht beinhaltete; dies verstärkte den sozialen Druck auf geschlechtszuweisende Operationen im frühsten Kindesalter, die schwere körperliche und psychische Folgen haben können und daher unter anderem als Verstoß gegen die UN-Antifolterkonvention angesehen werden.244 71 Seit 2013 durfte gem. § 22 Abs. 3 PStG der Geschlechtseintrag offengelassen werden. Dies signalisierte jedoch ein geschlechtliches „Nullum“, keine Anerkennung der nicht-binären Geschlechtlichkeit. Das BVerfG hat diese Ungleichbehandlung intersexueller Personen in seinem Beschluss zur Dritten Option zu Recht als Geschlechtsdiskriminierung eingeordnet, die gesetzgeberisch auf verschiedene Arten gelöst werden könne; so könne das PStG weitere Kategorien vorsehen, es sei verfassungsrechtlich aber auch zulässig, ein70
ZB 58/20 (Umgangsrecht für privaten Samenspender nach dessen Einwilligung in die Adoption durch die Mitmutter und späterem Abbruch des Kontakts zum Kind durch den Samenspender). 240 Siehe Fn. 20. 241 Siehe oben Rn. 36 (B. III. 2.). 242 Nicht weiter verfolgt wird offenbar der Diskussionsteilentwurf eines Gesetzes zur Reform des Abstammungsrechts v. 13.3.2019; das Adoptionshilfegesetz (BT-Drs. 19/16781) scheiterte unter anderem wegen der darin vorgesehenen neuen Beratungspflicht für Stiefkindadoptionen durch Co-Mütter am 3.7.2020 im Bundesrat. Inzwischen sind vier Vorlageverfahren beim BVerfG anhängig: OLG Celle, Beschl. v. 24.3.2021 – 21 UF 146/20; KG Berlin, Beschl. v. 24.3.2021 – 3 UF 1122/20; AG Brandenburg an der Havel, Beschl. v. 27.9.2021 – 41 F 132/21; AG München, Beschl. v. 11.11.2021 – 542 F 6701/21. Der Koalitionsvertrag von 2021 sieht nun eine automatische rechtliche Mitmutterschaft der Ehefrau vor. 243 BGHZ 203, 350 (2014); BGHZ 210, 59 (2016); BGH, Beschl. v. 5.9.2018, XII ZB 224/17. Der Begriff des ordre public in Art. 6 EGBGB bezeichnet die Grenze, bis zu der das Recht und die Rechtsprechung anderer Gerichtsbarkeiten im Rahmen des internationalen Privatrechts anerkannt werden. 244 Intersexuelle Menschen e. V., Parallelbericht zum 5. Staatenbericht der Bundesrepublik zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, 2011, S. 16 ff.; UN Committee Against Torture (CAT), Concluding observations on Germany v. 12.12.2011, UN Doc. CAT/C/DEU/CO/5, Rn. 20. Nora Markard
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fach ganz auf den Geschlechtseintrag zu verzichten.245 Letzteres scheint bisher politisch nicht vorstellbar; nun ist stattdessen der Geschlechtseintrag „divers“ möglich. Personen mit „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ können gem. § 45b Abs. 1 PStG gegenüber dem Standesamt erklären, dass die Geschlechtsangabe durch einen zulässigen Eintrag (männlich, weiblich, divers) ersetzt oder gestrichen werden soll.246 In Österreich, wo das Personenstandsgesetz allein den Eintrag des „Geschlechts“ verlangt, ohne dies zu spezifizieren, stellte der Verfassungsgerichtshof klar, dass Art. 8 EMRK eine verfassungskonforme Auslegung für intersexuelle Menschen verlange.247 Die personenstandsrechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität von Transper- 72 sonen richtet sich dagegen weiterhin nach dem TSG,248 das hierfür in § 4 Abs. 3 eine Begutachtung durch zwei voneinander unabhängige Sachverständige zur Voraussetzung macht. Diese müssen bescheinigen, dass die Person „seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben“ (§ 8 TSG), zudem muss mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass sich das Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird. Das BVerfG hat dieses Gutachtenerfordernis 2011 für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt und hieran 2017 festgehalten,249 obwohl Transsexualität inzwischen entpathologisiert wurde250. Da das BVerfG im Beschluss zur Dritten Option wesentlich nicht auf körperliche Besonderheiten, sondern auf die Geschlechtsidentität abstellt, spricht jedoch vieles dafür, dass sich auch Transsexuelle auf § 45b Abs. 1 PStG berufen können.251 Jedenfalls ist aus gleichheitsrechtlicher Perspektive nicht ersichtlich, warum ihre Geschlechtsanerkennung höheren Hürden unterliegen sollte als jene intersexueller Personen.252 Der BGH geht dagegen den umgekehrten Weg: Er geht davon aus, dass § 45b Abs. 1 PStG einen nicht-binären Körper erfordere und will die „empfundene Intersexualität“ dem TSG unterwerfen.253
245 BVerfGE 147, 1 – Dritte Option (2017). 246 Dazu unter anderem Mangold/Markwald/Röhner, Rechtsgutachten zum Verständnis von „Varianten
der Geschlechtsentwicklung“ in § 45b Personenstandsgesetz v. 2.12.2019.
247 VfGH Österreich, Entsch. v. 29.6.2018, G 77/2018. 248 Zum verbleibenden Reformbedarf: Adamietz/Bager, Gutachten: Regelungs- und Reformbedarf für
transgeschlechtliche Menschen, Begleitmaterial zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- & Transsexualität – Band 7, 2016. Der Koalitionsvertrag von 2021 sieht eine Ersetzung des TSG durch ein Selbstbestimmungsgesetz vor. 249 BVerfGE 128, 109 (130) – Lebenspartnerschaft von Transsexuellen (2011); BVerfG, Beschl. v. 17.10.2017, 1 BvR 747/17 – Versagung des Namens- und Personenstandswechsels. 250 Siehe oben Rn. 11 (A. III.). 251 Mangold/Markwald/Röhner (Fn. 246); für § 48 PStG Sieberichs, Die diversen Geschlechter, FamRZ 2019, S. 329 (331–333). 252 A. A. Dutta/Fornasier, Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 22.4.2020, XII ZB 383/19, FamRZ 2020, S. 1015; Löhning, Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 22.4.2020, XII ZB 383/19, NJW 2020, S. 1961; differenzierend Froese, Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 22. 4. 2020, XII ZB 383/19, JZ 2020, S. 856 (859). 253 BGH, Beschl. v. 22.4.2020, XII ZB 383/19. Hierbei handelt es sich um eine neue Begriffsschöpfung des BGH. Gegen den Beschluss ist eine Verfassungsbeschwerde anhängig. Nora Markard
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III. Gleichstellung im Erwerbsleben 73 Die Position von Frauen im Erwerbsleben254 gehört zu den klassischen Gleichstellungsthe-
men; heute sind vor allem muslimische Frauen sowie Homosexuelle mit Zugangshürden konfrontiert (1.). Trotz formaler Gleichheit verdienen Frauen jedoch weiterhin weniger als Männer und bleiben Frauen in männlich konnotierten Berufsgruppen und auf höheren Entscheidungsebenen unterrepräsentiert. Das Verbot diskriminierender Bezahlung im heutigen Art. 157 AEUV gab dem EuGH schon früh Gelegenheit, eine Dogmatik des Antidiskriminierungsrechts zu entwickeln, die später auch für das BVerfG leitend wurde (2.). Maßstabsprägend wirkte er auch im Streit um die Zulässigkeit positiver Maßnahmen, der sich inzwischen im Bereich der Parität in Landtagen fortsetzt (3.). 1. Zugang zu Berufen
74 Frauen waren lange von vielen qualifizierten Berufen ausgeschlossen; im bürgerlichen
Ideal war der verheirateten Frau die unbezahlte Haus- und Familienarbeit zugewiesen.255 Inzwischen ist der Zugang zu Berufen für Frauen formal-rechtlich kaum noch ein Problem. Einstellungskriterien, die geeignet sind, Frauen auszuschließen, sind als mittelbare Diskriminierung gemäß Art. 14 RL 2006/54/EG, § 8 AGG nur zulässig, wenn es sich hierbei um eine „aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung [handelt], sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt“; hierzu gehört die Körperkraft256 ebenso wie die Körpergröße257. Seit der EuGHEntscheidung im Fall Kreil steht Frauen auch der Dienst an der Waffe im Militär offen;258 ausgeschlossen bleiben sie vielfach von liturgischen Ämtern, für die die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien und das AGG nicht gelten und das Verfassungsrecht in Weimarer Tradition Ausnahmeregelungen vorsieht. Praktisch beeinflussen strukturelle Faktoren ebenso wie Geschlechterrollen Berufswahl und Aufstiegschancen,259 und auch diskriminierende Einstellungspraktiken sind durch ihr Verbot nicht beseitigt. Freilich musste erst der EuGH darauf hinweisen, dass der bloße Ersatz der Bewerbungskosten (im konkreten Fall 2,31 DM) keine „abschreckende Wirkung“ entfaltet und damit die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote nicht hinreichend effektiv macht.260 254 Zu Diskriminierung im Beschäftigungskontext eingehend → von Roetteken, § 23. 255 Vgl. Frevert, Frauen-Geschichte, 1986. 256 Dazu EuGH, Urt. v. 1.2.2005, Rs. C-203/03, Kommission v. Österreich; LAG Köln, Urt. v. 8.11.2000, 3
SA 974/00; siehe auch BVerfGE 92, 91 (110) – Feuerwehrabgabe (1995).
257 Dazu OVG Saarland, Beschl. v. 25.3.2019, 1 B 2/19 (Mindestgröße 1,62m für Polizist*innen sachlich
gerechtfertigt).
258 EuGH, Urt. v. 11.1.2000, Rs. C-285/98, Tanja Kreil v. Bundesrepublik Deutschland. 259 Hierzu unten Rn. 78 (D. III. 2.). 260 EuGH, Urt. v. 10.4.1984, Rs. 79/83, Dorit Harz v. Deutsche Tradax GmbH; diese Entscheidung trug
§ 611a BGB den Spottnamen „Portoparagraph“ ein. Die zahlreichen Richtlinien, die diese Norm 1980 umsetzen sollten, sind inzwischen in RL 2006/54/EG zusammengefasst (siehe oben Rn. 29 [B. II. 1.]), die Norm selbst wurde mit Erlass des AGG aufgehoben (BGBl. I 2006, S. 1897). Nora Markard
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Als intersektionales Einstellungshindernis für muslimische Frauen erweist sich das 75 Kopftuch im öffentlichen Dienst,261 das teils für unvereinbar mit der Neutralitätspflicht des Staates gehalten wird. Dies wird vor allem mit Blick auf die Religionsfreiheit der Frauen diskutiert; der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat jedoch im Kopftuchverbot für Lehrerinnen und Erzieherinnen auch eine Geschlechtsdiskriminierung erkannt, denn es treffe „derzeit in Deutschland faktisch ganz überwiegend muslimische Frauen, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen“.262 Das Argument, das Verbot „schütze Frauen vor derjenigen Diskriminierung, die einem religiösen Bedeckungsgebot selbst innewohne,“ biete keine Rechtfertigung, „denn dieser Schutz wirkt sich hier tatsächlich als Benachteiligung aus“.263 Für Rechtsreferendarinnen und Richterinnen hat der Zweite Senat dagegen ein Kopftuchverbot für verfassungsrechtlich zulässig erachtet und sich nur zögerlich zu dessen (intersektional) mittelbar diskriminierender Wirkung geäußert.264 Die diskriminierende Einstellungs- und Entlassungspolitik in den Kirchen hat auch über 76 den liturgischen Bereich hinaus weitreichende Bedeutung. Allein in den sozialen Diensten der Caritas – etwa in kirchlichen Krankenhäusern und Pflegeheimen, Kindergärten, Schulen und Ferienheimen – sind über 600.000 Hauptamtliche tätig.265 In katholischen Einrichtungen hat die Eingehung einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft bis 2015 zur Kündigung geführt – unabhängig davon, ob die Beschäftigten katholisch waren.266 Die neue Grundordnung267 sieht nun nur noch für katholische Beschäftigte im Verkündungsbereich eine Kündigung vor, wenn sie sich verpartnern oder eine „kirchenrechtlich unzulässige Zivilehe“ eingehen.268 Die Frage nach der Reichweite des Diskriminierungsverbots für Religionsgemeinschaf- 77 ten wird von BVerfG, EGMR und EuGH unterschiedlich beantwortet. Das BVerfG hat den Kirchen aufgrund ihrer Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) und ihres kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV ) weitreichende Freiheiten eingeräumt; sie allein hätten darüber zu entscheiden, welches die „tragenden Grundsätze der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre“ sind, deren Einhaltung in der persönlichen Lebensführung sie arbeitsvertraglich verlangen dürfen.269 Der EGMR stellte 261 Zum Kopftuchverbot im privaten Arbeitsverhältnis siehe die widersprüchlichen Entscheidungen des
EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, Achbita; EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-188/15, Bougnaoui; sowie nun EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18, C-341/19, IX und MJ. 262 BVerfGE 138, 296 (354 Rn. 143) – Kopftuch II (2015); BVerfG, Beschl. v. 18.10.2016, 1 BvR 354/11. 263 BVerfGE 138, 296 (354 Rn. 144) – Kopftuch II (2015). 264 BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020, 2 BvR 1333/17, Rn. 113 – Kopftuch III (2020). 265 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Katholische Kirche in Deutschland, Zahlen und Fakten, 2015/16, S. 33 (Stand: 2014). 266 Deutsche Bischofskonferenz, Erklärung zur Unvereinbarkeit von Lebenspartnerschaften nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz mit den Loyalitätsobliegenheiten nach der Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse v. 24.6.2002. 267 Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse, 4. Aufl. v. 27.4.2015. 268 Art. 5 Abs. 2 Nr. 2 lit. c und d Grundordnung. Erläuternd LSVD, Das Arbeitsrecht der Beschäftigten der Kirchen. 269 BVerfGE 70, 138 – Loyalitätspflicht (1985). Nora Markard
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demgegenüber 2010 klar, dass eine Abwägung zwischen den Rechten beider Parteien – Kirche und Beschäftigte – notwendig sei und die Art der Tätigkeit (Nähe zum Verkündungsauftrag) berücksichtigt werden müsse.270 Dennoch bestätigte der Zweite Senat des BVerfG 2014 seine Linie im Fall eines katholischen Chefarztes, der nach Scheidung standesamtlich wieder geheiratet hatte.271 Auf Vorlage des BAG befand der EuGH die Ausnahme vom Diskriminierungsverbot aufgrund des Selbstverständnisses einer Religionsgemeinschaft (§ 9 Abs. 1 AGG) für unionsrechtswidrig; ob eine „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos dieser Kirche“ vorliege und diese verhältnismäßig sei, unterliege vielmehr der gerichtlichen Kontrolle.272 Das BAG befand die Kündigung 2019 auf dieser Basis für rechtswidrig.273 Von einer Verfassungsbeschwerde sah das Erzbistum Köln aufgrund der inzwischen geänderten Grundordnung schließlich ab.274 Ob das BVerfG auch dem EuGH entgegentreten wird, um das ungeprüfte Diskriminierungsrecht der Kirchen zu sichern, wird nun der Egenberger-Fall zeigen.275 2. Entgeltgleichheit 78 Seit 1957 ist das Gebot der Entgeltgleichheit im Europarecht verankert, seit 1976 ist es
als subjektives Recht anerkannt.276 Dennoch verdienten Frauen in Deutschland 2016 durchschnittlich 21 Prozent weniger als Männer.277 Der im Laufe der Erwerbsbiographie wachsende „Pay Gap“278 setzt sich im „Pension Gap“ fort. Die „Bereinigung“ des Gender Pay Gaps um 15 lohnrelevante persönliche Merkmale279 reduziert diesen auf „nur“ 6 Pro270 EGMR, Urt. v. 23.9.2010, Beschwerde-Nr. 425/03 und 1620/03, Obst v. Bundesrepublik und Schüth v.
Bundesrepublik (Kündigung wegen außerehelicher Beziehung).
271 BVerfGE 137, 273 – Chefarzt (2014). 272 EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-68/17, IR v. JQ, Rn. 42–55; siehe auch EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs.
C-414/16, Egenberger, Rn. 59.
273 BAG, Urt. v. 20.2.2019, 2 AZR 746/14. 274 Erzbistum Köln, Keine Verfassungsbeschwerde im Chefarzt-Fall, Europäischer Gerichtshof – Geän-
derte Beurteilungskriterien, Meldung v. 2.7.2019.
275 Die Verfassungsbeschwerde des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung (EWDE) vom
März 2019 gegen das Urteil des BAG vom 25.10.2018 (BAGE 164, 117), das nach dem EuGH-Urteil (Rs. C-414/16) erging, ist beim Zweiten Senat anhängig. 276 EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. C-43/75, Gabrielle Defrenne v. SA Sabena, Rn. 40. Dieser Abschnitt basiert auf Markard, Das Gebot der Entgeltgleichheit, JZ 2019, S. 534. Grundlegend zu Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext → v. Roetteken, § 23. 277 Für 2006–2019 vgl. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI), WSI GenderDatenPortal, Einkommen (Datenquelle: Statistisches Bundesamt). 278 BMFSFJ, Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, 2017, BT-Drs. 18/12840, S. 94; BMFSFJ, Transparenz für mehr Entgeltgleichheit, Einflüsse auf den Gender Pay Gap (Berufswahl, Arbeitsmarkt, Partnerschaft, Rollenstereotype) und Perspektiven der Bevölkerung für Lohngerechtigkeit zwischen Frauen und Männern, 2015, S. 20. 279 BMFSFJ (Fn. 279), S. 94: „darunter das Ausbildungsniveau, die Berufserfahrung, das Dienstalter, die Berufsgruppe, den Beschäftigungsumfang, die Tarifbindung des Arbeitgebers, die Unternehmensgröße, den Einfluss der öffentlichen Hand auf die Unternehmensführung, den Wirtschaftszweig und die Art des Wohnorts (Ballungsraum oder nicht).“ Siehe auch Eurostat Statistics Explained, Gender pay gap statistics, 2020. Nora Markard
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zent.280 Doch die herausgerechneten Faktoren sind keineswegs neutral. So entstehen geringere Berufserfahrung und niedrigeres Dienstalter unter anderem durch „Auszeiten“ für unbezahlte familiäre Sorgearbeit.281 Die „Entscheidung“ für die Auszeit oder Teilzeit der Frau fällt oft aufgrund des höheren Gehalts des Mannes – wiederum kein Zufall, denn von Frauen präferierte Berufe haben oft geringe Einkommens- und Entwicklungsperspektiven.282 Teils liegt dies daran, dass etwa die für Männerberufe typische Muskelkraft honoriert wird, während die für Frauenberufe typische Empathie als Naturressource gilt283 und die körperlichen Anstrengungen etwa in der Pflege übergangen werden.284 Auch tarifliche Eingruppierungsregeln können diskriminierend sein.285 Erfordert die Sorgearbeit Teilzeit, gelten oft geringere Stundenlöhne;286 dies kann indirekte Diskriminierung darstellen.287 Zudem müssen Frauen beim Wiedereinstieg oft unter ihrer Qualifikation arbeiten und möglicherweise Führungspositionen ablehnen, die zu wenig zeitliche Flexibilität bieten.288 Solche möglichen Diskriminierungstatbestände und strukturellen Faktoren werden im „bereinigten Gender Pay Gap“ ausgeblendet. Die Fortdauer des Gender Pay Gaps dürfte im Übrigen viel damit zu tun haben, dass 79 die Durchsetzung des Rechts auf Entgeltgleichheit großen Hürden begegnet. Der EuGH hat aus Art. 157 AEUV die für das Antidiskriminierungsrecht typische Beweislastumkehr abgeleitet: Beweist eine Arbeitnehmerin, dass ein männlicher Kollege für eine gleichwertige Arbeit höher entlohnt wird, spricht der erste Anschein für Diskriminierung und es obliegt dem Arbeitgeber, zu beweisen, dass die unterschiedliche Entlohnung auf sachlichen Gründen beruht, die nichts mit Diskriminierung zu tun haben.289 Dies ist auch in § 22 AGG vorgesehen. Doch deutsche Gerichte verlangen bisher darüber hinaus auch einen Beweis des ersten Anscheins der diskriminierenden Anknüpfung der Benachteiligung an das Geschlecht,290 der in der Praxis kaum zu erbringen ist. Hinzu kommt die mangelnde 280 Statistisches Bundesamt, Gender Pay Gap 2019: Verdienstunterschied zwischen Männern und Frauen
erstmals unter 20 %, Bereinigter Gender Pay Gap im Jahr 2018 stabil bei 6 %, Pressemitteilung Nr. 484 v. 8.12.2020. 281 BMFSFJ (Fn. 279), S. 100 f. 282 BMFSFJ (Fn. 279), S. 85. 3,4 Prozent der Lohnlücke entstehen dadurch, „dass in weiblich dominierten Branchen geringere Vergütungen gezahlt werden“; ebd. 283 Winter, Gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit, 1998, S. 62 ff. 284 Winter, Diskriminierungsfreie(re) Entgeltgestaltung – leider immer noch ein Prinzip ohne Praxis, in: FS Pfarr, 2010, S. 320 (322); siehe auch Bericht der Bundesregierung zur Berufs- und Einkommenssituation von Frauen und Männern, BT-Drs. 14/8952, S. 209 ff., 243, 246. 285 EuGH, Urt. v. 27.10.1993, Rs. C-127/92, Enderby, Rn. 20–22; EuGH, Urt. v. 26.6.2001, Rs. C-381/99, Brunnhofer. Grundlegend EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. C-43/75, Defrenne, Rn. 39. 286 Pfahl/Hobler/Weeber/Horvath, Arbeitszeiten Europa, Teilzeitquoten nach Alter des Kindes im Zeitverlauf, EU-Vergleich: Mütter in Deutschland arbeiten deutlich häufiger Teilzeit, Väter aber nicht, WSI GenderDatenPortal, 2015, http://media.boeckler.de/Sites/A/Online-Archiv/17517; Schiek, „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ – vereinbar mit der arbeitsmarktlichen Gleichstellung von Frauen?, KJ 1994, S. 511. 287 EuGH, Urt. v. 13.5.1986, Rs. 170/84, Bilka. 288 Boll, Entstehung des Gender Pay Gaps im Lebensverlauf, NZFam 2015, S. 1089 (1092). 289 EuGH, Urt. v. 27.10.1993, Rs. C-127/92, Enderby, Rn. 15; EuGH, Urt. v. 26.6.2001, Rs. C-381/99, Brunnhofer, Rn. 60, 62; EuGH, Urt. v. 28.2.2013, Rs. C-427/11, Kenny, Rn. 19. 290 Siehe aktuell LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 5.2.2019, 16 Sa 983/18 (Anmerkung v. Roetteken, Beweislast für den Nachweis einer Entgeltdifferenzierung bei unterschiedlicher Vergütung für gleichwertiNora Markard
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Kenntnis der Vergleichsgehälter, oft abgesichert durch Schweigeklauseln im Arbeitsvertrag.291 Das 2017 in Kraft getretene Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG)292 hat diese Lage zunächst kaum verbessert; dies änderte sich erst durch die Rechtsprechung des BAG, nach der der mitgeteilte Median293 eine Beweislastumkehr auslöst.294 Nicht nachvollziehbar bleibt die Angemessenheitsvermutung für Tarifverträge (§ 4 Abs. 5 EntgTranspG).295 80 Das Gleichstellungsgebot aus Art. 3 Abs. 2 GG gibt dem Staat ausdrücklich auf, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken; dies zielt auf die „Angleichung der Lebensverhältnisse“296. Angesichts des klaren Befunds, dass Frauen über den Verlauf ihres Erwerbslebens sowohl direkt als auch strukturell weiterhin massive Einkommensnachteile in Kauf nehmen, die weder allein auf individuelle Präferenzen rückführbar noch durch individuelle Mechanismen lösbar sind, ist die weitgehende gesetzgeberische Untätigkeit verfassungsrechtlich bedenklich.297 Freilich muss der Gesetzgeber dabei Wege suchen, die die Tarifautonomie respektieren und gegebenenfalls einen stufenweisen Übergang in die diskriminierungsfreie Bezahlung vorsehen, um die betriebliche Angleichung nach oben wirtschaftlich verträglich zu gestalten.298 3. Quoten 81 Traditionell konzentriert sich die Umsetzung des verfassungsrechtlichen Gleichstellungs-
auftrags auf Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie (z. B. Anspruch auf einen Kitaplatz) sowie zur Förderung der partnerschaftlichen Familienarbeit (z. B. Partnermonate). Nur im öffentlichen Dienst sind darüber hinaus bereits in den 1990er Jahren verpflichtende Frauenfördermaßnahmen eingeführt worden; am
ge Arbeit, jurisPR-ArbR 34 (2019), Anm. 5). Klar dagegen v. Roetteken, Die aktuelle Rechtsprechung des EuGH zur Entgeltdiskriminierung, NZA-RR 2019, S. 177 (181 f.). 291 Zur AGB-Kontrolle LAG Mecklenburg, Urt. v. 21.10.2009, 2 Sa 183/09. 292 Gesetz zur Förderung der Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern (Entgelttransparenzgesetz, EntgTranspG), BGBl. 2017 I, S. 2152. 293 Der Median ist im Unterschied zum Durchschnitt der Mittelwert der Vergleichsgehälter, der von hohen Spitzengehältern unbeeinflusst bleibt; kritisch Göpfert/Giese, Entgelttransparenzgesetz – Folgt jetzt die Klagewelle?, NZA 2018, S. 207 (208); siehe auch Bauer/Günther/Romero, Der individuelle Auskunftsanspruch nach dem Entgelttransparenzgesetz, NZA 2017, S. 409 (411 f.); Thüsing, Fünf Schritte zu einem besseren Entgelttransparenzgesetz, BB 2017, S. 565; zurückhaltend Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/ Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 22. Aufl. 2022, § 11 EntgTranspG Rn. 4. 294 BAG, Urt. v. 21.1.2021, 8 AZR 488/19; dazu Röhner, Entgeltdiskriminierung von Frauen: Anmerkung zu den Urteilen des BAG zum Entgelttransparenzgesetz, KJ 2021, S. 366. 295 Siehe auch Oberthür, Das Gesetz zur Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen, NJW 2017, S. 2228 (2231); Roloff, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK Arbeitsrecht, Stand: September 2021, § 4 EntgTranspG Rn. 14; siehe auch Schlachter (Fn. 293), § 11 EntgTranspG Rn. 6; Kocher, Das Entgelttransparenzgesetz: ein Gesetz (nur) für Betriebsräte?, AuR 2018, S. 8 (10 f.). 296 BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeit (1992); BVerfGE 92, 91 (109) – Feuerwehrabgabe (1995). 297 Siehe zum Verwirklichungsauftrag Langenfeld (Rn. 105), Art. 3 Abs. 2 Rn. 59; Sacksofsky (Fn. 97), Art. 3 II, III 1 Rn. 354–356. 298 So auch djb, Stellungnahme: 17–05, zur öffentlichen Anhörung des Familienausschusses des Deutschen Bundestages am 6. März 2017 – Entgelttransparenzgesetz v. 27.2.2017. Nora Markard
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umstrittensten sind bis heute die Frauenquoten.299 Den Beginn machten Landesgleichstellungsgesetze für den öffentlichen Dienst; auf Bundesebene folgte auf das Frauenfördergesetz (1994) das Bundesgleichstellungsgesetz (2001).300 Für die Privatwirtschaft wurden solche verbindlichen Regelungen lange Zeit nicht erlassen; erst 2015 wurden (schwache) Geschlechterquoten für Führungsgremien in der Privatwirtschaft eingeführt.301 Zwei Vorlagen an den EuGH klärten die unionsrechtliche Zulässigkeit;302 danach dür- 82 fen Frauen in Bereichen, in denen sie unterrepräsentiert sind, bei gleicher Qualifikation bevorzugt eingestellt werden, „sofern nicht in der Person eines männlichen Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen.“303 Dies hat den verfassungsrechtlichen Streit um Quoten,304 der bei der Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 GG um die Gleichstellungsaufgabe in Satz 2 offen gelassen wurde,305 entschärft, aber nicht erledigt. Einem formalem Gleichheitsverständnis stellt sich die bevorzugte Einstellung von Frauen – trotz gleicher Qualifikation mit dem männlichen Mitbewerber – als verbotene Bevorzugung aufgrund des Geschlechts dar.306 Aus materieller Sicht dagegen handelt es sich um den Ausgleich faktischer Nachteile, die typischerweise Frauen treffen und die durch ein formales Diskriminierungsverbot nicht hinreichend beseitigt werden. Das BVerfG geht davon aus, dass Art. 3 Abs. 2 GG ausgleichende Begünstigungen rechtfertigt.307 Völkerrechtlich gelten solche Maßnahmen dagegen gar nicht erst als Diskriminierung.308 Wird Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG in dieser Weise asymmetrisch-materiell verstanden, verbietet das Verbot der Begünstigung nicht den Abbau von Nachteilen, sondern ungerechtfertigte Privilegien.309 Diese Perspektive wirkt auch klärend, wenn inzwischen eine Männerquote gefordert wird.311 299 Grundlegend zu positiven Maßnahmen → Schuler-Harms, § 16. Im Zentrum stehen Entscheidungs-
quoten (bei Unterrepräsentation von Frauen wird bei gleicher Qualifikation eine Frau eingestellt) und Ergebnisquoten (wird eine bestimmte Zielvorgabe bei der Erhöhung des Frauenanteils in einem bestimmten Zeitraum nicht erreicht, greifen Sanktionen); dazu Sacksofsky (Fn. 97), Art. 3 II, III 1 Rn. 365. 300 Aktuelle Fassung: Gesetz für die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesverwaltung und in den Unternehmen und Gerichten des Bundes (Bundesgleichstellungsgesetz, BGleiG) v. 24.4.2015, BGBl. 2015 I, S. 642, 643. Ähnliche Gesetze bestehen auf Länderebene. 301 Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst v. 24.4.2015 (FüPoG), BGBl. 2015 I, S. 642; reformiert durch das Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (FüPoG II), BGBl. 2021 I, S. 3311. 302 EuGH, Urt. v. 17.10.1995, Rs. C-450/93, Kalanke; EuGH, Urt. v. 11.11.1997, Rs. C-409/95, Marschall; siehe auch EuGH, Urt. v. 28.3.2000, Rs. C-158/97, Badeck, Rn. 33 ff. → Schuler-Harms, § 16 Rn. 32. 303 EuGH, Urt. v. 11.11.1997, Rs. C-409/95, Marschall, Rn. 33. 304 Ausführliche Nachweise bei Sacksofsky (Fn. 97), Art. 3 II, III 1 Rn. 365 Fn. 308. 305 BT-Drs. 12/6000, S. 50 f. Dazu Sacksofsky (Fn. 97), Art. 3 II, III 1 Rn. 288 („Formelkompromiss“). 306 Art. 3 Abs. 2 GG wird dabei als Staatszielbestimmung verstanden; Sachs (Fn. 97), S. 1681 f. m. w. N.; Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand: Mai 1996, Rn. 763 ff.; anders nun Kingreen, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand: Februar 2020, Art. 3, Rn. 90, 453. 307 Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG wird dabei als Klarstellung bezeichnet; BVerfG 92, 91 (109) – Feuerwehrabgabe (1995). Speziell zu Quoten hat das BVerfG bisher nicht entschieden. 308 Siehe oben Rn. 19 (B. I. 1. a). 309 Ausführlich Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 418–425. Nora Markard
300 83
§ 6 Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als Diskriminierungskategorien
Ob die an der Leitkategorie „Geschlecht“ entwickelte Dogmatik auf andere Diskriminierungsgründe übertragbar ist, ist angesichts der Sonderstellung des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG bisher ungeklärt. Auch die Berücksichtigung von Intersektionalität311 und die Position von Menschen mit dem Personenstand „divers“ werfen Fragen auf. Eine Weiterentwicklung der Quotendiskussion sehen in Bezug hierauf die thüringischen und brandenburgischen Paritätsgesetze vor: Dort setzt sich das Reißverschluss-Prinzip der männlichen und weiblichen Liste entweder vor und nach der diversen Person fort, oder die diverse Person wählt aus, auf welcher der beiden Listen sie mitgeführt werden möchte.312 Der Thüringische Verfassungsgerichtshof verwarf das dortige Paritätsgesetz allerdings, da das Gleichstellungsgebot in der thüringischen Verfassung in historischer Auslegung den Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit nicht zu rechtfertigen vermöge.313 IV. Gleichstellung im Wirtschaftsleben
Auch im Wirtschaftsleben314 schlagen sich geschlechtsbezogene Stereotype nieder. So dient der Mann als Normalmaßstab bei der Produktentwicklung, mit der Folge, dass beispielsweise Kfz-Sicherheitssysteme oder Medikamente für Frauen nicht gleich wirksam sind („gender data gap“).315 Gender Marketing bedient, verstärkt oder ironisiert Rollenklischees; längst hat die Industrie dabei auch LGBT-Personen als Zielgruppe entdeckt. Dabei zahlen Frauen für Produkte und Dienstleistungen – vom Rasierer bis zum Kurzhaarschnitt – häufig mehr („gender pricing“).316 85 Angetrieben durch das Unionsrecht gelten Diskriminierungsverbote nun auch bei Massengeschäften und im Versicherungswesen (§ 19 AGG). So verstoßen Versicherungstarife, die die Risiken von Schwangerschaft und Geburt allein Frauen aufbürden, gegen das Diskriminierungsverbot.317 Und auch sonst dürfte gender pricing mit § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG unvereinbar sein und daher eine unlautere Praxis gem. §§ 3 Abs. 1, 3a UWG darstellen.318 84
310 Dazu Wersig, Die Mär von den Männerquoten, Verfassungsblog v. 5.7.2018. 311 Dazu Markard, Affirmative Action angesichts von Intersektionalität, in: Mangold/Sacksofsky (Hrsg.),
Materiale Gleichheit, im Erscheinen.
312 Siebtes Gesetz zur Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes – Einführung der paritätischen Quo-
tierung, Thür. Landtags-Drs. 6/6964 v. 5.7.2019; Inklusives Parité-Gesetz (Drittes Gesetz zur Änderung des Brandenburgischen Landeswahlgesetzes), Bbg. Landtags-Drs. 6/8210 v. 31.1.2019. 313 Thüringer VerfGH, Urt. v. 15.7.2020, VerfGH 2/20; dagegen ebd., Sondervoten Heßelmann und Licht/ Petermann. Eine Wahlprüfungsbeschwerde gegen die Bundestagswahl 2017 wegen mangelnder Paritätsregelungen scheiterte an der Zulässigkeit, BVerfGE 156, 224 (2020) – Parität. 314 Zu Diskriminierungsschutz im Kontext des Wirtschaftslebens siehe → Rödl/Leidinger, § 22. 315 Vgl. Criado-Perez, Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert, 2020. 316 Dazu an der Heiden/Wersig, Preisdifferenzierung nach Geschlecht in Deutschland: Forschungsbericht, Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2017. 317 EuGH, Urt. v. 1.3.2011, Rs. C-236/09, Test Achats. 318 Siehe etwa Hofmann, Der maßgeschneiderte Preis, WRP 2016, S. 1074 (1080), m. w. N. Seit 2020 gelten Menstruationsprodukte als Güter des täglichen Bedarfs, die dem ermäßigten Umsatzsteuersatz von 7 Prozent unterfallen: Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung Nora Markard
D. Problemfelder
301
Demgegenüber wird teils ein „Recht auf Diskriminierung“ als Ausfluss der Privatauto- 86 nomie behauptet, das insbesondere homosexuellen Paaren entgegengehalten wird, oft unter Berufung auf eigene religiöse Überzeugungen. Ihnen werden beispielsweise HotelDoppelbetten oder Hochzeitstorten verweigert.319 Kritik hieran wird mit rhetorischer Selbstmarginalisierung beantwortet, die die Diskriminierenden als Diskriminierte präsentiert und jedenfalls die Meinungsfreiheit in Gefahr sieht.320 In diesen Debatten wird verhandelt, in welchem Maße Menschen tatsächlich gleiche Rechte nicht nur im Privaten genießen, sondern sich auch mit derselben Selbstverständlichkeit in der Öffentlichkeit bewegen können wie jene, die den binären und heteronormativen Geschlechtserwartungen der Dominanzgesellschaft entsprechen. In diesem Kontext steht auch die Frage, ob Frauen sich wirklich damit abfinden müssen, 87 von männlichen Bezeichnungen wie „Kunde“ oder „Kontoinhaber“ stets nur mitgemeint zu sein.321 Der BGH befand, das generische Maskulinum – das den Mann als Normalperson setzt und die Frau als Abweichung konzipiert – bringe keine Geringschätzung gegenüber Frauen zum Ausdruck und stelle daher keine Diskriminierung dar.322 Damit ist die Debatte um geschlechtergerechte Rechtssprache jedoch noch keineswegs beendet.323 Gesellschaftliche Stereotypen, die sich in dieser Weise niederschlagen, darf der Staat 88 nicht nur nicht verstärken;324 er darf ihnen gegenüber auch nicht untätig bleiben. Eine Regulierungsverantwortung ergibt sich sowohl aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG als auch aus Art. 5 (a) CEDAW, der verlangt, dass die Vertragsstaaten Maßnahmen ergreifen, „um einen Wandel in den sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Mann und Frau zu bewirken, um so zur Beseitigung von Vorurteilen sowie von herkömmlichen und allen sonstigen auf der Vorstellung von der Unterlegenheit oder Überlegenheit des einen oder anderen Geschlechts oder der stereotypen Rollenverteilung von Mann und Frau beruhenden Praktiken zu gelangen“.325 weiterer steuerlicher Vorschriften, BGBl. 2019 I, S. 2451. Eine entsprechende Petition hatte über 190.000 Unterschriften gesammelt. 319 Dazu, mit gegensätzlichen Ergebnissen, UK Supreme Court, Bull and anor. v. Hall and anor., [2013] UKSC 73 (verbotene Diskriminierung); US Supreme Court, Masterpiece Cakeshop, Ltd. v. Colorado Civil Rights Commission, 584 U. S. ___ (2018) (Religionsfreiheit). 320 Hierzu treffend Mangold, Die verfolgte Unschuld vom Lande oder: Warum es keines „Grundrechts auf Diskriminierung“ bedarf, Verfassungsblog v. 22.2.2014. 321 Zur Ansprache im rechtlich anerkannten Geschlecht für Trans- und diverse Personen BVerfG, Beschl. v. 15.8.1996, 2 BvR 1833/95 – Anrede durch Beamte; BVerfGE 147, 1 (19 f. Rn. 39) – Dritte Option (2017). Zum Forschungsstand zu den Auswirkungen des generischen Maskulinums vgl. Nübling/Kotthoff, Genderlinguistik, 2018, S. 91 ff. 322 BGHZ 218, 96. Eine hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde als unzulässig abgewiesen: BVerfG, Beschl. v. 26.5.2020, 1 BvR 1074/18. Dazu Lischewski, Im Namen des Gesetzes: Misgendering durch die Verfassung?, Verfassungsblog v. 2.7.2020. 323 Vgl. Lembke, Geschlechtergerechte Amtssprache: Rechtliche Expertise zur Einschätzung der Rechtswirksamkeit von Handlungsformen der Verwaltung bei Verwendung des Gendersterns oder von geschlechtsumfassenden Formulierungen, Juli/Dezember 2021; Mangold, Geschlechtergerechte Sprache in der Verfassung des Landes Brandenburg, November 2021. 324 BVerfGE 85, 191 – Nachtarbeit (1992). 325 Ähnlich Art. 13 IK (Bewusstseinsbildung). Nora Markard
§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien Cengiz Barskanmaz Inhaltsübersicht Rn. A. Rasse und ethnische Herkunft als soziale Konstrukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rasse, rassisch, rassistisch, etc. – eine antidiskriminierungsrechtliche Begriffsklärung . . . . II. Eine multidisziplinäre Annäherung an Rasse, Ethnizität und Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Humangenetischer Kenntnisstand: Rasse gibt es nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sozialwissenschaftlicher Kenntnisstand: Rasse und Ethnizität sind wirkmächtig . . . . . . . 3. Umkehrung der Blickrichtung: Weißsein und Privilegien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rassismus: eine interdisziplinäre Arbeitsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Konzeptionelle Überschneidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hautfarbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nationale Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Intersektionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 5 5 8 15 16 19 20 21 24 26 27 31
B. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft . . . . . . . . . . . I. Das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse als ius cogens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Diskriminierungsverbote aufgrund der Rasse im Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. ICERD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weitere völkerrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Unionales Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Diskriminierungsverbot wegen der Rasse in Art. 3 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 32 33 33 39 42 47 56 66
A. Rasse und ethnische Herkunft als soziale Konstrukte I. Rasse, rassisch, rassistisch, etc. – eine antidiskriminierungsrechtliche Begriffsklärung
Rasse und ethnische Herkunft sind Diskriminierungsgründe, die – unter anderem zu- 1 sammen mit Religion, Geschlecht, Behinderung – die Grundpfeiler des Antidiskriminierungsrechts bilden. Seinen Eingang in das Antidiskriminierungsrecht findet der Begriff der Rasse 1949 durch das Grundgesetz und 1950 die Konvention zum Schutze der MenschenCengiz Barskanmaz
304
§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
rechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK).1 Das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse war die Antwort auf den nationalsozialistischen Rassenwahn.2 Ethnizität bzw. „ethnische Herkunft“ als Diskriminierungsmerkmal wurde später in dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 21. Dezember 19653 (ICERD) normiert. Beide Konzepte sind soziale Konstrukte, die Diskriminierungsstrukturen bezeichnen und zugleich als identitätspolitische Referenzpunkte dienen können.4 2 Im deutschen Sprachgebrauch und auch im Kontext des Antidiskriminierungsrechts wird häufig die Bezeichnung „rassistische Diskriminierung“ als gleichbedeutend für Diskriminierung aufgrund der Rasse verwendet.5 Im Anschluss an die internationale Sprachpraxis wird in diesem Beitrag stattdessen „rassische Diskriminierung“6 genutzt, da es das treffende Äquivalent zu „Diskriminierung aufgrund der Rasse“ ist. Dies hat unter anderem folgende Gründe: Erstens ist semantisch das Adjektiv „rassistisch“ von „Rassismus“ abgeleitet, das Adjektiv „rassisch“ (engl: racial) hingegen von „Rasse“. „Rassisch“ und „rassistisch“ dienen in diesem Fall beide dem Begriff der Diskriminierung als Attribut. Dogmatisch bedenklicher ist jedoch die mit der Wortkombination „rassistischer Diskriminierung“7 einhergehende tatbestandliche Verschiebung des Diskriminierungsverbots, die jedenfalls rechtfertigungsbedürftig ist, denn so wie Rasse und Rassismus keineswegs gleichbedeutend sind, so müssen auch rassische Diskriminierung und (struktureller) Rassismus nicht deckungsgleich sein.8 Nicht jede Form von Diskriminierung aufgrund der Rasse ist als ras1 Vgl. auch die Verfassung des Landes Hessen, die bereits 1946 „Rasse“ als (Gleichheits-)Merkmal in Ar-
tikel 1 aufgenommen hat: „Alle sind vor dem Gesetz gleich, ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, der Herkunft, der religiösen und der politischen Überzeugung.“ Außerdem taucht „Rasse“ in Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG in Adjektivform auf: „Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern.“ 2 Rechtliche Grundlage für den NS-Rassenwahn bildeten die „Nürnberger Rassengesetze“, die aus drei Gesetzen bestanden: dem Reichsflaggengesetz v. 15.9.1935 (RGBl. 1935 I, S. 1446), dem Reichsbürgergesetz v. 15.9.1935 (RGBl. 1935 I, S. 1146) und dem Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre v. 15.9.1935 (RGBl. 1935 I, S. 1146), dem sogenannte Blutschutzgesetz; dazu aus zeitgenössischer Perspektive Stuckart/Globke, Kommentare zur deutschen Rassengesetzgebung, 1936; grundlegend dazu Essner, Die „Nürnberger Gesetze“, 2002. 3 BGBl. 1969 II, S. 961, in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am 15.6.1969. 4 Auf die Verschränkung von Rasse als Diskriminierungsmerkmal und Identitätskategorie eingehend Crenshaw, Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color, Stanford Law Journal 43 (1991), S. 1241; vgl. auch Hoffmann/Keilhauer/Liebold, „Rasse“ und „ethnische Herkunft“, RW 2018, S. 24. 5 Zuletzt BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 11 – „Ugah Ugah“; siehe auch Art. 12 Abs. 2 der Verfassung des Landes Brandenburg, in der eine Benachteiligung oder Bevorzugung aus „rassistischen Gründen“ untersagt wird; nach § 1 des Landesantidiskriminierungsgesetzes des Landes Berlin ist eine Diskriminierung aufgrund einer „rassistischen Zuschreibung“ verboten. 6 So auch Klein (Hrsg.), Rassische Diskriminierung – Erscheinungsformen und Bekämpfungsmöglichkeiten, 2002. 7 Zuletzt noch BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 11 – „Ugah Ugah“: „Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, der sich gegen rassistische Diskriminierung wendet“. 8 Ähnliche Stoßrichtung auch bei Atrey, Structural Racism and Race Discrimination, Current Legal Problems 74 (2021), S. 1. Cengiz Barskanmaz
A. Rasse und ethnische Herkunft als soziale Konstrukte
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sistisch zu verstehen, etwa, wenn ein:e offensichtlich unqualifizierte:r Schwarze:r Bewerber:in gegenüber einer oder einem qualifizierten weißen Bewerber:in bevorzugt wird. Hier mag eine nichtrechtfertigbare rassische Ungleichbehandlung einer weißen Person gegeben sein, die jedoch nicht rassistisch sein kann, weil historisch-materiell gesehen Weiße keine rassistischen Benachteiligungen erfahren haben.9 Ein anderes Beispiel ist die Diskriminierung einer weißen dänischen Person bei der Wohnungssuche, die zwar eine Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft, jedoch keine Form von Rassismus darstellt.10 Umgekehrt stellt nicht jede Form von Rassismus auch eine Diskriminierung im rechtlichen Sinne dar, etwa wenn – im Gegensatz zu einem Schwarzen Mann – eine Schwarze Frau gerade aufgrund stereotyper rassistischer Sexualisierungen Zugang zu einem Nachtclub gewährt wird. In diesem Fall erfährt sie zwar eine rassistische Zuschreibung, die aber im Vergleich zu weiteren nicht-weißen Personen nicht zu einer (rechtlich relevanten) Benachteiligung aufgrund der Rasse führt. Die Diskriminierung eines Schwarzen Mannes beim Einlass in einen Nachtclub hingegen verwirklicht sich erst durch das Zusammenwirken von Rasse und Geschlecht, weshalb hier eine intersektionale Diskriminierung aufgrund von Rasse und Geschlecht vorliegt.11 Dieses Beispiel veranschaulicht zudem, dass nicht jede Form von Geschlechterdiskriminierung mit Sexismus gleichzusetzen ist. Aus einer kategorienbasierten antidiskriminierungsrechtlichen Perspektive enthält die 3 Begriffskonstitution „rassistische Diskriminierung“ Risiken, sozialwissenschaftliche Konzepte wie Rassismus mit juristischen Kategorien unnötig zu trüben. Ein Blick über den deutschen Tellerrand legt die starke Vermutung nahe, dass es sich bei der Wortbildung „rassistische Diskriminierung“ um eine spezifisch deutsche Schöpfung handeln dürfte. In anderen Sprachen wird konsequent von „racial discrimination“, „discrimination raciale“, etc. gesprochen. Ein Grund für diesen deutschen Exzeptionalismus dürfte das postnationalsozialistische deutsche Unbehagen über das Wort „Rasse“ sein, weshalb auch im Antidiskriminierungsrecht statt auf „Rasse“ auf die adjektivierte Form von Rassismus zurückgegriffen wird. Folgerichtig ist daher, nicht von der Antirassismusrichtlinie, sondern von der „Rasserichtlinie“ zu sprechen. Ähnliches gilt auch für das ICERD, das (nur) im deutschen Kontext frei als Antirassismuskonvention übersetzt wird. Schließlich handelt es sich bei „rassistischer Diskriminierung“ um eine tautologische 4 Herleitung, vergleichbar mit dem Ausdruck „diskriminierender Rassismus“. „Rassistisch“ 9 Wenngleich Weiße diskriminiert werden können, ist der Begriff „Anti-weißer Rassismus“ eine contra-
dictio in terminis, denn Rassismus war und ist nie gegen Weiße gerichtet, sondern Weiße und (teilweise andere Gruppen) sind in einer rassialisierten Welt stets die rassisch Privilegierten; einführend zu Weißsein Eggers u. a. (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekt, Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, 2005. 10 Vgl. auch Lady Hale in UK Supreme Court, Jewish Free School, [2009] UKSC 15, Rn. 54: „No one in this case is accusing [Jews’ Free School] or the Office of the Chief Rabbi of discrimination on grounds of race as such. Any suggestion or implication that they are ‚racist‘ in the popular sense of that term can be dismissed. However, the Race Relations Act 1976 caters also for discrimination on grounds of colour, nationality or ethnic or national origins […]. This case is concerned with discrimination on account of ‚ethnic origins‘. And the main issue is what that means – specifically, do the criteria used by [Jews’ Free School] to select pupils for the school treat people differently because of their ‚ethnic origins‘?“. 11 In diesem Sinne AG Oldenburg, Urt. v. 23.7.2008, 2 C 2126/07, das von „männlichen Ausländern“ spricht. Cengiz Barskanmaz
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
lässt sich mit neutralen Worten wie „Handlungen“, „Strukturen“, „Meinungen“, einschließlich „Hassrede“ beliebig kombinieren, aber nicht mit bereits rechtlich wertenden und handlungsorientierten Begriffen wie „Diskriminierung“. Das neutral konnotierte Adjektiv „rassisch“ ist hingegen als Attribut mit der negativen Bezeichnung „Diskriminierung“ vereinbar, zugleich aber auch mit neutralen oder positiv belegten Worten. So kann beispielsweise „Schwarz“ ebenso eine rassische Selbstbezeichnung wie in einem diskriminierenden Kontext eine rassistische Fremdbezeichnung sein. Wenngleich gewöhnungsbedürftig ist diese Wortwahl semantisch, rassismusanalytisch und antidiskriminierungsrechtlich betrachtet schlüssig und international anschlussfähig.12 In Anlehnung an die authentischen13 Sprachfassungen des ICERD wird deswegen der Ausdruck „rassische Diskriminierung“ verwendet. II. Eine multidisziplinäre Annäherung an Rasse, Ethnizität und Rassismus 1. Humangenetischer Kenntnisstand: Rasse gibt es nicht 5
Im Antidiskriminierungsrecht sind Rasse und Ethnizität als Kategorien genealogisch eng miteinander verbunden. Rasse und Ethnizität werden teilweise als überschneidend, teilweise als komplementär und auch als substituierend gedacht.14 Im letztgenannten Fall wird Ethnizität als Ersatzbegriff für Rasse verwendet.15 Die gedanklichen Spuren dieses Ansatzes führen zu den anthropologischen Werken von Franz Boas16 und finden später auch Eingang in die durch die UNESCO initiierte wissenschaftliche Diskussion, die im Jahr 1950 in einer Erklärung mündete. Rasse wurde nach damaligem Wissenschaftsstand aus biologischer Perspektive nicht gänzlich verworfen, sondern als eine Gruppe oder Population mit bestimmten erblichen körperlichen Eigenschaften bezeichnet. Die physischen Unterschiede zwischen Populationen wiesen jedoch keinen ursächlichen Zusammenhang mit den geistigen Fähigkeiten von Gruppen auf; eine kategorische Differenzierung zwi12 Folglich ist gegen den deutschsprachigen Titel des ICERD in der amtlichen deutschen Übersetzung
(BGBl. 1969 II, S. 961) einzuwenden, dass dort von „Rassendiskriminierung“ gesprochen wird, während im englischen oder französischen Original (vgl. Art. 25 Abs. 1 ICERD) von „racial discrimination“ bzw. „discrimination raciale“ die Rede ist. Die Notwendigkeit, in diesem Kontext auf die verbindlichen Sprachfassungen zurückzugreifen, ergibt sich daraus, dass die amtliche Übersetzung von Begriffen wie etwa „racist activities“ (Art. 4 lit. a ICERD) „rassenkämpferische Tätigkeiten“ lautet. 13 Nach Art. 25 ICERD sind die chinesische, englische, französische, russische und spanische Fassung gleichermaßen verbindlich. 14 Eine philosophische Reflektion dieses Aspekts bietet Gracia, Race and Ethnicity, in: Zack (Hrsg.), The Oxford Handbook of Philosophy and Race, 2017, S. 180; für eine antidiskriminierungsrechtliche Diskussion sogleich unten Rn. 33 ff. (B. II.). 15 Exemplarisch in der rechtswissenschaftlichen Literatur Rädler, Verfahrensmodelle zum Schutz vor Rassendiskriminierung, 1999, S. 1: „Das deutsche Verfassungsrecht untersagt in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, Personen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe zu benachteiligen“. 16 Franz Boas, US-amerikanischer Anthropologe deutsch-jüdischer Herkunft, gilt als einer der ersten Anthropologen, der die wissenschaftliche Verwendung von Rasse beanstandet hat, Boas, Race, Language and Culture, 1912; eingehend Tilg, Franz Boas’ Stellungnahmen zur Frage der „Rasse“ und sein Engagement für die Rechte der Afroamerikaner, in: Schmuhl (Hrsg.), Kulturrelativismus und Antirassismus – Der Anthropologe Franz Boas (1858–1942), 2009, S. 85. Cengiz Barskanmaz
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schen Rasse als biologischem Fakt und „sozialem Mythos“ sei notwendig, so die Klarstellung.17 Zugleich wurde vorgeschlagen, das Konzept der Rasse durch „ethnische Gruppe“ zu ersetzen, um bestimmte nationale, religiöse, kulturelle, linguistische und geographische Volksgruppen zu bezeichnen. In einer späteren Erklärung von 196718 wurde der biologisch verstandene Begriff Rasse zwar weiterhin nicht zurückgewiesen, doch wurde der Hinweis ergänzt, dass die Einteilung in Rassen willkürlich sei und ihr Vorhandensein jedenfalls keine Hierarchien zwischen Gruppen erlaube. Erst mit der Erklärung von 197819 hat sich die UNESCO von einem biologisch gedachten Begriff der Rasse ansatzweise verabschiedet. Weiter hat sie festgehalten, dass jede Theorie, welche die Behauptung enthält, bestimmte Rassen oder Volksgruppen seien anderen überlegen oder unterlegen, jeder wissenschaftliche Grundlage entbehre. Die Deklaration verhinderte jedoch nicht, dass Rassenforschung in unterschiedlichen Disziplinen – wenn auch äußerst umstritten – weiterhin betrieben wurde.20 Heute wird, dank neuerer Ansätze in der Humangenetik, in der Wissenschaft weitestgehend21 die Meinung vertreten, dass jegliche Anknüpfung an Rassentheorien wissenschaftlich nicht vertretbar ist.22 Einzelne Versuche, die Existenz von biologischen Rassen 17 UNESCO, The Race Question, 1950, Rn. 14; eingehend Banton, UNESCO Statements on Race, in:
Schaefer (Hrsg.), Encyclopedia of Race, Ethnicity and Society, 2008, S. 1096.
18 UNESCO, Statement on Race and Racial Prejudice, 1967, Abs. 3 (b). 19 UNESCO, Declaration on Race and Racial Prejudice, 1978. 20 Eingehend Blakey, On the biodeterministic imagination, Archeological Dialogues 27 (2020), S. 1 f.; für
den deutschen Kontext Palm, Der „Rasse“begriff in der Biologie nach 1945, in: Nduka-Agwu/Hornscheidt (Hrsg.), Rassismus auf gut Deutsch, 2010, S. 351; kritisch aus der Genetikforschung Brückmann/Maetzky/ Plümecke, Rassifizierte Gene: Zur Aktualität biologischer „Rasse“-Konzepte in den neuen Lebenswissenschaften, in: AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften (Hrsg.), Gemachte Differenz, 2009, S. 20 (30–32). 21 Siehe die neuere Kontroverse zur historisch-humangenetischen Studie des Professors an der Harvard Medical School David Reich, Who we are and how we got here: Ancient DNA and the new science of the human past, 2018, in der Reich anhand von einigen Beispielen wie Sichelzellkrankheit und Prostatakrebs die These aufstellt, dass sich die durchschnittlichen genetischen Unterschiede zwischen „Rassen“ nicht mehr ignorieren ließen. Hierfür wurde Reich von einer Gruppe von 67 Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Disziplinen heftig kritisiert. Ihm wurde vorgeworfen, dass er den Forschungsstand zur Genetik, die genetische Unterschiede zwischen Populationen längst akzeptiert hat, ignoriere und dass, wie bedeutungsvoll genetische Unterschiede auch sein mögen, die Existenz von biologischen Rassen damit keineswegs belegt werden könne. Wenngleich Reich selbst Rasse als eine soziale Konstruktion verstehen möchte, arbeitet er den kritisierenden Wissenschaftler*innen zufolge mit einer unzulässigen Kausalität zwischen genetischen Unterschieden und einem biologisch diskreditierten Begriff der Rasse, der schlichtweg willkürlich und irrtümlich bleibe, siehe https://www.buzzfeednews.com/article/bfopinion/racegenetics-david-reich; ebenfalls kritisch gegenüber dieser Studie aus archäologischer Perspektive Blakey (Fn. 20), S. 1 f., der Reich vorwirft, er sei entgegen seiner Intention der weißen Tradition vorurteilsbehafteter Rassenforschung verhaftet und es sei ihm nicht gelungen, eine überzeugende Kausalität zwischen Rasse und Genen aufzuzeigen; methodologisch kritisch gegenüber Rasse in der Humangenetik bereits früher Zuberi/Patterson/Stewart, Race, Methodology, and Social Construction in the Genomic Era, The Annals of the American Academy of Political and Social Science 661 (2015), S. 109 (120), die schlussfolgern, dass genetische Variationen real sind, diese aber nicht entlang der Kategorie der Rasse verlaufen und dass rassische Stratifikationen real jedoch nicht genetisch bedingt sind. 22 Zuletzt noch die Jenaer Erklärung von 2020 zu Rasse von Fischer/Hoßfeld/Krause/Richter, Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung, Biologie in unserer Zeit 6 (2019), S. 399. Vgl. auch das Positionspapier der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe der internationalen Cengiz Barskanmaz
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zu begründen, gibt es allerdings trotz massiver Widersprüche aus den Natur- und Humanwissenschaften, die seit den Anfängen der Rassenkunde bestehen, immer wieder.23 Fraglich erscheint daher, mit welchen wissenschaftlichen Methoden eine DNA-Untersuchung zum Beispiel nach § 81e Abs. 2 Satz 2 StPO erfolgen kann.24 Diese im Zuge der Modernisierung des Strafverfahrensrechts 2019 eingeführte Vorschrift erlaubt eine molekulargenetische Untersuchung, um Augen-, Haar- und Hautfarbe festzustellen, wenn unbekannt ist, von welcher Person das am Tatort gefunden Spurenmaterial stammt. Unklar ist zum Beispiel, ob hier auf die Hautpigmentierungen oder auf die Hautfarbe als soziale Konstruktion („weiße“, „Schwarze“, „Gelbe“ oder „Asiat:innen“, etc.) abgestellt werden soll, um schließlich nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage über die Hautfarbe der gesuchten Person zu treffen.25 6 Von der wissenschaftlichen Unhaltbarkeit von Rasse als genetischem Faktum zu unterscheiden ist die Materialität von Rasse.26 Letztere verweist auf die Berücksichtigung empirisch wahrnehmbarer Differenzen, die in bestimmten Praktiken als rassisch markiert und relevant herangezogen werden, wie sie etwa zum Ausdruck kommen, wenn ein Medikament spezifisch für Schwarze (BiDiL) entwickelt wird.27 Dass ein bestimmtes Medikament – jedoch nur bei einem bestimmten Alterssegment (!) – bei einer rassisch markierten UNESCO-Konferenz „Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung“ vom 8. und 9. 6.1995. Als wegbereitend gilt das Werk von Luigi Luca und Francesco Cavalli-Sforza, die anhand einer molekulargenetischen Methode bewiesen haben, dass es unmöglich ist, genetisch einheitliche „Rassen“ voneinander zu unterscheiden; vielmehr gäbe es größere genetische Variabilität innerhalb einer sogenannten Rasse (z. B. „weiße“ oder „schwarze“) als zwischen den sogenannten Rassen, vgl. Cavalli-Sforza/Cavalli-Sforza, Verschieden und doch gleich, 1994; Sussman, The Myth of Race – The Troubling Persistence of an Unscientific Idea, 2014, S. 5 ff.; nicht zuletzt das Statement on Race der American Anthropological Association v. 17.5.1998. Insofern ist die selektive Rezeption naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bei Kischel, Rasse, Rassismus und Grundgesetz, AöR 155 (2020), S. 227 (246) mit der Aussage, dass diese Frage in der Naturwissenschaft ohne klare Antwort bliebe, verzerrend. 23 Inwieweit das Ersetzen der biologischen Kategorie der Rasse durch neuere Konzepte wie etwa „Populationen“, „Gruppen“ oder schlicht „Gene“ dem wissenschaftlichen Rassismus ein Ende setzen kann, ist ohnehin fraglich. Brückmann/Maetzky/Plümecke (Fn. 20), S. 31, weisen darauf hin, dass das Aufkommen neuer wissenschaftlicher Einheiten mit einer „Renaissance und Genetifizierung von ‚Rasse‘“ einhergehe; siehe auch Plümecke, Rasse in der Ära der Genetik, 2013; frühere Beobachtungen bei Glasgow, On the New Biology of Race, The Journal of Philosophy 100 (2003), S. 456. 24 Zu dieser Frage sowie zu verfassungsrechtlichen Bedenken Pilone, StPO-Reform und erweiterte DNAAnalyse: Rassistische Diskriminierung durch die Hintertür, Grund- und Menschenrechtsblog der Humboldt Law Clinic v. 12.12.2019. 25 Kritisch zu den Methoden der DNA-Untersuchungen und mit Hinweis auf die stigmatisierenden Effekte Wienroth/Granja/Lipphardt/Amaoko/McCartney, Ethics as Lived Practice, Anticipatory Capacity and Ethical Decision-Making in Forensic Genetics, Genes 2021, S. 1 (insbesondere 9 f.). Wie irreführend und stigmatisierend solche DNA-Untersuchungen in der Phase der Strafverfolgung sein können, war im Fall des sogenannten Heilbronner Phantoms zu beobachten: Die Strafverfolgungsbehörden vermuteten aufgrund der DNA-Spuren, dass es sich um eine Frau mit Roma- oder osteuropäischer Herkunft handle, später wurde die Mordtat dem NSU zugerechnet. 26 Eingehend M’Charek, Beyond Fact or Fiction: On the Materiality of Race in Practice, Cultural Anthropology 3 (2013), S. 420, mit dem überzeugenden Argument, dass Rasse weder allein Fakt noch allein Fiktion sei und dass Rasse in der Biologie keine zu entdeckende Tatsache sei, sondern im semiotischen Sinne als Fakt relational hergestellt werde. 27 Kritisch Blakey (Fn. 20), S. 7 f., der auch auf die pharmazeutischen Marketingstrategien für das Produkt hinweist. Cengiz Barskanmaz
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Gruppe positive Auswirkungen hat, beweist freilich noch längst nicht die Existenz biologischer Rassen.28 Dem Argument, die Frage nach der Validität von Rasse als biologisch-humangeneti- 7 schem Konzept sei für das Antidiskriminierungsrecht ohnehin nicht relevant, weil dieses jedenfalls die Ungleichbehandlung aufgrund der Rasse verbiete, kann keine Folge geleistet werden.29 Denn das Recht – und damit auch eine interdisziplinär ausgerichtete Rechtswissenschaft und -forschung – ist auf außerjuridisches Wissen angewiesen.30 Im Hinblick auf Rasse ist deshalb eine Überwindung des Begriffs als „Binnenhindernis im Antidiskriminierungsrecht“31 in Richtung auf einen affirmativen Umgang mit Rasse unumgänglich, um so die Konturen einer interdisziplinär aufgeklärten und kategorienbasierten Dogmatik des Antidiskriminierungsrechts zu fördern. Das moderne Antidiskriminierungsrecht, jedenfalls spätestens mit der Rasserichtlinie32 der EU, knüpft an die Abkehr von einem naturwissenschaftlichen Konzept der Rasse an, um in einem zweiten Schritt den diskriminierenden Wirkungen von Rasse als sozialem Konstrukt in privatrechtlich relevanten Bereichen entgegenzutreten. In diesem konstruktivistischen Ansatz liegt die Ermöglichungsbedingung, die (noch) gelegentlich beobachtbare Unbeholfenheit oder Zurückhaltung gegenüber dem Rechtsbegriff der Rasse abzubauen und so die Konturen einer kategorienbasierten Argumentation zu formen. 2. Sozialwissenschaftlicher Kenntnisstand: Rasse und Ethnizität sind wirkmächtig
Mit der naturwissenschaftlichen Diskreditierung des Rassebegriffs ging eine rassismuskri- 8 tische Aufwertung von Rasse als sozialer Konstruktion einher. Damit sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Konzept von Rasse im alltäglichen Denken und Handeln weiterhin Wirksamkeit entfaltet.33 Dass in einer rassialisierten (und vergeschlechtlichten) Welt Menschen im Alltag als Schwarz, weiß, arabisch, Romni etc. gelesen werden, ist ein 28 So Duster, Race and Reification, Science 307 (2005), S. 1050 (1051), der auf die zunehmende Berück-
sichtigung und Verdinglichung von Rasse in den Wissenschaften hinweist, etwa im Bereich der kardiologischen Medizin, Humangenetik und Kriminologie. 29 Vgl. Kischel (Fn. 22), S. 246, der irrig von „jeder Unterscheidung“ spricht. Nach Kischel können naturwissenschaftliche Erkenntnisse nichts daran ändern, dass Rasse ein Rechtsbegriff ist. Wenngleich auch Kischel sich für eine rechtswissenschaftliche Berücksichtigung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ausspricht, verfehlt er es, den aktuellen Forschungsstand zu rezipieren. 30 Vgl. Münkler (Hrsg.), Dimensionen des Wissens im Recht, 2019; Schrader, Wissen im Recht, 2017. Auch in der Philosophie ist das Zurückgreifen auf außerdisziplinäres Wissen Gegenstand von Kontroversen, die vor allem die Notwendigkeit einer Metaphysik von Rasse zum Gegenstand haben, eingehend dazu Hochman, In Defense of the Metaphysics of Race, Philosophical Studies 174 (2017), S. 2709. 31 Tischbirek, Wissen als Diskriminierungsfrage, Kognitive Herausforderungen des Antidiskriminierungsrechts zwischen implizitem Wissen und selbstlernenden Algorithmen, in: Münkler (Hrsg.), Dimensionen des Wissens im Recht, 2019, S. 67 (85). 32 Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder ethnischen Herkunft v. 29.6.2000, ABl. 2000 L 180/22. 33 Bonilla-Silva, The Essential Social Fact of Race, American Sociological Review 64 (1999), S. 899; Smaje, Not just a Social Construct: Theorizing Race and Ethnicity, Sociology 31 (1997), S. 302; Fenton, Ethnicity, 2010, S. 51. Cengiz Barskanmaz
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Indiz dafür, wie Körperlichkeit eine soziale Bedeutung zugemessen wird. Entsprechend werden in den Sozialwissenschaften Rasse und Ethnizität als historisch tradierte und diskursiv erstellte soziale Konstrukte verstanden, wenngleich in Deutschland das Konzept der Rasse im Vergleich zu Ethnizität unterbeleuchtet und untertheoretisiert ist.34 Rasse gehört seit fast drei Jahrhunderten zu jenen Leitideen, welche die großen Klassifikationssysteme der Differenz organisieren, die in der Gesellschaft wirksam sind.35 Körperliche Eigenschaften wie Hautfarbe, Nase, Haarwuchs oder Körperbau sind weiterhin in der Ideen- und Denkwelt von Menschen als sichtbare Differenzierungskriterien präsent und beeinflussen unser Verhalten. Rasse ist mit anderen Worten ein Ordnungsprinzip und Bedeutungsträger, der Diffe9 renzen in rassialisierte Körper einschreibt und fixiert.36 Ein Beispiel: Schwarze Personen sehen sich selbst oder werden von ihrem (weißen) Umfeld bewusst oder unbewusst als Schwarz wahrgenommen. In diesem Fall fungiert der Körper als ein Bündel von Bedeutungen. In diesem Prozess der Rassialisierung37 wird ein Sinnzusammenhang in der sozialen Welt erzeugt, bei dem eine Gruppe von Menschen anhand bestimmter Merkmale einer „natürlichen“ Einheit zugeordnet und gleichzeitig das Verhältnis zwischen dieser und der eigenen Gruppe definiert wird.38 In diesen gesellschaftlichen Prozessen werden tradierte rassialisierte Differenzen erzeugt, die schließlich rassische Ungleichheiten begründen und sedimentieren.39 So werden Schwarze häufiger polizeilich kontrolliert, mit dem N-Wort40 herabwürdigt, ihnen werden Dienstleistungen wie zum Beispiel der Zugang zum Nachtclub verweigert, sie werden auf dem Arbeitsmarkt41 diskriminiert, etc.
34 Statt vieler Hall, Das verhängnisvolle Dreieck, Rasse, Ethnie, Nation, in: Mercer (Hrsg.), Das verhäng-
nisvolle Dreieck, Rasse, Ethnie, Nation, 2018, S. 55.
35 Zu Rasse als Ordnungsmerkmal in der Aufklärung und im Kolonialismus, siehe Bhabha, ‚Race‘, Time
and the Revision of Modernity, in: Back/Solomos (Hrsg.), Theories of Race and Racism, 2000, S. 354 (358 ff.); Goldberg, Modernity, Race, and Morality, in: Essed/Goldberg (Hrsg.), Race Critical Theories, 2002, S. 283 (285 ff.); West, A Genealogy of Modern Racism, in: Essed/Goldberg (Hrsg.), Race Critical Theories, 2002, S. 90 (97 f.); Banton, What We Know about Race and Ethnicity, 2015, S. 11–30; Geulen, Der Rassenbegriff, Ein kurzer Abriss seiner Geschichte, in: Foroutan u. a. (Hrsg.), Das Phantom „Rasse“, 2018, S. 23; im Kontext der historischen Verfassungsdiskussion Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, 2019, S. 317. 36 Bonilla-Silva (Fn. 33), S. 899. 37 Hochman, Racialization: a defense of the concept, Ethnic and Racial Studies 42 (2019), S. 1245. 38 Brubaker, The Dolezal Affair: Race, Gender, and the Micropolitics of Identity, Ethnic and Racial Studies 39 (2016), S. 414; Morning, Kaleidoscope: Contested Identities and New Forms of Race Membership, Ethnic and Racial Studies 41 (2017), S. 1 f.; Terkessidis, Die Psychologie des Rassismus, 1998, S. 77; Goldberg, Call and Response, Patterns of Prejudice 44 (2010), S. 89 (92 f.) spricht in diesem Zusammenhang von „racial naturalism“. 39 Zuberi/Patterson/Stewart (Fn. 21), S. 110. 40 Vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 19.12.2019, LVerfG 1/19, Rn. 38, das das N-Wort zwar als abwertend versteht, jedoch in der mehrfachen Verwendung des N-Worts in einer hitzigen parlamentarischen Debatte nicht zwangsläufig eine Verletzung der „Würde oder Ordnung des Hauses“ zu sehen vermochte; deutlicher hingegen bereits LG Neuruppin, Urt. v. 4.2.2010, 24 NS 6/09. 41 LAG Hamm, Urt. v. 10.1.2019, 11 Sa 505/18. Cengiz Barskanmaz
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Als Bedeutungsträger ist Rasse „gleitend“42, der begriffliche Gehalt von Rasse tritt auch 10 auf in Merkmalen wie Ethnizität, Religion und Nation,43 so dass auch diese Kategorien Momente der Essenzialisierung und Naturalisierung aufweisen können. Insbesondere auf dem europäischen Kontinent wird Rasse eine „abwesende Präsenz“44 zugeschrieben, weshalb Vorsicht geboten ist, die Unsichtbarkeit von Rasse mit der Abwesenheit von Rasse zu verwechseln.45 Einen ersten umfassenden Versuch, „ethnische Gruppe“ als Rechtsbegriff zu definieren, 11 hat das Britische House of Lords46 in seiner bekannten Mandla-Entscheidung unternommen. Danach sind für eine ethnische Gruppe zwei wesentliche Merkmale entscheidend: (1) eine geteilte Geschichte und (2) eine gemeinsame kulturelle Tradition. Diese können mit weiteren fünf Eigenschaften, die sich im Verhältnis ethnischer Gruppen voneinander unterscheiden lassen, einhergehen: (3) gemeinsame geografische Herkunft oder gemeinsame Abstammung, (4) gemeinsame Sprache, (5) gemeinsame Literatur, (6) gemeinsame Religion und (7) Zugehörigkeit zu einer Minderheit oder unterdrückten beziehungsweise dominanten Gruppe. Vorausgesetzt wird, dass die ethnische Gruppe sich selbst als solche definiert, aber auch von anderen als eine solche Gruppe eindeutig wahrgenommen wird. Gelegentlich wird „Ethnie“, „Ethnizität“, „ethnische Herkunft“ oder „ethnische Grup- 12 pe“ als Ersatz für das Konzept der Rasse vorgeschlagen.47 Dieser Ansatz vermag nicht zu überzeugen, weil auch diese Begriffe nicht frei von Naturalisierungen sind.48 So weist zum Beispiel der britische Richter Lord Fraser of Tullybelton darauf hin, dass sowohl die Entstehungsgeschichte von Rasse wie auch die der Ethnizität ein biologisches49 Moment aufweise, weshalb Ethnizität ein „racial flavour“50 enthalte. Ebenso wie im Rassekonzept ist auch im Konzept der Ethnizität die Vorstellung vom Schick sal bestimmter „natürlicher“ Gruppen enthalten.51 Demzufolge ist der Begriff „Ethnie“, der den Begriff „Rasse“ ersetzen 42 Hall (Fn. 34), S. 56; ebenso: Miles, Rassismus, S. 100. 43 Siehe auch Bruce-Jones, Race, Space, and the Nation State: Racial Recognition and the Prospects for
Substantive Equality Under Anti-Discrimination Law in France and Germany, Columbia Human Rights Law Review 39 (2008), S. 423. 44 M’Charek/Schramm/Skinner, Technologies of Belonging: The Absent Presence of Race in Europe, Science, Technology & Human Values 39 (2014), S. 459. 45 Goldberg (Fn. 38), S. 91; zustimmend Lentin, Europe and the Silence about Race, European Journal of Social Theory 11 (2008), S. 487. 46 UK House of Lords, Mandla v Dowell-Lee, [1983] 2 AC 548. 47 Siehe die Berliner Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung, die in ihrer Aufklärungsarbeit über das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) „Rasse“ als Diskriminierungsmerkmal schlichtweg ignoriert und stattdessen den Begriff „ethnische Herkunft“ verwendet. 48 So auch Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 471. 49 Ein biologisches Moment kann auch der Staatsangehörigkeit innewohnen, BVerfGE 130, 240 (255) – Bayerisches Landeserziehungsgeld (2012): „Die Staatsangehörigkeit einer Person hängt grundsätzlich von der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern oder dem Ort ihrer Geburt und damit von Umständen ab, die sie nicht beeinflussen kann“. 50 UK Supreme Court, Jewish Free School, [2009] UKSC 15. 51 Gunaratnam, Researching ‚Race‘ and Ethnicity, Methods, Knowledge and Power, 2003, S. 20, 32 plädiert konzeptionell für eine Relationalität zwischen Rasse und Ethnizität; siehe auch die GrundlageforCengiz Barskanmaz
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soll, paradoxerweise von diesem abgeleitet beziehungsweise versteckt sich Rasse wie ein „Phantom“52 hinter angeblich neutralen Konzepten oder Begriffen wie Kultur, Ethnie, Nationalität oder Volk. Daher ist es auch kein Zufall, dass im ICERD die Diskriminierung aufgrund der ethnischen oder nationalen Herkunft als eine Form von rassischer Diskriminierung aufgefasst wird.53 13 Stuart Halls empirisch informierter Theorieansatz zeigt nicht nur die Hartnäckigkeit der „biologischen Spuren“54 von Rasse, Hautfarbe, Ethnizität und Nation, sondern allgemeiner, dass Rasse immer einen Biologismus in sich trägt, wenngleich dieser sich in weiteren Konzepten wie „Kultur“ verstecken kann.55 Aufgrund dieser Erkenntnis ist auch eine zu rigide Kontrastierung zwischen dem englischen Begriff race und dem Begriff Rasse im deutschsprachigen Raum, dem regelmäßig eine biologistische Konnotation zugeschrieben wird, nicht überzeugend. Wenngleich race häufiger als soziale Konstruktion verstanden wird, sind auch diesem Begriff weiterhin biologische Spuren immanent.56 Umgekehrt sollte auch betont werden, dass nicht nur race, sondern auch Rasse in Deutschland bereits einen Bedeutungswandel erfahren hat und als eine soziale Konstruktion verstanden und gelebt wird.57 14 Beispiele wie die BlackLivesMatter-Bewegung in Deutschland, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und die Initiative Schwarze Frauen in Deutschland (ADEFRA) zeigen, dass rassische Identifikationen auch durch die betroffenen Gruppen im selbstermächtigenden Sinne vollzogen werden können. „Schwarz“ bezieht sich auf Körperpraktiken, die zudem eine politische Identität zum Ausdruck bringen. Die Selbstbezeichnung „Schwarz“58 zeigt, dass auch in Deutschland allmählich ein Bedeutungswandel von Rasse stattfindet. Solche selbstermächtigenden, performativen Identitätspolitiken folgen daher der Logik von Rasse als einer sozialen Konstruktion, die positiv besetzt wird.59 schung von Comaroff/Comaroff, Ethnicity Inc., 2009, die auf beeindruckende Weise die Selbstneuerfindung von Ethnizitäten durch Kommodifizierung im neoliberalen Zeitalter erörtern. 52 Siehe Foroutan u. a. (Fn. 35). 53 Sogleich unten Rn. 33 (B. II. 1.). 54 Hall (Fn. 34), S. 60. 55 So bereits Adorno, Schuld und Abwehr, Gesammelte Schriften, Bd. 9/2, X, 1975, S. 277. 56 Diese Materialität des Körpers bleibt auch im Hinblick auf Geschlecht und Behinderung relevant, siehe → Markard, § 6 Rn. 3 und → Zinsmeister, § 9 Rn. 16. 57 Anderer Ansicht Tanner, Race und „Rasse“, Politische Bedeutungen und historische Kontexte, in: Foroutan u. a. (Hrsg.), Das Phantom „Rasse“, 2018, S. 35 (38 f.). 58 Während die Schreibkonvention mit Großschreibung anfänglich eine Widerständigkeit im Text erzeugen sollte und sich nicht auf Körperlichkeit und Farbe bezieht, wird neuerdings die Großschreibung zusätzlich mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass es sich inzwischen um ein Nomen – ähnlich wie „Asiatisch“ oder „Amerikanisch“ – handele. Mit dem Eigennamen sollen die gemeinschaftliche Erfahrung und Geschichte sowie eine geteilte Identität ausgedrückt werden. Der Begriff „weiß“ hingegen enthält andere und teilweise rassistische Bedeutungen, weshalb eine Großschreibung das Risiko laufen würde, die weiße Vorherrschaft zu verstärken, so Laws, Why we capitalize ‚Black‘ (and not ‚white‘), https://www.cjr.org/ analysis/capital-b-black-styleguide.php. 59 Zur Performativität von Rasse siehe Williams, The Alchemy of Race and Rights, 1991; Ehlers, Racial Imperatives: Discipline, Performativity, and Struggles against Subjection, 2012; Butler, Gender Trouble, 1990, die den Begriff Performativität der Geschlechter geprägt hat. Cengiz Barskanmaz
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Nicht jede Bezugnahme auf Rasse muss also als rassistisch gedeutet werden. Erst wenn mit der Rasse in einem rassistischen Kontext operiert wird, ist eine Handlung als rassistisch aufzufassen, zum Beispiel im Fall von racial profiling.60 Sich selbst als Schwarz oder auch weiß61 zu bezeichnen, ist hingegen zunächst nur ein Beispiel für eine selbstreflexive Rassifizierung in einem selbstermächtigenden bzw. kritischen rassischen Kontext. Gesellschaftliche Selbstidentifikationen wie „Schwarz“ statt „dunkelhäutig“ oder machtkritische Bezeichnungen wie „weiß“ anstelle von „hellhäutig“ sollten entsprechend Eingang in die Rechtsanwendung finden.62 3. Umkehrung der Blickrichtung: Weißsein und Privilegien
Im Konzept Weißsein findet eine Umkehrung statt, so dass nicht mehr die rassifizierten, 15 unterprivilegierten Personen im Fokus stehen, sondern die diskriminierenden und privilegierten weißen Subjekte. Hier wird Rassismus nicht mehr nur als die Konstruktion und Ausgrenzung des „Anderen“ konzipiert, sondern im Zusammenhang der mit Weißsein verbundenen Privilegien, Diskurse und Praktiken diskutiert. Dabei kann Weißsein in zwei Formen auftreten: Es kann bewusst „autozentriert“63 erzeugt werden, indem die eigene Gruppe ins Zentrum gerückt und übergeordnet wird, wie zum Beispiel im Fall der rassistischen Konstruktion der „arischen Rasse“. Viel subtiler verlaufen hingegen „alterozentrierte“64 Rassifizierungsprozesse, in denen Weißsein implizit produziert und aufrechterhalten wird, weil die Rassifizierung sich ausschließlich auf die Sichtbarmachung und Benennung des rassifizierten „Anderen“ konzentriert. Weißsein gilt als eine unmarkierte und unsichtbare Position, die mit strukturellen Vorteilen und Privilegien verbunden ist und aus der Deutungshoheit generiert wird.65 Weißsein ist also nichts Vorgegebenes, sondern eine soziale Konstruktion und Machtkonstellation. Weißsein basiert nicht auf dem biologistischen Merkmal „weiße Hautfarbe“, sondern auf der diskursiv konstruierten sozialen Position und Identität.66 Weißsein ist von historischen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen geprägt und muss erkämpft bzw. verteidigt werden, kann aber auch verloren gehen.67 Weißsein ist folglich eine flexible und kontextgebundene Identitätskomponente 60 Dazu → Tischbirek, § 26 Rn. 19 ff. 61 Einführend Eggers u. a. (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekt, Kritische Weißseinsforschung in
Deutschland, 2005; Wollrad, Weißsein im Widerspruch, Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion, 2005; Tißberger u. a. (Hrsg.), Weiß – Weißsein – Whiteness, 2006; Hund, Wie die Deutschen Weiß wurden, 2017; für die rechtliche Konstruktion von Weißsein Haney López, White by Law, 2006. 62 Zuletzt BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 18 – „Ugah Ugah“, wo sogar die Beschreibung „hellhäutige ‚weiße‘“ verwendet wird. 63 Guillaumin, Zur Bedeutung des Begriffs „Rasse“, in: Räthzel (Hrsg.), Theorien über Rassismus, 2000, S. 34 (41). Für Guillaumin ist der Bezugspunkt jedoch das (nicht als weiß konzipierte) „Selbst“, das aus der Perspektive einer kritischen Analyse des Weißseins auf das weiße Subjekt übertragen wird. 64 Guillaumin (Fn. 63), S. 41. 65 Frankenberg, White Women, Race Matters, 1993, S. 447. 66 Arndt, Mythen des weißen Subjekts, in: Eggers u. a. (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekt, Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, 2005, S. 340 (343). 67 Für den deutschen Kontext Hund (Fn. 61); Arndt (Fn. 66), S. 340; für den US-amerikanischen KonCengiz Barskanmaz
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und soziale Position. „Weißsein ist nicht lediglich eine unter mehreren ‚rassisch‘ konstruierten Varianten, sondern vielmehr der Kern rassistischer Hegemonie, Initiator und Motor von Rassifizierungsprozessen sowie Ordnungsprinzip gesellschaftlicher Beziehungen und Ressourcenverteilung“68, so Wollrad. Jedoch muss nicht in jedem Rassialisierungsprozess nur weiße Hegemonie erzeugt werden, z. B. in Rassialisierung von Schwarzen im chinesischen Kontext. Im chinesischen Kontext findet die Rassialisierung von Schwarzen sowohl im Verhältnis zum Weißsein als auch zum Chinesischsein statt.69 Im deutschen Kontext ist vor dem Hintergrund des Kolonialismus und Nationalsozialismus „eine strukturelle und diskursive Kongruenz von Deutschsein, christlicher Religion und Weißsein formiert“.70 In einem postkolonialen und postnationalsozialistischen Deutschland führt das deutsche Weißsein demnach nicht nur zur Diskriminierung von Schwarzen, sondern von all jenen, die nicht „deutsch“ aussehen, sondern „ausländisch“, die „jüdisch“ oder „muslimisch“ sind oder keinen „europäischen“ oder „deutschen“ Namen haben. Dennoch können bestimmte weiße Migrant:innen sich über Generationen hinweg zu weißen Deutschen assimilieren.71 4. Rassismus: eine interdisziplinäre Arbeitsdefinition 16
Rasse und Weißsein sind das Ergebnis von Rassismus.72 Mit Rassismus ist auf ein strukturelles Phänomen hinzuweisen, das historisch gewachsen ist, ein Machtverhältnis ausdrückt und als ein „soziales Verhältnis“73 materielle und symbolische Ausschlüsse produziert und aufrechterhält.74 Paradigmatische Beispiele wie Apartheid und Segregation, text statt vieler Harris, Whiteness as Property, Harvard Law Review 106 (1993), S. 1707. Insbesondere im Rahmen der Verabschiedung der US-amerikanischen Verfassung war die Zuordnung zu den Kategorien „weiß“ und „nicht-weiß“ problematisch, da schnell klar wurde, dass diese Abgrenzung keineswegs evident ist; vor diesem Hintergrund gab es etliche Klagen, in denen Weißsein angefochten wurde, dazu grundlegend Haney López (Fn. 61). 68 Wollrad (Fn. 61), S. 123. 69 Eingehend Lan, Mapping the New African Diaspora in China, 2017. 70 Arndt (Fn. 66), S. 353. 71 Anschauliches Beispiel sind die sogenannten Ruhrpolen, die Ende des 19. Jahrhunderts ins Ruhrgebiet migrierten. Heute sind sie als weiße Deutsche in die Mehrheitsgesellschaft integriert und trotz ihrer polnischen Namen wird ihre deutsche Identität nicht angezweifelt, siehe Dahlmann/Kotowski/Karpus (Hrsg.), Schimanski, Kuzorra und andere, Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen Reichsgründung und Zweitem Weltkrieg, 2005. Darüber hinaus ist die Gruppe der sogenannten Russlanddeutschen für diese Fragestellung interessant: Gelten sie als „weiß“, „deutsch“, und/oder „russisch“? Verfassungsrechtlich (Art. 116 Abs. 1 GG) gelten sie als ethnische Deutsche, aber sie können im Zuge eines antislawischen Rassismus als „Russen“ diskriminiert werden. Daher sind Fälle von rassischer Diskriminierung im deutschen Kontext möglich, bei denen Weißsein und Deutschsein nicht kongruent sind; zur Diskriminierung von „Russlanddeutschen“ siehe BVerfG, Beschl. v. 2.4.2003, 2 BvR 424/03 – Verweigerung der Aussetzung des Strafrests; ausführlich dazu Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 316 ff. 72 Statt vieler Fischer/Hoßfeld/Krause/Richter (Fn. 22). 73 Zuberi/Patterson/Stewart (Fn. 21), S. 110; Hund, Rassismus und Antirassismus, 2018, S. 16 ff. 74 In der internationalen Rassismusforschung ist die folgende Definition von Albert Memmi auf große Resonanz gestoßen: „Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Vorteil des Anklägers und zum Nachteil seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen“, Memmi, Rassismus, 1987, S. 44; siehe bereits Art. 2 Abs. 3 UNESCO, Declaration on Race and Racial Prejudice v. 27.11.1978: „[r]acial prejudice, historically Cengiz Barskanmaz
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Sklaverei und Nationalsozialismus legen zudem offen, dass historisch gesehen staatliche Praktiken für die Aufrechterhaltung einer rassistischen Gesellschaft unentbehrlich sind.75 Rassismus begründet die ungleiche Verteilung von Lebenschancen und den ungleichen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen (Bildung, Arbeit, Wohnung, Gesundheit, etc.).76 Zentrales Moment dieses Herrschaftsverhältnisses ist ein normalisierendes Differenzdenken, das von zwei angeblich natürlichen, homogenen und unüberbrückbaren Identitäten, Kulturen oder Kategorien, wie etwa Weiß/Schwarz, „Deutsch“/„Ausländer“, „Westen“/ „Islam“, „Deutsch“/„Jude“ etc., mit gegensätzlichen Qualitäten ausgeht und diese ständig neu kreiert.77 Weil Rassismus sich in zeitlicher und räumlicher Hinsicht unterscheiden kann, ist es verkürzt und nicht zutreffend, von dem Rassismus zu sprechen. Präziser und richtiger sollte von Rassismen die Rede sein.78 Inhaltliche und bereichsspezifische Überlagerungen und Unterschiede erfordern eine 17 Differenzierung nach biologistischem bzw. wissenschaftlichem, kulturalistischem, institutionellem und alltäglichem Rassismus. Angesichts des Betroffenenkreises ist Rassismus zudem plural zu denken. So gibt es zum Beispiel antiasiatischen, antimuslimischen, antiroma, antischwarzen, antisemitischen (antijüdischen) und antislawischen Rassismus. Konzepte wie Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit verkennen demgegenüber den Strukturcharakter des Rassismus und bilden allenfalls einzelne Gesichtspunkte von Rassismus ab. Schließlich erfordert eine intersektionale Perspektive auf Rassismus die Berücksichti- 18 gung weiterer relevanter personenbezogener Eigenschaften wie der des Geschlechts, einschließlich79 der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität, der Religion und der jeweiligen sozio-ökonomischen Situation oder einer Behinderung. Aufgrund dieser Eigenschaften variieren Ausgrenzungen in Intensität und Form.80 III. Konzeptionelle Überschneidungen
Als soziale Konstruktionen und geschützte Diskriminierungsmerkmale zeigen Rasse und 19 ethnische Herkunft nicht nur untereinander inhaltliche Überschneidungen, sondern weilinked with inequalities in power, reinforced by economic and social differences between individuals and groups, and still seeking today to justify such inequalities, is totally without justification“ (Hervorhebung durch Verfasser); siehe auch Terkessidis, Rassismus definieren (1998/2017), in: Foroutan u. a. (Hrsg.), Das Phantom „Rasse“, 2018, S. 65. 75 Eingehend Goldberg, The Racial State, 2002. 76 Bereits die tatbestandlich detaillierte Erfassung der Schutzbereiche des Diskriminierungsverbots in Art. 2, 3, 4 und 5 ICERD an sich ist ein starkes Indiz für die gesamtgesellschaftliche Dimension von Rassismus. 77 Geulen, Die Herstellung natürlicher Ordnung, Formen und Verwandlungen rassistischer Praxis in der Neuzeit, in: Sir Peter Ustinov Institut (Hrsg.), „Rasse“ – eine soziale und politische Konstruktion, 2010, S. 17 (19). 78 Vgl. Hall, Rassismus als ideologischer Diskurs, in: Räthzel (Hrsg.), Theorien über Rassismus, 2000, S. 7 (11). 79 Adamietz, Geschlecht als Erwartung, 2011, S. 18–47 m. w. N., der zufolge das Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts so zu verstehen ist, dass es auch Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität bietet. 80 Ausführlich dazu Barskanmaz (Fn. 71), S. 119. Cengiz Barskanmaz
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sen auch Überlagerungen mit weiteren sozialen Konstruktionen wie Hautfarbe (1.), Religion (2.), Kultur (3.), nationaler Herkunft (4.) und Sprache (5.) auf. Neben diesen intrakategorialen81 Komplexitäten sind Rasse und ethnische Herkunft ebenso interkategorial mit Geschlecht, Klasse, Behinderung usw. verschränkt, in einer Weise, die in den Critical Race Studies,82 der postkolonialen Theorie83 und den Legal Gender Studies84 unter dem Dachbegriff Intersektionalität85 (6.) diskutiert werden. 1. Hautfarbe 20
Eine begriffliche Überschneidung mit Rasse zeigt der Begriff der Hautfarbe, der umgangssprachlich regelmäßig als Ersatzbegriff für Rasse eingesetzt wird, um vor allem – aber nicht nur – Diskriminierungen von Schwarzen zu beschreiben.86 Ein genaueres Hinse81 Zum Konzept der anti-, inter- und intrakategorialen Komplexitäten von Ungleichheitskategorien siehe
McCall, The complexity of intersectionality, Signs 30 (2005), S. 1771.
82 Grundlegend Crenshaw u. a. (Hrsg.), Critical Race Theory: The Key Writings That Formed the Mo-
vement, 1995; Delgado/Stefancic, Critical Race Theory, An Introduction, 3. Aufl. 2017; für Critical Race Theory im europäischen Kontext siehe etwa Thomas/Zanetti (Hrsg.), Legge, razza e diritti: La Critical Race Theory, 2005; Möschel, Race in Mainland European Legal Analysis, Towards a European Critical Race Theory, Ethnic and Racial Studies 34 (2011), S. 1648; ders., Law, Lawyers and Race, 2014; für den deutschen Kontext: Barskanmaz, Rassismus, Postkolonialismus und Recht – Zu einer deutschen Critical Race Theory?, KJ 2008, S. 296; ders., Critical Race Theory in Deutschland, Verfassungsblog v. 24.7.2020; rechtsvergleichend Bruce-Jones (Fn. 43); für den französischen Kontext Gaudreault-DesBiens, La Critical Race Theory ou le droit étatique comme utile, mais imparfait, de changement social, Droit et Société 48 (2001), S. 581; Bentouhami, Critical Race Theory ou comment la „race“ compte, in: dies. u. a. (Hrsg.), Le souci du droit: Où en est la théorie crtitique?, 2010, S. 16. 83 Hall, The West and the Rest, Discourse and Power, in: ders. u. a. (Hrsg.), Modernity, An Introduction to Modern Sciences, 1996, S. 184; Ashcroft/Griffiths/Tiffin (Hrsg.), The Post-Colonial Studies Reader, 2006; Chakrabarty, Provincializing Europe, Postcolonial Thought and Historical Difference, 2008; für den deutschen Kontext Steyerl/Rodriguez (Hrsg.), Spricht die Subalterne Deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, 2003; Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, Eine kritische Einführung, 3. Aufl. 2020; Castro Varela/Dhawan, Mission Impossible: Postkoloniale Theorie im deutschsprachigen Raum, in: Reuter/ Villa (Hrsg.), Postkoloniale Soziologie, 2010, S. 303; Kerner, Postkoloniale Theorien zur Einführung, 2012; Ha/Lauré Al-Samarai/Mysorekar (Hrsg.), re/visionen, Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, 2007. 84 Einführend Greif/Ulrich, Legal Gender Studies und Antidiskriminierungsrecht, 2017; Folyanti/ Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2012. 85 Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminst Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, The University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139; Crenshaw (Fn. 4), S. 1241; Berger/Guidroz (Hrsg.), The Intersectional Approach, 2009; Cho/ Crenshaw/McCall, Towards a Field of Intersectionality Studies: Theory, Application, and Praxis, Signs 38 (2013), S. 785; MacKinnon, Intersectionality as Method: A Note, Signs 38 (2013), S. 1019. Für die Verwendung von „Interdependenz“ Walgenbach u. a. (Hrsg.), Gender als interdependente Kategorie: Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, 2007; Klinger u. a. (Hrsg.), Achsen der Ungleichheit, 2007; zu Intersektionalitätsansätzen in der europäischen Rechtsforschung Solanke, Putting Race and Gender Together: A New Approach To Intersectionality, The Modern Law Review 72 (2009), S. 723; für eine explizit antidiskriminierungsrechtliche Perspektive, siehe Mangold, Mehrdimensionale Diskriminierung, RphZ 2016, S. 152; Markard, Die andere Frage stellen: Intersektionalität als Analysekategorie im Recht, KJ 2009, S. 353; nicht zuletzt → Holzleithner, § 13. 86 Siehe dazu Arndt, Hautfarbe, in: Arndt/Ofuatey-Alazard (Hrsg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht, 2011, S. 332. Cengiz Barskanmaz
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hen zeigt jedoch, dass Hautfarbe historisch nicht mehr als ein rassentheoretisches Konstrukt ist, so dass Hautfarbe keine „nackte Tatsache“, sondern – wie Rasse87 selbst – eine soziale und ideologische Konstruktion ist.88 Rassentheoretisch war die Hautfarbe schon immer Gegenstand von Rassialisierung, sie ist sogar die rassische Kategorie par excellence. Hautfarbe fungiert heute als eine prominente phänotypische Kategorie, mit der Menschen im Alltag eingeordnet und diskriminiert werden. Folgerichtig ist, dass das ICERD unter rassischer Diskriminierung auch die Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe versteht (Art. 1 ICERD).89 Dass es durchaus sinnvoll ist, Hautfarbe als ein eigenständiges Diskriminierungsmerkmal zu konzipieren, zeigt das Phänomen colorism deutlich.90 Dieses bezeichnet die strukturellen Bevorzugungen von Schwarzen und weiteren nicht-weißen Gruppierungen wie Latinx und Sint:ezza und Rom:nja mit einer leichteren Pigmentierung (light skinned) gegenüber Personen mit dunklerer Hautfarbe (dark skinned). Dennoch wäre es verfehlt, Hautfarbe als Ersatz für Rasse zu verwenden, denn die Kategorie Rasse erschöpft sich nicht in der Kategorie Hautfarbe.91 2. Religion
Eine weitere Überschneidung zeigen die Kategorien Rasse und Ethnizität mit Religion, die 21 sich insbesondere in der Diskriminierung von Jüd:innen, Muslim:innen und Sikhs ausdrucken kann. Der enge Zusammenhang zwischen Religion und Rasse oder ethnischer Herkunft wird im Antidiskriminierungsrecht anerkannt.92 Bereits 1978 wies die UNESCO auf Formen von religiöser Intoleranz hin, die rassistisch begründet sein können.93 Auf der Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban (2001) wurde der Nexus zwischen religiöser und rassischer Diskriminierung ebenfalls hervorgehoben.94 Winant, Theoretical Status of the Concept of Race, 2000, S. 182–184. Arndt (Fn. 85), S. 332 ff. Dazu sogleich Rn. 33 (B. I.). Eingehend dazu, dass US-amerikanischen Gerichte colorism im Hinblick auf Schwarze nicht als eine Form rassischer Diskriminierung ansehen, Banks, Colorism: A Darker Shade of Pale, UCLA Law Review 47 (2000), S. 1705; zu colorism gegenüber und innerhalb der latinx community siehe Pew Research Center, Majority of Latinos Say Skin Color Impacts Opportunity in America and Shapes Daily Life, 2021, https://www.pewresearch.org/hispanic/wp-content/uploads/sites/5/2021/11/RE_2021.11.04_LatinosRace-Identity_FINAL.pdf. 91 Aus diesem Grund ist es nicht stringent, die Streichung des Rechtsbegriffs Rasse zu befürworten, ohne die Hautfarbe als Rechtsbegriff (in internationalen Rechtsdokumenten) in Frage zu stellen, dazu Barskanmaz, Rasse – Unwort des Antidiskriminierungsrechts?, KJ 2011, S. 382 (387). 92 Vgl. nur Bryde, Die Tätigkeit des Ausschusses gegen jede Form der Rassendiskriminierung (CERD), in: Klein (Hrsg.), Rassische Diskriminierung – Erscheinungsformen und Bekämpfungsmöglichkeiten, 2002, S. 61 (72). 93 UNESCO, Declaration on Race and Racial Prejudice v. 27.11.1978, Art. 3: „religious intolerance motivated by racist considerations“. 94 Report of the World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance, 2001, Declaration, S. 17 f., Rn. 59–61; siehe auch UK Supreme Court, Jewish Free School, [2009] UKSC 15, Rn. 39: „[I]t is almost impossible to distinguish between ethnic status and religious status. The two are virtually co-extensive. A woman who converts to Judaism thereby acquires both Jewish religious status and Jewish ethnic status.“. 87 88 89 90
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Im Staatenbericht an den UN-Ausschuss argumentiert die Bundesrepublik, dass die jüdische Gemeinschaft sich in Deutschland nicht als eine ethnische Gruppe definiere und der Gemeinschaft nur ein religiöser Status zukomme.95 Zur muslimischen Gemeinschaft führt der Bericht an, dass diese Gruppe „keine zusammenhängende ethnische Gruppe“96 bilde. Angehörige beider religiöser Gruppen können nach Auffassung der Bundesrepublik Deutschland gleichwohl von Rassismus betroffen sein, weshalb sie vom Schutzregime des ICERD erfasst werden. Antisemitismus, also Rassismus gegenüber Jüd:innen, und Rassismus gegenüber Muslim:innen können somit im Antidiskriminierungsrecht Diskriminierungen aufgrund rassischer oder ethnischer Zuschreibungen darstellen, ohne notwendigerweise das Vorliegen real existierender rassischer bzw. ethnischer Gruppen vorauszusetzen. Insofern sind Rasse, ethnische Herkunft und Religion nicht als statische, in sich geschlossene Kategorien zu verstehen. Im Kontext des Antidiskriminierungsrechts kommt es auf den geschärften Blick für die Rassialisierung von religiösen Gruppen an, um so die Kategorie Religion in ständiger Wechselwirkung mit anderen Zuschreibungsprozessen zu verorten.97 23 Exemplarisch für die kulturalistische Ethnisierung von Religion kann hier auf ein Kopftuch-Urteil des Bundesarbeitsgerichts98 verwiesen werden, in dem das Gericht feststellt, dass das Kopftuch nicht „auf ein lediglich allgemeines – kulturelles – Zeichen einer ethnischen Gruppe“99 zu reduzieren ist.100 In diesem Fall begründete ein Kaufhaus als Arbeitgeber:in ein Kopftuchverbot für Angestellte mit dem Hinweis, das Kopftuch sei dem „ländlich-konservativ geprägten Kundenkreis“ nicht zumutbar, passe nicht zum „noblen und exklusiven“ Bild des Kaufhauses und entspreche nicht einer „gepflegten und unauffälligen“ Kleiderordnung. Ein weiterer Fall, der die ethnisierende bzw. rassialisierende Wirkung des Kopftuches gut veranschaulicht, ist ein Kopftuch-Urteil des VG Lüneburg.101 Dieses 22
95 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, 23. – 26. Bericht der Bundesrepublik
Deutschland nach Artikel 9 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, 2020, Rn. 53 ff. 96 BMJV (Fn. 95), Rn. 64. 97 Vgl. Wolfrum/Röben, Gutachten zur Vereinbarkeit des Gesprächsleitfadens für die Einbürgerungsbehörden des Landes Baden-Württemberg mit Völkerrecht, 2006; rechtsvergleichend Gotanda, The Racialization of Islam in American Law, The Annals of the American Academy of Political and Social Science 637 (2011), S. 184. 98 BAG, Urt. v. 10.10.2002, 2 AZR 472/01, wonach bloße Vermutungen über wirtschaftliche Einbußen oder betriebliche Störungen wegen der Kopftuchträgerin für eine Verletzung der Unternehmerfreiheit nach Art. 12 GG nicht ausreichen und einem schonenden Ausgleich mit der Religionsfreiheit der Kopftuchträgerin nach Art. 4 GG entgegenstehen. 99 BAG, Urt. v. 10.10.2002, 2 AZR 472/01, Rn. 44; für das Landesarbeitsgericht stellte das Kopftuch ein Kleidungsstück mit „fremdartige(m) Akzent (…)“ dar, zitiert nach BAG, Urt. v. 10.10.2002, 2 AZR 472/01, Rn. 21. 100 Ahmed, Women and Gender in Islam, 1992, und Yegenoglu, Colonial Fantasies, Towards a Feminist Reading of Orientalism, 1998, zeichnen eindrucksvoll nach, wie sehr das heutige Kopftuch in einer kolonial-orientalistischen Tradition steht; siehe auch Scott, The Politics of the Veil, 2007; Barskanmaz, Das Kopftuch als das Andere, Eine notwendige postkoloniale Kritik des deutschen Rechtsdiskurses, in: Berghahn/Rostock (Hrsg.), Der Stoff, aus dem Konflikte sind, 2009, S. 361. 101 VG Lüneburg, Urt. v. 16.10.2000, 1 A 98/00. Cengiz Barskanmaz
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befand, das Kopftuch sei eine Kleidung, die sich „vom europäischen Kulturkreis abhebt und Ausdruck einer fremden Kultur, Religiosität und Geisteshaltung ist“.102 Auf die Frage, inwieweit das Kopftuch als Symbol „fundamentalistischer Grundeinstellung“ zu betrachten sei, erwiderte das Gericht, dass es auf das Selbstverständnis ankomme, aber bei der konvertierten Klägerin als „Deutsche mit evangelisch-lutherischer Erziehung fern liegen dürfte“103. Die verbreitete Wahrnehmung des Kopftuchs wird hier gut sichtbar. Von der Mehrheitsgesellschaft wird das Kopftuch grundsätzlich als fremd, undeutsch bzw. nichtweiß erfasst. Insofern darf der verschärfte Blick auf diese Form von Rassialisierungen in den kontroversen Diskursen zum „Kopftuch“ der Lehrerin104, Referendarin105, Kitaerzieherin106 und Verkäuferin107 nicht fehlen.108 3. Nationale Herkunft
Im Kontext der Bekämpfung von Rassismus ist die Verschränkung von Nation mit Rasse 24 und Ethnizität ein nicht zu vernachlässigender Aspekt, der zudem eine große Nähe zum Status der nationalen Minderheit und Staatsangehörigkeit zeigt. Nationale Herkunft kann sowohl auf eine ehemalige Staatsangehörigkeit als auch auf eine zusätzliche Staatsangehörigkeit bezogen werden. Sie kann auch auf die Zugehörigkeit zu einer Nation innerhalb eines Staates, z. B. Basken in Frankreich, oder auf historisch bedingte zwei nationale Identitäten verweisen, z. B. West- und Ostdeutsche.109 Homogene Konstruktionen von Nationen tragen nicht selten (rassistische) exkludie- 25 rende Logiken in sich, weshalb die Kategorie der nationalen Herkunft in Art. 1 Abs. 1 ICERD und Art. 14 EMRK als geschütztes Merkmal kodifiziert ist.110 Als historisches Beispiel für diese Verschränkung kann auf die neuzeitliche und insbesondere auf die nationalsozialistische Konstruktion des deutschen Nationenverständnisses verwiesen werden, das Jüd:innen zur Antithese der „deutschen Volksgemeinschaft“ werden ließ.111 Ein gegenwärtiges Beispiel, in dem die nationale Herkunft Exklusionen begründen kann, ist die im deutschen – und allgemeiner europäischen112 – Kontext tief verankerte rassialisierte disVG Lüneburg, Urt. v. 16.10.2000, 1 A 98/00. VG Lüneburg, Urt. v. 16.10.2000, 1 A 98/00. BVerfGE 108, 282 – Kopftuch I (2003); BVerfGE 138, 296 – Kopftuch II (2015). BVerfGE 153, 1 – Kopftuch III (2020). BVerfG, Beschl. v. 18.10.2016, 1 BvR 354/11 – Kopftuch für Erzieherinnen; EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18, C-341/19, WABE /MH Müller Handel. 107 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18, C-341/19, WABE /MH Müller Handel. 108 Zur Frage, wie islamophobe Rassialisierungen im französischen Kontext etwa beim Burkaverbot verlaufen, siehe Scott (Fn. 100), S. 90 f.; eine postkoloniale Analyse des deutschen Kopftuchdiskurses bietet Barskanmaz (Fn. 100). 109 AG Stuttgart, Urt. v. 15.4.2010, 17 Ca 8907/09, vgl. auch Foroutan/Hensel, Die Gesellschaft der Anderen, 2020, die die Analogie zwischen der Diskriminierung von Muslim:innen und Ostdeutschen diskutieren. 110 Zu Homogenität als Verfassungsvoraussetzung siehe Hanschmann, Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft, 2008. 111 Zimmermann, Deutsch-Jüdische Vergangenheit, 2005, S. 72. 112 Exemplarisch „étranger“ in EGMR, Urt. v. 16. 7. 2009, Beschwerde-Nr. 15615/07, Féret v. Belgien. 102 103 104 105 106
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kursive Konstruktion des „Ausländers“. Insofern dient die rassisch kodierte113 Figur des „Ausländers“, die nahezu ausschließlich eine Fremdbezeichnung darstellt, als Grundlage einer nach nationaler Herkunft strukturierten Hierarchie, die ein selbstreferentielles homogenes Deutschsein aufrechterhält.114 In der diskursiven Binarität „Deutsch–Ausländer“ wird „Ausländern“ als ewig Anderen die Inklusion in das deutsche Selbstverständnis in Abrede gestellt.115 Vor diesem Hintergrund ist es antidiskriminierungsrechtlich geboten, über den tatsächlichen staatsangehörigkeitsrechtlichen Status hinaus die rassialisierte Figur des „Ausländers“ in den Blick zu nehmen, um auf diese Weise sogenannte ausländerfeindliche116 Handlungen auf ihren rassistischen Gehalt hin zu prüfen.117 Ähnlich exkludierend können neben dem Begriff des „Ausländers“ auch scheinbar neutralere Begriffe wie „Migrant“ oder „Person mit Migrationshintergrund“118 wirken. Auch durch solche essenzialisierenden Begriffe werden Betroffene als „unveränderliche Migranten“ einer konstruierten „wahren“, „ursprünglichen, reinen, deutschen Identität“ gegenübergestellt. 113 Goldberg (Fn. 38), S. 100. 114 Alexopoulou, ‚Ausländer‘ – A Racialized Concept? ‚Race‘ as an Analytical Concept in Contemporary
German Immigration History, in: Arghavan u. a. (Hrsg.), Who Can Speak and Who is Heard/Hurt?, 2019, S. 45. 115 Terkessidis, Die Banalität des Rassismus, 2004, S. 53–57. 116 Vgl. § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB, der bei der Strafzumessung einen Unterschied zwischen rassistischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Beweggründen und Zielen des Täters macht; auf die Verschränkung von Rasse und nationaler Herkunft geht auch der Bericht Racial and xenophobic discrimination, emerging digital technologies in border and immigration enforcement v. 28.8.2020 (UN Doc. A 75/590) des Special Rapporteur on contemporary forms of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance ausführlich ein. 117 Siehe jedoch BG (Schweiz), Urt. v. 6.2.2014, Nr. 6B_715/2012, in dem das Bundesgericht den beleidigenden Charakter der durch Polizisten (sic!) getätigten Bezeichnungen „Sauausländer“ und „Drecksasylant“ einräumt, jedoch die instanzgerichtliche Verurteilung nach Art. 261bis Abs. 4 Halbsatz 1 StGB (Schweiz) kassiert, weil nicht auszuschließen sei, dass der tatsächliche Rechtsstatus des betroffenen algerischen Asylbewerbers den Polizisten zu dieser Aussage bewegt haben könnte. 118 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2007, Anhang 2 (Glossar), 2007, S. 326 umschreibt „Personen mit Migrationshintergrund“ folgendermaßen: „Zu den Personen mit Migrationshintergrund gehört die ausländische Bevölkerung – unabhängig davon, ob sie im Inland oder im Ausland geboren wurde – sowie alle Zugewanderten unabhängig von ihrer Nationalität. Daneben zählen zu den Personen mit Migrationshintergrund auch die in Deutschland geborenen eingebürgerten Ausländer sowie eine Reihe von in Deutschland Geborenen mit deutscher Staatsangehörigkeit, bei denen sich der Migrationshintergrund aus dem Migrationsstatus der Eltern ableitet. Zu den letzteren gehören die deutschen Kinder (Nachkommen der ersten Generation) von Spätaussiedlern und Eingebürgerten und zwar auch dann, wenn nur ein Elternteil diese Bedingungen erfüllt, während der andere keinen Migrationshintergrund aufweist. Außerdem gehören zu dieser Gruppe seit 2000 auch die (deutschen) Kinder ausländischer Eltern, die die Bedingungen für das Optionsmodell erfüllen, d. h. mit einer deutschen und einer ausländischen Staatsangehörigkeit in Deutschland geboren wurden.“ Eine Legaldefinition von „Personen mit Migrationshintergrund“ enthielt § 2 des Gesetzes zur Regelung von Partizipation und Integration in Berlin (PartIntG), GVBl. v. 28.12.2010, welches inzwischen durch das neue Partizipations- und Migrationsgesetz Berlin (PartMigG), GVBl. v. 15.7.2021 ersetzt wurde. Art. 3 Abs. 1 PartMigG führt Person mit Migrationsgeschichte als Oberbegriff, wonach unter „Personen mit Migrationsgeschichte“ zu verstehen ist: (1) Personen mit Migrationshintergrund, (2) Personen, die rassistisch diskriminiert werden, und (3) Personen, denen ein Migrationshintergrund allgemein zugeschrieben wird. Die Zuschreibung kann insbesondere an phänotypische Merkmale, aber auch Sprache, Namen, Herkunft, Nationalität und Religion anknüpfen. Cengiz Barskanmaz
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4. Sprache
Neben Hautfarbe, Religion und nationaler Herkunft zeigen die Merkmale Rasse und vor 26 allem ethnische Herkunft Überschneidungen mit „Sprache“, die in den zentralen antidiskriminierungsrechtlichen Vorschriften explizit aufgelistet ist (Art. 3 Abs. 3 GG, Art. 14 EMRK, Art. 21 GRCh), jedoch nicht im ICERD119. In der Migrationsgesellschaft kann Sprache zu einem Instrument sozialer Distinktion werden.120 So können regelmäßig über Sprache Ausschlüsse reproduziert werden, etwa bei Mehrsprachler:innen in der Bildung oder auf dem Arbeitsmarkt.121 Dies betrifft vor allem Menschen, bei denen Deutsch biographiebedingt nicht die erste Sprache ist und die Differenz zu „native speakers“ nicht mehr einfach beseitigt werden kann. In den Sozialwissenschaften wird auf das Konzept des Linguizismus zurückgegriffen, um die entlang der Sprache entstandenen gesellschaftlichen Hierarchien als eine strukturell bedingte Form von rassischer Diskriminierung zu bezeichnen. Grundlage dieser Form des Ausschlusses sind einerseits ein monolingualer Habitus122 und andererseits die normative Vorstellung, dass trotz der faktischen Mehrsprachigkeit nur eine nationale Sprache normativ gesetzt wird.123 Linguizismus zu erfassen bleibt eine Herausforderung, weil er sich der objektiv messbaren mangelhaften deutschen Sprachkompetenzen als Rechtfertigung zur Ungleichbehandlung bedient.124 5. Kultur
Bereits Adorno warnte 1955 in seinem Aufsatz „Schuld und Abwehr“ vor der vorschnel- 27 len Schlussfolgerung, wonach mit der Delegitimierung von Rasse auch ihr semantischer Gehalt verschwunden sei. „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch“125, so Adorno. Ähnlich beobachtete Colette Guillaumin, dass die ideologische Aufladung und der komplexe semantische Gehalt von Rasse in Äquivalenten wie etwa „Volk“, „Fremde“, „Ausländer“ oder „Kultur“ wiederauftaucht.126 119 Für Wolfrum, Das Verbot der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Herkunft, Sprache oder Hautfarbe im Völkerrecht, in: ders. (Hrsg.), Gleichheit und Nichtdiskriminierung im nationalen und internationalen Menschenrechtsschutz, 2003, S. 215 (224), stellt dies eine wesentliche Lücke dar; Thornberry, The International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, A Commentary, 2016, S. 137 zufolge kann die Anknüpfung an die Sprache durchaus ein Indikator für rassische Diskriminierung sein. 120 Thoma/Knappik, Einführung, in: dies. (Hrsg.), Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften, 2015, S. 9 (10). 121 Eingehend Thoma/Knappik (Hrsg.), Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften, 2015. 122 Gogolin, Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule, 1994. 123 Über das Differenzmerkmal Sprache werden auf jeder Stufe der Ausbildung ausgrenzende Effekte produziert, vgl. Dirim, „Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so.“ Zur Frage des (Neo-)Linguizismus in den Diskursen über die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft, in: Mecheril u. a. (Hrsg.), Spannungsverhältnisse, 2010, S. 91. 124 Springsits, „Nein, das kann nur die Muttersprache sein.“, in: Thoma/Knappik (Hrsg.), Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften, 2015, S. 89; siehe unten die Kasuistik bei Rn. 55 ff. (B. II. 4.) 125 Adorno (Fn. 55), S. 277. 126 Guillaumin (Fn. 63), S. 35.
Cengiz Barskanmaz
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
Inwiefern sich im Konzept der Kultur die gedankliche Grundlage für rassistische Sichtweisen offenbaren kann, zeigt der sogenannte Sarrazin-Fall. In diesem Fall wurde die Bundesrepublik vom CERD-Ausschuss gerügt, weil sie ihrer Verpflichtung zu effektiver strafrechtlicher Ermittlung nicht nachgekommen sei.127 Der Ausschuss stellte zudem fest, dass die Aussagen von Sarrazin im Sinne des ICERD als rassistisch zu würdigen sind.128 29 Thilo Sarrazin forderte 2009 in einem Interview129 dazu auf, den „Türken“ und „Arabern“ (Hochqualifizierte ausgenommen) Transferleistungen zu kürzen oder generell die Einwanderung dieser Gruppen zu unterbinden, weil sie weder integrationswillig noch integrationsfähig seien. Ihre Kultur sei zudem „aggressiv und atavistisch“.130 Laut Sarrazin hätten Araber und Türken keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es bestünde vermutlich auch keine Perspektive, außerdem könnten sie nicht vernünftig für die Ausbildung ihrer Kinder sorgen und produzierten ständig „neue kleine Kopftuchmädchen“131.132 Hier wird Kultur als homogenisierendes ethnisches Merkmal aufgefasst.133 Solch kulturalistischer Rassismus bedeutet allerdings nicht die Substituierung des biologistischen Rassismus. Vielmehr existieren beide Rassismusformen nebeneinander und verhalten sich komplementär zueinander – und dies seit Jahrhunderten.134 Diese Form von Rassismus ist schwer angreifbar, weil sie nicht mit überholten biologistischen Rassekategorien argumentiert, sondern mittels neutraler Sprache die „natürliche Andersartigkeit“ der Minderheitskulturen propagiert, die schließlich mit der Abwertung der „fremden“ Kultur einhergeht.135 30 Die rassistische Projektion auf Schwarze erfolgte zum Beispiel primär aufgrund der Hautfarbe, während die Deutung dieser Abgrenzungskategorie immer kulturalisierte Zuschreibungen in sich trägt. Der biologistische Rassismus dürfte aber bei der Diskriminierung anderer Bevölkerungsgruppen nicht leitend sein. Die Diskriminierung von Türk:innen bzw. Muslim:innen zum Beispiel geschieht vielmehr – zurückgreifend auf eine lange Tradition mittelalterlicher Feindbilder sowie orientalistischer136 Diskurse – auf einer 28
127 CERD, Decision v. 4.4.2013, Communication No. 48/2010, TBB Turkish Union in Berlin/Brandenburg
v. Germany, UN Doc. CERD/C/82/D/48/2010, der eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 lit. d, 4 und 6 ICERD feststellte. 128 Kritisch, aber zumindest teilweise zustimmend, Payandeh, Die Entscheidung des UN-Ausschusses gegen Rassendiskriminierung im Fall Sarrazin, JZ 2013, S. 980; sehr kritisch Tomuschat, Der „Fall Sarrazin“ vor dem UN-Rassendiskriminierungsausschuss, EuGRZ 2013, S. 262; ausführliche Besprechung der CERD-Mitteilung in Barskanmaz (Fn. 71), S. 237–246. 129 Berberich/Sarrazin, Klasse statt Masse, Lettre International Nr. 86 v. 1.10.2009, S. 197. 130 Berberich/Sarrazin (Fn. 129), S. 197 (199). 131 Berberich/Sarrazin (Fn. 129), S. 197 (199). 132 Ausführliche Besprechung in Shooman, „… weil ihre Kultur so ist“, 2014. 133 Vgl. Geulen (Fn. 35), S. 31 f. 134 Young, Colonial Desire, 1995, S. 54; Hund, Negative Vergesellschaftung, 2006, S. 18, 89 f., sieht sogar in nationalsozialistischer Rassengesetzgebung sowohl biologistische als auch kulturalistische Elemente. 135 Morgenstern, Rassismus, 2002, S. 344–348; siehe die Argumentationslinie von Necla Kelek in Bezug auf die Rassismusvorwürfe gegenüber Thilo Sarrazin: „Ihm Rassismus vorzuwerfen, ist absurd, denn der Islam ist keine Rasse, sondern Kultur und Religion.“, Spiegel v. 29.8.2010. 136 Grundlegend Said, Orientalism, 1978; für eine deutsche Perspektive Attia, Die „westliche Kultur“ und ihr Anderes: Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, 2009. Cengiz Barskanmaz
A. Rasse und ethnische Herkunft als soziale Konstrukte
323
kulturell begründeten semantischen Ebene, da körperliche Merkmale hier nicht bzw. in unterschiedlicher kontextspezifischer Art und Weise ausschlaggebend sein können. Ähnliches gilt für die kulturelle Stereotypisierung von Jüd:innen sowie Sint:ezza und Rom:nja, die nach kulturalistischen Mustern erfolgt, welche auf einer weit zurückreichenden europäischen Tradition aufbauen.137 IV. Intersektionalität
Ungleichheiten entlang der Kategorien Rasse und ethnische Herkunft wirken regelmäßig 31 zusammen mit anderen Kategorien wie zum Beispiel Geschlecht und Klasse. Diese Komplexität wird heute unter dem Konzept „Intersektionalität“138 diskutiert.139 Auch die Europäische Kommission nimmt die Bekämpfung von Mehrfachdiskriminierung ernst. Wie bestimmte rassialisierte Gruppen in pandemischen Zeiten durch ihre prekäre Existenz – die ihrerseits auf jahrhundertelange Ausgrenzungen zurückzuführen sind – zusätzlichen Risiken ausgesetzt sein können, zeigt neuerdings die unverhältnismäßig hohe Zahl von COVID-19-Erkrankungen und Todesfällen unter der US-amerikanischen Schwarzen Bevölkerung.140 Zwar hat die Intersektionalitätsanalyse im Antidiskriminierungsrecht ursprünglich im Hinblick auf die Verletzlichkeit von Schwarzen141 eingesetzt und ist im europäischen Kontext insbesondere bei der Frage nach dem Kopftuch142 herangezogen 137 Barskanmaz (Fn. 71), S. 109 ff. 138 Crenshaw (Fn. 4); außerdem Solanke (Fn. 85); einen kritischen Überblick über Intersektionalität im
EU-Recht bieten Schiek/Mulder, Intersectionality in EU Law: A Critical Re-appraisal, in: Lawson/Schiek (Hrsg.), European Union Non-Discrimination Law and Intersectionality, 2011, S. 259. Alternativ wird auf „Interdependenz“, „Mehrfachdiskriminierung“ oder auch „Mehrdimensionalität“ verwiesen, vgl. Walgenbach u. a. (Hrsg.) (Fn. 85); Europäische Kommission, Die Bekämpfung von Mehrfachdiskriminierung, Praktiken, Politikstrategien und Rechtsvorschriften, 2007; Baer/Bittner/Göttsche, Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe, Theorien und juristische Analyse, 2010; Mangold (Fn. 85); ausführlich → Holzleithner, § 13 Rn. 37 ff. 139 Der UN-Ausschuss (CERD) spricht – insbesondere im Hinblick auf Geschlecht und Religion – auch von double und multiple discrimination, CERD, General Recommendation No. 32 on the meaning and scope of special measures in the ICERD v. 24.9.2009, UN Doc. CERD/C/GC/32, Rn. 7; siehe auch Europäische Kommission (Fn. 138). 140 Millet/Jones/Benkeser/Baral/Mercer/Beyrer/Honermann/Lankiewitz/Mena/Crowley/Sherwood/ Sullivan, Assessing differential impacts of COVID-19 on black communities, Annals of Epidemiology 47 (2020), S. 37, gelangen zu dem Ergebnis, dass nahezu 20 Prozent der US Bezirke (counties) überproportional Schwarz sind und auf diese 52 Prozent der COVID-19-Diagnosen und 58 Prozent der COVID19-Todesfälle auf nationaler Ebene entfielen; soziale Bedingungen, struktureller Rassismus und andere Faktoren erhöhten das Risiko für COVID-19-Diagnosen und Todesfälle in Schwarzen communities; inzwischen auch CERD, Statement 3 (2020), Prevention of Racial Discrimination, Early Warning and Urgent Action Procedures, Statement on the coronavirus (COVID-19) pandemic and its implications under the International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination. 141 Crenshaw (Fn. 4). 142 Vgl. auch BVerfGE 138, 296 (353 f.) – Kopftuch II (2015), wo das Bundesverfassungsgericht die Verletzung des Gleichbehandlungsgebots der Geschlechter bei einem Kopftuchverbot für Lehrerinnen verneint; kritisch Sacksofsky, Kopftuch als Gefahr – ein dogmatischer Irrweg, DVBl. 2015, S. 801; ebenso verneinend EGMR, Entsch. v. 15.2.2001, Beschwerde-Nr. 42393/98, Dahlab v. Schweiz, in deutscher Übersetzung: NJW 2001, S. 2871 (2873); für eine postkolonial-feministische Analyse des Kopftuch I-Urteils des Cengiz Barskanmaz
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
worden, sie kann jedoch auch auf die rassische oder ethnische Verletzlichkeit von Männern of Color in bestimmten Fallkonstellationen ausgeweitet werden. Hierzu ein Beispiel: Wenn einem Schwarzen Mann der Zugang zu einem Nachtclub verweigert wird, liegt nicht nur eine Diskriminierung aufgrund der Rasse oder Hautfarbe vor, sondern eine Diskriminierung aufgrund der Rasse und des Geschlechts. Denn nicht allen Schwarzen wird die Dienstleistung verweigert, sondern erfahrungsgemäß143 vor allem stigmatisierten Schwarzen144 Männern.145 Weitere diskriminierende Praktiken, die rassialisierte Männlichkeiten ins Visier nehmen, umfassen etwa das racial profiling durch die Polizei. Soweit ersichtlich gibt es in den gerichtlichen Fällen kaum Klägerinnen.146
B. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft I. Das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse als ius cogens 32 Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse ist im Völkerrecht allgegenwärtig.
Inwiefern das Verbot rassischer Diskriminierung neben seiner völkervertraglichen Verankerung und als Gewohnheitsrecht auch zum zwingenden Völkerrecht (ius cogens) gehört, wird in der deutschen Fachliteratur nicht eindeutig beantwortet.147 Der Internationale Gerichtshof hat dem Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse jedenfalls
BVerfG (BVerfGE 108, 282 – Kopftuch I [2003]) siehe Barskanmaz (Fn. 100) sowie → Holzleithner, § 13 Rn. 75 ff. 143 Schwarze Frauen könnten aufgrund von exotisierend-rassistischen Konstruktionen erst recht in einem Nachtclub willkommen geheißen werden. In diesem Fall läge eine rassistische Sexualisierung von Schwarzen Frauen vor, die jedoch antidiskriminierungsrechtlich nicht zu beanstanden wäre, weil ihnen der Zugang zum Club gerade nicht verwehrt wird. 144 Butler, Black Male Exceptionalism? The Problems and Potential of Black Male-Focused Interventions, Du Bois Review 10 (2013), S. 485, warnt davor, Schwarze Männer auf Kosten Schwarzer Frauen erneut als besonders gefährdet einzustufen. Diese Tendenz beobachtet er in den sozialen Programmen einiger USStaaten, die sich auf das Bild des „endangered Black man“ stützen, wodurch erneut das Bild eines kriminellen und aggressiven Schwarzen Mannes festgeschrieben werde und gleichzeitig die sozialen Probleme von Schwarzen Frauen heruntergespielt würden. 145 In diesem Sinne OLG Stuttgart, Urt. v. 12.12.2011, 10 U 106/11, das eine Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe und des Geschlechts feststellt; dazu Liebscher, Anmerkung zu OLG Stuttgart, Urt. v. 12.12.2011, 10 U 106/11, NJW 2012, S. 1087; ebenso AG Hannover, Urt. v. 14.8.2013, 462 C 10744/12 mit der Feststellung einer Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft und des Geschlechts. 146 Siehe jedoch EGMR, Urt. v. 24.7.2012, Beschwerde-Nr. 47159/08, B. S. v. Spanien, Rn. 61, 65 f., wo der EGMR bei einer rassistischen Polizeikontrolle (Rn. 8: „Schwarze Hure, verschwinde von hier“) die besondere Verletzlichkeit der Beschwerdeführerin als „afrikanische Frau, die Prostitution ausübt“ berücksichtigt und (neben einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK) einen Verstoß gegen Art. 14 EMRK im verfahrensrechtlichen Sinne feststellt; eingehend Yoshida, Towards Intersectionality in the European Court of Human Rights: The Case of B. S. v Spain, Feminist Legal Studies 21 (2013), S. 195. 147 Dafür Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Mai 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 48 m. w. N., Wollenschläger, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 25 Rn. 18; dagegen Aust, in: v. Münch/ Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 25 Rn. 15; Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Januar 2021, Art. 25 Rn. 32. Cengiz Barskanmaz
B. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft
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bereits früh eine erga omnes-Wirkung zugeschrieben.148 Weitere Indizien lassen sich in den Arbeiten der International Law Commission finden.149 Auch in der internationalen Literatur findet die Qualifizierung als ius cogens weitgehend Zustimmung.150 Neben seiner völkerrechtlichen Allgegenwärtigkeit deutet auch die Kodifizierung des Diskriminierungsverbots aufgrund der Rasse im ICERD daraufhin, dass das Diskriminierungsverbot einen Stützpfeiler des Völkerrechts bildet. Das Argument, dass lediglich dem Verbot von systematischen, staatlich geförderten Formen von rassischer Diskriminierung wie etwa Apartheid die Qualität von ius cogens zukommt, kann schon deshalb nicht überzeugen, weil die Geschichte des Rassismus an Belegen reich ist, dass Rassismus strukturell und zuvörderst durch staatliche Diskriminierungspolitiken aufrechterhalten wurde, exemplarisch: Segregation und Sklaverei, Apartheid und NS-Rassenpolitik. Hierin liegt auch der Grund, warum völkerrechtliche Verbote rassischer Diskriminierung primär vor staatlichen Diskriminierungspolitiken schützen. Eine Grenzziehung zwischen krassen (z. B. Apartheid) und „weniger krassen“ Formen von staatlichen Diskriminierungspraktiken ist historisch und sachlich kaum zu begründen, zumal „weniger krasse“ Formen von rassischer Diskriminierung ebenso systematisch erfolgen können, etwa beim racial profiling oder bei anderen kriminalpolitischen Maßnahmen, die entlang der Einteilungen nach Rasse, ethnischer Herkunft, Hautfarbe oder Religion gestaltet werden.151 Nicht zuletzt veranschaulicht die Geschichte von Völkermorden, dass diesen immer eine Phase von Staatspraktiken von „weniger krassen“ rassischen Diskriminierungen und Entrechtungen vorangingen.152 Es ist eben dieser Gedankengang, der der verfassungsrechtlichen „Nie-Wieder“-Antwort auf den antisemitisch-rassistischen NS-Terror zugrunde liegt. Zugespitzt: Das Grundgesetz spricht nicht vom Verbot des Genozids, sondern vom Verbot der Benachteiligung (bzw. Bevorzugung) aufgrund der Rasse. Daher gilt es, das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse kategorisch als zwingendes Völkerrecht zu betrachten.
148 IGH, Urt. v. 5.2.1970, ICJ Reports 1970, S. 3 (32 Rn. 34), Barcelona Traction. 149 International Law Commission, Fourth Report of the Special Rapporteur (Dire Tladi) on Peremptory
Norms of General International Law (Jus Cogens), UN Doc. A/CN.4/727 (2019), Rn. 91–100.
150 De Schutter, International Human Rights Law, 3. Aufl. 2019, S. 85–89; Lerner, The UN Convention
on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, 2015, S. XXV m. w. N.; Malaihollo, The International Convention on Elimination of All Forms of Racial Discrimination – Reviewing Special Measures Under Contemporary International Law, Groningen Journal of International Law 2017, S. 138 f. 151 Im Zusammenhang mit der Sicherheitsrechtsarchitektur, siehe Samour, Politisches Freund-FeindDenken im Zeitalter des Terrorismus, in: Kulick/Goldhammer (Hrsg.), Der Terrorist als Feind?, 2020, S. 49. 152 Auch Baer/Markard (Fn. 48), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 407, verweisen auf diese Dynamik in Unrechtsregimen, wenn sie festhalten, dass die durch die Diskriminierung erfolgte Menschenwürdeverletzung im Holocaust ihren Anfang in Alltagsdiskriminierungen nahm; siehe auch aus der Perspektive der Genozidforschung Moses, The Problems of Genocide, 2019, wonach Genoziden als Ergebnis eines Imperativs der permanenten Sicherheit stets diskriminierende Staatspraktiken vorangehen. Cengiz Barskanmaz
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
II. Diskriminierungsverbote aufgrund der Rasse im Mehrebenensystem 1. ICERD 33 Auf völkerrechtlicher Ebene spielt das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder
Form von rassischer Diskriminierung vom 21. Dezember 1965153 (ICERD) bei der Bekämpfung von rassischer Diskriminierung eine zentrale Rolle. Das ICERD begründet staatliche Verpflichtungen zur Beseitigung rassischer Diskriminierung im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jeglichem weiteren öffentlichen Bereich. Davon erfasst ist auch die Verpflichtung zum Erlass legislativer Maßnahmen gegen rassische Diskriminierung innerhalb der innerstaatlichen Rechtsordnung.154 Nach Art. 2 ICERD haben die Vertragsstaaten rassische Diskriminierung dezidiert zu verurteilen und mit allen geeigneten Mitteln unverzüglich eine Politik der Beseitigung der rassischen Diskriminierung in jeder Form zu verfolgen. Konkreter enthält Art. 2 ICERD sowohl eine Pflicht, staatliche Diskriminierungen zu unterlassen und sicherzustellen, dass alle öffentliche Behörden und Einrichtungen im Einklang mit diesen Verpflichtungen handeln (lit. a), als auch eine Verpflichtung zur Überprüfung von staatlichen Politiken sowie zur Änderung, Aufhebung und Nichtigerklärung diskriminierender Gesetze und Rechtsvorschriften (lit. c).155 Daneben verpflichtet lit. b die Vertragsstaaten, rassische Diskriminierung durch (private) Personen oder Organisationen weder zu fördern noch zu schützen oder zu unterstützen. Diese Regelung wird durch lit. d dahingehend ergänzt, dass der Staat über eine Unterlassung hinaus verpflichtet wird, rassische Diskriminierungshandlungen von Personen, Gruppen oder Organisationen zu verbieten und bestehende Diskriminierungspraxen mit allen geeigneten Mitteln, einschließlich der Gesetzgebung, wenn die Umstände es erforderlich machen, zu beenden. 34 Neben dem Diskriminierungsverbot in Art. 1 Abs. 1 ICERD und dem Fördergebot in Art. 1 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 2 ICERD156 enthält Art. 4 ICERD Verpflichtungen zur – nicht nur, aber auch – strafrechtlichen Bekämpfung von Rassismus.157 Dies betrifft vor allem das Vorgehen gegen sogenannte Hassrede, aber auch die Kriminalisierung und effektive Strafverfolgung von weiteren rassistischen Handlungen. Die Bekämpfung rassistischen Gedankenguts spielte bei der Verabschiedung der Konvention sogar eine zentrale Rolle158, weshalb die in Art. 4 ICERD vorgesehenen Maßnahmen als zwingend erforderlich betrachtet werden.159 Bislang wurden zwei Individualbeschwerdeverfahren gegen Deutschland ge153 BGBl. 1969 II, S. 961, in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am 15.6.1969. 154 Britz, Die Individualbeschwerde nach Art. 14 des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von
Rassendiskriminierung, Zur Einführung des Individualbeschwerdeverfahrens in Deutschland, EuGRZ 2002, S. 381 (386). 155 Ausführlich Barskanmaz, in: Angst/Lantschner (Hrsg.), ICERD, 2020, Art. 2 Abs. 1 Rn. 9–33. 156 Ausführlich Kanalan, in: Angst/Lantschner (Hrsg.), ICERD, 2020, Art. 2 Abs. 2 Rn. 5–23. 157 Ausführlich dazu Payandeh, in: Angst/Lantschner (Hrsg.), ICERD, 2020, Art. 4 Rn. 31 ff.; vgl. auch VG Frankfurt, Beschl. v. 22.2.1993, 9 G 300/93–1 (Rechtmäßigkeit der Verweigerung der Beförderung von NPD-Werbung durch die Deutsche Post wegen rassistischen Inhalts). 158 CERD, General Recommendation No. 35: Combatting racist hate speech v. 26.9.2013, UN Doc. CERD/C/GC/35, Rn. 8; Payandeh (Fn. 157), Art. 4 Rn. 4. 159 Fries, Die Bedeutung von Artikel 5 (f ) der Rassendiskriminierungskonvention im deutschen Recht, 2003, S. 128. Cengiz Barskanmaz
B. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft
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führt, nämlich Zentralrat Deutscher Sinti und Roma u. a. v. Deutschland160 und Türkischer Bund in Berlin-Brandenburg e. V. v. Deutschland161. Im ersten Fall rügten die Beschwerdeführer fehlenden effektiven Rechtsschutz mit Blick auf Art. 4 lit. a und lit. c und Art. 6 ICERD, weil die Staatsanwaltschaft in einem konkreten Fall mit stereotypisierenden Aussagen über Sinti und Roma die Eröffnung eines Strafverfahrens wegen Volksverhetzung (nach § 130 StGB alte Fassung) verweigert hatte. Der Ausschuss erkannte zwar die Aussagen als diskriminierend an, lehnte aber eine Verletzung von Art. 6 ICERD ab. Im zweiten Fall würdigte der Ausschuss die Aussagen von Thilo Sarrazin als rassische Diskriminierung im Sinne des ICERD und rügte Deutschland, seiner Verpflichtung zur effektiven strafrechtlichen Ermittlung nicht nachgekommen zu sein.162 Auch hier hatte die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren eingestellt, weshalb eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 lit. d, Art. 4 und Art. 6 ICERD festgestellt wurde. Nach Art. 1 Abs. 1 ICERD ist „rassische Diskriminierung“ jede auf der Rasse, der Haut- 35 farbe, der Abstammung, der nationalen oder ethnischen Herkunft beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder in jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird. Der Ausschuss hat die Begriffe Rasse und Hautfarbe bislang nicht klar definiert163, steht aber legislativen Vorhaben, die darauf abzielen, die Diskriminierungskategorie Rasse aus Verfassungen oder Gesetzen zu entfernen, kritisch gegenüber.164 Neben dem Begriff Rasse verwendet ICERD auch die Bezeichnungen „rassische“ oder „ethnische Gruppe“, die sicherlich nicht klar umrissen werden können, aber im Hinblick auf die Förderung von benachteiligten Gruppen relevant werden können. Nach der Allgemeinen Empfehlung Nr. 8165 soll es auf die Selbst-Identifikation der Person ankommen, zu welcher Gruppe sie gehört.166 Eine Abgrenzung zwischen den Begriffen nationaler (national origin) und ethnischer Herkunft lässt sich nicht ohne Weiteres treffen, erforderlich ist sie ohnehin nicht. So dürfte zum Beispiel die Verweigerung von Dienstleistungen an „Türken“ oder „Russen“ als Diskriminierung sowohl aufgrund der nationalen als auch der ethnischen Herkunft gelten. Demgegenüber ist das Verhältnis des Begriffs „nationale Herkunft“ zum Merkmal „Staatsangehörigkeit“ Anlass für Streit, da die Grenzziehung zwischen „nationaler Herkunft“ und 160 CERD, Decision v. 22.2.2008, Communication No. 38/2006, Zentralrat Deutscher Sinti und Roma u. a.
v. Germany, UN Doc. CERD/C/72/D/38/2006.
161 CERD, Decision v. 4.4.2013, Communication No. 48/2010, TBB Turkish Union in Berlin/Brandenburg
v. Germany, UN Doc. CERD/C/82/D/48/2010.
162 Zustimmend, jedoch kritisch Barskanmaz (Fn. 71), S. 237 ff. 163 Thornberry (Fn. 119), S. 135 f. räumt ein, dass der Ausschuss in diesem Punkt noch keine konsistente
Haltung entwickelt hat.
164 So in CERD, Concluding Observations on the Combined Nineteenth to Twentieth Periodic Reports
of Nor way v. 8.4.2011, UN Doc. CERD/C/NOR/19–20, Rn. 8.
165 CERD, General Recommendation No. 8 concerning the Interpretation and Application of Article 1,
Paragraphs 1 and 4 of the Convention Identification with a Particular Racial or Ethnic Group v. 22.8.1990, UN Doc. A/45/18(SUPP), S. 79. 166 Siehe auch Kanalan (Fn. 156), Art. 2 Abs. 2 Rn. 18 f. m. w. N. Cengiz Barskanmaz
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
„Staatsangehörigkeit“ nicht immer eindeutig zu verlaufen scheint.167 Insbesondere im Hinblick auf Art. 1 Abs. 2 und 3 ICERD, die die Staatsangehörigkeit vom Anwendungsbereich des ICERD ausnehmen, wird die Frage relevant.168 Das Merkmal der Staatsangehörigkeit nimmt im Kontext der rechtlichen Bekämpfung 36 von rassischer Diskriminierung eine umstrittene Rolle ein. Das Problem stellt sich insofern, als bei der Staatsangehörigkeit die „Nähe“ zur rassischen Diskriminierung evident ist, diese aber gleichzeitig den Kernbereich staatlicher Migrationspolitiken berührt. So überrascht es kaum, dass die „Staatsangehörigkeitsfrage“ im ICERD169 mit der Aufnahme von Sonderbestimmungen gelöst wird. Art. 1 Abs. 2 ICERD bestimmt, dass eine unterschiedliche Behandlung von eigenen Staatsangehörigen (citizens) und ausländischen Staatsangehörigen (non-citizens) keine rassische Diskriminierung darstellt. Diese Regelung ist in Übereinstimmung mit den übrigen Vorschriften so auszulegen, dass lediglich die staatliche Unterscheidung zwischen eigenen und ausländischen Staatsangehörigen erlaubt ist, etwa im Hinblick auf die Aufnahme in den öffentlichen Dienst und beim Wahlrecht.170 Neben Art. 1 Abs. 2 enthält Art. 1 Abs. 3 ICERD eine weitere Ausnahme. Danach erfasst das ICERD die Regelungen der Vertragsstaaten über die Staatsangehörigkeit (nationality), Staatsbürgerschaft (citizenship) oder Einbürgerung (naturalisation) nicht, sofern die staatlichen Rechtsvorschriften nicht Angehörige eines bestimmten Staates diskriminieren. Die Einbürgerungspolitik kann und darf also gesteuert werden, jedoch ohne Diskriminierung von Personen aus bestimmten Staaten oder Regionen.171 Mit gutem Grund ist zu fragen, ob das Fehlen des Merkmals „Religion“ nicht die Schutz37 richtung des ICERD, alle Formen von rassischer Diskriminierung zu bekämpfen, verfehlt, zumal rassische Diskriminierungen gegenüber Muslim:innen und Jüd:innen virulent sind. In P. S. N. v. Dänemark172 war der Ausschuss der Meinung, dass die „Verbindung zwischen Rasse und Religion“ (interface of race and religion) in bestimmten Fallkonstellationen durchaus relevant sein könne und so „doppelte“173 Diskriminierungen dem Anwendungs167 Vgl. BayVerwGH, Urt. v. 24.11.2011, 4 N 11.1412. 168 Barskanmaz (Fn. 71), S. 200 f. 169 Auch bei der Verabschiedung der Rasserichtlinie wurde die Frage nach der Staatsangehörigkeit
kontrovers diskutiert, bei der zusätzlich der Grundsatz der Gleichbehandlung von Unionsbürgern zu berücksichtigen ist. Art. 3 Abs. 2 RL 2000/43/EG lautet: „Diese Richtlinie betrifft nicht unterschiedliche Behandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und berührt nicht die Vorschriften und Bedingungen für die Einreise von Staatsangehörigen dritter Staaten oder staatenlosen Personen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder deren Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet sowie eine Behandlung, die sich aus der Rechtsstellung von Staatsangehörigen dritter Staaten oder staatenlosen Personen ergibt“. 170 Wolfrum (Fn. 119), S. 223; auch CERD, General Recommendation No. 29 on Article 1, Paragraph 1, of the Convention (Descent) v. 1.11.2002, Rn. I. 2, bekräftigt, dass diese Vorschrift so ausgelegt werden muss, dass damit das Diskriminierungsverbot selbst nicht unterminiert wird. 171 Wolfrum (Fn. 119), S. 224. 172 CERD, Decision v. 8.8.2007, Communication No. 36/2006, P. S. N. v. Denmark, UN Doc. CERD/C/ 71/D/36/2006, Rn. 6.2 ff. 173 CERD, Decision v. 8.8.2007, Communication No. 36/2006, P. S. N. v. Denmark, UN Doc. CERD/C/ 71/D/36/2006, Rn. 6.3.; vgl. auch CERD, General Recommendation No. 32 (Fn. 139), Rn. 7 wo der Ausschuss auf die Intersektionalität zwischen den in Art. 1 Abs. 1 ICERD aufgelisteten Merkmalen und den Merkmalen Geschlecht und Religion verweist. Cengiz Barskanmaz
B. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft
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bereich des ICERD unterfallen könnten.174 Dafür muss diskriminierendes Verhalten dem Ausschuss zufolge aber über die religiöse Zugehörigkeit hinaus eines der fünf geschützten Merkmale in Art. 1 Abs. 1 ICERD berühren. In diesem Fall räumte der Ausschuss zwar den herabsetzenden Charakter der betreffenden Aussagen ein, verneinte jedoch eine Verletzung des ICERD, weil die Aussagen nur den Islam und den Koran betrafen und allgemein auf Muslim:innen gerichtet gewesen seien, ohne dabei auf eine bestimmte rassische, nationale oder ethnische Gruppe im Sinne des Art. 1 Abs. 1 ICERD abzuzielen. Die Argumentation des Ausschusses in P. S. N. v. Dänemark ist nicht stringent, insbesondere vor dem Hintergrund, dass im vorangegangen Fall Jüdische Gemeinde von Oslo u. a. v. Norwegen175 der Ausschuss hetzerische Äußerungen gegenüber Jüd:innen ohne Bedenken unter rassistische Hassrede im Sinne des ICERD subsumiert hat. In dem Fall machte Norwegen gerade geltend, dass die Jüdische Gemeinde lediglich eine religiöse Gruppe176 sei, weshalb sie nicht als „Opfer“ im Sinne des Art. 14 ICERD gelte und somit die Beschwerde unzulässig sei.177 Die Sprache wird im Merkmalskatalog des Art. 1 Abs. 4 ICERD ebenfalls nicht auf- 38 geführt. Somit ist sie streng genommen auch kein Bestandteil der Definition der rassischen Diskriminierung im Sinne der ICERD. Allerdings wurde bereits dargelegt, dass eine Ungleichbehandlung aufgrund der Sprache durchaus eine ethnische Diskriminierung begründen kann, insofern kann in bestimmten Fallkonstellationen das Merkmal der Sprache durch das Merkmal der ethnischen Herkunft erfasst sein.178 2. Weitere völkerrechtliche Grundlagen
Der Schutz vor rassischer Diskriminierung findet seinen ersten rechtlichen Niederschlag 39 in der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945179 (UN-Charta). Der UN-Charta folgte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948.180 Nach Art. 2 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung hat jeder Mensch Anspruch 174 CERD, Decision v. 8.8.2007, Communication No. 36/2006, P. S. N. v. Denmark, UN Doc. CERD/C/
71/D/36/2006, Rn. 6.4.
175 CERD, Decision v. 22.5.2005, Communication No. 30/2003, The Jewish Community of Oslo et al. v.
Norway, UN Doc. CERD/C/67/D/30/2003. 176 CERD, Decision v. 22.5.2005, Communication No. 30/2003, The Jewish Community of Oslo et al. v. Norway, UN Doc. CERD/C/67/D/30/2003, Rn. 4.3. In diesem Fall ging es um die Frage, ob die Jüdische Gemeinde beschwerdebefugt im Sinne der ICERD war. Der Ausschuss bejahte diese Frage mit der Begründung, dass im Hinblick auf die Aktivitäten und Ziele der Jüdischen Gemeinde sowie die ihr angehörenden Personen diese als mögliche Opfer im Sinne des Art. 4 ICERD gelten; bekräftigt in CERD, Decision v. 22. 2. 2008, Communication No. 38/2006, Zentralrat Deutscher Sinti und Roma et al. v. Germany, UN Doc. CERD/C/72/D/38/2006, Rn. 7.2. 177 CERD, Decision v. 22.5.2005, Communication No. 30/2003, The Jewish Community of Oslo et al. v. Norway, UN Doc. CERD/C/67/D/30/2003, Rn. 7.3. 178 So Thornberry (Fn. 119), S. 137, demzufolge die Anknüpfung an die Sprache durchaus ein Indikator für rassische Diskriminierung sein kann. 179 In Kraft getreten am 24.10.1945, Beitritt der Bundesrepublik Deutschland am 6.6.1973, BGBl. 1973 II, S. 430. 180 UN-Generalversammlung, Resolution v. 10.12.1948, UN-Doc. A/RES/217(III). Cengiz Barskanmaz
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
auf die in der Erklärung aufgenommenen Rechte und Freiheiten ohne Unterschied aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Eigentum und Geburt. Wenngleich der Erklärung kein verbindlicher Charakter zukommt, so gilt sie doch als Gründungsdokument der späteren verbindlichen Menschenrechte sowie als Bezugspunkt181 für Regelungen zum Diskriminierungsverbot. 40 Nach dem Vorbild der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthalten der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte182 (UN-Zivilpakt, IPbpR) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte183 (UN-Sozialpakt, IPwskR), beide vom 16. Dezember 1966, Schutzvorschriften gegen rassische Diskriminierung. Art. 2 Abs. 1 IPbpR und Art. 2 Abs. 2 IPwskR enthalten Rasse, Hautfarbe, Religion und nationale Herkunft als rassismusrelevante Kategorien. Ethnische Herkunft ist nicht als eigene Kategorie normiert. Der UN-Zivilpakt enthält in Art. 26 IPbpR184 zusätzlich ein eigenständiges bzw. allgemeines Diskriminierungsverbot für dieselbe Liste von Diskriminierungsmerkmalen wie in Art. 2 IPbpR.185 Im Rahmen des Art. 26 IPbpR sind zudem positive Maßnahmen zur Beseitigung von faktischer Diskriminierung zulässig.186 Art. 20 Abs. 2 IPbpR187 enthält eine Schutzpflicht zur Bekämpfung von rassistischer Hasskriminalität. Danach soll jede Befürwortung von nationalem, rassischem und religiösem Hass, der zu Diskriminierung, Feindseligkeit und Gewalt aufstachelt, verboten werden. 41 Die ILO-Konvention Nr. 111 vom 25. Juni 1958188 ist ein weiteres relevantes Menschenrechtsdokument zum Schutz vor rassischer Diskriminierung, das als Diskriminierungskategorien Rasse, Hautfarbe und nationale Abstammung enthält. Daneben definiert die Genozid-Konvention von 1948189 in Art. 2 Völkermord als Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine „nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe“190 als 181 Siehe nur Erwägungsgrund Nr. 3 der Richtlinie 2000/43/EG. 182 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1533. 183 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II,
S. 1569.
184 Art. 26 IPbpR lautet: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung
Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In dieser Hinsicht hat das Gesetz jede Diskriminierung zu verbieten und allen Menschen gegen jede Diskriminierung, wie insbesondere wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status, gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten“. 185 Dazu statt vieler Brinkmeier, Der allgemeine völkerrechtliche Diskriminierungsschutz, insbesondere nach Art. 26 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, 2002. 186 CCPR, General Comment No. 18: Non-Discrimination v. 10.11.1989, UN Doc. HRI/GEN/1/Rev. 4, Rn. 10. 187 Siehe auch CCPR, General Comment No. 11: Prohibition of propaganda for war and inciting national, racial or religious hatred (Art. 20) v. 29.7.1983, UN Doc. CCPR/C/21/Rev. 1, Rn. 2. 188 BGBl. 1961 II, S. 97. 189 UN-Generalversammlung, Resolution v. 9.12.1948, UN Doc. A/Res/260 A (III), BGBl. 1954 II, S. 730. 190 Für eine Rechtsprechungsanalyse siehe Szpak, National, Ethnic, Racial, and Religious Groups Protected against Genocide in the Jurisprudence of the ad hoc International Criminal Tribunals, European Journal of International Law 23 (2012), S. 155. Cengiz Barskanmaz
B. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft
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solche ganz oder teilweise zu zerstören.191 Ferner enthält die Konvention gegen die Diskriminierung im Unterrichtswesen vom 14. Dezember 1960192 ein Diskriminierungsverbot, welches merklich im zeitlichen Kontext der Desegregierung in den USA und der Dekolonisierung verfasst wurde. Die Konvention über die Unterdrückung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid vom 30. November 1973193 sowie die Konvention gegen Apartheid im Sport vom 10. Dezember 1985194 enthalten Vorschriften, die sich auf spezifische Formen von rassischer Diskriminierung beziehen. Das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951195 (Genfer Flüchtlingskonvention) und das Übereinkommen über den Status von Staatenlosen vom 28. September 1954196, beides Instrumente des subsidiären Menschenrechtsschutzes, bieten jeweils in Art. 3 Schutz vor rassischer Diskriminierung. Zudem enthalten einige spezielle Menschenrechtsübereinkommen Diskriminierungsverbote. In der Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979197 (Frauenrechtskonvention, CEDAW) beschränkt sich dies auf Abs. 10 der Präambel.198 Des Weiteren ist auf das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989199 (Kinderrechtskonvention) hinzuweisen, das in Art. 2 die Staaten dazu verpflichtet, die Kinderrechte ohne Diskriminierung des Kindes oder der Eltern unter anderem aufgrund der Rasse, Hautfarbe, nationalen oder ethnischen Herkunft zu gewährleisten. Auch das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006200 (Behindertenrechtskonvention) enthält einen Bezug zu rassischer Diskriminierung, vgl. lit. p der Präambel sowie Art. 5 Abs. 2. 3. Europäische Menschenrechtskonvention
Im Hinblick auf rassische Diskriminierung stellt die EMRK das wichtigste menschen- 42 rechtliche regionale Regelungswerk des Europarats dar.201 Art. 14 EMRK schreibt vor, dass „[d]er Genuß der in [der] Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ohne DiskriGrundlegend dazu Quigley, The Genocide Convention, 2006. BGBl. 1968 II, S. 385. BGBl. 1973 II, S. 1570. BGBl. 1985 II, S. 648. BGBl. 1953 II, S. 560. BGBl. 1976 II, S. 474. BGBl. 1985 II, S. 647. Hier wird darauf hingewiesen, dass „die Beseitigung der Apartheid, jeder Form von Rassismus, rassischer Diskriminierung, Kolonialismus, Neokolonialismus, Aggression, ausländischer Besetzung und Fremdherrschaft sowie von Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten für die volle Ausübung der Rechte von Mann und Frau unerlässlich ist“. 199 BGBl. 1992 II, S. 21. 200 BGBl. 2008 II, S. 35. 201 Siehe auch Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1.2.1995, BGBl. 1997 II, S. 1408, in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft seit dem 1.2.1998. Ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse ist auch in der revidierten Europäischen Sozialcharta v. 3.5.1996 (ETS Nr. 163) enthalten, die die Bundesrepublik 2021 ratifiziert hat (BGBl. 2020 II, S. 900). Die ursprüngliche Europäische Sozialcharta v. 18.10.1961 hatte noch kein entsprechendes Diskriminierungsverbot enthalten. Siehe auch Art. 3 des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 16. Mai 2005, BGBl. 2012 II, S. 1107, in Kraft getreten am 1.2.2008. 191 192 193 194 195 196 197 198
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
minierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten [ist]“. Bereits aus dem Wortlaut des Art. 14 EMRK geht hervor, dass das Diskriminierungsverbot lediglich beim Genuss der in der Konvention anerkannten Rechte und Grundfreiheiten gewährleistet ist. Insofern gilt das Diskriminierungsverbot grundsätzlich akzessorisch.202 Nur in Verbindung mit einem oder mehreren Konventionsrechten kann das Diskriminierungsverbot gerügt werden, wobei der EGMR den akzessorischen Charakter des Diskriminierungsverbots dahingehend abgeschwächt hat, dass die Prüfung des Art. 14 EMRK nicht notwendigerweise die Verletzung eines Konventionsrechts voraussetzt. Es ist vielmehr ausreichend, wenn der Sachverhalt den Anwendungsbereich einer oder mehrerer Konventionsbestimmungen berührt.203 43 Die Merkmalliste des Art. 14 EMRK enthält neben Rasse, Hautfarbe, nationaler Herkunft, Sprache, Religion die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit. Mit dem Merkmal des „sonstigen Status“ wird zudem ersichtlich, dass es sich nicht um eine erschöpfende Liste handelt, so dass die Liste ohne Schwierigkeiten um das Kriterium der ethnischen Herkunft ergänzt werden kann. Die ethnische Herkunft beschreibt der EGMR in seinem Timishev-Urteil204 zum ersten Mal205 zusammen mit Rasse folgendermaßen: „Ethnicity and race are related and overlapping concepts. Whereas the notion of race is rooted in the idea of biological classification of human beings into subspecies according to morphological features such as skin colour or facial characteristics, ethnicity has its origin in the idea of societal groups marked by common nationality, tribal affiliation, religious faith, shared language, or cultural and traditional origins and backgrounds.“206 44 Statt einer Definition ist hier der Versuch zu erkennen, einen konzeptionellen Umriss bzw.
eine Art von Genealogie der Begriffe Rasse und ethnische Herkunft anzubieten.207 Demnach finde der Begriff der Rasse seinen Ursprung in der Vorstellung der biologischen Klas-
202 Im Gegensatz zum akzessorischen Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK enthält Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls (ZP) ein selbständiges Diskriminierungsverbot, das jedoch von Deutschland noch nicht ratifiziert ist; dazu Ağırbaşlı, Vom akzessorischen Diskriminierungsverbot zum allgemeinen Gleichheitsgebot, 2007. 203 Ständige Rechtsprechung: EGMR, Urt. v. 27.10.1975, Beschwerde-Nr. 4464/70, Nationale Belgische Polizeigewerkschaften v. Belgien, Rn. 45; EGMR, Urt. v. 28.5.1985, Beschwerde-Nr. 9214/80, Abdulaziz u. a. v. Vereinigtes Königreich, Rn. 71; EGMR, Urt. v. 22.12.2009, Beschwerde-Nr. 27996/06, 34836/06, Sejdić und Finci v. Bosnien und Herzegowina, Rn. 39; EGMR, Urt. v. 28.8.2012, Beschwerde-Nr. 17153/11, Vuckovic u. a. v. Serbien, Rn. 80; dazu auch Sauer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 14 Rn. 16, 18. 204 EGMR, Urt. v. 13.12.2005, Beschwerde-Nr. 55762/00, 55974/00, Timishev u. a. v. Russland. Hier befand der Gerichtshof, dass die behördliche Zugangsverweigerung für einen tschetschenischen Anwalt in das Gebiet Kabardino-Balkarien eine Verletzung des Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 2 4. ZP darstellt: Die Kontrollmaßnahme sei eine unzulässige Einschränkung der Bewegungsfreiheit aufgrund der Ethnizität. 205 Eine Definition von Rasse und Hautfarbe fehlt dagegen im ersten Fall mit einem Bezug zu Diskriminierung; EKMR, Entsch. v. 14.12.1973, Beschwerde-Nr. 4403/70, Ostafrikanische Asiaten/Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1994, S. 386. 206 EGMR, Urt. v. 13.12.2005, Beschwerde-Nr. 55762/00, Timishev u. a. v. Russland, Rn. 55. 207 Eingehend Barskanmaz (Fn. 71), S. 260 ff.
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B. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft
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sifikation von Menschen. Der Ursprung der Ethnizität liege dagegen in der Vorstellung von kulturell-historischen gesellschaftlichen Gruppen. Es fällt auf, dass der EGMR es nicht für notwendig hält, in seiner ersten Beschreibung des Begriffs der Rasse zunächst festzustellen, dass die Existenz und Überlegenheit von menschlichen Rassen im Hinblick auf den Erkenntnisstand der Humangenetik zu verwerfen sei. Entgegen verbreiteter Verwendung spricht der Gerichtshof über „Ethnizität“ statt „ethnische Herkunft“. In taxonomischer Hinsicht wird hier zudem Ethnizität eingeführt, ohne sich damit von Rasse abzuwenden. Ethnizität wird damit nicht als Ersatz für Rasse verstanden, sondern treffend als ein konstrukthaftes Konzept, das sehr eng mit Rasse verbunden ist und mit Rasse auch Überschneidungen aufweist. Zwar stellt der EGMR beide Begriffe konzeptionell zunächst nebeneinander; er gibt dieses horizontale Verhältnis auf dogmatischer Ebene aber zugunsten eines weiten Rassebegriffs auf, indem er im nächsten Schritt feststellt, dass „[e] ine Diskriminierung aufgrund der Ethnizität einer Person […] eine Form von rassischer Diskriminierung“208 darstellt. Hinsichtlich des Wortlauts ist diese Subsumtion schlüssig und findet den Anschluss an die ICERD-Definition.209 Der EGMR hätte allerdings auch auf einen Bericht der damaligen Europäischen Kommission für Menschenrechte in der Rechtsache Abdulaziz u. a. v. Vereinigtes Königreich210 zurückgreifen können, in dem bereits darauf verwiesen wurde, dass rassische Diskriminierung auch Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe sowie der nationalen oder ethnischen Herkunft einschließen. Ferner scheint Hautfarbe auf konzeptioneller Ebene als ein Unterbegriff von Rasse zu fungieren, während sie jedoch wegen der Auflistung in Art. 14 EMRK ein weiteres Diskriminierungsmerkmal ist. Eine systematische Auslegung des Art. 14 EMRK schließt aber aus, dass Hautfarbe schlicht unter Rasse subsumiert werden kann. Die Frage, wie rassische Diskriminierung konzeptionell zu erfassen ist, hat der Ge- 45 richtshof in seinem Grundsatzurteil D. H. u. a. (2007) zu Segregation an Schulen zusammenfassend211 wie folgt beantwortet: „Racial discrimination is a particularly invidious kind of discrimination and, in view of its perilous consequences, requires from the authorities special vigilance and a vigorous reaction. It is for this reason that the authorities must use all available means to combat racism, thereby reinforcing democracy’s vision of a society in which diversity is not perceived as a threat but as a source of enrichment […]. The Court has also held that no difference in treatment which is based exclusively or to a decisive extent on a person’s ethnic origin is capable of being objectively justified in a contemporary democratic society built on the principles of pluralism and respect for different cultures […].“212
Für den Straßburger Gerichtshof stellt die rassische Diskriminierung somit eine beson- 46 ders bösartige Form von Diskriminierung mit bedrohlichen Folgen dar.213 Es obliege den 208 EGMR, Urt. v. 13.12.2005, Beschwerde-Nr. 55762/00, Timishev u. a. v. Russland, Rn. 56. 209 Vgl. EGMR, Urt. v. 13.12.2005, Beschwerde-Nr. 55762/00, Timishev u. a. v. Russland, Rn. 33. 210 EKMR, Bericht v. 12.5.1983, Beschwerde-Nr. 9214/80, Abdulaziz u. a. v. Vereinigtes Königreich;
EGMR, Urt. v. 28.5.1985, Beschwerde-Nr. 9214/80, Abdulaziz u. a. v. Vereinigtes Königreich.
211 Vgl. bereits EGMR, Urt. v. 6.7.2005, Beschwerde-Nr. 43577/98, Nachova u. a. v. Bulgarien, Rn. 145;
EGMR, Urt. v. 13.12.2005, Beschwerde-Nr. 55762/00, Timishev u. a. v. Russland, Rn. 56. 212 EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik, Rn. 176. 213 In EGMR, Urt. v. 9.2.2012, Beschwerde-Nr. 1813/07, Vejdeland u. a. v. Schweden, Rn. 55 bekräftigt der Cengiz Barskanmaz
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
Vertragsstaaten, der rassischen Diskriminierung mit besonderer Wachsamkeit entgegenzutreten und diese Diskriminierungsform mit allen verfügbaren Mitteln zu bekämpfen. Diese Pflicht beruhe auf der Vorannahme, dass Vielfalt in einer demokratischen Gesellschaft keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung darstelle. Dementsprechend sei es in einer pluralistischen Gesellschaft, die unterschiedliche Kulturen achtet, kaum vorstellbar, eine ethnische Ungleichbehandlung überhaupt rechtfertigen zu können. Dieser demokratietheoretisch214 hergeleitete Ausschluss einer Rechtfertigung von rassischer Diskriminierung gilt nicht nur für die unmittelbare, sondern erfasst auch die mittelbare Diskriminierung, wie dies in D. H. u. a. der Fall war.215 Zu erwähnen ist schließlich, dass das Diskriminierungsverbot eine materielle und eine prozedurale Dimension – mit jeweils unterschiedlichen Beweisregeln – aufweist.216 Diese vor allem im strafrechtlichen Bereich relevante Differenzierung hat die Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs insofern geprägt, als der Gerichtshof bis heute zahlenmäßig nur in den wenigsten Fällen eine Verletzung des materiellen Diskriminierungsverbots angenommen hat und sich in der Mehrheit der Fälle aufgrund der dünnen Beweislage auf eine verfahrensmäßige Verletzung beschränkt.217 Die verfahrensrechtliche Schutzpflicht beinhaltet, dass in Fällen, in denen ein starkes Indiz für rassische Diskriminierung besteht, die zuständigen nationalen Behörden alle erforderlichen Schritte zu unternehmen haben, um mögliche diskriminierende Beweggründe gründlich zu prüfen. 4. Unionales Antidiskriminierungsrecht 47 Die Europäische Kommission hat bereits Mitte der 1990er Jahre klargestellt, dass „[d]er
Kampf gegen Rassismus […] ein konstitutives Element der europäischen Identität“218 darstelle. Rassismus widerspricht in diesem Sinne dem Selbstbild der Europäischen Union; seine Bekämpfung ist Aufgabe aller Mitgliedstaaten.219 Das Unionsrecht schließt sowohl primär- als auch sekundärrechtliche Vorschriften zum Schutz gegen rassische DisGerichtshof, dass die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung genauso ernst zu nehmen ist wie die Diskriminierung aufgrund von Rasse, Herkunft oder Hautfarbe („discrimination based on sexual orientation is as serious as discrimination based on ‚race, origin or colour‘“). 214 Für eine demokratietheoretische Begründung des Antidiskriminierungsrechts siehe Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021. 215 Allerdings relativiert die Große Kammer in Oršuš u. a. v. Kroatien (EGMR, Urt. v. 16.3.2010, Beschwerde-Nr. 15766/03) den Ausschluss der Rechtfertigung dahingehend, dass für eine Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung nur schwerwiegende Gründe (weighty reasons) in Betracht kämen (Rn. 149). 216 Grundsätzlich EGMR, Urt. v. 6.7.2005, Beschwerde-Nr. 43577/98, Nachova u. a. v. Bulgarien, kritisch dazu Rubio-Marín/Möschel, Anti-Discrimination Exceptionalism: Racist Violence before the ECtHR and the Holocaust Prism, European Journal of International Law 26 (2015), S. 881. 217 Ausführlich Barskanmaz (Fn. 71), S. 293 ff. 218 Europäische Kommission, Mitteilung v. 13.12.1995, KOM (1995), 653 endg., 4. 219 Grundlegend dazu Bell, Racism and Equality in the European Union, 2008; Althoff, Die Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen der Rasse und der ethnischen Herkunft, 2006; für einen vergleichenden Ansatz zwischen Großbritannien und Deutschland, siehe Solanke, Making Anti-Racial Discrimination Law: A Comparative History of Social Action and Anti-Racial Discrimination Law, 2009. Cengiz Barskanmaz
B. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft
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kriminierung und Hassrede ein. Insbesondere die Richtlinie 2000/43/EG (Rasserichtlinie) und der Rahmenbeschluss 2008/913/JI220 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben die deutsche Rechtsentwicklung in diesem Bereich vorangetrieben. Die Rasserichtlinie wurde durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)221 in das nationale Recht umgesetzt; die Vorgaben des Rahmenbeschlusses 2008/913/JI wurden durch eine Änderung des § 130 StGB erfüllt. Die bedeutendste antidiskriminierungsrechtliche Vorschrift der Grundrechtecharta, 48 Art. 21 Abs. 1 GRCh, enthält 18 Diskriminierungsmerkmale und geht damit weit über die in den Verträgen enthaltenen Listen hinaus. Als rassismusrelevante Diskriminierungsmerkmale kommen mehrere dieser Merkmale in Betracht: Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, ethnische Herkunft und Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit. Für die Merkmale Geschlecht und Behinderung – nicht jedoch für rassismusrelevante Merkmale – sieht die Grundrechtecharta zudem die Möglichkeit vor, Fördermaßnahmen zu implementieren oder beizubehalten (Art. 23 und Art. 26 GRCh). Außerdem kann Art. 22 GRCh für die Bekämpfung von Rassismus in der Europäischen Union bedeutsam sein: „Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.“ Dieser im objektiven Recht verankerte Grundsatz222 soll die national-kulturelle Heterogenität bzw. die ethnischen und religiösen Minderheiten innerhalb der Europäischen Union in den Blick nehmen.223 Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang das kulturelle Erbe nationaler und ethnischer Minderheiten, wie es die Sinti und Roma224 sowie das europäische Judentum sind. Die Rasserichtlinie225 enthält keine Definition der Merkmale „Rasse“ und „ethnische 49 Herkunft“.226 Erwägungsgrund Nr. 6 stellt klar, dass die Europäische Union Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, zurückweist; die Ver wendung des Begriffs „Rasse“ in dieser Richtlinie impliziert daher nicht die Akzeptanz solcher Theorien. Für die Auslegung von Rasse und ethnischer Herkunft bieten der explizite Verweis auf das ICERD und die EMRK im Erwägungsgrund Nr. 3 Anhaltspunkte. Somit wird es für die unionsrechtliche Auslegung von Rasse und ethnischer Herkunft möglich, sich an den breit angelegten Konzepten von Rasse und ethnischer Herkunft 220 Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und
Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit v. 28.11.2008, ABl. 2008 L 328/55.
221 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer
Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. 222 Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt (Hrsg.), GRCh, 5. Aufl. 2019, Art. 22 Rn. 16 f. 223 Vgl. Hölscheidt (Fn. 222), Art. 22 Rn. 8–12; Althoff (Fn. 219), S. 132; dafür spricht auch Art. 167 Abs. 1 AEUV, nach dem die Union einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Her vorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes leistet. Auch Art. 3 Abs. 3 UAbs. 4 EUV enthält eine ähnliche Vorschrift, nach der die EU den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt wahrt und für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas sorgt. 224 Dazu Heun, Minderheitenschutz der Roma in der Europäischen Union, 2011. 225 Einen Überblick über die Rasserichtlinie bietet Howard, The EU Race Directive, 2010. 226 Ausführlich dazu Farkas, The meaning of racial or ethnic origin in EU law: between stereotypes and identities, 2017. Cengiz Barskanmaz
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
im ICERD sowie an der etablierten Rechtsprechung des EGMR zu orientieren. Überdies ist festzuhalten, dass bei der Auslegung etwa des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes das nationale Verständnis von Rasse nicht ohne Weiteres herangezogen werden kann, denn maßgeblich ist der autonome europarechtliche Begriff der Rasse.227 Neben der unmittelbaren (Art. 2 Abs. 1 GRCh) und mittelbaren Diskriminierung (Art. 2 Abs. 2 GRCh) versteht die Rasserichtlinie auch Belästigungen, d. h. unerwünschte Verhaltensweisen, die die Würde einer Person verletzen bzw. ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld schaffen, als Diskriminierung (Art. 2 Abs. 3 GRCh). Diese Vorschrift bietet somit starken Schutz vor alltäglichen rassistischen Praxen, zum Beispiel im Arbeitsleben.228 Die Große Kammer des EuGH hat in ihrem Grundsatzurteil CHEZ Razpredelenie Bul50 garia AD229 auf die Rechtsprechung des EGMR verweisend ethnische Gruppen als „gesellschaftliche Gruppen, die insbesondere durch eine Gemeinsamkeit der Staatsangehörigkeit, Religion, Sprache, kulturelle und traditionelle Herkunft und Lebensumgebung gekennzeichnet sind“230 beschrieben. In einem Vorabentscheidungsverfahren war darüber zu urteilen, ob eine Diskriminierung vorliegt, wenn der Stromlieferant in einem Stadtviertel mit überwiegend Roma-Bevölkerung zwecks Manipulationsbekämpfung die Stromzähler in sechs bis sieben Metern Höhe anbringt. Hier war die Frage nicht, ob bulgarische Staatsangehörige mit Roma-Herkunft vom Merkmal der „ethnischen Herkunft“ erfasst werden, da diese nach bulgarischem Recht zweifellos als ethnische Minderheit gelten.231 Die entscheidende Frage lautete vielmehr, ob die Klägerin, die aus dem überwiegend von Personen mit Roma-Herkunft bewohnten Stadtteil kommt, sich auf das Diskriminierungsverbot aufgrund der ethnischen Herkunft berufen kann, obwohl sie selbst keine Roma-Herkunft aufweist. Die Große Kammer bejahte diese Frage und begründete dies damit, dass die Rasserichtlinie nicht eng ausgelegt werden dürfe, da sie Schutz vor Diskriminierung für „alle Personen“ gewähren möchte, sodass der Schutz auch für Personen zu gelten habe, die „zwar nicht selbst der betreffenden Rasse oder Ethnie angehören, aber gleichwohl aus einem dieser Gründe weniger günstig behandelt werden oder in besonderer Weise benachteiligt werden“232. Im vorliegenden Fall war gerade die Roma-Herkunft des größten Teils der Einwohner:innen des Stadtviertels ausschlaggebend für die benachteiligende Maßnahme.233 Dieser Fall veranschaulicht die sozialkonstruierte Bedingtheit von „Ethnizität“ 227 Feldmann/Hoffmann/Keilhauer/Liebold (Fn. 4), S. 31 f. 228 Der im Rahmen der Rasserichtlinie bisher einzige verhandelte Fall zur Belästigung ist EuG, Urt. v.
16.3.2004, Rs. T-11/03, Afari: Die Klägerin, eine schwarze Mitarbeiterin der Europäischen Zentralbank, hatte einen Mitarbeiter der rassischen Belästigung beschuldigt. Jedoch kam nach Angaben der Zentralbank ein Gutachten zu dem Ergebnis, dass aus den Umständen keine rassische Diskriminierung abgeleitet werden konnte. Der Klägerin wurden allerdings wegen übler Nachrede (defamation) Disziplinarmaßnahmen auferlegt, weil sie einen Mitarbeiter zu Unrecht „Rassist“ genannt habe (Rn. 144). 229 EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14, CHEZ Razpredelenie Bulgarie AD. 230 EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14, CHEZ Razpredelenie Bulgarie AD. 231 EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14, CHEZ Razpredelenie Bulgarie AD, Rn. 30. 232 EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14, CHEZ Razpredelenie Bulgarie AD, Rn. 56. 233 EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14, CHEZ Razpredelenie Bulgarie AD, Rn. 59. Cengiz Barskanmaz
B. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft
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sehr gut. Hier wird nicht (nur) eine bestimmte Gruppe ethnisch konstruiert, sondern ein ganzes Viertel, in dem alle Einwohner:innen durch eine ethnisch motivierte Maßnahme gleichermaßen benachteiligt werden. In der Rechtssache Feryn234 entschied der Gerichtshof, dass die Aussage eines Arbeit- 51 gebers, er werde marokkanische Handwerker wegen der Vorbehalte seiner Kund:innen nicht einstellen, auch ohne ein konkret „identifizierbares Opfer“ eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Rasse bzw. der ethnischen Herkunft im Sinne von Art. 2 Abs. 2 lit. a GRCh darstellt. Solche Äußerungen hielten bestimmte Bewerber:innen davon ab, ihre Bewerbungen einzureichen, und seien daher geeignet, ihren Zugang zum Arbeitsmarkt zu behindern, so der Gerichtshof.235 Diese bahnbrechende Entscheidung des Gerichtshofs trägt die Handschrift des Generalanwalts Poiares Maduro, der der oft unterschätzten Wirkung von diskriminierenden Sprachakten in seinen Schlussanträgen zentrale Bedeutung zugemessen hatte.236 Angesichts der konstitutiven Rolle der Sprache bei alltäglichen rassistischen Beleidigungen und Erniedrigungen ist dieser sprechakttheoretischen Konturierung des Diskriminierungsverbots zuzustimmen. In seinen späteren Entscheidungen zu Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung (nach Richtlinie 2000/78/EG) hat der EuGH237 auch eine Diskriminierung angenommen, wenn – anders als in Feryn und Asociaţia Accept238 – kein konkretes Einstellungsverfahren vorliegt oder anvisiert ist. Im Lichte dieser Rechtsprechung stellt sich also nicht nur eine öffentliche diskriminierende Aussage (in einem konkreten Bewerbungsverfahren) als eine diskriminierende Handlung dar, sondern bereits die öffentlich bekundete Absicht zur Diskriminierung.239 Weitaus weniger überzeugend war hingegen die restriktive Auslegung des Diskrimi- 52 nierungsverbots in der Rechtssache Jyske Finans240. Hier urteilte der Gerichtshof, dass die Praxis eines Kreditinstituts, wonach einem Kunden, in dessen Führerschein ein anderes Geburtsland als ein Mitgliedstaat der Union oder der EFTA (Europäische Freihandelsassoziation) angegeben ist, das Erfordernis einer zusätzlichen Identifizierung durch Vorlage einer Kopie seines Reisepasses oder seiner Aufenthaltserlaubnis auferlegt wird, keine 234 EuGH, Urt. v. 10.7.2008, Rs. C-54/07, Feryn, Rn. 25; eingehend Lindner, Die Ausweitung des Diskriminierungsschutzes durch den EuGH, NJW 2008, S. 2750. 235 EuGH, Urt. v. 10.7.2008, Rs. C-54/07, Feryn, Rn. 28. 236 Vgl. EuGH, Schlussanträge des GA Poiares Maduro v. 12.3.2008, Rs. C-54/07, Feryn, Rn. 16. 237 EuGH, Urt. v. 23.4.2020, Rs. C-507/18, NH. 238 EuGH, Urt. v. 25.4.2013, Rs. C-81/12, Asociaţia Accept. 239 Kritisch dazu Payandeh, Beschäftigungsbezogene diskriminierende Äußerungen zwischen Diskriminierungsverbot und Meinungsfreiheit, EuZA 2020, S. 464, der dem EuGH vorwirft, mit dieser weitgehenden Entscheidung mögliche Kollateralschäden für die Meinungsfreiheit außer Acht gelassen zu haben. 240 EuGH, Urt. v. 6.4.2017, Rs. C‐668/15, Jyske Finans A/S v. Ligebehandlingsnævnet; siehe auch die befremdlichen Ausführungen zu Rasse in den Schlussanträgen des Generalanwalts Nils Wahl (seit Oktober 2019 Richter am EuGH), Rn. 31: „Um Rassismus verhindern und bekämpfen zu können, muss zunächst der Begriff der Rasse selbst definiert werden. Dies ist in modernen Gesellschaften jedoch zunehmend inakzeptabel geworden. Dementsprechend ist das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse im Lauf der Zeit vielleicht gegenüber der weniger offensichtlichen und greifbaren Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft in den Hintergrund gerückt, bei der es sich, wie unten in Nr. 35 dargestellt, um eine Form der Diskriminierung aufgrund der Rasse handelt“.
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
(un)mittelbare ethnische Diskriminierung darstellt.241 Der Kläger war dänischer Staatsangehöriger bosnischer Herkunft mit ausländischem Geburtsort. Tatsächlich vermag – wie der Gerichtshof betont – der Geburtsort die ethnische Herkunft einer Person nicht zwangsläufig zu bedingen, und zurecht betont der Gerichtshof, dass die ethnische Herkunft aus mehreren objektiven und subjektiven Faktoren bestehe.242 Allerdings unterlässt es der Gerichtshof zu prüfen, ob diese Maßnahme nicht zu Stigmatisierungen von Kund:innen mit Migrationshintergrund führt. Der Gerichtshof verengt stattdessen den Blick auf die Frage, ob der Geburtsort der ethnischen Herkunft zugeordnet werden könne und der Kläger daher einer ethnischen Gruppe zuzuordnen sei.243 Dem ist zu entgegnen, dass die Feststellung der Diskriminierung keiner Zuordnung zu einer ethnischen oder auch rassischen Gruppe bedarf, sondern es auf die stigmatisierende Rassialisierung bzw. Ethnisierung der Maßnahme ankommt, die einer Diskriminierung zugrunde liegt.244 Eine solche Stigmatisierung liegt hier vor, weil die auf den Geburtsort gestützte Ungleichbehandlung Personen mit außereuropäischem Geburtstort in den Verdacht von Geldwäsche und Terrorismusunterstützung rückt. Die Maßnahme verfolgte das legitime Ziel der Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusunterstützung.245 Daher liegt hier eine Diskriminierung aufgrund der nationalen Herkunft vor, weil zwischen dänischen246 Staatsangehörigen mit und ohne dänischen Geburtsort unterschieden wird.247 Die Anknüpfung an die ethnisch bosnische Herkunft des Klägers, die er selbst nicht beeinflussen kann – die also objektiv bestimmt ist – entfaltet hier durchaus eine diskriminierende Wirkung, weshalb eine nicht zu 241 EuGH, Urt. v. 6.4.2017, Rs. C-668/15, Jyske Finans A/S v. Ligebehandlingsnævne, Rn. 36 f.; kritisch
Atrey, Race discrimination in EU Law after Jyske Finans, Common Market Law Review 55 (2018), S. 625; siehe auch das spätere Urteil EuGH, Urt. v. 15.11.2018, Rs. C-457/17, Heiko Jonny Maniero v. Studienstiftung des deutschen Volkes e. V. 242 EuGH, Urt. v. 6.4.2017, Rs. C‐668/15, Jyske Finans A/S v. Ligebehandlingsnævne, Rn. 17. 243 Zustimmend Lantschner, in: Angst/Lantschner (Hrsg.), ICERD, 2020, EU-Instrumente Rn. 17. 244 EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14, CHEZ Razpredelenie Bulgarie AD, Rn. 84. 245 Vgl. Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusbekämpfung v. 26.10.2005, ABl. 2005 L 309/15. 246 Dänemark wurde bereits in einem anderen Fall vom EGMR dafür verurteilt, dass dänische Vorschriften zum Ehegattennachzug mit ähnlich diskriminierenden Kriterien arbeiteten. Nach den einschlägigen ausländerrechtlichen Vorschriften war für binationale Ehen nur dann ein Familiennachzug nach Dänemark gestattet, wenn die Verbundenheit des neuen Ehepaars (ag gregate tie) zu Dänemark stärker war als zu jedem anderen Land. Diese Voraussetzung entfiel, wenn der dänische Ehegatte oder die dänische Ehegattin bereits 28 Jahre die dänische Staatsangehörigkeit besaß. Für später eingebürgerte dänische Staatsangehörige war es kaum möglich, im Ausland zu heiraten und in Dänemark ein Familienleben zu führen. Der EGMR befand, dass die Verweigerung eines dänischen Aufenthaltstitels für eine Ghanaerin, die mit einem Mann togolesischer Herkunft verheiratet war, der aber erst seit zwei Jahren die dänische Staatsangehörigkeit besaß, eine nicht zu rechtfertigende mittelbare Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft darstellte, weil die Regel in der Praxis mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine überwiegende Mehrzahl von Betroffenen „nicht-dänischer oder ausländischer ethnischer Herkunft“ traf; EGMR, Urt. v. 24.5.2016, Beschwerde-Nr. 38590/10, Biao v. Dänemark, Rn. 112; Urteilsbesprechung Nuñez, The ECtHR’s Judgment in Biao v. Denmark: Non-Discrimination Among Nationals and Family Reunification as Converging European Standards, Maastricht Journal of European and Comparative Law 23 (2016), S. 865. 247 Siehe auch Farkas, Throwing the Babies out with the Bathwater: the CJEU, Xenophobia and Equality Bodies after Jyske Finans, European Equality Law Review 1 (2018), S. 20 (22 f.). Cengiz Barskanmaz
B. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft
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rechtfertigende mittelbare Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft im Sinne der Rasserichtlinie vorliegt.248 Ein weiteres nicht zielführendes Judiz zeigt der EuGH in der Entscheidung im Fall 53 Land Oberösterreich.249 So sieht der Gerichtshof keine mittelbare Diskriminierung, wenn Staatsangehörigen mit der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten die Gewährung von Wohnbeihilfe wegen der Nichterfüllung von grundlegenden Deutschkenntnissen verwehrt wird. Eine mittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 2 RL 2000/43/EG könne nur vorliegen, wenn eine Maßnahme eine bestimmte ethnische Gruppe benachteilige.250 Da jedoch die österreichische Regelung, die das Ziel der Integration durch Spracherwerb verfolgt, unterschiedslos für alle Drittstaatsangehörigen gelte, finde die Richtlinie, die in Art. 3 Abs. 2 RL 2000/43/EG eine Ausnahme für Ungleichbehandlungen von Drittstaatsangehörigen vorsieht, keine Anwendung. Diese restriktive Auslegung des Art. 2 Abs. 2 Nr. 2 der Rasserichtlinie kann in zweifacher Hinsicht nicht überzeugen. Zum einen ist das Abstellen auf die Benachteiligung einer bestimmten rassischen oder ethnischen Gruppe für die Feststellung einer mittelbaren Diskriminierung eine zweckwidrige Verengung des Konzepts, auch wenn nach dem Wortlaut die mittelbar diskriminierende Maßnahme „Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besondere Weise“ treffen muss. Denn eine neutral formulierte, aber diskriminierend wirkende Maßnahme trifft in den meisten Fällen gerade mehrere ethnische Gruppen gleichzeitig.251 Einfaches Beispiel: das Kriterium der Muttersprache bei einer Ausschreibung trifft in einer Migrationsgesellschaft Angehörige mehrerer ethnischer Gruppen. Auch im vorliegenden Fall sind zwar nicht alle Personen mit türkischem Hintergrund gleichermaßen betroffen (z. B. türkeistämmige Österreicher:innen oder in Österreich geborene türkische Staatsangehörige mit grundlegenden Deutschkenntnissen), allerdings trifft diese Integrationsmaßnahme mit erheblichem Sanktionscharakter schon alle Drittstaatsangehörigen, die, aus welchem Grund auch immer, nicht über grundlegende Deutschkenntnisse verfügen.252 Dieser Fall veranschaulicht, wie entscheidend die richtige Bildung der Vergleichsgrup- 54 pe für die Feststellung von mittelbaren Diskriminierungen sein kann. Über die Frage nach der richtigen Vergleichsgruppenbildung hinaus lässt sich zum anderen fragen, ob hypothetische Prüfungen – wie vom EuGH durchgeführt – für die Feststellung einer mittelbaren Diskriminierung überhaupt dienlich sein können, zumal empirisch fundierte Indizien den 248 Zustimmend Farkas (Fn. 247), S. 22 f.; Atrey (Fn. 241), S. 632 f. 249 EuGH, Urt. v. 10.6.2021, Rs. C-94/20, Land Oberösterreich v. KV. 250 EuGH, Urt. v. 10.6.2021, Rs. C-94/20, Land Oberösterreich v. KV, Rn. 55. Sofern das nationale Gericht
feststelle, dass die Wohnbeihilfe eine Kernleistung im Sinne der Richtlinie 2003/109/EG darstelle, verstieße dem EuGH zufolge die Regelung jedoch gegen Unionsrecht. 251 In diesem Sinne ist der Wortlaut des § 3 Abs. 2 AGG genauer und eindeutiger, weil er nicht an eine Gruppenzugehörigkeit anknüpft: „(…) Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können“, hierzu Mangold (Fn. 214), S. 252 ff. 252 Auch der UN-Ausschuss musste sich mit ähnlichen Fragestellungen auseinandersetzen. So rügte der UN-Ausschuss Belgien wegen einer Regelung, wonach Sozialwohnungen nur an Personen, die Niederländisch sprachen oder sich verpflichteten, Niederländisch zu lernen, vergeben wurden, vgl. CERD, Concluding Observations on the Fourteenth and Fifteenth Periodic Reports of Belgium v. 11.4.2008, UN Doc. CERD/C/BEL/CO/15, Rn. 16. Cengiz Barskanmaz
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
Stützpfeiler mittelbarer Diskriminierung bilden.253 Jedenfalls wäre im Fall Land Oberösterreich eine ernsthafte empirisch-statistische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Maßnahmen erforderlich gewesen. Es stimmt zwar, dass die Maßnahme unterschiedliche Drittstaatsangehörige treffen kann, jedoch kann es vorkommen, dass eine bestimmte Integrationsmaßnahme in einem spezifischen Kontext durchaus überdurchschnittlich nur auf türkeistämmige Drittstaatsangehörige nachteilig wirken kann, weil zum Beispiel eine bestimmte Stadt oder Gemeinde eine hohe Zahl türkeistämmiger Einwohner:innen aufweist und innerhalb dieser Gruppe fehlende Grundkenntnisse besonders häufig vorkommen. 55 Im Hinblick auf Sprache liegt inzwischen auch nationale Rechtsprechung vor, die antidiskriminierungsrechtlich durchaus überzeugt. So befand das Landesarbeitsgericht BerlinBrandenburg254, dass in einem Verbot, eine andere als die deutsche Sprache am Arbeitsplatz zu benutzen, eine Benachteiligung wegen der ethnischen Herkunft liegen kann. Das Arbeitsgericht Berlin255 war der Meinung, dass der Ausschluss einer Person aufgrund der Muttersprache von einem Bewerbungsverfahren eine Benachteiligung aufgrund der ethnischen Herkunft darstelle. Auch das Bundesarbeitsgericht bestätigte, dass bei bestimmten Einstellungskriterien wie etwa deutscher Sprachkenntnisse eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft vorliegen kann, da diese faktisch Menschen nicht-deutscher Herkunft treffe.256 Das Bundesarbeitsgericht stellte fest, dass auch in der Forderung nach einem Besuch von Deutschsprachkursen eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft liegen könne.257 Dies sei zum Beispiel der Fall, wenn diese Forderung während eines bestehenden Beschäftigungsverhältnisses gestellt wird und sie aufgrund der vorgesehenen Tätigkeit sachlich nicht gerechtfertigt ist. Auf diese Entscheidung verweist auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss258 über Prozesskostenhilfe. Im Ausgangsverfahren wurde einem Patienten ezîdîsch-kurdischer Herkunft die Aufnahme auf die Warteliste für die Organvermittlung verwehrt, weil seine defizitären Kenntnisse der deutschen Sprache für gravierende Verständigungsprobleme sorgen würden und dadurch die sogenannte Compliance – die Mitwirkung des Patienten bei der Vor- und Nachbehandlung – nicht gewährleistet werden könne. Das Bundesverfassungsgericht rügte die Verweigerung der Prozesskostenhilfe durch die Fachgerichte, weil diese für die Anknüpfung einer Herztransplantation an ausreichende Sprachkenntnisse durch das Krankenhaus das mögliche Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft nicht angemessen berücksichtigt haben.259 Ob für eine erfolgreiche Organtransplantation das Kriterium der hinreichenden Sprachkenntnisse wirklich erforderlich bzw. verhältnismäßig sei, bezweifelte das Bundesverfassungsgericht.
253 254 255 256 257 258 259
Vgl. → Sacksofsky, § 14 Rn. 125 und → Towfigh, § 18 Rn. 9. LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 16.10.2007, 7 Ta 1977/07. ArbG Berlin, Urt. v. 11.2.2009, 55 Ca 16952/08. BAG, Urt. v. 22.6.2011, 8 AZR 48/10, Rn. 17. BAG, Urt. v. 22.6.2011, 8 AZR 48/10, Rn. 40. BVerfG, Beschl. v. 28.1.2013, 1 BvR 274/12 – Prozesskostenhilfe. BVerfG, Beschl. v. 28.1.2013, 1 BvR 274/12 – Prozesskostenhilfe, Rn. 17–19. Cengiz Barskanmaz
B. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft
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5. Diskriminierungsverbot wegen der Rasse in Art. 3 Abs. 3 GG
Im nationalen Recht ist für die rechtliche Bekämpfung von Rassismus Art. 3 Abs. 3 GG 56 die Grundnorm.260 Das in Art. 3 Abs. 3 GG verbürgte Benachteiligungsverbot aufgrund der Rasse stellt eine Konkretisierung der unantastbaren Menschenwürde dar, die die Abkehr vom Nationalsozialismus festschreibt.261 „Antisemitische oder auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte“262 seien mit der Menschenwürde und dem Diskriminierungsverbot nicht vereinbar und verstießen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung, so das Bundesverfassungsgericht. Die enge Verbindung zwischen der Menschenwürde und dem Diskriminierungsmerkmal Rasse fasst das Bundesverfassungsgericht wie folgt zusammen: „Menschenwürde ist egalitär, sie gründet ausschließlich in der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Rasse, Lebensalter oder Geschlecht.“263 Damit dürfte jede Versuch, den Begriff der Rasse in Art. 3 Abs. 3 GG auf der Grundlage der Existenz unterschiedlicher Rassen zu interpretieren, ausscheiden, zumal Rassentheorien immanent gleichheitswidrig sind, da sie in der Regel von einer Rangordnung zwischen vermeintlichen „Rassen“ ausgehen. Historisch betrachtet mag es durchaus stimmen, dass der Verfassungsgeber nicht frei war von biologischen Rassevorstellungen, das Gleichheitsversprechen des Grundgesetzes ermöglicht es jedoch nach heutigem Kenntnisstand, Rasse als eine sozial wirkmächtige Konstruktion zu verstehen.264 Genau hierin liegt auch der Unterschied zwischen dem Unrechtsbegriff von Rasse in den Nürnberger Rassengesetzen und dem gleichheitsbezogenen Rassebegriff des Grundgesetzes.265 Während die Nürnberger Rassengesetze ein Beispiel für Rassismus im und durch Recht darstellen, vergegenständlicht der Verfassungsbegriff der Rasse sich im Tatbestand des Diskriminierungsverbots als Herzstück eines postnationalsozialistischen Grundgesetzes und Antidiskriminierungsrechts.266 Zirkuläre Definitionen in Grundgesetzkommentaren von Rassen als „Menschen- 57 gruppen mit tatsächlichen oder vermeintlichen vererbbaren Merkmalen“267 können nicht dienlich sein, vielmehr sind sie im Hinblick auf den Forschungsstand der Genetik irre260 Im zivilrechtlichen Bereich spielt zudem das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das die unionalen
Antidiskriminierungsrichtlinien (2000/43/EG und 2000/78/EG) ins nationale Recht umgesetzt hat, eine zentrale Rolle. Bedeutende strafrechtliche Antidiskriminierungsvorschriften sind § 130 StGB (Volksverhetzung), der mit dem Änderungsgesetz v. 14.9.2021 (BGBl. 2021 I, S. 4250) neu eingeführte § 192a StGB (verhetzende Beleidigung) sowie im Kontext der Strafzumessung § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB („rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Beweggründe oder Ziele des Täters“). 261 Zuletzt BVerfGE, 144, 20 (207 f.) – NPD-Verbot (2017). 262 BVerfGE, 144, 20 (207 f.) – NPD-Verbot (2017). 263 BVerfGE, 144, 20 (207 f.) – NPD-Verbot (2017). 264 Hong (Fn. 35), S. 315–318; Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 338 f. 265 Eingehend Barskanmaz (Fn. 91), S. 383 f. 266 Einen rechtshistorischen Überblick bietet Liebscher (Fn. 264), S. 372 ff. 267 Statt vieler Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 129; Langenfeld (Fn. 147), Art. 3 Abs. 3 Rn. 45; eine genealogische Spurensuche bietet Liebscher, Rassialiserte Differenz im antirassistischen Rechtsstaat, AöR 146 (2021), S. 87 (120 ff.). Cengiz Barskanmaz
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
führend.268 In einer zutiefst rassialisierten Welt ist Rasse bei der Auslegung des Diskriminierungsverbots grundlegend als eine (ständig reproduzierte) soziale Konstruktion zu verstehen, die eine Ungleichbehandlung begründen kann. In diesem Sinne ist der Tatbestand „wegen seiner Rasse“ nicht im biologischen Sinne zu verstehen, sondern als „wegen seiner sozialen Rasse“ konstruktivistisch zu deuten.269 Dass im Alltag sozialerlernte, empirisch wahrnehmbare körperliche Differenzen nicht zu verleugnen sind, ist ein Ausdruck der Materialität von Rasse als soziale Konstruktion.270 Durch einen solchen konstruktivistischen Ansatz wird es auch möglich, bei der Subsumtion Vergleichsgruppen wie „Weiße“, „Schwarze“, „Sint:ezza und Rom:ni“, „Jüd:innen“, „Muslim:innen“ „Türken“, „Araber“ usw. zur Prüfung einer Ungleichheit heranzuziehen. Denn in einer seit Jahrhunderten rassialisierten und ethnisierten Welt sind alle Menschen bereits rassialisiert und ethnisiert (und auch vergeschlechtlicht). Das Antidiskriminierungsrecht fördert mit Merkmalen wie Rasse, Hautfarbe, ethnische und nationale Herkunft diese Rassialisierungsprozesse nicht, sondern reagiert nur auf diskriminierende Rassialisierungen und Ethnisierungen.271 Ein Rückgriff auf diskriminierende Rasse- und Ethnizitätskonstruktionen stellt daher im Antidiskriminierungsrecht keine Reifizierung und Essenzialisierung272 dar, sondern die Sichtbarmachung und Benennung solcher diskriminierenden Gruppenkonstruktionen.273 Die verpönten Merkmale in Art 3 Abs. 3 Satz 1 GG dürfen nicht als Anknüpfungspunkt 58 für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden.274 In der Fachliteratur275 wird in Anlehnung an die Rechtsprechung zur Geschlechterdiskriminierung vertreten, dass es sich um ein grundsätzliches Differenzierungsverbot handelt, eine unmittelbare Ungleichbehandlung aufgrund der Rasse also nur unter strengsten Voraussetzungen gerechtfertigt sein kann, nämlich durch kollidierendes Verfassungsrecht und unter Wahrung des Grundsatzes praktischer Konkordanz. Klärungsbedürftig ist die Frage, ob sich diese für die „Leitkategorie“276 Geschlecht entwickelten strengsten Rechtfertigungsanforderungen 268 Sehr kritisch zu dieser zirkulären Definition Payandeh, Verfassungsgerichtliche Konturierung des Ver-
bots rassistischer Diskriminierung, NVwZ 2021, S. 1830 (1831 f.), der in Anlehnung an den „Ugah-Ugah“Beschluss des Bundesverfassungsgerichts statt von „Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse“ von „Verbot rassistischer Diskriminierung“ spricht. 269 Anderer Ansicht Ludyga, Rasse als Rechtsbegriff ?, NJW 2021, S. 911 (914), die meint, „Rasse“ werde „dem Verständnis von Recht i. S. v. Art. 20 Abs. 3 GG und dem Menschenbild von Art. 1 GG nicht ‚gerecht‘“, weswegen die Beibehaltung des Terminus in Rechtstexten verhindere, dass Rassismus wirkungsvoll entgegengetreten werden könne. Bereits ein flüchtiger Blick auf die umfangreiche Rechtsprechung des EGMR (siehe Barskanmaz [Fn. 71], S. 277 ff.) indiziert die offensichtliche Unhaltbarkeit dieser realitätsfernen, spekulativen Prämisse. 270 Siehe oben Rn. 6 (A. II. 1.). 271 Ebenso Mangold (Fn. 214), S. 334 ff. 272 So aber Liebscher (Fn. 267), S. 128. 273 Ähnlich argumentieren Baer/Markard (Fn. 48), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 441, dass das Diskriminierungsverbot nicht daran anknüpft, wie jemand ist, sondern an die entlang von Geschlecht, Rasse etc. entstandene Benachteiligung. 274 BVerfGE 85, 191 (206) – Nachtarbeitsverbot (1991); kritisch und mit einer Übersicht über die Kontroversen Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 125 ff. 275 Statt vieler Baer/Markard (Fn. 48), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 426. 276 Mangold (Fn. 214), S. 249. Cengiz Barskanmaz
B. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft
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auf die unmittelbare und mittelbare rassische Diskriminierung übertragen lassen. Wenngleich es dogmatisch nur folgerichtig erscheint, für alle in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG gelisteten Merkmale einen einheitlichen Prüfungsmaßstab zugrunde zu legen,277 könnte im Hinblick auf die kontingente Entstehungsgeschichte sowie unterschiedliche Beschaffenheit der Merkmale in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 (und 2) GG einiges für unterschiedliche Rechtfertigungsanforderungen sprechen. Für Differenzierungen aufgrund des Geschlechts können zum Beispiel nach dem Bundesverfassungsgericht Regelungen nur dann zulässig sein, wenn sie zur „Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind“278. Berücksichtigt man, dass nach humangenetischem Kenntnisstand biologische „Rassen“ nicht existieren, also Rasse nur eine soziale Konstruktion sein kann, scheidet ein entsprechender zwingender biologischer Grund für Diskriminierungen aufgrund der Rasse aus. Ergänzend lässt sich für die Diskriminierung aufgrund der Rasse festhalten, dass diese eine Menschenwürdeverletzung darstellt, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht abwägungsfähig ist.279 Außerdem ist die Frage aufzuwerfen, ob es in einer postnationalsozialistischen freiheitlich demokratischen Grundordnung280 denkbar sein kann, dass eine Maßnahme, die etwa unmittelbar oder auch mittelbar Jüd:innen, Sint:ezza und Rom:ni, Schwarze, etc. diskriminiert, im Hinblick auf das „Nie-Wieder“-Versprechen des Grundgesetzes überhaupt rechtfertigungsfähig sein kann. Würde damit nicht der Regelungszweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG untergraben? Wird schließlich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass in einer demokratischen Gesellschaft eine Ungleichbehandlung aufgrund der Rasse bzw. ethnischen Herkunft schlichtweg nicht vorstellbar ist, herangezogen,281 ergibt sich vor diesem Hintergrund, dass zumindest bei einer unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierung wegen der sozialen Rasse eine Rechtfertigung faktisch ausscheidet.282 Beim Bevorzugungsverbot handelt es sich um ein Privilegierungsverbot, d. h. die Be- 59 günstigung von Angehörigen privilegierter Personengruppen ist grundsätzlich untersagt.283 Das Bundesverfassungsgericht stellt klar, dass der Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG in dem Schutz vor Benachteiligung von „Angehörigen strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen“284 liegt. Im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Rassismus können auch die in Art. 3 Abs. 3 GG enthaltene Merkmale der Religion und Sprache ein277 So Baer/Markard (Fn. 48), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 434. 278 BVerfGE 85, 91 (207) – Nachtarbeitsverbot (1991). 279 Zuletzt BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19 – „Ugah Ugah“; BVerfGE, 93, 266 (293) – „Sol-
daten sind Mörder“ (1995); BVerfGE 107, 275 (284) – Schockwerbung II (2003); ausführlich dazu Hong (Fn. 35), S. 411 ff. 280 So BVerfGE 144, 20 (207 f.) – NPD-Verbot (2017). 281 EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik. 282 Für Baer/Markard (Fn. 48), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 433 ff. können unmittelbare Diskriminierungen „nur in Ausnahmefällen“ gerechtfertigt sein; Boysen (Fn. 274), Art. 3 Rn. 183 spricht von „strengsten Anforderungen“. 283 Baer/Markard (Fn. 48), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 422. 284 BVerfGE 147, 1 (28) – Drittes Geschlecht (2017). Cengiz Barskanmaz
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
schlägig werden, etwa im Falle von Diskriminierung von Jüd:innen und Muslim:innen oder Menschen mit nicht-deutscher Herkunftssprache.285 60 Eine Ausnahme von dem Benachteiligungsverbot bilden positive Maßnahmen oder Fördermaßnahmen, die zulässig sind, sofern sie bestehende Nachteile beseitigen und verhältnismäßig sind.286 Inwieweit sich das unmittelbar aus der Verfassung ergibt, ist durchaus umstritten. Unter Beachtung des europäischen und internationalen Rechts ist diese Rechtsfolge jedoch zwingend. Entsprechende Fördermaßnahmen stellen nach Art. 1 Abs. 4 ICERD keine Diskriminierung dar, wenn diese dazu dienen, gleichberechtigte Inanspruchnahme von Menschenrechten und Grundfreiheiten zu gewährleisten. Auf dieser Grundlage könnten etwa bei gleicher Eignung personengebundene Merkmale als ein Gesichtspunkt herangezogen werden, um eine bevorzugte Einstellung zu rechtfertigen. Ein Fördergebot gegen strukturelle rassische Diskriminierung enthält das Grundgesetz im Gegensatz zur Geschlechterdiskriminierung287 nicht.288 Gleichstellungs- bzw. Fördermaßnahmen können allerdings unter Berücksichtigung des supranationalen Rechts der Europäische Union289 und internationalen Rechts (EMRK und ICERD) verpflichtend sein.290 Dabei kommt den Mitgliedstaaten ein Gestaltungsspielraum zu. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zum Beispiel in Horváth und Kiss291 festgestellt, dass im Bereich der Bildung die Verpflichtung besteht, positive Maßnahmen zu verabschieden, um anhaltende Diskriminierungen und strukturelle Probleme von historisch diskriminierten Gruppen – in diesem Fall der Roma – zu bekämpfen. Eine Pflicht zum Ergreifen positiver Maßnahmen besteht insbesondere in Fällen anhaltender unmittelbarer Diskriminierungen. 61 Das Diskriminierungsverbot erfasst schließlich auch die mittelbare Diskriminierung, also auch eine diskriminierende Regelung, die nicht explizit an ein nach Art. 3 Abs. 3 GG verpöntes Merkmal anknüpft, sondern in erster Linie andere Ziele verfolgt – zum Beispiel religiöse Neutralität oder Migrationssteuerung –, jedoch typischerweise bestimmte Personengruppen (z. B. Russlanddeutsche, Schwarze, Muslim:innen, etc.) trifft.292 Zu den 285 Ausführlich oben Rn. 21 ff. (A. III. 2.), Rn. 26 (A. III. 4.) 286 Groß, Die Verfassungskonformität einer Quote für Eingewanderte, JZ 2021, S. 880; Kanalan, Weder
revolutionär noch eine Besonderheit: Fördermaßnahmen zwischen verfassungsrechtlicher Zulässigkeit und völkerrechtlicher Verpflichtung, Verfassungsblog v. 24.2.2021; Baer/Markard (Fn. 48), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 407 ff.; Uerpmann-Wittzack, Strikte Privilegierungs- und Diskriminierungsverbote, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HGR, Bd. V, 2013, § 128 Rn. 46 ff. 287 Vgl. Art. 3 Abs. 2 Satz 2: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“. 288 Boysen (Fn. 274), Art. 3 Rn. 134 ff.; für entsprechende legislative Initiativen siehe BT-Drs. 19/20628 und BT-Drs. 19/24434. 289 EuGH, Urt. v. 17.10.1995, Rs. C-450/93 – Kalanke; EuGH, Urt. v. 11.11.1997, Rs. C-409/95 – Marschall; EuGH, Urt. v. 28.3.2000, Rs. C-158/97 – Badeck; EuGH, Urt. v. 6.7.2000, Rs. C-407/98 – Abrahamson & Fogelqvist; EuGH, Urt. v. 19.3.2002, Rs. C-476/99 – Lommers; EuGH, Urt. v. 30.9.2004, Rs. C-319/03 – Briheche; EuGH; Urt. v. 18.3.2004, Rs. C-342/01 – María Paz Merino Gómez; für eine vergleichende Perspektive siehe Sacksofsky, Positive Maßnahmen und Verfassungsrecht, ZESAR 2004, S. 208. 290 Kanalan (Fn. 286). 291 EGMR, Urt. v. 29.1.2013, Beschwerde-Nr. 11146/11, Horváth und Kiss v. Ungarn. 292 Eingehend zu unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen → Sacksofsky, § 14 Rn. 35 ff. und 121 ff.; vgl. zudem BVerfGE 85, 191 (206) – Nachtarbeitsverbot (1991) im Hinblick auf das Geschlecht; nur Cengiz Barskanmaz
B. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft
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Rechtfertigungsanforderungen für mittelbare rassische Diskriminierungen liegt bis dato keine Rechtsprechung vor, jedoch kann auch hier die etablierte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte293 als Auslegungshilfe abhelfen.294 Das Benachteiligungsverbot in Art. 3 Abs. 3 GG enthält sowohl einen abwehrrecht- 62 lichen Gehalt als auch eine staatliche Schutzpflicht.295 Als Abwehrrecht richtet sich das Benachteiligungsverbot an den Staat und räumt dem Einzelnen das subjektive Recht ein, sich gegen diskriminierende staatliche Handlungen zu wehren, zum Beispiel bei diskriminierenden anlasslosen Kontrollen durch die Bundespolizei. In seiner Schutzpflichtdimension, die zuletzt vom Bundesverfassungsgericht im sogenannten „Ugah-Ugah“-Beschluss296 hervorgehoben wurde, verpflichtet das Benachteiligungsverbot den Staat, neben staatlichen Handlungen auch Schutz vor diskriminierenden Handlungen von Privatpersonen zu bieten. Die Schutzpflicht folgt auch daraus, dass die Diskriminierung aufgrund der Rasse – wie vom Bundesverfassungsgericht297 im gleichen Beschluss festgehalten – eine Form der Menschenwürdeverletzung darstellt, wovor der Staat gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG zu schützen hat. Hier wurde zudem die mittelbare Drittwirkung, wonach Privatrechtsbeziehungen über die zivilrechtlichen Generalklauseln (§§ 138, 242, 826 BGB) am Maßstab des Diskriminierungsverbots zu messen sind, ein weiteres Mal bekräftigt. In der Folge hat das Benachteiligungsverbot aufgrund der Rasse Auswirkungen auf die gesamte Rechtsordnung und entfaltet eine objektiv-rechtliche Wirkung.298 Diese auch durch die starke Bezugnahme auf die Menschenwürde herbeigeführte Bedeutungsaufwertung299 des Diskriminierungsverbots dürfte bei kollidierenden Verfassungsgütern künftig stärker berücksichtigt werden. Angesichts der sehr geringen Anzahl an höchstrichterlichen Entscheidungen befindet 63 sich die Konturierung des Diskriminierungsverbots aufgrund der Rasse erst in der Anfangsphase. In einem Beschluss aus dem Jahr 1968 erklärt das Bundesverfassungsgericht die nationalsozialistische Ausbürgerung eines deutschen Juden für nichtig, da hierin unter anderem ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse liege.300 Des Weiteren ist auf den sogenannten Russlanddeutsche-Fall (2003) hinzuweisen. Einer strafrechtlich verurteilten Person russlanddeutscher Herkunft wurde ein Antrag auf Strafbewährung aufgrund ihrer russlanddeutschen Herkunft nicht stattgegeben. Entscheidungsgegenstand war hier, inwiefern die ethnische Gruppenzugehörigkeit bei der Entscheidung über die Aussetzung einer Strafe zur Bewährung herangezogen werden dürfe.301 In diesem für die Geschlechterdiskriminierung bejahend BVerfG, Beschl. v. 8.6.2016, 1 BvR 3634/13 – Kündigungsschutz, Rn. 13; für Art. 3 Abs. 3 GG bejahend Baer/Markard (Fn. 48), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 43; Mangold (Fn. 214), S. 248. 293 EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik. 294 Statt vieler BVerfGE 141, 1 (29 ff. m. w. N.) – Völkerrechtsdurchbrechung (2015). 295 Baer/Markard (Fn. 48), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 405, 425; Payandeh (Fn. 268), S. 1833. 296 BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 19 – „Ugah Ugah“. 297 BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 18 – „Ugah Ugah“. 298 Bereits Baer/Markard (Fn. 48), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 415. 299 So zutreffend Payandeh (Fn. 268), S. 1833. 300 BVerfGE 23, 98 – NS-Ausbürgerung II (1968). 301 BVerfG, Beschl. v. 2.4.2003, 2 BvR 424/03 – Russlanddeutsche. Cengiz Barskanmaz
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§ 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien
Nichtannahmebeschluss befand das Bundesverfassungsgericht, dass die Einbindung des Beschwerdeführers in die Gruppe der Russlanddeutschen als prognostisch ungünstiger Faktor keine Diskriminierung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darstelle, weil dies auf „tatsächlichen Erfahrungen“ beruhe. Wie oben bereits dargelegt, ist zweifelhaft, ob eine derartige unmittelbare Diskriminierung wegen der Rasse überhaupt rechtfertigungsfähig sein kann. Die Verweigerung einer Bewährungsstrafe wegen der Herkunft riskiert, das Bild eines „gefährlichen und kriminellen Russlanddeutschen“ zu befördern, der eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung gerade wegen seines kriminellen Potenzials nicht verdient habe. Der Beschluss wird den strengsten Rechtfertigungsanforderungen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht gerecht, zumal hier eine stigmatisierende Wirkung vorliegt, vor der das Bundesverfassungsgericht in seinem späteren Rasterfahndung II-Beschluss302 warnte. 64 Im Ergebnis überzeugender ist hingegen der soeben erwähnte „Ugah Ugah“-Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts. Dogmatisch und rassismusanalytisch mit Vorsicht zu genießen ist jedoch die im Beschluss verwendete Bezeichnung „rassistische Diskriminierung“,303 während nur „rassische Diskriminierung“ das treffendere lexikalische und semantische Äquivalent von „Diskriminierung aufgrund der Rasse“ sein kann.304 Mit dieser Formulierung führt die Kammerentscheidung „Rassismus“ als Tatbestandsmerkmal in Art. 3 Abs. 3 Satz 3 ein. Diese tatbestandliche Verschwimmung scheint deswegen fragwürdig, weil Rasse und Rassismus keineswegs gleichbedeutend sind und so auch rassische und rassistische Diskriminierung nicht deckungsgleich sein können.305 Aus einer kategorienbasierten306 antidiskriminierungsrechtlichen Perspektive enthält die Begriffskonstitution „rassistische Diskriminierung“ indes Risiken, juristische Kategorien mit sozialwissenschaftlichen Konzepten, die nicht eins zu eins übertragbar sind, unnötig zu verunklaren.307 Ohne die erforderliche Nuancierung zwischen „rassischer Diskriminierung“ und „Rassismus“ zu missachten, könnte im Antidiskriminierungsrecht „struktureller Rassismus als eine evaluative Linse“308 eingesetzt werden, um so soziologische Aspekte zu Rassismus, Rasse und Diskriminierung in den Blickpunkt zu rücken. 302 BVerfGE 115, 320 (352 f.) – Rasterfahndung II (2006). 303 Zuletzt BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 11 – „Ugah Ugah“. 304 Ausführlich oben Rn. 2–4 (A. I.); der Bezeichnung „rassistischen Diskriminierung“ zustimmend je-
doch Payandeh (Fn. 268).
305 Ausführlich oben Rn. 2 (A. I.); ebenso Kaneza, Rasse und der Grundsatz der Gleichheit, ZAR 2021,
S. 395; rechtsvergleichend Atrey (Fn. 8); auch die UNESCO unterscheidet zwischen Rassismus und rassischer Diskriminierung: „Racism includes racist ideologies, prejudiced attitudes, discriminatory behaviour, structural arrangements and institutionalized practices resulting in racial inequality as well as the fallacious notion that discriminatory relations between groups are morally and scientifically justifiable; it is reflected in discriminatory provisions in legislation or regulations and discriminatory practices as well as in anti-social beliefs and acts (…)“, UNESCO, Statement on Race and Racial Prejudice v. 27.11.1978, Art. 2 Abs. 2. 306 Grundlegend dazu Mangold (Fn. 214). 307 Vgl. auch Kischel (Fn. 22), S. 258 ff., der ebenfalls die Aufnahme von „rassistisch“ ins Grundgesetz ablehnt, allerdings nicht, weil Rassismus – wie hier vertreten – strukturell ist, sondern weil es sich beim Begriff „Rassismus“ um eine „ideologisch inspirierte und uferlose Terminologie“ handle. 308 Atrey (Fn. 8), S. 33. Cengiz Barskanmaz
C. Ausblick
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Vor diesem Hintergrund kann das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse nicht 65 auf ein „Rassismusverbot“ reduziert werden, obwohl es historisch und teleologisch primär Schutz für „Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen“ bieten soll. Zwar untersagt das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierung, wodurch gesellschaftliche diskriminierende Strukturen mitberücksichtigt werden können.309 Allerdings bietet das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse in seinem symmetrischen Gehalt jedenfalls auch Schutz vor ungerechtfertigter Ungleichbehandlung von zum Beispiel Angehörigen der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft, ohne dass die Diskriminierung von Weißen als „Anti-weißer Rassismus“310 zu gelten hätte, zum Beispiel wenn eine offensichtlich unqualifizierte nicht-weiße Person einer qualifizierten weißen Personen in einem Bewerbungsverfahren vorgezogen wird.311 Schließlich sind nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG alle Menschen vor ungerechtfertigten Ungleichbehandlungen aufgrund der Rasse geschützt. Die Ersetzung von „Rasse“ durch „rassistische Diskriminierung“ führt in Anbetracht dieser Überlegungen zu einer Verengung des Schutzbereichs des in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG enthaltenen Benachteiligungsverbots aufgrund der Rasse.312
C. Ausblick Für die rechtliche Bekämpfung von strukturellem Rassismus greift das Antidiskrimi- 66 nierungsrecht auf die Kategorie der Rasse zurück. Wie Rassismus selbst ist auch Rasse strukturell, vielschichtig und überschneidet sich mit mehreren Merkmalen wie Hautfarbe, ethnischer oder nationaler Herkunft, Sprache und Religion. Auch Kultur ist im Kontext der kulturalistischen Formen von Rassismus eine relevante Kategorie. Das im Mehrebe309 Siehe → Sacksofsky, § 14 Rn. 121 ff. 310 Zur historischen Unhaltbarkeit dieser in sich widersprüchlichen Bezeichnung oben Rn. 3 (A. I.) bei
Fn. 9. Davon zu unterscheiden sind rassisch bzw. ethnisch diskriminierende Maßnahmen, die in bestimmten Fallkonstellationen auch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft benachteiligen können, zum Beispiel, wenn eine weiße Bulgarin in einem Roma-Viertel wohnt, das durch einen Stromversorger stigmatisiert und benachteiligt wird, so der Sachverhalt in EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14 – CHEZ Razpredelenie Bulgarie AD. Ebenso ist auf das Phänomen der Diskriminierung durch Assoziation zu verweisen, bei der eine Person wegen ihres Naheverhältnisses zu einer diskriminierungsgefährdeten Person benachteiligt wird, etwa wenn einer weißen Frau mit Schwarze:r Partner:in der Abschluss eines Wohnmietvertrags verweigert wird; zum Konzept: EuGH, Urt. v. 17.7.2008, Rs. C-303/06 – Coleman. 311 Einleuchtend dürfte das Beispiel der Feuerwehrabgabepflicht für Männer sein, bei der das Bundesverfassungsgericht eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung von Männern gegenüber Frauen feststellte; hier wird deutlich, dass auch Männer benachteiligt werden können, ohne dass diese spezifische Ungleichbehandlung als „Sexismus gegenüber Männern“ verdreht werden müsste, vgl. BVerfGE 92, 91 – Feuerwehrabgabe (1995). Im Kontext postkolonialer Rechtsregime zu erwähnen ist zudem EGMR, Urt. v. 12.4.1985, Beschwerde-Nr. 9214/80, Abdulaziz u. a. v. Vereinigtes Königreich (Diskriminierung aufgrund des Geschlechts wegen Verweigerung von Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung von Ehemännern aus dem Commonwealth und Pakistan). 312 Einen Überblick über unterschiedliche Formulierungen und die Auswirkungen auf den Schutzbereich in der Diskussion zum Rassebegriff bietet Griesbeck, Der Begriff Rasse in Artikel 3 GG, ZAR 2021, S. 400. Cengiz Barskanmaz
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nensystem ausdifferenzierte Antidiskriminierungsrecht mag in sich nicht immer vollends konsistent und kohärent sein, jedoch ist es gut ausgerüstet, um gegen Rassismus Schutz zu bieten. Das Diskriminierungsverbot bietet auf allen Rechtsebenen Schutz sowohl vor unmittelbaren als auch vor mittelbaren Diskriminierungen, wenngleich letztere von den Gerichten nicht immer konsequent bzw. adäquat identifiziert werden. 67 Eine über das formale Verständnis hinausgehende materielle Konzeption des Diskriminierungsverbots ist für die Bekämpfung von Rassismus wesentlich. Im gleichen Atemzug ist jedoch vor allzu hohen Erwartungen an das Antidiskriminierungsrecht – jedenfalls in seiner reaktiven Funktion – zu warnen. Nach wie vor gilt die rechtssoziologische Binsenweisheit, dass das transformatorische Potential des Rechts begrenzt ist.313 Dies gilt insbesondere für das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse.314 Zu dieser Einsicht gelangt man auch, wenn Rassismus als ein gesamtgesellschaftliches bzw. strukturelles Phänomen verstanden wird, auf das das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse nur retroaktiv reagieren kann, indem es bestimmte rechtlich greifbare (Ungleichbe-)Handlungen und Verfahren sanktioniert.315 Inwiefern ein proaktives Antidiskriminierungsrecht einen historisch entstandenen strukturellen und institutionellen Rassismus tatsächlich und wirksam bekämpfen kann, lässt sich nicht ohne Weiteres belegen. Wenngleich ein proaktives Recht in einer demokratischen Gesellschaft nicht fehlen darf, sollten dennoch keine falschen Erwartungen im Hinblick auf das Antidiskriminierungsrecht gehegt werden.
313 Ausführlich zu den Grenzen, Potentialen und der demokratietheoretischen Legitimation des Anti-
diskriminierungsrechts Mangold (Fn. 214), S. 347; außerdem aus rechtssoziologischer Perspektive Baer, Rechtssoziologe, 4. Aufl. 2021, S. 226 ff. 314 Hierzu für das US-amerikanische Antidiskriminierungsrecht Crenshaw, Race, Reform, Retrenchment: Transformation and Legitimation in Antidiscrimination Law, Harvard Law Review 101 (1988), S. 1331. 315 Für eine Rassismuskritik innerhalb der Rechtswissenschaft siehe Stix, Rassismuskritik in der Rechtswissenschaft, in: FS 60 Jahre Assistententagung, 2021, S. 217. Cengiz Barskanmaz
§ 8 Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien Christian Walter/Kathrin Tremml Inhaltsübersicht Rn. A. Einleitung: Religion als klassischer Tatbestand von Antidiskriminierungsvorschriften . . . . . B. Das religionsbezogene Antidiskriminierungsrecht – Überblick über den anwendbaren normativen Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das religionsbezogene Antidiskriminierungsrecht und die unterschiedlichen Traditionen von EGMR und EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einflüsse des sonstigen Religions(verfassungs)rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ungleichbehandlungen wegen der Religion – am Beispiel des Arbeitsplatzes . . . . . . . . . . . . . I. Religion und staatliche Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 33 Abs. 2 und Abs. 3 GG als normativer Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die freiheitsrechtliche Überlagerung in der Praxis der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . a) Freiheitsrechtliche Überlagerung von Art. 33 Abs. 2 und Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . b) Primär freiheitsrechtliche Ausrichtung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Rolle des Neutralitätsprinzips an der Schnittstelle von Freiheits- und Gleichheitserwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Religion und private Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konfligierende Freiheitsrechte im Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Absenkung des diskriminierungsrechtlichen Schutzes durch die Einordnung einer allgemeinen Neutralitätspolitik des Arbeitgebers als bloß mittelbar diskriminierend . . . . III. Religion und religiöse Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangslage: Weitgehende Ausnahme vom Diskriminierungsschutz zugunsten des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entwicklung: Stärkung des Diskriminierungsschutzes durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . 3. Szenarien der Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wertung und Gewichtung kirchlicher Positionen auf der zweiten Stufe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Notwendigkeit einer reduzierten Kontrolle durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Gleichbehandlungsgebot in Bezug auf religiöse Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Körperschaftsstatus i. S. d. Art. 137 Abs. 5 WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gleichheitsverstoß durch Bereitstellung eines gestuften Systems? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gleichheitskonforme Ausgestaltung des Zugangs zum Körperschaftsstatus . . . . . . . . . . . . II. Religionsgemeinschaft i. S. d. Art. 7 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Organisatorische Anforderungen an Religionsgemeinschaften als Gleichheitsverstoß? . . 2. Kein Gleichheitsverstoß bei sachgerechter Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Walter/Kathrin Tremml
1 5 8 13 14 15 16 17 17 21 24 30 30 35 38 39 43 48 49 52 54 55 57 59 63 64 67
350
§ 8 Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien
E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Steigendes Bedürfnis nach gleichheitskonformer Ausgestaltung mit zunehmender religiöser Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnis von Freiheit und Gleichheit (Antidiskriminierungsrecht) im Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69 69 71
A. Einleitung: Religion als klassischer Tatbestand von Antidiskriminierungsvorschriften Antidiskriminierungsvorschriften lassen sich als Reaktion auf Gleichheitsgefährdungen verstehen.1 Die Diskriminierung aus religiösen Gründen gehört dabei sicherlich zu den historischen Urerfahrungen, die im modernen Antidiskriminierungsrecht durch das praktisch überall vorhandene Tatbestandsmerkmal „Religion“ Ausdruck gefunden haben. Neben der Gleichstellung der Religionsgemeinschaften durch den Grundsatz der Parität der Religionsgemeinschaften2 hat sich diese Erfahrung schon früh als individuelle Rechtsposition niedergeschlagen, beispielsweise im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 17943 oder in Art. 16 der Deutschen Bundesakte von 1815.4 Die modernen Antidiskriminierungsvorschriften bauen auf diesen historischen Erfahrungen auf. Letztlich beruht das religionsbezogene Antidiskriminierungsrecht – wie der moderne Staat insgesamt – auf der Erfahrung der religiösen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts.5 In den völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Menschenrechtskatalogen der 2 Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist Religion neben Geschlecht, Rasse, Sprache und Herkunft ein durchgängig in Diskriminierungsvorschriften explizit genannter Verbotsgrund. Das gilt beispielsweise für Art. 3 Abs. 3 GG, Art. 2 Nr. 1 AEMR, Art. 14 EMRK oder auch Art. 21 Abs. 1 GRCh. Auch die UN-Charta, die unter den menschenrechtlichen Verpflichtungen allein das Diskriminierungsverbot explizit anspricht, verweist dabei ausdrücklich auf das Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen.6 Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass es – anders als für die geschlechts3 bezogene7 und die rassistische Diskriminierung8 – in Bezug auf das Thema Religion zu kei1
1 Kingreen, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand: Februar 2020, Art. 3
Rn. 86.
2 Dazu Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: Pirson/Listl (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts
der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1994, § 20, S. 589 ff.
3 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten v. 1.6.1794, Zweyter Theil, Eilfter Titel, § 4. 4 Deutsche Bundesakte v. 8.6.1815, Gesetzsammlung für die Königlich-Preußischen Staaten 1818, An-
hang, Nr. 23, S. 143; Art. 16: „Die Verschiedenheit der christlichen Religions-Partheien kann in den Ländern und Gebieten des deutschen Bundes keinen Unterschied in dem Genusse der bürgerlichen und politischen Rechte begründen.“ 5 Vgl. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 (93 ff.). 6 Art. 1 Nr. 3 UN-Charta. 7 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau v. 18.12.1979, BGBl. 1985 II, S. 647. Christian Walter/Kathrin Tremml
B. Das religionsbezogene Antidiskriminierungsrecht
351
nem eigenen Antidiskriminierungsvertrag gekommen ist. Vorstöße in diese Richtung gab es in der UN-Menschenrechtskommission vor allem in den 1960er Jahren. Diese scheiterten aber vor allem an einer von Seiten der kommunistischen Staaten behaupteten Benachteiligung atheistischer Überzeugungen und der Kontroverse mit muslimischen Staaten um die Frage des Glaubenswechsels.9 Stattdessen kam es dann 1981 zur Verabschiedung der rechtlich nicht verbindlichen „Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion und der Überzeugung“10. Der Titel deutet auf Diskriminierungsschutz als zentrales Anliegen der Erklärung hin. Ein Blick auf den Inhalt zeigt aber, dass viele der einzelnen Regelungen Klarstellungen und Konkretisierungen zu Einzelfragen der Religionsfreiheit enthalten. Das gilt insbesondere für Art. 6 der Erklärung. Die Antidiskriminierungsregeln der Art. 2 bis 4 der Erklärung haben dagegen eher programmatischen Charakter. Hier zeigt sich ein Überwiegen der freiheitsrechtlichen Perspektive gegenüber derjenigen des Diskriminierungsschutzes.11 Etwas plakativ lässt sich sagen, dass in Bezug auf das Thema „Religion“ offenbar vielfach ein angemessener Diskriminierungsschutz durch die Gewährung hinreichender Freiheitsrechte gewährleistet werden kann. Diese freiheitsrechtliche Überlagerung des religionsbezogenen Antidiskriminierungsschutzes lässt sich am Normbestand kaum erkennen, sie zeigt sich erst in der Rechtsanwendung. Auch wenn es zu keinem eigenen Vertrag betreffend religiöse Diskriminierung gekom- 4 men ist, spielt diese Thematik doch zumindest eine Rolle im Rahmen der Rassendiskriminierungskonvention. Da rassistische und religiöse Diskriminierung nicht immer trennscharf voneinander abzugrenzen sind (vor allem etwa im Falle von Antisemitismus), wird der Begriff der „racial discrimination“ in Artikel 1 der Konvention durch den zuständigen Antidiskriminierungsausschuss so ausgelegt, dass auch „ethno-religiöse“ Diskriminierungen erfasst sind.12
B. Das religionsbezogene Antidiskriminierungsrecht – Überblick über den anwendbaren normativen Rahmen Wie bereits erwähnt, ist das religionsbezogene Antidiskriminierungsrecht fester Teil des 5 allgemeinen Antidiskriminierungsrechts. Dementsprechend teilt es dessen Mehrebenen8 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung v. 7.3.1966,
BGBl. 1969 II, S. 961.
9 Siehe m. w. N. Walter, 25 Jahre „Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Dis-
kriminierung aufgrund der Religion und der Überzeugung“, in: GS Bleckmann, 2007, S. 419 (421 f.). 10 UN Generalversammlung, Declaration on the Elimination of All Forms of Intolerance and of Discrimination Based on Religion or Belief v. 25.11.1981, UN Doc. A/Res/36/55. 11 Auch bei dem seit 1986 bestehenden Sonderberichterstatter-Mechanismus drückt sich diese Perspektive aus; während sich die Bezeichnung ursprünglich am Titel der Erklärung aus dem Jahr 1981 orientierte („Special Rapporteur on religious intolerance“), firmiert er seit 2000 unter dem Titel „Special Rapporteur on freedom of religion or belief “, näher Walter (Fn. 9), S. 424 f. 12 Vgl. Thornberry, The International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, A Commentary, 2016, S. 138. Christian Walter/Kathrin Tremml
352
§ 8 Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien
charakter, bestehend aus völkerrechtlichen Normen des internationalen Menschenrechtsschutzes (etwa Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 9 EMRK), unionsrechtlichen Vorgaben des EU-Antidiskriminierungsrechts, namentlich den primärrechtlichen Diskriminierungsverboten in Art. 18 Abs. 1 AEUV und Art. 21 GRCh, sowie des auf der Basis von Art. 18 Abs. 2 AEUV erlassenen Sekundärrechts, den verfassungsrechtlichen Normen in Art. 3 Abs. 3 GG und Art. 33 Abs. 2 und Abs. 3 GG, sowie insbesondere der einfachgesetzlichen Ausgestaltung vieler der genannten Vorgaben im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)13.14 6 Neben diesen allgemeinen antidiskriminierungsrechtlichen Rahmen tritt beim Merkmal „Religion“ mit der Religionsfreiheit eines der klassischen Freiheitsrechte, das sich in allen grund- und menschenrechtlichen Kodifikationen findet. Eine solche Entsprechung findet sich bei keinem der anderen traditionellen Antidiskriminierungstatbestände (Rasse, Geschlecht, Abstammung/ethnische Herkunft). 7 Während der anwendbare normative Rechtsrahmen für die Verhinderung religionsbezogener Diskriminierung – abgesehen von der Existenz des gerade genannten Grundund Menschenrechts der Religionsfreiheit – damit weitgehend demjenigen entspricht, der in anderen Feldern des Antidiskriminierungsrechts gilt, gibt es beim Thema Religion Besonderheiten, die sich in der Rechtsanwendung zeigen. Namentlich werden auf den verschiedenen Ebenen verschiedene Rationalitäten verfolgt. Dies gilt zunächst für unterschiedliche Akzentsetzungen im europäischen Menschenrechtsschutz durch den EGMR und im Antidiskriminierungsrecht der EU durch den EuGH (I.). Daneben treten Einflüsse des mitgliedstaatlichen Religions(verfassungs)rechts, durch welche sich weitere Unterschiede gegenüber anderen Diskriminierungsmerkmalen ergeben (II.). I. Das religionsbezogene Antidiskriminierungsrecht und die unterschiedlichen Traditionen von EGMR und EuGH 8
Der internationale Menschenrechtsschutz zielt auf Herstellung eines gemeinsamen Minimalstandards und lässt – jedenfalls unter der EMRK – mit der dogmatischen Figur der margin of appreciation unterschiedliche Ausgestaltungen durch die Mitgliedstaaten zu.15 Mit diesem Ansatz hat der EGMR das französische Verbot der Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit ebenso für konventionskonform erklärt16 wie das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern in staatlichen italienischen Schulen,17 obwohl in beiden Fällen Gegen13 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer
Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897.
14 → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 26 ff.; ausführlich zu den unterschiedlichen gleichheitsrechtlichen Be-
stimmungen auch Schrooten, Gleichheitssatz und Religionsgemeinschaften, 2015, S. 43 ff.
15 Vgl. zur Entwicklung und zum Inhalt dieser Rechtsfigur etwa Gorzoni, Der „margin of appreciation“
beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, 2019 und Yourow, The Margin of Appreciation Doctrine in the Dynamics of European Human Rights Jurisprudence, 1996. 16 EGMR, Urt. v. 1.7.2014, Beschwerde-Nr. 43835/11, S. A. S. v. Frankreich. 17 EGMR, Urt. v. 18.3.2011, Beschwerde-Nr. 30814/06, Lautsi v. Italien. Christian Walter/Kathrin Tremml
B. Das religionsbezogene Antidiskriminierungsrecht
353
positionen im Gericht präsent waren.18 Auch in Bezug auf Verbote des Tragens religiöser Symbole im Beschäftigungskontext hat der EGMR einen Verstoß gegen die Religionsfreiheit in den meisten Fällen unter Verweis auf den prinzipiell weiten Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Rechtfertigung nach Art. 9 Abs. 2 EMRK verneint.19 Für den EuGH waren und sind die Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung und ihre 9 Durchsetzung gegenüber den Mitgliedstaaten entscheidende Parameter. Das Selbstverständnis der früheren EWG als Wirtschaftsgemeinschaft wirkt vielfach noch in der Rechtsprechung nach. Allerdings sind in den vergangenen Jahren neben die traditionelle Durchsetzung des Binnenmarkts zahlreiche Rechtsfragen von grundlegender rechtsstaatlicher Bedeutung getreten. Das betrifft insbesondere den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, aber auch die innerstaatliche Organisation in den Mitgliedstaaten.20 Im Antidiskriminierungsrecht treffen nun der auf einheitliche Durchsetzung des Uni- 10 onsrechts gerichtete traditionelle Gedanke der Integrationsgemeinschaft und die neuere Fokussierung auf Grundrechtsfragen und Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit zusammen. Dabei zeigt der EuGH im Vergleich mit dem EGMR eine geringere Sensibilität für unterschiedliche religionssoziologische und religionshistorische Besonderheiten in den Mitgliedstaaten und die Besonderheiten des Themas Religion überhaupt.21 Das lässt sich gut anhand der Entwicklung der Rechtsprechung zum Kopftuch am Arbeitsplatz aufzeigen.22 Auf der Ebene des anwendbaren Antidiskriminierungsrechts verdient die Ausnahme in 11 Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG23 Hervorhebung, weil hier ein spezifischer Sondertatbestand geschaffen wurde, mit dem eine Ungleichbehandlung aus religiösen Gründen gerechtfertigt werden kann. Wegen ihrer besonderen praktischen Bedeutung im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts verdient diese Norm hier den vollständigen Abdruck. Sie lautet: 18 Im Fall S. A. S.: Joint Partly Dissenting Opinion der Richterinnen Nussberger und Jäderblom; im Fall
Lautsi: Concurring Opinions der Richter Rozakis und Vajić, des Richters Bonello, und der Richterin Power sowie Dissenting Opinion der Richter Malinverni und Kalaydjieva. 19 So etwa in EGMR, Urt. v. 15.2.2001, Beschwerde-Nr. 42393/98, Dahlab v. Schweiz; EGMR, Urt. v. 24.1.2006, Beschwerde-Nr. 65500/01, Kurtulmuş v. Türkei; EGMR, Urt. v. 26.11.2015, BeschwerdeNr. 64846/11, Ebrahimian v. Frankreich. Zur Annahme einer konventionswidrigen Verkennung des Rechts nach Art. 9 Abs. 1 EMRK gelangte der EGMR jedoch im Fall Eweida, da das von der Beschwerdeführerin getragene Kreuz als sehr „dezent“ beschrieben wurde und somit eine Benachteiligung der Interessen anderer nicht nachgewiesen werden konnte, EGMR, Urt. v. 15.1.2013, Beschwerde-Nr. 48420/10 u. a., Eweida u. a. v. Vereinigtes Königreich, Rn. 94; siehe zur Figur der margin of appreciation in diesem Kontext auch Steinbach, Religion und Neutralität im privaten Arbeitsverhältnis, Der Staat 56 (2017), S. 621 (641 ff.). 20 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 8.4.2014, Rs. C-293/12, Digital Rights Ireland; oder mit Bezug zur richterlichen Unabhängigkeit im Allgemeinen EuGH, Urt. v. 27.2.2018, Rs. C-64/16, Associação Sindical dos Juízes Portugueses; bzw. im Kontext des Europäischen Haftbefehls EuGH, Urt. v. 27.5.2019, Rs. C-508/18, OG (Parquet de Lübeck). 21 Etwa Mangold/Payandeh, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit im Unionsrecht, EuR 2017, S. 700 (722 f.); vgl. zur Notwendigkeit einer reduzierten Kontrolle durch den EuGH im Kontext des kirchlichen Arbeitsrechts unten Rn. 52 f. (C. III. 3. b)). 22 Siehe unten Rn. 30 ff. (C. II. 1.). 23 Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303/16. Christian Walter/Kathrin Tremml
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§ 8 Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien
„(2) Die Mitgliedstaaten können in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen in ihren zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften Bestimmungen vorsehen, die zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Eine solche Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten und rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grund. Sofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im übrigen eingehalten werden, können die Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften von den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten.“24 12
Diese Ausnahme wurde im Jahr 2000 vor allem auf Betreiben der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland in die Richtlinie aufgenommen, weil man die Auswirkungen des Antidiskriminierungsrechts auf die Tradition des kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland möglichst geringhalten wollte.25 II. Einflüsse des sonstigen Religions(verfassungs)rechts
13
Aus der Perspektive des innerstaatlichen Rechts ist zu berücksichtigen, dass das Antidiskriminierungsrecht hier neben vorhandene (zumeist verfassungsrechtliche) Regeln über das Verhältnis von Staat und Religion tritt und mit diesen in einen Ausgleich gebracht werden muss. Hierin liegt ein grundsätzlicher Unterschied sowohl gegenüber dem internationalen Menschenrechtsschutz wie gegenüber dem Recht der Europäischen Union. Beide zuletzt genannten Bereiche sind schon wegen ihres internationalen Charakters losgelöst von konkreten religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen.26 Diese Besonderheit lässt sich sehr gut an der deutschen Verfassungsrechtslage aufzeigen, die mit der Übernahme der religionsrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung zahlreiche Regelungen vorsieht, die in enger Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen gerade der christlichen Kirchen entstanden sind. Zu nennen 24 Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG (Hervorhebung durch die Verfasser). 25 Zur Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG, wonach sich vor allem Irland und
Deutschland für eine Ausweitung der Ausnahmeregelung einsetzten Kehlen, Europäische Antidiskriminierung und kirchliches Selbstbestimmungsrecht, 2003, S. 181 ff.; Fink-Jamann, Das Antidiskriminierungsrecht und seine Folgen für die kirchliche Dienstgemeinschaft, 2009, S. 201 ff.; Triebel, Das europäische Religionsrecht am Beispiel der arbeitsrechtlichen Anti-Diskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG, S. 81 ff., insb. 96 ff., wonach die deutsche Verhandlungsposition in enger Zusammenarbeit mit den Kirchen erarbeitet wurde. 26 Walter, Religions- und Gewissensfreiheit, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Bd. I, 3. Aufl. 2022, Kap. 17 Rn. 11 f. Christian Walter/Kathrin Tremml
C. Ungleichbehandlungen wegen der Religion – am Beispiel des Arbeitsplatzes
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sind insbesondere der Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts (Art. 137 Abs. 5 WRV ), die Kirchensteuer (Art. 137 Abs. 6 WRV ) und das Selbstverwaltungs- und Selbstbestimmungsrecht (Art. 137 Abs. 3 WRV ), sowie der Sonn- und Feiertagsschutz (Art. 139 WRV ). Auch wenn keine dieser Bestimmungen explizit Kirchen privilegiert, sondern durchgängig von „Religionsgesellschaften“ die Rede ist, denen zudem Weltanschauungsgemeinschaften gleichgestellt werden (Art. 137 Abs. 7 WRV ), so ist doch nicht zu übersehen, dass mit den Regelungen rechtliche und tatsächliche Wirkungen verbunden sind, die vielfach zu Gunsten der christlichen Kirchen wirken.27 Da es sich bei den übernommenen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung um vollgültiges und gleichwertiges Verfassungsrecht handelt, bedarf es eines Ausgleichs mit dem Antidiskriminierungsrecht aller anderen Ebenen.
C. Ungleichbehandlungen wegen der Religion – am Beispiel des Arbeitsplatzes Die gerade beschriebenen Besonderheiten des religionsbezogenen Antidiskriminierungs- 14 rechts (Mehrebenencharakter und Einflüsse des innerstaatlichen Religionsrechts) lassen sich exemplarisch am Umgang mit äußeren Symbolen religiöser Zugehörigkeit durch staatliche (I.) und private (II.) Arbeitgeber sowie am Beispiel von Loyalitätspflichten von Beschäftigten bei religiös geprägten Arbeitgebern (III.) zeigen. I. Religion und staatliche Arbeitgeber
In Bezug auf die Berücksichtigung der Religion von Bediensteten bei staatlichen Arbeit- 15 gebern besteht im Ausgangspunkt zwar mit Art. 33 Abs. 2 und Abs. 3 GG ein gleichheitsrechtlicher Anknüpfungspunkt (1.). Dieser wird bei der Argumentation im Rahmen der Rechtsanwendung dann aber weitgehend durch Überlegungen zur individuellen Religionsausübung und damit zur Religionsfreiheit überlagert (2.). In manchen Konstellationen treten Normen des Antidiskriminierungsrechts zudem gegenüber einer Argumentation mit dem Neutralitätsprinzip zurück (3.). Insgesamt spielt so das religionsbezogene Antidiskriminierungsrecht in Bezug auf staatliche Arbeitgeber eine eher untergeordnete Rolle, obwohl der normative Ausgangspunkt eigentlich das Gegenteil erwarten ließe. 1. Art. 33 Abs. 2 und Abs. 3 GG als normativer Ausgangspunkt
Ausgangspunkt für den diskriminierungsfreien Zugang zum öffentlichen Dienst ist die 16 Regelung in Art. 33 Abs. 2 und Abs. 3 GG. Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG knüpft an Regelungen des frühen 19. Jahrhunderts und ihre Fortentwicklung vor allem in der Paulskirchenver27 Vgl. etwa Korioth, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Mai 2015, Art. 140 Rn. 11, der davon spricht, dass „[d]ie Institute des Staatskirchenrechts […] überwiegend auf die christlichen Kirchen zugeschnitten“ sind.
Christian Walter/Kathrin Tremml
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§ 8 Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien
fassung an.28 Das Regelungsziel besteht darin, jeden rechtlichen oder objektiv feststellbaren Nachteil aus Gründen der Religionszugehörigkeit auszuschließen.29 Auch wenn das Verhältnis der Absätze zwei und drei zueinander im Einzelnen etwas unklar ist, so besteht im Ergebnis Einigkeit darüber, dass ein weites Verständnis des „öffentlichen Amtes“ im Sinne jeder vom Staat selbst oder einem Träger mittelbarer Staatsverwaltung vergebenen oder anvertrauten Position zugrunde zu legen ist.30 Damit fallen die aktuellen Streitfragen um Lehrerinnen und Richterinnen oder Staatsanwältinnen mit Kopftuch in den Anwendungsbereich der Vorschrift. Das wird auch in allen einschlägigen Entscheidungen so gesehen.31 2. Die freiheitsrechtliche Überlagerung in der Praxis der Rechtsanwendung a) Freiheitsrechtliche Überlagerung von Art. 33 Abs. 2 und Abs. 3 GG 17
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen bisherigen Entscheidungen zu äußeren religiösen Bekundungen bei Staatsbediensteten stets die Prüfung eines Verstoßes gegen das Freiheitsrecht des Art. 4 GG in den Mittelpunkt gestellt. In seiner Kopftuch I-Entscheidung nahm das Gericht zwar an, ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen verstoße „gegen Art. 33 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und mit Art. 33 Abs. 3 GG“32. Die gleichheitsrechtliche Vorschrift des Art. 33 Abs. 3 GG wurde jedoch nur ergänzend neben Art. 4 GG herangezogen und die im Unterschied zur freiheitsrechtlichen Prüfung kurzen Ausführungen zu dieser Vorschrift erklären sich wohl durch die Erwägung, dass Art. 33 Abs. 3 GG nicht weitergehen kann als Art. 4 GG und insofern derselbe Rechtfertigungsmaßstab Anwendung findet.33 In der Kopftuch II-Entscheidung wurde die Vorschrift des § 57 Abs. 4 SchulG NW, die Lehrerinnen und Lehrern in ihrem Satz 1 die Abgabe „politischer, religiöser, weltanschaulicher oder ähnliche[r] äußere[r] Bekundungen“ untersagt, ebenfalls primär anhand der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit überprüft. Ein pauschales Verbot religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild muss demnach im Hinblick auf Art. 4 GG einschränkend verfassungskonform so ausgelegt werden, dass es 28 Vgl. bereits oben Rn. 1 (A.); § 146 Paulskirchenverfassung enthält keine Beschränkungen mehr auf
christliche Religionen, sondern verbietet in einer der heutigen Formulierung von Art. 33 Abs. 3 GG sehr ähnlichen Wendung beim Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte die Anknüpfung von Vor- oder Nachteilen an „das Bekenntnis“. 29 Jachmann-Michel/Kaiser, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 33 Rn. 26. 30 Höfling, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand: August 2007, Art. 33 Rn. 74; Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 33 Rn. 84; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 346. 31 BVerfGE 108, 282 – Kopftuch I (2003) und BVerfGE 138, 296 – Kopftuch II (2015) (bzgl. Lehrerinnen), BVerfGE 153, 1 – Kopftuch III (2020) (bzgl. Rechtsreferendarinnen); BayVerfGH, Entscheidung v. 14.3.2019, Vf. 3-VII-18 (bzgl. Richterinnen, Staatsanwältinnen und Landesanwältinnen). 32 BVerfGE 108, 282 (294) – Kopftuch I (2003). 33 Vgl. BVerfGE 108, 282 (298) – Kopftuch I (2003) – in Rn. 39 wird lediglich festgestellt, dass Art. 33 Abs. 3 GG „berührt“ sei, woran sich in den Rn. 40 ff. eine ausführliche an Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG ausgerichtete Prüfung anschließt. Hierzu auch Baer/Wrase, Staatliche Neutralität und Toleranz, JuS 2003, S. 1162 (1163) und Hufen, Der Regelungsspielraum des Landesgesetzgebers im „Kopftuchstreit“, NVwZ 2004, S. 575 (577). Christian Walter/Kathrin Tremml
C. Ungleichbehandlungen wegen der Religion – am Beispiel des Arbeitsplatzes
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eine „hinreichend konkrete Gefahr für die genannten Schutzgüter“34, d. h. insbesondere den Schulfrieden und die staatliche Neutralität, voraussetzt.35 Lediglich § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW, der eine explizite Privilegierung „christlicher 18 und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“ enthielt, wurde einer gleichheitsrechtlichen Prüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG unterzogen. Hierin sah der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Benachteiligung anderer als christlicher und jüdischer religiöser Anschauungen und bejahte eine Verletzung von Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG.36 Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts gelangte allerdings in seiner Entscheidung zum Kopftuchverbot bei Referendarinnen zu einer anderen Einschätzung. Er hielt die etwas weicher formulierte Privilegierungsvorschrift zugunsten „der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Traditionen“ in § 45 Satz 3 HBG (Hessisches Beamtengesetz) für einer verfassungskonformen, einschränkenden Auslegung zugänglich und sah unter dieser Prämisse in ihr keine Bevorzugung christlicher Beamtinnen und Beamter.37 Auch diese Entscheidung steht aber – trotz Divergenzen im Ergebnis, die auf die be- 19 sondere Bedeutung des Grundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität im Bereich der Justiz zurückzuführen sind38 – insofern in einer Linie mit den vorangegangenen verfassungsgerichtlichen Urteilen, als die Zulässigkeit eines Kopftuchverbots für Staatsbedienstete vorrangig am Maßstab der Religionsfreiheit bewertet wird.39 Vor allem vor dem Hintergrund, dass in den aktuellen Entscheidungen jeweils zumindest knapp auch eine mögliche Diskriminierung der Beschwerdeführerin wegen ihres Geschlechts (Art. 3 Abs. 2 GG) thematisiert wurde,40 erscheint es überraschend, dass das eigentlich näherliegende Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG bezüglich der Religion nur im Kontext der Privilegierung christlich-abendländischer Symbole eine Rolle spielt. Im Übrigen tritt die gleichheitsrechtliche Komponente einer Ungleichbehandlung aufgrund der Religion in der Rechtsprechung vollständig hinter die freiheitsrechtliche Betrachtung der „Kopftuch-Problematik“ zurück.41
34 BVerfGE 138, 296 (327) – Kopftuch II (2015). 35 BVerfGE 138, 296 (328 ff.) – Kopftuch II (2015); hierzu auch Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz,
GG, Stand: Mai 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 62.
36 BVerfGE 138, 296 (346 ff.) – Kopftuch II (2015). 37 BVerfGE 153, 1 (51 ff.) – Kopftuch III (2020); so im Ergebnis auch Schwarz, Gleichbehandlungsgebot
im Hinblick auf Religion, in: Pirson u. a. (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 3. Aufl. 2020, § 17 Rn. 27. 38 Vgl. etwa Muckel, Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen verfassungsgemäß, JA 2020, S. 555 (556 ff.); Leitmeier, Das Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen, NJW 2020, S. 1036 (1038). 39 BVerfGE 153, 1 (33 ff.) – Kopftuch III (2020). Daneben wird in den Rn. 107 ff. und 111 f. zusätzlich auf die Ausbildungsfreiheit und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der Referendarin eingegangen. 40 Vgl. BVerfGE 138, 296 (332 f.) – Kopftuch II (2015) und BVerfGE 153, 1 (51) – Kopftuch III (2020); zur gleichzeitigen Benachteiligung aufgrund mehrerer Merkmale vgl. → Holzleithner, § 13. 41 So auch Wagner, Kopftuch in Beschäftigungsverhältnissen, EuR 2018, S. 724 (733 f.); vgl. zum Verhältnis zwischen Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auch Langenfeld (Fn. 35), Art. 3 Abs. 3 Rn. 62 ff. Christian Walter/Kathrin Tremml
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§ 8 Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien
Dabei könnte man sich durchaus fragen, ob nicht bereits in der Untersagung des Tragens religiöser Kleidungsstücke zumindest eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion liegt. Zwar sind diese Vorschriften so formuliert, dass sie äußere Bekundungen aller Religionsgemeinschaften in gleicher Weise treffen,42 allerdings lässt sich nicht bestreiten, dass rein faktisch überwiegend kopftuchtragende Muslima durch die entsprechenden Neutralitätsgebote tangiert werden.43 Ausweislich der Gesetzentwürfe44 ist Anlass für entsprechende Regelungen zumeist explizit das Verlangen bestimmter Fraktionen nach einem „Kopftuchverbot“. Auch in den gerichtlichen Auseinandersetzungen zeigt sich, dass die Vorschriften nur in Bezug auf das muslimische Kopftuch angegriffen werden, auch wenn faktisch andere Fallgestaltungen denkbar wären (etwa die jüdische Kippa oder der Turban eines Sikh). b) Primär freiheitsrechtliche Ausrichtung der EMRK
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Die Tendenz der freiheitsrechtlichen Überlagerung der Problematik der Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung lässt sich auch in der Rechtsprechung des EGMR erkennen. Dies verwundert insofern nicht, als die EMRK selbst in hohem Maße freiheitsrechtlich ausgerichtet ist. Die Konvention enthält keinen Art. 3 Abs. 1 GG vergleichbaren allgemeinen Gleichheitssatz, sondern mit Art. 14 EMRK lediglich ein akzessorisches Diskriminierungsverbot, das auf den Anwendungsbereich der Konventionsrechte beschränkt ist.45 Das Protokoll Nr. 12 EMRK enthält zwar in Artikel 1 ein grundsätzliches Diskriminierungsverbot auch aufgrund der Religion, wurde aber bislang von Deutschland nicht ratifiziert und ist auch insgesamt mit derzeit lediglich 20 Ratifikationen46 und bislang keinem einzigen entschiedenen Fall zur religiösen Diskriminierung47 von geringer praktischer Bedeutung. Zudem deutet die Stellung des Art. 14 EMRK zwischen Allgemeinen Bestimmungen – dem Recht auf eine wirksame Beschwerde in Art. 13 EMRK und der Notstandsregelung des Art. 15 EMRK – in systematischer Hinsicht darauf hin, dass das Gleichbehandlungsgebot eher in einem formellen, denn in einem substantiellen Sinn verstanden wird und es in seinem Bedeutungsgehalt hinter den in der Konvention verbürgten Freiheitsrechten zurückbleibt.48 Hierfür spricht auch die Praxis des EGMR, in der Regel 42 Hufen (Fn. 33), S. 577. 43 BVerfGE 138, 296 (332 f.) – Kopftuch II (2015), so auch Baer/Wrase (Fn. 33), S. 1165; den Aspekt der
intersektionalen Benachteiligung stark betonend auch Kingreen (Fn. 1), Art. 3 Rn. 551.
44 Siehe etwa Landtag von Baden-Württemberg Drs. 12/2931; Bayerischer Landtag Drs. 15/3688; Land-
tag Nordrhein-Westfalen Drs. 14/569.
45 Sauer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 14 Rn. 14 ff.; Grabenwarter/Pabel,
Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl. 2021, § 26 Rn. 1, 4; Trechsel, Überlegungen zum Verhältnis zwischen Art. 14 EMRK und dem 12. Zusatzprotokoll, in: Wolfrum (Hrsg.), Gleichheit und Nichtdiskriminierung im nationalen und internationalen Menschenrechtsschutz, 2003, S. 119 f. 46 Protokoll Nr. 12 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Unterschriften und Ratifikationsstand des Vertrags 177, SEV Nr. 177. 47 Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, 4. Aufl. 2017, Protokoll Nr. 12 Rn. 5; zum Verhältnis von Art. 14 EMRK und Art. 1 Protokoll Nr. 12 siehe auch Schrooten (Fn. 14), S. 89 ff. 48 Trechsel (Fn. 45), S. 130. Christian Walter/Kathrin Tremml
C. Ungleichbehandlungen wegen der Religion – am Beispiel des Arbeitsplatzes
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auf eine Prüfung des Diskriminierungsverbots zu verzichten, wenn er die Verletzung eines Freiheitsrechts bereits festgestellt hat, da in diesem Fall die Ungleichbehandlung keinen zusätzlichen Unrechtsgehalt darstelle.49 Von dieser Linie weicht der Gerichtshof jedoch ohne ersichtlichen Grund im Fall Thlimmenos ab, in dem er zwar ebenfalls den akzessorischen Charakter des Art. 14 EMRK gegenüber den Freiheitsrechten betont, dann allerdings die Prüfung des Verbotes der Diskriminierung wegen der Religion (Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 9 EMRK) der Prüfung der Religionsfreiheit voranstellt und zu dem Ergebnis kommt, dass eine Verletzung des Freiheitsrechts dahinstehen könne, da bereits eine Verletzung des Diskriminierungsverbots vorliege.50 Da diese Entscheidung mit einer Voranstellung der gleichheitsrechtlichen vor der frei- 22 heitsrechtlichen Prüfung jedoch soweit ersichtlich einmalig geblieben ist, gilt grundsätzlich auch in Bezug auf das spezielle Verhältnis zwischen Art. 9 EMRK und Art. 14 EMRK, dass dem lediglich akzessorischen Diskriminierungsverbot neben der Religionsfreiheit als korrespondierendem Freiheitsrecht in der Regel keine eigenständige Bedeutung zukommt.51 Wie der EGMR in neueren Urteilen festgestellt hat, ist keine gesonderte Prüfung des Art. 14 EMRK mehr notwendig, wenn bereits ein Verstoß gegen Art. 9 EMRK festgestellt wurde. Und auch im umgekehrten Fall, wenn kein Verstoß gegen die Religionsfreiheit vorliegt, kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die im Rahmen des Art. 14 EMRK zu berücksichtigenden Faktoren ähnlich wären, sodass die Prüfung einer Verletzung ebenfalls von vornherein unterbleibt.52 Im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsmerkmal „Religion“ überlagert das korrespondierende Freiheitsrecht also die gleichheitsrechtlichen Anknüpfungspunkte. Um es mit den Worten der Generalanwältin Sharpston zu sagen, verfolgt der EGMR im Hinblick auf Art. 9 EMRK und die lediglich ergänzende Funktion des Diskriminierungsverbots des Art. 14 EMRK in Bezug auf religionsrechtliche Fragen eher einen „an Beschränkungen anknüpfenden Ansatz“53. Besonders deutlich zeigt sich diese freiheitsrechtliche Ausrichtung in der Entscheidung 23 des EGMR zum französischen Verschleierungsverbot im öffentlichen Raum. In dieser – 49 EGMR, Urt. v. 18.12.1986, Beschwerde-Nr. 9697/82, Johnston u. a. v. Irland, Rn. 79; Grabenwarter/
Pabel (Fn. 45), § 26 Rn. 2; eine Ausnahme hiervon macht der Gerichtshof lediglich, wenn die Ungleichbehandlung in seinen Augen einen „wesentlichen Aspekt“ des Falls darstellt, Sauer (Fn. 45), Art. 14 Rn. 19; so lassen sich auch die Ausführungen des EGMR zu einer Verletzung des Art. 14 EMRK nach bereits bejahtem Verstoß gegen Art. 9 i. V. m. Art. 11 EMRK in folgendem Fall deuten: EGMR, Urt. v. 31.7.2008, Beschwerde-Nr. 40825/98, Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u. a. v. Österreich, Rn. 87 ff. 50 EGMR, Urt. v. 6.4.2000, Beschwerde-Nr. 34369/97, Thlimmenos v. Griechenland, Rn. 53; kritisch zu dieser Entscheidung unter dem Aspekt des vom EGMR postulierten Anspruchs auf Ungleichbehandlung Walter, Gleichheit und Rationalität, in: Wolfrum (Hrsg.), Gleichheit und Nichtdiskriminierung im nationalen und internationalen Menschenrechtsschutz, 2003, S. 253 (266 ff.). 51 Vgl. EuGH, Schlussanträge der GA Sharpston v. 13.7.2016, Rs. C-188/15, Bougnaoui, Rn. 56, 60; zum Verhältnis zwischen freiheits- und gleichheitsrechtlicher Prüfung auch Sauer (Fn. 45), Art. 14 Rn. 19 und Berka, Das islamische Kopftuch, EuZA 2017, S. 465 (472). 52 EGMR, Urt. v. 15.1.2013, Beschwerde-Nr. 48420/10 u. a. – Eweida u. a. v. Vereinigtes Königreich, Rn. 95 bzw. 101 (Urteil betrifft allerdings ein Kopftuchverbot durch einen privaten Arbeitgeber); vgl. auch Kingreen (Fn. 1), Art. 3 Rn. 555. 53 EuGH, Schlussanträge der GA Sharpston v. 13.7.2016, Rs. C-188/15, Bougnaoui, Rn. 60. Christian Walter/Kathrin Tremml
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§ 8 Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien
auch innerhalb der Großen Kammer selbst umstrittenen – Entscheidung wird das Gesichtsverhüllungsverbot für mit Art. 8 und 9 EMRK vereinbar erklärt54 und infolgedessen ohne genauere und eigenständige Prüfung unter Verweis auf dieselben Gründe auch ein Verstoß gegen das Gleichheitsrecht verneint.55 Dieser rein freiheitliche Ansatz ist jedoch nicht alternativlos und ein stärkerer Fokus auf das Gleichheitsrecht kann sich eventuell auch auf das Ergebnis insgesamt auswirken, indem mögliche Diskriminierungen stärker in den Vordergrund und das Bewusstsein der Entscheidenden rücken. Ein guter Beleg hierfür ist die Position des UN-Menschenrechtsausschusses, der in derselben Angelegenheit zu komplett gegenläufigen Ergebnissen gelangt wie der EGMR. Die Mehrheit des UNMenschenrechtsausschusses bejaht nicht nur eine Verletzung der Religionsfreiheit (was unter anderem auf das Fehlen eines der margin of appreciation entsprechenden Konzepts zurückzuführen sein dürfte), sondern sieht in der französischen Regelung außerdem einen Gleichheitsverstoß (Art. 26 IPbpR), da diese eine indirekte, intersektionale Diskriminierung muslimischer Frauen bewirke.56 Insgesamt lassen die Mitteilungen des Menschenrechtsausschusses eine größere Sensibilität für mögliche faktisch diskriminierende Auswirkungen auf strukturell benachteiligte Religions- und Bevölkerungsgruppen erkennen. 3. Zur Rolle des Neutralitätsprinzips an der Schnittstelle von Freiheits- und Gleichheitserwägungen 24
Im Kontext der (Un-)Gleichbehandlung wegen der Religion durch staatliche Arbeitgeber stellt sich auch die Frage nach der Rolle des staatlichen Neutralitätsprinzips als Argumentationsfigur. Das Neutralitätsprinzip ist zwar nicht explizit grundgesetzlich verankert, speist sich jedoch nach ganz herrschender Auffassung sowohl aus Freiheitsrechten (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) als auch aus Gleichheitsrechten (Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1, Abs. 4, 137 Abs. 1 WRV ) und befindet sich somit an der Schnittstelle von Freiheits- und Gleichheitserwägungen.57 Der Grad der tatsächlichen Verwirklichung und das genaue Verständnis, welches das Bundesverfassungsgericht dem Konzept staatlicher Neutralität zugrunde legt, haben im Laufe der Jahrzehnte einen erheblichen Wandel erfahren.58 Anders als es die auch gleichheitsrechtliche Verankerung erwar54 EGMR, Urt. v. 1.7.2014, Beschwerde-Nr. 43835/11, S. A. S. v. Frankreich, Rn. 159. 55 EGMR, Urt. v. 1.7.2014, Beschwerde-Nr. 43835/11, S. A. S. v. Frankreich, Rn. 160–162. 56 CCPR, Decision v. 17.7.2018, Communication No. 2747/2016, Yaker v. France, UN Doc. CCPR/C/
123/D/2747/2016, Rn. 8.13 ff., und CCPR, Decision v. 17.7.2018, Communication No. 2807/2016, Hebbadj v. France, UN Doc. CCPR/C/123/D/2807/2016, Rn. 7.13 ff., 8; vgl. zu den gleichheitsrechtlichen Aspekten dieser Mitteilungen auch Oeter, Headscarf and Burqa Bans as Battlegrounds for Symbolic Conflicts on Cultural Identity, Israel Yearbook on Human Rights 50 (2020), S. 121 (137 ff.). 57 Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. BVerfGE 108, 282 (299) – Kopftuch I (2003); BVerfGE 93, 1 (17) – Kruzifix (1995); BVerfGE 19, 206 (216) – Kirchenbausteuer (1965); Schrooten (Fn. 14), S. 22 f.; Unruh, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III, 3. Aufl. 2018, Art. 140 Rn. 19 ff., der sich allerdings für eine vorwiegende Verankerung im Freiheitsrecht des Art. 4 GG ausspricht; dahingegen Betonung der Anknüpfung des Neutralitätsgebots an die Diskriminierungsverbote bei Sacksofsky, Religiöse Freiheit als Gefahr?, in: VVDStRL 68 (2009), S. 7 (22). 58 Vgl. hierzu Walter, Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates, in: Pierson u. a. (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 3. Aufl. 2020, § 18 Rn. 15 ff.; Christian Walter/Kathrin Tremml
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ten ließe, haben Erwägungen des Diskriminierungsschutzes keine entscheidende Rolle gespielt.59 Die antidiskriminierungsrechtliche Perspektive kann aber zusätzliche Einsichten in den Umgang mit Neutralitätsargumenten liefern. Als Argumentationstopos wird der Begriff ab den 1960er Jahren verwendet, allerdings 25 entfaltet er zunächst kaum praktische Wirkung. So geht das Gericht etwa in seiner Entscheidung zu Kreuzen im Gerichtssaal nicht näher auf das Neutralitätsprinzip ein, da „eine[…] solche[…] Prüfung […] in keinem vertretbaren Verhältnis zu der Bedeutung des hier zu entscheidenden Falles“60 stünde. Entsprechend gestand es den Betroffenen im Ergebnis nur im Einzelfall das Recht zu, ohne Kreuz im Gerichtssaal verhandeln zu dürfen. Ähnliches gilt für die Entscheidungen, in denen das Gericht christliche Gemeinschaftsschulen und Schulgebete billigte, ohne sich in der Begründung näher mit dem von den Beschwerdeführern jeweils gerügten Verstoß gegen das Neutralitätsprinzip auseinanderzusetzen.61 Diese Zurückhaltung ändert sich 1995 mit der Kruzifix-Entscheidung. Hier wird das Neutralitätsgebot zum zentralen Argument gegen die Zulässigkeit von Kreuzen in Klassenzimmern.62 Dabei wird auch sehr deutlich, dass im Gewand des Neutralitätsprinzips Erwägungen angestellt werden, die durchaus auch unter dem Gesichtspunkt der Diskriminierung aus religiösen Gründen hätten verhandelt werden können. Das gilt etwa für die Pflicht, Schutz vor Angriffen oder Behinderungen von Anhängern anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen zu gewähren,63 oder auch für die Grenzen der Zulässigkeit religiös-weltanschaulicher Bezüge in der Schule.64 Ob die in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zugrunde gelegte Neu- 26 tralitätskonzeption eher eine „offene“, religionsfreundliche oder nicht vielmehr eine distanzierende ist, die Religion ins Private verlagert, wurde in der Folge in der Literatur intensiv diskutiert.65 In der ersten Entscheidung zum Kopftuchtragen durch eine Lehrerin wollte das Gericht diese Frage föderalistisch lösen und die konkrete Ausgestaltung der Neutralität in die Hände des jeweiligen Landesgesetzgebers legen.66 Man konnte in dieser ersten Heinig, Verschärfung der oder Abschied von der Neutralität?, JZ 2009, S. 1135 (1137); Sacksofsky (Fn. 57), S. 23 ff. 59 Diese Analyse wohl teilend Bornemann, Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, 2020, S. 176. 60 BVerfGE 35, 366 (375) – Kreuz im Gerichtssaal (1973). 61 BVerfGE 41, 29 (37 ff.) – Simultanschule (1975), worauf das BVerfG in Rn. 102 lediglich mit der Aussage eingeht, dass der Staat seine religiöse und weltanschauliche Neutralität im Sinne einer Offenheit gegenüber weltanschaulich-religiösen Anschauung wahre; BVerfGE 52, 223 (232 f.) – Schulgebet (1979). 62 BVerfGE 93, 1 (16 f.) – Kruzifix (1995). 63 BVerfGE 93, 1 (16) – Kruzifix (1995). 64 BVerfGE 93, 1 (23 f.) – Kruzifix (1995). 65 Für ein offenes Neutralitätsverständnis: Germann, Das System des Staatskirchenrechts in Deutschland, in: Pirson u. a. (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 3. Aufl. 2020, § 7 Rn. 84 ff.; Walter (Fn. 58), Rn. 32 f.; Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, NJW-Beilage 2010, S. 90 (91); für ein distanzierendes Neutralitätsverständnis dagegen: Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2. Aufl. 2017, S. 98 ff.; Sacksofsky (Fn. 57), S. 24; zur Debatte insgesamt siehe Heinig (Fn. 58), S. 1137 ff. sowie mit einer ausführlichen Einordnung und Analyse der verschiedenen Konzepte Bornemann (Fn. 59), S. 123 ff. 66 BVerfGE 108, 282 (310) – Kopftuch I (2003). Christian Walter/Kathrin Tremml
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Kopftuch-Entscheidung eine Abkehr von der vorherigen Rechtsprechung sehen, weil sie dem Neutralitätsprinzip nicht mehr einen verfassungsrechtlich fest vorgegebenen Inhalt zumisst, sondern vielmehr dem einfachen Bundes- oder Landesgesetzgeber die Zuständigkeit für die nähere Ausgestaltung überlassen wollte. Im Hintergrund stand die Überlegung, dass je nach den regional unterschiedlichen Verhältnissen unterschiedliche Ausgestaltungen für den Umgang mit religiösen Symbolen in der Schule gewählt werden können sollten. Diese Überlegung war freilich in ihrer Verknüpfung mit dem Bundesstaatsprinzip fragwürdig, weil die konkreten Schulverhältnisse nicht von den Grenzen zwischen einzelnen Bundesländern abhängen, sondern von der jeweiligen Schulsituation vor Ort. 27 Aus der Perspektive des Antidiskriminierungsrechts ist es bemerkenswert, dass die offene und religionsfreundliche Neutralitätskonzeption in Bezug auf christlich-abendländische Traditionen in den Entscheidungen zur christlichen Gemeinschaftsschule unproblematisch bejaht,67 in der ersten Kopftuch-Entscheidung dann aber – in Bezug auf ein muslimisches Symbol – strenger gehandhabt werden können soll. Diese Problematik wurde zusätzlich durch in der Folge der ersten Kopftuch-Entscheidung erlassene landesrechtliche Regelungen verschärft, mit denen einerseits äußerlich sichtbare Zeichen religiöser Zugehörigkeit durch Lehrende verboten, andererseits aber eine Ausnahme für christlich-abendländische Symbole geschaffen werden sollte. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner zweiten Kopftuch-Entscheidung in dieser Differenzierung zu Recht einen klaren Gleichheitsverstoß gesehen und solche Regelungen für verfassungswidrig erachtet.68 28 Zugleich hat das Gericht die in der ersten Kopftuch-Entscheidung nahegelegte je nach Bundesland unterschiedliche Neutralitätskonzeption korrigiert und den Rahmen der Ausgestaltung des Neutralitätsprinzips durch die Länder wieder enger gezogen, wenn es explizit formuliert, dass die „dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität (…) nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen [ist], sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung.“69 Andererseits hat es bei der Beschränkung der Freiheit der Religionsausübung die konkrete Schulsituation für ausschlaggebend erachtet und aus dieser die Möglichkeit abgeleitet, gegebenenfalls auch Kopftuch-Verbote für Lehrerinnen an bestimmten Schulen anzuordnen.70 Diese Differenzierung überzeugt, weil sie es vermeidet, äußere Zeichen religiöser Zugehörigkeit schon abstrakt als Gefährdung des öffentlichen Friedens zu qualifizieren.71 Eine solche abstrakte Betrachtung wäre auch unter dem Gesichtspunkt des Antidiskriminierungsrechts problematisch, weil sie schon 67 BVerfGE 41, 29 (37 ff.) – Simultanschule (1975); BVerfGE 41, 65 (75 f.) – Gemeinsame Schule (1975). 68 BVerfGE 138, 296 (346 ff.) – Kopftuch II (2015); vgl. zu dieser Entscheidung bereits Rn. 17 ff. (C. I. 2. a));
dem folgend auch das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung zum Berliner Neutralitätsgesetz, vgl. BAG, Urt. v. 27.8.2020, 8 AZR 62/19, Rn. 74. 69 BVerfGE 138, 296 (339) – Kopftuch II (2015). 70 BVerfGE 138, 296 (341 f.). – Kopftuch II (2015). 71 Traub, Abstrakte und konkrete Gefahren religiöser Symbole in öffentlichen Schulen, NJW 2015, S. 1338 (1339 f.); ambivalent Sacksofsky, Kopftuch als Gefahr – ein dogmatischer Irrweg, DVBl. 2015, S. 801 (804 ff.); ablehnend mit Hinweis auf die Unbestimmtheit auch des Kriteriums der konkreten Gefahr dahingegen Volkmann, Dimensionen des Kopftuchstreits, Jura 2015, S. 1083 (1085 f.). Christian Walter/Kathrin Tremml
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religiöse Zugehörigkeit als solche potentiell benachteiligen würde. Die stattdessen vom Gericht gewählte Lösung über das Erfordernis einer konkreten Gefährdung des Schulfriedens ist dagegen nicht nur in der freiheitsrechtlichen Dogmatik zulässiger Beschränkungen der Religionsfreiheit richtig,72 sondern sie vermag auch antidiskriminierungsrechtlich zu überzeugen. Im Ergebnis führt der Ansatz nämlich dazu, dass die offene und religionsfreundliche Neutralitätskonzeption grundsätzlich für alle Religionen gilt, solange der Schulfrieden nicht konkret gestört wird.73 Es mag zwar richtig sein, dass tendenziell eher ein Verhalten von Minderheiten von der Mehrheit als störend empfunden wird als umgekehrt. Deswegen ist es nicht ausgeschlossen, dass auch der an der Wahrung des Schulfriedens orientierte Ansatz des Bundesverfassungsgerichts diskriminierende Wirkungen erzeugt. Dem ist durch eine möglichst weitgehende Berücksichtigung der Bedürfnisse religiöser Minderheiten Rechnung zu tragen. In Ermangelung besserer Alternativen vermag diese Gefahr aber die Orientierung an der Wahrung des Schulfriedens in der jeweils konkreten Situation nicht in Frage zu stellen. In seiner dritten Kopftuch-Entscheidung zum Tragen eines Kopftuchs im Gerichtssaal 29 hat das Bundesverfassungsgericht den gerade beschriebenen Ansatz weiter differenziert. Einerseits hält es an der für alle geltenden offenen und religionsfreundlichen Neutralitätskonzeption fest, andererseits berücksichtigt es aber auch die konkret in Rede stehende staatliche Aufgabe und die Umstände ihrer Ausübung.74 Dies führt dazu, dass bei der genuin hoheitlichen Tätigkeit von Richterinnen und Richtern sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälten, die durch eine besondere Förmlichkeit des gerichtlichen Verfahrens unterstrichen wird (Tragen von Amtstracht; Eintreten des Gerichts mit Erheben der übrigen Anwesenden etc.), weitergehende Einschränkungen der individuellen Religionsfreiheit von Amtsträgerinnen und Amtsträgern möglich sind, als beispielsweise in der Schule.75 II. Religion und private Arbeitgeber 1. Konfligierende Freiheitsrechte im Antidiskriminierungsrecht
Die Problematik der Zulässigkeit allgemeiner Verbote des Tragens sichtbarer religiöser 30 Symbole stellt sich in leicht abgewandelter Form auch dann, wenn solche Verbote nicht auf gesetzlicher Grundlage beruhen, sondern auf Anordnungen und Regelungen privater 72 Traub (Fn. 71), S. 1339; Klein, Das Kopftuch im Klassenzimmer: konkrete, abstrakte, gefühlte Gefahr?,
DÖV 2015, S. 464 (466 f.).
73 BVerfGE 138, 296 (338 f.) – Kopftuch II (2015). 74 Siehe hierzu auch Wißmann, Justitia mit Kopftuch?, DRiZ 2016, S. 224 (226 f.), der zwar auch die Un-
terschiede zwischen der Situation vor Gericht bzw. in der Schule herausarbeitet, sich im Ergebnis aber für eine Übertragbarkeit der Vorgaben aus der Kopftuch II-Rechtsprechung ausspricht. 75 Eckertz-Höfer, Kein Kopftuch auf der Richterbank?, DVBl. 2018, S. 537 (543 f.); Häberle, Vor einer „Kopftuch III“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 2018, S. 1263 (1266); Muckel, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 27.6.2017, 2 BvR 1333/17, NVwZ 2017, S. 1132 (1132 f.); kritisch in Bezug auf die gesellschaftspolitischen Implikationen dieser Entscheidung jedoch Gärditz, Ein Bundesverfassungsgericht des Ressentiments, lto.de v. 27.2.2020 und Muckel, Kopftuchverbot für Referendarinnen verfassungsgemäß, JA 2020, S. 555 (558). Christian Walter/Kathrin Tremml
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§ 8 Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien
Unternehmen. Ein wesentlicher Unterschied liegt jedoch darin, dass sich das Privatunternehmen auf seine grundrechtlich geschützte unternehmerische Freiheit berufen kann. Im Ergebnis lassen sich solche Streitigkeiten also als Konflikt zwischen zwei widerstreitenden Grundrechtspositionen begreifen: der Religionsfreiheit der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers auf der einen Seite, die aufgrund der mittelbaren Drittwirkung auch im privaten Arbeitsverhältnis zu beachten ist, und der unternehmerischen Freiheit der Arbeitgeberin oder des Arbeitgebers auf der anderen Seite.76 31 In Fällen, die die Zulässigkeit von Verboten des Tragens sichtbarer religiöser Symbole am Arbeitsplatz betreffen, haben deutsche Gerichte diese grundlegende Konfliktlage bislang durch eine am Grundsatz der praktischen Konkordanz ausgerichtete Abwägung im Einzelfall zwischen der Drittwirkung entfaltenden Religionsfreiheit der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers und der unternehmerischen Freiheit des Arbeitgebers gelöst.77 Dabei zeigt sich der „hohe[…] Stellenwert[…] des Grundrechts der Glaubens- und Religionsfreiheit“ darin, dass eine konkrete Gefahr betrieblicher Störungen oder wirtschaftlicher Einbußen gefordert wird, um die Religionsfreiheit der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zurücktreten zu lassen.78 Dass dieses Ergebnis keine Verkennung der durch Art. 12 GG geschützten wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit darstellt, hat ausdrücklich auch das Bundesverfassungsgericht anerkannt.79 Allerdings fallen derartige Rechtsstreitigkeiten seit dem Inkrafttreten der Rahmenricht32 linie Beschäftigung RL 2000/78/EG in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und unterliegen damit der Zuständigkeit des EuGH. Dieser schien in den 2017 ergangenen Entscheidungen in den Rechtssachen Achbita und Bougnaoui80 ein anderes Wertungsverständnis erkennen zu lassen. In beiden Entscheidungen setzte sich die unternehmerische Freiheit, die nach dem EuGH auch eine betriebliche Neutralitätspolitik umfasst, gegenüber der Religionsfreiheit durch,81 da der EuGH mit dem Erfordernis einer „kohärente[n] und systematische[n]“82 Neutralitätspolitik einen weniger strengen Maßstab anlegte als die deutschen Gerichte, die das Vorliegen einer konkreten Gefahr verlangen. 33 In der aktuellen Entscheidung des EuGH zu religiösen Symbolen am Arbeitsplatz lässt sich jedoch eine Annäherung an diese Rechtsprechung der deutschen Gerichte erkennen. Zum einen konkretisiert der EuGH die Anforderungen an die betriebliche Neutralitäts76 Siehe etwa BAG, Urt. v. 10.10.2002, 2 AZR 472/01, Rn. 41 ff. 77 BAG, Urt. v. 10.10.2002, 2 AZR 472/01, Rn. 41 ff., bestätigt durch BVerfG, Beschluss v. 30.7.2003, 1 BvR
792/03, Rn. 10; zu einer Kündigung wegen Arbeitsverweigerung aus Glaubensgründen siehe BAG, Urt. v. 24.2.2011, 2 AZR 636/09, Rn. 22 f. 78 BAG, Urt. v. 10.10.2002, 2 AZR 472/01, Rn. 46; siehe hierzu Walter (Fn. 26), Rn. 104; Steinbach (Fn. 19), S. 627 f.; Hoevels, Kopftuch als Kündigungsgrund?, NZA 2003, S. 701 (702 f.); Mangold/Payandeh (Fn. 21), S. 724; Neugebauer/Sura, Das Verbot religiöser Kleidung und Symbolik am Arbeitsplatz – Unternehmerisches Freiheitsrecht und öffentliches Desiderat einer neutralen Beschäftigungsgestaltung?, RdA 2018, S. 350 (351). 79 BVerfG, Beschluss v. 30.7.2003, 1 BvR 792/03, Rn. 15 ff. 80 EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, Achbita; EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-188/15, Bougnaoui. 81 In diesem Sinne auch Berka (Fn. 51), S. 482; Mangold/Payandeh (Fn. 21), S. 722 f.; Steinbach (Fn. 19), S. 637 ff. 82 EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, Achbita, Rn. 40. Christian Walter/Kathrin Tremml
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politik dahingehend, dass der bloße Wille des Arbeitgebers, eine Neutralitätspolitik zu verfolgen, für die Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung nicht genügen kann.83 Die betriebliche Neutralitätspolitik muss – und hierin liegt eine Verschärfung der Rechtfertigungsanforderungen gegenüber den beiden Urteilen aus dem Jahr 2017 – „wirklichen Bedürfnisse[n] des Arbeitgebers“ genügen, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, ob ihm nachteilige Konsequenzen drohen.84 Dabei nähert der EuGH sich auch in der Formulierung an die deutschen Arbeitsgerichte und das BVerfG an, wenn er fordert, es müsse „eine hinreichend konkrete Gefahr der Beeinträchtigung dieses Ziels“ bestehen, etwa „die Gefahr konkreter Unruhe innerhalb des Unternehmens oder die konkrete Gefahr von Ertragseinbußen“.85 An mehreren Stellen betont der EuGH zudem, dass die Darlegungslast für die Frage, ob die betriebliche Neutralitätspolitik überhaupt einen legitimen Zweck darstellen kann, beim Arbeitgeber liegt.86 Zum anderen setzt sich der EuGH in der neueren Entscheidung viel ausführlicher als 34 in den Urteilen Achbita und Bougnaoui mit der Gewährleistung der Religionsfreiheit auch im Kontext der EMRK auseinander87 und betont die Notwendigkeit der Herstellung eines angemessenen Gleichgewichts zwischen den verschiedenen Grundrechtspositionen88. Vor allem jedoch wird durch die Antwort auf die jeweiligen Vorlagefragen der deutschen Gerichte89 die Berücksichtigungsfähigkeit nationaler Vorschriften über die Religionsfreiheit gestärkt.90 Die bislang umstrittene Frage nach der Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 RL 2000/78/ EG91 ist nun dahingehend entschieden, dass die Rahmenrichtlinie Beschäftigung lediglich ein Mindestmaß an Diskriminierungsschutz vorgibt und es nationalen Gerichten daher 83 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller Handels GmbH,
Rn. 64; vgl. zu diesem Urteil auch Classen, Anmerkung zu EuGH (GK), 15.7.2021 – C-804/18, C-341/19, WABE und MH Müller Handels GmbH, JZ 2021, S. 905. 84 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller Handels GmbH, Rn. 64 f., 67 und 70. 85 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller Handels GmbH, Rn. 85; vgl. die Formulierungen in BAG, Urt. v. 10.10.2002, 2 AZR 472/01, Rn. 45 und 46 („konkrete[…] betriebliche[…] Störungen oder wirtschaftliche[…] Einbußen“ und „solche realen Gefährdungen konkret darzulegen“) und in BVerfGE 138, 296 (358) – Kopftuch II (2015), Leitsatz 2 („eine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter“). 86 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller Handels GmbH, Rn. 64, 70 und 85. 87 Vgl. die Ausführungen in EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller Handels GmbH, Rn. 81 im Vergleich zu EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, Achbita, Rn. 39. 88 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller Handels GmbH, Rn. 84. 89 BAG, Vorlagebeschluss v. 30.1.2019, 10 AZR 299/18 (A), Frage 2.b) und ArbG Hamburg, Vorabentscheidungsersuchen v. 21.11.2018, 8 Ca 123/18, Frage 2.b). 90 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller Handels GmbH, Rn. 79 ff. 91 Klein, Schleierhaftes vom EuGH?, NVwZ 2017, S. 920 (921 f.); Neugebauer/Sura (Fn. 78), S. 355; Sagan, Unionaler Diskriminierungsschutz gegen Kopftuchverbote am Arbeitsplatz, EuZW 2017, S. 457 (460 f.); Steinbach (Fn. 19), S. 641 ff.; a. A. Wagner (Fn. 41), S. 731, wonach das Auslegungsergebnis des EuGH für die nationalen Gerichte verbindlich sein soll und S. 737 ff., wonach das Auslegungsergebnis in Achbita „eine insgesamt abschließende Regelung des Unionsrechts“ darstelle. Christian Walter/Kathrin Tremml
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unbenommen bleibt, über die Heranziehung nationaler Vorschriften zum Schutz der Religionsfreiheit einen über die Richtlinie hinausgehenden stärkeren Schutz zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu gewähren. Im Unterschied zu den früheren Entscheidungen, in denen die Wertung und Abwägung zwischen unternehmerischer Freiheit und Religionsfreiheit durch die Ausführungen des EuGH zur Angemessenheit weitgehend vorweggenommen schien,92 nutzt der Gerichtshof die Ausführungen zu Art. 8 Abs. 1 RL 2000/78/EG nun, um nicht nur die Berücksichtigungsfähigkeit nationaler verfassungsrechtlicher Vorschriften über die Religionsfreiheit klarzustellen, sondern auch, um den Mitgliedstaaten einen „Wertungsspielraum“ einzuräumen, innerhalb dessen es ihnen überlassen bleibt, einen angemessenen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen herzustellen.93 Dieser Wertungsspielraum, der Hand in Hand mit einer Kontrolle durch den EuGH gehen soll,94 zeigt deutliche Anklänge an die margin of appreciation des EGMR und könnte auf eine auch zukünftig stärkere Berücksichtigung nationaler Traditionen und mitgliedstaatlicher Identitäten durch den EuGH jedenfalls in grundrechtsrelevanten Fällen hinweisen.95 Allerdings wird hierdurch wohl im Unterschied zur Rechtsprechung des EGMR nicht die Kontrolldichte insgesamt zurückgenommen, sondern lediglich eine Abweichungsmöglichkeit zugunsten des Ziels geschaffen, dass der unionsrechtliche Sekundärrechtsakt verfolgt.96 2. Absenkung des diskriminierungsrechtlichen Schutzes durch die Einordnung einer allgemeinen Neutralitätspolitik des Arbeitgebers als bloß mittelbar diskriminierend 35
Ungeachtet der mit der Entscheidung in den Verfahren WABE und MH Müller verbundenen Stärkung der Religionsfreiheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gegenüber der unternehmerischen Freiheit des Arbeitgebers liegt eine grundsätzliche Schwächung des religionsbezogenen Diskriminierungsschutzes darin, dass der EuGH solche religionsbezogenen Vorgaben des Arbeitsgebers lediglich als mittelbare Diskriminierung i. S. d. Art. 2 Abs. 2 lit. b RL 2000/78/EG wertet,97 die im Vergleich zur unmittelbaren Dis92 EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, Achbita, Rn. 33 ff., insbesondere Rn. 40. 93 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller Handels GmbH,
Rn. 86 ff.
94 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller Handels GmbH,
Rn. 86.
95 Vgl. den Verweis in EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller
Handels GmbH, Rn. 86 auf die Entscheidung EuGH, Urt. v. 17.12.2020, Rs. C-336/19, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a., Rn. 47, die wiederum direkt die Rechtsprechung des EGMR zur margin of appreciation in Fragen der Religionsfreiheit in Bezug nimmt; mit einem Plädoyer für eine stärkere Achtung der nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten bereits EuGH, Schlussanträge der GA Kokott v. 31.5.20016, Rs. C-157/15, Achbita, Rn. 125; in diesem Sinne auch Germann, Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs über Kopftuchverbote in privaten Arbeitsverhältnissen, EuR 2018, S. 235 (243 f.). 96 Hierzu ausführlicher unten Rn. 53 (C. III. 3. b)) und Walter/Tremml, Die neue Rechtsprechung des EuGH zur Bedeutung der Religionsfreiheit in privaten Arbeitsverhältnissen, NZA 2021, S. 1453 (1456 f.). 97 EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, Achbita, Rn. 32; EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-188/15, Bougnaoui, Rn. 32 – hier jedoch als Tatsachenfrage offengelassen, da nicht klar war, ob die Kündigung der Arbeitnehmerin in diesem Fall auf einem Verstoß gegen ein betriebliches Verbot religiöser Zeichen beruhte Christian Walter/Kathrin Tremml
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kriminierung leichter zu rechtfertigen ist.98 Dadurch kommt die Berücksichtigung von aus der unternehmerischen Freiheit fließenden Neutralitätserwägungen überhaupt als rechtmäßiges Ziel im Rahmen einer Rechtfertigung nach Art. 2 Abs. 2 lit. b Nr. i RL 2000/78/ EG in Betracht. Der Gerichtshof folgt damit – allerdings ohne eine zu erwartende tiefergehende argumentative Auseinandersetzung mit der Frage – dem Schlussantrag der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Achbita, die in einem Verbot des Tragens politischer, philosophischer oder religiöser Symbole durch den Arbeitgeber mangels weniger günstiger Behandlung wegen der Religion eine unmittelbare Diskriminierung mit dem Argument ablehnte, dass alle sichtbaren religiösen Symbole gleichermaßen erfasst und daneben auch sichtbare Zeichen einer politischen oder philosophischen Überzeugung untersagt seien.99 Diese Argumentation überzeugt allerdings nicht. Zutreffend hatte Generalanwältin 36 Sharpston im Verfahren Bougnaoui empfohlen, Verbote des Tragens religiöser Bekleidung durch den Arbeitgeber als eine unmittelbare Diskriminierung anzusehen, da die aufgrund dieses Verbots gekündigte Arbeitnehmerin in diesem Fall „wegen ihrer Religion eine weniger günstige Behandlung erfahren hat als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfahren hätte.“100 Angesichts der Tatsache, dass die unternehmerischen Vorschriften zum Verbot des Tragens bestimmter Symbole explizit an deren religiösen Charakter anknüpfen und daher genau „wegen“ der Religion erfolgen, erscheint die Annahme einer unmittelbaren Diskriminierung i. S. d. Art. 2 Abs. 2 lit. a RL 2000/78/EG – auch unter Beachtung der Tatsache, dass der EuGH Diskriminierungsverbote auch in anderem Kontext tendenziell streng handhabt101 – deutlich sachnäher.102 Es mag zwar sein, dass eine solche Neutralitätsregel Angehörige bestimmter Religionen nur faktisch stärker betrifft, das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass an das verbotene Diskriminierungskriterium Religion angeknüpft und somit unmittelbar zwischen Religion und Nicht-Religion differenziert wird. Der maßgebliche Unterschied bei einer Qualifikation als unmittelbare Diskriminie- 37 rung läge darin, dass eine Entlassung nur unter den strengeren Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG zulässig wäre, nämlich wenn das Tragen bzw. Nicht-Tragen eines islamischen Kopftuchs „eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt“. In seiner jüngsten Entscheidung im Verfahren WABE und MH Müller bestätigt der oder nicht; bestätigt in EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller Handels GmbH, Rn. 55. 98 → Sacksofsky, § 14. 99 EuGH, Schlussanträge der GA Kokott v. 31.5.2016, Rs. C-157/15, Achbita, Rn. 46 ff.; so im Ergebnis auch EuGH, Schlussanträge des GA Rantos v. 25.2.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller Handels GmbH, Rn. 57. 100 EuGH, Schlussanträge der GA Sharpston v. 13.7.2016, Rs. C-188/15, Bougnaoui, Rn. 88. 101 Vgl. etwa frühe Entscheidungen über das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Arbeitsverhältnissen, z. B. EuGH, Urt. v. 11.1.2000, Rs. C-285/98, Tanja Kreil. 102 So auch die Rechtsprechung in Deutschland, BVerfGE 138, 296 (358) – Kopftuch II (2015); zustimmend auch Germann (Fn. 95), S. 241; Mangold/Payandeh (Fn. 21), S. 704 ff.; Neugebauer/Sura (Fn. 78), S. 355 f.; Sagan (Fn. 91), S. 459; Thüsing, Kleiderordnungen, JZ 2006, S. 223 (228); dem EuGH in der Annahme einer mittelbaren Diskriminierung zustimmend dagegen Berka (Fn. 51), S. 479 f.; Mohr, in: Franzen/Gallner/Oetker (Hrsg.), Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2020, RL 2000/78/EG Art. 1 Rn. 23. Christian Walter/Kathrin Tremml
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EuGH die gerade kritisierte Einordnung nochmals.103 Erstaunlicherweise geht er in dieser Entscheidung aber offenbar gleichzeitig davon aus, dass ein Verbot religiöser Symbole am Arbeitsplatz, das auf auffällige großflächige Zeichen begrenzt ist, eine unmittelbare Diskriminierung darstellen würde.104 Das erscheint widersprüchlich, weil sich die Problematik der besonderen Betroffenheit nur bestimmter Religionen (aus der sich die unmittelbare Diskriminierung ergeben soll) nicht nur bei auffälligen großflächigen Symbolen stellt, sondern grundsätzlich bei jeder an die Religionsausübung anknüpfenden Vorgabe des Arbeitgebers. Deshalb erscheint die Einordnung solcher Vorgaben als unmittelbare, religionsbezogene Diskriminierung die überzeugendere Herangehensweise.105 Durch die Annahme einer nur mittelbaren Diskriminierung schwächt der EuGH im Ergebnis nicht nur die Religionsfreiheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auch das Antidiskriminierungsrecht insgesamt.106 Dies erstaunt insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Entscheidungen in Auslegung der europarechtlichen Rahmenrichtlinie Beschäftigung ergangen sind, die ausweislich ihres Artikel 1 gerade den Zweck verfolgt, Diskriminierungen in Arbeitsverhältnissen aufgrund der dort genannten Merkmale zu bekämpfen.107 III. Religion und religiöse Arbeitgeber 38 Der Themenkomplex „Religion und religiöse Arbeitgeber“ betrifft in erster Linie das kirch-
liche Arbeitsrecht. Für das religionsbezogene Antidiskriminierungsrecht eröffnet sich hier dogmatisch eine neue Facette, weil sich die Frage stellt, in welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen religiöse Akteure selbst aus Gründen der Religion diskriminieren dürfen. Während das Antidiskriminierungsrecht in seinen Wirkungen grundsätzlich religionsfreundlich in dem Sinne ist, dass es Benachteiligungen wegen religiöser Überzeugungen ausschließt, gerät es bei Diskriminierungen durch religiöse Akteure in eine weniger eindeutige Rolle. Hier schützt es möglicherweise die religiösen Überzeugungen einer Seite (der Arbeitnehmerin/des Arbeitnehmers), schränkt damit aber notwendigerweise religiös geprägte Gestaltungsanliegen der anderen Seite (des kirchlichen Arbeitgebers) ein. Derartige religiös geprägte Gestaltungsanliegen finden nach der traditionellen staatskirchenrechtlichen Dogmatik unter dem Grundgesetz ihre Verankerung im Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV ). In der bisheri-
103 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller Handels GmbH,
Rn. 55.
104 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE e. V. und MH Müller Handels GmbH,
Rn. 71 ff., insb. Rn. 78: „Ein auf das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen beschränktes Verbot kann eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung darstellen […].“; zu dieser abweichenden Einordnung auch Classen (Fn. 83), S. 906. 105 Hierzu auch Walter/Tremml (Fn. 96), S. 1454. 106 Germann (Fn. 95), S. 247 f.; Mangold/Payandeh (Fn. 21), S. 722 ff.; Sagan (Fn. 91), S. 461. 107 Art. 1 RL 2000/78/EG: „Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“ Christian Walter/Kathrin Tremml
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gen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts führt das zu weitgehenden Freiheiten religiöser Arbeitgeber bei der Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse, die zuletzt in einer Entscheidung aus dem Jahr 2014 bestätigt wurden (1.). Die hierbei vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäbe sind allerdings unter dem Einfluss des europäischen Antidiskriminierungsrechts unter Druck geraten (2.). Einen sachgerechten Ausgleich und zugleich einen Ausweg aus dem etwas festgefahrenen Streit um die verfassungsrechtlichen Grenzen der Berücksichtigung des europäischen Antidiskriminierungsrechts im kirchlichen Arbeitsrecht bieten eine Ausweitung der arbeitsgerichtlichen Kontrolle gegenüber religiösen Arbeitgebern einerseits und eine Zurücknahme der Kontrolldichte des EuGH in diesem Bereich andererseits (3.). 1. Ausgangslage: Weitgehende Ausnahme vom Diskriminierungsschutz zugunsten des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum kirchlichen Individualarbeits- 39 recht wird durch zwei Entscheidungen aus den Jahren 1985 und 2014 geprägt. Beide betrafen Loyalitätsanforderungen der katholischen Kirche an Ärzte in katholischen Krankenhäusern und Kündigungen wegen Verstößen gegen diese Loyalitätspflichten. In seiner Entscheidung aus dem Jahr 1985 hat das Bundesverfassungsgerichts anhand von Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV eine zweistufige Prüfung entwickelt. Auf der ersten Stufe gesteht es den Kirchen weitgehende Autonomie bei der Bestimmung des Umfangs etwaiger Loyalitätspflichten und der Auswahl der von ihnen betroffenen Arbeitnehmer zu und beschränkt sich insofern auf eine am Selbstverständnis der Kirchen ausgerichtete Plausibilitätskontrolle.108 Auf der zweiten Stufe soll nach dieser Konzeption dann die von § 1 KSchG, § 626 BGB geforderte Abwägung erfolgen, in welche auch die grundrechtlich geschützten Positionen der von der Kündigung betroffenen Personen einzustellen sind.109 Schon diese Entscheidung hat aber in der Anwendung dieser Grundsätze auf den konkreten Rechtsstreit dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften auch auf der zweiten Prüfungsstufe zentrale Bedeutung eingeräumt und damit das mit dieser Prüfung eigentlich verbundene Korrektiv aufgeweicht.110 In der späteren Praxis hat sich diese starke Privilegierung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts gegenüber entgegenstehenden Grundrechtspositionen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (Religionsfreiheit, Berufsfreiheit oder auch Ehe) durchgesetzt. Sie stieß in der Literatur zunehmend auf Kritik, in welcher die Notwendigkeit einer Abwägung durch die staatliche Gerichtsbarkeit stärker betont wurde.111 Das Bundesverfassungsgericht hat seinen Ansatz gleichwohl in der Entscheidung aus 40 dem Jahr 2014 bestätigt. Dabei hat es ungeachtet der religionssoziologischen Veränderungen in Deutschland ein sehr traditionelles, an den christlichen Kirchen orientiertes Ver108 BVerfGE 70, 138 (166 ff.) – Loyalitätspflicht (1985); hierzu Edenharter, Loyalitätsobliegenheiten in
kirchlichen Arbeitsverhältnissen, NZA 2014, S. 1378 (1379).
109 BVerfGE 70, 138 (168 f.) – Loyalitätspflicht (1985). 110 BVerfGE 70, 138 (169 ff.) – Loyalitätspflicht (1985). 111 Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 170 ff.; Classen, Religionsrecht, 2. Aufl.
2015, Rn. 435 m. w. N.
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ständnis zugrunde gelegt, das in der Anerkennung einer eigenen kirchlichen Gewalt gipfelt: „Der Staat erkennt die Kirchen in diesem Sinne als Institutionen mit dem originären Recht der Selbstbestimmung an, die ihrem Wesen nach unabhängig vom Staat sind und ihre Gewalt nicht von ihm herleiten […].“112 Das Gericht erweckt zumindest in den Formulierungen den Eindruck, als mache es sich die Konzepte der „tätigen Nächstenliebe“113 und der christlichen Dienstgemeinschaft selbst zu eigen.114 Mit dieser Grundtendenz hat es die Kündigung eines Chefarztes in einem katholischen Krankenhaus wegen dessen Wiederheirat nach einer Scheidung für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten. 41 Im Rahmen der auf der zweiten Stufe erforderlichen Abwägung wird zwar einschlägige Rechtsprechung des EGMR zum kirchlichen Arbeitsrecht in Deutschland rezipiert,115 die vom EGMR in den zitierten Entscheidungen geforderte Abwägung mit entgegenstehenden Grundrechtspositionen betroffener Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer116 wird aber restriktiv interpretiert und diese restriktive Interpretation wird zudem als verfassungsrechtlich geboten angesehen.117 Im Ergebnis kaschiert die Zweistufigkeitsdogmatik des Bundesverfassungsgerichts damit den reduzierten Kontrollmaßstab des Gerichts. Sie suggeriert auf der Ebene des verfassungsrechtlichen Maßstabs eine vollständige Verhältnismäßigkeitsprüfung, fährt diese dann aber in der Subsumtion gleichwohl stark gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht zurück.118 Betrachtet man den Ansatz des Bundesverfassungsgerichts unter grundrechtsdogma42 tischen Gesichtspunkten, so fällt auf, dass die Prüfung ausschließlich anhand freiheitsrechtlicher Erwägungen stattfindet. Das gilt sowohl für die Position der Religionsgemeinschaften, die ihren Schutz über das Selbstbestimmungsrecht erfahren, als auch für die entgegenstehenden Positionen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die über die Grundrechte der Religionsfreiheit, der Berufsfreiheit oder der Ehe gesichert werden. 2. Entwicklung: Stärkung des Diskriminierungsschutzes durch den EuGH 43
Diese verfassungsgerichtliche Rechtsprechung wird nun durch den EuGH herausgefordert. Interessanterweise hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Chefarzt-Entscheidung aus dem Jahr 2014 das Antidiskriminierungsrecht der EU an keiner Stelle erwähnt, obwohl seine Bedeutung aus den Entscheidungen der Arbeitsgerichte durchaus erkennbar war.119 112 BVerfGE 137, 273 (308) – Katholischer Chefarzt (2014). 113 BVerfGE 137, 273 (310) – Katholischer Chefarzt (2014). 114 BVerfGE 137, 273 (311 f.) – Katholischer Chefarzt (2014); vgl hierzu auch die überzeugende Kritik bei
Rixen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 22.10.2014, 2 BvR 661/12, JZ 2015, S. 202 (204).
115 BVerfGE 137, 273 (321 ff.) – Katholischer Chefarzt (2014). 116 EGMR, Urt. v. 23.9.2010, Beschwerde-Nr. 1620/03, Schüth v. Deutschland, Rn. 69; siehe im Übrigen
EGMR, Urt. v. 23.9.2010, Beschwerde-Nr. 425/03, Obst v. Deutschland, Rn. 49; EGMR, Urt. v. 3.2.2011, Beschwerde-Nr. 18136/02, Siebenhaar v. Deutschland, Rn. 45. 117 BVerfGE 137, 273 (329) – Katholischer Chefarzt (2014). 118 Walter, Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht zwischen Grundgesetz, EMRK und dem Recht der Europäischen Union, in: Joussen (Hrsg.), Identität und Profil kirchlicher Einrichtungen im Licht europäischer Rechtsprechung, 2019, S. 13 (30). 119 Classen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 22.10.2014, 2 BvR 661/12, JZ 2015, S. 199 (201); ders., Christian Walter/Kathrin Tremml
C. Ungleichbehandlungen wegen der Religion – am Beispiel des Arbeitsplatzes
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Das Antidiskriminierungsrecht der EU wurde aber im weiteren Verlauf des Verfahrens vom Bundesarbeitsgericht thematisiert, das, nachdem die Sache nach der erfolgreichen Verfassungsbeschwerde des kirchlichen Krankenhausträgers dorthin zurückverwiesen worden war, dem EuGH die Frage nach der Auslegung des Antidiskriminierungsrechts der EU vorlegte.120 Der EuGH hatte zudem bereits zuvor in der Rechtssache Egenberger, in der es um die Einstellung einer konfessionslosen Bewerberin auf eine antidiskriminierungsrechtliche Position bei der Evangelischen Diakonie ging, besonderes Gewicht auf den Rechtsschutz durch die staatliche Gerichtsbarkeit gelegt und diesen mit dem Wortlaut der Ausnahme in Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG verknüpft. Danach muss die Religion oder die Weltanschauung der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers „nach der Art der betreffenden Tätigkeiten oder den vorgesehenen Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos dieser Kirche oder Organisation“ darstellen.121 Der EuGH entschied hierzu, dass die Kriterien „wesentlich“, „rechtmäßig“ und „gerecht- 44 fertigt“ leerliefen, wenn die Entscheidung über ihr Vorliegen allein den betroffenen Religionsgemeinschaften überlassen sei, also keinerlei gerichtliche Kontrolle stattfinde.122 Auch den übrigen Tatbestand legte er eng anhand des Wortlauts aus und verlangte, dass sich die im Ethos der Organisation begründete Anforderung entweder aus der „Art“ der Tätigkeit oder aus den „Umständen“ ihrer Ausübung ergeben muss.123 Diese Auslegung führt dazu, dass – anders als es die Erwägungsgründe nahelegen und auch die Formulierung von Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG mit dem Verweis auf die „bestehenden einzelstaatlichen Gepflogenheiten“ andeutet – das bestehende religionsbezogene Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten nicht vollumfänglich von den Wirkungen der Richtlinie ausgenommen wird, sondern die Qualifikation über die Art der Tätigkeit oder die Umstände ihrer Ausübung als zusätzliches Erfordernis beachtet werden muss. Diese enge Auslegung ist in der deutschen Literatur auf (teilweise massiven) Wider- 45 spruch gestoßen.124 Dabei werden vor allem der Wille des Gesetzgebers nach einer weitreichenden Ausnahme vom Antidiskriminierungsrecht zugunsten der Religionsgemeinschaften und die Regelung in Art. 17 AEUV gegen die vom EuGH gewählte Auslegung ins Feld geführt.125 Angesichts des Wortlauts erscheint allerdings der vom EuGH eingeschlagene Das kirchliche Arbeitsrecht unter europäischem Druck – Anmerkungen zu den Urteilen des EuGH (jeweils GK) vom 17.4.2018 in der Rs. C-414/16 (Egenberger) und vom 11.9.2018 in der Rs. C-68/17 (IR), EuR 2018, S. 752 (754 f.); Klein, Das Recht der Kirchen im Tauziehen zwischen Luxemburg und Karlsruhe, EuR 2019, S. 338 (344). 120 BAG, Vorlagebeschluss v. 28.7.2016, 2 AZR 746/14 (A); EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-68/17, IR/JQ. 121 EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 55. 122 EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 46. 123 EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 62. 124 Unruh, Zur Dekonstruktion des Religionsverfassungsrechts durch den EuGH im Kontext des kirchlichen Arbeitsrechts, ZevKR 64 (2019), S. 188 (196, 200 ff.); Schneedorf, Diskriminierungsschutz nach dem EuGH, NJW 2019, S. 177 (179 f.); Reichold/Beer, Eine „Abmahnung“ des EuGH mit Folgen, NZA 2018, S. 681 (683); insofern zwiespältig Joussen, § 9 Abs. 1 AGG, EuZA 2018, S. 421 (428 f.). 125 Joussen (Fn. 124), S. 428 und 434 f.; Unruh (Fn. 124), S. 208 ff.; Fremuth, Das letzte Amen ist noch nicht gesprochen, EuZW 2018, S. 723 (729 f.). Christian Walter/Kathrin Tremml
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§ 8 Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien
Weg selbst dann gut vertretbar, wenn der Europäische Gesetzgeber beim Erlass der Richtlinie eine umfassendere Ausnahme vor Augen gehabt haben sollte.126 Bei einer stark am Wortlaut orientierten Betrachtung der Richtlinie ist festzuhalten, dass gerade Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG mit den Kriterien „wesentlich“, „rechtmäßig“ und „gerechtfertigt“ drei rechtlich konnotierte Begriffe verwendet. Ähnliche Begriffe verwenden der Gerichtshof und auch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung staatlicher oder unionaler Eingriffe in subjektive Rechte. Dass ein Gericht darüber entscheidet, was „rechtmäßig“ ist, entspricht dem klassischen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit. Es wäre erstaunlich, wenn der Unionsgesetzgeber beim Erlass der Richtlinie hierzu eine andere Vorstellung gehabt haben sollte im Sinne einer Auslegung, die eine gerichtliche Kontrolle beschränkt.127 Auch die Bezugnahme des Gerichtshofs auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG, wonach der Betroffene in Fällen einer angenommenen Ungleichbehandlung in der Lage sein muss, gerichtlichen Rechtsschutz zu erhalten, erscheint plausibel.128 In der praktischen Konsequenz bedeutet dies, dass das in der Rechtssache Egenberger 46 streitige Erfordernis der Kirchenmitgliedschaft nicht mehr mit übergreifenden Konzepten wie dem der kirchlichen Dienstgemeinschaft begründet werden kann, sondern die Gerichte insoweit eine Überprüfung anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls vornehmen müssen.129 Dieser Ansatz wurde vom EuGH in der Chefarzt-Entscheidung auch auf Loyalitätsobliegenheiten in der persönlichen Lebensführung übertragen. Maßgeblich hierfür sind eine systematische Interpretation beider Absätze und der Umstand, dass UAbs. 2 verlangt, dass die „Bestimmungen der Richtlinie im übrigen eingehalten sind“. In der Konsequenz bedeutet dies, dass auch die Loyalitätsanforderungen nur dann verlangt und durchgesetzt werden können, wenn dies nach der Art der konkreten Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausführung „eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.“130 Die unterschiedlichen Perspektiven von Bundesverfassungsgericht und EuGH lassen 47 sich sicherlich auch mit den hier aufgezeigten verschiedenen grundrechtsdogmatischen Ansätzen erklären: Das Unionsrecht kommt – anders als das vom Bundesverfassungsgericht unter dem GG entwickelte kirchliche Arbeitsrecht – von einem antidiskriminierungsrechtlichen und damit auf Gleichheitserwägungen gestützten Ausgangspunkt. Dieser erfährt zusätzliche Verstärkung dadurch, dass er nicht nur Bestandteil der Richtlinie 2000/78/EG und ihrer Rechtsgrundlage in Art. 18 Abs. 2 AEUV ist, sondern darüber hi126 Die Absicht einer umfassenden Ausnahme durch den Gesetzgeber wird überzeugend verneint von
EuGH, Schlussanträge des GA Tanchev v. 9.11.2017, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 83 ff. unter ausführlicher Darstellung der Beratungen; vgl. hierzu die Analyse bei Joussen (Fn. 124), S. 429. 127 EuGH, Schlussanträge des GA Tanchev v. 9.11.2017, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 83, 85. Wenn eine Beschränkung der unionsrechtsautonomen Auslegung von Begriffen einer unionsrechtlichen Bestimmung gewollt ist, ist in der Regel ein expliziter Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten notwendig, vgl. EuGH, Urt. v. 1.12.2016, Rs. C-395/15, Daouidi, Rn. 50. 128 EuGH, Urt. v. 19.4.2012, Rs. C-415/10, Meister, Rn. 38. 129 Classen (Fn. 119), S. 756; ähnlich Reichold/Beer (Fn. 124), S. 683; Joussen (Fn. 124), S. 431 f. 130 EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-68/17, IR/JQ, Rn. 45–47. Christian Walter/Kathrin Tremml
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naus in Art. 21 Abs. 1 GRCh eine weitere normative Verankerung besitzt.131 Aus der Perspektive des europäischen Antidiskriminierungsrechts erscheint das Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen die Regel und die Ungleichbehandlung durch religiöse Arbeitgeber als begründungsbedürftige Ausnahme. Dies führt zu einer strengeren Rechtfertigungsprüfung, die insbesondere den Rechtsschutz durch die staatliche Gerichtsbarkeit stärker betont als das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Fall ist. Beim Bundesverfassungsgericht erscheint dagegen die vom Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften umfasste freie Ausgestaltung der arbeitsrechtlichen Beziehungen der verfassungsrechtlich geschützte Normalfall und die im Einzelfall möglicherweise überwiegenden (ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten) Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die begründungsbedürftige Ausnahme. 3. Szenarien der Konfliktlösung
Die unterschiedlichen dogmatischen Ansätze werden derzeit in Form eines Grundsatz- 48 konflikts um die verfassungsrechtlichen Grenzen der europäischen Integration vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen. Das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung e. V. erhebt in einer Verfassungsbeschwerde, die es gegen das die Vorgaben des EuGH umsetzende Urteil des Bundesarbeitsgerichts eingelegt hat,132 den Vorwurf, die Rechtsprechung des EuGH in diesem Bereich überschreite die Grenzen des Integrationsverfassungsrechts und stelle einen ausbrechenden Rechtsakt dar. Außerdem sei durch diese Rechtsprechung die Verfassungsidentität des Grundgesetzes verletzt.133 Würde das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung e. V. mit dieser Beschwerde durchdringen, so läge die Konfliktlösung in der Nichtanwendbarkeit des europäischen Antidiskriminierungsrechts im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts. Es erscheint aber sehr zweifelhaft, dass tatsächlich ein solcher Grundsatzkonflikt zwischen den Ansätzen von EuGH und Bundesverfassungsgericht vorliegt. Zum ersten ist auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Wertung und Gewichtung der kirchlichen Rechtsposition erforderlich (a.). Und zum zweiten kommt das Unionsrecht nicht umhin, die Abwägung im konkreten Fall den mitgliedstaatlichen Gerichten zu überlassen. Dabei sollte der EuGH seine Kontrolldichte reduzieren (b.). a) Wertung und Gewichtung kirchlicher Positionen auf der zweiten Stufe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Schon die Regelung in Art. 137 Abs. 3 WRV stellt mit der Formulierung „innerhalb der 49 Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ einen eigenen und expliziten Schrankenvorbehalt für das Selbstbestimmungsrecht auf, dessen konkrete Bedeutung freilich gerade im 131 EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 76; EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-68/17, IR/
JQ, Rn. 69.
132 Müller, Das erste Karlsruher Nein?, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 2.5.2019, Nr. 101, S. 8. 133 Vgl. zu einer entsprechenden Argumentation in der Literatur, Unruh (Fn. 124), S. 203 ff.; Kahl, Die
Integrationsfestigkeit des deutschen Staatskirchenrechts, ZevKR 65 (2020), S. 107 (117 ff.). Christian Walter/Kathrin Tremml
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§ 8 Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien
Bereich des Rechtsschutzes gegenüber kirchlichen Maßnahmen einen der Dauerstreitpunkte des deutschen Religionsverfassungsrechts darstellt. Beim staatlichen Rechtsschutz in Kirchensachen ist über die Jahre eine Ausdehnung des Rechtsschutzes zugunsten von Pfarrern und Kirchenbeamten zu beobachten, mit der die zuvor jahrzehntelang angewendete sogenannte „Bereichslehre“ an Bedeutung verlor. In spektakulären Entscheidungen haben zunächst im Jahr 2003 der BGH134 und – mit einer gewissen Verzögerung – im Jahr 2014 schließlich auch das Bundesverwaltungsgericht135 ihre Rechtsprechung von der mangelnden Eröffnung des Rechtswegs zu den staatlichen Gerichten aufgegeben. Seither findet das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften im Rahmen der Abwägung Berücksichtigung und steuert Umfang und Intensität der gerichtlichen Nachprüfung. Man kann damit festhalten, dass die frühere Bereichslehre für die Praxis keine Bedeutung mehr hat. In der Literatur wurde sie ohnehin seit langem abgelehnt.136 50 Auch im Bereich des kirchlichen Individualarbeitsrechts sind – nicht zuletzt aufgrund der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR – die Anforderungen an die gerichtliche Kontrolle gesteigert worden. Im Hintergrund stehen grundrechtliche und konventionsrechtliche Rechtspositionen wie das Recht auf Ehe und Familie, die Berufsfreiheit oder auch die Religionsfreiheit. Der EGMR hat in allen drei 2010/2011 gegen Deutschland entschiedenen Verfahren sowohl das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften als auch die konfligierenden Grundrechtspositionen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer herausgearbeitet und die Notwendigkeit einer Streitentscheidung durch die staatlichen Gerichte besonders hervorgehoben.137 51 Am Ende kommt es eben auf der zweiten Stufe auch nach der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht auf das relative Gewicht der jeweiligen Positionen im Verhältnis zueinander an. An dieser Stelle lässt es sich auch für das Bundesverfassungsgericht nicht umgehen, dass das zur Entscheidung berufene staatliche Gericht selbst eine Position zur spezifischen Nähe der beruflichen Tätigkeit zur Verfolgung unmittelbar religiöser Zwecke einnimmt. Wie nah der Betrieb eines Krankenhauses, einer Kindertagesstätte oder die Verfassung eines Parallelberichts im Rahmen des UN-Menschenrechtsschutzes138 an der Verfolgung unmittelbar religiöser Zwecke stehen, kann in diesem Moment nicht mehr allein vom Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften determiniert werden, wenn man die Formulierung des Gerichts für die Abwägung auf der zweiten Stufe ernst nimmt.139 134 BGHZ 154, 306. 135 BVerwGE 149, 139. 136 Vgl. zum gesamten Komplex im Einzelnen die Darstellung bei Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III,
3. Aufl. 2018, Art. 140 GG/Art. 137 WRV Rn. 60 ff.
137 EGMR, Urt. v. 23.9.2010, Beschwerde-Nr. 425/03, Obst v. Deutschland, Rn. 45 ff.; EGMR, Urt. v.
3.2.2011, Beschwerde-Nr. 18136/02, Siebenhaar v. Deutschland, Rn. 42 ff.; EGMR, Urt. v. 23.9.2010, Beschwerde-Nr. 1620/03, Schüth v. Deutschland, Rn. 59 ff. und dann aber 66 ff. (69). 138 So die Konstellation, die der Entscheidung des EuGH im Fall Egenberger (EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16) zugrunde lag. 139 Jedenfalls auf der Ebene des verfassungsrechtlichen Maßstabs sehr deutlich: „Im Rahmen des sich hieran anschließenden Abwägungsvorgangs sind die kollidierenden Rechtspositionen – dem Grundsatz der praktischen Konkordanz entsprechend – in möglichst hohem Maße in ihrer Wirksamkeit zu entfalten. Sie sind einander im Sinne einer Wechselwirkung verhältnismäßig zuzuordnen, das heißt, das einschränkende Christian Walter/Kathrin Tremml
C. Ungleichbehandlungen wegen der Religion – am Beispiel des Arbeitsplatzes
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b) Notwendigkeit einer reduzierten Kontrolle durch den EuGH
Es ist nicht zu übersehen, dass das Unionsrecht im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts 52 auf Grundsatzentscheidungen des mitgliedstaatlichen Religions(verfassungs)rechts trifft, die das Verhältnis von Staat und Religion prägen. Diese Grundsatzentscheidungen sind zwischen den Mitgliedstaaten höchst unterschiedlich und reichen von der laizistischen Tradition einer strikten Trennung (etwa in Frankreich) über verschiedene Formen der institutionalisierten Kooperation (wie in Deutschland, Österreich, der Schweiz und auch den südeuropäischen Staaten) bis zu staatskirchlichen oder staatskirchenähnlichen Strukturen (wie in Skandinavien, Griechenland, Irland, Polen und dem ehemaligen Mitgliedstaat Vereinigtes Königreich).140 Um solchen Unterschieden Rechnung zu tragen, operiert der EGMR gerade im Bereich des Verhältnisses von Staat und Religion mit dem Konzept der margin of appreciation, das den Mitgliedstaaten auch die Möglichkeit verschaffen soll, ihre unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Grundhaltungen zum Thema Religion trotz der gemeinsamen Bindung an die EMRK beizubehalten.141 Eine genaue Analyse der Rechtsprechung des EuGH zeigt, dass dieser sowohl bei der 53 Anwendung des Primärrechts als auch bei der Umsetzung von Sekundärrecht und bei der Bindung an die Unionsgrundrechte Spielräume belässt.142 Dies muss dann erst recht bei einem so stark von unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Traditionen geprägten Grundrecht wie dem der Religionsfreiheit gelten. In Fortführung einer Entscheidung zum flämischen Schächtverbot143 hat der EuGH darüber hinaus in der Entscheidung in den Verfahren WABE und MH Müller ausdrücklich von einem Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten gesprochen.144 Allerdings ging es in beiden Fällen um Sekundärrechtsakte mit dem Ziel einer Mindestharmonisierung. Das Konzept der margin of appreciation wird hier vom EuGH herangezogen, um einen nach den Sekundärrechtsakten zulässigen weitergehenden Schutz zu ermöglichen, soweit dies dem mit diesen Rechtsakten verfolgten Ziel arbeitsrechtliche Gesetz muss im Lichte der Bedeutung des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV und Art. 4 Abs. 1 und 2 GG betrachtet werden, wie umgekehrt die Bedeutung kollidierender Rechte des Arbeitnehmers im Verhältnis zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht gewichtet werden muss.“, BVerfGE 137, 273 (319) – Katholischer Chefarzt (2014) (Hervorhebung durch die Verfasser). 140 Vgl. zum Verhältnis von Staat und Religion in verschiedenen europäischen Staaten Rees/Roca/Schanda, Neuere Entwicklungen im Religionsrecht europäischer Staaten, 2013; Robbers, Staat und Kirche in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2015. 141 Walter/Vordermayer, Verfassungsidentität als Instrument richterlicher Selbstbeschränkung in transnationalen Integrationsprozessen, in: JöR n. F. 63 (2015), S. 129 (158 f.). 142 Hierzu für den Bereich der Grundfreiheiten Schulte, Zur Übertragbarkeit der Margin-of-appreciation-Doktrin des EGMR auf die Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Grundfreiheiten, 2018, S. 322 ff. 143 EuGH, Urt. v. 17.12.2020, Rs. C-336/19, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a.; zu dieser Entscheidung Dietz, Die praktische Konkordanz beim Schächten im Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz – Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 17.12.2020, C-336/19, DÖV 2021, S. 585. 144 Vgl. bereits oben Rn. 34 (C. II. 1.) und Fn. 94; die Terminologie ist allerdings etwas uneinheitlich: In der Entscheidung zum flämischen Schächtverbot wird in der englischen Fassung explizit von „margin of appreciation“ gesprochen und das Urteil S. A. S. gegen Frankreich des EGMR ausdrücklich zitiert. In WABE und MH Müller spricht der englische Text dagegen von „margin of discretion“. Die französische Version verwendet in beiden Entscheidungen die vom EGMR geprägte Formel „marge d’appréciation“. Christian Walter/Kathrin Tremml
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§ 8 Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien
dient.145 Beim Schächtverbot war dieses Ziel der Tierschutz, was zur Folge hat, dass sich der mitgliedstaatliche Spielraum zugunsten des Tierschutzes und zu Lasten der Religionsfreiheit auswirkte. Beim Antidiskriminierungsrecht, dem es um den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geht, stärkt der Wertungsspielraum dagegen das Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen und damit die Religionsausübungsfreiheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ob er auch zugunsten religiös geprägter Arbeitgeber herangezogen werden könnte, erscheint dagegen zweifelhaft. Die Öffnungsklausel des Art. 8 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie Beschäftigung bezieht sich nur auf Vorschriften für eine bessere Verwirklichung des Ziels der Gleichbehandlung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Diesem Ziel entspricht es, wenn deren Religionsfreiheit stärker gewichtet wird. Die Berücksichtigung der Religionsfreiheit auf Arbeitgeberseite betrifft dagegen die Auslegung der Ausnahmeklausel in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie und richtet sich damit tendenziell gegen das von der Richtlinie verfolgte Ziel des Arbeitnehmerschutzes. Eine solche Absenkung unter das Mindestschutzniveau des Sekundärrechtsakts ist in den beiden bisherigen Entscheidungen zur margin of appreciation nicht angelegt.
D. Gleichbehandlungsgebot in Bezug auf religiöse Gemeinschaften 54 Gleichheitsrechtliche Erwägungen spielen nicht nur im Hinblick auf die Religionszuge-
hörigkeit eines Individuums eine Rolle, sondern das Gleichbehandlungsgebot bildet auch in Bezug auf den Umgang mit religiösen Gemeinschaften einen zentralen Maßstab. Hierbei handelt es sich um die korporative Dimension religiöser Ungleichbehandlung, die im Einzelnen zwar nicht immer trennscharf von der Ungleichbehandlung aufgrund der Religionszugehörigkeit zu trennen ist, in ihrem Kern aber hauptsächlich Fragen betrifft, die mit dem Status religiöser Gemeinschaften in der staatlichen Rechtsordnung zusammenhängen.146 In Deutschland sind derartige Fragen des Religionsverfassungsrechts größtenteils in den Vorschriften des Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 ff. WRV geregelt. Fragen der Gleichbehandlung unterschiedlicher religiöser Gemeinschaften stellen sich dabei zum einen im Zusammenhang mit der Bereitstellung und Verleihung des Körperschaftsstatus i. S. d. Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 GG (I.) und zum anderen in Bezug auf die Formulierung von Kriterien, wann eine „Religionsgesellschaft“ (Art. 136 ff. WRV ) bzw. „Religionsgemeinschaft“ (Art. 7 Abs. 3 GG)147 vorliegt (II.).
145 Walter/Tremml (Fn. 96), S. 1454. 146 Siehe Sacksofsky (Fn. 57), S. 26. 147 Übereinstimmender Bedeutungsgehalt dieser beiden Begriffe, Korioth, in: Dürig/Herzog/Scholz,
GG, Stand: Februar 2003, Art. 140 GG/Art. 137 WRV Rn. 13; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 4. Aufl. 2018, Rn. 251. Christian Walter/Kathrin Tremml
D. Gleichbehandlungsgebot in Bezug auf religiöse Gemeinschaften
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I. Körperschaftsstatus i. S. d. Art. 137 Abs. 5 WRV
Das deutsche staatskirchenrechtliche System gestattet es im Ausgangspunkt den Religions- 55 gesellschaften zwischen einer privatrechtlichen Organisationsform (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 4 WRV ) und dem öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus (Art. 137 Abs. 5 WRV ) zu wählen.148 Grundsätzlich haben dabei alle Religionsgemeinschaften unter bestimmten in Art. 137 Abs. 5 WRV niedergelegten Voraussetzungen die Möglichkeit, den Körperschaftsstatus zu erlangen und tatsächlich sind in den einzelnen Bundesländern auch über die großen christlichen Kirchen hinaus zahlreiche religiöse Gemeinschaften als öffentlich-rechtliche Körperschaften anerkannt.149 Die Bedeutung des Zugangs zum Körperschaftsstatus ist jedoch trotz der prinzipiel- 56 len Gleichwertigkeit der verschiedenen Organisationsformen nicht zu unterschätzen, weil hiermit verschiedene sogenannte „Körperschaftsbefugnisse“ verbunden sind, die Religionsgesellschaften anderer Organisationsformen nicht zustehen.150 Zu diesen Korporationsrechten zählen etwa körperschaftsunmittelbare Folgerechte, die von den Religionsgemeinschaften wahrgenommen werden können (unter anderem Dienstherrnfähigkeit, Organisationsgewalt, Parochialrecht und Rechtsetzungsautonomie) sowie das Recht zur Erhebung von Steuern, das Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 6 WRV ebenfalls an den Körperschaftsstatus knüpft. Aufgrund dieser Sonderbefugnisse lassen sich die deutschen verfassungsrechtlichen Vorgaben als „gestuftes System“ einordnen, d. h. als ein System, das mehrere Organisationsformen für Religionsgemeinschaften vorsieht und dessen Zulässigkeit und Ausgestaltung daher – wie im Folgenden zu erörtern sein wird – besonderen gleichheitsrechtlichen Anforderungen unterliegt.151 1. Gleichheitsverstoß durch Bereitstellung eines gestuften Systems?
Möglicherweise könnte die Bereitstellung eines solchen gestuften Systems einen Verstoß 57 gegen das Gleichbehandlungsgebot darstellen. Die Entscheidung des deutschen Staatskirchenrechts, verschiedene Organisationsformen für Religionsgesellschaften bereitzuhalten, ist insbesondere vor dem Hintergrund einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unter Rechtfertigungsdruck geraten. In der Entscheidung Magyar Keresztény Mennonita behandelt der EGMR die Frage nach der Anerkennung der Christlich-Mennonitischen Kirche Ungarns gerade als Religionsgemeinschaft zwar unter einem freiheitsrechtlichen Maßstab und betrachtet die Verweigerung dieser Anerkennung als Ein148 Korioth (Fn. 147), Art. 140 GG/Art. 137 WRV Rn. 66; Heinig, Der öffentlich-rechtliche Status für Re-
ligionsgesellschaften, in: ders., Die Verfassung der Religion, 2014, S. 407 (408).
149 Eine Aufstellung für die jeweiligen Bundesländer findet sich unter https://www.personenstandsrecht.
de/Webs/PERS/DE/informationen/religionsgemeinschaften/religionsgemeinschaften-node.html.
150 Vgl. zu diesen Befugnissen etwa Magen, Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, 2004, S. 90 ff.; Hei-
nig (Fn. 111), S. 281 ff.
151 Walter, Religiöse Vielfalt als Herausforderung für die staatliche Rechtsordnung: Freiheit und Gleich-
heit als grundrechtliche Determinanten für den Rechtsstatus von Religionsgemeinschaften, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, im Erscheinen, IV. und III.4. Christian Walter/Kathrin Tremml
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§ 8 Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien
griff in die religiöse Vereinigungsfreiheit.152 Abseits des konkreten Falles wird in der Urteilsbegründung jedoch deutlich, dass dem Gerichtshof Unterscheidungen im rechtlichen Status, der Religionsgemeinschaften gewährt wird, „von vorneherein als verdächtig“153 erscheinen, weil sich hieraus weitgehende gesellschaftliche Folgewirkungen insbesondere im Fall der Verweigerung des Zugangs zum günstigeren Status ergeben können, etwa die Bestätigung von Vorurteilen gegenüber einer religiösen Gemeinschaft oder das Gefühl der Anhänger, lediglich toleriert zu werden.154 Geht man jedoch nicht vom Freiheitsrecht aus, sondern nimmt eine gleichheitsrecht58 liche Perspektive ein, wird deutlich, dass in der bloßen Existenz mehrerer Organisationsformen für religiöse Gemeinschaften allein noch kein Gleichheitsverstoß liegt.155 Vielmehr ermöglicht sie zunächst einmal die Rücksichtnahme auf spezifische Bedürfnisse von Religionsgemeinschaften und es kann durchaus sachliche Gründe für unterschiedliche Ausgestaltungen geben. In Bezug auf den Allgemeinen Gleichheitssatz ist nur von Bedeutung, dass alle Religionsgemeinschaften hinsichtlich der Zugangsvoraussetzungen zum günstigeren Status – in Deutschland also dem Körperschaftsstatus – nicht ohne sachlichen Grund unterschiedlich behandelt werden.156 Gleichheitsrechtlich ist nicht die Existenz „gestufter Systeme“ als solche problematisch. Entscheidend ist vielmehr die gleichheitskonforme Ausgestaltung des Zugangs zum günstigeren Status. 2. Gleichheitskonforme Ausgestaltung des Zugangs zum Körperschaftsstatus 59 In Bezug auf das deutsche System stellt sich also die Frage, ob die Voraussetzungen für
die Verleihung des Körperschaftsstatus gleichheitskonform und diskriminierungsfrei ausgestaltet sind. Hierbei ist zunächst festzustellen, dass die Vorschriften des Staatskirchenrechts kein ausdrückliches Privileg zugunsten der christlichen Kirchen enthalten, sondern das Gleichbehandlungsgebot des Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV auf Parität, d. h. auf Gleichheit der religiösen Gemeinschaften beim Zugang zum Körperschaftsstatus ausgerichtet ist.157 Dies kommt auch in der Gleichstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in Art. 137 Abs. 7 WRV deutlich zum Ausdruck. Richtig bleibt dabei aber auch, dass sich die Vorschriften zum Körperschaftsstatus schon historisch bedingt an den beiden christlichen Großkirchen orientieren.158 152 EGMR, Urt. v. 8.4.2014, Beschwerde-Nr. 70945/11 u. a., Magyar Keresztény Mennonita Egyház u. a. v.
Ungarn, Rn. 83; hierzu Walter (Fn. 151), III. 4. a.
153 Walter (Fn. 151), III. 4. a. 154 EGMR, Urt. v. 8.4.2014, Beschwerde-Nr. 70945/11 u. a., Magyar Keresztény Mennonita Egyház u. a. v.
Ungarn, Rn. 92 ff.; hierzu auch Arlettaz, State Neutrality and Legal Status of Religious Groups in the European Court of Human Rights Case-law, Religion and Human Rights 11 (2016), S. 189 (208 ff.). 155 Vgl. Arlettaz (Fn. 154), S. 206 f., der allerdings die Neutralität als Ausgangspunkt nimmt; a. A. und für eine Abschaffung des Körperschaftsstatus aus Gleichbehandlungsgründen, Sacksofsky (Fn. 57), S. 28. 156 Korioth (Fn. 147), Art. 140 GG/Art. 137 WRV Rn. 66; a. A. wohl Weiß, Gleichheit oder Privilegien?, KritV 2000, S. 104 (110 ff.), der die mit dem Sonderstatus verbundenen Privilegien einer Prüfung in Bezug auf Gleichheitsverstöße unterzieht. 157 Heinig (Fn. 111), S. 180 ff.; Sacksofsky (Fn. 57), S. 27. 158 Vgl. Korioth (Fn. 27), Art. 140 GG Rn. 11; kritisch hierzu Sacksofsky (Fn. 57), S. 27. Christian Walter/Kathrin Tremml
D. Gleichbehandlungsgebot in Bezug auf religiöse Gemeinschaften
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In Übereinstimmung mit den Kriterien des EGMR159 ist in Deutschland auch gewähr- 60 leistet, dass über die Anerkennung anhand rechtlicher Kriterien, nicht anhand politischer Kriterien (durch ein Parlament) entschieden wird.160 Vielmehr besteht ein grundrechtlich fundierter Anspruch der Religionsgemeinschaft auf Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, sofern die Anforderungen des Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV erfüllt sind.161 Dabei lassen sich drei Voraussetzungen dem Normtext entnehmen: Gewähr der Dauer, Verfassung und Mitgliederzahl.162 Es ist allgemein anerkannt, dass darüber hinaus weitere, aus den Grundwerten der Verfassung abzuleitende, Voraussetzungen erfüllt sein müssen.163 Strittig ist jedoch, welche ungeschriebenen Voraussetzungen es für die Verleihung des Körperschaftsstatus gibt.164 Die Religionsgemeinschaft muss jedenfalls das Merkmal der „Rechtstreue“ erfüllen, d. h. das geltende Recht insbesondere bei der Ausübung der ihr übertragenen Hoheitsgewalt beachten.165 Darüber hinaus hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung zur Nichtanerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts als weitere Anforderung eine Loyalitätspflicht gegenüber dem Staat aufgestellt, der die Klägerin nicht genüge, weil sie etwa die Teilnahme ihrer Mitglieder an staatlichen Wahlen ablehnt.166 In der Aufstellung dieser Anforderung hat das Bundesverfassungsgericht zurecht eine Verletzung des Rechts aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV erblickt und das Kriterium der Staatsloyalität ausdrücklich abgelehnt.167 Begründet wurde die Ablehnung dieses Kriteriums durch das Bundesverfassungs- 61 gericht mit der grundrechtlichen Freiheit der Religionsgemeinschaften aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG, aber auch damit, dass die Voraussetzungen der Verleihung des Körperschaftsstatus nicht so ausgestaltet sein dürften, dass sie Religionsgemeinschaften privilegieren, die mit dem Staat kooperieren.168 Hierin klingt bereits die potentiell diskriminierende 159 EGMR, Urt. v. 8.4.2014, Beschwerde-Nr. 70945/11 u. a., Magyar Keresztény Mennonita Egyház u. a. v.
Ungarn, Rn. 102.
160 BVerfGE 139, 321 (361 ff.) – Zeugen Jehovas Bremen (2015); siehe auch die Kritik bei Walter/v. Un-
gern-Sternberg/Lorentz, Die „Zweitverleihung“ des Körperschaftsstatus an Religionsgemeinschaften, 2012, S. 56 ff., insbesondere S. 64. 161 BVerfGE 102, 370 (384) – Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas (2000); Unruh (Fn. 57), Art. 140 GG/ Art. 137 WRV Rn. 200; Korioth (Fn. 147), Art. 140 GG/Art. 137 WRV Rn. 59. 162 Korioth (Fn. 147), Art. 140 GG/Art. 137 WRV Rn. 73 ff. 163 BVerfGE 102, 370 (386) – Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas (2000). 164 Hierzu Heinig (Fn. 111), S. 327 ff. 165 BVerfGE 102, 370 (390 f.) – Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas (2000); BVerwGE 105, 117 (121 ff.); Jeand’Heur/Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, Rn. 232. 166 BVerwGE 105, 117 (124 ff.); dieses Merkmal wohl befürwortend, Kirchhof, Die Freiheit der Religionen und ihr unterschiedlicher Beitrag zu einem freien Gemeinwesen, in: Kämper/Thönnes (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 39, 2005, S. 105 (114 f.). 167 BVerfGE 102, 370 (395) – Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas (2000); der Entscheidung zustimmend Heinig (Fn. 148), S. 410; Schrooten (Fn. 14), S. 168 ff.; Sacksofsky (Fn. 57), S. 27; Jeand’Heur/Korioth (Fn. 165), Rn. 235, allerdings mit einer Bewertung der Anforderung als „rechtspolitisch verständlich“; ablehnend jedoch Hillgruber, Der Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften, NVwZ 2001, S. 1347 (1353); Muckel, Körperschaftsrechte für die Zeugen Jehovas?, Jura 2001, S. 456 (457 f.). 168 BVerfGE 102, 370 (395 f.) – Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas (2000). Christian Walter/Kathrin Tremml
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§ 8 Religion und Weltanschauung als Diskriminierungskategorien
Wirkung von Anerkennungs- bzw. Nichtanerkennungsentscheidungen an. Insbesondere die (rein faktische, nicht rechtliche) Privilegierung der christlichen Kirchen lässt es wünschenswert erscheinen, über den Normtext hinausgehende Voraussetzungen möglichst gering zu halten, um hierdurch auch anderen Religionsgemeinschaften die Möglichkeit zu geben, den Status zu erlangen, der den christlichen Kirchen durch den inkorporierten Art. 137 Abs. 5 Satz 1 WRV bereits von Anfang an und voraussetzungslos zustand.169 Die Zeugen Jehovas-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist daher vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer diskriminierungsfreien Ausgestaltung des Zugangs zum Körperschaftsstatus begrüßenswert, da sie dem ungeschriebenen Merkmal der Staatsloyalität eine Absage erteilte, das sich als eine an Aspekte des religiösen Selbstverständnisses – nämlich die Kooperation mit bzw. Distanz zum Staat – anknüpfende Privilegierung verstehen ließ.170 62 Auch der EGMR pocht mit Blick auf das Verbot religiöser Diskriminierung (Art. 14 i. V. m. Art. 9 EMRK) auf eine gleichheitskonforme Ausgestaltung des Zugangs zu öffentlich-rechtlichen Rechtsformen für Religionsgemeinschaften. Nach seiner Entscheidung zur Verleihung der Rechtsfähigkeit an die Zeugen Jehovas in Österreich sind Differenzierungen zwar nicht grundsätzlich unzulässig, allerdings ist der Zugang zum günstigeren Status so auszugestalten, dass alle Religionsgemeinschaften eine „faire Chance“ auf Zugang haben und die Kriterien müssen diskriminierungsfrei angewendet werden.171 Eine restriktive Handhabung ungeschriebener Anerkennungsvoraussetzungen wird den Anforderungen des EGMR somit im Ergebnis besser gerecht, weil ungeschriebene Voraussetzungen, die im Wortlaut der Anspruchsgrundlage keinen Anknüpfungspunkt finden, immer die Gefahr bergen, im Einzelfall religionspolitisch motiviert und damit nicht strikt am Gleichbehandlungsgebot ausgerichtet angewendet zu werden. II. Religionsgemeinschaft i. S. d. Art. 7 Abs. 3 GG 63 Religionsgemeinschaften wird in Art. 7 Abs. 2 und Abs. 3 GG die Möglichkeit zugespro-
chen, Religionsunterricht an staatlichen Schulen anzubieten. Dieser Anspruch ist sowohl als Grundrecht der Religionsgemeinschaften als auch als staatkirchenrechtliche Garantie fundiert und hergeleitet.172 Die zentrale Frage in diesem Kontext – die im Hinblick auf
169 Sacksofsky (Fn. 57), S. 26 ff.; zum Kriterium der Staatsloyalität als verfassungswidriger, weil gleich-
heitsgefährdender Differenzierung siehe auch Walter, Die Verschiedenheit der Religionen und ihre gleiche Freiheit unter dem Grundgesetz, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 113 (128 f.). 170 Im Ergebnis zustimmend: Sacksofsky (Fn. 57), S. 27; Muckel (Fn. 167), S. 462; ablehnend dagegen Hillgruber (Fn. 167), S. 1353 und wohl auch Kirchhof (Fn. 166), S. 114 f., der für eine unterschiedliche Behandlung von Religionsgemeinschaften beim Zugang zum Körperschaftsstatus je nach „ihren Zielen und ihrer Organisation“ eintritt. 171 EGMR, Urt. v. 31.7.2008, Beschwerde-Nr. 40825/98, Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u. a. v. Österreich, Rn. 92: „all religious groups […] must have a fair opportunity to apply for this status and the criteria established must be applied in a non-discriminatory manner.“; Arlettaz (Fn. 154), S. 206 f.; Heinig (Fn. 148), S. 413 ff. 172 Badura, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Mai 2015, Art. 7 Rn. 87. Christian Walter/Kathrin Tremml
D. Gleichbehandlungsgebot in Bezug auf religiöse Gemeinschaften
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die Diskussion um islamischen Religionsunterricht Brisanz gewonnen hat173 – ist, wer eigentlich „Religionsgemeinschaft“ im Sinne dieser Vorschrift und damit zum Anbieten von Religionsunterricht an öffentlichen Schulen berechtigt ist. Der Begriff der Religionsgemeinschaft wird vom Grundgesetz nicht definiert, sondern vorausgesetzt. Auch gibt es kein Verfahren, in dem der Status einer „Religionsgemeinschaft“ verliehen wird.174 Ob eine Religionsgemeinschaft vorliegt oder nicht, ist damit immer dann zu prüfen, wenn es um die Wahrnehmung von Rechten geht, die diesen Status voraussetzen. Das ist insbesondere beim Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG der Fall.175 1. Organisatorische Anforderungen an Religionsgemeinschaften als Gleichheitsverstoß?
Für die Einordnung als Religionsgemeinschaft kommt es nicht auf die Organisationsform 64 an, d. h. nicht nur Religionsgesellschaften mit dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (Art. 137 Abs. 5 WRV ) können Anspruchsberechtigte i. S. d. Art. 7 Abs. 3 GG sein, sondern auch nach bürgerlichem Recht rechtsfähige Religionsgesellschaften (Art. 137 Abs. 4 WRV ).176 Allerdings stellt sich die Frage, welche weiteren organisatorischen Anforderungen erfüllt sein müssen. Die Entwicklung der Kriterien, die an das Vorliegen einer Religionsgemeinschaft gestellt werden, steht in engem Zusammenhang mit einem Verfahren, das zwei muslimische Dachverbände bereits in den 1990er Jahren angestoßen haben, um an nordrhein-westfälischen Schulen islamischen Religionsunterricht erteilen zu dürfen. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat in einem äußerst umstrittenen Urteil diesen beiden Dachverbänden unter Berufung auf vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte Kriterien abgesprochen, Religionsgemeinschaften i. S. d. Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG zu sein.177 Das begründete das OVG damit, dass es sich bei den klagenden Verbänden weder um „Zusammenschlüsse natürlicher Personen“ handle noch sie „der allseitigen Erfüllung der durch das gemeinsame religiöse Bekenntnis gestellten Aufgaben“ dienten.178 Damit wurde zum einen das Problem des fehlenden „personalen Substrats“ der Dachverbände angesprochen, zum anderen die „umfassende Bekenntnisverwirklichung“ durch die Dachverbände verneint. 173 Siehe zu diesen Entwicklungen Schröder, Die Deutsche Islamkonferenz und die muslimischen Ver-
bände im Religionsverfassungsrecht, in: Hunger/Schröder (Hrsg.), Staat und Islam, 2016, S. 191 (197 ff.).
174 Vgl. de Wall, Rechtsgutachten, in: Klinkhammer/de Wall, Staatsvertrag mit Muslimen in Hamburg,
2012, S. 1 (8). 175 Daneben spielt der Status als Religionsgemeinschaft aber auch eine Rolle für andere rechtliche Gewährleistungen, etwa die Garantie der religiösen Vereinigungsfreiheit (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 2 WRV ) oder die Möglichkeit der Erlangung des Körperschaftsstatus (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV ), vgl. hierzu Heinig, „Religionsgemeinschaft/Religionsgesellschaft“, ZevKR 64 (2019), S. 1 (2). 176 BVerfGE 102, 307 (396); Badura (Fn. 172), Art. 7 Rn. 88; Unruh (Fn. 147), Rn. 451; Classen (Fn. 111), Rn. 482; a. A.: Korioth, Islamischer Religionsunterricht und Art. 7 III GG, NVwZ 1997, S. 1041 (1046 f.) und ihm folgend Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, JZ 1999, S. 538 (546). 177 OVG Münster, Urt. v. 2.12.2003, 19 A 997/02, Rn. 30 ff. und OVG Münster, Urt. v. 9.11.2017, A 997/02 unter Bezugnahme auf BVerwGE 123, 49 (54 ff.). 178 OVG Münster, Urt. v. 2.12.2003, 19/A 997/02, Rn. 51; hierzu Schröder (Fn. 173), S. 199 f. Christian Walter/Kathrin Tremml
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In seiner Entscheidung in der nächsten Instanz stellte das Bundesverwaltungsgericht jedoch klar, dass auch eine Dachverbandsorganisation prinzipiell Religionsgemeinschaft sein kann,179 wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Der Dachverband muss zum einen „für die Identität einer Religionsgemeinschaft wesentliche Aufgaben“180 wahrnehmen, wofür es nicht ausreicht, wenn dort nur organisatorische oder koordinierende Tätigkeiten ausgeführt werden. Zum anderen muss seine Tätigkeit auf die Gläubigen bezogen sein und das religiöse Leben der Mitglieder umfassend regeln, was nicht der Fall ist, „wenn dem Dachverband in erheblichem Umfang Mitgliedsvereine angehören, die religiöse Aufgaben nicht oder nur partiell erfüllen“181. 66 Im Prinzip werden mit den höheren Anforderungen an die Organisation, insbesondere mit dem Erfordernis eines personellen Substrats von Gläubigen,182 für den Status als Religionsgemeinschaft im Kontext des Art. 7 Abs. 3 GG also ähnliche Anforderungen aufgestellt wie für die Verleihung des Körperschaftsstatus.183 Parallel zur Behandlung dieser Problematik im Hinblick auf den Körperschaftsstatus184 lässt sich dementsprechend ebenfalls die Frage aufwerfen, ob diese Kriterien den verfassungs- und konventionsrechtlichen Anforderungen an eine gleichheitskonforme Ausgestaltung des Zugangs zu einem religionsverfassungsrechtlichen Status genügen. Dabei lässt sich festhalten, dass die durch das Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Kriterien leichter von Religionen erfüllt werden können, die „organisationsaffin“ sind, weil bestimmte Voraussetzungen an die innere Organisation der Religionsgemeinschaft gestellt werden.185 Dies erscheint nicht nur im Hinblick auf die religiöse Vereinigungsfreiheit problematisch, wonach einer Religionsgemeinschaft mit Blick auf ihre innere Organisation keine Nachteile bezüglich ihrer Teilnahme am Rechtsverkehr drohen dürfen,186 sondern hierin liegt auch eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung aufgrund der inneren Organisation der Religionsgemeinschaft.187 Nachdem diese Anforderungen am Leitbild der mitgliedschaftlich verfassten christlichen Kirchen entwickelt wurden, bestehen kaum Zweifel, dass diese auf tatsächlicher Ebene 65
179 BVerwGE 123, 49 (57); zustimmend etwa Oebbecke, Die rechtliche Ordnung des islamischen Re-
ligionsunterrichts in Deutschland, in: Kämper/Pfeffer (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 49, 2016, S. 153 (167 und Fn. 76 m. w. N.); Langenfeld, Die rechtlichen Voraussetzungen für islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, in: Langenfeld/Lipp/Schneider (Hrsg.), Islamische Religionsgemeinschaften und islamischer Religionsunterricht, 2005, S. 17 (23 f.); ablehnend dagegen Hillgruber (Fn. 176), S. 545 f. 180 BVerwGE 123, 49 (59). 181 BVerwGE 123, 49 (61). 182 Befürwortend bzgl. dieses Kriteriums OVG Münster, Urt. v. 2.12.2003, 19 A 997/02, Rn. 55 ff.; Heinig, Islamische Theologie an staatlichen Hochschulen in Deutschland, ZevKR 56 (2011), S. 238 (255); Muckel, Wann ist eine Gemeinschaft Religionsgemeinschaft?, in: FS Listl, 2004, S. 715 (740 ff.); Oebbecke (Fn. 179), S. 167. 183 BVerwGE 123, 49 (70 ff.), hierzu Schrooten (Fn. 14), S. 137. 184 Siehe oben Rn. 59 ff. (D. I. 2.). 185 Oebbecke, Der Islam als Herausforderung für das deutsche Religionsrecht, in: Heinrich Böll Stiftung, Muslimische Gemeinschaften zwischen Recht und Politik, 2010, S. 3 f.; Schröder (Fn. 173), S. 211. 186 BVerfGE 83, 341 (356) – Bahá’í (1991): Der Zugang zu einem Status darf nicht mit Blick auf die innere Organisation dieser Religionsgesellschaft beschränkt oder erschwert werden; de Wall (Fn. 174), S. 15 ff. 187 Walter (Fn. 151), IV. 2. b. bb. Christian Walter/Kathrin Tremml
E. Fazit
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hinsichtlich des Zugangs zum Status der Religionsgemeinschaft einen Vorteil gegenüber weniger straff organisierten Glaubensgruppen, wie etwa den Muslimen, genießen.188 2. Kein Gleichheitsverstoß bei sachgerechter Differenzierung
Dieses Gleichheitsproblem ließe sich dadurch lösen, dass man die oben genannten or- 67 ganisatorischen Anforderungen nur dann stellt, wenn dies in Bezug auf bestimmte, von der Religionsgemeinschaft zu erfüllende Aufgaben zwingend erforderlich ist.189 Gerade in Bezug auf die Erteilung von Religionsunterricht liefert Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG einen Anknüpfungspunkt für eine mögliche Rechtfertigung einer bestehenden Ungleichbehandlung. Die Tatsache, dass die Religionsgemeinschaften zum Zwecke der Erteilung von Religionsunterricht als verlässliche Kooperationspartner für den Staat fungieren müssen, lässt es zumindest plausibel erscheinen, dass sich gewisse Anforderungen an organisatorische Struktur, Mitgliederstärke und verbindliche Vertretung nach außen als verhältnismäßig im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Ziel des Art. 7 Abs. 3 GG erweisen.190 Dagegen sollten an den Begriff der Religionsgemeinschaft bzw. Religionsgesellschaft an 68 sich keine derartigen Anforderungen gestellt werden, da diese Ungleichbehandlung nicht aufgrund konkreter Anforderungen gerechtfertigt werden kann.191 Vielmehr sollte der Status der Religionsgemeinschaft im Sinne des allgemeinen Religionsrechts nicht an zusätzliche organisatorische Hürden geknüpft werden, da er Voraussetzung für grundlegende korporative Rechte ist, wie etwa das religiöse Selbstbestimmungsrecht (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV ) oder die Möglichkeit der Erlangung des Körperschaftsstatus (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV ).
E. Fazit I. Steigendes Bedürfnis nach gleichheitskonformer Ausgestaltung mit zunehmender religiöser Pluralität
Die gleichheitskonforme Ausgestaltung des Religionsverfassungsrechts hat in den letzten 69 Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen, wie die im vorliegenden Beitrag exemplarisch herausgearbeiteten Gleichheitsprobleme im Rahmen des Zugangs zum Körperschaftsstatus und beim Begriff der Religionsgemeinschaft gezeigt haben. Während das Staatskirchenrecht aus historischen Gründen traditionell an den christlichen Kirchen ausgerichtet ist, 188 In diesem Sinne Schröder (Fn. 173), S. 211; Oebbecke (Fn. 185), S. 3 f.; Leggewie, Religion als Hemm-
nis und Medium lokaler Integration, in: Gesemann/Roth (Hrsg.), Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft, 2009, S. 593 (603 f.). 189 Ähnlich auch Schrooten (Fn. 14), S. 130 ff., der zwischen der Religionsgemeinschaft im weiteren Sinne (allgemein für das Religionsrecht) und der Religionsgemeinschaft im engeren Sinne (als Voraussetzung für die Erteilung von Religionsunterricht i. S. d. Art. 7 Abs. 3 GG) unterscheiden will. 190 In seiner Argumentation auf die Durchführung des Religionsunterrichts abstellend insoweit auch OVG Münster, Urt. v. 2.12.2003, 19 A 997/02, Rn. 35; Schrooten (Fn. 14), S. 136 ff., 141. 191 Walter (Fn. 151), V.; Schrooten (Fn. 14), S. 138 ff. Christian Walter/Kathrin Tremml
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verlangen vor dem Hintergrund wachsender religiöser Pluralität in Deutschland zunehmend auch andere religiöse Gemeinschaften Zugang zu Organisationsformen und Befugnissen, die den beiden christlichen Kirchen schon lange zugestanden werden.192 Auch wenn unter Berufung auf ihre Bedeutung für die freiheitliche und demokratische Grundordnung vereinzelt nach wie vor ein „Sonderstatus“ der Kirchen für zulässig und wünschenswert befunden wird,193 ist inzwischen in der Rechtsprechung und weiten Teilen der Literatur anerkannt, dass sich eine solche Privilegierung der christlichen Religionsgemeinschaften nicht mit dem Gleichheitssatz verträgt. 70 Schon die – an der Religionsfreiheit orientierte – Auslegung des Zugangs zum Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts in der Zeugen Jehovas-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts löst den Körperschaftsstatus ein Stück weit von seiner früheren Orientierung an den christlichen Kirchen, wenn dort der Körperschaftsstatus als „Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit“ bezeichnet wird.194 Der starke Fokus auf der Religionsfreiheit verstellt dabei den Blick darauf, dass die Gleichheit der Religionen einen wichtigen indirekten Entscheidungsmaßstab darstellt: Die Gerichte verbieten nämlich Differenzierungen, die an Überzeugungen oder Verhaltensweisen anknüpfen, die unter dem Schutz der Religionsfreiheit stehen195 und sichern somit indirekt über die Schranken des Freiheitsrechts die Gleichheit der Religionen.196 II. Verhältnis von Freiheit und Gleichheit (Antidiskriminierungsrecht) im Mehrebenensystem 71
Unter dem Einfluss des Rechts der Europäischen Union erfährt dieser im deutschen Religionsverfassungsrecht jedenfalls in der Rechtsanwendung bislang eher versteckte Aspekt der Gleichheit der Religionen eine gesteigerte Akzentuierung. Das zeigt sich insbesondere im Bereich des auf religiös geprägte Arbeitgeber anwendbaren Arbeitsrechts. Hier führt die stark an Gleichheitserwägungen orientierte Sicht des europäischen Antidiskriminierungsrechts zu einer strengeren Überprüfung von Loyalitätserfordernissen als dies im deutschen kirchlichen Arbeitsrecht bislang der Fall war. Was aus der Sicht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als (freiheitsrechtlich geprägte) Rücksichtnahme auf das Selbstverständnis von Religionsgemeinschaften erscheint, wird vom EuGH in der Tendenz als (gleichheitswidrige) Privilegierung eingestuft. Hier erscheint der wechselseitige Lern192 Vgl. etwa BVerfGE 102, 370 – Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas (2000) und BVerfGE 139, 321 –
Zeugen Jehovas Bremen (2015), betreffend den Zugang zum Körperschaftsstatus; BVerwGE 123, 49, betreffend die Erteilung von Religionsunterricht durch islamische Dachverbände; BVerfGE 83, 341 – Bahá’í (1991), betreffend die religiöse Vereinigungsfreiheit. 193 Vgl. Hillgruber (Fn. 176), S. 546, der sich explizit für eine Privilegierung der christlichen Religionsgemeinschaften ausspricht und Kirchhof (Fn. 166), S. 113 ff., der die Rolle gerade der Kirchen als „wesentliches Fundament“ der Religionsfreiheit betont. 194 BVerfGE 102, 370 (387 und 393) – Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas (2000). 195 So etwa das Kriterium der Staatsloyalität beim Zugang zum Körperschaftsstatus (siehe oben Rn. 60 f. (D. I. 2.)) oder gewisse organisatorische Anforderungen an Religionsgemeinschaften bei der Erteilung von Religionsunterricht (siehe oben Rn. 64 ff. (D. II. 1.)). 196 Vgl. hierzu Walter (Fn. 169), S. 127 f. Christian Walter/Kathrin Tremml
E. Fazit
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prozess noch fortsetzungsbedürftig und verbesserungsfähig, auch wenn sich in der jüngsten Rechtsprechung des EuGH insoweit eine gewisse Bewegung abzeichnet. Umgekehrt ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht hinreichend präsent, wie sehr das kirchliche Arbeitsrecht den beiden christlichen Kirchen in Deutschland die Möglichkeit verschafft, die Lebensformen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu prägen. Hier führt der antidiskriminierungsrechtliche Ansatz des Unionsrechts zu einer Erweiterung der Perspektive, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung berücksichtigen sollte. Die Chancen, die eine stärkere Akzentuierung von Gleichheitserwägungen bietet, 72 gehen aber weit über den Bereich religiös geprägter Arbeitsverhältnisse hinaus und lassen sich verallgemeinern. Es zeigt sich nämlich in der Praxis der Rechtsanwendung, dass ein umfassender Schutz religiöser Freiheit nur dann möglich ist, wenn das Gleichheitsrecht nicht als nachgelagert oder subsidiär, sondern als eigenständige zusätzliche Anforderung neben dem Freiheitsrecht verstanden wird. Nur dann ist gewährleistet, dass alle religiösen Gruppierungen gleichermaßen in den Genuss der durch das entsprechende Freiheitsrecht garantierten freien Religionsausübung kommen, ohne dass dem indirekte und faktische Benachteiligungen entgegenstehen. Eine Rechtsprechung, die Gleichheitsfragen nicht vernachlässigt, sondern dieser Thematik die ihr zustehende Bedeutung zukommen lässt, wird mittelfristig dazu beitragen, bestehende Ungleichheiten und Benachteiligungen abzubauen. Dadurch fördert sie das zentrale Anliegen des Antidiskriminierungsrechts: die Herstellung der notwendigen Rahmenbedingungen für die tatsächliche Gleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft.
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§ 9 Behinderung als Diskriminierungskategorie Julia Zinsmeister Inhaltsübersicht Rn. A. Ableism in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Entstehung der „Behinderten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Behindertenstatistiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 4 8
B. Vom medizinischen zum menschenrechtlichen Verständnis von Behinderung . . . . . . . . . . . . I. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Diagnostik als Feststellung und Hervorbringung von Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . 2. Soziale Beeinträchtigungen und assoziierte Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Barrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einstellungsbedingte Barrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umweltbedingte Barrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Verhältnis von Barrieren, Behinderung und Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16 20 22 24 25 27 30 32
C. Entwicklung des rechtlichen Schutzes vor Diskriminierung wegen Behinderung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Weimarer Republik und Nationalsozialismus (1920–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Nachkriegszeit (1945–1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Paternalistische Rehabilitations- und Fürsorgepolitik (1970–1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Behindertenpolitik wird Menschenrechtspolitik (1980–2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Behindertenpolitischer Paradigmenwechsel (ab 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Europarechtliche Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Völkerrechtliche Entwicklung: Die UN-BRK als Inklusionsmotor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Entwicklung des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsschutzes in Deutschland a) Verfassungsrechtliches Behinderungsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktionen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigung von Benachteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34 35 39 41 46 50 52 54 67 67 69 77
D. Ausgewählte Regelungsbereiche der Umsetzung der UN-BRK in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gleiche Anerkennung vor dem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Politische Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtliche Betreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwangsbehandlungen und freiheitsentziehende Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Alltägliche Lebensgestaltung und gesellschaftliche Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Barrierefreiheit und angemessene Vorkehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beseitigung der Diskriminierung durch Private . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wohnungsbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90 91 91 92 94 99 99 106 109
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§ 9 Behinderung als Diskriminierungskategorie
4. Unabhängige Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schutz vor körperlichen Übergriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sterilisation behinderter Frauen* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gewaltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
110 113 113 118 120
F. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Behinderung unterscheidet sich von anderen Diskriminierungskategorien dadurch, dass sie keine Oberkategorie für alle Menschen bildet, sondern nur die von gesellschaftlicher Ausgrenzung bedrohte und betroffene Gruppe markiert. Alle Menschen haben ein Geschlecht und ein Alter, allen kann eine Rasse zugeschrieben werden, aber nicht alle werden behindert. Das Verständnis von Behinderung ist zentral für die Frage, was eine Diskriminierung wegen Behinderung ist und wer vor Diskriminierung wegen Behinderung geschützt wird. Dieses Verständnis hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert. 2 In den 1980er Jahren stieß die Bürger*innenrechtsbewegung behinderter Menschen und die hieraus hervorgegangenen Disability Studies mit ihrer Kritik an dem bis dato dominierenden medizinischen Modell von Behinderung eine internationale rechtspolitische Diskussion an, die 2006 mit der UN-Behindertenrechtskonvention1 (UN-BRK) ihr – zumindest vorläufiges – Ende gefunden hat. Das medizinische Modell setzte die individuelle Gesundheitsbeeinträchtigung mit der Behinderung gleich und führte damit die gesellschaftliche Ausgrenzung behinderter Menschen allein auf individuelle funktionale Defizite zurück. Der Gegenentwurf der Disability Studies entwarf demgegenüber zunächst ein soziales Modell von Behinderung.2 Danach sind es nicht ihre individuellen Beeinträchtigungen, sondern Vorurteile, rechtliche Benachteiligungen, bauliche und technische Barrieren usw., die Menschen mit Beeinträchtigungen an ihrer gesellschaftlichen Teilhabe behindern. Die WHO griff diesen Impuls auf und entwickelte ihre bisherige, medizinisch orientierte Klassifikation der Behinderung (ICIDH) auf Basis eines „biopsychosozialen“ Modells zur „International Classification of Disability, Functioning and Health“ (2001) weiter, die im Rehabilitationsrecht weitgehend adaptiert, für das Antidiskriminierungsrecht aber aufgrund seiner verbleibenden Nähe zum medizinischen Modell vielfach als unzureichend angesehen wurde.3 Im Zuge der Verhandlungen der UN-Behindertenrechtskonvention hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen die verschiedenen Konzepte eingehend diskutiert, sich schließlich bei der Verabschiedung der UN-BRK 2016 deutlich vom medizinischen Modell distanziert, zugleich aber auf die Festlegung auf eine abschließende Definition verzichtet in der „Erkenntnis, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit 1
1 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen v. 13.12.2006, BGBl. 2008 II,
S. 1420.
2 Vgl. nur Oliver, The politics of Disablement, 1990; ders. Understanding disability, 1996. 3 Zur Kritik Hirschberg, Konzeptualisierungen von Behinderung in der ICF und der UN-BRK und deren
Beitrag zur Verwirklichung des Rechts auf Arbeit, in: Wansing/Welti/Schäfers (Hrsg.), Das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen – Internationale Perspektiven, 2018, S. 109. Julia Zinsmeister
F. Zusammenfassung und Ausblick
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Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“ (lit. e Präambel UN-BRK). Die Mitgliedsstaaten verständigten sich darauf, dass zu den Menschen mit Behinderungen gem. Art. 1 UN-BRK zumindest diejenigen Personen zählen, „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ Dieser Ansatz wird in Abgrenzung zum medizinischen und sozialen Modell von Behin- 3 derung als menschenrechtliches Konzept von Behinderung bezeichnet.4 Die enorme Tragweite des damit vollzogenen Paradigmenwechsels soll nachfolgend im Wege eines kurzen historischen Rückblicks auf den gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung beleuchtet werden (A. I.). Die jeweils geltenden Legaldefinitionen von Behinderung bestimmen auch, wer in Deutschland statistisch als behindert erfasst wird (A. II.). Dass Behinderung als Kategorie sozialer Ungleichheit in jüngerer Zeit verstärkt in das politische Bewusstsein gerückt ist, dürfte nicht nur an der statistisch gesehen wachsenden Zahl behinderter Menschen, sondern auch an der bewusstseinsbildenden Wirkung der UN-BRK liegen. Mit dem menschenrechtlichen Modell von Behinderung gelangen die gesellschaftlichen Kontextfaktoren sozialer Exklusion in den Blick. Es gilt nun, die Begriffe der Beeinträchtigung und Barrieren genauer zu bestimmen und herauszuarbeiten, wann diese in eine Behinderung münden und wann Ungleichbehandlungen behinderter und nichtbehinderter Menschen eine Diskriminierung darstellen (B.). In der historischen Entwicklung des Diskriminierungsschutzes offenbart sich das transformative Potenzial des menschenrechtlichen Modells von Behinderung und der hierauf aufbauenden Konzepte der inklusiven Gleichheit, der assistierten Autonomie und des Disability Mainstreaming (C.). Die Analyse des in Deutschland erreichten Schutzniveaus fällt in der Bilanz gemischt aus, denn viele Umsetzungsbemühungen bleiben noch hinter dem Anspruch der UN-BRK zurück (D.). Um die UN-BRK umsetzen zu können, müssen Annahmen von einer menschlichen Normalität und daran orientierte gesellschaftliche Arrangements und Systeme hinterfragt und künftig so gestaltet werden, dass sie der gesellschaftlichen Pluralität besser Rechnung tragen. Welche grundlegenden Veränderungen dies erfordert, zeigt sich nicht nur im Bildungssystem, sondern auch die äußerst kontrovers geführte Debatte über gesetzliche oder gerichtliche Einschränkungen der rechtlichen Handlungsfähigkeit von Menschen, die als geistig oder psychosozial beeinträchtigt gelten.
4 Vgl. nur CRPD, General comment No. 6 (2018) on equality and non-discrimination, UN Doc. CRPD/C/
GC/6; ebenso Degener, A New Human Rights Model of Disability, in: Della Fina/Cera/Palmisano (Hrsg.), The United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities, A Commentary, 2017, S. 41. Julia Zinsmeister
390
§ 9 Behinderung als Diskriminierungskategorie
A. Ableism in Deutschland I. Die Entstehung der „Behinderten“
Diskriminierungen wegen Behinderungen sind das Ergebnis einer „soziokulturellen Produktion von Normen und Normalität, die den leistungsfähigen (nicht behinderten) Körper als selbstverständliche und privilegierte Existenzweise voraussetzt.“5 In den englischsprachigen Disability Studies hat sich hierfür der Begriff des Ableism etabliert, der in Ermangelung einer passenden Übersetzung von einigen Autor*innen als „Ableismus“ eingedeutscht wurde. 5 Der historische Rückblick zeigt, dass es nie ein einheitliches Verständnis von Behinderung und eine klar und eindeutig von anderen abgrenzbare Gruppe der „Behinderten“ gab. Galten „Anomalien“ bis ins Zeitalter der Aufklärung als gottgegebenes, unveränderliches Schicksal, so wurden sie erst im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einem medizinischen Phänomen erklärt und in Folge Heil- und Pflegeanstalten für „Kretine“, „Blödsinnige“, „Krüppel“ und „Blinde“ errichtet, in denen eine wachsende Zahl von Menschen beforscht, behandelt, therapiert, heilpädagogisch betreut und beschäftigt wurde.6 Es war die Geburtsstunde der Psychiatrie und der institutionalisierten Behindertenhilfe, deren Entwicklung heute ambivalent bewertet wird7: Sie war einerseits von der Hoffnung getragen, Jugendliche und Erwachsene, von denen einige ihr Leben bislang in den Asylen und Verwahranstalten der Armenfürsorge gefristet hatten, spezifisch zu fördern und sie in Ausbildung und Arbeit zu bringen. Andererseits verengte der medizinische Blick das Verständnis von Behinderung auf gesundheitliche und funktionale Defizite der Menschen und mündete in einer binären Aufteilung der Bevölkerung in die Gruppen der „Behinderten“ und der „Gesunden“ bzw. „Normalen.“ 6 Als behindert bezeichnet wurden im deutschen Sprachraum nach dem Ersten Weltkrieg zunächst vor allem schwerbeschädigte, d. h. kriegsversehrte und unfallgeschädigte Männer*. Sie wollten und sollten sprachlich und rechtlich nicht auf gleiche Ebene mit anderen beeinträchtigten Menschen, namentlich den als unproduktiv geltenden „Krüppeln“, „Siechen“ und „Idioten“ gestellt, sondern mit staatlicher Förderung von „Almosenempfängern zu Steuerzahlern“ gemacht werden.8 Hierzu wurden sie nach beiden Weltkriegen statistisch erfasst9 und erhielten zu ihrer Wiedereingliederung medizinische und berufli4
5 Pieper/Mohammadi, Partizipation mehrfach diskriminierter Menschen am Arbeitsmarkt. Ableism und
Rassismus – Barrieren des Zugangs, in: Wansing/Westphal (Hrsg.), Behinderung und Migration, Inklusion, Diversität, Intersektionalität, 2014, S. 221 (227). 6 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 1978; Mattner, Behinderte Menschen in der Gesellschaft – Zwischen Ausgrenzung und Integration, 2000. 7 Mürner/Sierck, Der lange Weg zur Selbstbestimmung. Ein historischer Abriss, in: Degener/Diehl (Hrsg.), Handbuch Behindertenrechtskonvention, 2015, S. 25 (27). 8 Biesalski, Leitfaden der Krüppelfürsorge, 1911, S. 18; Perl, Auswählende Krüppelfürsorge, Ethik 12 (1936), S. 284; Mürner/Sierck (Fn. 7), S. 29; Stolleis, Geschichte des Sozialrechts, 2003, S. 115 (127); ein Beispiel für den juristischen Sprachgebrauch bildet das Krüppelfürsorgegesetz von 1920. 9 Zur Reichsgebrechlichenzählung von 1925 und der Erhebung der „Körperbehinderten im Bundesgebiet“ von 1950 eingehender Schildmann, Geschlecht und Behinderung, 2003, S. 29 ff. Julia Zinsmeister
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che Rehabilitation, während die wirtschaftlich (scheinbar) unbrauchbaren „Krüppel“ und „Idioten“ unter dem wachsenden Einfluss der sozialdarwinistischen Lehre zunehmend gesellschaftlich und rechtlich ins Abseits gerückt wurden. Die Forderung, sie als das „furchtbare Gegenbild echter Menschen“ zu vernichten,10 fand in der Weimarer Republik unter Ärzten, Juristen und Geistlichen zunehmend Verbreitung11 und unter den Nationalsozialisten mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) vom 14.7.193312 ihre erste gesetzliche Grundlage. Mit dem Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens (GVG) von 3.7.193413 wurde dem Öffentlichen Gesundheitsdienst nicht nur der administrative Vollzug des GzVeN, sondern generell die „Erb- und Rassenpflege“ übertragen. Im GVG wurde der noch positiv konnotierte Begriff der „körperlich Behinderten“ auf „Krüppel“ und „Sinnesgeschädigte“ erweitert und 1938 in § 6 Reichsschulgesetz zusätzlich der Begriff der geistigen Behinderung eingeführt. Für geistig und körperlich behinderte Kinder wurde – soweit sie überhaupt als erziehbar galten – eine Sonderschulpflicht eingeführt, um sicherzustellen, dass sie nicht die Bildung der „normalen“ Volksschüler, des „gesunden Volkskörpers“ hemmten.14 § 7 Reichsschulgesetz wiederum ermächtigte die Behörden, die als sonderschulpflichtig eingestuften Kinder gegen den Willen ihrer Eltern in Einrichtungen unterzubringen. Die drei Gesetze bildeten mithin wichtige legislative Eckpfeiler der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, in der mehrere hunderttausend Menschen als „erbkranke Volksschädlinge“ zwangssterilisiert, zu Menschenversuchen ausgebeutet und ermordet wurden.15 Da die Bezeichnung von Menschen als behindert im Nationalsozialismus zwar weiter 7 etabliert war, in den sogenannten Euthanasieprogrammen jedoch keine Verwendung fand, wurde sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in beiden deutschen Staaten als ausreichend wertneutral erachtet und darum im Westen mit der Einführung der Eingliederungshilfe 1969 auf Menschen mit chronifizierten psychischen Erkrankungen („seelische Behinderung“) erstreckt. II. Behindertenstatistiken
Die beschriebene Entwicklung des rechtlichen Behinderungsverständnisses prägte auch 8 die deutschen Behindertenstatistiken. Ihnen lag stets ein medizinisches Verständnis von Behinderung zu Grunde, erfasst wurden also in erster Linie Beeinträchtigungen. Befragungen von beeinträchtigten Menschen offenbaren aber, dass längst nicht alle Beeinträchtigungen auch zu Behinderungen führen.16 10 Binding/Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920, S. 31. 11 Kaiser/Nowak/Schwartz, Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“. Politische Biologie in Deutschland
1895–1945, 1992.
12 RGBl. 1933 I, S. 529. 13 RGBl. 1934 I, S. 531. 14 Ellger-Rüttgardt, Historische Aspekte der rechtlichen Ordnung einer Pädagogik für behinderte Schüler
und Schülerinnen, RdJB 2013, S. 445.
15 Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1989. 16 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Dritter Teilhabebericht der Bundesregierung
über die Lebenslagen behinderter Menschen, 2021, S. 53 und 61. Julia Zinsmeister
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§ 9 Behinderung als Diskriminierungskategorie
Die schrittweise Erweiterung des Behinderungsbegriff von zunächst körperlichen und Sinnesbeeinträchtigungen auf kognitive und mentale Beeinträchtigungen hat dazu beigetragen, dass der Anteil der (schwer)behinderten Menschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik kontinuierlich von drei Prozent in den 1950er Jahren17 auf rund 13 Prozent im Jahr 2017 anstieg.18 2017 hatte jede*r achte Einwohner*in in Deutschland eine amtlich anerkannte Behinderung, rund jede*r Zehnte eine anerkannte Schwerbehinderung.19 Als schwerbehindert gelten bisher Menschen, deren Grad der Behinderung auf einer Skala von 10 bis 100 mindestens 50 beträgt.20 10 Auch der demografische Wandel trug zum Anstieg bei: Die ganz überwiegende Zahl der statistisch als behindert erfassten Personen wird erst im mittleren und höheren Lebensalter behindert.21 Im Kindes- und Jugendalter sind weniger als zwei Prozent der Bevölkerung beeinträchtigt.22 Behinderung und Alter stehen also im engen Zusammenhang. Aktuell wird statistisch wieder eine leichte Verjüngung der Menschen mit Behinderungen beobachtet, die im Dritten Teilhabebericht der Bundesregierung unter anderem auf die Zunahme von „psychischen Behinderungen“ zurückgeführt wird.23 Erfasst wurden in den beiden deutschen Behindertenstatistiken (Schwerbehinderten11 statistik und Mikrozensus) bislang nur Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung, die in Privathaushalten, also außerhalb von Einrichtungen, leben. Statistisch unberücksichtigt blieben damit rund 200.000 volljährige Bewohner*innen von stationären Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen24 und 800.000 zumeist hochaltrige Bewohner*innen von Pflegeheimen.25 In Deutschland wird Behinderung zum Zwecke der Eingrenzung des Personenkreises26 altersspezifisch noch weiter relativiert: Beeinträchtigungen, die als für ein Lebensalter typisch eingestuft werden (z. B. Schwerhörigkeit), gelten gem. § 2 Abs. 1 SGB IX27 nicht als Behinderung und bleiben daher bislang statistisch unberücksichtigt. In den (west)deutschen Behindertenstatistiken wurden also bislang mindestens drei 12 Gruppen von Menschen nicht bzw. nicht vollständig erfasst, die zum Kreis der durch die 9
17 Statistisches Bundesamt, Die Körperbehinderten im Bundesgebiet, Ergebnisse der Volkszählung vom
13. September 1950, Wirtschaft und Statistik 1952, S. 482–486 und eigene Hochrechnung.
18 Statistisches Bundesamt, Lebenslagen der Behinderten, Ergebnis des Mikrozensus 2017, Tabelle 1: Be-
hinderte Menschen in Privathaushalten nach Alter und Grad der Behinderung.
19 Statistisches Bundesamt, Lebenslagen der Behinderten, Ergebnis des Mikrozensus 2017, Tabelle 1; Sta-
tistisches Bundesamt, Statistik der schwerbehinderten Menschen EVAS-Nr. 22711, 2019. Zur statistischen Erfassung der „Geschädigten“ in der DDR Ramm, Die Rehabilitation und das Schwerbeschädigtenrecht der DDR, 2016, S. 56 ff. 20 § 2 Abs. 2 SGB IX. 21 BMAS (Fn. 16), S. 37 ff. 22 BMAS (Fn. 16), S. 37 ff. 23 BMAS (Fn. 16), S. 47. 24 Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) (Hrsg.), Con_sens Kennzahlenvergleich Eingliederungshilfe für 2019. 25 Bundesministerium für Gesundheit, Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung 2020, Stand: 17.2.2020; BMAS (Fn. 16), S. 39, 50. 26 BT-Drs. 15/4575, S. 18. 27 Ebenso die bis 30.6.2001 geltende Vorgängervorschrift § 3 SchwbG. Julia Zinsmeister
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UN-BRK geschützten Bevölkerungsgruppe zählen: 1. Menschen, die ihre Behinderung nicht amtlich feststellen ließen, 2. Menschen, die in Heimen lebten, sowie 3. hochbetagte Menschen. Dies erschwert nicht nur die sozialpolitische Planung, sondern auch den internationalen Vergleich.28 Um zukünftig ihrer in Art. 31 UN-BRK verankerten Pflicht „zur Sammlung geeigneter 13 Informationen, einschließlich statistischer Angaben und Forschungsdaten“ nachzukommen, die es ihnen ermöglichen, „politische Konzepte zur Durchführung des Übereinkommens auszuarbeiten und umzusetzen“ zu genügen, versuchen Bund und Länder nunmehr, die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen unabhängig von ihren amtlich anerkannten Behinderungen zu erfassen.29 Dies führt erwartungsgemäß zu höheren Zahlen:30 Der Dritte Teilhabebericht der 14 Bundesregierung beziffert den Anteil der Menschen mit Beeinträchtigungen an der Gesamtbevölkerung gegenwärtig mit 15,6 Prozent.31 Wie weitreichend die Einzelnen in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe behindert werden, ist jedoch nicht alleine vom Maß ihrer körperlichen, geistigen oder psychosozialen Beeinträchtigung, sondern auch davon abhängig, in welchem Umfang ihre Handlungsspielräume im öffentlichen Raum, im Bereich der Bildung und Beschäftigung, der Mobilität und in ihrem Privatleben durch Barrieren eingeschränkt werden.32 Zutreffend wies die Bundesregierung bereits in ihrem vorhergehenden Teilhabebericht auf die damit zusammenhängenden Unterschiede in den Lebenslagen früh- und spätbehinderter Menschen hin: Spätbehinderte Menschen, die frühe und richtungsweisende Lebensabschnitte der Ausbildung, beruflichen Orientierung und Familiengründung ohne Benachteiligungen durchlaufen konnten, verfügen bei Eintritt der Behinderung im Vergleich zu frühbehinderten Menschen durchschnittlich über einen höheren Bildungsstand und beruflichen Status, über eine bessere sozialversicherungsrechtliche Absicherung und über mehr Einkommen und Vermögen. Sie können behinderungsbedingte Nachteile damit eher kompensieren.33 Der Kreis derjenigen, die es vor Diskriminierung wegen Behinderung zu schützen gilt, 15 ist also keineswegs so eindeutig und zweifelsfrei zu bestimmen, wie in der Politik vielfach angenommen wurde.34 Behinderung bezeichnet keinen vorfindlichen, medizinisch feststellbaren Zustand, sondern wurde als gesetzlicher Begriff eingeführt zur Bestimmung eines Kreises von Menschen, die staatliche Nachteilsausgleiche erhalten bzw. rehabilitiert werden sollten. Das medizinischen Behinderungsmodell etablierte zugleich die un28 Hornberg/Schröttle/Degener/Sellach/Assmann/Bürmann/Steinkühler/ Wattenberg/Libuda-Köster, Vorstudie zur Neukonzeption des Behindertenberichts 2011, S. 134. 29 Hornberg u. a. (Fn. 28). 30 Hornberg u. a. (Fn. 28). 31 BMAS (Fn. 16), S. 39. 32 BMAS, Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen behinderter Menschen 2016, S. 16 ff.; BMAS (Fn. 16), S. 53 f. 33 BMAS (Fn. 32), S. 7, 8, 16, 51 ff. 34 Vgl. nur die Diskussion zur Einführung des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG: BT-Drs. 12/6323, S. 12; BT-Drs. 12/8165, S. 28 f.; BT-Prot. 12/209 v. 4.2.1994, S. 18131 (MdB Vogel) und BT-Drs. 12/8177; zum Verfahren insgesamt: Buch, Das Grundrecht der Behinderten 2001, S. 49–50.
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eingeschränkte Leistungsfähigkeit von Menschen und bestimmte körperliche Erscheinungsbilder und soziale Verhaltensweisen als unhinterfragte Norm. Die Erfüllung bzw. Nichterfüllung dieser Normalitätsanforderungen geht einher mit der gesellschaftlichen Hierarchisierung von Menschen.35
B. Vom medizinischen zum menschenrechtlichen Verständnis von Behinderung Das medizinische Modell setzte die Behinderung (disability) mit einer Beeinträchtigung (impairment) gleich. In welchem Maß Menschen in ihrer individuellen und selbstständigen Lebensführung eingeschränkt und an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft gehindert werden, ist aber nicht allein von der individuellen Ausprägung ihrer Beeinträchtigung, sondern auch von ihrer Umwelt abhängig. Ob hörbehinderte Menschen gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, hängt z. B. sowohl von der Form ihrer Hörbeeinträchtigung und der Qualität ihrer Hörgeräte, als auch vom Kommunikationsverhalten ihrer Gesprächspartner*innen, von der Raumakustik, deren Optimierung durch Hör- und Induktionsanlagen sowie davon ab, inwieweit allgemeine Informationen stets mehrwegig, d. h. sowohl akustisch und/oder taktil, als auch optisch (z. B. durch das Schriftdolmetschen von Besprechungen und das Untertiteln von Videos) übermittelt werden. 17 Behinderungen lassen sich folglich als Wechselwirkung zwischen der individuellen Beeinträchtigung einer Person und den sie behindernden Umweltfaktoren (Barrieren) beschreiben. In den Disability Studies sieht sich die Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung und Behinderung allerdings der berechtigten Kritik ausgesetzt, dass sie auf einer naiven Vorstellung von der Dichotomie von Körper und Gesellschaft, Natur und Kultur beruht.36 Im folgenden Abschnitt wird dargelegt, dass diagnostische Verfahren nicht alleine der Feststellung von Beeinträchtigungen dienen, sondern sie diese auch hervorbringen. (De)konstruktivistische Analysen des Behinderungsverständnisses bieten daher ein erhebliches Innovationspotential für die Weiterentwicklung des Diskriminierungsschutzes, ermöglichen sie doch ein vertieftes Verständnis hegemonialer Ein- und Ausschlussprozesse. Gleichwohl kann im Antidiskriminierungsrecht – zumindest vorerst – noch nicht auf die Kategorien verzichtet werden. Für die Beeinträchtigung gilt, wie Mangold zutreffend für alle rechtlichen Kategorien festgestellt hat, dass zwar „erstens Menschen ihrer Körperlichkeit ‚ausgeliefert‘ sind, die sie nicht beliebig verändern können, in die sie qua Geburt ‚geworfen‘ sind, dass aber zweitens die Wertungen und Bewertungen, die an bestimmte Körperlichkeiten anknüpfen, gesellschaftlich hervorgebracht werden.“37 16
35 Köbsell, Ableism – Neue Qualität oder „alter Wein in neuen Schläuchen“?, in: Attia/Köbsell/Prasad
(Hrsg), Dominanzkultur reloaded, 2015, S. 25.
36 Schneider/Waldschmidt, Disability Studies, in: Moebius (Hrsg.), Kultur. Von den Cultural Studies bis
zu den Visual Studies, 2012, S. 139.
37 Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 316.
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Viele Menschen, die nach den unterschiedlichen Behinderungsdefinitionen als behin- 18 dert gelten, verstehen sich selbst nicht als behindert, sei es, weil sich ihre eigene Beeinträchtigung und Ausgrenzungserfahrung nicht mit ihrer Vorstellung von Behinderung deckt, oder weil sie sich – wie z. B. gehörlose Menschen – eher als sprachliche und kulturelle Minderheit verstehen. Einige empfinden ihre Bezeichnung als behindert als diskriminierend. Entsprechend der Forderung ihrer politischen Interessenvertretung Mensch zuerst e. V. werden darum in diesem Text Menschen nicht als geistig behindert, sondern als Menschen mit Lernschwierigkeiten bezeichnet.38 Andere wenden im Wege des Empowerments abwertende Zuschreibungen wie jene des „Krüppels“ oder „Freaks“ ins Positive.39 Minow zu Folge prägt die gleichheitsrechtliche Diskussion für und wider die Selbst- 19 und Fremdkategorisierung von Menschen ein Differenzdilemma: Verzichtet man auf die Kategorisierung von Menschen als behindert, können dominierende Normalitätskonstruktionen unerkannt/unbenannt fortgeschrieben werden, verwendet man die Kategorien, werden damit auch Differenzen festgeschrieben, die es zu überwinden gilt.40 Mai-Anh Boger zu Folge handelt es sich nicht um ein Dilemma, sondern ein Trilemma. Ihre Theorie der trilemmatischen Inklusion basiert auf der Überlegung, dass die Herstellung inklusiver Verhältnisse von drei gleichwertigen Leitkategorien geprägt wird: 1. Inklusion ist Empowerment, 2. Inklusion ist Normalisierung, 3. Inklusion ist Dekonstruktion.41 Zu zweit, schreibt Boger, bildeten diese jeweils eine Achse, die die dritte Leitkategorie ausschließe. Jede dieser Achsen markiere eine Form des Begehrens des diskriminierten Subjekts: das Begehren, als „Andere“ in gleichem Maße gesellschaftlich teilhaben zu können, wie es für andere als normal gilt – „es ist normal – verschieden zu sein“ (Empowerment-Normalisierung); das Begehren, in seiner Individualität ohne Zuschreibung von Andersheit* gesehen zu werden (Normalisierung-Dekonstruktion) und das Bedürfnis, eigen sein zu können und sich nicht verstecken oder anpassen zu müssen (Dekonstruktion-Empowerment), wie es Menschen unter anderem jedes Jahr auf der Disability and Mad Pride Parade zum Ausdruck bringen.42 Die Unvereinbarkeit aller drei Begehrensformen erzeugt Boger zu Folge eine permanente Hintergrundspannung im diskriminierten Subjekt und führt zu Lagerbildungen innerhalb des Wissenschaftsbetriebs. Statt zu versuchen, das Trilemma aufzulösen, regt Boger an, danach zu fragen, welchen Ansprüchen des diskriminierten Subjekts einzelne Maßnahmen gerecht werden können und welchen nicht.43 Dies erfordert ein vertieftes Verständnis von den Wechselwirkungen zwischen dem beeinträchtigten Individuum und seiner barrierebehafteten Umwelt. 38 „Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e. V.“ wurde 2001 von Menschen gegründet, die als geistig behindert gelten, www.menschzuerst.de. 39 „Jedem Krüppel seinen Knüppel“ war das Motto der Behindertenbewegung anlässlich ihrer Protestaktionen auf dem Festakt zum „Internationalen Jahr der Behinderten“ der Vereinten Nationen 1981, vgl. Köbsell, 50 behindertenbewegte Jahre in Deutschland, Aus Politik und Zeitgeschichte 6–7 (2019), S. 24. 40 Minow, Making all thar difference. Inclusion, Exclusion, and American Law, 1991. 41 Boger, Theorien der Inklusion – eine Übersicht, Zeitschrift für Inklusion 1 (2017) v. 13.4.2017. 42 Boger (Fn. 41). 43 Boger (Fn. 41).
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§ 9 Behinderung als Diskriminierungskategorie
I. Beeinträchtigung
Behinderungen entstehen häufig im Zusammenhang mit Erkrankungen, setzen diese aber nicht notwendig voraus. Eine Erkrankung kann aufgrund ihrer Dauer oder Chronifizierung in eine Behinderung münden,44 wenn die erkrankte Person in Folge der physischen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren langfristig daran gehindert wird, gleichberechtigt mit anderen teilzuhaben.45 21 Beeinträchtigungen bilden aber keineswegs nur den Ausgangspunkt für Diskriminierung, sondern können auch deren Folge sein (z. B. von geschlechtsspezifischer Gewalt).46 20
1. Diagnostik als Feststellung und Hervorbringung von Beeinträchtigungen
Beeinträchtigungen werden in der Regel förderdiagnostisch im Rahmen der schulischen Leistungsbeurteilung oder medizinisch anhand der US-amerikanischen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) und der von der WHO herausgegebenen International Classification of Diseases (ICD-11) ermittelt. Diese Klassifikationssysteme dienen der Vereinheitlichung und Verschlüsselung von Diagnosen und enthalten Kriterien zur Feststellung, welcher physische oder psychische Zustand einer Person oder welches kognitive Leistungsvermögen als „regulär“, welches hingegen als „regelwidrig“ gilt. Anhand dieser Klassifikationssysteme nehmen Mediziner*innen und Psycholog*innen die binäre Aufteilung von Körperzuständen und -funktionen in „gesund“ und „krank“, „normal“ und „beeinträchtigt“ und Lehrer*innen die Feststellung eines „sonderpädagogischen Förderbedarfes“ vor. Der Maßstab für die Entscheidung, welche Konstitution und Fähigkeit als normal, wel23 che als regelwidrig einzustufen ist, beruht auf hegemonialen Narrativen, d. h. den jeweils gesellschaftlich dominierenden Vorstellungen von menschlicher Ästhetik, Produktivität, Intelligenz und sozialer Konformität,47 wie das Beispiel Kleinwuchs zeigt: In Deutschland gelten gemäß der fachmedizinischen S1-Leitlinie 174–004 Kinder als kleinwüchsig, deren Körperhöhe oder -länge unterhalb des dritten Perzentils ihres Alterskollektivs liegt, das sind aktuell drei Prozent aller deutschen Kinder. Ebenso gut hätte die Grenze beim zweiten oder vierten Perzentil angesetzt werden können.48 Beispiel Förderdiagnostik: Das Konzept des „sonderpädagogischen Förderbedarfs“ orientiert sich an den Lernzielen der auf Homogenisierung der Leistungen ausgerichteten allgemeinen Schule. Der wachsende Anteil der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf lässt sich empirisch nicht 22
44 CRPD, Communication No. 10/2013, UN Doc. CRPD/C/12/D/10/2013, Rn. 6.3; Pärli/Naguib, Schutz
vor Benachteiligung aufgrund chronischer Krankheit, 2013, S. 5; Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Mai 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 112. 45 EuGH, Urt. v. 11.4.2013, Rs. C-335/11, C-337/11, HK Danmark, Rn. 38, 39; EuGH, Urt. v. 18.12.2014, Rs. C-354/13, Adipositas, Rn. 59. 46 Schröttle/Hornberg/Glammeier/Sellach/Puhe/Zinsmeister, Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland, 2012/2013, S. 217. 47 Waldschmidt, (Körper-)Behinderung als soziales Problem, in: Albrecht/Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, S. 716. 48 https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/174-004l_S1_Kleinwuchs_2017-03.pdf. Julia Zinsmeister
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auf den Rückgang der Kompetenzen besonders schwacher Schüler*innen zurückführen,49 sondern allenfalls darauf, dass der Abstand zwischen „guten“ und „schlechten“ Schüler*innen immer größer wird.50 Dass die Förderdiagnostik nicht nur auf objektiven Feststellungen, sondern immer auch auf Zuschreibungen beruht, zeigt auch der Vergleich zwischen den Bundesländern: In Mecklenburg-Vorpommern werden Kinder doppelt so häufig als geistig behindert diagnostiziert wie in Baden-Württemberg, in Thüringen siebenmal mehr Kinder als verhaltensauffällig eingestuft als in Schleswig-Holstein und im Saarland leben – will man den Diagnosen Glauben schenken – dreimal mehr blinde und schwer sehbehinderte Kinder als in Niedersachsen.51 2. Soziale Beeinträchtigungen und assoziierte Diskriminierung
Beeinträchtigungen müssen nicht notwendig im Zusammenhang mit einer Funktionsein- 24 schränkung stehen, sondern können auch durch soziale Reaktionen hervorgerufen werden. Hier münden „einstellungsbedingten Barrieren“ i. S. d. Art. 1 UN-BRK unmittelbar in die Beeinträchtigung.52 Große Beachtung fand die Entscheidung des BAG, das die Kündigung eines Arbeitnehmers wegen seiner symptomlosen HIV-Infektion als Diskriminierung wegen seiner Behinderung qualifizierte.53 Dass die Leistungsfähigkeit im konkreten Fall nicht eingeschränkt war, sei unerheblich. Für die Annahme einer Behinderung genüge es, dass der Arbeitnehmer im sozialen Kontakt und bei der Arbeit Stigmatisierungen ausgesetzt sein könne. Der EuGH ließ es in seiner Adipositas-Entscheidung für die Annahme einer Beeinträchtigung hingegen nicht genügen, dass die Sozialauswahl des Arbeitgebers anlässlich einer betriebsbedingten Kündigung dem Anschein nach auf den Kläger wegen dessen Gewicht gefallen war.54 Adipositas sei an und für sich noch keine Behinderung, da sie eine Person ihrem Wesen nach nicht zwangsläufig in deren Teilhabe einschränke. 49 Hollenbach-Biele und Klemm stellen vielmehr fest, dass in der Gruppe der fünf Prozent schwächsten
Schüler*innen im Alter von 15 Jahren im Bereich der Naturwissenschaften und Mathematik eher eine Leistungsverbesserung festzustellen war und nur ihre Lesekompetenz abnahm, vgl. Hollenbach-Biele/ Klemm, Inklusive Bildung zwischen Licht und Schatten, 2020, S. 14. 50 Das führt im Bereich des Lesens z. B. dazu, dass ein steigender Anteil der Viertklässler*innen (2016: 18,9 Prozent) im Lesen nicht mehr das Leistungsniveau erreicht, das in Sekundarstufe I vorausgesetzt wird, vgl. Hußmann u. a. (Hrsg.), IGLU 2016 – Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich, 2017, S. 139. In den Naturwissenschaften und der Mathematik haben sich deutschlandweit zwischen 2009 und 2015 die durchschnittlichen Leistungen aller 15-Jährigen und ihre Kompetenzen erkennbar verschlechtert, berichten Wendt/Bos/Selter/Köller/Schwippert/Kasper, Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen von Grundschulkindern im internationalen Vergleich, 2016. Verschiedene Erklärungsansätze für diese Entwicklung liefern Hollenbach-Biele/Klemm (Fn. 49), S. 14. 51 Preuss-Lausitz, Separation oder Inklusion, in: Müller (Hrsg.), Blick zurück nach vorn – WegbereiterInnen der Inklusion, Bd. 1, 2018, S. 245, 253; Klemm, Inklusion in Deutschland: Daten und Fakten, 2015. 52 In der zurzeit gem. § 99 Abs. 4 Satz 2 SGB IX noch übergangsweise entsprechend anzuwendenden Eingliederungshilfeverordnung von 1975 zieht der Gesetzgeber sogar das Empfinden Dritter zum Maßstab heran, ob eine Person als wesentlich behindert gilt, vgl. § 1 Nr. 2 EGHVO „abstoßend wirkende Entstellungen“. 53 BAG, Urt. v. 19.12.2013, 6 AZR 190/12. 54 EuGH, Urt. v. 18.12.2014, Rs. C-354/13, Adipositas. Julia Zinsmeister
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Eine Krankheit könne aber in eine Behinderung im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG55 münden, wenn sie „eine Einschränkung mit sich bringt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können […].“56 II. Barrieren
In die Feststellung der Behinderung sind alle Barrieren einzubeziehen, die die Einzelnen am vollen Zugang zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt, zu Gesundheit und Bildung sowie zu Information und Kommunikation hindern und sie damit in ihrem uneingeschränkten Genuss ihrer Menschenrechte und Grundfreiheiten einschränken können, vgl. Präambel lit. v UN-BRK. Dabei kann es sich um einstellungsund umweltbedingte Barrieren handeln, vgl. Präambel lit. e UN-BRK. Auf die Frage, wie diese entstanden sind und auf deren Entfernbarkeit oder Überwindbarkeit kommt es im Rahmen der Feststellung der Behinderung noch nicht an. Art. 1 UN-BRK zu Folge ist der personelle Anwendungsbereich der UN-BRK schon eröffnet, wenn eine beeinträchtigte Person durch bestehende Barrieren in ihrer Teilhabe behindert werden kann. Es ist nicht erforderlich, dass sie bereits in ihrer Teilhabe behindert ist (vgl. Art. 1: „which […] may hinder their full and effective participation …“).57 26 Die Feststellung, welche Vorurteile, Stigmata bzw. strukturellen, kulturellen, technischen, natürlichen oder baulichen Begebenheiten die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen behindern können, ist vorrangige Aufgabe und Kompetenz der Sozialwissenschaften und Gegenstand der Disability Studies und Teilhabeforschung, deren Erkenntnisse unter anderem auch in die Sozialpsychologie und -medizin einfließen. Sie ist zugleich Gegenstand der Teilhabeberichterstattung der Bundes- und Landesregierungen. 25
1. Einstellungsbedingte Barrieren 27
Als „Einstellung“ bezeichnet die Sozialpsychologie die Bereitschaft von Personen, anhand von Informationen und basierend auf den eigenen Erfahrungen Sachverhalte, Menschen, Gruppen oder Objekte zusammenfassend zu bewerten.58 Die Informationen können kognitiver Art sein: dann werden dem Einstellungsobjekt bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Je weniger die Person über das konkrete Einstellungsobjekt weiß, umso mehr wird seine kognitive Einschätzung des Objekts auf Stereotypen und Vorurteilen beruhen. Einstellungen können aber auch auf affektiven Informationen beruhen. Als affektive Informationen bezeichnet die Sozialpsychologie die mit dem Einstellungsobjekt verbundenen Gefühle, wie z. B. das Empfinden, eine Person sei attraktiv oder die empfundene Angst im 55 Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung
der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303/16 (Rahmenrichtlinie).
56 EuGH, Urt. v. 18.12.2014, Rs. C-354/13, Adipositas. 57 Das unterscheidet die UN-BRK von der ICF. 58 Haddock/Mayo, Einstellungen, in: Jonas/Strobe/Hewstone (Hrsg.), Sozialpsychologie, 2014, S. 198.
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Umgang mit Menschen, die sich in ungewohnter oder sozial unerwünschter Weise verhalten.59 Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung beruht nicht notwendig auf 28 einer feindseligen oder auch nur expliziten Einstellung, sondern kann Folge absichtslosen Verhaltens basierend auf Unkenntnis oder Vorurteilen sein. Dazu zählt das mangelnde Bewusstsein für die Fertigkeiten, Fähigkeiten und Verdienste von Menschen mit Behinderungen mit der Folge, dass behinderte Bewerber*innen von Arbeitgeber*innen unterschätzt werden ebenso wie die unbewusste Gleichsetzung von Behinderung mit einem bedauernswerten Schicksal und Leid, die unter anderem im Katastrophenfall Ärzt*innen dazu verleiten kann, das Leben einer behinderten Person in Triage-Entscheidungen als weniger lebens- und schützenswert einzustufen als das nichtbehinderter Patient*innen.60 Wird bei der Gestaltung der Infrastruktur und in der Kommunikation unbewusst vo- 29 rausgesetzt, dass alle Menschen uneingeschränkt mobil und des Hörens, Sehens sowie des Lesens und Schreibens der deutschen Sprache mächtig sind, werden diejenigen ausgeschlossen, die diesen Vorstellungen von Normalität nicht entsprechen. Um Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, müssen Kommunikation und Infrastruktur sowie Güter- und Dienstleistungsangebote barrierefrei und diversitätssensibel ausgestaltet werden.61 In der UN-BRK haben sich die Vertragsstaaten darum unter anderem zur Förderung der Bewusstseinsbildung (Art. 8), der Entwicklung universellen Designs (Art. 4 Abs. 1 Satz 2 lit. f UN-BRK)62 und zur barrierefreien und inklusiven Weiterentwicklung des Gemeinwesens verpflichtet (vgl. nur Art. 9 UN-BRK). 2. Umweltbedingte Barrieren
Was unter umweltbedingten Barrieren zu verstehen ist, wird in der UN-BRK nicht de- 30 finiert. In Nr. v der Präambel betonen die Vertragsstaaten, „wie wichtig es ist, dass Menschen mit Behinderungen vollen Zugang zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt, zu Gesundheit und Bildung sowie zu Information und Kommunikation haben, damit sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll genießen können“ und verpflichten sich nachfolgend nicht nur zur Beseitigung von Barrieren im Bereich der gebauten und technischen Infrastruktur, der Information, Kommunikation und Mobilität (Art. 9 UN-BRK), sondern auch zum Abbau struktureller Barrieren, beispielsweise dazu, behinderten Prozessbeteiligten durch verfahrensbezogene Vorkehrungen ihre wirksame Teilnahme am Gerichtsverfahren zu erleichtern (Art. 13 Abs. 1 UN-BRK). In Anbetracht 59 Haddock/Mayo (Fn. 58), S. 201. 60 Dazu BVerfG, Beschl. v. 16.7.2020, 1 BvR 1541/20 – Eilantrag Triage; BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021, 1
BvR 1541/20 – Triage; Gelinsky, Triage-Empfehlungen grenzüberschreitend betrachtet, Eine Befragung europäischer Intensivmediziner, 2020; Brennan, Disability Rights during the pandemic, 2020; Hörnle/ Huster/Poscher (Hrsg.), Triage in Pandemien, 2021. 61 Degener, Antidiskriminierungsrecht für Behinderte, Ein globaler Überblick, ZaöRV 2005, S. 887 (909). 62 Schaumberg, Universelles Design, in: Deinert u. a. (Hrsg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 3. Aufl. 2022. Julia Zinsmeister
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der Vielfalt von Behinderung braucht es einen weiten Barrierebegriff. So werden Arbeitnehmer*innen mit chronischen Darmerkrankungen, Fatique-Syndrom oder Depressionen nicht durch Stufen, sondern eher durch unflexible Arbeitszeiten behindert. Baer und Markard schlagen daher vor, bei der Feststellung einer Behinderung alle Barrieren zu berücksichtigen, „die eine freie Entfaltung derjenigen behindern, die andere Fähigkeiten haben als die Mehrheit.“63 Dieser Begriff der Barriere reicht weit über die von § 4 BGG erfassten Barrieren hinaus. 31 Hilfreich für die Auslegung des Barrierebegriffs kann auch der Rückgriff auf die ICF, die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO sein, in der behinderungsrelevante Umweltfaktoren systematisiert werden. Sie erfasst neben den einstellungsbedingten Faktoren die gesamte materielle und soziale Umwelt einer Person.64 Zur Feststellung einer Behinderung werden innerhalb der Umweltfaktoren spezifische Barrieren und Förderfaktoren identifiziert. Ob ein Umweltfaktor eine Barriere darstellt oder die gleichberechtigte Teilhabe einer Person fördert, muss aus deren Sicht beurteilt werden. So stellen z. B. Bordsteinabsenkungen ohne besonderen Belag für Menschen, die einen Rollstuhl nutzen, einen Förderfaktor, für blinde Menschen, die die Grenze zwischen Straße und Gehweg taktil erfassen müssen, hingegen eine Barriere dar.65 III. Das Verhältnis von Barrieren, Behinderung und Diskriminierung
Wenngleich Menschen mit Beeinträchtigungen durch Barrieren behindert werden und der Abbau von Barrieren damit auch zur „Enthinderung“ führen kann, können rechtsdogmatisch betrachtet weder die Barrieren noch die Behinderung mit einer Diskriminierung gleichgesetzt werden. Art. 2 UN-BRK zufolge bedeutet Diskriminierung aufgrund von Behinderung „jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird.“ Die „Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung“ kann auf aktivem Tun oder Unterlassen (z. B. Verweigerung angemessener Vorkehrungen) beruhen.66 33 Gleichheitsrechtlich relevant sind folglich nur solche Barrieren, die beeinträchtigte Menschen gegenüber nicht beeinträchtigten Menschen schlechter stellen. Die Vertragsstaaten haben sich in Art. 4 UN-BRK unter anderem verpflichtet, diese Barrieren sukzessive abzubauen und bestehende Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken so zu ändern, dass sie Menschen mit Behinderungen nicht länger diskriminieren. Sie haben im Wege eines Disability Mainstreaming sicher zu stellen, dass künftig alle politischen 32
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Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 535. WHO, ICF (deutschsprachige Fassung), 2005, S.123. WHO (Fn. 64), S. 123. Dazu unten Rn. 62 (C. V. 2.) und Rn. 104 ff. (D. II. 1.). Julia Zinsmeister
C. Entwicklung des rechtlichen Schutzes vor Diskriminierung wegen Behinderung
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Konzepte und Programme den Schutz und die Förderung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen berücksichtigen.
C. Entwicklung des rechtlichen Schutzes vor Diskriminierung wegen Behinderung in Deutschland Die Wurzeln des rechtlichen Diskriminierungsschutzes für behinderte Menschen in 34 Deutschland reichen 100 Jahre zurück. I. Weimarer Republik und Nationalsozialismus (1920–1945)
§ 1 des Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter von 1920 verpflichtete Arbeitgeber*innen, bei der Stellenbesetzung „einen Schwerbeschädigten, der für diesen Arbeitsplatz geeignet ist, […] anderen Bewerbern nach Maßgabe der folgenden Vorschriften vorzuziehen.“67 Die Regelung zielte freilich weniger auf die Umverteilung gesellschaftlicher Privilegien, sondern vorrangig auf den gesellschaftlichen Ausgleich der „Sonderopfer“, die die schwerbeschädigten Kriegsrückkehrer im Ersten Weltkrieg erbracht hatten. Ihre Wiedereingliederung in den stark umkämpften Arbeitsmarkt diente zugleich der Wiederherstellung der Geschlechterordnung: Sie sollte schwerbehinderten Männern* ihre Stellung als Familienernährer sichern und damit die Rückkehr der Frauen* in die häusliche Sphäre ermöglichen.68 In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der gesetzliche Schutz der „erbgesunden“ Kriegsversehrten zumindest formal aufrechterhalten, während gleichzeitig immer mehr Menschen befürchten mussten, als „Erbkranke“ in Sonderinstitutionen ausgegrenzt, zwangssterilisiert und ermordet zu werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte die soziale Entschädigung der Kriegsversehrten nochmals besonderes politisches Gewicht. Diejenigen, die im Nationalsozialismus zwangssterilisiert wurden, erhielten bis 2011 hingegen keine sozialen Entschädigungsleistungen. Die Adenauerregierung begründete dies 1957 damit, dass es sich beim GzVeN von 1933 nicht um ein typisch nationalsozialistisches Gesetz handele, da in demokratisch regierten Ländern ähnliche Regelungen zur „eugenischen“ Sterilisation existierten.69 Degener und Begg70 unterteilen die nachfolgende Entwicklung des internationalen Rechts gegen Diskriminierung wegen Behinderung in vier Phasen, die im Folgenden dargestellt werden sollen. 67 RGBl. 1920 I, S. 458 i. d. F. v. 12.1.1923, RGBl 1923 I, S. 57. 68 § 8 Schwerbeschäftigtengesetz v. 16.6.1953 (BGBl I 1953, S. 389) verpflichtete den Öffentlichen Dienst,
Kriegswitwen bei der Einstellung gegenüber anderen Bewerberinnen zu bevorzugen.
69 BT-Prot. 2/191, 10876 (A); eingehend Hermann/Braun, Das Gesetz, das nicht aufhebbar ist: Vom Um-
gang mit den Opfern der NS-Zwangssterilisation in der Bundesrepublik, KJ 2010, S. 338.
70 Degener/Begg, From Invisible Citizens to Agents of Change: A Short History of the Struggle for the
Recognition of the Rights of Persons with Disabilities at the United Nations, in: Della Fina/Cera/PalmiJulia Zinsmeister
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II. Nachkriegszeit (1945–1970)
Die Zeit von 1945 bis 1970 bezeichnen Degener und Begg als Phase, in der Menschen mit Behinderungen als Bürger*innen politisch unsichtbar blieben.71 Obwohl sie im Nationalsozialismus gezielt verfolgt und ermordet wurden, fand nach Ende des Zweiten Weltkrieges Behinderung als Diskriminierungskategorie zunächst weder Aufnahme in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 noch in die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik72 oder das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.73 Menschen mit Behinderung galten nicht als strukturell diskriminierungsgefährdete Gruppe. Im Ausschuss des Parlamentarischen Rates für Grundsatzfragen wurde diskutiert, dass Menschen zwar hinsichtlich ihre Würde und Freiheit grundsätzlich gleich, im Übrigen aber „nach ihrer Eigenart“ unterschiedlich zu behandeln sind und darum beispielsweise „minderbegabte“ Kinder auf Hilfsschulen beschult werden müssen.74 So kennzeichnet die Nachkriegszeit auch der schnelle Auf- und Ausbau des Sonderschulwesens in der DDR und der Bundesrepublik bis etwa 1980, mit dem zugleich die vermehrte Zuschreibung der Sonderschulbedürftigkeit von Kindern einherging: Von 1950 bis 1980 stieg der Anteil der als förderungsbedürftig diagnostizierten Kinder in der Bundesrepublik von 1,3 Prozent auf 4,7 Prozent an.75 40 Die Entmündigung erwachsener Menschen „wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Verschwendung und Trunksucht“ (§ 6 BGB a. F.)76 wurde nach 1945 zunächst bedenkenlos fortgesetzt77 und erst 1992 abgeschafft, als die Vormundschaft durch die rechtliche Betreuung ersetzt wurde. In den Heimen herrschten zumeist weiterhin menschenunwürdige Bedingungen. Untergebracht in riesigen Schlafsälen wurden viele Bewohner*innen ohne Lohn und unter Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen zur Arbeit eingesetzt bzw. gezwungen.78 Betroffene berichten von systematischen Machtmissbrauch, Zwang und Gewalt, sie erhielten hochdosierte Psychopharmaka, teilweise zu Versuchszwecken, mehr39
sano (Hrsg.), The United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities, A Commentary, 2017, S. 1. 71 Degener/Begg (Fn. 70), S. 2. 72 Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1949, S. 5. 73 Zur Begründung vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948– 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5, Ausschuß für Grundsatzfragen, 1993, S. 741 f. 74 So das Beispiel des Vorsitzenden Hermann v. Mangoldt, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5, Ausschuß für Grundsatzfragen, 1993, S. 741 f. 75 Preuss-Lausitz (Fn. 51), S. 251. 76 § 6 BGB in der seit 1.1.1900 geltenden Fassung (RGBl. 1896, S. 195, Nr. 21). 77 Weinriefer stellt fest, dass Ende der 1980er Jahre die Gerichte und die Kommentarliteratur ihre Auslegung des § 6 BGB noch vorrangig auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts und auf Literatur vor 1930 stützten, was in Anbetracht von rund 10.000 Entmündigungsverfahren im Jahr nicht mit der mangelnden praktischen Relevanz der Regelung erklärt werden könne, vgl. Weinriefer, Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit und Geistesschwäche: Bestandsaufnahme und Versuch einer begrifflichen Klärung, 1987, S. 2. 78 Überblick über den Forschungsstand bis 2015 bei Jungmann, Ermittlung der Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die in den Jahren 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland sowie in den Jahren 1949 bis 1990 in der Deutschen Demokratischen Republik in Einrichtungen der stationären Behindertenhilfe bzw. Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben, 2016, S. 79. Julia Zinsmeister
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heitlich zumindest ohne adäquate Indikationsstellung und ohne ihre Kenntnis und Einwilligung.79 Viele Menschen mit der Diagnose einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung waren langfristig in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht, ohne dort angemessen versorgt und behandelt zu werden. So kamen in der Bundesrepublik auf mehr als 500 dieser „Patient*innen“ nur ein*e Sozialarbeiter*in bzw. Psycholog*in.80 III. Paternalistische Rehabilitations- und Fürsorgepolitik (1970–1980)
In der nachfolgenden Dekade (1970–1980) prägte die internationale und deutsch-deutsche Politik ein Rehabilitations- und Fürsorgeparadigma, wie es unter anderem in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1975 zur Waisenrente deutlich zum Ausdruck kommt: Die staatliche Gemeinschaft müsse denjenigen, die „wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen an ihrer persönlichen oder sozialen Entfaltung gehindert sind […], jedenfalls die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein sichern […] und sich darüber hinaus bemühen, sie soweit wie möglich in die Gesellschaft einzugliedern, ihre angemessene Betreuung […] zu fördern sowie die notwendigen Pflegeeinrichtungen zu schaffen.“81 Die Teilhabechancen der Einzelnen schienen folglich maßgeblich davon abzuhängen, ob es den medizinischen und sozialen Berufen gelang, Beeinträchtigungen zu verhüten, zu heilen, zu verbessern, ihre Folgen zu lindern oder ihre Verschlimmerung zu verhindern.82 Im Zentrum der Rehabilitation stand dabei in beiden deutschen Staaten die „Anpassung der Lebensbedingungen“ und die Förderung und wirtschaftliche Verwertung der Arbeitskraft.83 In Westdeutschland wurde die Schaffung möglichst angepasster Lebensbedingungen in Gestalt des sogenannten „Normalisierungsprinzips“ zum zentralen heilpädagogischen Paradigma.84 Integration wurde in erster Linie als Anpassungsleistung von Menschen mit Beeinträchtigungen an die vorherrschenden Normalitätsvorstellungen verstanden,85 ohne zu hinterfragen, wie und aus wessen Perspektive diese Normalität konstruiert wird. Die Entmündigung von Menschen und ihre Aussonderung in eigens geschaffenen Wohn-, Bildungs- und Beschäftigungseinrichtungen zum Zwecke ihrer Förderung und gesellschaftlichen Integration mündete, wie Wansing schreibt, in eine „eigentümliche Pa79 Vgl. nur Jungmann (Fn. 78), S. 19; Siebert/Arnold, Heimkinderzeit, 2016. 80 Vgl. den Bericht der Psychiatrieenquete-Kommission von 1975, BT-Drs. 7/4200. 81 BVerfGE 40, 121 (133) – Waisenrente (1975); zur damaligen Behindertenpolitik der Vereinten Na-
tionen: Degener, Disabled persons and human rights: the legal framework, in: Degener/Koster-Dreese (Hrsg.), Human rights and disabled persons, 1995, S. 9 ff. 82 So definierte § 53 Abs. 3 SGB XII a. F. die Aufgabe der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen bis 31.12.2019. 83 Presber u. a. (1973) über die Rehabilitation der DDR: „Das Ziel der Rehabilitation ist erreicht, wenn es gelungen ist, den Leistungsrest maximal zu trainieren und optimal zu nutzen, wobei gleichzeitig möglichst angepasste Lebensbedingungen geschaffen werden sollen.“, zitiert in: Ramm, Die Rehabilitation und das Schwerbeschädigtenrecht der DDR im Übergang zur Bundesrepublik Deutschland, 2016, S. 29. 84 Nirje/Perrin, Das Normalisierungsprinzip und seine Missverständnisse, 1991. 85 BMAS (Fn. 32), S. 24. Julia Zinsmeister
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radoxie der Gleichzeitigkeit von Inklusion und Exklusion: Der Wohlfahrtsstaat erzeugt durch die Art und Weise der Inklusion in das Rehabilitationssystem zum Teil jene Exklusionsrisiken, auf die er reagiert.“86 Symptomatisch sind die in dieser Zeit erschienenen Berichte der Bundesregierung zur 45 Lage der Behinderten und der Rehabilitation in Deutschland.87 Sie enthielten zwar eine detaillierte Aufgliederung der an behinderte Menschen erbrachten Sozialleistungen, aber kaum Informationen zu deren Lebenslagen und tatsächlichen Teilhabemöglichkeiten bzw. -einschränkungen. Diese wurden bislang allenfalls ausschnittsweise beforscht.88 IV. Behindertenpolitik wird Menschenrechtspolitik (1980–2000)
Dass die Einrichtung von Sondereinrichtungen für behinderte Menschen dem Wohlfahrtsstaat auch dazu diente, „den Rest der Gesellschaft von ihren Exklusionsfolgen und den durchschnittlichen Bürger vom alltäglichen Umgang mit Menschen mit Behinderung“89 zu entlasten, brachte das LG Frankfurt a. M. in seinem Reiseurteil vom 25.2.1980 zum Ausdruck. Es stufte die Anwesenheit einer Gruppe geistig und körperlich beeinträchtigter Menschen im Speisesaal eines Hotels als minderungsrelevanten Reisemangel ein. Für empfindsame Menschen, so das Gericht, könne eine Gruppe von Schwerbehinderten zur Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses führen.90 Die Entscheidung bewegte tausende behinderte Menschen zum Protest und lieferte 47 verschiedenen regionalen Initiativen in Westdeutschland und ihren Unterstützer*innen den Impuls, sich bundesweit nach US-amerikanischem Vorbild zur Bürger*innenrechtsbewegung, der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung zusammenzuschließen. Zentrale Forderungen bildeten insbesondere der Abbau der Segregation und Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen und ihrer fürsorglichen Entmündigung, persönliche Assistenz in einer selbstgewählten Wohnform, die Herstellung von Barrierefreiheit.91 Frauen* mit Behinderungen arbeiteten geschlechtsspezifische Aspekte der Diskriminierung heraus und lieferten mit „Geschlecht: behindert, besonderes Merkmal: Frau“ eine der ersten deutschsprachigen Analysen intersektionaler Diskriminierung.92 In den USA und Großbritannien entwickelten sich aus der Selbstbestimmt-Leben-Be48 wegung heraus die Disability Studies, die sich kritisch mit dem medizinischen Modell von 46
86 Wansing, Behinderung: Inklusions- oder Exklusionsfolge?, in: Waldschmidt/Schneider (Hrsg.), Dis-
ability Studies, 2007, S. 288.
87 Vgl. nur den Bericht v. 15.12.2004, BT-Drs. 15/4575. 88 BMAS (Fn. 16). 89 Wansing, Teilhabe an der Gesellschaft: Menschen mit Behinderung zwischen Inklusion und Exklusion,
2006, S. 186.
90 LG Frankfurt a. M., Urt. v. 25.2.1980, 2/24 F 282/79. 91 Frehe, Initiativen für ein Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetz für Behinderte in der BRD,
in: Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland e. V. (Hrsg.), Gleichstellung Behinderter, S. 63 ff.; Degener, Antidiskriminierungspolitik versus Wohlfahrtspolitik, Geistige Behinderung 1993, S. 44; Jürgens, Gleichstellungsgesetz für Behinderte?, ZPR 1993, S. 129. 92 Ewinkel/Hermes/Boll/Degener, Geschlecht: behindert – besonderes Merkmal: Frau, 1985. Julia Zinsmeister
C. Entwicklung des rechtlichen Schutzes vor Diskriminierung wegen Behinderung
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Behinderung befassten und Hintergründe und Wirkungsweisen der Diskriminierung von behinderten Menschen beleuchteten.93 Die Analysen der Disability Studies und die Proteste behinderter Menschen rückten zunehmend auch in den Fokus der Vereinten Nationen. Der 1993 vorgelegte erste Bericht des Sonderberichterstatters zur weltweiten Lage der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen94 und die einige Jahre später von der Hochkommissarin für Menschenrechte in Auftrag gegebene Studie über die gegenwärtige Anwendung und das zukünftige Potential der UN-Menschenrechtsverträge im Kontext von Behinderung95 belegten den enormen Handlungsbedarf. In Deutschland fand das Verbot der Benachteiligung wegen Behinderung zunächst 49 Eingang in einzelne Landesverfassungen.96 Die Forderung der Behindertenverbände nach Aufnahme eines Diskriminierungsverbotes in Art. 3 Abs. 3 GG und ein entsprechender Entwurf der SPD-Bundestagsfraktion scheiterten in der Gemeinsamen Verfassungskommission zunächst an der fehlenden Zweidrittelmehrheit. Gegen die Erweiterung wurde eingewandt, behinderte Menschen seien verfassungsrechtlich ausreichend über das Sozialstaatsprinzip abgesichert. Eine Erweiterung des Art. 3 GG würde Erwartungen wecken, die nicht einzulösen seien, da es sich im Wesentlichen um „Alltagsprobleme im normalen mitmenschlichen Umgang“ und um „Vollzugsprobleme“ handele, die nicht verfassungsrechtlich zu lösen seien.97 Nach weiteren Verhandlungen in den Ausschüssen wurde Art. 3 Abs. 3 GG schließlich doch um einen Satz 2 erweitert.98 Die Verfassungsänderung trat am 15.11.1994 in Kraft.99 Damit war auf Bundesebene der Grundstein für den Beginn einer neuen behindertenpolitischen Phase gelegt, in der Degener und Begg zufolge Menschen mit Behinderungen nunmehr die Rolle der „agents of human rights“ zukommt.100 Ausgangspunkt für diesen Wandel bildete die Erkenntnis, „dass die gesellschaftliche Randstellung behinderter Menschen keine logische Folge von gesundheitlichen Schäden ist, sondern eine Folge politischer Entscheidungen und individueller Verhaltensweisen, die 93 Oliver (Fn. 2). 94 Despouy, Human Rights and Disabled Persons, 1993, United Nations publication, Sales No. E.92 XIV.4. 95 Quinn/Degener, Human rights and disability: The current use and future potential of United Nations
human rights instruments in the context of disability, 2002.
96 Aktuell finden sich Benachteiligungsverbote – teilweise ergänzt um Schutz- und Fördergebote – in
Art. 2 a Verfassung Baden-Württemberg, Art. 118a Verfassung des Freistaates Bayern; Art. 11 Satz 1 Verfassung von Berlin, Art. 2 Abs. 3 Satz 1 Verfassung der Freien Hansestadt Bremen; Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Niedersächsische Verfassung; Art. 64 Verfassung für Rheinland-Pfalz; Art. 12 Abs. 4 Verfassung des Saarlandes. In anderen Landesverfassungen wurden nur Schutz- und Fördergebote aufgenommen, vgl. Art. 26 Abs. 1 Satz 2, Art. 29 Abs. 3 Satz 2, Art. 45, Art. 48 Abs. 4 Verfassung des Landes Brandenburg; Art. 17a Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern; Art. 7 Abs. 2 Verfassung des Freistaates Sachsen; Art. 38 Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt; Art. 5a Verfassung des Landes Schleswig-Holstein; Art. 2 Abs. 4 Verfassung des Freistaats Thüringen. In NRW verweist die Landesverfassung in Art. 4 Abs. 1 explizit auf Art. 3 GG in seiner Fassung v. 1949. 97 BT-Drs. 12/6000, S. 53 f.; BT-Drs. 12/8165, S. 28 f. 98 Vgl. BT-Drs. 12/8165, S. 6; zu den politischen Hintergründen vgl. Jürgens, Der Diskriminierungsschutz im Grundgesetz, DVBl. 1997, S. 410. 99 Durch Art. 1 Nr. 1b) des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 27.10.1994 (BGBl. 1994 I, S. 3146). 100 Degener/Begg (Fn. 70), S. 11 f. Julia Zinsmeister
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auf falschen Annahmen über Behinderung beruhen.“101 Damit schwenkte der Fokus erstmals von den beeinträchtigten Menschen auf die sie behindernde Mehrheitsgesellschaft. V. Behindertenpolitischer Paradigmenwechsel (ab 2000) 50 Degener zu Folge hatten im Jahr 2004 bereits 50 Staaten gesetzliche Regelungen zum Schutz
behinderte Menschen vor Diskriminierung verabschiedet und damit einen Wechsel weg vom Fürsorge- und Rehabilitationsparadigma hin zu einer neuen Behindertenpolitik eingeläutet,102 den der Deutsche Bundestag am 19.5.2000 einstimmig wie folgt charakterisierte:
„Im Mittelpunkt der politischen Anstrengungen stehen nicht mehr die Fürsorge und Versorgung behinderter Menschen, sondern ihre selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Beseitigung der Hindernisse, die ihrer Chancengleichheit entgegenstehen.“103 51 Der Paradigmenwechsel mündete in rege Aktivitäten der Legislative: Nach der Neugestal-
tung des Rehabilitations- und Teilhaberechts im SGB IX (2001)104 wurde 2002 das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz105 (BGG) verabschiedet und durch drei Verordnungen zur barrierefreien Gestaltung von Dokumenten106 (VBD), Informationstechnik107 (BITV ) und Gewährung von Kommunikationshilfen108 (KHV ) ergänzt. Weitere Änderungen zielten unter anderem auf die diskriminierungsfreie Gestaltung des Sozialrechts,109 insbesondere die barrierefreie Gestaltung der Verwaltungs- und Gerichtsverfahren.110 Für Landesund Kommunalverwaltungen gelten eigene Gleichstellungsgesetze und -verordnungen.111 1. Europarechtliche Impulse
52 Wichtige Impulse für die Entwicklung des Behinderungsverständnisses und der Wirkungs-
weisen von Diskriminierungen wegen Behinderung lieferte das Antidiskriminierungsrecht der EU mit dem Konzept der mittelbaren Diskriminierung. Art. 5 der Rahmenrichtlinie 2000/78/EU formulierte darüber hinaus das für Menschen mit Behinderung elementare
Degener (Fn. 61), S. 889. Vgl. die Erhebung von Degener (Fn. 61), S. 951. Überfraktioneller Entschließungsantrag BR-Drs.14/2913. Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen v. 19.6.2001, BGBl. 2001 I, S. 1046. 105 Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen v. 27.4.2002, BGBl. 2002 I, S. 1467, zuletzt geändert durch BGBl. 2021 I, S. 1387. 106 Verordnung zur Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Menschen im Verwaltungsverfahren nach dem Behindertengleichstellungsgesetz v. 17.7.2002, BGBl. 2002 I, S. 2652. 107 Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz v. 17.7.2002, BGBl. 2002 I, S. 2654, mittlerweile ersetzt durch BGBl. 2011 I, S. 1843. 108 Verordnung zur Verwendung von Gebärdensprache und anderen Kommunikationshilfen im Verwaltungsverfahren nach dem Behindertengleichstellungsgesetz v. 17.7.2002, BGBl. 2002 I, S. 2650. 109 Vgl. nur §§ 33 c SGB I, 19a SGB IV; Dern, Sozialrechtliche Gleichstellungs- und Antidiskriminierungskonzeptionen, 2012. 110 Jürgens, in: Frehe/Welti (Hrsg.), Behindertengleichstellungsrecht, 3. Aufl. 2018, S. 336. 111 Vgl. den Überblick bei Frehe, in: Frehe/Welti (Hrsg.), Behindertengleichstellungsrecht, 3. Aufl. 2018, S. 32. 101 102 103 104
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Recht auf Vornahme angemessener Vorkehrungen112. Die Rahmenrichtlinie nennt in Erwägungsgrund Nr. 20 als beispielhafte Vorkehrungsmaßnahmen die behindertengerechte Gestaltung des Arbeitsplatzes, der Arbeitsgeräte, der Arbeitszeiten, der Aufgabenverteilung sowie eine Anpassung den Ausbildungs- und Einarbeitungszeiten. Diese Vorgaben hat Deutschland bislang nicht umfassend umgesetzt. So zielt die in § 167 Abs. 2 SGB IX geregelte Pflicht der Arbeitgeber*innen, im Wege eines sogenannten Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) Maßnahmen zum Erhalt des Arbeitsplatzes zu ergreifen und die Beschäftigungsverhältnisse hierzu, wie es in Literatur und Rechtsprechung oft unpassend heißt, „leidens-, bzw. behinderungsgerecht“113 zu gestalten, nur auf die Sicherung bestehender Beschäftigungsverhältnisse, nicht auf den gleichberechtigten Zugang zur Beschäftigung.114 Das nach langen, kontroversen Debatten 2006 verabschiedete Allgemeine Gleichbe- 53 handlungsgesetz (AGG)115 ergänzt die in SGB IX Teil 3 geregelten arbeits- und sozialrechtlichen Maßgaben für den Schutz (Schwer-)behinderter im Bereich der Beschäftigung und erstreckt den Diskriminierungsschutz wegen Behinderung und vor mehrfachen Diskriminierungen auf den Dienstleistungs- und Warenverkehr. Menschen mit Behinderungen wird der Zugang zum Dienst- und Warenverkehr vor allem durch Barrieren erschwert oder verwehrt. Hierzu enthält das AGG aber keine konkreten Vorgaben. Auch die Pflicht zur Vornahme angemessener Vorkehrungen wurde bis 2021 noch nicht im AGG verankert.116 2. Völkerrechtliche Entwicklung: Die UN-BRK als Inklusionsmotor
Im Völkerrecht bildet die Behinderung in Art. 2 AEMR, Art. 2 Abs. 1 IPbpR, Art. 2 Abs. 2 54 IPwskR und Art. 14 EMRK einen „sonstigen Status.“117 Die Konkretisierung der sich hieraus ergebenden Verantwortung der Staaten für Menschen mit Behinderungen erfolgte auf universeller Ebene zunächst durch soft law118, das sich jedoch als nicht ausreichend erwies, um den vielfältigen, oft strukturell bedingten Benachteiligungen behinderter Menschen im gesellschaftlichen Leben wirkungsvoll zu begegnen.119 Daher wurde 2001 ein Ad-hoc112 Dazu unten Rn. 62 (C. V. 2.) und Rn. 104 ff. (D. II. 1.). 113 Düwell, in: Dau u. a. (Hrsg.), LPK-SGB IX, 5. Aufl. 2021, § 167 Rn. 49. 114 BAG, Urt. v. 21.4.2016, 8 AZR 402/14; grundlegend auch Bechtolf, Angemessene Vorkehrungen, in:
Deinert u. a. (Hrsg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 3. Aufl. 2022.
115 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer
Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. 116 → Degener, § 15; Eichenhofer, Angemessene Vorkehrungen als Diskriminierungsdimension im Recht, 2018. 117 EGMR, Urt. v. 29.4.2002, Beschwerde-Nr. 2346/02, Pretty v. Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt. v. 22.3.2016, Beschwerde-Nr. 23682/13, Guberina v. Kroatien, Rn. 76 ff.; EGMR, Urt. v. 11.12.2018, Beschwerde-Nr. 65550/13, Belli und Arquier-Martinez v. Schweiz. 118 UN Generalversammlung, World Programme of Action concerning Disabled Persons v. 3.12.1982, UN Doc. A/RES/37/52; UN Generalversammlung, Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities v. 20.12.1993, UN Doc. A/RES/48/96; UN Generalversammlung, Implementation of the World Programme of Action concerning Disabled Persons: towards a society for all in the twenty-first century v. 17.12.1999, UN Doc. A/RES/54/121. 119 Degener/Quinn, A Survey of International, Comparative and Regional Disability Law Reform, in: Julia Zinsmeister
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Ausschuss zur Entwicklung einer eigenen Menschenrechtskonvention eingerichtet,120 der unter Beteiligung einer großen Zahl von Nichtregierungsorganisationen behinderter Menschen die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) erarbeitete, die am 13.12.2006 zusammen mit dem dazugehörigen Fakultativprotokoll von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde.121 55 Die UN-BRK trat am 3.5.2008 in Kraft und wurde zusammen mit dem Fakultativprotokoll von Deutschland vorbehaltlos unterzeichnet und ratifiziert.122 Sie ist seit 26.3.2009 Bestandteil der nationalen Rechtsordnung. 56 Ihre Auslegung ist anhand der Übersetzungen der Vereinten Nationen vorzunehmen. Die von der Bundesregierung zusammen mit Österreich, Liechtenstein und der Schweiz vorgelegte deutsche Übersetzung des Vertragstextes123 ist völkerrechtlich nicht verbindlich124 und wurde zutreffend als mangelhaft kritisiert.125 „Accessability“ i. S. d. Art. 3 lit. f UN-BRK meint nicht nur Zugänglichkeit, sondern zielt auf die Beseitigung aller Barrieren, die Menschen mit Behinderungen an der vollen Wahrnehmung ihrer Menschenrechte hindern können.126 Informationsangebote, technische und gebaute Infrastrukturen sowie andere gestaltete Lebensbereiche müssen nicht zur zugänglich, sondern auch barrierefrei auffindbar und nutzbar sein.127 Der Begriff der inclusion kann nicht mit Integration übersetzt werden, da sich das der UN-BRK zugrunde liegende Konzept der Inklusion von jener der Integration deutlich unterscheidet.128 Während Integrationskonzepte darauf gerichtet sind, Menschen durch Anpassung und Normalisierung in die bestehenden, unhinterfragten Strukturen und Kulturen einzugliedern, zielt Inklusion auf die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen, Kulturen und Prozesse mit dem Ziel, diese so zu gestalten, dass sie der Vielfalt menschlicher Fähigkeiten und Lebenslagen – nicht nur, aber gerade der von Menschen mit Behinderungen – besser Rechnung tragen.129 In der UN-BRK bringt der
Breslin/Yee (Hrsg.) Disability Rights Law and Policy: International and National Perspectives, 2002, S. 3; Quinn/Degener (Fn. 95). 120 UN Generalversammlung, Human rights questions: human rights questions, including alternative approaches for improving the effective enjoyment of human rights and fundamental freedoms v. 11.12.2001, UN Doc. A/56/583/Add.2. 121 Zur Entstehungsgeschichte v. Bernstorff, Menschenrechte und Betroffenenrepräsentation: Entstehung und Inhalt eines UN-Antidiskriminierungsübereinkommens über die Rechte von behinderten Menschen, ZaöRV 2007, S. 1041; Degener/Begg (Fn. 70), S. 1 ff. 122 BGBl. 2008 II, S. 1419; vgl. auch Denkschrift der Bundesregierung zu dem Übereinkommen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderung, BT-Drs. 16/10808, S. 46. 123 Vgl. die sprachliche Gegenüberstellung in BR-Drs. 760/08. 124 Vgl. Art. 50 UN-BRK. 125 Degener, Die UN-Behindertenrechtskonvention als Inklusionsmotor, RdJB 2009, S. 200 f. 126 Della Fina, Article 3, in: Della Fina/Cera/Palmisano (Hrsg.), The United Nations Convention on the Rights of People with Disabilities, A Commentary, 2017, S. 119 (130 f.). 127 Vgl. § 4 BGG. 128 Aichele, Inklusion als menschenrechtliches Prinzip: der internationale Diskurs um die UN-Behindertenrechtskonvention, Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2013, S. 28. 129 Wansing, Der Inklusionsbegriff in der Behindertenrechtskonvention, in: Welke (Hrsg.), UN-Behindertenrechtskonvention, 2012, S. 94. Julia Zinsmeister
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Begriff der Inklusion insbesondere die Abkehr von segregierenden, paternalistischen Konzepten der Wohlfahrtsstaatlichkeit zum Ausdruck.130 Das Bundesverfassungsgericht zieht die UN-BRK als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte, insbesondere des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG heran.131 Die Europäische Union hat die UN-BRK am 23.12.2010 ratifiziert.132 Gem. Art. 216 Abs. 2 AEUV bilden die Bestimmungen der UN-BRK damit einen integrierenden Bestandteil der Unionsrechtsordnung und haben gegenüber Rechtsakten der Union Vorrang.133 Der EuGH ist dazu übergegangen, den in der Rahmenrichtlinie 2000/78/EU nicht näher konkretisierten Rechtsbegriff der Behinderung nach Möglichkeit am Maßstab des Art. 1 Abs. 2 UN-BRK zu bestimmen.134 Die innovative Kraft der UN-BRK ist vielfach hervorgehoben worden. Bielefeldt stellt fest, dass in keiner anderen UN-Konvention der Empowerment-Ansatz so zum Tragen kommt, wie in der UN-BRK.135 Degener bezeichnet die UN-BRK darum auch als „Inklusionsmotor“.136 Gem. Art. 1 UN-BRK ist Zweck des Übereinkommens, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle behinderten Menschen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten. Art. 3 nennt die sich hieraus ergebenden acht allgemeinen Prinzipien der Autonomie und Achtung der Menschenwürde, der Nichtdiskriminierung, Chancengleichheit und Barrierefreiheit, der Partizipation und Inklusion, der Achtung der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und Menschheit sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Achtung der sich entwickelnden Fähigkeiten behinderter Kinder und Jugendlicher und ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität. Ausgehend von dem Verständnis der Unteilbarkeit und Interdependenz der Menschenrechte wurde der UN-BRK ein modernes Verständnis der Funktion der Menschenrechte zu Grunde gelegt, das die Funktion der Menschenrechte als Pflichtentrias beschreibt (Eide’sche Formel). Demnach haben alle Menschenrechte nicht nur eine Abwehrfunktion (respect), sondern verpflichten die Staaten auch dazu, Menschen vor Diskriminierung 130 Vgl. nur den englischen Wortlaut der Art. 19 Nr. b), Art. 24 Abs. 2 Nr. a) und b) UN-BRK; erläuternd
der UN-Fachausschuss zu Art. 19 (CRPD, General comment No. 5 (2017) on living independently and being included in the community, UN Doc. CRPD/C/GC/5) und Art. 24 (CRPD, General comment No. 4 (2016) on the right to inclusive education, UN Doc. CRPD/C/GC/4). 131 BVerfGE 128, 282 – Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug (2011). 132 Beschluss des Rates über den Abschluss des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Europäische Gemeinschaft (2010/48/EG) v. 26.11.2009, ABl. 2010 L 23/35. 133 EuGH, Urt. v. 18.3.2014, Rs. C-363/12, Mutterschutz für Bestellmutter, Rn. 71; EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-366/10, Air Transport Association of America u. a., Rn. 50, EuGH, Urt. v. 11.4.2013, Rs. C-335/11, C-337/11, HK Denmark, Rn. 28. 134 EuGH, Urt. v. 18.3.2014, Rs. C-363/12, Mutterschutz für Bestellmutter, Rn. 71; EuGH, Urt. v 11.4.2013, Rs. C-335/11, C-337/11, HK Denmark, Rn. 32. 135 Bielefeldt, Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention, 2009, S. 4. 136 Degener (Fn. 125), S. 200. Julia Zinsmeister
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durch andere zu schützen (protect) und die Voraussetzungen zu schaffen, die Menschen benötigen, um tatsächlich gleichberechtigt mit anderen teilhaben zu können ( fulfil).137 So verpflichtet Art. 5 Abs. 2 UN-BRK die Vertragsstaaten nicht nur, „jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung“ zu verbieten und „Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen“ zu garantieren. Gem. Art. 4 Abs. 1 lit. e UN.BRK haben sie hierzu auch proaktiv „alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung aufgrund von Behinderung durch Personen, Organisationen oder private Unternehmen zu ergreifen“, zum Beispiel dafür Sorge zu tragen, dass Menschen mit Behinderungen die gesamte öffentliche Infrastruktur – auch öffentlich zugängliche Einrichtungen und Dienste in privater Trägerschaft – barrierefrei nutzen können (Art. 9 Abs. 2 lit. b).138 Das Diskriminierungsverbot des Art. 4 UN-BRK umfasst nicht nur unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen, sondern gem. Art. 2 UAbs. 3 UN-BRK auch die Verweigerung angemessener Vorkehrungen. Angemessene Vorkehrungen werden definiert als „notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können.“ Den Unterschied zwischen der Pflicht zur Herstellung von Zugänglichkeit (Art. 9 UNBRK) und der Vornahme angemessener Vorkehrungen hat Degener in diesem Band herausgearbeitet.139 Zur Steuerung des Umsetzungsprozesses haben die Vertragsstaaten Focal Points und staatliche Koordinierungsstellen eingerichtet (Art. 33 UN-BRK), deren Arbeit durch eine unabhängige Monitoring Stelle begleitet wird.140 Die internationale Überwachung der Einhaltung und Umsetzung der UN-BRK obliegt dem Fachausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (nachfolgend: UN-Fachausschuss, CRPD). Er prüft in regelmäßigen Abständen anhand von Staatenberichten und Parallelberichten der Zivilgesellschaft die Umsetzung der UN-BRK in den einzelnen Vertragsstaaten (Art. 34–36 UN-BRK). Das Fakultativprotokoll verleiht Personen und Personengruppen außerdem das Recht, sich im Falle einer möglichen Verletzung der Vorgaben der UN-BRK mit einer Individualbeschwerde an den Fachausschuss zu wenden (Art. 1–5 Fakultativprotokoll). Der Fachausschuss prüft dann in sogenannten „Kommunikationen“, ob eine Verletzung vorliegt, und spricht in diesem Falle eine Empfehlung an den Vertragsstaat aus. Im Falle des Verdachts schwerwiegender oder systematischer Verletzungen der Rechte behinderter Menschen durch einen Vertragsstaat kann der Fachausschuss auch aus eigener Initiative heraus ein vertrauliches Untersuchungsverfahren einleiten, sofern der betreffende 137 Eide, The Right to Food as a Human Right v. 7.7.1987, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1987/23. 138 Zur Unterscheidung zwischen reaktiven Diskriminierungsverboten und proaktivem Gleichstellungs-
recht Mangold (Fn. 37), S. 230; → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 98 ff.
139 → Degener, § 15. 140 In Deutschland eingerichtet beim Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR).
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Vertragsstaat dem Fachausschuss nicht die hierfür erforderliche Befugnis bei Unterzeichnung oder Ratifikation des Protokolls oder im Rahmen seines Beitritts abgesprochen hat (Art. 6–8 Fakultativprotokoll). Neben den genannten drei Überwachungsverfahren bilden die sogenannten Allgemei- 65 nen Bemerkungen (General Comments) ein weiteres Instrument des UN-Fachausschusses zur Sicherung und Förderung der vertragskonformen Umsetzung der UN-BRK. Zudem äußert sich der Fachausschuss in sogenannten Statements zu aktuellen Menschenrechtsthemen, zuletzt zusammen mit dem Fachausschuss zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau 2018 zum Erfordernis der Sicherung der sexuellen und reproduktiven Rechte behinderter Frauen sowie 2020 zum Schutz der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen in der Pandemie. Die Allgemeinen Bemerkungen und Stellungnahmen des UN-Fachausschusses bilden 66 für die Vertragsstaaten der UN-BRK Auslegungshilfen von erheblichem Gewicht. Zwar behalten deren nationalen Gerichte ihre eigenständige Kompetenz zur Auslegung der UNBRK, müssen diese aber nach völkerrechtlichen Grundsätzen vornehmen und sich dabei auch an der Auslegung des UN-Fachausschusses orientieren. Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass sich nationale Gerichte mit der Auslegung der UN-BRK durch den UN-Fachausschusses inhaltlich auseinandersetzen, betont aber zugleich, dass der Fachausschuss kein Mandat zur verbindlichen Interpretation oder gar Fortentwicklung der UN-BRK habe.141 3. Die Entwicklung des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsschutzes in Deutschland a) Verfassungsrechtliches Behinderungsverständnis
Der verfassungsändernde Gesetzgeber ging 1994 noch davon aus, der durch Art. 3 Abs. 3 67 Satz 2 GG zu schützende Personenkreis sei „über das dauerhafte Merkmal der Behinderung klar erkenn- und eindeutig bestimmbar.“142 Worauf er diese Annahme stützte, lässt sich den Materialien jedoch nicht entnehmen. Da es sich in Behinderung nicht um ein individuelles Merkmal handelt143 und es bereits zu diesem Zeitpunkt weder in der deutschen Rechtsordnung noch in den Sozial- und Humanwissenschaften eine einheitliche Definition von Behinderung gab,144 dürfte es der Gemeinsamen Verfassungskommission am notwendigen Problembewusstsein gemangelt haben. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bis heute nicht auf eine abschließende Behin- 68 derungsdefinition festgelegt. Es zog anfangs zur Auslegung § 3 SchwbG heran in der Annahme, dass diese Definition dem Begriffsverständnis des verfassungsändernden Gesetz141 BVerfGE 142, 313 – Ärztliche Zwangsbehandlung (2016); BVerfGE 149, 293 – Fixierung bei öffentlich-rechtlicher Unterbringung (2018); BVerfGE 151, 1 – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl (2019); zur Kritik Payandeh, Rechtsauffassungen von Menschenrechtsausschüssen der Vereinten Nationen in der deutschen Rechtsordnung, NVwZ 2020, S. 125 (128). 142 BT-Drs. 12/8165, S. 28 f.; zuvor BT-Drs. 12/6323, S. 12. 143 Vgl. oben Rn. 16 ff. (B.). 144 Eingehend Zinsmeister, Mehrdimensionale Diskriminierung, S. 77; Buch, Das Grundrecht der Behinderten 2001, S. 49 f.
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gebers am nächsten käme.145 § 3 SchwbG lag jedoch ein enges medizinisches Verständnis von Behinderung zu Grunde, das gesellschaftliche Ursachen ausblendete und sich daher nicht für das Antidiskriminierungsrecht eignete.146 Die Vorschrift trat 2001 außer Kraft, an ihre Stelle trat § 2 SGB IX mit einer teilhabeorientierteren Definition von Behinderung, die der Gesetzgeber zum 1.1.2018 nochmals modifizierte, um jeweils an die internationale Entwicklung, d. h. nunmehr an die UN-BRK anzuknüpfen.147 Auch das Bundesverfassungsgericht nähert sich offenkundig dem Behinderungsverständnis der UN-BRK an.148 Damit könnte sich im Mehrebenensystem ein einheitliches Behinderungskonzept etablieren.149 b) Funktionen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG 69 Seiner Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hat das Bundesverfassungsgericht von
Beginn an ein materiales Gleichheitsverständnis zugrunde gelegt: Eine Benachteiligung wegen Behinderung, erklärte das Gericht 1997 in seiner ersten Entscheidung zu Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, liege „nicht nur bei Regelungen und Maßnahmen vor, die die Situation des Behinderten wegen seiner Behinderung verschlechtern, indem ihm etwa der tatsächlich mögliche Zutritt zu öffentlichen Einrichtungen verwehrt wird oder Leistungen, die grundsätzlich jedermann zustehen, verweigert werden. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein […].“150 70 Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verbietet alle Regelungen und Maßnahmen, die die Situation von Menschen mit Behinderungen im Vergleich zu nichtbehinderten Menschen in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht verschlechtern.151 Auf das Bewusstsein der Ungleichbehandlung kommt es dabei nicht an. Der Ausschluss von Betätigungsmöglichkeiten kann 145 BVerfGE 96, 288 (301) – Sonderschulzuweisung (1997). 146 § 3 SchwbG definierte Behinderung als „Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktions-
beeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht.“
147 Die Gesetzesbegründung zu § 2 SGB IX i. d. F. v. 2001 (BT-Drs. 14/5074, S. 98) verwies auf die ICF der
WHO von 2001, die seit 2018 geltende Fassung auf das Behinderungsverständnis der UN-BRK. 148 BVerfGE 128, 282 – Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug (2011); BVerfGE 149, 293 – Fixierung bei öffentlich-rechtlicher Unterbringung (2018); BVerfGE 151, 1 (23 f. Rn. 54) – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl (2019); BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18 – Blindenführhund. 149 Zustimmend Langenfeld (Fn. 44), Art. 3 Abs. 3 Rn. 110; Baer/Markard (Fn. 63), Art. 3 Abs. 3 Rn. 535; Banafsche, Behindertenrechtskonvention, in: Deinert u. a. (Hrsg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 3. Aufl. 2022, Rn. 14 ff.; Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 196; Welti, Das Diskriminierungsverbot und die „angemessenen Vorkehrungen“ in der BRK – Stellenwert für die staatliche Verpflichtung zur Umsetzung der in der BRK geregelten Rechte, RdLH 2012, S. 1; Masuch, Die UN-Behindertenrechtskonvention anwenden!, in: FS Jäger, 2011, S. 245; Rothfritz, Die Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen – Eine Analyse unter Bezugnahme auf die deutsche und europäische Rechtsebene, 2010; ablehnend Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: November 2021, Art. 3 Abs. 3 Rn. 233; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 135–138. 150 BVerfGE 96, 288 (303) – Sonderschulzuweisung (1997). 151 Boysen (Fn. 149), Art. 3 Rn. 201; Baer/Markard (Fn. 63), Art. 3 Abs. 3 Rn. 537; Heun (Fn. 149), Art. 3 Rn. 138. Julia Zinsmeister
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eine unbeabsichtigte Nebenfolge sein.152 Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG schützt damit sowohl vor unmittelbaren als auch mittelbaren Benachteiligungen.153 Für die Annahme einer mittelbaren Benachteiligung lässt das Bundesverfassungs- 71 gericht es genügen, dass von den negativen Wirkungen einer Regelung oder Maßnahme „zum großen Teil“ bzw. „insbesondere“ oder „überproportional“ behinderte Menschen betroffen sind.154 Da behinderungsbedingte Nachteile zumeist nur bestimmte Teilgruppen beeinträchtigter Menschen treffen, wird vielfach nach Korrelationen oder Regressionen zu suchen sein,155 bzw. eine hypothetische Betrachtungsweise genügen müssen, aber auch genügen können. So brauchte es keines empirischen Belegs dafür, dass eine Regelung, die die Testierfähigkeit an die Fähigkeit zum Sprechen knüpft, typischerweise sprachbehinderte und geburtstaube Menschen von der Testierfreiheit ausschließt.156 Sacksofsky weist allerdings zutreffend auf das Risiko hin, dass sich Gerichte bei der Prüfung des „typischen“ Zusammenhangs vom bloßen Erfahrungswissen leiten lassen, das seinerseits auf stereotypen Vorstellungen von Behinderung („schwerbehinderte Arbeitnehmer*innen sind überdurchschnittlich oft krank“) beruhen kann.157 Beim Vergleich der Situation behinderter und nichtbehinderter Menschen ist auch da- 72 nach zu fragen, wie selbständig sie die relevanten Aktivitäten jeweils ausüben können.158 In seiner Blindenführhund-Entscheidung hebt das Bundesverfassungsgericht hervor, dass Menschen mit Behinderungen größtmögliche Unabhängigkeit von der Hilfe Dritter verlangen können.159 Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG schützt auch vor Diskriminierung durch Private.160 Das hat das 73 Bundesverfassungsgericht mehrfach bestätigt.161 Die Geltung des Diskriminierungsschutzes im Privatrecht ist nicht auf den Anwendungsbereich des AGG oder SGB IX Teil 3 beschränkt. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ist vielmehr generell bei der Auslegung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen und bei Interessenabwägungen zu beachten.162 152 BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18, Rn. 35 – Blindenführhund; Baer/Markard (Fn. 63), Art. 3
Abs. 3 Rn. 537.
153 In Bezug auf mittelbare Diskriminierungen eindeutig BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18,
Rn. 35 – Blindenführhund; zuvor BVerfGE 151, 1 (23 f. Rn. 55) – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl (2019); zustimmend Baer/Markard (Fn. 63), Art. 3 Abs. 3 Rn. 537; Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 311; ablehnend noch Kischel (Fn. 149), Art. 3 Rn. 235. 154 BVerfGE 99, 341 – Testierfähigkeit (1999). 155 Vgl. → Towfigh, § 18. 156 BVerfGE 99, 341 – Testierfähigkeit (1999). 157 Sacksofsky, Mittelbare Diskriminierung, 2010, S. 22, unter Bezugnahme auf die widersprüchlichen Annahmen des LAG Köln, Urt. v. 15.2.2008, 11 Sa 923/07, Rn. 60, 79, und des ArbG Würzburg, Urt. v. 6.2.2008, 9 Ca 1521/07. 158 BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18, Rn. 39, 42 – Blindenführhund. 159 BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18, Rn. 47 – Blindenführhund. 160 Grundlegend Mangold (Fn. 37), S. 196 ff. und 223 ff. 161 BVerfGE 99, 341 (356) – Testierfähigkeit (1999); BVerfG, Beschl. v. 28.3.2000, 1 BvR 1460/99, Rn. 20 – Treppenlift; BVerfG, Beschl. v. 24.3.2016, 1 BvR 2012/13 – Behindertenparkplatz. 162 BVerfG, Beschl. v. 28.3.2000, 1 BvR 1460/99 – Treppenlift; BVerfG, Beschl. v. 10.10.2014, 1 BvR 856/13 – Barrierefreie Zugänglichmachung von Prozessunterlagen; BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18 – Blindenführhund; BVerfG, Beschl. v. 24.3.2016, 1 BvR 2012/13 – Behindertenparkplatz. Julia Zinsmeister
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Bevorzugungen behinderter Menschen gegenüber nichtbehinderten Menschen sind verfassungsrechtlich zulässig,163 wenn auch nicht ohne weiteres geboten.164 Soweit Menschen mit Beeinträchtigungen generell die Lebensführung erschwert ist, dürfen diese Belastungen nicht zu ihrer gesellschaftlichen oder rechtlichen Ausgrenzung führen.165 75 Einen spezifischen Förder- und Schutzauftrag des Staates für Menschen mit Behinderungen leitete das Bundesverfassungsgericht zunächst aus dem Sozialstaatsprinzip,166 nach Inkrafttreten des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG aus dessen objektiven Grundrechtsgehalt und den Freiheitsrechten ab.167 Die ergebnisorientierten Vorgaben der UN-BRK zur sukzessiven Herstellung inklusiver Lebensverhältnisse verleihen diesem Auftrag nun eine klare Kontur.168 76 Das Bundesverfassungsgericht begrenzt den staatliche Förderauftrag bislang auf „die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe nach Maßgabe der verfügbaren finanziellen, personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten.169 Die UN-BRK macht allerdings deutlich, dass sich die Vertragsstaaten nicht mehr mit dem Argument exkulpieren können, ihnen stünden hierfür keine Mittel zur Verfügung, denn in diesem Falle fordert Art. 4 Abs. 2 UN-BRK sie auf, sich zumindest auf internationaler Ebene um finanzielle Unterstützung zu bemühen.170 74
c) Rechtfertigung von Benachteiligungen 77 Das Bundesverfassungsgericht hat die UN-BRK inzwischen mehrfach als Auslegungs-
hilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen.171 Bezogen auf die Frage, wann Unterschiede zwischen nichtbehinderten und behinderten Menschen ausnahmsweise Benachteiligungen zu rechtfertigen vermögen, zeichnen sich allerdings einzelne Konfliktlinien zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Fachausschuss der Vereinten Nationen ab, die nachfolgend noch näher beleuchtet werden.
163 Langenfeld (Fn. 44), Art. 3 Abs. 3 Rn. 116; Nußberger (Fn. 153), Art. 3 Rn. 308; Heun (Fn. 149), Art. 3
Rn. 136. BVerfGE 96, 288 (302) – Sonderschulzuweisung (1997). BVerfGE 96, 288 (302 f.) – Sonderschulzuweisung (1997) unter Verweis auf BT-Drs 12/8165, S. 28. BVerfGE 40, 121 (133) – Waisenrente (1975). BVerfGE 96, 288 (312) – Sonderschulzuweisung (1997); BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18 – Blindenführhund. 168 Beispielhaft Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie Brandenburg, Behindertenpolitisches Maßnahmenpaket der Landesregierung 2.0, 2017; Hessisches Ministerium für Soziales und Integration, UN-BRK-Leitfaden für die Normprüfung in Hessen, 2016. 169 Zuletzt BVerfGE 151, 1 (24 Rn. 56) – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl (2019); BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18, Rn. 35 – Blindenführhund. 170 Fredman weist darauf hin, dass auch Diskriminierung ihren Preis hat und es um die Umverteilung dieser Kosten geht, vgl. Fredman, Substantive equality revisited, International Journal of Constitutional Law 14 (2016), S. 712 (733 ff.). 171 Vgl. nur BVerfGE 128, 282 – Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug (2011); BVerfGE 149, 293 – Fixierung bei öffentlich-rechtlicher Unterbringung (2018); BVerfGE 151, 1 (23 f. Rn. 54) – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl (2019); BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18, Rn. 42 – Blindenführhund. 164 165 166 167
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Grundsätzlich werden Benachteiligungen wegen Behinderung in der Regel damit ge- 78 rechtfertigt, dass der Person behinderungsbedingt eine bestimmte Fähigkeit bzw. Eigenschaft fehlt, die für die Wahrnehmung eines Rechts, einer beruflichen Tätigkeit oder eines sonstigen Amts als unerlässlich gilt,172 und diese Fähigkeit oder Eigenschaft bzw. die damit einhergehenden Teilhabeeinschränkungen auch nicht durch angemessene Vorkehrungen oder spezifische Fördermaßnahmen beseitigt oder hinreichend kompensiert werden können.173 Ob eine Fähigkeit oder Eigenschaft als rechtlich unerlässlich für die Wahrnehmung 79 einer bestimmten Aufgabe, Funktion oder eines Rechts anzusehen ist, ist gegebenenfalls in Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht zu klären. Schutzwürdige Belange anderer oder der Gemeinschaft können in Ausnahmefällen auch dazu führen, dass Vorkehrungen, die drohenden Benachteiligungen vorzubeugen oder bestehende Benachteiligungen abbauen könnten, als unverhältnismäßig und unbillig einzustufen sind. In wenigen Fällen wird der Person lediglich im Wege der Typisierung anhand eines 80 Surrogatmerkmals unterstellt, sie verfüge nicht über eine relevante Fähigkeit oder Eigenschaft.174 So wurde schreib- und sprechunfähigen Personen bis Ende 1999 vom Gesetzgeber unterstellt, es mangele ihnen an der für die Testamentserrichtung erforderlichen Handlungs- und Einsichtsfähigkeit.175 Der Wahlrechtsausschluss des § 13 BWahlG a. F. beruhte auf der Annahme, dass Personen, für die ein*e rechtliche Betreuer*in in allen Angelegenheiten bestellt ist oder die wegen einer im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen Tat in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind, nicht über die Einsicht in das Wesen und die Bedeutung von Wahlen verfügen.176 Die Beispiele belegen, dass die Beurteilung des Vorliegens der relevanten Fähigkeiten vielfach nicht alleine auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten, sondern häufig noch auf stereotype Vorstellungen von einer „normalen“ menschlichen Leistungsfähigkeit gestützt wird.177 Damit geht nicht nur das Risiko einher, dass die Bedeutung bestimmter Fähigkeiten überbewertet wird, sondern auch spezifische Kompetenzen behinderter Menschen unterbewertet werden. 2004 sprach das Bundesverfassungsgericht einer blinden Person die Fähigkeit ab, als Schöff *in im Strafverfahren mitzuwirken, da sie Beweismittel und die Vorgänge in der Hauptverhandlung nicht umfassend optisch wahrnehmen könne. Dass die Rechtspsychologie dem visuell beobachtbaren Begleitverhalten der Prozessbeteiligten im Strafverfahren kaum eine 172 BVerfGE 99, 341 (353 f.) – Testierfähigkeit (1999); BVerfGE 151, 1 (21 f. Rn. 47–49) – Wahlrechtsaus-
schluss Bundestagswahl (2019); Baer/Markard (Fn. 63), Art. 3 Abs. 3 Rn. 544; Nußberger (Fn. 153), Art. 3 Rn. 314; grundlegend zur Rechtfertigung über tragfähige Unterschiede → Reimer, § 17 Rn. 35 ff. 173 BVerfGE 99, 341 – Testierfähigkeit (1999); BVerfGE 151, 1 (25 f. Rn. 58) – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl (2019); Lang/Kampmeier/Schmalenbach/Strohmeier/Mühlig, Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen, BMAS-Forschungsbericht 470 (2016), S. 193. 174 Zur Typisierung → Reimer, § 17 Rn. 84 ff. 175 BVerfGE 99, 341 – Testierfähigkeit (1999). 176 BVerfGE 151, 1 (39 ff. Rn. 90 ff.) – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl (2019); hierzu unten Rn. 91 ff. (D. I.). 177 Mangold (Fn. 37), S. 192. Zwei vom Wahlausschluss Betroffene im Interview auf Deutschlandfunk Nova, Inklusives Wahlrecht: Lisa und Patrick dürfen erstmals den Bundestag wählen v. 26.9.2021. Julia Zinsmeister
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Bedeutung zumisst,178 ließ das Bundesverfassungsgericht dabei ebenso unberücksichtigt wie die Tatsache, dass blinde Menschen im Vergleich mit Sehenden über eine durchschnittlich höhere Verarbeitungsgeschwindigkeit und Genauigkeit in der auditiven Wahrnehmung und größere Arbeitszeitgedächtniskapazitäten verfügen179 und als Richter*innen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit Aussagen im Strafverfahren genauer erfassen und in Erinnerung behalten können.180 Die Häufigkeit der in der Praxis auftretenden Konflikte um die Frage der inhaltlichen Richtigkeit eines richterlichen Vorhalts aus früheren Aussagen oder Urkunden181 zeigt, dass es im Strafverfahren und bei der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 261 StPO) weitaus häufiger auf diese Fähigkeiten als auf visuelle Eindrücke ankommt. In den mutmaßlich fehlenden Fähigkeiten kann es sich auch um rechtlich konstruier81 te Handlungsfähigkeiten,182 d. h. um die Geschäfts-, Einwilligungs- und Prozessfähigkeit oder um die Fähigkeit zur Ausübung des aktiven Wahlrechts handeln.183 82 In diesem Falle ist Art. 12 UN-BRK zu beachten, dessen Auslegung kontrovers diskutiert wird. Die Norm garantiert, wie schon zuvor Art. 16 IPbpR184, allen Menschen ihre Anerkennung als Rechtssubjekte und verpflichtet zugleich die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen Zugang zur Unterstützung zu verschaffen, die sie gegebenenfalls bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit benötigen und geeignete Sicherungsmaßnahmen zu treffen, um Missbrauch zu verhindern. Nach Auffassung des UN-Fachausschusses können mutmaßliche Einschränkungen der Einsichtsfähigkeit es aufgrund des Art. 12 UN-BRK nicht mehr rechtfertigen, Menschen ihre rechtliche Handlungsfähigkeit vorzuenthalten bzw. zu entziehen und andere Menschen zu ermächtigen, an ihrer Stelle zu entscheiden. 83 Der UN-Fachausschuss hat die Bundesrepublik Deutschland darum in seinen abschließenden Bemerkungen zum ersten Staatenbericht vom Mai 2015 aufgefordert, alle Formen der ersetzenden Entscheidung abzuschaffen und durch ein System der unterstützten Entscheidung zu ersetzen.185 Er begründet dies mit den speziellen Unrechtserfahrungen behinderter Menschen: „Legal capacity has been prejudicially denied to many groups throughout history, including women (particularly upon marriage) and ethnic minorities. However, persons with disabilities remain the group whose legal capacity is most commonly denied in legal systems worldwide. The right to equal 178 BMJV, Bericht der Expertinnen- und Expertengruppe zur Dokumentation der strafgerichtlichen
Hauptverhandlung, 2021, S. 129; Sporer/Köhnken, Nonverbale Indikatoren von Täuschung, in: Volbert/ Steller (Hrsg.), Handbuch der Psychologie, Bd. 6: Handbuch der Rechtspsychologie, 2008, S. 353. 179 Überblick über die Forschung bei Röder/Rösler, Kompensatorische Plastizität bei blinden Menschen. Was Blinde über die Adaptivität des Gehirns verraten, Zeitschrift für Neuropsychologie 2004, S. 243. 180 Röder/Rösler (Fn. 179), S. 249. 181 BMJV (Fn. 178), S. 30, 33. 182 Dogmatische Einordnung bei → Reimer, § 17 Rn. 53. 183 BVerfGE 151, 1 – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl (2019). 184 BGBl. 1973 II, S. 1553. 185 CRPD, Concluding observations on the initial report of Germany, UN Doc. CRPD/C/DEU/CO/17 (2015), Rn. 25 f. Julia Zinsmeister
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recognition before the law implies that legal capacity is a universal attribute inherent in all persons by virtue of their humanity and must be upheld for persons with disabilities on an equal basis with others. Legal capacity is indispensable for the exercise of civil, political, economic, social and cultural rights. It acquires a special significance for persons with disabilities when they have to make fundamental decisions regarding their health, education and work. The denial of legal capacity to persons with disabilities has, in many cases, led to their being deprived of many fundamental rights, including the right to vote, the right to marry and found a family, reproductive rights, parental rights, the right to give consent for intimate relationships and medical treatment, and the right to liberty.“186
Nach Ansicht des UN-Fachausschusses verlangt Art. 12 UN-BRK die Entkoppelung der 84 rechtliche Handlungsfähigkeit von bestimmten, scheinbar normalen mentalen Fähigkeiten und zwingt damit die Vertragsstaaten zu einer radikalen Auseinandersetzung mit dem Autonomieverständnis, das ihren Rechtsordnungen und den darin vorhandenen Konstruktionen der rechtlichen Handlungsfähigkeit zugrunde liegt.187 Dieses basiert in liberalen Gesellschaften noch immer auf der Idee des freien Willens und eines autarken Rechtssubjekts, deren Existenz sich freilich nicht empirisch belegen und dessen Wesen sich auch normativ nicht eindeutig bestimmen lässt. Die UN-BRK hingegen versteht Selbstbestimmung nicht als einen statischen Zustand, der besteht oder nicht,188 sondern als eine Kapazität, die Menschen grundsätzlich nur mit Hilfe fördernder und unterstützender Strukturen in unterschiedlichem Maß entwickeln und im Lebensverlauf auf wieder verlieren können.189 In welchem Maße sie die Fähigkeit entwickeln, hängt auch von ihrem Zugang zu Information, Bildung und sozialer Unterstützung ab. Fürsorge muss damit nicht mehr als Gegensatz, sondern kann als Gelingensbedingung von Autonomie verstanden werden, sofern sie nicht auf Entmündigung, sondern auf Ermöglichung einer autonomen Entscheidungsfindung gerichtet ist.190 Allerdings sind auch der unterstützten Entscheidungsfindung Grenzen gesetzt und darf 85 konstatiert werden, dass Menschen im Zustand der Bewusstlosigkeit nicht, auch nicht mit Assistenz in die Lage versetzt werden können, notwendige, gegebenenfalls auch lebensnotwendige Entscheidungen selbst zu treffen. Wenn nach Auffassung des UN-Fachausschusses zugeschriebene oder tatsächliche Einschränkungen der Fähigkeit zur freien Willensbildung es generell nicht rechtfertigen, Menschen ihre Rechtsfähigkeit und rechtliche Handlungsfähigkeit abzusprechen, stellt dies auch den Rechtsstatus der Minderjährigkeit in Frage. In den Materialien zur UN-BRK finden sich keine Hinweise darauf, dass sich der 186 CRPD, General comment No. 1 (2014), Article 12: Equal recognition before the law, UN Doc.
CRPD/C/GC/1, Rn. 8.
187 Degener, Unterstützte gleiche Freiheit, in: Baer/Sacksofsky (Hrsg.), Autonomie im Recht – Geschlech-
tertheoretisch vermessen, 2018, S. 61 f. 188 Kritisch hierzu unter anderem auch Feinberg, Autonomy, in: Christman (Hrsg.), The Inner Citadel. Essays on Individual Autonomy, 1989, S. 27. 189 Bielefeldt, Inklusion als Menschenrechtsprinzip, 2012, S. 149, 155. 190 Graumann, Assistierte Freiheit. Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte, 2011; Damm, Assistierte Selbstbestimmung als normatives und empirisches Problem des Rechts – am Beispiel von Einwilligungs- und Entscheidungsfähigkeit, Zeitschrift für Rechtssoziologie 2017, S. 337. Julia Zinsmeister
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Ad-Hoc-Ausschuss der Vereinten Nationen mit diesem näher befasst hat.191 So dringlich es erscheint, den Rechtsstatus von Kindern und Jugendlichen zu stärken und das Instrument der unterstützten Entscheidungsfindung auch zum Abbau ihrer altersbedingten Diskriminierungen zu nutzen,192 so gilt doch auch hier, dass junge Menschen in ihren ersten Lebensjahren notwendig auf ersetzende Entscheidungen angewiesen bleiben. Hierzu hat sich der UN-Fachausschuss bisher nicht positioniert. Art. 12 UN-BRK kann aber als Verpflichtung der Vertragsstaaten verstanden werden, ihre paternalistische Rechtsfürsorge für Menschen mit Behinderung auf ein absolutes Mindestmaß – entsprechend jenem, dass für nichtbehinderten Menschen gilt – zu beschränken.193 86 Nach Ansicht des UN-Fachausschusses lassen sich Einschränkungen der rechtlichen Handlungsfähigkeit behinderter Menschen selbst dann nicht rechtfertigen, wenn sie eine akute Fremd- oder Selbstgefährdung abwenden soll, die die Betroffenen aufgrund ihrer kognitiven/mentalen Einschränkungen mutmaßlich nicht erkennen oder nicht bewältigen können. Er lehnt daher (auch) aus diesem Grunde Zwangsbehandlungen, geschlossene Unterbringungen und sonstige freiheitsentziehende Maßnahmen als Schutzmaßnahmen ab.194 Diese widersprechen nach Auffassung des UN-Fachausschusses nicht nur Art. 12, sondern auch der in Art. 3 lit. a UN-BRK garantierten Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Freiheit, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen. Sie schränken seine Unabhängigkeit und deren Schutz durch Art. 14 UN-BRK ein und verstoßen nach Ansicht des UN-Fachausschusses gegen das Folterverbot (Art. 15 UN-BRK).195 Der UN-Fachausschuss hat der Bundesrepublik empfohlen, alle notwendigen gesetzgeberischen, administrativen und gerichtlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Zwangsmaßnahmen zu verbieten und mit den Art. 14, 19 und 22 UN-BRK übereinstimmende alternative Maßnahmen zu fördern. Praktiken, die als Folterhandlungen angesehen werden können, müssten überprüft und abgeschafft, die Anwendung körperlicher und chemischer freiheitseinschränkender Maßnahmen in der Altenpflege und in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen verboten sowie Schadensersatzleistungen für die Opfer dieser Praktiken erwogen werden.196 Auch der Sonderberichterstatter über Folter, die UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen und der Hohe Kommissar für Menschenrechte haben sich für ein ausnahmsloses Verbot aus191 Aichele/Degener, Frei und gleich im rechtlichen Handeln, in: Aichele (Hrsg.), Das Menschenrecht auf
gleiche Anerkennung vor dem Recht, 2013, S. 37 (55).
192 Sandland, A Clash of Conventions?, Social Inclusion 5 (2017), S. 93 (103). 193 So auch Degener (Fn. 187), S. 61, 65. 194 CRPD, General comment No. 1 (2014), Article 12: Equal recognition before the law, UN Doc.
CRPD/C/GC/1; Degener (Fn. 187), S. 61, 64.
195 Beckmann weist zutreffend darauf hin, dass die Maßnahmen auch unter Art. 16 UN-BRK (Gewalt-
schutz) fallen können, vgl. Beckmann, Fixierungen: Menschenrechte in der psychiatrischen Versorgung, KJ 2018, S. 495 (500); die Patient*innensicht auf Zwangsmaßnahmen beleuchten Armgart/Schaub/ Hoffmann/Emons/Jendreyschak/Schramm/Richter/Haußleiter, Negative Emotionen und Verständnis – Zwangsmaßnahmen aus Patientensicht, Psychiatrische Praxis 2013, S. 278 (284). 196 CRPD, Concluding observations on the initial report of Germany, Doc. CRPD/C/DEU/CO/17 (2015), Rn. 30, 34. Julia Zinsmeister
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gesprochen197 und dies damit begründet, dass sich Krisen und die damit einhergehende Selbst- und Gefährdungen auch durch den Ausbau und die Umgestaltung der psychosozialen Hilfen verhindern lassen.198 Der UN-Ausschuss gegen Folter (CAT), der UN-Unterausschuss zur Verhütung von 87 Folter (SPT), das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) und der EGMR halten hingegen zumindest Fixierungen zur Abwendung akuter Gefahren für zulässig.199 Auch das Bundesverfassungsgericht hält bislang noch am Konzept des paternalisti- 88 schen Zwangs fest. Die grundrechtlich geschützte Freiheit schließe zwar die „Freiheit zur Krankheit“ und damit das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind.200 Die Abwägung des eingeschränkten Grundrechts mit denjenigen grundrechtlichen Belangen, die durch den Eingriff in dieses Recht gewahrt werden sollen, könne jedoch nicht vollkommen losgelöst von den tatsächlichen Möglichkeiten der Betroffenen zu freier Willensentschließung erfolgen: Der Staat habe zwar die krankheitsbedingte Willensäußerung grundsätzlich vorrangig zu beachten, dürfe aber – nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – in diejenigen Grundrechte eingreifen, die die Person allein krankheitsbedingt übergewichtet: „Zur Rechtfertigung des Eingriffs kann aber das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) geeignet sein, sofern der Untergebrachte zur Wahrnehmung dieses Interesses infolge krankheitsbedingter Einsichtsunfähigkeit nicht in der Lage ist.“201 Schließe eine Person hingegen im Vorfeld noch im Zustand der Einsichtsfähigkeit ihre Zwangsbehandlung durch eine Patientenverfügung wirksam aus, sei dieser Wille bindend.202 Ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz alleine einen ausreichenden Schutz bietet, wird 89 nachfolgend mit Blick auf die in Deutschland geltende Rechtslage nochmals eingehender thematisiert. 197 Zu missbräuchlichen Praktiken im Gesundheitswesen Méndez, Report of the Special Rapporteur
on torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment v. 1.2.2013, UN Doc. A/ HRC/22/53, Rn. 63; UN High Commissoner for Human Rights, Mental health and human rights, Annual Report v. 31.1.2017, UN Doc. A/HRC/34/32, Rn. 17, 23, 25–33; UN Generalversammlung, Report of the Working Group on Arbitrary Detention v. 6.7.2015, UN Doc. A/HRC/30/37, Rn. 38–41, 103–107. 198 UN High Commissoner for Human Rights, Mental health and human rights, Annual Report v. 31.1.2017, UN Doc. A/HRC/34/32, Rn. 45, 51 ff. 199 CAT, Concluding observations on the seventh periodic report of France v. 10.6.2016, UN Doc. CAT/C/FRA/CO/7, Rn. 29–30 und CAT, Approach of the Subcommittee on Prevention of Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment regarding the rights of persons institutionalized and treated medically without informed consent v. 26.1.2016, UN Doc. CAT/OP/27/2, Rn. 5–11; Europarat, Means of restraint in psychiatric establishments for adults, Revised CPT standards, 2017, CPT/ Inf (2017); EGMR, Urt. v. 18.10.2012, Beschwerde-Nr. 37679/08, Bureš v. Tschechische Republik, Rn. 86; EGMR, Urt. v. 19.2.2015, Beschwerde-Nr. 75450/12, M. S. v. Kroatien, Rn. 97. 200 BVerfGE 58, 208 – Unterbringung eines Geisteskranken (1981); BVerfGE 128, 282 (304 f. m. w. N.) – Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug (2011). 201 BVerfGE 128, 282 (304) – Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug (2011). 202 BVerfG, Beschl. v. 8.6.2021, 2 BvR 1866/17, 2 BvR 1314/18, Rn. 74 f. – Keine Zwangsbehandlung bei entgegenstehender Patientenverfügung. Julia Zinsmeister
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Die UN-BRK verlieh der Entwicklung des Antidiskriminierungsrechts in Deutschland erheblichen Schub.203 2011 legte die Bundesregierung einen ersten Nationalen Aktionsplan vor, dem mehrere Landesaktionspläne folgten.204 2016 wurde der erste Nationale Aktionsplan fortgeschrieben (NAP 2.0). Zu den vorgesehenen und inzwischen umgesetzten Maßnahmen gehörten auch die nachfolgenden, meist durch Sekundärrecht der EU angestoßenen Gesetzesänderungen, die hier für vier Bereiche vorgestellt werden: Gleiche Anerkennung vor dem Recht (I.), gesellschaftliche Teilhabe und alltägliche Lebensgestaltung (II.), Schutz vor körperlichen Übergriffen (III.) und Bildung (IV.). I. Gleiche Anerkennung vor dem Recht 1. Politische Partizipation
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Mit dem Abbau der sprachlichen Barrieren und einer gemeindenahen Versorgung in selbstgewählten Wohnformen erhalten Menschen mit Lernschwierigkeiten zunehmend einen verbesserten Zugang zu allgemeinen und behördlichen Informationen und damit unter anderem auch zu politischer Bildung. Bis 2019 blieben jedoch aufgrund ihrer vermeintlichen Unfähigkeit zur politischen Willensbildung 0,83 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung von Wahlen zum Deutschen Bundestag und der Europawahl ausgeschlossen. Die von Betroffenen hiergegen beim Bundesverfassungsgericht eingelegte Wahlprüfungsbeschwerde hatte – zumindest im Ergebnis – Erfolg: Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Wahlrechtsausschlüsse wegen des Verstoßes gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) und das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) für verfassungswidrig und ebnete damit rund 85.000 Wahlberechtigten den Weg zur Wahlurne.205 Das Gericht begründete dies damit, dass der Gesetzgeber den Wahlausschluss im BWahlG an ungeeignete Surrogatmerkmale („rechtliche Betreuung in allen Angelegenheiten“ und „strafrechtliche Unterbringung“) geknüpft hatte. Es stellte die Möglichkeit, Menschen, die als nicht bzw. eingeschränkt einsichts- und entscheidungsfähig gelten, das aktive Wahlrecht vorzuenthalten, aber (noch) nicht grundsätzlich in Frage.206
203 Vgl. auch die Übersicht von Welti, Die UN-BRK und ihre Umsetzung in Deutschland, in: Ganner
u. a. (Hrsg.), Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich und Deutschland, 2021, S. 27–56; DIMR, Wer Inklusion will, sucht Wege, 2019; Aichele, Germany, in: Waddington/Lawson (Hrsg.), The UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities in Practice, 2018, S. 153–185. 204 Übersicht in DIMR, Zukunftspotenzial entfalten – Die Aktionspläne der Länder zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, 2020. 205 BVerfGE 151, 1 – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl (2019). 206 BVerfGE 151, 1 (19 f. Rn. 45) – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl (2019), kritisch Brosey, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Ausschlüssen vom Wahlrecht, djbZ 2019, S. 68. Julia Zinsmeister
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2. Rechtliche Betreuung
Mit dem Gesetz zur Reform des Betreuungs- und Vormundschaftsgesetz von 2021207 er- 92 klärte der Bundesgesetzgeber die Unterstützung der Entscheidungsfindung beginnend ab 1.1.2023 explizit zum zentralen Handlungskonzept rechtlicher Betreuung, ohne sich in der vom UN-Fachausschuss geforderten Radikalität von dem Konzept der paternalistischen Rechtsfürsorge zu lösen. Ersetzende Entscheidungen der rechtlichen Betreuer*innen bleiben ultima ratio möglich. Dies steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das ersetzende Entscheidungen zum Schutz besonders vulnerabler Personen weiterhin für unausweichlich hält. Es spreche „auch unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Ausschusses nichts dafür, dass diese Menschen nach Text und Geist der Behindertenrechtskonvention ihrem Schicksal überlassen werden sollten.“208 Das Gericht verlangt, nicht nur den freien, sondern auch den „natürlichen“ Willen als Ausdruck des durch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit geschützten Selbstbestimmungsrechts zu werten,209 weshalb jeder Eingriff einer Rechtsgrundlage und Rechtfertigung bedarf.210 Da Art. 12 Abs. 4 UN-BRK verlangt, dass das Wohl nicht „objektiv“, sondern anhand 93 des Willens und der Präferenzen der Betreuten zu ermitteln ist,211 müssen sich Betreuer*innen künftig gem. § 1821 Abs. 1 BGB-E aber bei ersetzenden Entscheidungen vorrangig an den Wünschen der Betreuten oder, wenn diese nicht ermittelt werden können, an ihrem mutmaßlichen Willen orientieren.212 3. Zwangsbehandlungen und freiheitsentziehende Maßnahmen
Menschen, die als nicht hinreichend einsichtsfähig eingestuft werden, können in Deutsch- 94 land zu ihrem Schutz vor erheblicher Selbstgefährdung unter bestimmten Voraussetzungen ohne oder gegen ihren Willen in psychiatrischen Kliniken und stationären Betreuungseinrichtungen geschlossen untergebracht und/oder durch Bettgitter, Gurte oder sedierende Medikamente fixiert oder zeitweise in sogenannten „Time-Out-Räumen“ isoliert werden (vgl. nur §§ 1906, 1906a Abs. 4 BGB). Minderjährige können von den Sorgeberechtigten mit gerichtlicher Genehmigung nicht nur zum Schutz vor erheblicher Selbstgefährdung, sondern auch zur Verhinderung erheblicher Fremdgefährdung sowie gem. § 1631b BGB auch aus anderen, gesetzlich nicht näher spezifizierten Gründen („solange sie zum Wohl des Kindes erforderlich ist“) geschlossen in einer Einrichtung untergebracht, isoliert und/ oder fixiert werden. 207 Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts v. 4.5.2021, BGBl. 2021 I, S. 882. 208 BVerfGE 142, 313 (347 f.) – Medizinische Zwangsbehandlung (2016); zustimmend Deutscher Ethikrat,
Hilfe durch Zwang? Professionelle Sorgebeziehungen im Spannungsfeld von Wohl und Selbstbestimmung, 2018. 209 BVerfGE 142, 313 (340) – Medizinische Zwangsbehandlung (2016). 210 BVerfGE 151, 1 (19 Rn. 43) – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl (2019). 211 Hierzu CRPD, General comment No. 1 (2014), Article 12: Equal recognition before the law, UN Doc. CRPD/C/GC/1. 212 Vgl. aber auch die Grenzen: § 1821 Abs. 3 BGB-E. Julia Zinsmeister
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Die Gesetze der Länder zu den Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke sehen darüber hinaus für alle Altersgruppen die öffentliche Unterbringung und weitere Zwangsanwendung zum Schutz vor erheblicher Selbst- bzw. Fremdgefährdung vor. 96 2016 forderte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber auf, die gesetzlichen Eingriffsbefugnisse so auszuweiten, dass auch Menschen, die nicht in Einrichtungen untergebracht sind, zur Abwendung schwerwiegender gesundheitlicher Beeinträchtigungen zwangsbehandelt werden können.213 Das Betreuungsrecht wurde darum 2017 um § 1906a BGB erweitert.214 Zugleich will das Bundesverfassungsgericht den Schutz der Betroffenen vor Machtmissbrauch und unverhältnismäßigen Belastungen stärken. Es veranlasste die Gesetzgeber auf Bund- und Länderebene, die Eingriffsschwelle für Zwangsmaßnahmen zu konkretisieren und formulierte Mindeststandards für die Aufklärung der Betroffenen und die Überwachung, Dokumentation und Überprüfung der Eingriffe. Es müsse verhindert werden, dass Menschen aus Gründen der Betriebsroutine oder des Personalmangels zwangsbehandelt werden.215 97 Eine wachsende Anzahl von psychiatrieerfahrenen Personen und Fachleuten bezweifelt jedoch, dass diese Maßnahmen geeignet sind, Zwangsmaßnahmen wirksam einzudämmen.216 Aichele warnt vor der „Ultima-ratio-Falle“: „Ein System, das keine Alternativen hat oder diese nicht wirklich nutzt, glaubt sich letzten Endes immer befugt, auf Zwangsmittel zurückzugreifen […], ein fantasieloses und unwilliges System ist rechtlich immer aus dem Schneider, weil es sich darauf berufen kann, Zwang als letzte Möglichkeit des Handelns angewendet zu haben.“217 Zu fragen sei beispielsweise, warum 95 Prozent der Kliniken weiterhin geschlossene Stationen unterhielten, obwohl fünf Prozent der deutschen Kliniken im Bereich der Pflichtversorgung demonstrierten, dass man auch schwierigste Patient*innen bei offenen Türen behandeln kann.218 98 Um Zwang und Gewalt in der Psychiatrie und in Einrichtungen der Eingliederungshilfe zu verhindern, bedarf es zahlreicher struktureller Änderungen,219 z. B. des Ausbaus der multiprofessionellen, gemeindenahen Versorgung,220 der flächendeckende Einrichtung von 24/7-Krisendiensten, Unterstützungsangeboten durch Peers,221 einer stärkeren 95
213 BVerfGE 142, 313 – Medizinische Zwangsbehandlung (2016). 214 BGBl. 2017 I, S. 2426. 215 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.6.2021, 2 BvR 1866/17, 2 BvR 1314/18 – Keine Zwangsbehandlung bei ent-
gegenstehender Patientenverfügung; BVerfGE 149, 293 – Fixierung bei öffentlich-rechtlicher Unterbringung (2018); BVerfGE 142, 313 – Medizinische Zwangsbehandlung (2016); BVerfGE 128, 282 – Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug (2011). 216 Zinkler/Laupichler/Osterfeld (Hrsg.), Prävention von Zwangsmaßnahmen, Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie, 2016; Marschner, Krisenintervention und Recht, Recht und Psychiatrie 2021, S. 69; Zinkler/v. Peter, Ohne Zwang – Konzept für eine ausschließlich unterstützende Psychiatrie, Recht und Psychiatrie 2019, S. 203. 217 Aichele, Menschenrechte und Psychiatrie, in: Zinkler/Laupichler/Osterfeld (Hrsg.), Prävention von Zwangsmaßnahmen, Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie, 2016, S. 34. 218 Aichele (Fn. 217), S. 34. 219 Beckmann (Fn. 195). 220 Weinmann/Bechdolf/Greve (Hrsg.), Psychiatrische Krisenintervention zu Hause, 2021. 221 Bock, Pe(e)rspektiven und historische Einordnung, Sozialpsychiatrische Informationen 2021, S. 6. Julia Zinsmeister
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Personenzentrierung der Hilfen,222 eines inklusiven Psychiatrieverständnisses und der Behandlung auf Augenhöhe (Trialog“).223 Die Strukturveränderungen erfordern auch gesundheits- und sozialrechtliche Reformen,224 das gilt insbesondere für den Vorschlag, die psychosozialen und medizinischen Hilfen strikt von ordnungsrechtlichen Maßnahmen der Gefahrenabwehr zu treffen, um für die Betroffenen die Hemmschwelle der Inanspruchnahme psychiatrischer Hilfe zu senken und dadurch Krisen und Zwangsmaßnahmen frühzeitig vorzubeugen.225 II. Alltägliche Lebensgestaltung und gesellschaftliche Teilhabe 1. Barrierefreiheit und angemessene Vorkehrungen
Das BGG von 2001 wurde evaluiert226 und durch das Gesetz zur Weiterentwicklung 99 des Behindertengleichstellungsrechts vom 19.7.2016227 in wichtigen Punkten novelliert. Es wurde insbesondere die Behinderungsdefinition an die UN-BRK angeglichen, eine Bundesfachstelle für Barrierefreiheit eingerichtet und ein niedrigschwelliges Schlichtungsverfahren zur Klärung streitiger Pflichten der öffentlichen Träger zur Herstellung von Barrierefreiheit eingeführt.228 Der Bundesverwaltung wurde in einer „Soll“-Vorschrift auferlegt, Verwaltungsakte, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke erforderlichenfalls in Leichter Sprache zu erläutern.229 „Leichte Sprache“ bildet für Menschen mit Lernschwierigkeiten die Mindestvoraussetzung für eine selbstbestimmte und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe. Menschen mit Lernschwierigkeiten und ihre Unterstützer*innen230 haben hierfür Regelkataloge und Empfehlungen entwickelt, die inzwischen wissenschaftlich überprüft, bestätigt und ergänzt wurden231 222 Heumann/Bock/Lincoln, Bitte macht (irgend)was! Eine bundesweite Online-Befragung Psychiatrie-
erfahrener zum Einsatz milderer Maßnahmen zur Vermeidung von Zwangsmaßnahmen, Psychiatrische Praxis 2015, S. 85 (88). 223 Gutmann, Humane Psychiatrie – psychosoziale Versorgung zwischen Anspruch und Wirklichkeit 2019. 224 Marschner, Krisenintervention und Recht, Recht und Psychiatrie 2021, S. 69. 225 Zinkler/Laupichler/Osterfeld (Fn. 216); Zinkler/v. Peter (Fn. 216); Kammeier, Psychiatrische Versorgung ohne Sicherungsauftrag und Zwang? Eine Skizze dann notwendiger Strukturänderungen, Recht und Psychiatrie 2019, S. 210; kritisch Gahr/Spitzer, Probleme einer psychiatrischen Versorgung ohne Zwang: Krankenhaus oder Gefängnis? Recht und Psychiatrie 2020, S. 135. 226 Welti/Groskreutz/Hlava/Rambausek/Ramm/Wenckebach, Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, 2014. 227 BGBl. 2016 I, S. 1757, zur Begründung BT-Drs.18/7824 und BT-Drs.18/8428. 228 Schlichtungsstelle nach dem Behindertengleichstellungsgesetz bei dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jahresbericht 2020. 229 § 11 BGG findet in der jeweils geltenden Fassung gem. § 19 Abs. 1 a SGB X auch auf alle Sozialverwaltungsverfahren sowie gem. § 17 Abs. 2 a SGB I bei der Ausführung von Sozialleistungen entsprechend Anwendung, wie zum Beispiel bei medizinischen Beratungen und Behandlungen, in der Psychotherapie oder bei Arbeitsfördermaßnahmen. 230 Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e. V. (Fn. 38). 231 Eingehend Zinsmeister, Leichte Sprache, in: Deinert u. a. (Hrsg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 3. Aufl. 2022. Julia Zinsmeister
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und bis 2021 in einer „Empfehlungen für Deutsche Leichte Sprache“ vereinheitlicht werden sollen.232 Seit Juni 2021 müssen aufgrund der Richtlinie (EU) 2016/2102233 alle Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen von Bund, Ländern und Kommunen barrierefrei zugänglich und nutzbar sein (§ 2a Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 2 Satz 3 BITV 2.0). Diese Maßgaben dienen der Umsetzung von Art. 9, 21 und 27 UN-BRK. Zur Sicherstellung der größtmöglichen unabhängigen persönlichen Mobilität ihrer behinderten Kund*innen (Art. 20 UN-BRK) wurden Beförderungsunternehmen im Jahr 2013 durch Einfügung des Absatzes 3 in § 8 Personenbeförderungsgesetz zur Herstellung vollständiger Barrierefreiheit bis zum 1.1.2022 verpflichtet. Großzügige Ausnahmeregelungen im Gesetz lassen jedoch erwarten, dass die Unternehmen diese Zielvorgabe nicht annähernd erreichen werden.234 Auch im Fernverkehr kämpfen Behindertenverbände seit Jahrzehnten für mehr Barrierefreiheit.235 Die in § 2 Abs. 3 Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) entsprechende Pflicht der Betreiber*innen sieht keine zeitlichen Vorgaben vor, die Europäische Union hat bislang nur die Anforderungen an die Barrierefreiheit neugeschaffener Infrastrukturen und Fahrzeuge, nicht aber die Anforderungen an eine entsprechende Modernisierung des Bestands spezifiziert.236 Fahrkartenautomaten und elektronische Fahrplanauskünfte müssen zukünftig barrierefrei nutzbar sein – so verlangt es das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG),237 das der Bundestag 2021 zur Umsetzung des sogenannten European Accessibility Act, der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.4.2019 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen,238 verabschiedet hat. Die Richtlinie formuliert europaweit einheitliche Anforderungen an die Barrierefreiheit von Bank- und Selbstbedienungsterminals, digitalen Endgeräten zur interaktiven Nutzung und eBooks sowie digitaler Dienstleistungen wie z. B. elektronischer Ticketdienste. Das BFSG verpflichtet die Anbieter*innen, Produkte und Dienstleistungen ab Mitte 2025 grundsätzlich barrierefrei anzubieten und alte, noch nicht barrierefreie Geräte spätestens 15 Jahre nach ihrer Ingebrauchnahme vom Markt zu nehmen. Auch dieses Gesetz sieht allerdings zahlreiche Ausnahmen vor. 232 BT-Drs. 19/24980, S.1. 233 Richtlinie (EU) 2016/2102 des Europäischen Parlaments und des Rates über den barrierefreien Zu-
gang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen v. 26.10.2016, ABl. 2016 L 327/1.
234 Deutscher Bahnkundenverband e. V., Auswertung zur Barrierefreiheit im ÖPNV, 2021; DIMR, Men-
schen mit Behinderungen in Nordrhein-Westfalen, 2019, S. 30; DIMR (Fn. 203), S. 30.
235 Vgl. nur BVerwG, Urt. v. 5.4.2006, 9 C 1/05; Tolmein, EU-Fahrgastrechte und die Beförderungssituati-
on von Menschen mit Behinderungen im deutschen Bahnverkehr, 2019.
236 Vgl. nur VO (EU) 1300/2014 der Kommission über die technischen Spezifikationen für die Interope-
rabilität bezüglich der Zugänglichkeit des Eisenbahnsystems der Union für Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität v. 18.11.2014, ABl. 2014 L 356/110; eingehender Tolmein (Fn. 235); Fuerst/Schaumberg, Öffentlicher Personenverkehr, in: Deinert u. a. (Hrsg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 3. Aufl. 2022. 237 BGBl. 2021 I, S. 2970. 238 ABl. 2019 L 151/70. Julia Zinsmeister
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Mit der Novelle von 2016 fand endlich auch das Konzept der angemessenen Vorkeh- 104 rungen Eingang in das BGG.239 Landesrechtlich wird es bisher nur zögerlich umgesetzt.240 Es verleiht den vom Bundesverfassungsgericht bislang nur einzelfallbezogen formulierten Handlungspflichten des Staates und Privater klarere Konturen.241 Die Pflicht zur Vornahme angemessenen Vorkehrungen unterscheidet sich von der 105 Pflicht zur Barrierefreiheit dadurch, dass sie keine gruppenbezogene, sondern eine individuumsbezogene Pflicht darstellt.242 Mangold und Degener charakterisieren die angemessenen Vorkehrungen als eigenständige Rechtsfigur, die sich aus dem Verbot der mittelbaren Diskriminierung heraus entwickelt hat. Sie ordnen sie dem reaktiven Antidiskriminierungsrecht zu, da sie auf die Beseitigung bestehender Nachteile gerichtet sind.243 Hierfür spricht, dass die Verweigerung angemessener Vorkehrungen als Diskriminierung einzustufen ist und die Entscheidung, welche Vorkehrungen zu treffen sind, damit nicht mehr in der Gestaltungsmacht der Verantwortlichen liegt.244 Als angemessene Vorkehrungen kommen Planänderungen in Betracht, um bestimmte Barrieren gar nicht erst entstehen zu lassen, die Beseitigung bestehender Barrieren entsprechend den individuellen Bedürfnissen einer Person sowie Maßnahmen zur Kompensation bestehender Einschränkungen. Beispiele für diese drei Fallgruppen finden sich bereits in der Rechtsprechung, wenngleich sie noch nicht angemessene Vorkehrungen bezeichnet werden. So verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass die Kriterien für die Beförderung von Beamt*innen so angepasst werden, dass sie schwerbehinderte Bewerber*innen nicht benachteiligen245 und Prozessunterlagen (zumindest in komplexen Verfahren) an die individuellen Fähigkeiten der behinderten Prozessbeteiligten angepasst werden (Brailleschrift).246 Zu den Kompensationsmaßnahmen zählen z. B. die Einrichtung exklusiver Parkplätze für mobilitätsbeeinträchtigte Menschen,247 oder die Gewährung von Nachteilsausgleichen bei Prüfungen.248 Degener weist zutreffend darauf hin, dass das Recht auf angemessene Vorkehrungen nicht als Anspruch auf Sozialleistungen missverstanden werden darf, da ihre Durchführung nicht in das Gestaltungsermessen des Staates gestellt ist.249
239 Eingehender hierzu → Degener, § 15. 240 Sachsen-Anhalt: BGG LSA v. 16.12.2010, GVBl. LSA, S. 584; Nordrhein-Westfalen: BGG NRW neu
gefasst durch Gesetz v. 14.6.2016, GV. NRW, S. 442. 241 Hierzu eingehend CRPD, General comment No. 2 (2014), Article 9: Accessibility, UN Doc. CRPD/C/ GC/2; CRPD, General comment No. 6 (2018) on equality and non-discrimination, UN Doc. CRPD/C/ GC/6; Eichenhofer (Fn. 116). 242 → Degener, § 15. 243 Mangold (Fn. 37), S. 275 ff.; → Degener, § 15, aber unter Hinweis auf die Verschränkung zwischen Benachteiligungsverbot und Fördergebot: Langenfeld (Fn. 44), Art. 3 Abs. 3 Rn. 125. 244 Zur Unterscheidung grundlegend Mangold (Fn. 37), S. 230 ff. 245 BVerfG, Beschl. v. 10. 12. 2008, 2 BvR 2571/07 – Beförderung Schwerbehinderter im Polizeidienst. 246 BVerfG, Beschl. v. 10.10.2014, 1 BvR 856/13 – Barrierefreie Zugänglichmachung von Prozessunterlagen. 247 BVerfG, Beschl. v. 24.3.2016, 1 BvR 2012/13 – Behindertenparkplatz; Heun hingegen stuft die Kompensation als Rechtfertigungsgrund ein, vgl. Heun (Fn. 149), Art. 3 Abs. 3 Rn. 138. 248 BVerwG, Urt. v. 29.7.2015, 6 C 35/14. 249 → Degener, § 15; im Ansatz auch Langenfeld (Fn. 44), Art. 3 Abs. 3 Rn. 125. Julia Zinsmeister
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2. Beseitigung der Diskriminierung durch Private
Schon die Tragweite, die der European Accessibility Act und seine Umsetzung in Deutschland für Menschen mit Behinderungen hat, macht deutlich, dass die Vertragsstaaten der UN-BRK den Anspruch behinderter Menschen auf Diskriminierungsfreiheit nur zusammen mit der Zivilgesellschaft verwirklichen können. Das BGG sah hierfür die Möglichkeit der Privatwirtschaft vor, sich in Zielverein107 barungen mit den Behindertenverbänden selbst zur Herstellung von Barrierefreiheit zu verpflichten. Nachdem Unternehmen und Wirtschaftsverbände in den letzten zwei Jahrzehnten von dieser Möglichkeit kaum Gebrauch gemacht haben,250 fordern die Interessenvertretungen behinderter Menschen und Behindertenverbände schon seit langem von der Politik, private Anbieter gesetzlich zur barrierefreien Gestaltung ihre Produkte, Dienstleistungen, Gebäude und Anlagen zu verpflichten. Diesen Forderungen wird nun zunehmend völker- und europarechtlich Nachdruck verliehen. Eine wichtige Grundlage bildet neben dem European Accessibility Act z. B. der 2013 im Rahmen der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) entwickelte Marrakesch-Vertrag und die hierzu erlassene Verordnung (EU) 2017/1563251 und Richtlinie (EU) 2017/1564252, die Ausnahmen im Urheberrecht zugunsten blinder, seh- und lesebehinderter Menschen vorsehen mit dem Ziel, ihnen einen barrierefreien Zugang zu Literatur und anderen Sprachwerken zu sichern. In Deutschland wurde hierzu 2019 im Urhebergesetz (UrhG) das Recht seh- und lesebehinderter Menschen verankert, urheberrechtlich geschützte Werke zum Zwecke ihrer barrierefreien Umwandlung gegen Zahlung einer angemessenen Vergütung zu vervielfältigen oder vervielfältigen zu lassen.253 Damit ist eine weitere Hürde genommen, wenn gleich behinderte Menschen mit den Kosten der aufwändigen Übertragung der Werke in eine für sie wahrnehmbare Form belastet bleiben. 108 Die neue Regierung von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP hat sich im Dezember 2021 in ihrem Koalitionsvertrag darauf geeinigt, private Anbieter*innen von Gütern und Dienstleistungen innerhalb einer angemessenen Übergangsfrist explizit zum Abbau von Barrieren oder, sofern dies nicht möglich oder zumutbar ist, zum Ergreifen angemessener Vorkehrungen zu verpflichten.254 106
250 Vgl.
das Zielvereinbarungsregister: https://www.bmas.de/DE/Themen/Teilhabe-Inklusion/ Zielvereinbarungen/Zielvereinbarungsregister/zielvereinbarungsregister.html. 251 Verordnung (EU) 2017/1563 des Europäischen Parlaments und des Rates über den grenzüberschreitenden Austausch von Vervielfältigungsstücken bestimmter urheberrechtlich oder durch verwandte Schutzrechte geschützter Werke und sonstiger Schutzgegenstände in einem barrierefreien Format zwischen der Union und Drittländern zugunsten blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen v. 13.9.2017, ABl. 2017 L 242/1. 252 Richtlinie (EU) 2017/1564 des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte zulässige Formen der Nutzung bestimmter urheberrechtlich oder durch verwandte Schutzrechte geschützter Werke und sonstiger Schutzgegenstände zugunsten blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen und zur Änderung der Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft v. 13.9.2017, ABl. 2017 L 242/6. 253 BGBl. 2018 I, S. 2014. 254 SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP, Koalitionsvertrag 2021–2025, S. 78. Julia Zinsmeister
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3. Wohnungsbau
Großer gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht noch in Bezug auf den Abbau beste- 109 hender Barrieren in Bestandsbauten und bei der Herstellung barrierefreier Neubauten. Die Landesbauordnungen verpflichten Bauherr*innen bislang nur, einen Bruchteil der Wohnungen barrierefrei zu errichten.255 Zwar steigt die Zahl an barrierefreien und -armen Neubauwohnungen, der vorhandene Bestand kann den aus demografischen Gründen stetig wachsenden Bedarf an barrierearmen oder -freien Wohnraum jedoch seit langen nicht mehr decken. 2018 hatten 85 Prozent aller Haushalte, in denen Personen im Alter ab 65 Jahren wohnten, keinen stufenlosen Zugang zur Wohnung, nur ca. zwei Prozent der Wohnungen konnten als barrierearm eingestuft, d. h. von mobilitätsbeeinträchtigten Personen mit Gehhilfen oder Rollstuhl weitgehend selbständig genutzt werden.256 4. Unabhängige Lebensführung
Art. 19 UN-BRK soll sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen mit gleichen Wahl- 110 möglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft leben können, sie insbesondere ihren Aufenthaltsort frei wählen und selbst entscheiden können, wo und mit wem sie leben. Es wird hervorgehoben, dass sie nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen (z. B. betreuten Wohngruppen und Heimen) zu leben. Eine Reihe von Studien belegen, dass besondere Wohnformen mit erheblichen Einschränkungen der Privatsphäre und Entscheidungsspielräume der Bewohner*innen im Alltag einhergehen und soziale Isolation eher fördern, als ihr entgegenzuwirken.257 Um Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf im Alltag ein Leben außerhalb be- 111 sonderer Wohnformen zu ermöglichen, haben die Vertragsstaaten behinderten Menschen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu eröffnen, „einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist.“ Die gem. Art. 19 UN-BRK zu gewährende Persönliche Assistenz bezeichnet ein von der 112 Selbstbestimmt-Leben-Bewegung entwickeltes und seit den 1980er Jahren in Deutschland praktiziertes Unterstützungsmodell, das behinderten Menschen mit Unterstützungsbedarf ein Höchstmaß an Kontrolle über ihr eigenes Leben sichert. Die Persönliche Assistenz unterscheidet sich von besonderen Wohnformen dadurch, dass die Empfänger*innen der Hilfe selbst bestimmen, wer sie wann, wo und in welcher Form unterstützt. Der Bundesgesetzgeber hat im Zuge der Reform des SGB IX durch das BTHG den Begriff der betreuten Wohnform durch den des assistierten Wohnens ersetzt (§§ 76, 113 SGB IX), um Über-/Un255 Mindeststandards werden in der DIN 18040–1 und DIN 18040–2 formuliert. 256 Bundesamt für Statistik, Wohnen in Deutschland, Ergebnisse aus dem Zusatzprogramm des Mikro-
zensus, 2018.
257 Trescher, Wohnräume als pädagogische Herausforderung, Lebenslagen institutionalisiert lebender
Menschen mit Behinderung, 2017; Schröttle u. a. (Fn. 46), S. 55, 72 ff. Julia Zinsmeister
428
§ 9 Behinderung als Diskriminierungskategorie
terordnungsverhältnissen zwischen Personal und Bewohner*innen entgegenzuwirken258 und räumt nun in § 76 Abs. 2 SGB IX den Leistungsberechtigten das Recht ein, selbst über Ablauf, Ort und Zeitpunkt der Inanspruchnahme ihrer Teilhabeleistung zu entscheiden. Dies lässt sich in Wohngruppen und -einrichtungen, in denen mehrere Bewohner*innen von nur einer bzw. einem Mitarbeiter*in unterstützt werden, allerdings nicht umsetzen.259 Problematisch ist auch, dass die Eingliederungshilfeträger die von behinderten Menschen gewünschte Wohnform weiterhin einer Zumutbarkeitsprüfung unterwerfen können (§ 104 SGB IX). III. Schutz vor körperlichen Übergriffen 1. Sterilisation behinderter Frauen*
Einer repräsentativen Studie zufolge waren 2012 in Deutschland rund 17 Prozent aller Frauen* mit körperlichen, kognitiven oder mehrfachen Beeinträchtigungen im Alter zwischen 16 und 65 Jahren sterilisiert.260 Wenngleich die Daten nicht direkt vergleichbar sind, ist der Unterschied zur Gesamtbevölkerung eindeutig: Im Bundesdurchschnitt hatten sich laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gerade einmal zwei Prozent aller Frauen*, die in Deutschland gegenwärtig verhüten, sterilisieren lassen.261 114 Die Sterilisation Minderjähriger ist seit 1992 ausnahmslos verboten (§ 1631c BGB). Rechtliche Betreuer*innen können mit gerichtlicher Genehmigung in die Sterilisation Erwachsener, die krankheits- oder behinderungsbedingt als einwilligungsunfähig gelten einwilligen, diese Genehmigung kann nur unter den engen Voraussetzungen des § 1905 BGB erteilt werden. Die Zahl der beantragten und erteilten gerichtlichen Genehmigungen ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken, seit 2012 bewegt sie sich unter 40 im Jahr.262 Dem Anschein nach müsste also die ganz überwiegende Zahl der sterilisierten Frauen mit Behinderungen selbstbestimmt in diesen Eingriff eingewilligt haben. 115 Berichte der Bewohnerinnen* von Einrichtungen für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung und deren geringer Grad der sexuellen Aufklärung lassen jedoch vermuten, dass diese Frauen* vielfach von Angehörigen, pädagogischen Fachkräften und Ärzt*innen fehlinformiert und in anderer Form manipuliert und in Folge ohne wirksame Einwilligung und ohne Einbeziehung des Gerichts sterilisiert wurden.263 Diese Eingriffe sind mithin als schwere Körperverletzung (§ 226 Abs. 1 Nr. 1 4. Alt StGB) einzustufen. 113
258 BT-Drs. 18/9522, S. 261. 259 Eingehender hierzu Zinsmeister, in: Dau u. a. (Hrsg.), LPK-SGB IX, 6. Aufl. 2021, § 104. 260 Schröttle u. a. (Fn. 46), S. 245; zu gleichen Ergebnissen kommen in Österreich Mayrhofer/Schachner/
Mandl/Seidler, Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen, 2019, S. 284.
261 BZgA, Verhütungsverhalten Erwachsener, 2018. 262 Bundesamt für Justiz, Betreuungsverfahren. Zusammenstellung der Bundesergebnisse für die Jahre
2002 bis 2017.
263 Zum Zustandekommen der Einwilligungen: Schröttle, Sonderauswertung „Reproduktion“, zitiert in:
Zinsmeister, Zur Einflussnahme rechtlicher Betreuerinnen und Betreuer auf die Verhütung und Familienplanung der Betreuten, BtPrax 2012, S. 227 (230 Fn.14); zu den Hintergründen der Eingriffe und dem Julia Zinsmeister
D. Ausgewählte Regelungsbereiche der Umsetzung der UN-BRK in Deutschland
429
Denjenigen Bewohnerinnen* von Einrichtungen für Menschen mit sogenannter geis- 116 tiger Behinderung, die nicht bereits sterilisiert sind, werden vielfach zur Verhütung ohne konkretes Schwangerschaftsrisiko im dreimonatigen Abstand sogenannte Depot-Spritzen injiziert, die aufgrund ihrer erheblichen Nebenwirkungen nur vorübergehend und in begründeten Ausnahmefällen verabreicht werden sollen.264 Weder die zum 1.1.2023 geplante Neufassung des § 1905 BGB, noch seine vom UN- 117 Fachausschuss empfohlene Streichung,265 bieten den Frauen daher hinreichenden Schutz. Es bedarf vielmehr gezielter Maßnahmen, um ihrer Manipulation entgegenzuwirken und es ihnen und ihren Partner*innen durch den Einsatz von Elternassistenz (§ 78 Abs. 3 SGB IX), gegebenenfalls auch durch Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) zu ermöglichen, sich gemäß Art. 23 Abs. 1 b UN-BRK frei und verantwortungsbewusst über die Anzahl ihrer Kinder und die Geburtenabstände zu entscheiden.266 2. Gewaltschutz
In Art. 16 UN-BRK hat sich Deutschland zum Schutz behinderter Menschen vor Ausbeu- 118 tung, Gewalt und Missbrauch verpflichtet. Studien belegen, dass Menschen mit Behinderungen in hohem Maß von physischer und psychischer Gewalt bedroht und betroffen sind. Das gilt insbesondere für Mädchen* und Frauen* mit Behinderungen. Ihr Risiko, im Laufe ihres Lebens ein oder mehrmals sexualisierte Gewalt zu erfahren, ist rund drei- bis viermal höher als das nicht behinderter Mädchen* und Frauen*.267 Zur Verbesserung des Opferschutzes wurde das Sexualstrafrecht mehrfach reformiert und versucht, dabei auch den Belangen behinderter Betroffener Rechnung zu tragen.268 Effektiver rechtlicher Schutz kann sich jedoch nicht auf Strafverfolgung beschränken. 119 Es bedarf einer ganzheitlichen Gewaltschutzstrategie, die auch den vielfach bestehenden Abhängigkeiten zwischen den Tatbeteiligten Rechnung trägt. Entsprechende staatliche Präventions-, Interventions-, und Rehabilitationspflichten ergeben sich nicht nur aus Art. 16 UN-BRK, sondern auch aus der EU-Opferschutz-Richtlinie 2012/29/EU v. 25.10.2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten269 sowie aus der am 1.6.2017 von Deutschland ratifizierten KonStand der sexuellen Aufklärung der Bewohnerinnen Schröttle/Hornberg, Gewalterfahrungen von in Einrichtungen lebenden Frauen mit Behinderungen, 2014, S. 54–56. 264 Vgl. Mayrhofer/Schachner/Mandl/Seidler (Fn. 260); Schröttle (Fn. 263); Zinsmeister, Behinderungen reproduktiver Freiheit und Gesundheit, djbZ 2017, S. 16; zur Dreimonatsspritze Leeb/Walter, Die Dreimonatsspritze zur Schwangerschaftsverhütung bei betreuten Frauen, BtPrax 2015, S. 45. 265 Vgl. § 1830 BGB-E in der Fassung v. 4.5.2021 (BGBl. 2021 I, S. 882); CRPD, Concluding observations on the initial report of Germany, Doc. CRPD/C/DEU/CO/17 (2015), Rn. 38 lit. (a). 266 Vgl. hierzu auch die Gesetzesbegründung BT-Drs. 19/27287 S. 24. 267 Schröttle u. a. (Fn. 46), S. 376; Puchert/Jungnitz/Schröttle/Mecke/Schrimpf/Hornberg, Lebenssituation und Belastung von Männern mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland 2013; Mayrhofer/Schachner/Mandl/Seidler (Fn. 260). 268 Bedeutsam insbesondere das 50. StrÄndG v. 4.11.2016 (BGBl. 2016 I, S. 2460) und das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder v. 16.6.2021 (BGBl. 2021 I, S. 1810). 269 ABl. 2012 L 315/57. Julia Zinsmeister
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§ 9 Behinderung als Diskriminierungskategorie
vention des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention)270 und weiteren Übereinkommen zum Schutz vor Menschenhandel und von Kindern.271 Die Vorgaben werden in Deutschland bislang unzureichend umgesetzt. Die Kinder- und Jugendhilfe fühlt sich für den Schutz behinderter Kinder und Jugendlichen oft rechtsirrig nicht zuständig.272 Es fehlt zudem an einer gesicherten staatlichen Finanzierung der erforderlichen Schutzeinrichtungen und -dienste für Erwachsene, an Programmen zur therapeutischen und sozialen Arbeit mit Tätern und zum barrierefreien Ausbau der bereits existierenden Infrastruktur. In den gerne als „geschützte Einrichtungen“ bezeichneten Wohnheimen und Werkstätten für behinderte Menschen laufen das Gewaltschutzgesetz und andere rechtliche Schutzinstrumente zumeist ins Leere.273 Mit dem Teilhabestärkungsgesetz vom 2.6.2021274 wurden die Erbringer von Leistungen der Rehabilitation und Teilhabe nun verpflichtet, Gewaltschutzkonzepte zu entwickeln und umzusetzen. Schutzeinrichtungen und -dienste der Kinder- und Jugendhilfe sollen künftig so geplant werden, dass sie die „spezifischen Bedarfslagen“ junger Menschen mit Behinderungen Rechnung tragen (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII).275 IV. Bildung 120
Art. 24 BRK sichert Menschen mit Behinderung das Recht auf den gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Zugang zum allgemeinen Bildungssystem – insbesondere also der Regelschule – und zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht. Auf das Ziel der inklusiven Bildung hatten sich bereits 1994 92 Regierungen und 25 internationale Organisationen auf der UNESCO-Konferenz in Salamanca verständigt.276 Inklusive Bildung basiert auf vier Grundprinzipien, die der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) 1999 in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 13 zum Recht auf Bildung nach Art. 13 Internationaler Pakt über wirtschaftliche und soziale Rechte277 als „4-A-Schema“ formuliert hat: Sie ist für alle Menschen gleichberechtigt verfügbar (availability), zugänglich (accessibility), annehmbar und angemessen (acceptability) und 270 BT-Drs. 18/12037. 271 Vgl. Art. 19 UN-KRK und die Leitlinien des Europarats für integrierte nationale Strategien zum
Schutz von Kindern vor Gewalt (Empfehlung CM/Rec [2009] 10) aus der revidierten ESC (BGBl. 2001 II, S. 970); Europäisches Übereinkommen über die Ausübung von Kinderrechten (BGBl. 2001 II, S. 1074), zur Bekämpfung des Menschenhandels (ETS Nr. 197) und zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (ETS Nr. 201); vgl. auch BT-Drs. 16/13271. 272 Zinsmeister, Juristische und strukturelle Situation im Gewaltschutz, in: Institut für empirische Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (IfeS), Gewaltschutzstrukturen für Menschen mit Behinderungen – Bestandsaufnahme und Empfehlungen, 2021, S. 71; Ebner, Kinderschutz in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe, 2018. 273 Zinsmeister (Fn. 272), S. 41. 274 BGBl. 2021 I, S. 1387. 275 Eingehender Zinsmeister, Gewaltschutz, in: Deinert u. a. (Hrsg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 3. Aufl. 2022; dies. (Fn. 272), S. 84. 276 UNESCO, The Salamanca Statement and Framework for Action on Special Needs Education 1994. 277 Internationaler Pakt über wirtschaftliche und soziale Rechte v. 16.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1570. Julia Zinsmeister
D. Ausgewählte Regelungsbereiche der Umsetzung der UN-BRK in Deutschland
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für Menschen in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten adaptierbar (adaptability).278 Deutschland steht international in der Kritik, Art. 24 UN-BRK nicht hinreichend um- 121 zusetzen, sondern die bestehenden sozialen Bildungsgleichheiten zu zementieren.279 Der UN-Fachausschuss hat die Bundesrepublik aufgefordert, die erforderlichen Reformen zu ergreifen.280 Es braucht Änderungen der rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen von 122 Bildung, der Finanzierung, der didaktischen Konzepte und Methoden sowie der (Aus-) Bildungsziele und -inhalte unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedürfnisse und Talente aller Lernenden sowie eine entsprechende Weiterqualifizierung des Personals.281 Notwendig ist auch die multiprofessionelle Zusammenarbeit der Bildungsfachkräfte mit Fachleuten aus dem Bereich der (Re-) Habilitation (Art. 26 Abs. 1 Satz 2 UN-BRK).282 Vor allem die schulrechtliche Umsetzung gestaltet sich aufgrund zahlreichen Kontro- 123 versen und föderalismusbedingt sehr uneinheitlich.283 Zwar sehen inzwischen alle Landesschulgesetze die Möglichkeit einer gemeinsamen Beschulung vor, stellen das gemeinsame Lernen im zieldifferenten Unterricht aber mehrheitlich noch unter Haushaltsvorbehalt.284 278 CESCR, General comment No. 13: The Right to Education, UN Doc. CESCR E/C.12/1999/10
(1999); CRPD, General comment No. 4 (2016) on the right to inclusive education, UN Doc. CRPD/C/ GC/4; am Beispiel Kita: Zinsmeister/Platte, Das Recht auf inklusive Bildung, oder: Wie Kindertageseinrichtungen Ausgrenzung und Diskriminierung verhindern können und müssen, in: Lohrentz (Hrsg.), Das große Handbuch Recht in der Kita, 2018, S. 145. 279 Muňoz, Mission to Germany. Report of the Special Rapporteur on the right to education, 2006, UN Doc. A/HRC/4/29/Add.3; CRPD, Concluding observations on the initial report of Germany, Doc. CRPD/C/DEU/CO/17 (2015), Rn. 41 f.; zur Bildungsungleichheit zwischen zugewanderten und nicht zugewanderten Kindern OECD, Bildung auf einen Blick, 2021, S. 36 ff. 280 CRPD, Concluding observations on the initial report of Germany, Doc. CRPD/C/DEU/CO/17 (2015), Rn. 41 f. 281 Classen, Die Bedeutung von Art. 24 der UN-Behindertenrechtskonvention für das Schulwesen, in: Brodkorb/Koch (Hrsg.), Mit 200 Sachen am Meer – M-V auf dem Weg in Richtung Inklusion, 2013, S. 29; Wrase, Auflösung der Förderschulen. Die UN-Behindertenkonvention verlangt die Inklusion von Kindern mit Behinderung an Regelschulen, WZBrief Bildung 33, Juni 2021, https://bibliothek.wzb.eu/wzbriefbildung/WZBriefBildung332016_wrase.pdf; Riedel, Zur Wirkung der internationalen Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung und ihres Fakultativprotokolls auf das deutsche Schulsystem, 2010; Deutsche UNESCO-Kommission, Für eine inklusive Bildung in Deutschland Resolution der 77. Hauptversammlung v. 30.6.2017 in Bonn, https://www.unesco.de/node/1728; BMAS, Dritter Teilhabebericht (Fn. 16), S. 124. 282 Zinsmeister, in: Dau u. a. (Hrsg.), LPK-SGB IX, 6. Aufl. 2021, § 75 Rn. 5; Wrase, Die Implementation des Rechts auf inklusive Schulbildung nach der UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Evaluation aus rechtlicher Perspektive, in: Kuhl u. a. (Hrsg.), Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Schulleistungserhebungen, 2015, S. 41. 283 Kultusministerkonferenz, Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2009–2018, 2020; Heisig, Bundesländerunterschiede im Förderschulsystem, ifo Dresden berichtet, 2018, S. 12. Relativiert werden diese Zahlen dadurch, dass die Bundesländer ihren Schulgesetzen ein sehr unterschiedliches Inklusionsverständnis zu Grunde legen, vgl. Rackles, Inklusive Bildung in Deutschland. Beharrungskräfte der Exklusion und notwendige Transformationsimpulse, 2021; Mißling/Ückert, Inklusive Bildung – Schulgesetze auf dem Prüfstand, 2014; DIMR (Fn. 203), S. 30 ff. 284 Rackles (Fn. 179). Julia Zinsmeister
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Die endgültige Entscheidung über die Zuweisung des Kindes an die Regel- oder Förderschule liegt teilweise noch bei den Schulbehörden, teilweise bei den Eltern oder volljährigen Schüler*innen, teilweise steht ihr Wahlrecht unter Vorbehalt.285 In Bundesländern, in denen den Eltern das Wahlrecht zwischen Regel- und Förderschule eingeräumt wurde, beginnt die öffentliche Verwaltung in Einzelfällen, sich der Entscheidungsgewalt wieder mit Hilfe der Familiengerichte zu bemächtigen mit dem Argument, Eltern überforderten ihr Kind mit der Regelbeschulung und gefährdeten so das Kindeswohl. Die Verantwortung der Schulbehörden, das Regelschulangebot an die Bedürfnisse der Schüler*innen anzupassen, bleibt dabei ausgeblendet.286 Die inklusive Weiterentwicklung muss auch in der beruflichen und Hochschulbildung 124 und im non-formalen Bereich (z. B. in Volkshochschulen, Jugend- und Familienzentren) mit Nachdruck vorangetrieben werden, schließlich ist Bildung ein lebenslanger Prozess, der die Chancen einer Person auf berufliche und soziale Teilhabe sowie ihre Gesundheit und Lebenserwartung maßgeblich beeinflusst.287 125 Höchst umstritten ist die Frage, ob der Ausschluss behinderter Menschen von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch ihren Verweis auf Sondereinrichtungen hinlänglich kompensiert werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hatte dies in seinem Förderschulzuweisungsbeschluss bejaht288 und 2006 nochmals bestätigt.289 Zwar sei ein genereller Ausschluss der Möglichkeit einer gemeinsamen Erziehung und Unterrichtung von behinderten mit nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen nach dem (damaligen) pädagogischen Kenntnisstand verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen,290 Art. 3 Abs. 3 GG gewähre behinderten Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ein Recht auf gemeinsame Erziehung und Unterrichtung aber nur, wenn ihre bedarfsgerechte Beschulung aus den vorhandenen Personal- und Sachmittel bestritten werden könne und organisatorische Schwierigkeiten sowie schutzwürdige Belange schutzwürdiger Dritter, insbesondere anderer Schüler*innen, der integrativen Beschulung nicht entgegenstünden.291 126 Der Förderschulbeschluss hat, wie Fuerst feststellt, die bis dato zu verzeichnenden integrations- bzw. inklusionsorientierte Entwicklung der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ausgebremst.292 Bereits dieser Effekt gibt Anlass, die Position des Bundesverfassungsgerichts kritisch zu hinterfragen. Sie weist eine problematische Nähe zur „separate 285 Übersicht bei Reimann, Schule, in: Deinert u. a. (Hrsg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht,
3. Aufl. 2022.
286 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.7.2020, 1 BvR 1525/20 – Teilweise Entziehung der elterlichen Sorge; kritisch
Igstadt, Inklusion als Kindeswohlgefährdung?, Verfassungsblog v. 7.9.2020. BMAS (Fn. 16), S. 200 ff.; Robert-Koch-Institut, Welche Faktoren beeinflussen die Gesundheit? 2015. BVerfGE 96, 288 – Sonderschulzuweisung (1997). BVerfG, Beschl. v. 10.2.2006, 1 BvR 91/06 – Integrative Kita. BVerfGE 96, 288 – Sonderschulzuweisung (1997); BVerfG, Beschl. v. 10.2.2006, 1 BvR 91/06 – Integrative Kita. 291 BVerfGE 96, 288 (312) – Sonderschulzuweisung (1997); BVerfG, Beschl. v. 10.2.2006, 1 BvR 91/06 – Integrative Kita. 292 Fuerst, Schule, in: Deinert u. a. (Hrsg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 3. Aufl. 2022, Rn. 8. 287 288 289 290
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but equal“ Doktrin des US Supreme Court auf.293 Allein aus der Tatsache, dass Menschen unterschiedlich befähigt sind bzw. ihnen unterschiedliche Fähigkeiten zugeschrieben werden, ergibt sich nicht die Notwendigkeit des getrennten, sondern allenfalls des zieldifferenten Unterrichts in einem inklusiven Bildungssetting.294 Der internationale Vergleich und viele Schulen in Deutschland zeigen, dass inklusive Bildung zum Vorteil aller Schüler*innen gelingen kann.295 Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Art. 7 Abs. 1 GG und Art. 3 GG verpflichten den Staat, allen 127 Kindern und Jugendlichen ein sach- und begabungsgerechtes Erziehungs- und Bildungsangebot zur Verfügung zu stellen.296 Er darf die Ausgestaltung des Unterrichts daher nicht einseitig an den Fähigkeiten ausgewählter Gruppen von Schüler*innen ausrichten. Art. 24 UN-BRK erfordert damit zumindest die Umkehrung des noch im Förderschulbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8.10.1997 angenommenen Regel-Ausnahmeverhältnisses zugunsten des gemeinsamen, inklusiven Unterrichts.297 Eine getrennte Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung ließe sich allenfalls 128 dann rechtfertigen, wenn die Ausgangslagen und Interessen dieser Kinder im Vergleich zu denen nichtbehinderter Kinder von vornherein so unterschiedlich wären, dass für sie keine Schulform gefunden werden kann, die unter Einsatz von personeller Assistenz, technischer Hilfsmittel und/oder durch Gewährung von Nachteilsausgleichen gleichwertige Bildungsangebote zu unterbreiten vermag.298 Das ist allenfalls bei wenigen Schüler*innen denkbar, die zwingend zu Hause oder an anderem Ort beschult werden müssen, sei es, weil sie langfristig in Quarantäne sind oder den Schulweg bzw. das Lernen in einem hybriden Setting nicht, auch nicht mit Unterstützung, bewältigen können. Im Ergebnis ist festzustellen, dass bereits die Segregation behinderter Menschen und 129 nicht erst deren unzureichende Kompensation eine Benachteiligung darstellt. Der historische Rückblick und der Vergleich der gegenwärtigen Lebenslagen zeigt, dass die Aussonderung bestehende Teilhabeeinschränkungen nicht nivelliert, sondern weiter verschärft.
293 US Supreme Court, Plessy v. Ferguson, 163 U. S. 537 (1896), S. 539; Einordnung bei Sacksofsky, Das
Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 218.
294 Powell, Chancen und Barrieren Inklusiver Bildung im Vergleich, 2018. 295 Köpfer/Powell/Zahnd (Hrsg.), Handbuch Inklusion international, 2021; Powell (Fn. 294). Bei-
spielhaft die Träger des Jakob-Muth-Preises: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/ abgeschlossene-projekte/jakob-muth-preis/preistraeger. 296 BVerfGE 96, 288 (303 ff.) – Förderschulbeschluss (1997); BVerfG, Beschl. v. 10.2.2006, 1 BVR 91/06, Rn. 10 – Integrative Kita. 297 Bitter, Gefährdet Inklusion das Kindeswohl?, NVwZ 2020, S. 1708. 298 Marwege, Legasthenie und Dyskalkulie in der Schule. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der UN Behindertenrechtskonvention, 2013, S. 110; Zinsmeister (Fn. 144), S. 94. Julia Zinsmeister
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F. Zusammenfassung und Ausblick Der Wandel weg von einem medizinischen Verständnis von Behinderung hin zum Modell der Behinderung als Wechselwirkung zwischen der individuellen Beeinträchtigung einer Person und ihrer Umwelt eröffnet den Blick auf vielfältige einstellungs- und umweltbedingte Barrieren. Der soziale Ausschluss behinderter Menschen kann nicht länger als logische Folge ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen betrachtet werden, sondern ist auf individuelle und politische Entscheidungen und die daraus erwachsenen, ausgrenzenden Verhältnissen zurückzuführen. Basierend auf einem tiefen Verständnis der Diskriminierungsrisiken beschreibt die UN-BRK eine Vielzahl von Maßnahmen zur Herstellung nicht nur formeller, sondern auch materialer Gleichheit. Die Vertragsstaaten haben sich nicht nur verpflichtet, einstellungs- und umweltbedingte Barrieren sukzessive abzubauen, sondern müssen darüber hinaus bestehende Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken so ändern, dass sie Menschen mit Behinderungen nicht länger diskriminieren. 131 Zur inklusiven Weiterentwicklung gesellschaftlicher Strukturen, z. B. des Bildungs- und Gesundheitswesens bedarf es einer grundlegenden Auseinandersetzung mit der Frage, welche Fähigkeiten wir in verschiedenen Handlungsfeldern weiterhin als selbstverständlich oder zwingend notwendig voraussetzen können und müssen, wo hingegen Einschränkungen durch angemessene Vorkehrungen begegnet oder der menschlichen Vielfalt in anderer Weise Rechnung getragen werden kann. Um Menschen mit Behinderungen nicht länger ohne oder gegen ihren Willen in Sondereinrichtungen auszugrenzen, sie nicht mehr zu bevormunden und paternalistischem Zwang auszusetzen, bedarf es zudem einer grundlegenden Auseinandersetzung mit der Frage, welches Autonomie- und Freiheitsverständnis unserer Rechtsordnung zu Grunde liegen soll. 130
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§ 10 Alter als Diskriminierungskategorie Felipe Temming Inhaltsübersicht Rn. A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Zur Dogmatik des Verbots der Altersdiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vergleichstatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unmittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtfertigungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 2 Abs. 5 RL 2000/78/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Art. 7 RL 2000/78/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kontrolldichte i. R. d. Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsfolgen bei einem Verstoß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung . . . . . . . . . . . . . 1. Gleichheitswidrige Benachteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gleichheitswidrige Vorenthaltung einer Begünstigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12 12 14 14 16 19 20 21 22 23 29 30 33 34 35
C. Typische Fallgestaltungen mit Altersrelevanz im Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einstellungshöchstaltersgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Durchführung des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Kriterien Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit und Lebensalter . . . . . . . . . . . . 2. Vergütungsregelungen, Urlaub, Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gesetzliche Kündigungsfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Tariflicher Ausschluss der ordentlichen Kündbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Betriebliche Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beendigung des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Betriebsbedingte Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sozialauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Altersgruppenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sozialpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Altersgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Altersgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Besondere Altersgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38 39 39 42 44 44 52 54 56 59 60 61 62 68 71 77 78 82
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§ 10 Alter als Diskriminierungskategorie
D. Altersdiskriminierung im allgemeinen Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Einleitung Neben Geschlecht, Rasse oder sozialer Herkunft ist das Alter ein wichtiges soziologisches Unterscheidungsmerkmal. Mit seiner Hilfe kann eine Gesellschaft die sie ausmachenden Teilnehmer und Teilnehmerinnen unterscheiden. Dadurch bilden sich Hierarchien heraus, was zur Grundlage gesellschaftlicher Ungleichheit führen kann. Das hat Auswirkung auf die Verteilung von und den Zugang zu Ressourcen und Lebenschancen in persönlicher, politischer und ökonomischer Hinsicht. Aber auch die sozialen Beziehungen untereinander sind betroffen, weil sich Interessen formieren und Konflikte bilden. All diese Prozesse beeinflusst und bestimmt wiederum das Alter.1 2 Rechtlich erfassbar und bewertbar werden Ungleichbehandlungen aufgrund des Alters, sobald ein Kontrollmaßstab existiert, der Ungleichbehandlungen aufgrund des Alters einer Rechtfertigung unterwirft und diese verbietet, wenn diese Rechtfertigung nicht gelingt. Ein solcher Prüfungsmaßstab kann sich aus einem Freiheitsrecht ergeben. Einschlägig sein kann aber auch ein besonderer Gleichheitssatz oder schließlich sein allgemeiner Gegenpart. 3 Aus deutscher grundrechtlicher Sicht käme somit zunächst bspw. die Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG in Frage.2 Ferner wäre an Art. 3 Abs. 3 GG zu denken. Indes listet die Norm das Alter als verbotenes Kriterium nicht auf; zudem ist sie auch abschließend formuliert.3 Damit bleibt der in Art. 3 Abs. 1 GG niedergelegte allgemeine Gleichheitssatz übrig. Doch auch in diesem Zusammenhang hat das BVerfG in der Gesamtschau noch keine wirksame Regel etabliert, die im Ergebnis einem besonderen Verbot der Altersdiskriminierung gleichkäme,4 obwohl es im Rahmen seiner „neuen Formel“ die verfassungsrechtlichen Anforderungen bei Unterscheidungen nach dem Lebensalter grundsätzlich verschärft hat.5 Soweit ersichtlich hat das BVerfG in seinem Urteil aus dem Jahre 2016 zur Bedarfsgemeinschaft von Kindern bis 25 Jahren mit ihren Eltern zum ersten Mal eine 1
1 Levine, Age Discrimination and the Mandatory Retirement Controversy, 1988, S. 1; Macnicol, Age Discrimination, 2006, S. 45; Neugarten, Age Distinctions and Their Social Functions, in: Neugarten (Hrsg.), The Meanings of Age, 1996, S. 59 ff. 2 Waltermann, Berufsfreiheit im Alter, 1989, S. 122 ff.; aus der Rechtsprechung statt vieler BVerfGE 103, 172 (182 ff.) – Vertragszahnärzte (2001); BAG, NZA 2006, S. 37 (39 f.) zur allgemeinen Altersgrenze. 3 Statt vieler Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 136. 4 Damit ist insbesondere ein wirksam judiziertes Diskriminierungsverbot gemeint, das vergleichbar mit demjenigen in Art. 21 GRCh, der RL 2000/78/EG oder dem unionsrechtskonform auszulegenden AGG wäre; dazu sogleich im Text. 5 BVerfGE 142, 353 (385 f.) – Grundsicherung (2016); BVerfGE 88, 87 (97 ff.) – Transsexuelle II (1993); BVerfGE 60, 123 (133 f.) – Junge Transsexuelle (1982); eine untergeordnete Rolle spielt das Lebensalter hingegen in BVerfG, Beschl. v. 16.1.2007, 2 BvR 2408/06 – Altersgrenze von Piloten; BVerfG, Beschl. v. 7.8.2007, 1 BvR 1941/07 – Altersgrenze von Vertragszahnärzten.
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A. Einleitung
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strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung hauptsächlich aufgrund der Unterscheidung wegen des Alters propagiert, diese indes aufgrund der Typisierungstoleranz in der leistenden Sozialmassenverwaltung im gleichen Atemzug wiederum stark relativiert.6 Aus dogmatischer Sicht ließe sich ein solches Verbot im Ergebnis sehr vertretbar aus Art. 3 Abs. 1 GG judizieren.7 Wenn überhaupt, ist es zuvörderst das Unionsrecht, welches Altersdiskriminierungen 4 grundsätzlich verbietet. Das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot schützt jegliches Alter und damit Menschen gleich welchen Lebensalters.8 Es ist dynamisch, was es von anderen verpönten Merkmalen, wie bspw. Rasse, Staatsangehörigkeit, Religion, sexuelle Orientierung oder Geschlecht unterscheidet. Bei diesen handelt es sich im Regelfall um binäre Kriterien; letzteres stellt ein ternäres Kriterium dar.9 Diese Besonderheit beim Alter lässt sich in vertretbarer Weise vor allem auf der Rechtsfolgenseite von unzulässigen Diskriminierungen berücksichtigen.10 Das Verbot der Altersdiskriminierung hatte und hat einen schweren Stand. Schon seine 5 bloße Existenz wurde angezweifelt. Es hieß, es sei vom „platonischen Rechtshimmel“ gefallen.11 Das ist allerdings eine Behauptung, die durch nichts gerechtfertigt ist. Im internationalen Kontext gibt es einschlägige Entscheidungen, die dieses Diskriminierungsverbot thematisieren,12 und es kann m. E. als Menschenrecht bezeichnet werden. Nachhaltig ins 6 BVerfGE 142, 353 (385 f.) – Grundsicherung (2016); in BVerfGE 88, 87 (97 ff.) – Transsexuelle II (1993)
prüfte das BVerfG § 1 TSG anhand eines strengen Maßstabes, allerdings nicht zuvörderst wegen der in § 1 Abs. 1 Nr. 3 TSG aufgestellten Mindestaltersgrenze von 25 Jahren – und damit wegen des personengebundenen und einem Einzelnen nicht verfügbaren Kriteriums des Alters – sondern namentlich wegen des Bezugs mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht; Vergleichbares gilt für BVerfGE 60, 123 (133 f.) – Junge Transsexuelle (1982) mit Blick auf § 8 Abs. 1 Nr. 1 TSG. 7 Jarass (Fn. 3), Art. 3 Rn. 24–26 m. w. N.; ausführlich Temming, Altersdiskriminierung im Arbeitsleben, 2008, S. 80 ff., 101 ff. 8 Roloff, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK Arbeitsrecht, Stand: Dezember 2021, § 1 AGG Rn. 8; unscharf BTDrs. 16/1780, S. 31; anders der US-amerikanische Age Discrimination in Employment Act (ADEA), der Menschen erst ab dem 40. Lebensjahr schützt, vgl. 26 U. S. Code § 631(a). 9 BVerfGE 147, 1 – Drittes Geschlecht (2017). Konsequenz im Arbeitsrecht sind Stellenausschreibungen bspw. nach dem Muster „Tätigkeit XY (m/w/d)“. 10 Vgl. die Ausführungen unter Rn. 33 ff. (B. IV.). 11 So aber EuGH, Schlussanträge des GA Mazák v. 15.2.2007, Rs. C-411/05, Palacios de la Villa, Rn. 86. 12 I. R. d. Art. 26 Satz 2 IPbpR als „sonstiger Status“, vgl. CCPR, Decision v. 16.7.2001, Communication No. 855/1999, Schmitz-de-Jong v. Netherlands, UN Doc. CCPR/C/72/D/855/1999; CCPR, Decision v. 25.3.2003, Communication No. 983/2001, Love u. a. v. Australia, UN Doc. CCPR/C/ 77/D/983/2001; CCPR, Decision v. 27.3.2006, Communication No. 1016/2001, Rubén Santiago Hinostroza Solís v. Peru, UN Doc. CCPR/C/86/D/1016/2001; CCPR, Decision v. 24.10.2011, Communication No. 1637/2007, 1757/2008, 1765/2008, Néstor Julio Canessa Albareda u. a. v. Uruguay, UN Doc. CCPR/C/ 103/D/1637/2007,1757&1765/2008; CCPR, Decision v. 12.–30.3.2012, Communication No. 1789/2008, G. E. v. Germany, UN Doc. CCPR/C/104/D/1789/2008 – freilich abgewiesen wegen Unzulässigkeit; i. R. d. Art. 14 EMRK als „sonstiger Status“, vgl. Commission on Human Rights, Decision v. 13.10.1986, No. 11077/84, Nelson v. United Kingdom; Ministerkomitee, Entsch. v. 12.10.1978 bzw. v. 12.6.1979, Beschwerde-Nr. 7215/75, X v. Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt. v. 22.10.1981, Beschwerde-Nr. 7525/76, Dudgeon v. Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt. v. 10.6.2010, Beschwerde-Nr. 25762/07, Schwizgebel v. Schweiz; EGMR, Urt. v. 15.9.2016, Beschwerde-Nr. 44818/11, British Gurkha Welfare Society u. a. v. Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt. v. 3.10.2017, Beschwerde-Nr. 17484/15, Carvalho Pinto de Sousa Morais Felipe Temming
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§ 10 Alter als Diskriminierungskategorie
Bewusstsein rückte es freilich erst durch die im Jahre 2000 feierlich proklamierte Grundrechtecharta der EU (dort Art. 21) und vor allem Art. 1 Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.13 Seitdem hat es eine kontroverse Karriere hinter sich. Maßgeblich das umstrittene, aber zustimmungswürdige EuGH-Urteil Mangold aus dem Jahre 2005 hat dazu beigetragen.14 In diesem erkannte der EuGH, das Verbot der Altersdiskriminierung sei nicht nur in der RL 2000/78/EG verankert. Vielmehr stelle dieses nur die sekundärrechtliche Konkretisierung eines ungeschriebenen Grundsatzes dar, welcher im Primärrecht der EU beheimatet sei. Damit maß der EuGH dem Verbot der Altersdiskriminierung Grundrechtsqualität bei und steigerte dadurch dessen Wirksamkeit ungemein.15 6 Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ist das Verbot der Altersdiskriminierung in Art. 21 Abs. 1 GRCh mit normativer Wirkung im Primärrecht niedergelegt.16 Gem. Art. 51 Abs. 1 GRCh haben sich die Organe der EU umfassend, die Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht daran zu halten.17 Als allgemeiner Grundsatz ist das Verbot der Altersdiskriminierung in Art. 6 Abs. 3 EUV zu verorten.18 Zu berücksichtigen ist, dass das primärrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung durch die sekundärrechtlichen Vorgaben vorgeprägt wird. Nach Ansicht des EuGH führt diese Wechselwirkung dazu, dass ein Verstoß gegen die RL 2000/78/EG einen Verstoß gegen das Primärrecht präjudiziert.19 v. Portugal; vor dem 22.11.2005 ergangene Beschlüsse bzw. Urteile wurden nicht berücksichtigt in BVerfGE 126, 286 ff.– Honeywell (2010); siehe auch Schadendorf, Die UN-Menschenrechtsverträge im Grundrechtsgefüge der Europäischen Union, EuR 2015, S. 28 (38 ff.). 13 Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303/16 (Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie); vgl. die einschlägige Übergangsvorschrift Art. 18 Abs. 2 RL 2000/78/EG. 14 EuGH, Urt. v. 22.11.2005, Rs. C-144/04, Mangold; sehr kritisch, wenn nicht sogar unausgesprochen einen Verstoß ultra vires erkennend BVerfGE 126, 286 (300 ff.) – Honeywell (2010): „Zum anderen hat der Gerichtshof Anspruch auf Fehlertoleranz“ (S. 307); für einen ultra vires Verstoß das Sondervotum von Landau ab S. 318 ff.; vgl. unter anderem Colneric, Antidiskriminierung – quo vadis?, NZA-Beilage 2008, S. 66 (70 f.); Böhm, Umfang und Grenzen eines europäischen Verbots der Altersdiskriminierung im deutschen Recht, JZ 2008, S. 324. 15 Verstoßen mitgliedstaatliche Vorschriften gegen dieses Verbot und sind sie nicht mehr unionsrechtskonform auszulegen, sind sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht mehr anzuwenden, allgemein dazu → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 98 m. w. N. Der EuGH hat dieses Verständnis auf andere EU-Grundrechte ausgeweitet, vgl. EuGH, Urt. v. 13.5.2014, Rs. C-131/12, Google Spain; EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger; EuGH, Urt. v. 6.11.2018, Rs. C-569/16, C-570/16, Bauer und Wilmeroth. 16 Vertretbar begreift der EuGH zudem Art. 21 Abs. 1 GRCh als eine besondere Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes der Gleichbehandlung, der in Art. 20 GRCh normiert ist, siehe EuGH, Urt. v. 5.7.2017, Rs. C-190/16, Fries. 17 Vgl. zur partiellen Bindung der Mitgliedstaaten an Unionsgrundrechte grundlegend EuGH, Urt. v. 13.7.1988, Rs. 5/88, Wachauf; EuGH, Urt. v. 18.6.1991, Rs. C-260/89, ERT; siehe auch EuGH, Urt. v. 1.3.2012, Rs. C-457/09, Charty; EuGH, Urt. v. 26.2.2013, Rs. C-617/10, Åkerberg Fransson; EuGH, Urt. v. 26.2.2013, Rs. C-399/11, Melloni; Winter, Deutliche Worte des EuGH im Grundrechtsbereich, NZA 2013, S. 473; Skouris, Die Europäische Grundrechte-Charta in der Rechtsprechung des EuGH, AuR 2015, S. 294. 18 EuGH, Urt. v. 19.1.2010, Rs. C-555/07, Kücükdeveci, Rn. 50. 19 EuGH, Urt. v. 19.1.2010, Rs. C-555/07, Kücükdeveci; EuGH, Urt. v. 26.9.2013, Rs. C-476/11, HK Danmark; allgemein EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger; EuGH, Urt. v. 6.11.2018, Rs. Felipe Temming
A. Einleitung
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Auf nationaler Ebene ist das Verbot der Altersdiskriminierung schließlich in den §§ 1, 7 7, 19, 24 AGG niedergelegt. Finden unbestimmt formulierte nationale Prüfungsmaßstäbe Anwendung, bspw. § 75 Abs. 1 BetrVG, sind sie unionsrechtskonform auszulegen; gegebenenfalls können die Rechtfertigungsmöglichkeiten des AGG mit hineingelesen werden, die wiederum im Lichte des einschlägigen Unionsrechts anzuwenden sind. Eine Sperrwirkung entfaltet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)20 im Regelfall nicht, vgl. unter anderem § 2 Abs. 3 Satz 1 AGG.21 Maßgeblich ist letztlich der Anwendungsbereich der RL 2000/78/EG und des § 19 AGG.22 Neben seinen anfänglichen Existenzproblemen hat das Verbot der Altersdiskriminie- 8 rung im Vergleich zu anderen besonderen Diskriminierungsverboten (Behinderung, sexuelle Orientierung), insbesondere den etablierten (Rasse, Geschlecht, Religion, Staatsangehörigkeit), auch mit seiner „Andersartigkeit“ zu kämpfen.23 Dies beruht zum einen auf seinem dynamischen Charakter;24 zum anderen rühren die Vorbehalte auch daher, dass dieses Diskriminierungsverbot „jung“ ist (was für sich genommen stimmt)25 und unsere Rechtsordnung an vielfältigen Stellen nach dem Lebensalter geradezu wie selbstverständlich unterscheidet.26 Dass dieses Vorgehen auf einmal grundsätzlich unzulässig, weil altersdiskriminierend, sein soll, führt zu zurückhaltenden Einschätzungen, erzeugt Widerstände oder zumindest sachlich geäußerte Kritik. So spreche bspw. wenig dafür, das Alter generell als ein verpöntes Differenzierungsmerkmal zu betrachten. Denn das Alter sei im Grundsatz ein besonders egalitäres, dem Gedanken der Gerechtigkeit gerade verpflichtetes Unterscheidungsmerkmal. Alle Menschen würden nämlich altern, sodass sich die Anknüpfung an ein bestimmtes Alter – anders als andere Unterscheidungsmerkmale – gerade nicht unterschiedlich auf die Bürger und die sozialen Gruppen in einem Gemeinwesen verteilen würden.27 Freilich ist zu überlegen, ob einem Diskriminierungsverbot dieses Kompensationsele- 9 ment „in der Zeit“ wirklich zukommen sollte, um bspw. eine tatsächlich stattfindende beC-569/16, C-570/16, Bauer und Wilmeroth; dazu ausführlich Preis/Temming, Der EuGH, das BVerfG und der Gesetzgeber – Lehren aus Mangold II, NZA 2010, S. 185. 20 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. 21 Vgl. zum Verhältnis zwischen AGG und dem Recht der betrieblichen Altersvorsorge (§ 2 Abs. 3 Satz 2 AGG) BAG, Urt. v. 13.10.2016, 3 AZR 439/15; BAG, NZA 2008, S. 532; hierzu kritisch Rolfs, „Für die betriebliche Altersvorsorge gilt das Betriebsrentengesetz“, NZA 2008, S. 553; zum Verhältnis zwischen AGG und dem arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz (§ 2 Abs. 4 AGG) siehe BAG, NZA 2009, S. 361; BAG, NZA 2012, S. 1044 mit ablehnender Anmerkung Temming, AP Nr. 182 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung; ausführlich Roloff (Fn. 8), § 2 AGG Rn. 22, 25–29 m. w. N. 22 § 19 AGG wurde mit Blick auf das Diskriminierungsmerkmal Alter überschießend umgesetzt, vgl. die Ausführungen unter Rn. 85 ff. (D.). 23 So bspw. auch EGMR, Urt. v. 3.10.2017, Beschwerde-Nr. 17484/15, Carvalho Pinto de Sousa Morais v. Portugal, Rn. 45; EGMR, Urt. v. 15.9.2016, Beschwerde-Nr. 44818/11, British Gurkha Welfare Society u. a. v. Vereinigtes Königreich, Rn. 88. 24 Vgl. indes die Ausführungen im Text zu Fn. 9. 25 Bspw. stammt der ADEA, vgl. Fn. 8, aus dem Jahre 1967. 26 Vgl. Mager, Altersdiskriminierung – Eine Untersuchung zu Konzept und Funktionen eines ungewöhnlichen Diskriminierungsverbots, in: FS Säcker, 2011, S. 1075. 27 Huster, Gleichheit im Mehrebenensystem, EuR 2010, S. 325 (336 f.). Felipe Temming
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§ 10 Alter als Diskriminierungskategorie
nachteiligende Typisierung und Rollenzuweisung im Jetzt zu rechtfertigen. Die geäußerte Kritik gesteht jedenfalls erfreulicherweise zu, dass es mit Blick auf Altersdiskriminierungen sehr wohl problematische Bereiche gibt.28 Am augenscheinlichsten wirkt sich die Distanz zum Verbot der Altersdiskriminierung bei der Frage aus, wie streng dieses i. R. d. Rechtfertigung zu prüfen ist. Von der Beantwortung dieser Frage hängt alles ab. So scheint bereits der weit formulierte, speziell für das Alter geschaffene Rechtfertigungstatbestand des Art. 6 RL 2000/78/EG für eine eher laxe Handhabung des Verbots der Altersdiskriminierung zu sprechen. Würde dies stimmen, ließen sich bspw. Eingriffe in alle Unionsgrundrechte der GRCh relativ leicht rechtfertigen, da Art. 52 Abs. 1 GRCh ebenso weit und offen formuliert ist wie Art. 6 RL 2000/78/EG. Beide Normen ordnen letztlich „nur“ den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an. Trotzdem ist diese Stoßrichtung, also eine eher zurückgenommene Prüfungsintensität, herrschend.29 Zu einem anderen, weit schlüssigerem Ergebnis gelangt man aber, wenn man den allgemeinen dogmatischen Kriterienkatalog heranzieht, um i. R. d. Art. 3 Abs. 1 GG zu ermitteln, ob Altersdifferenzierungen streng zu kontrollieren sind oder nicht. Dann gelangt man, wie zuvor bemerkt,30 zu einer bejahenden Antwort und damit einer strengen Prüfung.31 Diese Einschätzung teilt punktuell auch das BVerfG,32 ohne dass dies, bspw. auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, jemals konkrete Folgen gehabt hätte. Das ist eine der Widersprüchlichkeiten, mit denen das Verbot der Altersdiskriminierung wird leben müssen, da der namentlich vom EuGH eingeschlagene Entwicklungspfad wohl nicht mehr verlassen wird. 10 Wie soeben bereits angeklungen, lassen sich in der Rechtswirklichkeit nun verschiedene Bereiche identifizieren, in denen Unterscheidungen nach dem Lebensalter vorgenommen werden.33 Sie alle im Einzelnen zu analysieren, würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen. Vielmehr werden an dieser Stelle Fallgestaltungen im Arbeitsrecht exemplarisch abgehandelt, die eine Altersrelevanz aufweisen. Das hat seinen Hauptgrund darin, dass das Verbot der Altersdiskriminierung auf diesem Feld besonders intensiv diskutiert wird und sich besonders auswirkt. In Abwesenheit eines im grundrechtlichen Bereich häufig anzutreffenden Rechtsquellenpluralismus ist dies vor allem aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben der Fall. Deshalb sollen dieser Prüfungsmaßstab und das einschlägige nationale Umsetzungsgesetz, das AGG, im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen stehen. Ein weiterer, wenngleich kleinerer Schwerpunkt wird auf der Bedeutung des Verbots der Al28 Huster (Fn. 27), S. 337: Arbeitsmarkt. 29 Grundlegend EuGH, Urt. v. 16.10.2007, Rs. C-411/05, Palacios de la Villa, Rn. 68–71; EuGH, Schluss-
anträge des GA Mazák v. 15.2.2007, Rs. C-411/05, Palacios de la Villa, Rn. 36; v. Danwitz, Rechtswirkungen von Richtlinien in der neueren Rechtsprechung des EuGH, JZ 2007, S. 697 (705); siehe auch Temming (Fn. 7), S. 474 m. w. N. 30 Vgl. die Fn. 7. 31 Vgl. die Ausführungen unter Rn. 30 ff. (B. III. 2.). 32 BVerfGE 142, 353 (385 f.) – Bedarfsgemeinschaft (2016). 33 Bspw. BVerfGE 142, 353 – Bedarfsgemeinschaft (2016); BVerfGE 88, 87 – TSG (1993); BVerfGE 60, 123 – TSG (1982); BVerfG, Beschl. v. 26.8.1993, 2 BvR 1439/93 – Bürgermeister; BVerfG, Beschl. v. 25.7.1997, 2 BvR 1088/97– Bürgermeister; Mager (Fn. 26), S. 1075 ff.; Nussberger, Altersgrenzen als Problem des Verfassungsrechts, JZ 2002, S. 524; Mann, Altersdiskriminierung durch gesetzliche Höchstaltersgrenzen – Zur Verfassungswidrigkeit berufsbeendender Altersgrenzen, 2006. Felipe Temming
B. Zur Dogmatik des Verbots der Altersdiskriminierung
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tersdiskriminierung im allgemeinen Zivilrecht liegen, weil vor allem das AGG mit seinen §§ 19 bis 21 auch in diesem Zusammenhang zu beachten ist. Daraus ergibt sich folgende Darstellung: Zunächst wird die Dogmatik des unions- 11 rechtlichen Verbots der Altersdiskriminierung allgemein skizziert (nachfolgend unter B.). Danach werden praxisrelevante Konstellationen mit Altersrelevanz im Arbeitsrecht untersucht (nachfolgend unter C.). Sodann werden abschließend Rolle und Bedeutung des Verbots der Altersdiskriminierung im allgemeinen Zivilrecht angesprochen (nachfolgend unter D.).
B. Zur Dogmatik des Verbots der Altersdiskriminierung I. Vergleichstatbestand
Ausgangspunkt für die Frage, ob eine verbotene Benachteiligung wegen des Alters vorliegt, 12 ist ein Vergleich.34 Dafür müssen innerhalb eines Vergleichsrahmens Vergleichsgruppen gebildet werden. Dies bedeutet bspw. für das Arbeitsrecht: Der relevante Vergleichsrahmen setzt sich im Regelfall aus Arbeitnehmern oder ihnen gleichgestellten Personen zusammen.35 Einschränkend tritt hinzu, dass es sich um Arbeitnehmer handeln muss, die derselben Regelungsgewalt unterfallen. Es muss sich also bspw. um Arbeitnehmer desselben Arbeitgebers handeln oder um Arbeitnehmer, die der Regelungsgewalt bestimmter Tarifvertragsparteien oder eines Mitgliedstaates unterfallen.36 Innerhalb dieses Vergleichsrahmens lassen sich denkbar viele Sachverhalte bilden, die 13 miteinander verglichen werden können. Die Zusammensetzung dieser Vergleichsgruppen richtet sich nach der tatbestandlichen Reichweite der einschlägigen arbeitsrechtlichen Regelung37 bzw. Einzelmaßnahme. Für die Vergleichbarkeit wird das Merkmal des Lebensalters dann als unwesentlich fingiert. Ist sodann eine unterschiedliche Behandlung trotz des Vorliegens einer „vergleichbaren Situation“ – vgl. den Wortlaut in Art. 2 Abs. 2 lit. a RL 2000/78/EG – festzustellen, muss diese gerechtfertigt werden. Das ist später auf der Ebene der Rechtfertigung zu prüfen. Freilich ist darauf hinzuweisen, dass bereits das Tatbestandsmerkmal der vergleichbaren Situation eine gewisse Einbruchstelle für Fragen der Rechtfertigung bietet.38 Da das Verbot der Altersdiskriminierung jegliches Alter schützt, müssen die sich in den Vergleichsgruppen befindlichen Arbeitnehmer kein bestimmtes Lebensalter aufweisen. Wegen der Vielgestaltigkeit von Sachverhalten wird es oft auf die sogenannte „hypothetische Vergleichsperson“ ankommen. 34 Allgemein dazu → Sacksofsky, § 14 Rn. 45 ff. 35 Zu letzteren vgl. § 6 AGG (geschützt werden unter anderem Bewerber und Bewerberinnen oder zu
ihrer Berufsbildung Beschäftigte); das AGG verwendet den Oberbegriff des Beschäftigten.
36 Zu Grenzkonstellationen in Konzernsachverhalten vgl. Temming, Der vertragsbeherrschende Dritte,
2015, S. 1171–1174. 37 Gesetz, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Vertrag. 38 EuGH, Urt. v. 1.4.2008, Rs. C-267/06, Maruko, Rn. 72.
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§ 10 Alter als Diskriminierungskategorie
II. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung 1. Unmittelbare Diskriminierung 14 Nach der allgemeinen Struktur unionsrechtlicher Diskriminierungsverbote (hier Art. 2
Abs. 2 lit. a RL 2000/78/EG), nach denen sich auch das AGG richten muss, liegt eine unmittelbare Altersdiskriminierung vor, wenn eine Person wegen ihres Alters in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.39 Geht es um eine abstrakte Regelung gleich welchen Ranges, betrifft die unmittelbare Altersdiskriminierung die Anordnung unterschiedlicher Rechtsfolgen für die Vergleichsgruppen sowie die ungleichen Auswirkungen. In Bezug auf eine (Einzel-)Maßnahme, insbesondere des Arbeitgebers, kann es nur um einen einzigen Sachverhalt gehen, bspw. eine diskriminierende Anweisung, Versetzung, Abmahnung oder Kündigung. Deshalb muss dieser Sachverhalt mit einem anderen, anders behandelten Sachverhalt verglichen werden. Dabei gewährleisten unionsrechtliche Diskriminierungsverbote, dass sowohl vergangene, aktuelle als auch hypothetische Sachverhalte miteinander verglichen werden können, vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. a RL 2000/78/EG.40 15 Ist eine unmittelbare Diskriminierung festgestellt worden, muss daran anschließend auf Grundlage einer Verhältnismäßigkeitsprüfung untersucht werden, ob diese gerechtfertigt werden kann oder nicht (unter III.).41 Dreh- und Angelpunkt ist in diesem Zusammenhang die richterliche Kontrollintensität, die das Gericht i. R. d. Überprüfung anwendet oder unter Umständen vom Normgeber vorgeprägt ist (unter III. 2.). 2. Mittelbare Diskriminierung 16 Eine mittelbare Diskriminierung und damit eine mittelbare Altersdiskriminierung liegt
dann vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen eines bestimmten Alters gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich, so Art. 2 Abs. 2 lit. b RL 2000/78/EG.42 Vorsatz oder Absicht sind nach Ansicht des EuGH nicht erforderlich.43 Aus seiner neueren Rechtsprechung lässt sich zudem entnehmen, dass er die reine Betroffenheit im Hinblick auf eines der verpönten Merkmale genügen lässt, mithin einem materiellen Diskriminierungsverständnis den Vor-
Allgemein dazu → Sacksofsky, § 14 Rn. 35 ff.; → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 102 ff. Dazu → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 43 ff. Dazu → Reimer, § 17 Rn. 35 ff. Allgemein dazu → Sacksofsky, § 14 Rn. 101 ff; vgl. bereits EuGH, Urt. v. 15.10.1969, Rs. 15/69, Württembergische Milchverwertung-Südmilch AG v. Salvatore Ugliola, Rn. 6; EuGH, Urt. v. 12.2.1974, Rs. 152/73, Giovanni Maria Sotgiu, Rn. 11. 43 EuGH, Urt. v. 7.2.1991, Rs. C-184/89, Nimz, Rn. 12; Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 17. Aufl. 2017, Art. 157 EGV Rn. 17; Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 240; wie hier wohl auch Roloff (Fn. 8), § 3 AGG Rn. 12, 17. 39 40 41 42
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B. Zur Dogmatik des Verbots der Altersdiskriminierung
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zug gegenüber einem vorzugswürdigen formellen gegeben hat.44 Damit können auch echt unterschiedslos ausgestaltete Regeln unter Art. 2 Abs. 2 lit. b RL 2000/78/EG fallen (Stichwort: Neutralitätspolitik eines Arbeitgebers mit Blick auf das Tragen religiöser Symbole). Das ist insoweit von Bedeutung, weil jede rechtliche Regelung differenzieren muss. Kann eine Benachteiligung indes sachlich gerechtfertigt werden, liegt bereits keine mittelbare Diskriminierung vor, vgl. den Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 lit. b RL 2000/78/EG. Der Aspekt der Rechtfertigung ist damit Bestandteil des Tatbestandes der mittelbaren Diskriminierung. Um die Rechtfertigung einer Benachteiligung aufgrund scheinbar neutraler Vorschrif- 17 ten, Kriterien oder Verfahren zu überprüfen, ist zweistufig vorzugehen: Zunächst ist nach Rechtfertigungsgründen zu suchen, die einem legitimen Ziel dienen. Darüber hinaus müssen sie objektiver Natur sein. Generell scheidet dafür das verbotene Differenzierungskriterium selbst aus. Ebenso wenig dürfen die Rechtfertigungsgründe mit dem verbotenen Differenzierungsgrund im Zusammenhang stehen. Sodann werden diese Rechtfertigungsgründe einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen. Das führt zu dem soeben bereits getätigten Hinweis bzgl. der Prüfungsintensität (vgl. 18 oben unter II. 1.). Ruft man sich den Hauptzweck der mittelbaren Diskriminierung in Erinnerung – Errichtung eines Umgehungsverbots zugunsten der unmittelbaren Diskriminierung45 – muss die Verhältnismäßigkeitsprüfung in beiden Fällen dieselbe Intensität besitzen. Es ist daher vorzugswürdig, dass die richterliche Kontrollintensität parallel laufen sollte.46 Das gilt auch für mittelbare Benachteiligungen wegen des Alters.47 III. Rechtfertigung
Benachteiligungen hinsichtlich des Lebensalters aufgrund neutraler Kriterien können 19 ebenso wie unmittelbare Altersdiskriminierungen grundsätzlich gerechtfertigt werden.48 Im Ergebnis kommt es auf die Art und Weise an, wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprüft wird.49
44 EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, Achbita, Rn. 34 mit Anmerkung Schwarze, JA 2017, S. 943; hier-
zu Temming, Altersdiskriminierung im Arbeitsleben, 2008, S. 439 ff.; siehe auch BAG, NZA 2019, S. 700 (704). 45 Plötscher (Fn. 43), S. 61 m. w. N.; Preis, Diskriminierungsschutz zwischen EuGH und AGG (Teil II), ZESAR 2007, S. 308 (311). 46 Rossi, Das Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EGV, EuR 2000, S. 197 (213 f.); Temming (Fn. 7), S. 459 f. m. w. N.; a. A. Plötscher (Fn. 43), S. 293 f.; v. Danwitz (Fn. 29), S. 705; Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung, 2008, S. 53. 47 A. A. bspw. Schwarze (Fn. 44), S. 944; Mohr, in: Franzen/Gallner/Oetker (Hrsg.), Europäisches Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2022, Art. 2 RL 2000/78/EG Rn. 39; siehe auch für unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe in Bezug auf Art. 4 und Art. 6 RL 2000/78/EG bspw. Wiedemann/Thüsing, Der Schutz älterer Arbeitnehmer und die Umsetzung der Richtlinie 2000/78/EG, NZA 2002, S. 1234 (1238). 48 Allgemein dazu → Reimer, § 17 Rn. 5; siehe auch Preis/Temming (Rn. 19), S. 194 ff. 49 Dazu → Reimer, § 17 Rn. 109 ff. (wenngleich nicht unkritisch). Felipe Temming
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§ 10 Alter als Diskriminierungskategorie
1. Rechtfertigungstatbestände 20 Von großer Bedeutung sind wegen ihrer präjudiziellen Wirkkraft die Rechtfertigungstat-
bestände der RL 2000/78/EG.50 Diese Richtlinie führt mehrere Rechtfertigungstatbestände auf. Die Rechtfertigungsmöglichkeit in Art. 2 Abs. 2 lit. b RL 2000/78/EG ist bereits bei den Ausführungen zur mittelbaren Altersdiskriminierung angesprochen worden. Im arbeitsrechtlichen Zusammenhang interessieren vor allem Art. 2 Abs. 5, Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 RL 2000/78/EG.
a) Art. 2 Abs. 5 RL 2000/78/EG 21 Für staatliche unmittelbare Benachteiligungen wegen des Alters ist der ordre public-Vor-
behalt in Art. 2 Abs. 5 RL 2000/78/EG von Relevanz. Der EuGH versteht diese Vorschrift nicht als sachliche Schutzbereichsbestimmung, sondern als Rechtfertigungstatbestand. Das hat das Urteil Petersen gezeigt, welches die Zulässigkeit der mittlerweile aufgehobenen Altersgrenze von 68 Jahren in der gesetzlichen Krankenversicherung gem. § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V a. F. betraf.51 Private dürften sich auf diese Rechtfertigungsmöglichkeit wohl nicht berufen können, denn sie erlassen keine „im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen“. Die Vorschrift ist ferner eng auszulegen, was der EuGH in der Entscheidung Prigge zur tarifvertraglich festgesetzten Altersgrenze von 60 Jahren für Piloten verdeutlichte.52 Wenn überhaupt müssen Sozialpartner von den Mitgliedstaaten hinreichend konkret ermächtigt werden, Maßnahmen i. S. v. Art. 2 Abs. 5 RL 2000/78/EG zu treffen. b) Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG
22 Die Mitgliedstaaten können gem. Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG vorsehen, dass eine Un-
gleichbehandlung wegen des Alters nach Art. 2 Abs. 2 RL 2000/78/EG keine Diskriminierung darstellt, wenn das Alter aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.53 Thematisch geht es um diejenigen Fälle, in denen es um das Wesen der beruflichen Tätigkeit geht und entweder alle Mitglieder dieser Altersgruppe das in Frage stehende Charakteristikum teilen oder eine individuelle Leistungsbewertung unpraktikabel, vielleicht sogar unmöglich ist. Weiterhin werden in diesem Bereich für den 50 Vgl. die Ausführungen unter Rn. 9 (A.) und Fn. 19. 51 EuGH, Urt. v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Domnica Petersen, Rn. 49 ff. mit Anmerkung Röbke, EuZW
2010, S. 145 (145 f.) und Mestre, European Law Reporter 2010, S. 88; Rixen, Europas Abschied von Altersgrenzen für Vertragsärzte?, ZESAR 2010, S. 249. 52 EuGH, Urt. v. 13.9.2011, Rs. C-447/09, Prigge; Temming, Diskriminierende Beendigung der Arbeitsverträge von Piloten bei Vollendung des 60. Lebensjahres, EuZA 2012, S. 205. 53 Vgl. BAG, NZA 2017, S. 310; allgemein dazu → Reimer, § 17 Rn. 120 ff.; im US-amerikanischen Antidiskriminierungsrecht entspricht das der bona fide occupational qualification-Einrede (BFOQ defense); der Wortlaut von Art. 4 RL 2000/78/EG ist unglücklich formuliert, weil er sowohl die unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierung erfasst. Meines Erachtens möchte er systematisch nur die unmittelbare Diskriminierung umfassen, vgl. auch Temming (Fn. 7), S. 505 ff., 439 ff., 460 ff. Felipe Temming
B. Zur Dogmatik des Verbots der Altersdiskriminierung
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europäischen Rechtsraum Fallgruppen diskutiert, in denen es um die Wahrung der Authentizität geht (bspw. Theaterrollen).54 c) Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG
Weit wichtiger für unmittelbare Altersdiskriminierungen ist die speziell dafür vorgesehene Rechtfertigungsmöglichkeit in Art. 6 RL 2000/78/EG. Gem. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 RL 2000/78/EG können die Mitgliedstaaten ungeachtet des Art. 2 Abs. 2 RL 2000/78/EG vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und i. R. d. nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.55 Rein private bzw. unternehmerische Interessen des Arbeitgebers sind i. R. d. Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG nicht zu berücksichtigen; die Trennlinie ist schwer zu ziehen.56 Art. 6 Abs. 1 Satz 2 lit. a bis lit. c RL 2000/78/EG führt einen Beispielkatalog bestehend aus drei Gruppen auf. Näher aufgeschlüsselt bedeutet er Folgendes: Die erste Gruppe nennt drei abstrakte Maßnahmen, die insgesamt betrachtet alle Stadien des Arbeitsverhältnisses umfassen, und kombiniert jeweils eine dieser Maßnahmen mit einem legitimen Ziel, das hier am Ende genannt wird: Erstens die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung, zweitens die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur beruflichen Bildung sowie drittens die Festlegung besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen (einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung), um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen. Die zweite Gruppe nennt ebenfalls nur abstrakte Maßnahmen, die zum einen den Zugang zur Beschäftigung und zum anderen das Arbeitsverhältnis in seiner Ausführungsphase betreffen. Ein legitimes Ziel wird dabei überhaupt nicht erwähnt. Im Einzelnen geht es um erstens die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung sowie zweitens die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile. Die dritte Gruppe schließlich nennt eine konkrete Maßnahme und zwei legitime Ziele. Beide Male geht es um den Zugang zur Beschäftigung und es handelt sich dabei um erstens 54 Schmidt/Senne, Das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und seine Bedeutung
für das deutsche Arbeitsrecht, RdA 2002, S. 80 (83); Wiedemann/Thüsing (Fn. 47), S. 1237 f.; siehe auch Linsenmaier, Das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, RdA-Sonderbeilage 5 (2003), S. 22 (26, 28). 55 Ausführlich zu dem entsprechenden nationalen speziellen Rechtfertigungstatbestand des § 10 AGG Schlachter (Fn. 43), § 10 AGG Rn. 1 ff.; Roloff (Fn. 8), § 10 AGG Rn. 1, 10 ff.; BT-Drs. 16/1780, S. 35 f. 56 EuGH, Urt. v. 5.3.2009, Rs. C-388/07, Age Concern England, Rn. 46, 51; siehe auch Sprenger, Zulässigkeit sozialpolitisch motivierter Ungleichbehandlung mit unmittelbarem Altersbezug, EuZA 2009, S. 355 (355 ff.); siehe auch BAG, NZA-RR 2014, S. 185; vgl. auch die Ausführungen unter Rn. 22 (C. III. 1. b)). Felipe Temming
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die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes und zweitens die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand. 27 Die Maßnahmen der ersten Gruppe lassen sich zugleich als Fälle positiver Diskriminierung auffassen.57 Denn die Förderung und der Schutz bestimmter Gruppen von Arbeitnehmern wirken sich benachteiligend für andere Gruppen von Arbeitnehmern aus, die hiervon ausgeschlossen sind.58 Die zweite Gruppe nennt zunächst überhaupt kein legitimes Ziel. Ferner sollen mit der Beschäftigung verbundene Vorteile auch dann möglich sein, wenn nur an das Lebensalter angeknüpft wird. Das ist insofern bemerkenswert, weil begünstigende Senioritätsregelungen grundsätzlich entweder allein auf die Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit abstellen oder aber mit dem Lebensalter kombiniert werden. Versteht man unter Vorteil auch altersspezifischen Schutz, besteht freilich ein enger Zusammenhang mit der ersten Gruppe. Die dritte Gruppe schließlich will konkret Höchstaltersgrenzen bei der Einstellung legitimieren und nennt dafür zwei legitime Ziele. 28 Art. 6 Abs. 2 RL 2000/78/EG ist schließlich für das Recht der betrieblichen Altersvorsorge maßgeblich von Bedeutung. Darauf sei an dieser Stelle nur hingewiesen.59 d) Art. 7 RL 2000/78/EG 29 Nach Art. 7 RL 2000/78/EG hindert der Gleichbehandlungsgrundsatz die Mitgliedstaaten
nicht daran, zur Gewährleistung der völligen Gleichstellung im Berufsleben spezifische Maßnahmen beizubehalten oder einzuführen, mit denen Benachteiligungen unter anderem wegen des Alters verhindert oder ausgeglichen werden. Diese Vorschrift ermöglicht positive Diskriminierungen im Hinblick auf alle verbotenen Differenzierungen und entspricht inhaltlich Art. 157 Abs. 4 AEUV. Indes lassen sich positive Maßnahmen in Bezug auf das Lebensalter jedoch auch mit Hilfe des Art. 6 Abs. 1 Satz 2 lit. a) RL 2000/78/EG grundsätzlich rechtfertigen, weil sie unter die Förderung bzw. den Schutz von Arbeitnehmern subsumiert werden können (siehe oben).
57 Zum Begriff des älteren Arbeitnehmers siehe BAG, NZA 2012, S. 803: verneint bis zum 40. Lebensjahr;
vergleicht man diese Maßnahmen mit denjenigen auf dem Feld der Geschlechterdiskriminierung, befindet man sich in dem Bereich, den Art. 3 RL 2006/54/EG bzw. Art. 157 Abs. 4 AEUV (ex-Art. 141 Abs. 4 EG) regeln; allgemein dazu → Schuler-Harms, § 16 Rn. 29 ff. 58 Man könnte meinen, dass Voraussetzung für eine positive Maßnahme sei, dass die Förderung bzw. der Schutz nicht durch die einseitige Absenkung des Bestandsschutzes erreicht wird; das ist die Philosophie der Mangold-Entscheidung, die noch der Kücükdeveci-Entscheidung zugrunde lag. Freilich hat sich der EuGH in einer jüngeren Entscheidung unausgesprochen davon abgewandt, vgl. EuGH, Urt. v. 19.7.2017, Rs. C-143/16, Abercrombie & Fitch Italia Slr. 59 Vgl. dazu die Ausführungen unter Rn. 59 (C. II. 5.); zu einer möglichen Geschlechterdiskriminierung i. R. d. betrieblichen Altersvorsorge vgl. allgemein zur Diskriminierung aufgrund des Geschlechts → Markard, § 6 Rn. 80. Felipe Temming
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2. Kontrolldichte i. R. d. Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
Die Wirkkraft des Verbotes der Altersdiskriminierung hängt von der gerichtlichen Kon- 30 trolldichte ab, da sie den Einschätzungsspielraum von Mitgliedstaaten und Privaten vorgibt,60 der ihnen bei der Ausgestaltung von Regelungen noch verbleibt, wenn sie altersdifferenzierende Regelungen im Arbeitsrecht erlassen.61 Entgegen der herrschenden Meinung62 sprechen die besseren Argumente dafür, bei Unterscheidungen nach dem Lebensalter streng, bisweilen sogar sehr streng zu kontrollieren.63 Denn erstens handelt es sich beim Alter um ein höchstpersönliches Kriterium, das der oder die Einzelne nicht beeinflussen kann. Zweitens ist im Wirtschaftsleben der Aspekt der Berufsfreiheit und der beruflichen Selbstentfaltung betroffen, so bspw. im Arbeitsrecht. Dieser immaterielle Gesichtspunkt ist persönlichkeitsrelevant und korrespondiert mit dem zentralen Stellenwert, welcher der Arbeit in der Wertstruktur einer modernen Gesellschaft zukommt.64 Und schließlich spricht drittens seine menschenrechtliche Qualität dafür, möglicherweise die Kontrolldichte abmildernde Umstände, bspw. institutionelle Gesichtspunkte oder ein bestimmtes Rollenverständnis des Gerichts, grundsätzlich unberücksichtigt zu lassen. Dessen ungeachtet ist festzustellen, dass die vom EuGH auf dem Gebiet der Altersdis- 31 kriminierung eingeschlagene Linie nicht einheitlich ist.65 Zu Recht sind seine einschlägigen Urteile als „Schlangenlinien“ beschrieben worden.66 Eigentlich verfügt der EuGH über die notwendigen Instrumente, das Verbot der Altersdiskriminierung mit praktischer Wirksamkeit zu versehen. Wenn er denn möchte, kann er es ebenso streng überprüfen wie bspw. das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Dann ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung wirksam. Zusätzlich kann er Altersdiskriminierungen auch einem Kohärenzgebot unterziehen. Für diese strenge Linie – wirksame bzw. konsequente Verhältnismäßigkeitsprüfung und Kohärenzgebot – stehen insbesondere die Urteile Mangold, Hütter und Kücükdeveci.67 Für das Gegenteil und damit die vollständige Zurücknahme der 60 Das Handeln letzterer wird ja im Arbeitsrecht an den unionsrechtskonform auszulegenden §§ 8, 9, 10
AGG oder bspw. § 75 Abs. 1 BetrVG gemessen.
61 Zu diesem Gesichtspunkt EuGH, Urt. v. 22.11.2005, Rs. C-144/04, Mangold; EuGH, Urt. v. 16.10.2007,
Rs. C-411/05, Palacios de la Villa; EuGH, Urt. v. 12.10.2010, Rs. C-45/09, Rosenbladt; EuGH, Urt. v. 6.12.2012, Rs. C-152/11, Odar; EuGH, Urt. v. 21.7.2011, Rs. C-159/10, Rs. C-160/10, Fuchs und Köhler; BAG, NZA 2015, S. 297: zur Darlegungslast bei freiwilligen Leistungen; Roloff (Fn. 8), § 10 AGG Rn. 2, 7 f.: Differenzierung des Gestaltungsspielraums zwischen Mitgliedstaaten und Sozialpartner einerseits und Arbeitgeber andererseits. 62 Statt vieler EuGH, Schlussanträge des GA Mazák v. 15.2.2007, Rs. C-411/05, Palacios de la Villa, Rn. 36; v. Danwitz (Fn. 29), S. 705. 63 Ausführlich Temming (Fn. 7), S. 473–484 m. w. N.; vgl. hierzu die einleitenden Ausführungen unter Rn. 3 (A.) mit Blick auf die sogenannte „neue Formel“ i. R. d. Art. 3 Abs. 1 GG. 64 Vgl. i. R. d. Kündigungsschutzes BAG, NZA 1985, S. 702 (703 ff.). 65 Statt vieler Roloff (Fn. 8), § 10 AGG Rn. 8 f. 66 Preis, Schlangenlinien in der Rechtsprechung des EuGH zur Altersdiskriminierung, NZA 2010, S. 1323. 67 EuGH, Urt. v. 22.11.2005, Rs. C-144/04, Mangold; EuGH, Urt. v. 18.6.2009, Rs. C-88/08, David Hütter, Rn. 46, 48, 49 mit zustimmender Anmerkung Potz, Sozialpolitik: Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf/Altersdiskriminierung, ZESAR 2009, S. 495; Risak, Altersuntergrenze für entgeltrelevante Berufserfahrung als Altersdiskriminierung, EuZA 2010, S. 244; siehe auch Sagan, EuGH: Altersuntergrenzen nach „Hütter“, BB 2009, S. 1811 (1814 f.); Krömer, Coming of Age: The Justification Test in Age Felipe Temming
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Verhältnismäßigkeitsprüfung stehen die Urteile Palacios und Hörnfeldt, die die allgemeine Altersgrenze betrafen und diese für zulässig erklärten.68 Ließ sich auf dieser Grundlage vertreten, dass der EuGH vor dem Hintergrund des Verbots der Altersdiskriminierung für eine grundsätzlich homogene und damit altersneutrale Behandlung von Arbeitnehmern wenigstens innerhalb der möglichen Lebensarbeitszeit steht,69 zeigte die Entscheidung Abercrombie & Fitch Italia aus dem Jahre 2017, dass der EuGH auch die einseitige Absenkung des Bestandsschutzes aufgrund des Alters zum Nachteil einer bestimmten Arbeitnehmergruppe innerhalb der akzeptierten Spanne der Lebensarbeitszeit für gerechtfertigt hält.70 Erklären lässt sich diese widersprüchliche Rechtsprechung wohl damit, dass der EuGH 32 nach seiner Entscheidung Mangold Angst vor der eigenen Courage bekommen zu haben scheint. Denn auf Grundlage seiner strengen Linie aus der Mangold-Entscheidung hätte er in Zeiten anhaltender Kritik an seinem Mangold-Urteil die allgemeine Altersgrenze kippen müssen; die Breitenwirkung eines solchen Urteils wäre immens gewesen, weil sich in fast allen Arbeitsverhältnissen eine solche Klausel befindet (zumindest in Deutschland). Allgemein betrachtet hätte es dem EuGH die Möglichkeit eröffnet, über das Antidiskriminierungsrecht weitreichend in das rechtspolitische Feld der Arbeits- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten einzugreifen. Die größtenteils heftige Diskussion um diese Entscheidung, die in Form von ungewöhnlicher Richterschelte – wenig überzeugend – gar als ultra vires Akt des EuGH angesehen wurde, hat die Richter des EuGH höchstwahrscheinlich nicht unbeeinflusst gelassen. Wenn sie das Verbot der Altersdiskriminierung in der Folgezeit haben greifen lassen, dann eher in Randbereichen. Das lässt sich auch im Hinblick auf die praxisrelevante, indes vertretbar als altersdiskriminierend zu bezeichnende Sozialplanrechtsprechung in Dänemark und Deutschland aufzeigen, bezüglich derer der EuGH auch „Rückzugstendenzen“ zeigt.71 Im Ergebnis dürfte es somit auf die konkrete streitige altersDiscrimination (C-88/08 Hütter), European Law Reporter 2009, S. 301 ff.; EuGH, Urt. v. 19.1.2010, Rs. C-555/07, Kükükdeveci; siehe zum Kohärenzgebot auch EuGH, Urt. v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Domnica Petersen, Rn. 60–62; zum deutschen Gebot der Folgerichtigkeit und Systemgerechtigkeit vgl. bspw. BVerfGE 122, 210 (212 ff.) – Gekürzte Pendlerpauschle (2008); BVerfG, Beschl. v. 14.2.2005, 2 BvL 1/05. Rn. 48 – Südschleswigscher Wählerverband; BVerfG, Beschl. v. 10.12.1999, 2 BvR 182/92 – Medizinischer Fußpfleger; BVerfGE 85, 238 (245 ff.) – Kraftdroschken (1992); BVerfGE 81, 156 – Erstattung von Sozialleistungen (1981); BVerfGE 78, 104 (121 ff.) – Prozeßkostenhilfe (1988); ausführlich dazu Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 181 Rn. 222 ff.; Peine, Systemgerechtigkeit, 1985; Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976; Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik?, AöR 136 (2011), S. 578 ff. 68 EuGH, Urt. v. 16.10.2007, Rs. C-411/05, Palacios de la Villa, Rn. 75 mit Anmerkung Kocher, RdA 2008, S. 238 und Kamanabrou, Vereinbarkeit von Pensionsgrenzen mit Europarecht, EuZA 2008, S. 251; EuGH, Urt. v. 5.7.2012, Rs. C-141/11, Hörnfeldt. 69 Von der ersten Ausbildung, Lehre oder Tätigkeit an (unter Berücksichtigung des Verbots der Kinderarbeit, vgl. Art. 32 GRCh) bis zum Ausscheiden aufgrund der allgemeinen Altersgrenze, also gut vier bis fünf Jahrzehnte, siehe auch BAG, NZA 2019, S. 700 (703): typisiert mindestens 40 Jahre. 70 EuGH, Urt. v. 19.7.2017, Rs. C-143/16, Abercrombie & Fitch Italia Slr.: Zulässigkeit von befristeten Gelegenheitsarbeitsverträgen mit unter 25-Jährigen; vgl. auch die Bemerkung in Fn. 58. 71 Vgl. die Ausführungen unter Rn. 71 ff. (C. III. 2.). Felipe Temming
B. Zur Dogmatik des Verbots der Altersdiskriminierung
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diskriminierende Klausel oder Maßnahme ankommen, um ihre (Un-)Zulässigkeit am Maßstab des unionsrechtlichen Verbots der Altersdiskriminierung zu prognostizieren.72 IV. Rechtsfolgen bei einem Verstoß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung
Verstößt ein Verpflichtungsadressat gegen ein Diskriminierungsverbot, ist im Unterschied 33 zu einem Verstoß gegen ein Freiheitsrecht zu beachten, dass aufgrund der besonderen Struktur von Gleichheitsrechten die erste Gruppe wie die zweite, die zweite wie die erste oder beide Gruppen auf eine neue Weise behandelt werden kann (sogenannte Entscheidungstrias bei einem Verstoß gegen ein Gleichheitsrecht). Grundsätzlich sind zwei Fallkonstellationen von Bedeutung: Eine gleichheitswidrige Benachteiligung und ein gleichheitswidriger Ausschluss einer Begünstigung. 1. Gleichheitswidrige Benachteiligung
Verstößt eine belastende gleichheitswidrige Benachteiligung in einem mitgliedstaatlichen 34 Gesetz gegen das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung, so führt dies zur Unanwendbarkeit dieser Vorschrift. Mit Blick auf das Handeln Privater haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass die mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht zu vereinbarenden Bestimmungen in Arbeits- und Tarifverträgen, Betriebsordnungen und Statuten der freien Berufe und der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen für nichtig erklärt werden oder erklärt werden können oder geändert werden. Dies ist mit § 7 AGG und § 75 Abs. 1 BetrVG jeweils i. V. m. § 134 BGB geschehen; für das allgemeine Zivilrecht folgt die Unwirksamkeit aus § 21 Abs. 4 AGG i. V. m. § 134 BGB.73 2. Gleichheitswidrige Vorenthaltung einer Begünstigung
Bei einer gleichheitswidrigen Vorenthaltung einer Begünstigung ordnet die RL 2000/78/ 35 EG keine konkrete Rechtsfolge an. Freilich steht ein Verstoß gegen sie aber fest. Der EuGH ist auf dem Gebiet des europäischen Arbeitsrechts im Grundsatz recht pragmatisch. Er gewährt den so genannten Anspruch auf „Anpassung nach oben“. Das bedeutet, die Begünstigung – also das einzig gültige Bezugssystem – ist auch auf die benachteiligte Gruppe auszudehnen und zwar bis zur – fakultativen – Neuausgestaltung der Maßnahme auch mit Wirkung für die Vergangenheit.74 Das gilt nur dann nicht, wenn der EuGH wegen des 72 Bspw. EuGH, Urt. v. 12.1.2010, Rs. C-229/08, Colin Wolf, Rn. 41 mit Anmerkung Röbke, EuZW 2010,
S. 145 und Mestre, European Law Reporter 2010, S. 88: Zulässigkeit eines Höchstalters von 30 Jahren für die Einstellung in den mittleren Dienst bei der Berufsfeuerwehr für Brandbekämpfung und Personenrettung; EuGH, Urt. v. 13.9.2011, Rs. C-447/09, Prigge: Unzulässigkeit einer besonderen Altersgrenze für Piloten im gewerblichen Personenverkehr; zu Erfahrungssätzen bezüglich der Belastbarkeit älterer Arbeitnehmer siehe auch BAG, NZA 2019, S. 634; BAG, NZA 2017, S. 339; BAG, NZA 2017, S. 267: zum Erholungsbedürfnis älterer Arbeitnehmer mit Blick auf Belastbarkeit. 73 Weitere Ansprüche ergeben sich i. R. d. AGG insbesondere aus § 15 AGG und § 21 Abs. 1 bis Abs. 3 AGG. 74 Mitgliedstaaten: bspw. EuGH, Urt. v. 2.2.1989, Rs. 186/87, Ian Willam Cowan, Rn. 11, 20; EuGH, Urt. Felipe Temming
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Grundsatzes der Rechtssicherheit die zeitliche Wirkung seines Urteils gem. Art. 264 Abs. 2 AEUV begrenzt.75 Der Anspruch auf „Anpassung nach oben“ ergibt sich unmittelbar aus dem Unionsrecht. Einschlägiges Fallmaterial betrifft insbesondere Art. 2 RL 2006/54/EG76 und Art. 157 Abs. 1 AEUV. Aus der neueren Rechtsprechung des EuGH lässt sich schlussfolgern, dass sich entsprechende Ansprüche auch unmittelbar gegen Private richten können, namentlich Arbeitgeber.77 36 Zu überlegen ist, ob diese oben genannte Rechtsprechung bei altersdiskriminierenden Begünstigungsausschlüssen unbesehen übernommen werden sollte.78 Das betrifft insbesondere Vergütungssysteme oder vergleichbare Ordnungen, die insgesamt bzw. als solche altersdiskriminierend sind. I. R. d. Verbotes der Altersdiskriminierung sprechen vor allem zwei Gründe dagegen, den Anspruch auf „Anpassung nach oben“ für den gleichheitswidrigen Ausschluss einer Begünstigung im Sinne eines Automatismus anzuwenden. Erstens besitzt ein Arbeitnehmer die Möglichkeit, beliebige Vergleichsgruppen hinsichtlich des Lebensalters zu bilden. Das könnte dazu führen, dass er die für sich jeweils günstigste Vergleichsgruppe wählt, um seinen Anspruch zu maximieren (bspw. die höchste Altersklasse mit der höchsten Endvergütung). Diese Wahlmöglichkeit resultiert aus der dynamischen Struktur dieses Diskriminierungsverbotes. Denn es schützt jegliches Lebensalter. Zweitens tritt erschwerend hinzu, dass überlegt werden muss, worauf sich eine – gegebenenfalls vom EuGH erkannte – Unanwendbarkeit beziehen soll. Denn nicht nur ein Teil, sondern das komplette System oder die vollständige Ordnung ist bei einem Verstoß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung unionsrechtswidrig und folglich unanwendbar. Es gibt in einem solchen Fall dann kein gültiges, unionsrechtskonformes Bezugssystem mehr.79 Auch dies ist ein Unterschied zu den Fällen i. R. d. Art. 157 Abs. 1 AEUV. Dort bleiben wichtige Bestandteile bspw. von Vergütungs- oder Betriebsrentensystemen weiterhin bestehen. Statt der diskriminierenden Regel wird diejenige angewandt, die für die übrigen – zumeist männlichen – Arbeitnehmer gilt. 37 Der Anspruch auf „Anpassung nach oben“ eignet sich daher besser für ein binäres Differenzierungskriterium. Als ein regelmäßig heranzuziehendes Prinzip ist es für das v. 7.9.2006, Rs. C-81/05, Cordero Alonso, Rn. 46; Tarifvertragsparteien: bspw. EuGH, Urt. v. 27.6.1990, Rs. C-33/89, Maria Kowalska, Rn. 20; EuGH, Urt. v. 7.2.1991, Rs C-184/89, Nimz, Rn. 18, 20; Arbeitgeber: grundlegend EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Rn. 14 f. 75 Bspw. EuGH, Urt. v. 17.5.1990, Rs. 262/88, Douglas Harvey Barber, Rn. 40 ff. 76 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung) v. 5.7.2006, ABl. 2006 L 204/23. 77 EuGH, Urt. v. 6.11.2018, Rs. C-569/16, C-570/16, Bauer und Wilmeroth, Rn. 87, 92. 78 Warnend Preis (Fn. 45), S. 315. 79 Vgl. zu dieser Problematik i. R. d. Art. 157 Abs. 1 AEUV Langenfeld, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand: Januar 2015, Art. 157 AEUV Rn. 73 a. E.; Schlachter, in: Oetker/Preis (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, Stand: November 2019, B 4100, Rn. 60 f.; dies., Wege zur Gleichberechtigung, 1993, S. 213–217; allgemeiner Wiedemann, Tarifvertrag und Diskriminierungsschutz, NZA 2007, S. 950 (953); ebenso Lingemann/Gotham, AGG – Benachteiligungen wegen des Alters in kollektivrechtlichen Regelungen, NZA 2007, S. 663 (667); Hanau, Neues vom Alter im Arbeitsverhältnis, ZIP 2007, S. 2381 (2386). Felipe Temming
C. Typische Fallgestaltungen mit Altersrelevanz im Arbeitsrecht
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Verbot der Altersdiskriminierung ungeeignet.80 Das folgt daraus, dass das Alter einen dynamischen Charakter besitzt. Es wird dort passen, wo es um Leistungen geht, die auf Grundlage von mindestens zwei voneinander unabhängigen Systemen berechnet werden. Für alle anderen Fälle ist jedoch eine Lösung mit Hilfe allgemeiner Regeln zu erarbeiten.81 Es ist die Unvereinbarkeit der altersdiskriminierenden Regeln auszusprechen und der unionsrechtswidrige Zustand unverzüglich, gegebenenfalls innerhalb einer bestimmten Frist zu beseitigen, was auch die Begünstigung betrifft. Übergangsregelungen sind möglich. In der Entscheidung Specht u. a. ist der EuGH diesen Weg bei altersdiskriminierenden Vergütungssystemen gegangen.82
C. Typische Fallgestaltungen mit Altersrelevanz im Arbeitsrecht Nachfolgend werden einige für das Arbeitsrecht typische Fallgestaltungen mit Altersrele- 38 vanz dargestellt und am Maßstab des Verbots der Altersdiskriminierung gemessen. Die Systematisierung erfolgt entlang des Arbeitsverhältnisses. Mit Blick auf das Alter gibt es begünstigende, belastende, aber auch ambivalente Regelungen; letztere sind begünstigend und belastend zugleich. Der Darstellung liegen entwicklungspsychologische Erkenntnisse zugrunde, nach denen das Altern ein individueller Prozess ist.83 Diese Individualität des Alterns hat insbesondere im Arbeitsrecht drei wichtige Konsequenzen: Erstens hat grundsätzlich eine individuelle Betrachtungsweise des Arbeitnehmers stattzufinden. Zweitens ist das chronologische Alter nur in den seltensten Fällen zur abstrakten Generalisierung von Eigenschaften geeignet, insbesondere für abnehmende Produktivität. Es ist kein geeigneter Stellvertreter (proxy). Arbeitsrechtliche Regelungen sind daher grundsätzlich altersneutral zu formulieren. Drittens lassen sich schließlich die Förderung und die Aktivierung von Handlungs- und Lernpotentialen älterer Arbeitnehmer als geeignete positive Maßnahmen begreifen und durchführen.84 I. Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses 1. Ausschreibung
Gem. § 1 AGG darf ein Arbeitsplatz nicht unter Verstoß gegen § 7 Abs. 1 AGG ausgeschrie- 39 ben werden. Nennt die Stellenausschreibung ein konkretes Alter oder eine Altersspanne 80 Siehe auch BAG, NZA 2019, S. 634; BAG, NZA 2017, S. 267; BAG, NZA 2017, S. 339; BAG NZA-RR 2016, S. 438: Anspruch auf Anpassung nach oben bei altersdiskriminierenden Urlaubsstaffeln. 81 Ausführlich Temming (Fn. 7), S. 487 ff. 82 EuGH, Urt. v. 19.6.2014, Rs. C-501/12 u. a., Specht u. a., Rn. 96; siehe auch EuGH, Urt. v. 5.6.1973, Rs. 81/72, Kommission v. Rat, Rn. 15; EuGH, Urt. v. 6.10.1982, Rs. 59/81, Kommission v. Rat, Rn. 39; Schlachter (Fn. 43), § 7 AGG Rn. 8; Preis (Fn. 45), S. 315; Kamanabrou, Die arbeitsrechtlichen Vorschriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, RdA 2006, S. 321 (334). 83 Statt vieler Lehr, Psychologie des Alterns, 11. Aufl. 2006. 84 Ausführlich Temming (Fn. 7), S. 41–61 m. w. N.
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oder verwendet eine entsprechende Umschreibung, liegt gem. § 3 Abs. 1 AGG eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters vor. Während das krude Abstellen auf das Lebensalter oder Altersspannen seit Inkrafttreten des AGG nicht mehr allzu häufig zu finden ist, sieht das BAG ein Indiz für eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters bei der Formulierung in einer Stellenausschreibung, wonach dem/der Bewerber/in eine Tätigkeit in einem professionellen Umfeld „mit einem jungen dynamischen Team“ geboten werden sollte. Nach dem objektiven Empfängerhorizont könne eine solche Angabe nur so verstanden werden, dass der Arbeitgeber einen ebenso jungen und dynamischen Arbeitnehmer suche wie die Mitglieder des vorhandenen Teams.85 Hingegen sei die Beschreibung in einer Stellenausschreibung als ein „junges, dynamisches Unternehmen“ kein Indiz für eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters. Denn die Begriffe „jung“ und „dynamisch“ würden nicht mit einem „Team“ in Verbindung gebracht, sondern beschrieben im Zusammenhang mit einem Unternehmen regelmäßig das Alter und damit eine Eigenschaft des Unternehmens.86 40 Diskriminiert der potentielle Arbeitgeber in der Stellenanzeige unmittelbar wegen des Alters, kommen als mögliche Rechtfertigungstatbestände § 8 Abs. 1 AGG oder § 10 Satz 3 Nr. 2 oder Nr. 3 AGG in Betracht. Diese Ausnahmetatbestände dürften indes nur selten erfüllt sein, falls das Alter pauschal als Selektionsfilter verwendet wird.87 Das BAG hat mittlerweile die Sicherung einer ausgewogenen Altersstruktur als legitimes Ziel i. S. d. § 10 Satz 1 AGG anerkannt, es dabei jedoch offengelassen, ob dies auch gelten soll, wenn der Arbeitgeber nur noch jüngere Bewerber einstellen will.88 41 Leichter dürfte dem potentiellen Arbeitgeber hingegen die Rechtfertigung fallen, wenn er an die Berufserfahrung anknüpft. Nach Ansicht des BAG handelt es sich, wenn überhaupt, um eine mittelbare Benachteiligung wegen des Alters gem. § 3 Abs. 2 Satz 1 AGG.89 Sucht der Arbeitgeber externen Nachwuchs für sein Unternehmen, kann er sich zudem auf einen legitimen Grund i. R. d. § 3 Abs. 2 AGG berufen, nämlich Personal- und Nachwuchsplanung und eine ausgewogene Altersstruktur.90 Dann kann er gezielt jüngere Arbeitnehmer dadurch ansprechen, dass die Stelle nur Bewerbern bzw. Bewerberinnen im ersten 85 BAG, NZA-RR 2017, S. 132. 86 BAG, NZA 2018, S. 584 (587 f.); BAG, NZA 2021, S. 1022 (1030) zu einer altersdiskriminierenden
Nichtberücksichtigung bei einer Stellenausschreibung im laufenden Arbeitsverhältnis.
87 Generell großzügiger in diesem Zusammenhang v. Hoff, Das Verbot der Altersdiskriminierung aus
Sicht der Rechtsprechung und der ökonomischen Analyse des Rechts, 2009, S. 301–305; zum legitimen Ziel der spezifischen Ausbildungsanforderungen, bei denen die Rechtsprechung des BAG zur Zulässigkeit einer Rückzahlung von Weiterbildungskosten eine erste Orientierungshilfe bieten kann siehe BAG, NZA 1994, S. 835; BAG, NZA 1996, S. 314; Schlachter (Fn. 43), § 10 AGG Rn. 9; Thüsing, Vorlagen an den EuGH, ZESAR 2009, S. 83 (84). 88 BAG, NZA 2013, S. 498 (502); BAG, NZA 2021, S. 1022 (1030). Ein Arbeitgeber müsste hierfür zunächst vortragen, aus welchen Gründen er welche konkrete Altersstruktur schaffen oder erhalten will. Schlagwortartige Bezeichnungen genügen dafür nicht. 89 BAG, NZA 2010, S. 222 (223 f.); BAG, Urt. v. 19.5.2016, 8 AZR 477/14. 90 Diese Gesichtspunkte können als legitime Gründe aus den Bereichen Arbeitsmarkt oder Beschäftigungspolitik i. S. d. Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG verstanden und dürften daher auch i. R. d. Art. 2 Abs. 2 lit. b) RL 2000/78/EG berücksichtigt werden. Felipe Temming
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Tätigkeits- bzw. Berufsjahr vorbehalten ist91 oder an Kriterien wie „Hochschulabsolventen“ und „Berufsanfänger“, gegebenenfalls i. V. m. der Bezeichnung „Young Professionals“92 angeknüpft wird. 2. Einstellungshöchstaltersgrenzen
Anders als im Beamtenrecht93 sind Einstellungshöchstaltersgrenzen im Arbeitsrecht kaum 42 verbreitet. Sie stellen unmittelbare Benachteiligungen wegen des Alters dar. Beachtlich war diesbezüglich eine Entscheidung des BAG zu einer starren Einstellungshöchstaltersgrenze für Piloten und Pilotinnen (32 Jahre und 364 Tage).94 Mangels Rechtfertigungsmöglichkeit sah es diese zu Recht als unzulässige Altersdiskriminierung an. Ähnlich strikt urteilte das BAG über Einstellungshöchstaltersgrenzen im Universitäts- 43 bereich. Mit deren Hilfe wollte die Universitätsverwaltung das hochschulpolitische Ziel verfolgen, das Erstberufungsalter für Professoren und Professorinnen herabzusetzen. Indes darf nach Auffassung des BAG eine Universität zu Recht nicht die Weiterbeschäftigung bzw. Befristung eines Arbeitsvertrages nach dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG)95 bzw. Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG)96 verweigern, nur weil der Nachwuchswissenschaftler bzw. die Nachwuchswissenschaftlerin das 40. Lebensjahr erreicht hat – noch dazu, wenn die Nachwuchsqualifikation nicht für den eigenen Bedarf erfolgt, weil sogenannte Hausberufungen grundsätzlich nicht vorgenommen werden.97 Aufgrund der unzulässigen Befristung galt der Arbeitsvertrag gem. § 1 Abs. 1 Satz 5 WissZeitVG i. V. m. § 16 TzBfG als auf unbestimmte Zeit geschlossen. II. Durchführung des Arbeitsverhältnisses 1. Die Kriterien Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit und Lebensalter
Die nachfolgend ausgewählten Regelungen betreffen speziell ältere Arbeitnehmer. So- 44 genannte Senioritätsregeln können entweder unmittelbar oder mittelbar an das Lebensalter anknüpfen.98 Im letzteren Fall geschieht dies häufig durch das Abstellen auf die Dauer 91 BAG, NZA 2010, S. 223 ff.; BAG, NZA 2015, 1066; Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 10
AGG Rn. 16.
92 BAG, NZA 2013, S. 498 (501). 93 Vgl. bspw. § 3 Abs. 1 Nr. 1 Hessische Feuerwehrlaufbahnverordnung: 30 Jahre; dazu EuGH, Urt. v.
12.1.2010, Rs. C-229/08, Colin Wolf. Freilich geht auch im Beamtenrecht der Trend seit einiger Zeit hin weg von einer Einstellungshöchstaltersgrenze, vgl. die einschlägigen Regelungen der Verordnung über die Laufbahnen der Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten (BLV ); gegen diese begrüßenswerte Entwicklung unkritisch OVG Münster, Beschl. v. 19.6.2007, 6 B 383/07; OVG Münster, Urt. v. 18.7.2007, 6 A 4680/04, OVG Koblenz, Urt. v. 10.8.2007, 2 A 10294/07. 94 BAG, NZA 2011, S. 751. 95 Wissenschaftszeitvertragsgesetz v. 12.4.2017, BGBl. 2017 I, S. 506. 96 Teilzeit- und Befristungsgesetz v. 21.12.2000, BGBl. 2000 I, S. 1966. 97 BAG, NZA 2011, S. 970; LAG Köln, Urt. v. 12.2.2009, 7 Sa 1132/08 mit Anmerkung Kossens, jurisPRArbR 40/2009, Anm. 5. 98 Vgl. zur Seniorität im Arbeitsrecht auch Däubler, Seniorität im Arbeitsrecht, in: FS Gnade, 1992, S. 95 (96 ff.); siehe auch Löwisch/Caspers/Neumann, Beschäftigung und demographischer Wandel, 2003, S. 21 ff. Felipe Temming
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der Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit.99 Es kann aber auch Regelungen geben, die beide Merkmale miteinander kombinieren. Bevorzugen diese Regelungen ältere Arbeitnehmer, lassen sie sich als begünstigende Senioritätsregeln bezeichnen. Konsequenterweise wirken sie sich gegenüber jüngeren Arbeitnehmern benachteiligend aus. Wird an das Lebensalter angeknüpft, liegt eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters vor. Ist Grundlage die Dauer der Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit, kann eine mittelbare Benachteiligung wegen des Alters gegeben sein. Höheres Lebensalter und längere Betriebszugehörigkeit korrelieren miteinander.100 Das Abstellen auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit kann verschiedene Funktionen aufweisen.101 Es drückt zunächst die bislang in der Vergangenheit erbrachte Treue des Arbeitnehmers zum Betrieb aus, in dem er oder sie tätig ist.102 Des Weiteren kann der Arbeitgeber die Betriebszugehörigkeit honorieren, um dem Arbeitnehmer einen Anreiz zu geben, auch zukünftig seinem Betrieb länger anzugehören.103 Schließlich kann der Arbeitgeber mit der Betriebszugehörigkeit auch die zunehmend höhere Berufserfahrung des Arbeitnehmers bedenken.104 Dass Arbeitgeber das Kriterium der Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit als Instrumente der abstrakten Generalisierung grundsätzlich verwenden dürfen, hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung auf dem Feld der Geschlechterdiskriminierung anerkannt.105 Der EuGH dürfte so zu verstehen sein, dass sich der Arbeitgeber auf den hinter der Honorierung der Berufserfahrung stehenden Erfahrungssatz in der Regel berufen kann. Der EuGH räumt dem Arbeitnehmer aber die Möglichkeit ein, bei ernsthaften Zweifeln an der Tragfähigkeit der hinter der Generalisierung stehenden Annahmen die darauf basierende Vermutung zu widerlegen.106 Wenn dies gelingt, muss der Arbeitgeber seinerseits nun überzeugenden Beweis erbringen. Was die Honorierung bzw. Bewertung der Berufserfahrung angeht, kommt es also auf den Einzelfall und damit die einzelne Tätigkeit an. Die Rechtsprechung des EuGH lässt zudem darauf schließen, dass das Lebensalter für die Honorierung der Berufserfahrung bzw. der Betriebstreue irrelevant ist. Begünstigende Senioritätsregelungen, die der Verwirklichung dieser beiden Ziele dienen, dürfen deshalb nicht in (teilweiser) Abhängigkeit vom Lebensalter formuliert werden. Davon abgesehen hängt der mögliche Spielraum, innerhalb dessen man begünstigende Senioritätsklauseln in rechtlich zulässiger Weise abfassen kann, maßgeblich von der 99 Im Zweifel ist der alltägliche Gebrauch des Ausdrucks „Dauer der Betriebszugehörigkeit“ juristisch mit
der Dauer der Unternehmenszugehörigkeit gleichzusetzen. Denn es kommt maßgeblich auf den Bezug zum Arbeitgeber an. 100 OECD, Alterung und Beschäftigungspolitik, 2005, S. 61 (Abb. 2.11). 101 Roloff (Fn. 8), § 3 AGG Rn. 24. 102 Erstmals EuGH, Urt. v. 10.3.2005, Rs. C-196/02, Nikoloudi, Rn. 63. 103 Zur Problematik der goldenen Fessel vgl. kritisch Däubler (Fn. 98), S. 106. 104 EuGH, Urt. v. 10.10.2019, Rs. C-703/17, Krah, Rn. 58; EuGH, Urt. v. 3.10.2006, Rs. C-17/05, Cadman, Rn. 34 ff.; EuGH, Urt. v. 10.3.2005, Rs. C-196/02, Nikoloudi, Rn. 55; EuGH, Urt. v. 2.10.1997, Rs. C-1/95, Gerster, Rn. 39; EuGH, Urt. v. 2.10.1997, Rs. C-100/95, Kording, Rn. 23; EuGH, Urt. v. 7.2.1991, Rs. C-184/89, Nimz, Rn. 14; EuGH, Urt. v. 17.10.1989, Rs. 109/88, Danfoss, Rn. 22 f. 105 EuGH, Urt. v. 3.10.2006, Rs. C-17/05, Cadman, Rn. 36–38. 106 EuGH, Urt. v. 3.10.2006, Rs. C-17/05, Cadman, Rn. 40. Felipe Temming
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Kontrolldichte i. R. d. Verhältnismäßigkeitsprüfung ab. Selbst wenn ein Gericht streng prüfen sollte, lassen sich Regelungen, die an die Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit anknüpfen, mit Hilfe der Honorierung der Betriebs- bzw. Unternehmenstreue sowie der Honorierung der Berufserfahrung grundsätzlich rechtfertigen. Die zu Art. 157 Abs. 1 AEUV ergangene Rechtsprechung des EuGH (Cadman-Urteil) kann übertragen werden; nationaler Rechtfertigungsmaßstab ist § 3 Abs. 2 AGG. Hingegen ist der juristische Korridor für Klauseln, die unmittelbar an das Lebensalter 49 anknüpfen, enger gefasst. Das Lebensalter ist als abstrakt-generelles Tatbestandsmerkmal ungeeignet, Betriebs- oder Unternehmenstreue mit Blick auf welches legitime Ziel auch immer zu honorieren. Klauseln, die an das Lebensalter anknüpfen, sind daher als unmittelbare Benachteiligungen wegen des Alters gem. § 10 Satz 3 Nr. 2 AGG i. V. m. § 10 Satz 1 und Satz 2 AGG nicht zu rechtfertigen. Anders kann man entscheiden, wenn begünstigende Senioritätsklauseln ein bestimm- 50 tes Alter oder einen bestimmten Altersabschnitt schützen oder fördern wollen. Das ist gem. § 10 Satz 3 Nr. 1 AGG ebenfalls ein legitimes Ziel. Denkbar sind Regelungen, die spezifische gesundheitliche Belange von älteren Arbeitnehmern ansprechen, oder auch spezielle berufliche Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen sowie selektive Bewerberprogramme. Derartige Maßnahmen können als positive Diskriminierung begriffen werden107 und müssen gem. § 10 Satz 1 und Satz 2 AGG verhältnismäßig sein. Maßgeblich ist wiederum die richterliche Kontrolldichte i. R. d. Verhältnismäßigkeitsprüfung. Vermeidet man das Lebensalter wegen seiner geringen Aussagekraft als Typisierungs- 51 merkmal, bieten sich unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH zur positiven Geschlechterdiskriminierung i. R. d. Art. 157 Abs. 4 AEUV für die Klauselgestaltung fünf Möglichkeiten an: Erstens kann der Arbeitgeber den altersspezifischen Sinn und Zweck der positiven Maßnahme als einziges Tatbestandsmerkmal formulieren. Zweitens kann er die Inanspruchnahme durch mindestens zwei alternativ zu erfüllende Voraussetzungen ermöglichen. Das sind einmal das Alter des Arbeitnehmers oder Bewerbers bzw. der Bewerberin und dann bspw. das Tatbestandsmerkmal, welches das altersspezifische Bedürfnis umschreibt, oder weitere altersneutrale Kriterien. Drittens kann er die positive Maßnahme allein auf das legitime Ziel der Honorierung der Betriebstreue stützen und deshalb nur an die Dauer der Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit anknüpfen. Viertens kann er kumulativ eine bestimmte Dauer der Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit und die Erfüllung des altersspezifischen Tatbestandsmerkmals verlangen. Fünftens kann er schließlich beide legitime Ziele verfolgen und neben dem altersspezifischen Tatbestandsmerkmal alternativ an die Dauer der Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit anknüpfen. 2. Vergütungsregelungen, Urlaub, Arbeitszeit
Gesetzliche Vorgaben hinsichtlich der Alters(un)abhängigkeit des Entgelts für das Arbeits- 52 recht existieren nicht. Der EuGH hat allerdings mittlerweile altersdifferenzierende Re107 Vgl. die Ausführungen unter Rn. 23 ff. (B. III. 1. c)).
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gelungen der Entgeltgestaltung als diskriminierend befunden, sofern diesen Abstufungen kein legitimes Ziel zugrunde liegt.108 Danach stellen Regelungen eines Tarifvertrages, wonach sich innerhalb der jeweiligen Vergütungsgruppe die Grundvergütung eines Arbeitnehmers bei dessen Einstellung nach dessen Alter bemisst, eine Ungleichbehandlung i. S. d. Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 lit. a) RL 2000/78/EG dar. Die Honorierung der von einem Arbeitnehmer erworbenen Berufserfahrung durch eine höhere Entlohnung kann zwar nach dem EuGH ein legitimes Ziel sein. Das alleinige Abstellen auf das Lebensalter sei aber nicht geeignet, dieses Ziel zu fördern, da ein höheres Lebensalter nicht zwangsläufig für eine längere Berufserfahrung spreche.109 53 Auch altersdifferenzierende Urlaubsregelungen sieht das BAG entsprechend als diskriminierend und unwirksam an, wenn der Abstufung kein sachliches Ziel zugrunde liegt.110 Dasselbe gilt für die Staffelung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit nach dem Lebensalter.111 3. Gesetzliche Kündigungsfristen 54
Die ordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses ist grundsätzlich an Kündigungsfristen und -termine gebunden, vgl. § 622 BGB.112 Im Zentrum der Diskussion stand namentlich die unmittelbar altersdiskriminierende Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB a. F. Danach waren bei der Berechnung der Länge der Kündigungsfristen Zeiten, die vor Vollendung des 25. Lebensjahres des Arbeitnehmers lagen, nicht zu berücksichtigen. Der EuGH hat diese Norm in der Entscheidung Kücükdeveci für unionsrechtswidrig erklärt.113 108 EuGH, Urt. v. 8.9.2011, Rs. C-297/10, C-298/10, Hennings, Mai; zur Stichtagsproblematik, die unter Umständen weder eine unmittelbare noch eine mittelbare Diskriminierung wegen des Alters darstellt vgl. EuGH, Urt. v. 14.2.2019, Rs. C-154/18, Thomas Horgan u. a.; BAG, NZA 2016, S. 897. 109 In diese Richtung auch BAG, NZA 2012, S. 161; siehe auch BAG, NZA 2012, S. 803: mehr Urlaub für ältere Arbeitnehmer bei gesteigertem Erholungsbedürfnis. 110 BAG, NZA 2019, S. 634; BAG, NZA-RR 2016, S. 438; BAG, NZA 2015, S. 297; BAG, NZA-RR 2012, S. 100. 111 BAG, NZA 2016, S. 1081. 112 Zum zeitlich begrenzten Bestandsschutz siehe BVerfGE 62, 256 (274) – Berechnung der Kündigungsfrist (1982); siehe auch BT-Drs. V/4376, S. 3; BT-Drs. V/3913; BVerfGE 82, 126 ff. – Verfassungswidrigkeit von § 622 Abs. 2 BGB; Däubler (Fn. 98), S. 100. 113 EuGH, Urt. v. 19.1.2010, Rs. C-555/07, Kücükdeveci mit Anmerkung Schubert, EuZW 2010, S. 180; Gaul/Koehler, Kücükdeveci: Der Beginn der Jagd auf Entschädigung?, BB 2010, S. 503; Franzen, Zum europarechtlichen Verbot der Altersdiskriminierung und der Nichtanwendung von einer Richtlinie entgegenstehenden nationalen Vorschriften durch nationale Gerichte, GPR 2010, S. 81; Thüsing, Zur Unanwendbarkeit nationalen Rechts bei Verstoß gegen den europarechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, ZIP 2010, S. 199; ders., Blick in das europäische und ausländische Arbeitsrecht, RdA 2010, S. 187; Bauer/v. Medem, Kücükdeveci = Mangold hoch zwei?, ZIP 2010, S. 449; Joussen, Verbot der Altersdiskriminierung – Richtlinie EGRL 78/2000 – BGB § 622 Abs. 2 S 2 – Nichtberücksichtigung von Beschäftigungszeiten vor dem 25. Lebensjahr, ZESAR 2010, S. 185; Link, Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des § 622 II 2 BGB wegen Altersdiskriminierung junger Arbeitnehmer, NJW 2010, S. 430 f.; Wackerbarth/Kreße, Das Verwerfungsmonopol des BVerfG – Überlegungen nach der Kücükdeveci-Entscheidung des EuGH, EuZW 2010, S. 252; Huke, Kücükdeveci: Die Kündigungsfrist, das Alter und das Verfassungsrecht, SAE 2010, S. 77.
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Das BAG ist dem gefolgt.114 Der Gesetzgeber hat § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB a. F. erst mit Wirkung zum 1.1.2019 klammheimlich aus dem BGB gestrichen.115 Mittelbar benachteiligend auf das Alter wirkt sich § 622 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 7 BGB aus, 55 wonach sich die Kündigungsfrist mit zunehmender Dauer der Betriebszugehörigkeit verlängert. Dies ist nach dem BAG gem. Art. 2 Abs. 2 lit. b) Nr. i RL 2000/78/EG gerechtfertigt, weil die Norm das Ziel verfolge, länger beschäftigten und damit betriebstreuen, typischerweise älteren Arbeitnehmern durch längere Kündigungsfristen einen verbesserten Kündigungsschutz zu gewähren.116 4. Tariflicher Ausschluss der ordentlichen Kündbarkeit
Zusätzlich zu den verbesserten Kündigungsfristen für ältere Arbeitnehmer sehen Tarif- 56 verträge besondere Klauseln hinsichtlich ihres Kündigungsschutzes vor.117 Tarifliche Unkündbarkeitsklauseln schließen die ordentliche Kündigung häufig durch eine Kombination von Lebensalter und Dauer der Betriebszugehörigkeit aus.118 Dann kann der Arbeitgeber grundsätzlich nur noch nach Maßgabe des § 626 BGB außerordentlich kündigen. Derartige Regelungen benachteiligen Arbeitnehmer unterhalb dieser Altersgrenze gem. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG unmittelbar wegen des Lebensalters119 und gegebenenfalls wegen des Abstellens auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit auch mittelbar gem. § 3 Abs. 2 AGG. Während sich die durch das Abstellen auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit ver- 57 ursachte Benachteiligung gem. § 3 Abs. 2 AGG mit der Honorierung der Betriebstreue rechtfertigen lässt, sollte eine Unkündbarkeitsklausel, die alleine oder zusätzlich auch auf ein (in der Regel höheres) Lebensalter abstellt, als altersdiskriminierend verworfen werden.120 Das BAG ist zurückhaltender.121 Das Ziel, ältere Arbeitnehmer vor einer Entlassung möglichst effizient zu schützen, da ihre Chancen auf eine neue Arbeitsstelle signifikant geringer seien als diejenigen jüngerer Arbeitnehmer, sei legitim i. S. v. § 10 Satz 1 AGG i. V. m. Art. 6 RL 2000/78/EG und auch verhältnismäßig. Dagegen wäre, so das BAG weiter, eine solche Regelung nicht mehr durch ein legitimes Ziel gedeckt, wenn sie zur Konsequenz hätte, dass Arbeitnehmer, die im konkreten Fall älter als 53 Jahre und länger als drei Jahre im Betrieb beschäftigt sind, bei der Sozialauswahl i. R. d. § 1 Abs. 3 KSchG selbst dann aus 114 BAG, NZA 2011, S. 343. 115 Vgl. Art. 4 lit. d Gesetz zur Stärkung der Chancen für Qualifizierung und mehr Schutz in der Arbeits-
losenversicherung (Qualifizierungschancengesetz) v. 18.12.2018, BGBl 2018 I, S. 2651.
116 BAG, NZA 2014, S. 1400; zustimmend Roloff (Fn. 8), § 10 AGG Rn. 13; Temming (Fn. 7), S. 464–466,
527.
117 Zur Geschichte des tariflichen Alterskündigungsschutzes vgl. Bröhl, Die außerordentliche Kündigung
mit notwendiger Auslauffrist, 2005, S. 9 ff.; Buse, Die Unkündbarkeit im Arbeitsrecht, 2009.
118 Im öffentlichen Dienst gewähren § 34 Abs. 2, 3 TVöD oder TVL grundsätzlich Unkündbarkeit ab dem
40. Lebensjahr bei einer Mindestdauer der Betriebszugehörigkeit von 15 Jahren.
119 BAG, NZA 2014, S. 208 (212). 120 Ausführlich Temming (Fn. 7), S. 529 ff.; i. R. d. Rechtfertigung ist jedes Merkmal getrennt zu be-
trachten, vgl. auch § 4 AGG; zum einschlägigen § 10 Satz 3 Nr. 7 AGG a. F. vgl. Roloff (Fn. 8), § 10 AGG Rn. 26 f. 121 BAG, NZA 2014, S. 208: Unkündbarkeit ab dem 53. Lebensjahr bei drei Jahren Betriebszugehörigkeit. Felipe Temming
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dem Kreis der vergleichbaren Arbeitnehmer ausscheiden sollen, wenn dadurch das Ergebnis der Sozialauswahl grob fehlerhaft würde.122 Insgesamt betrachtet erachtet das BAG Unkündbarkeitsklauseln wohl grundsätzlich für 58 unionsrechtskonform. Indes behält es sich eine Einzelfallkontrolle vor, um die zwingende Wertung des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG mit zu berücksichtigen. Damit schreibt das BAG letztlich § 10 Satz 3 Nr. 7 AGG a. F. fort. Ein Vorlageverfahren zum EuGH könnte Klarheit verschaffen. 5. Betriebliche Altersvorsorge 59 Das Recht der betrieblichen Altersvorsorge ist selbst für Arbeitsrechtler eine fast autonom
existierende Spezialmaterie. Ungeachtet dessen hat das Verbot der Altersdiskriminierung auch in diesem Zusammenhang für Diskussionen und Änderungsbedarf gesorgt. Darauf sei an dieser Stelle aber nur hingewiesen.123
III. Beendigung des Arbeitsverhältnisses 60 Bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses wirkt sich ansteigende Seniorität zuneh-
mend ambivalent, wenn nicht sogar belastend für ältere Arbeitnehmer aus. Ersteres betrifft insbesondere die betriebsbedingte Kündigung nach dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG)124 (unter 1.) sowie die Gestaltung von Leistungen in Sozialplänen (unter 2.), zweites vor allem Altersgrenzen (3.).
1. Betriebsbedingte Kündigung 61 Mit der betriebsbedingten Kündigung will der Arbeitgeber den vorhandenen Personal-
bestand an den zukünftigen Personalbedarf angleichen. Findet das KSchG Anwendung, ist eine solche Kündigung gem. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG nur sozial gerechtfertigt, wenn sie durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers entgegenstehen.125 Gibt es mehr vergleichbare Arbeitnehmer als verfügbare Arbeitsplätze, ist gem. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG eine Sozialauswahl durchzuführen.126 Das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers setzt sich aber auf jeden Fall durch.
122 BAG, NZA 2014, S. 208 (213) mit einem entsprechenden Beispiel und methodischen Hinweisen, wie
es dann die Klausel auslegen würde.
123 EuGH, Urt. v. 26.9.2013, Rs. C-476/11, HK Danmark; vertiefend Roloff (Fn. 8), § 10 AGG Rn. 34–42
m. w. N. 124 Kündigungsschutzgesetz v. 10.8.1951, BGBl. 1951 I, S. 499. 125 Statt aller Oetker, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 22. Aufl. 2022, § 1 KSchG Rn. 211 ff. 126 Ausführlich Oetker (Fn. 125), § 1 KSchG Rn. 299 ff.; Bütefisch, Die Sozialauswahl, 2000. Felipe Temming
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a) Sozialauswahl
Die Sozialauswahl gem. § 1 Abs. 3 KSchG hat zur Folge, dass der sozial stärkere Arbeitnehmer vor dem sozial schwächeren zu entlassen ist. Sozial schwach ist der- oder diejenige, der oder die auf dem Arbeitsmarkt geringere Chancen auf einen neuen Arbeitsplatz hat. Von den vier in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG ausdrücklich erwähnten sozialen Gesichtspunkten Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und eine etwaige Schwerbehinderung127, die der Arbeitgeber bei dieser Auswahl zu beachten hat, favorisieren durch die in der Praxis verwendeten Punkteschemata gleich zwei Kriterien ältere Arbeitnehmer. Zunächst kommt älteren Arbeitnehmern das Kriterium der Dauer der Betriebszugehörigkeit zugute. Dieses kann eine mittelbare Benachteiligung wegen des Lebensalters gem. Art. 2 Abs. 2 lit. b) RL 2000/78/EG begründen, da ihre längere Dauer mit einem höheren Lebensalter korreliert. Sie dient jedoch dem legitimen Ziel der vergangenheitsorientierten Honorierung der Betriebstreue (vgl. auch § 10 Satz 3 Nr. 2 AGG128 bzw. Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG). Mit dieser Funktion stellt die Sozialauswahl auch eine verhältnismäßige Maßnahme dar und verstößt deshalb nicht gegen das Verbot der Altersdiskriminierung. Weitaus problematischer ist, dass die Sozialauswahl auch das höhere Lebensalter begünstigt. Dahinter steht die typisierte Annahme, dass es für ältere Arbeitnehmer schwieriger sei, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Die hierdurch bewirkte unmittelbare Benachteiligung i. R. d. Sozialauswahl kann dagegen nicht mit dem legitimen Ziel der Honorierung der Betriebstreue oder der Berufserfahrung gerechtfertigt werden. Außer als positive Maßnahme zum Schutz bzw. der Förderung von älteren Arbeitnehmern gem. Art. 6 Abs. 1 Satz 2 lit. a) RL 2000/78/EG (vgl. § 10 Satz 3 Nr. 1 AGG) scheiden andere legitime Ziele aus. Ob das Lebensalter als sozialer Gesichtspunkt i. R. d. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG auch verhältnismäßig ist, hängt von der Kontrollintensität i. R. d. Verhältnismäßigkeitsprüfung ab. Prüft man streng und stellt die Typisierungskraft des Alters mit Blick auf Arbeitsmarkt- und Vermittlungschancen zu Recht in Frage und berücksichtigt man zugleich auch möglichere mildere Maßnahmen auf dem Gebiet des Rechts der Arbeitsförderung (bspw. Eingliederungszuschüsse oder Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer), stellt die Sozialauswahl mit Blick auf das Kriterium Lebensalter eine unzulässige Altersdiskriminierung dar.129 127 Zur Rolle und Bedeutung der Schwerbehinderung i. R. d. KSchG und SGB IX siehe Oetker (Fn. 125),
§ 1 KSchG Rn. 334, 310. Konsequenz der Aufnahme einer nach dem SGB IX anerkannten Schwerbehinderung in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG ist, dass der schwerbehinderte Arbeitnehmer dann, wenn die Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung nach § 168 SGB IX erteilt ist, zwar vergleichbar mit nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern ist, aber i. R. d. Vergleichs der Sozialdaten erhöhten Schutz genießt. Im Ergebnis wird der Umstand der Schwerbehinderung doppelt berücksichtigt. 128 Vgl. zu § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG a. F., der speziell die Sozialauswahl rechtfertigen wollte, Roloff (Fn. 8), § 10 AGG Rn. 22 m. w. N. 129 Ausführlich Temming (Fn. 7), S. 538 ff.; vgl. auch die Vorschläge der OECD zur Festlegung risikogruppenspezifischer Vermittlungsziele für die BA und Intensivierung des Profiling für ältere Arbeitnehmer sowie die Politik der BA gegenüber älteren Arbeitnehmern, OECD (Rn. 100), S. 21, 154–163; zu letzterem Aspekt und der einschlägigen Problematik des moral hazard siehe Menzel, Langzeitarbeitslosigkeit als besondere Lebensleistung?, Über die Diskussion um die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I, Der OrdFelipe Temming
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Der für das Kündigungsschutzrecht zuständige Zweite Senat des BAG sieht das wenig überraschend anders und hat in einer grundlegenden Entscheidung aus dem Jahre 2008 das Lebensalter als Kriterium der Sozialauswahl gemessen am Verbot der Altersdiskriminierung für unionsrechtskonform erklärt.130 Insbesondere hat es die Typisierung der schlechteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt mit Hilfe des sozialen Gesichtspunktes des Lebensalters akzeptiert.131 Vergleichbares betrifft die bisherige Praxis, bei Auswahlrichtlinien und Namenslisten nach § 95 BetrVG bzw. § 1 Abs. 5 KSchG das Lebensalter als Auswahlkriterium durchgehend linear zu berücksichtigen – auch dies hat der Zweite Senat des BAG bestätigt.132 67 Zu beachten ist, dass der Kriterienkatalog des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht abschließend ist.133 Es können weitere, ungeschriebene soziale Gesichtspunkte herangezogen werden, solange diese mit dem Arbeitsverhältnis und/oder dessen personalem Charakter in Zusammenhang stehen.134. Teile der Rechtsprechung und Literatur berücksichtigen i. R. d. Sozialauswahl die Rentennähe und Rentenberechtigung ab Erreichen der Regelaltersgrenze zu Lasten des älteren, dann weniger schutzbedürftigen Arbeitnehmers.135 Das ist auch 66
nungspolitische Kommentar, Nr. 11/2007, S. 1 f., abzurufen unter www.iwp.uni-koeln.de; dazu auch IAB Forum 2 (2006), S. 79; MPI für demographische Forschung, Demographische Forschung – Aus Erster Hand 4 (2007), S. 4; auch Hagedorn/Kaul, IZA Discussion Paper No. 680, S. 11 ff. sehen unter anderem Fehlanreize im Sozialversicherungssystem als Grund für Langzeitarbeitslosigkeit an; Koch/Kupka/Steinke, Aktivierung, Erwerbstätigkeit und Teilhabe, 2009, S. 194. 130 BAG, NZA 2009, S. 361 mit größtenteils zustimmenden Anmerkungen v. Hoff, SAE 2009, S. 293; Lingemann/Beck, Auswahlrichtlinie, Namensliste, Altersgruppenbildung und Altersdiskriminierung, NZA 2009, S. 577; Schiefer, Betriebsbedingte Kündigung, DB 2009, S. 733; Adomeit/Mohr, Rechtsgrundlagen und Reichweite des Schutzes vor diskriminierenden Kündigungen, NJW 2009, S. 2255; Boemke, Altersgruppenbildung bei der Sozialauswahl, jurisPR-ArbR 20/2009, Anm. 1; Gaul/Niklas, Keine Altersdiskriminierung durch Sozialauswahl mit Altersgruppen, NZA-RR 2009, S. 457; kritischer Benecke, Altersgruppen und Punktetabellen bei der Sozialauswahl, AuR 2009, S. 326; v. Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2008, S. 537 f., 543 geht ebenfalls von der Unionsrechtskonformität des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG in Bezug auf das Lebensalter aus, solange geringe Altersunterschiede bei anderen Kriterien aufgewogen werden können. Eine abschließende Abwägung im Einzelfall sei europarechtlich nicht erforderlich. 131 BAG, NZA 2012, S. 1044; BAG, NZA 2010, S. 457; BAG, NZA 2009, S. 361 (365) m. w. N.; BAG, NZA 2008, S. 405 (407); kritisch Kaiser/Dahm, Sozialauswahl ohne Lebensalter!, NZA 2010, S. 473. 132 BAG, NZA 2010, S. 457. 133 Die Gesetzesmaterialien weisen darauf hin, dass der Kriterienkatalog des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht abschließend ist, vgl. BT-Drs. 15/1204, S. 11. Erwähnt werden dort Tatsachen, die in einem unmittelbaren spezifischen Zusammenhang mit den Grunddaten stehen müssen oder sich aus solchen betrieblichen Gegebenheiten herleiten müssen, bspw. Berufskrankheiten oder ein vom Arbeitnehmer nicht verschuldeter Arbeitsunfall. 134 Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen, 1987, S. 222 ff., 128 ff., 418 ff.; ders., Der Kündigungsschutz nach dem „Korrekturgesetz“, RdA 1999, S. 311 (316); Herschel, Betriebsbezogenheit des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes und ganzheitliche Abwägung, in: FS Schnorr v. Carolsfeld, 1972, S. 157 (170 ff.) zur Betriebsbezogenheit aller Kündigungsgründe; in diese Richtung auch BT-Drs. 15/1204, S. 11; siehe auch BT-Drs. 14/45, S. 16. 135 Rentennähe und Rentenberechtigung bspw. LAG Köln, Urt. v. 17.8.2005, 7 Sa 520/05; LAG Hannover, Urt. v. 28.5.2004, 10 Sa 2180/03; LAG Hannover, Urt. v. 12.5.2005, 5 Sa 198/05; Oetker (Fn. 125), § 1 KSchG Rn. 332; Bauer/Lingemann, Personalabbau und Altersstruktur, NZA 1993, S. 625 (628); Künzl, Probleme der Sozialauswahl bei betriebsbedingter Kündigung, ZTR 1996, S. 385 (390); Kittner, Das neue Recht Felipe Temming
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die Linie des Zweiten Senats des BAG.136 Widersprüchlich ist insoweit, dass das BAG das Lebensalter als abstrakten Maßstab für die Vermittlungschancen eines Arbeitnehmers auf dem Arbeitsmarkt nach einer Kündigung bezeichnet. Doch auch ein rentenberechtigter Arbeitnehmer dürfte bei typisierender Betrachtung entsprechend schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.137 Ausschlaggebend dürfte für das BAG daher im Ergebnis die finanzielle Absicherung des Arbeitnehmers im Falle der Kündigung sein.138 Konträr zu dieser Auffassung verhält sich eine Entscheidung des Sechsten Senats des BAG. Danach könne eine Kündigung in einem Kleinbetrieb altersdiskriminierend und damit unwirksam sein, wenn sie unter dem Hinweis auf die künftige Rentenberechtigung des Arbeitsnehmers ausgesprochen wird.139 Diese Argumentation würde selbst i. R. d. § 1 Abs. 3 KSchG halten. Das Gesamtbild ist widersprüchlich:140 Die Entscheidungen und Argumentationen des BAG fordern eine Vorlage zum EuGH geradezu heraus. b) Altersgruppenbildung
Gem. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG sind in die soziale Auswahl diejenigen Arbeitnehmer nicht 68 mit einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung im berechtigten betrieblichen Interesse liegt – insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes.141 Diese Vorschrift ermöglicht es, dem Arbeitgeber auf seine Initiative hin ausnahmsweise betriebliche Interessen (unter anderem den Gedanken der Leistungsstärke) dem Gesichtspunkt der sozialen Schwäche in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG entgegenzuhalten.142 In der Praxis kommt diese Vorschrift denjenigen zugute, die sozial zu stark sind, als dass sie bereits über § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG von der betriebsbedingten Kündigung verschont bleiben. Tendenziell wird es sich also um jüngere Arbeitnehmer handeln. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG wird aufgrund seiner kollektider Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen und die Ausdehnung der Kleinbetriebsklausel, AuR 1997, S. 182 (184); Stindt, Sozial gerechtfertigte Kündigung älterer Arbeitnehmer?, DB 1993, S. 1361 (1366); Kiel, in: Ascheid/Preis/Schmidt (Hrsg.), Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rn. 721; nur Rentenberechtigung bspw.: ArbG Wetzlar, Urt. v. 27.1.1987, 1 Ca 402/86; Preis (Fn. 134), S. 420; Worzalla, Der Anwendungsbereich des § 41 IV SGB VI und die Auswirkungen auf die betriebliche Sozialpolitik, NZA-Beilage 4/1991, S. 15 f.; Rost, Die Sozialauswahl bei betriebsbedingter Kündigung, ZIP 1982, S. 1396 (1398); so noch Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 9. Aufl. 2007, Rn. 1114, anders dann 11. Aufl. 2015, Rn. 1098. 136 BAG, NZA 2017, S. 902 (903); a. A. Temming (Fn. 7), S. 179 ff.: die Vermögenssituation des Arbeitnehmers, wozu auch der Rentenanspruch und die Rentenberechtigung im Ergebnis gehört, sollte unberücksichtigt bleiben. 137 Westermeier, Ältere am Arbeitsmarkt, Eine stabile Beschäftigung vor dem Rentenalter begünstigt die Weiterarbeit, IAB-Kurzbericht 15/2019, S. 11 f. 138 Vgl. Preis/Reuter, in: Preis/Sagan (Hrsg.), Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2019, § 6 Rn. 6.90. 139 BAG, NZA 2015, S. 380; hierzu auch Temming, Der arbeitsrechtliche Kündigungsschutz, RdA 2019, S. 102 (105). 140 Kritisch auch Roloff (Fn. 8), § 10 AGG Rn. 24. 141 Statt aller Oetker (Fn. 125), § 1 KSchG Rn. 342 ff. 142 Da sich der Arbeitgeber auf § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG berufen kann, aber nicht muss, folgt daraus, dass im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit EU-Recht § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG und § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG getrennt zu prüfen sind. Felipe Temming
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ven Dimension erst relevant, wenn es um die Kündigungen vieler Arbeitnehmer geht. Im Zweifel geht es also um Massenentlassungen, so dass der Arbeitgeber zusätzlich auch die §§ 17 ff. KSchG einhalten muss. Im Zusammenhang mit § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG ist namentlich das Bilden von Alters69 gruppen für den Arbeitgeber ein wichtiges Instrument. Auf diese Weise kann er nämlich eine ausgewogene Personalstruktur seines Betriebes sichern, sofern er ein berechtigtes betriebliches Interesse vorweisen kann.143 Zugleich weist die Altersgruppenbildung „kraft Natur der Sache“ erhebliche Altersrelevanz auf und wird damit vom Verbot der Altersdiskriminierung erfasst.144 Es ist vorzugswürdig, dem Arbeitgeber mit Hilfe des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG eine langfristige und vor allem nachhaltige Personal- und Nachwuchsplanung zu ermöglichen. Das sieht auch das BAG so.145 Als Argument lässt sich anführen, dass hiermit der alterslastige Effekt der gesetzlich zwingenden Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG146 minimiert oder sogar vollständig kompensiert werden kann.147 Das ist sinnvoll. Stimmen, die die Altersgruppenbildung für altersdiskriminierend und unionsrechtswidrig halten, sind daher zurückzuweisen.148 70 Diese Linie könnte vielleicht auch die Haltung des EuGH widerspiegeln, wenngleich noch kein Präjudiz existiert. Die grundsätzliche Unionsrechtskonformität des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG lässt sich möglicherweise aus dem EuGH-Urteil Fuchs und Köhler ablesen.149 Sinngemäß qualifiziert der EuGH dort eine ausgewogene Altersstruktur zwischen Jung und Alt als im Allgemeininteresse liegend. Das war bis zu dieser Entscheidung nicht selbstverständlich, weil nach den früheren EuGH-Entscheidungen Age Concern England150 143 Zur aktuellen Kritik der Literatur, dass die BAG-Rechtsprechung die Altersgruppenbildung zuneh-
mend unpraktikabel werden lasse, vgl. Lunk/Seidler, Sozialauswahl nach Altersgruppen, NZA 2014, S. 455 (456); Lingemann/Otte, Ist die Altersgruppenbildung bei der Sozialauswahl noch zu retten?, NZA 2016, S. 65 (67); Preis, in: Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 11. Aufl. 2015, Rn. 1130a; Kiel (Fn. 135), § 1 KSchG Rn. 688; Temming, Der arbeitsrechtliche Kündigungsschutz: Zwischen Bestandsschutzkonzeption und Abfindungsrealität, RdA 2019, S. 102 (105). 144 Siehe auch Roloff (Fn. 8), § 1 AGG Rn. 8; BAG, NZA 2009, S. 361; nicht nur die Sicherung, sondern sogar die Schaffung einer neuen Altersstruktur ermöglicht § 125 Abs. 1 Nr. 2 Hs. 2 InsO. 145 BAG, NZA 2009, S. 361 (366 f.) m. w. N.; BAG, NZA 2008, S. 103 (107); LAG Hannover, Urt. v. 13.7.2007, 16 Sa 269/07 m. w. N.; ebenso v. Medem (Fn. 130), S. 564 f.; a. A. LAG Hamm, Urt. v. 11.11.2009, 2 Sa 992/09 mit ablehnender Anmerkung Gragert, ArbRAktuell 2010, S. 302. 146 Aufgrund der übermäßigen Betonung der Senioritätskriterien Betriebszugehörigkeit und Lebensalter. 147 Damit ist gemeint, dass nach herkömmlicher Durchführung einer Sozialauswahl gem. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG die übrig bleibende Belegschaft im Altersdurchschnitt steigt, also überaltert. Die Verschiebung der Altersstruktur qualifiziert die herrschende Auffassung als eine ungünstige Auswirkung zulasten des Arbeitgebers, vgl. hierzu BAG, NZA 2015, S. 1122 (1124); BAG, NZA 2014, S. 46 (49 ff.); BAG, NZA 2009, S. 361 (366 f.); BAG, NZA 2008, S. 103 (107); Oetker (Fn. 125), § 1 KSchG Rn. 347a; Mohr, Die Sozialauswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG zwischen Kündigungs- und Diskriminierungsschutz, ZfA 2007, S. 361 (381 f.); v. Medem (Fn. 130), S. 564 f.; Temming (Fn. 7), S. 204 ff., 558 ff.; ders. (Fn. 52), S. 218. 148 So LAG Hamm, Urt. v. 11.11.2009, 2 Sa 992/09, Rn. 39; ArbG Osnabrück, Urt. v. 5.2.2007, 3 Ca 724/06; Bertelsmann, Kündigungen nach Altersgruppen und das AGG, AuR 2007, S. 369. 149 EuGH, Urt. v. 21.7.2011, Rs. C-159/10, Rs. C-160/10, Fuchs und Köhler, Rn. 50–53; Temming (Fn. 52), S. 217 f.; siehe auch zu anderen legitimen Zielen bspw. EuGH, Urt. v. 22.11.2005, Rs. C-144/04, Mangold: Förderung der beruflichen Eingliederung arbeitsloser älterer Arbeitnehmer. 150 EuGH, Urt. v. 5.3.2009, Rs. C-388/07, Age Concern England. Felipe Temming
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und Prigge151 legitime Differenzierungsziele lediglich sozialpolitische Ziele, wie solche aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung sein können. Ob darunter auch reine Arbeitgeberinteressen („berechtigte betriebliche Interessen“) zu subsumieren sind, ist noch nicht vollends klar.152 Zumal sich der EuGH noch nicht zum umstrittenen Verhältnis von Diskriminierungs- und Kündigungsschutz nach deutschem Recht äußern konnte.153 Das bedeutet: Nur eine Vorlage zum EuGH schafft endgültige Sicherheit – egal wie das Verdikt des EuGH dann ausfallen würde. Mangels präsumtiv verbindlichen Präjudizes des EuGH wäre er auf jeden Fall auch über die Unionsrechtskonformität des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO (Schaffung einer ausgewogenen Altersstruktur) i. R. d. Art. 267 AEUV zu befragen. 2. Sozialpläne
Sozialpläne gem. §§ 112, 112a BetrVG sollen für Arbeitnehmer die Folgen von Betriebs- 71 änderungen i. S. d. § 111 BetrVG finanziell abfedern. Dabei kommt Sozialplanansprüchen nach der ständigen Rechtsprechung des BAG lediglich ein zukunftsbezogener Überbrückungscharakter zu, um die Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt zu berücksichtigen. Entschädigungscharakter können Sozialplanleistungen nur insoweit aufweisen, als vergangenheitsbezogene Nachteile noch in der Zukunft fortwirken.154 Das BAG entwickelte diese Sozialplanrechtsprechung in Zeiten massiver Frühverrentungspraxis vor dem Hintergrund der Externalisierung betrieblicher Restrukturierungskosten durch sozialversicherungsrechtliche Abfederungen.155 Diese Sichtweise ist widersprüchlich, wenn man bedenkt, dass die Höhe von Sozial- 72 planleistungen in der Regel mit Hilfe der Dauer der Betriebszugehörigkeit oder gar dem Lebensalter berechnet wird. Wie auf diese Weise ein Überbrückungsbedarf berechnet werden kann, erschließt sich nicht. Vielmehr ist es so, dass vor allem jüngeren Arbeitnehmern im Ergebnis echte Abfindungen aus Sozialplänen zufließen.156 Diese Zahlungen stellen den vermögensrechtlichen Ersatz für die Aufgabe des sozialen Besitzstandes dar – nämlich den Arbeitsplatz als solchen. Demgegenüber müssen sich ältere Arbeitnehmer wegen ihrer Rentennähe oder Rentenberechtigung mit deutlich geringeren „Überbrückungszahlungen“
151 EuGH, Urt. v. 13.9.2011, Rs. C-447/09, Prigge. 152 BAG, NZA 2010, S. 561; BAG, NZA 2009, S. 361; BAG, NZA 2009, S. 945; Mohr, Zulässigkeit unmit-
telbarer Altersdiskriminierungen auf Grund unternehmensindividueller Gesichtspunkte, RdA 2017, S. 35; Roloff (Fn. 8), § 10 AGG Rn. 4 f. m. w. N. 153 Trotz der Uneindeutigkeit der Problematik hält es das BAG für nicht erforderlich, dem EuGH die Fragestellung vorzulegen, siehe BAG, NZA 2012, S. 1044. 154 BAG, NZA 2009, S. 386; BAG, NZA 2009, S. 210; BAG, NZA 2009, S. 849; BAG, NZA 1995, 644; zur darauf aufbauenden Gestaltung von Sozialplänen vgl. bspw. Kleinebrink, Gestaltung von Abfindungsleistungen in Sozialplänen, FA 2010, S. 66 ff. 155 Bspw. BAG, NZA 1984, S. 201; BAG, NZA 1989, S. 25 f.; ausführlich Temming (Fn. 7), S. 272 ff. m. w. N. 156 Typische Berechnungsformeln für Sozialplanleistungen – Faustformel, Divisor- oder eine einfache Abfindungsformel – sind nach oben grundsätzlich nicht begrenzt und verwenden zugunsten des Arbeitnehmers als Faktor die Dauer der Betriebszugehörigkeit. Felipe Temming
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zufriedengeben.157 Die Sozialplanleistungen für ältere Arbeitnehmer, die zu den rentennahen Jahrgängen gehören oder regelaltersrentenberechtigt sind, werden nämlich in der Regel durch Höchstbetragsklauseln begrenzt. Teilweise sehen Sozialpläne sogar den kompletten Ausschluss von Sozialplanleistungen für ältere Arbeitnehmer vor. Dadurch wird ihr verdienter Bestandsschutz verzerrt wiedergegeben, ja sogar teilweise vernichtet. 73 Diese soeben aufgezeigten Widersprüche werden dadurch verstärkt, dass die Höhe gesetzlicher Abfindungen – namentlich nach §§ 1a, 9, 10 KSchG158 oder § 113 BetrVG159 – grosso modo ebenfalls auf Grundlage der Dauer der Betriebszugehörigkeit berechnet wird. Da gesetzliche Abfindungen an die Stelle des kündigungsrechtlichen Bestandsschutzes treten,160 wird ihnen aber zu Recht maßgeblich eine Entschädigungs- und Abfindungsfunktion zuerkannt.161 74 Obwohl diese Widersprüche mit den Händen zu greifen sind, hat es das BAG nicht für notwendig erachtet, seine bisherige Rechtsprechung im Lichte des Verbots der Altersdiskriminierung kritisch zu überprüfen und einen vorzugswürdigen Paradigmenwechsel i. R. d. §§ 112, 112a BetrVG einzuläuten.162 Teile der Literatur stimmen der Beibehaltung dieses status quo zu, womit die Auffassung als herrschend zu bezeichnen ist.163 Entgegen dieser herrschenden Meinung sprechen indes die besseren Argumente dafür, Sozialplanleistungen einen möglichen Abfindungscharakter nicht abzusprechen und damit die zweifelhafte Rechtsprechung zur Beschränkung oder zum Ausschluss rentennaher Jahrgänge von Sozialplanleistungen zu überdenken. Bis heute hat es die herrschende Meinung nicht vermocht, die soeben aufgezeigten Widersprüche überzeugend aufzulösen. Da die gesamte Abfindungsproblematik auch i. R. d. grundrechtlich geschützten Berufsausübungsfreiheit des Arbeitnehmers gewürdigt werden könnte,164 kann die hier vertretene Auffassung auch nicht marginalisiert werden, indem man behauptet, sie instrumentalisiere das Verbot der Altersdiskriminierung.165 Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die Sozialpartner es 157 Im Ergebnis sorgen Sozialpläne dafür, dass das individualarbeitsrechtliche Bestandsschutzprinzip
von § 1 KSchG auf der kollektivrechtlichen Ebene zu einem finanziellen Abfindungsschutz modifiziert wird. 158 Abfindung des Arbeitnehmers bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch Urteil des Gerichts. 159 Weicht der Unternehmer von einem Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung ohne zwingenden Grund ab, so können Arbeitnehmer, die infolge dieser Abweichung entlassen werden, nach § 113 BetrVG beim zuständigen Arbeitsgericht Klage erheben mit dem Antrag, den Arbeitgeber zur Zahlung von Abfindungen zu verurteilen (sogenannter Nachteilsausgleich). 160 BAG, Urt. v. 29.1.1981, 2 AZR 1055/78; Preis, Die „Reform“ des Kündigungsschutzrechts, DB 2004, S. 70 (78); Kiel, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 22. Aufl. 2022, § 9 KSchG Rn. 1. 161 BAG, Urt. v. 15.2.1973, 5 AZR 525/72; BAG, Urt. v. 9.11.1988, 4 AZR 433/88; statt vieler Kiel (Fn. 160), § 10 KSchG Rn. 1. 162 Grundlegend BAG, NZA 2009, S. 210 – seitdem ständige Rechtsprechung, vgl. nur BAG, NZA 2009, S. 849; BAG, NZA 2010, S. 774; BAG, NZA 2013, S. 921; BAG, NZA 2015, S. 365; BAG, NZA 2019, S. 1295; LAG München, FA 2020, S. 301. 163 Statt vieler Mohr, Altersdifferenzierung im Sozialplan nach deutschem und europäischem Recht, RdA 2010, S. 44; Willemsen, Sinn und Grenzen des gesetzlichen Sozialplans, RdA 2013, S. 166. 164 Paradigmatisch Waltermann (Fn. 2); zu diesem Gesichtspunkt Temming (Fn. 7), S. 116 f. 165 Mohr (Fn. 47), Art. 1 RL 2000/78/EG Rn. 46. Felipe Temming
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sogar in der Hand haben, Sozialplanleistungen als Überbrückungs- und/oder Abfindungsleistung zu widmen.166 Aus der möglichen Doppelfunktion des Sozialplans folgt aber aus Gründen der Widerspruchsfreiheit zugleich eine „Zwei-Töpfe-Theorie“ bzw. eine „Trennungstheorie“.167 Wichtig ist daher, dass die Sozialpartner im Hinblick auf den einschlägigen Charakter der Sozialplanleistungen jeweils sachgerechte Kriterien verwenden. Geht es um Entschädigungen, sind vergangenheitsbezogene Kriterien zu benutzen; geht es um die Ausgestaltung von Überbrückungsleistungen, haben sie zukunftsbezogene Aspekte heranzuziehen. Diese hier befürwortete Art und Weise der Sozialplangestaltung lässt sich zugunsten des Arbeitgebers auch kostenneutral umsetzen.168 Da der Charakter von Sozialplanleistungen der Dreh- und Angelpunkt der gesamten 75 Diskussion ist, hängt von ihm auch die weitere Rechtmäßigkeitskontrolle von Sozialplanleistungen ab, und er bestimmt die entsprechende Zwecksetzung der Prüfrichtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.169 Das gilt natürlich auch für den Kontrollmaßstab des Verbots der Altersdiskriminierung. Prüft man ihn – wie an dieser Stelle vertreten – streng und verwendet gegebenenfalls zudem ein Kohärenzgebot,170 wäre die vom BAG im Jahre 2008 bestätigte Sozialplanrechtsprechung171 nicht mehr zu halten. Auf die Frage, wie sich die RL 2000/78/EG dazu verhält, dass Sozialplänen nach §§ 112, 76 112a BetrVG Überbrückungs- und/oder Entschädigungscharakter zukommt, und ob ältere Arbeitnehmer dadurch aufgrund des Alters benachteiligt werden, hat der EuGH in Ermangelung eines Vorlageverfahrens eines deutschen Arbeitsgerichtes bisher noch nicht eindeutig antworten können. Die Tendenz wird wohl allerdings dahin gehen, dass der EuGH die Rechtsprechungspraxis des BAG unter dem Gesichtspunkt der Altersdiskriminierung passieren lassen würde. Darauf deuten zum einen die die allgemeine Altersgrenze bestätigenden Urteile des EuGH hin,172 zum anderen einschlägige Präjudizien von ihm, die das dänische Arbeitsrecht betreffen. Zwar konnte man in diesem Zusammenhang vor allem aus der EuGH-Entscheidung Andersen noch auf eine kritischere Haltung hoffen, weil der EuGH das mögliche Interesse auch älterer Arbeitnehmer, auf dem Arbeitsmarkt zu bleiben, obwohl sie in Rente gehen könnten, besonderes hervorhob.173 In der späteren 166 Jacobs/Mallorny, Die Zulässigkeit von starren Höchstbegrenzungsklauseln in Sozialplänen, NZA
2018, S. 557; Preis/Reuter (Fn. 138), § 6 Rn. 6.112 f.; ausführlich Temming (Fn. 7), S. 272 ff.; ders., Für einen Paradigmenwechsel in der Sozialrechtsplanung, RdA 2008, S. 205. 167 Zur namensgebenden Rechtsprechung aus dem Recht der betrieblichen Altersvorsorge vgl. grundlegend BAGE 27, 194 (1975); Dieterich, Ein Richterleben, 2016, S. 111. 168 Temming (Rn. 166), S. 214. 169 Prüfungsmaßstab ist § 75 Abs. 1 BetrVG, wobei zur Rechtfertigung aus Sicht des BAG auf § 10 Satz 3 Nr. 2, 3, 6 bzw. § 10 Satz 1 und Satz 2 AGG (je nach Charakter der Sozialplanleistung) und aus Sicht des EuGH auf Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG zurückgegriffen werden kann. 170 Vgl. die Ausführungen unter Rn. 30 ff. (B. III. 2.). 171 BAG, NZA 2009, S. 386; BAG, NZA 2009, S. 210; BAG, NZA 2009, S. 849; siehe auch Roth, Zur Altersdiskriminierung durch eine Höchstbetragsklausel in einem Sozialplan, EWiR 2009, S. 167 f. 172 Vgl. dazu die Ausführungen sogleich unter Rn. 78 ff. (C. III. 3. a)). 173 EuGH, Urt. v. 12.10.2010, Rs. C-499/09, Andersen; siehe auch Grünberger, Altersdiskriminierung und Abfindungsansprüche, EuZA 2011, S. 171; in diese Richtung auch EuGH, Urt. v. 26.9.2013, Rs. C-546/11, Dansk Jurist mit Anmerkung Ulber, Grenzen der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen wegen des Alters, EuZA 2014, S. 202. Felipe Temming
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Rechtssache Odar beachtete der EuGH dieses Arbeitnehmerinteresse aber nicht mehr.174 Der EuGH akzeptierte damit wohl unausgesprochen den Umstand, dass der klagende Arbeitnehmer Odar zumindest die Hälfte der im konkreten Fall ausgezahlten Standardabfindung erhalten hatte. Das war in der Rechtssache Andersen anders gewesen; dort hatte der Arbeitnehmer gar keine Abfindung erhalten.175 Hinzuweisen bleibt noch darauf, dass der EuGH die Sozialplanrechtsprechung am Maßstab des Verbots der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung weitaus strenger überprüft und konsequent durchgreift.176 3. Altersgrenzen 77 Nicht nur ambivalent, sondern sogar belastend wirkt sich Seniorität mit Blick auf Alters-
grenzen aus. Sie beenden zu einem bestimmten Zeitpunkt das Arbeitsverhältnis, ohne dass es hierfür einer arbeitgeberseitigen Kündigung bedarf. Eine gesetzlich normierte Altersgrenze gibt es für das Arbeitsrecht nicht. Von großer Relevanz sind tarifvertragliche Altersgrenzen, die nachfolgend im Fokus stehen. Zu unterscheiden sind die allgemeine und die besondere Altersgrenze.
a) Allgemeine Altersgrenze 78 Nach der allgemeinen Altersgrenze endet das Arbeitsverhältnis, ohne dass es einer Kündi-
gung bedarf, mit Vollendung des 67. Lebensjahrs des Arbeitnehmers. Zu diesem Zeitpunkt erreicht er die sogenannte Regelaltersgrenze, um seine reguläre Altersrente zu beantragen, vgl. § 35 SGB VI. Vor 1964 geborene Arbeitnehmer erreichen die Regelaltersgrenze gem. § 235 SGB VI frühestens am Ende des Monats, in dem sie das 65. Lebensjahr vollendet haben, wobei die Regelaltersgrenze bis 2029 kontinuierlich ansteigt, je höher das Geburtsjahr ist. Hinzuweisen ist auch auf die Vorschrift des § 41 Satz 3 SGB VI: Sieht eine Vereinbarung die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Erreichen der Regelaltersgrenze vor, können die Arbeitsvertragsparteien durch Vereinbarung während des Arbeitsverhältnisses den Beendigungszeitpunkt, gegebenenfalls auch mehrfach, hinausschieben.177 Die Norm wird als lex specialis ohne verdrängende Wirkung zu § 14 TzBfG begriffen und gewährt den Arbeitsvertragsparteien aufgrund ihrer bedenklich weiten Auslegung größ174 EuGH, Urt. v. 6.12.2012, Rs. C-152/11, Odar; vorlegendes Gericht ArbG München, Entsch. v.
17.2.2011, 22 Ca 8260/10.
175 Preis/Reuter (Fn. 138), § 6 Rn. 6.111. 176 Ebenfalls EuGH, Urt. v. 6.12.2012, Rs. C-152/11, Odar; ebenso EuGH, Urt. v. 19.9.2018, Rs. C-312/17,
Surjit Singh Bedi.
177 Zur unionsrechtlichen Unbedenklichkeit von § 41 Satz 3 SGB VI siehe die spitzfindige Entscheidung
EuGH, Urt. v. 28.2.2018, Rs. C-46/17, Hubertus John; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit BAG, NZA 2019, S. 523; zustimmend Greiner, Das „Hinausschieben“ von Altersgrenzen und seine Vereinbarkeit mit europäischem Befristungs- und Antidiskriminierungsrecht, RdA 2018, S. 65; Giesen, Befristete Arbeitsverhältnisse im Rentenalter, ZfA 2014, S. 217 (235 f.); Rolfs, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 22. Aufl. 2022, § 41 SGB VI Rn. 21–24, a. A. noch bis zur 18. Aufl.; zu § 41 SGB VI a. F. siehe EuGH, Urt. v. 12.10.2010, Rs. C-45/09, Rosenbladt; BAG, NZA 2010, S. 1167; BAG, NZA 2022, S. 290 (zur Mitbestimmungspflichtigkeit nach § 99 Abs. 1 BetrVG). Felipe Temming
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te Vertragsfreiheit, falls sich ein Sachgrund i. R. d. § 14 Abs. 1 TzBfG nicht finden lässt.178 Kehrseite der Medaille ist, dass der ältere Arbeitnehmer über keinen Bestandsschutz mehr verfügt. Die Zulässigkeit der allgemeinen Altersgrenze (dazu sogleich) und § 41 Satz 3 SGB VI haben zu einem zweigeteilten Arbeitsmarkt oberhalb und unterhalb der Regelaltersgrenze geführt.179 Die ständige Rechtsprechung des BAG begreift die allgemeine Altersgrenze als Sach- 79 grund für eine Befristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 TzBfG (ein in der Person des Arbeitnehmers liegender Grund)180 und sieht allgemeine Altersgrenzen in Tarifverträgen,181 Betriebsvereinbarungen182 und Arbeitsverträgen183 als zulässig an. Hauptargument ist i. R. d. § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG der Umstand, der Beschäftigte könne bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Regelaltersrente beziehen.184 Ob insbesondere die eine allgemeine Altersgrenze tragenden legitimen Ziele (generationengerechte Verteilung der Arbeitsplätze sowie vorhersehbare Personal- und Nachwuchsplanung) und eine zumutbare Altersabsicherung im konkreten Einzelfall überhaupt vorliegen, prüft das BAG i. R. d. Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht.185 Die ständige Rechtsprechung des BAG und die ihr zustimmende Literatur wissen den 80 EuGH an ihrer Seite, da er die allgemeine Altersgrenze für rechtmäßig befunden hat.186 Danach dienen die Altersgrenzen insbesondere der generationengerechten Verteilung der Arbeitsplätze und der vorhersehbaren Personal- und Nachwuchsplanung. Eine wie auch immer geartete Altersabsicherung ist unerheblich.187 Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung findet damit im Ergebnis nicht mehr statt. 178 Bspw. Wissenserhalt, Wissenstransfer oder Einarbeitung eines Nachfolgers; zu letzterem BAG NZA
2015, S. 1066; siehe auch Sprenger, Die befristete Beschäftigung von Rentenanwärtern und Rentnern, BB 2016, S. 757. 179 Instruktiv Chandna-Hoppe, Die Weiterbeschäftigung nach Erreichen des Rentenalters, 2019; Chandna-Hoppe, Das unionsrechtliche Befristungsrecht und die Weiterbeschäftigung nach Erreichen der Regelaltersgrenze, RdA 2019, S. 200; siehe auch Westermeier (Fn. 137); zu den Möglichkeiten der Befristung von Arbeitsverträgen mit Rentnern, wenn auf § 41 Satz 3 SGB VI nicht zurückgegriffen werden kann, vgl. Gräfl, Die Entwicklung der Rechtsprechung zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen durch Altersgrenzen, in: FS Schmidt, 2021, S. 769 (781–783); Seiwerth, Altersgrenzen für Frührentenberechtigte, NZA 2022, S. 375. 180 BAG, NZA 2008, S. 1302; BAG, NZA 2006, S. 37 m. w. N.; siehe auch Müller-Glöge, in: Müller-Glöge/ Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2022, § 14 TzBfG Rn. 56 ff.; die dogmatische Einordnung der Altersgrenze als Sachgrund überzeugt nicht, eher liegt eine sachgrundlose Befristung vor, vgl. Temming (Fn. 7), S. 346 f. und Temming, EzA § 14 TzBfG Nr. 49. 181 BAG, NZA 2011, S. 586. 182 BAG, NZA 2013, S. 916; BAG, NZA 2017, S. 738. 183 BAG, NZA 2018, S. 507; BAG, NZA 2015, S. 1066; BAG, NZA 2016, S. 695; BAG, NZA 2013, S. 1428. 184 BAG, NZA 2013, S. 916 (919); BAG, NZA 2016, S. 54 (56 ff.). 185 BAG, NZA 2008, S. 1302. 186 EuGH, Urt. v. 16.10.2007, Rs. C-411/05, Palacios de la Villa; EuGH, Urt. v. 18.11.2010, Rs. C-250/09, 268/09, Georgiev; EuGH, Urt. v. 21.7.2011, Rs. C-159/10, C-160/10, Fuchs/Köhler; EuGH, Urt. v. 12.10.2010, Rs. C-45/09, Rosenbladt; EuGH, Urt. v. 5.7.2012, Rs. C-141/11, Hörnfeldt; EuGH, Urt. v. 28.2.2018, Rs. C-46/17, Hubertus John; siehe auch Skouris, „Irgendeine Begründung reicht nicht“, FAZ v. 28.7.2008; zustimmend statt vieler: Gräfl (Fn. 179), S. 769 (775 ff.). 187 Zur Relevanz dieses Aspektes ArbG Hamburg, Urt. v. 20.1.2009, 21 Ca 235/08; resignierend WiedeFelipe Temming
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Dass diese Rechtsprechungslinie des EuGH nach hier vertretener Sicht das Verbot der Altersdiskriminierung vollständig opfert und abzulehnen ist, dürfte wenig überraschen.188 Prüft man den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch nur einigermaßen konsequent durch, müsste die allgemeine Altersgrenze auf jeder Prüfungsstufe scheitern. So ist bereits angesichts der legitimen Ziele (generationengerechte Verteilung der Arbeitsplätze, vorhersehbare Personal- und Nachwuchsplanung) ihre Notwendigkeit oder Geeignetheit zweifelhaft,189 zumal der EuGH unkritisch fragwürdige, der allgemeinen Altersgrenze zugrunde liegende volkswirtschaftliche Annahmen übernommen hat.190 Unabhängig davon wäre die Erforderlichkeit von allgemeinen Altersgrenzen abzulehnen.191 Das hat seinen Grund in der Starrheit allgemeiner Altersgrenzen. Als milderes Mittel kommen nämlich flexible Lösungen in Betracht. Sie sind in der Regel dergestalt formuliert, dass Arbeitnehmer sich bspw. ein Jahr vor Erreichen der Regelaltersgrenze zu ihrer Weiterbeschäftigung äußern müssen und der Arbeitgeber dem Verlangen des Arbeitnehmers (dringende) Gründe der ausgewogenen Personalstruktur des Unternehmens bzw. der mangelnden Eignung entgegenhalten kann.192 Es verbleibt dann nur noch die Frage, wie die Darlegungs- und Beweislast zu verteilen ist. Wegen § 22 AGG müsste diese beim Arbeitgeber liegen.193 Schließlich müsste zumindest noch geprüft werden, ob der Arbeitnehmer im konkreten Einzelfall angemessen abgesichert ist, um die Stufe der Zumutbarkeit zu erfüllen.194 Freilich kommt es nach herrschender Meinung weder auf eine volle Regelaltersrente i. S. d. § 35 SGB VI noch auf irgendeine Alterssicherung an. Ob der bereits erwähnte § 41 Satz 3 SGB VI in diesem Zusammenhang die Belastung abmildern könnte, ist m. E. abzulehnen, weil er zum einen die mann, Altersschutz und Generationengerechtigkeit, RdA 2017, S. 333 (335): „Ideal wäre eine Überprüfung der Versorgungslage im Einzelfall, aber das ist bei einer staatlichen oder betrieblichen Altersversorgung nicht durchführbar.“ 188 Kritisch unter anderem Benecke, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: März 2022, § 10 AGG Rn. 117–120; zur Frage der pauschalen Rechtmäßigkeit von Altersgrenzen vor Erreichen der Regelaltersrente siehe Wiedemann (Rn. 187), S. 335. 189 Temming (Fn. 7), S. 303–367, 602–619 m. w. N.; siehe auch Kolbe, Kücükdeveci und tarifliche Altersgrenzen, BB 2010, S. 501 (503), der nach der EuGH-Entscheidung Kücükdeveci die allgemeine tarifliche Altersgrenze für nicht mehr rechtfertigungsfähig hält. 190 Dabei geht es namentlich um die sogenannte lump of labour fallacy. Allgemein ablehnend auch Franzen, Die Veränderung des Arbeitszeitvolumens im Spannungsverhältnis zwischen persönlichen und betrieblichen Arbeitszeitinteressen, SR 2019, S. 12. 191 Auch wenn diese Feststellung bei v. Hoff (Fn. 87), S. 273–301 nicht ausdrücklich fällt, sind seine Ausführungen zur Problematik der Altersgrenzen nur dann schlüssig, wenn auch er die tarifliche allgemeine Altersgrenze für unzulässig hält, vgl. allerdings auch a. a. O., S. 272, 278, 379. 192 Beispiele bei Waltermann, Das Alter, die Demografie und das Arbeitsrecht im Europäischen Kontext, RdA 2015, S. 343 (352); ders., Altersdiskriminierung, ZfA 2006, S. 305 (325); Preis/Henssler, § 130 ArbVG-E, NZA-Beilage 21/2007, S. 6 (29); siehe auch Preis, Reform des Bestandsschutzrechts im Arbeitsverhältnis, RdA 2003, S. 65 (79) – dort mit einem Entwurf eines § 19. 193 Auch i. R. d. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 TzBfG liegt die Darlegungs- und Beweislast beim Arbeitgeber, vgl. Temming, EzA § 14 TzBfG Nr. 49. 194 Vorzugswürdig sind freilich Lösungen, die gänzlich auf Altersgrenzen verzichten und Anreize zu einem gleitenden Übergang in die Rentenphase innerhalb eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses setzen könne. Zugestanden sei, dass dies freilich ein Aspekt ist, der i. R. d. mitgliedstaatlichen Einschätzungsprärogative liegen dürfte. Felipe Temming
C. Typische Fallgestaltungen mit Altersrelevanz im Arbeitsrecht
469
Bereitschaft des Arbeitgebers voraussetzt, den Arbeitsvertrag über die Regelaltersgrenze hinaus zu verlängern, und zum anderen in seiner aktuellen Fassung dem Arbeitnehmer jeglichen Bestandsschutz nimmt, den er im Falle der Unverhältnismäßigkeit einer allgemeinen Altersgrenze hätte. b) Besondere Altersgrenze
In Tätigkeitsbereichen mit hohen Sicherheitsanforderungen begrenzen besondere tarif- 82 vertragliche Altersgrenzen die Tätigkeitsdauer von Arbeitnehmern. Anders als die allgemeine Altersgrenze wirken sie nicht pauschal, beenden das Arbeitsverhältnis indes noch vor Erreichen der Regelaltersgrenze. Der EuGH prüft in diesem Zusammenhang strenger, wenngleich nicht gänzlich ohne Widersprüche. Eine besondere nationale tarifliche Altersgrenze von 60 Jahren war für die Verkehrspilo- 83 ten und Verkehrspilotinnen der Lufthansa in § 19 Abs. 1 Satz 1 MTV Nr. 5a für das Cockpitpersonal bei Lufthansa niedergelegt. Bis 2009 erkannte das BAG in ständiger Rechtsprechung diese Altersgrenze als zulässigen Sachgrund i. S. d. § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG an und bewertete sie mit Hinweis auf die Flugsicherheit als durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 RL 2000/78/ EG gerechtfertigt.195 Das sah der EuGH in der Entscheidung Prigge differenzierter.196 Er maß die Pilotenaltersgrenze in Anlehnung an die Entscheidung Petersen an den strengen Vorgaben des Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG und kam zu dem sehr überzeugenden Ergebnis, dass diese unverhältnismäßig sei. Hauptargument war der Umstand, dass einschlägige nationale und internationale Regelungen die Ausübung der Tätigkeit als Verkehrspilot unter bestimmten Bedingungen bis zum Alter von 65 Jahren gestatten.197 Hingegen darf eine unionsrechtliche Altersgrenze von 65 Jahren nur für den gewerb- 84 lichen Luftverkehr die Unterschiede zwischen gewerblichem und nicht gewerblichem Luftverkehr berücksichtigen, nämlich insbesondere die größere technische Komplexität der Luftfahrzeuge und die höhere Anzahl betroffener Personen im gewerblichen Luftverkehr. Solche Unterschiede rechtfertigen nach Auffassung des EuGH die Aufstellung unterschiedlicher Regelungen, um die Sicherheit des Flugverkehrs für die beiden Verkehrsarten zu gewährleisten.198 Hinzuweisen ist darauf, dass diese Altersgrenze auf Leer- oder Überführungsflügen nicht galt, weil diese nicht zum gewerblichen Luftverkehr zählen. Piloten durften daher auch nach dem Erreichen der Altersgrenze noch eingesetzt werden. Das führt zu dem Stirnrunzeln hervorrufenden Ergebnis, dass die nämliche Tätigkeit aus Sicherheitsgründen dann unzulässig sein soll, wenn sich in dem Flugzeug etwa ein entgeltlich zu beförderndes Postpaket befindet.199 Überzeugender argumentierte der EuGH in der Rechtssache Cafaro, die einen italienischen Sacherhalt betraf: Werde durch eine 195 BAG, Urt. v. 21.7.2004, 7 AZR 589/03. 196 EuGH, Urt. v. 13.9.2011, Rs. C-447/09, Prigge. 197 Vgl. noch die ehemalige VO über Luftfahrtpersonal bzw. § 20 LuftVZO in Verbindung mit JAR-FCL
1.060. Diese Regelungen wurden von Regelung FCL.065 im Anhang I der VO 1178/2011 abgelöst.
198 EuGH, Urt. v. 5.7.2017, Rs. C-190/16, Werner Fries. 199 Sagan, Aktuelle Entwicklungen der Rechtsprechung im europäischen Arbeits- und Sozialrecht, NZA-
Beilage 3/2018, S. 47 (48).
Felipe Temming
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§ 10 Alter als Diskriminierungskategorie
Altersgrenze von 60 Jahren nicht nur die Flug-, sondern darüber hinaus auch die nationale Sicherheit geschützt, könne dies einen Rechtfertigungsgrund darstellen und damit auch einer besonderen Altersgrenze zur Wirksamkeit verhelfen. Hintergrund war, dass der beklagte Arbeitgeber für die italienischen Geheimdienste vertrauliche Tätigkeiten zum Schutz der nationalen Sicherheit ausübte, bei denen erwiesenermaßen besonders hohe körperliche Fähigkeiten verlangt werden. Die Besonderheit des zugrundeliegenden Urteils bestand zudem darin, dass der EuGH den Sachverhalt nicht unter die Regel FCL.065 lit b des Anhangs I der VO EUV 1178/2011 subsumieren konnte.200
D. Altersdiskriminierung im allgemeinen Zivilrecht 85 Das AGG schützt auch Altersdiskriminierungen außerhalb des Arbeitsrechts. § 19 Abs. 1
AGG verankert ein allgemeines zivilrechtliches Benachteiligungsverbot,201 das bei der Begründung, Durchführung und Beendigung von privatrechtlichen Schuldverhältnissen zur Anwendung kommt. Freilich muss es sich dabei im Grundsatz um ein Massengeschäft oder eine privatrechtliche Versicherung handeln, vgl. § 19 Abs. 1 AGG. Benachteiligungen aufgrund des Alters können gem. § 20 AGG gerechtfertigt werden. Im Falle der Verletzung des Benachteiligungsverbots ergeben sich die grundlegenden Ansprüche nach § 21 AGG. Hinzuweisen ist darauf, dass hinsichtlich des Merkmals „Alter“ die §§ 19 ff. AGG nicht dazu dienen, unionsrechtliche Vorgaben umzusetzen. Vielmehr hat sich der Gesetzgeber insoweit für eine überschießende Richtlinienumsetzung entschieden.202 Die Diskriminierungsrichtlinien stehen diesem Vorgehen nicht entgegen, da sie lediglich eine Mindestharmonisierung vorsehen. Freilich bedeutet dies dann aber auch, dass dem EuGH diesbezüglich nicht das Auslegungsmonopol zukommt. Das Verbot der Altersdiskriminierung hat im allgemeinen Privatrecht nicht für derart 86 intensive Diskussionen gesorgt wie im Arbeitsrecht. Praxisrelevant sind Unterscheidungen wegen des Alters insbesondere im Versicherungsrecht geworden, so in allen Bereichen der Personenversicherung (Lebens-, Kranken- und Unfallversicherung). Beruhen diese Unterscheidungen allerdings auf anerkannten Prinzipien risikoadäquater Kalkulation, lassen sich diese gem. § 20 Abs. 2 Satz 2 AGG rechtfertigen.203 Beschäftigt haben Instanzgerichte, soweit ersichtlich, Benachteiligungen aufgrund des Alters wegen der Gewährung vergüns200 EuGH, Urt. v. 7.11.2019, C-396/18, Gennaro Cafaro; Klein/Kern, Rechtmäßigkeit einer Altersgrenze
von 60 Jahren für die Tätigkeit als Pilot einer für den Geheimdienst tätigen Fluggesellschaft, EuZA 2020, S. 511. 201 Lehner, Diskriminierungen im allgemeinen Privatrecht als Grundrechtsproblem, JuS 2013, S. 410; Franke, Das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) in der Rechtsprechung, NJ 2010, S. 233; BT-Drs. 16/1780, S. 40. 202 Dasselbe betrifft das Verbot von Ungleichbehandlungen aus Gründen der Religion, einer Behinderung oder der sexuellen Identität. 203 Statt vieler Thüsing (Fn. 91), § 20 AGG Rn. 63 f., der hiervon auch ein Aufnahmehöchstalter gedeckt sieht, das in zahlreichen privaten Krankenversicherungstarifen enthalten ist. Felipe Temming
E. Fazit
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tigter Tarifkonditionen im Personennah- und Fernverkehr, und zwar entweder wegen Vergünstigungen für Studenten, Auszubildende oder Schüler oder für Senioren.204 Derartige Ungleichbehandlungen werden jedoch zumeist als zulässig gem. § 20 Abs. 1 87 Satz 1 Nr. 3 AGG angesehen. Die gewährten Vergünstigungen sollen nämlich entweder darauf reagieren, dass bestimmte Gruppen weniger leistungsfähig sind, oder aber die Vergünstigungen bezwecken die gezielte Ansprache von Kundenkreisen, die der Anbieter anlocken möchte. Diese Maßnahmen sind also nach Auffassung des Gesetzgebers nicht diskriminierend, sondern im Gegenteil sozial erwünscht bzw. Bestandteil einer auf Wettbewerb beruhenden Gesellschaft.205 Ebenfalls für zulässig gem. § 20 Abs. 1 Satz 1 AGG befand das AG München eine punk- 88 tuelle Diskriminierung älterer Personen im geschäftlichen Verkehr in der Weise, dass die Möglichkeit eines Teilzahlungskaufs, im konkreten Fall durch einen Teleshopping-Sender bei einem Schmuckkauf durch die 1931 geborene Klägerin, nicht eingeräumt wurde. Das AG München begründete seine Rechtsauffassung damit, dass bei älteren Personen die Gefahr des Ablebens tendenziell höher sei, so dass in diesen Fällen die Forderungen des Gläubigers gegen die verstorbene Person auf den Nachlass übergingen und hierdurch ein erhöhter Verwaltungsaufwand sowie ein höheres wirtschaftliches Risiko bei Teilzahlungsgeschäften begründet seien.206
E. Fazit Altersdifferenzierende Regelungen können am Maßstab des Verbots der Altersdiskrimi- 89 nierung gemessen werden. Es ist unter anderem in Art. 21 GRCh, Art. 1 RL 2000/78/EG und § 1 AGG ausdrücklich niedergelegt. Im allgemeinen Zivilrecht, wo die Vorgaben der §§ 19 ff. AGG zu beachten sind, sind altersdiskriminierende Regelungen nicht häufig anzutreffen. Falls doch, lassen sie sich im Grundsatz vertretbar rechtfertigen.207 Eine praxisrelevante Rolle spielt das Verbot der Altersdiskriminierung dagegen im Arbeitsrecht. In Deutschland ist das Verbot der Altersdiskriminierung auf eine überkommene ar- 90 beitsrechtliche Regulierung getroffen, die prinzipiell ältere Arbeitnehmer schützt. Widersprüchlich hierzu verhält sich die durch Sonderregeln und Arbeitsgerichte geprägte Praxis, die das Gegenteil bewirkt – also die Verdrängung Älterer aus der Arbeit. Faktisch werden sie dadurch benachteiligt und Jüngere begünstigt. Zuviel Schutz schadet und kehrt sich 204 AG Berlin-Schöneberg, Urt. v. 12.1.2012, 10 C 80/11; AG Düsseldorf, Urt. v. 11.5.2010, 58 C 1687/10:
Senioren; AG Mannheim, Urt. v. 6.6.2008, 10 C 34/08; vgl. im internationalen menschenrechtlichen Kontext die Entscheidung des Menschenrechtsausschusses v. 16.7.2001 in der Sache Schmitz-de-Jong v. Netherlands (Fn. 12): Seniorenpass „PAS-65“. 205 AG Berlin-Schöneberg, Urt. v. 12.1.2012, 10 C 80/11; AG Düsseldorf, Urt. v. 11.5.2010, 58 C 1687/10; zustimmend Franke (Fn. 201), S. 239; ebenso BT-Drs. 16/1780, S. 40, 44. 206 AG München, Urt. v. 13.4.2016, 171 C 28560/15 mit zustimmender Anmerkung Buck-Heeb, WuB 2018, S. 600. 207 Ebenso die Feststellung im Kongressbericht von Waltermann, Alternde Gesellschaft und die Antworten des Rechts, NZA 2018, S. 16 (17). Felipe Temming
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§ 10 Alter als Diskriminierungskategorie
im Ergebnis in Diskriminierung um. Das ist kontraproduktiv208 und kann nicht zukunftsweisend sein. Das Arbeitsrecht muss die demographisch bedingte Alterung der Gesellschaft, eines der drängenden Themen unserer Zeit, wahrnehmen.209 Wenngleich sich die Situation älterer Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt im Grundsatz verbessert hat, gibt es durchaus nachhaltigere und widerspruchsfreiere Möglichkeiten, die im Rahmen eines Gesamtkonzepts mehr Produktivität in unserer Gesellschaft entfesseln.210 Leider bestehen bei den stakeholdern im Arbeitsrecht Widerstände, solche zu ergreifen. Das Verbot der Altersdiskriminierung als neues Menschenrecht vermag eigentlich, den bisherigen Weg in Frage zu stellen. Es sollte als Chance, nicht als Last begriffen werden.211 Würde es mutig und konsequent angewendet, könnte ein reformiertes Arbeitsrecht einen wichtigen Beitrag für den gesellschaftlichen Wohlstand liefern. Doch der jetzige juristische common sense schreckt davor zurück. Das betrifft sowohl die nationale als auch die unionale Ebene und damit namentlich BAG und EuGH.212 91 Die Rechtsprechung des EuGH zur Altersdiskriminierung im Arbeitsrecht hat eindringlich aufgezeigt, dass die Formel „Verhältnismäßigkeitsprüfung gleich strenge Prüfung“ nicht stimmt. Die Effektivität einer Verhältnismäßigkeitsprüfung hängt von der jeweiligen richterlichen Kontrolldichte i. R. d. Verhältnismäßigkeit ab. Davon wiederum hängt die Wirkkraft des Verbots der Altersdiskriminierung essentiell ab. Die Diskriminierungsdogmatik verlangt nun eigentlich nach einer strikten Verhältnismäßigkeits- und Kohärenzprüfung, wenn es um Unterscheidungen nach dem Lebensalter geht. Herausgekommen ist nach der Mangold-Entscheidung aber ein Strauß in sich widersprüchlicher EuGHEntscheidungen auf diesem Gebiet. In diesen fluktuierte die Kontrolldichte immens. Die Wirkkraft des Verbots der Altersdiskriminierung hat der EuGH, sofern ihm opportun, bis hin zu homöopathischen Dosen verwässert, insbesondere als er die allgemeine Regelaltersgrenze und § 41 Satz 3 SGB VI überprüfte. Unausgesprochen bekam der EuGH wohl Angst vor seiner eigenen Courage, in das mitgliedstaatliche Arbeits- und Sozialrecht allzu sehr zu intervenieren. Die größtenteils auf Beharrung pochende Rechtsprechung des BAG hat das Lavieren und die teilweise Zurückhaltung des EuGH nur allzu gerne aufgenommen, ohne ihrerseits die Bereitschaft erkennen zu lassen, dem EuGH die wirklich altersdiskriminierenden Brennpunkte des Arbeitsrechts vorzulegen. 208 In diese Richtung auch v. Hoff (Fn. 87), S. 323, 365–369, 379. 209 Waltermann, Integration von Älteren in das Erwerbsleben, ZfA 2017, S. 445 (460 f.); ders., Das Alter,
die Demografie und das Arbeitsrecht im Europäischen Kontext, RdA 2015, S. 343 (352); ders., Altersgrenzen und Altersrenten, SR 2014, S. 66; Temming (Fn. 7), S. 4–6. 210 Dazu gehört auch das Sozialversicherungsrecht; siehe auch Walwei, Trends in der Beschäftigung Älterer, WSI Mitteilungen 1 (2018), S. 3; Westermeier (Fn. 137); Koch/Kupka/Steinke (Fn. 129), S. 195 f. 211 Positiv bspw. auch Britz (Fn. 46); viel kritischer Bauer, Altersdiskriminierung – oder: Der Arbeitgeber zwischen Skylla und Charybdis, in: FS Adomeit, 2008, S. 25. 212 Zum EuGH vgl. die Ausführungen unter Rn. 31 (B. III. 2.); mit Blick auf das BAG lässt sich feststellen, dass es seine Einstellung mit der Haltung des Gesetzgebers gemein hat, was ein Blick auf den speziellen Rechtfertigungskatalog für Altersdiskriminierungen in § 10 AGG a. F. und n. F. erhellt; siehe auch kritisch Preis, Diskriminierungsschutz zwischen EuGH und AGG (Teil I), ZESAR 2007, S. 249; ders. (Fn. 45), S. 308 ff.; Schlachter, Das Arbeitsrecht im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, ZESAR 2006, S. 391 (396). Felipe Temming
E. Fazit
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15 Jahre nach der mutigen und überzeugenden Mangold-Entscheidung des EuGH zeigt 92 sich, dass das Verbot der Altersdiskriminierung ein Opfer seines jungen Alters und seiner potentiellen Stoßkraft geworden ist. Zugespitzt formuliert wird das Verbot der Altersdiskriminierung selbst aufgrund seines noch jungen Alters benachteiligt – im Vergleich zu den anderen Diskriminierungsverboten in Art. 21 GRCh und denjenigen in der RL 2000/78/ EG. Der dogmatische Grundsatz, dass besondere Diskriminierungsverbote regelmäßig gleich intensiv zu prüfen sind, sofern keine anderweitigen Sachgründe ersichtlich sind (und das ist in dem hier interessierenden Punkt nicht der Fall),213 gilt für das Verbot der Altersdiskriminierung offensichtlich nicht. Es bleibt abschließend festzustellen: Alle Diskriminierungsverbote sind gleich, manche sind gleicher.
213 Allgemein dazu Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 622; Damm, Menschenwürde,
Freiheit, komplexe Gleichheit, 2006, S. 376–546.
Felipe Temming
§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung Cara Röhner Inhaltsübersicht Rn. A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Erfahrungen von Diskriminierung wegen der sozioökonomischen Lage . . . . . . . . . . . . . . . . II. Sozioökonomische Lücke im Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 5
B. Konzeptionelle Konturierung der sozioökonomischen Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Duale, materiale und intersektionale Perspektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dualität von sozialer Ungleichheit und Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materiale Gleichheit zur Adressierung struktureller Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Intersektionale sozioökonomische Diskriminierungserfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausprägungen sozioökonomischer Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12 12 13 16 20 22
C. Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Völkerrechtliche Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte . . . . . . . . . . . . . . . 2. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Lebensbereichsspezifische Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europarechtliche Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Einfachgesetzliche Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 24 25 28 29 32 37 40 44
D. Praktische Implikationen der Anerkennung sozioökonomischer Diskriminierung . . . . . . . . I. „Armutsmigration“ in Europa: Beschränkter Zugang von Unionsbürger:innen zu existenzsichernden Leistungen als rechtliche Differenzierung nach dem sozialen Status . . II. Sanktionen im SGB II: Die rechtliche Hierarchisierung von Arbeitsuchenden und ein fehlender Diskriminierungsschutz im Sozialverfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bildungsbenachteiligung in der Pandemie: Schulschließungen und Studierendenkredite .
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E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung
A. Einleitung I. Erfahrungen von Diskriminierung wegen der sozioökonomischen Lage
In der empirischen Studie Diskriminierungserfahrungen in Deutschland wurden Daten zur Diskriminierung wegen der sozioökonomischen Lage erhoben.1 Die Autor:innen der Studie definieren die sozioökonomische Lage über einen niedrigen Bildungsstand2 und/oder ein geringes Haushaltseinkommen3. Unter Diskriminierungssituationen verstehen sie körperliche Übergriffe, materielle Benachteiligung oder soziale Herabwürdigung.4 Insgesamt 10 Prozent der Befragten gaben an, aufgrund ihrer sozioökonomischen Lage diskriminiert worden zu sein. Damit ist die sozioökonomische Lage das zweithäufigste genannte Merkmal, aufgrund dessen Diskriminierungserfahrungen in Deutschland gemacht werden.5 Viele der Befragten gaben an, dass sie zudem aufgrund ihres Aussehens – z. B. aufgrund des Körpergewichts, der Körpergröße oder von Narben – oder aufgrund ihrer familiären Situation – d. h. als alleinerziehende Person oder aufgrund der Anzahl der Kinder – diskriminiert worden seien.6 Darüber hinaus wurden sich überschneidende Diskriminierungserfahrungen deutlich: Menschen mit Migrationshintergrund erfahren häufiger Diskriminierung aufgrund eines geringen Bildungsstandes und Personen mit Beeinträchtigungen erleben häufiger Benachteiligungen wegen eines niedrigen Einkommens.7 2 Die Untersuchung zeigt auf, dass Diskriminierungserfahrungen wegen der sozioökonomischen Lage insbesondere im Bildungsbereich gemacht werden. Der elterliche Bildungsstand und das Einkommen beeinflussen die Bildungswege und -erfolge der Kinder und Jugendlichen stark.8 Darüber hinaus manifestiert sich Diskriminierung wegen der sozioökonomischen Lage bei schlechteren Konditionen bei Finanzdienstleistungen, bei der Vergabe von Mietwohnungen oder bei schlechteren Bewertungen im Arbeitsleben. Von Ämtern und Behörden fühlen sich die Befragten zudem oftmals nicht ernst genommen und von oben herab behandelt.9 Die sozioökonomische Diskriminierung von Individuen ist eingebettet in gesamt3 gesellschaftliche Diskurse um Armut und soziale Ungleichheit. Das gesellschaftliche Bild 1
Beigang/Fetz/Kalkum/Otto, Diskriminierungserfahrungen in Deutschland, 2017. Z. B. Hauptschulabschluss. Haushaltseinkommen von weniger als 1.500 Euro. Beigang/Fetz/Kalkum/Otto (Fn. 1), S. 130. Beigang/Fetz/Kalkum/Otto (Fn. 1), S. 96, 104. Beigang/Fetz/Kalkum/Otto (Fn. 1), S. 97. Beigang/Fetz/Kalkum/Otto (Fn. 1), S. 295. Siehe auch die umfassende sozialwissenschaftliche Forschung dazu, statt vieler: Baader/Freytag (Hrsg.), Bildung und Ungleichheit in Deutschland, 2017; siehe auch die Beiträge in dem Sonderheft der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft „Herkunft und Bildungserfolg von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Forschungsstand und Interventionsmöglichkeiten aus interdisziplinärer Perspektive“, 2014, insbesondere Dumont/Maaz/Neumann/Becker, Soziale Ungleichheiten beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I: Theorie, Forschungsstand, Interventions- und Fördermöglichkeiten, S. 141; Baumert/ Stanat/Watermann (Hrsg.), Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen: Differenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Verteilungsgerechtigkeit, 2006. 9 Beigang/Fetz/Kalkum/Otto (Fn. 1), S. 296. 1 2 3 4 5 6 7 8
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A. Einleitung
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wird medial durch reißerische Berichterstattungen über Menschen ohne Arbeit und sogenanntes „Hartz-IV-Fernsehen“ geprägt.10 So wurden in der Studie Armutszeugnis. Wie das Fernsehen die Unterschichten vorführt die Thematisierungsweisen von Armut untersucht und diverse Zerrbilder, Vorurteile und Stereotype in der medialen Repräsentation von Armut nachgewiesen.11 Diese gründen in der Erwerbsarbeitsnorm, die die Sicherung einer auskömmlichen Existenz durch eine Erwerbstätigkeit als gesellschaftliche Normalität definiert und Arbeitslosigkeit und Armut als negative Abweichung davon sanktioniert. Diese gesellschaftlichen Vorurteile und negativen Eigenschaftszuschreibungen – wie etwa, dass Menschen ohne Arbeit faul seien oder dem Staat auf der Tasche lägen – wirken sich negativ auf das Selbstwertgefühl und das Erleben der Betroffenen aus. Menschen ohne Arbeit können daher ein Stigmabewusstsein entwickeln, also ein Bewusstsein für die subjektive erlebte Stigmatisierung durch Vorurteile. Dieses kann zu einer negativen Selbstwahrnehmung, Beeinträchtigungen des Wohlbefindens und der Gesundheit, schlechteren Leistungen und einer sozialen Isolierung aufgrund von Scham führen.12 Bei sozioökonomischer Diskriminierung handelt es sich insgesamt um individuell er- 4 lebte Benachteiligungen beim Zugang zu und bei der Verteilung von Ressourcen, Lebenschancen und Anerkennung, die in komplexe gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen eingebettet sind. II. Sozioökonomische Lücke im Antidiskriminierungsrecht
Die eingangs skizzierten Studien zeigen exemplarisch auf, dass Diskriminierung aus sozio- 5 ökonomischen Gründen ein verbreitetes Phänomen darstellt. Es liegt auf der Hand, dass Menschen mit geringem Einkommen oder mit einem geringen sozialen (Bildungs-)Status verschiedene Erfahrungen der Benachteiligung, Exklusion, Stigmatisierung und Missachtung machen. Dennoch spielt sozioökonomische Diskriminierung im antidiskriminierungsrecht- 6 lichen Diskurs bisher keine besonders große Rolle. Wenn es um soziale oder ökonomische Benachteiligung geht, dann wird dies in der Regel sozial- und verteilungspolitisch bzw. als sozialrechtliches Problem verhandelt.13 Zwar existieren Diskriminierungsverbote wegen der sozialen Herkunft, des (fehlenden) Vermögens oder des sozialen Status in verschiedenen fundamentalen Rechtsquellen, wie etwa in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG oder auch in völkerrechtlichen oder europarechtlichen Menschenrechtskonventionen (siehe dazu Abschnitt C.). Diese Diskriminierungsverbote haben jedoch bisher keine Relevanz in der Rechtspraxis entwickelt. Dies kann als soziale Lücke des Antidiskriminierungsschutzes 10 Zu Ressentiments gegen Erwerbslose in der Bild-Zeitung siehe Baron/Steinwachs, Faul, frech, dreist,
2012.
11 Gäbler, Armutszeugnis. Wie das Fernsehen die Unterschichten vorführt, 2020. 12 Zum Forschungsstand siehe Lang/Gross, Einflussfaktoren auf das Stigmabewusstsein Arbeitsloser,
Zeitschrift für Soziologie 48 (2019), S. 243 (245 ff.).
13 Dazu aus internationaler Sicht Atrey, The Intersectional Case of Poverty in Discrimination Law,
Human Rights Law Review 18 (2018), S. 411.
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§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung
oder auch als Dethematisierung von sozioökonomischer Benachteiligung im Rahmen des Sozialstaats verstanden werden.14 Die sozioökonomische Lücke des Antidiskriminierungsrechts zeigt sich exemplarisch im deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)15. Mit diesem Gesetz wurden die vier europäischen Gleichbehandlungsrichtlinien in das deutsche Recht umgesetzt. Mit dem AGG sollen Benachteiligungen aus Gründen der „Rasse“ oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität verhindert oder beseitigt werden (§ 1 AGG). Die Diskriminierung aufgrund des sozioökonomischen Status gehört nicht zum Katalog der Diskriminierungsgründe. Die Dualität von Diskriminierungsschutz und sozialen Rechten ist historisch geprägt und auf eine Dualität der Ungleichheitskämpfe zurückzuführen.16 Die sozialen Verwerfungen im Zuge der Industrialisierung haben zur sozialen Frage und der Arbeiter:innenbewegung geführt. Zentraler Bezugspunkt für die Auseinandersetzung um Verteilungsgerechtigkeit und Sozialstaatlichkeit sind daher soziale Klassen, Schichten und Milieus. Demgegenüber begründeten Kämpfe gegen Sklaverei, Geschlechterungleichheit und Antisemitismus die gegenwärtigen Antidiskriminierungs- und Gleichstellungspolitiken. So ist das U. S.-amerikanische Antidiskriminierungsrecht durch die Bekämpfung des Rassismus geprägt, das europäische und deutsche Antidiskriminierungsrecht durch die Benachteiligung aufgrund des Geschlechts.17 Die Dualität der Ungleichheitsdiskurse haben Axel Honneth und Nancy Fraser auf die Formel „Umverteilung oder Anerkennung?“ gebracht. Gegen die Aufspaltung dieser Diskurse plädiert insbesondere Fraser für eine duale Perspektive.18 Sowohl die Analyse als auch die Transformation der verschiedenen gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse benötigten eine duale Perspektive, die sowohl die Verteilungs- als auch die Anerkennungsdimension dieser adressiere (siehe dazu B. I.). Die Diskriminierung aus sozioökonomischen Gründen lässt sich also genau als eine solche Verschränkung von Verteilungs- und Anerkennungsungerechtigkeiten beschreiben. Die ungleiche Verteilung von Einkommen, Vermögen, Bildung und sozialem Status führt zu ganz unterschiedlichen Formen der Benachteiligung und Missachtung. Die festgestellte sozioökonomische Lücke des Antidiskriminierungsrechts beginnt sich langsam zu füllen.19 So haben die Autor:innen der Studie zu Diskriminierungserfahrungen in Deutschland empfohlen, die sozioökonomische Lage als Diskriminierungsmerkmal in 14 Dazu allgemein Röhner, Ungleichheit und Verfassung, 2019, S. 35 ff. 15 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer
Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897.
16 Einen Überblick zentraler Konzepte der Ungleichheits- und Diskriminierungsforschung gibt Scherr,
Diskriminierung und soziale Ungleichheiten, 2014.
17 Siehe dazu die (rechtsvergleichenden) Darstellungen bei Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichbe-
rechtigung, 2. Aufl. 1996; Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021; Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021; Röhner (Fn. 14), S. 150 ff. 18 Fraser, Social Justice in the Age of Identity Politics, 1998, S. 4. 19 Allgemein dazu Röhner (Fn. 14), S. 150 ff. Cara Röhner
B. Konzeptionelle Konturierung der sozioökonomischen Diskriminierung
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das AGG aufzunehmen und Betroffenen damit ein rechtliches Werkzeug in die Hand zu geben, um sich gegen Benachteiligungen zu wehren.20 Mit der Einführung des Berliner Landesantidiskriminierungsgesetzes (LADG)21 im Jahr 2020 wurde zudem der soziale Status erstmals in ein deutsches Antidiskriminierungsgesetz aufgenommen (siehe dazu C. IV.). Im Folgenden wird zunächst sozioökonomische Diskriminierung als rechtliche Anti- 11 diskriminierungskategorie konturiert (B.). Dafür wird eine duale, materiale und intersektionale Perspektive auf Diskriminierung aus sozioökonomischen Gründen vorgeschlagen. Zudem werden die verschiedenen Ausprägungen dieser Diskriminierungskategorie dargestellt. Es folgt eine Übersicht über die existierenden Diskriminierungsverbote aus verschiedenen Rechtsquellen (C.). Anschließend werden drei Konfliktfelder dargestellt, in denen Diskriminierungserfahrungen aus sozioökonomischen Gründen bisher dethematisiert wurden, und Potentiale für eine rechtliche Konkretisierung der sozioökonomischen Diskriminierung aufgezeigt (D.): Der Zugang von Unionsbürger:innen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende, die Sanktionierung von Leistungsberechtigten nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II)22 und der Bildungsbenachteiligung von Schüler:innen und Studierenden aus sozial benachteiligten Familien während der CoronaPandemie. Der Beitrag schließt mit einem Fazit (E.).
B. Konzeptionelle Konturierung der sozioökonomischen Diskriminierung I. Duale, materiale und intersektionale Perspektivität
Bei sozioökonomischer Diskriminierung geht es um die benachteiligenden Effekte von ge- 12 ringen ökonomischen Ressourcen oder einem geringen sozialen Status. Soziale Ungleichheit führt zu konkreten, nicht zu rechtfertigenden Benachteiligungen in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen, z. B. zu schlechteren Bewertungen im Arbeitsleben, schlechteren Chancen im Bildungssystem, Benachteiligungen bei der Wohnungssuche oder beim Kontakt mit Ämtern. Im Kern geht es dabei um ein Verständnis von Benachteiligung, das sozioökonomische Diskriminierung als komplexes und verschränktes Phänomen versteht. Zur Konturierung dieser Diskriminierungskategorie bedarf es daher einer dualen, materialen und intersektionalen Perspektivität im Recht.
20 Beigang/Fetz/Kalkum/Otto (Fn. 1), S. 298 f. Kritischer zur Erweiterung des AGG: Ernst & Young Law
GmbH, Rechtsexpertise zum Bedarf einer Präzisierung und Erweiterung des im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz genannten Merkmale, 2019, S. 98 ff. 21 Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz v. 11.6.2020, Berl. GVBl. 2020, S. 532. 22 § 31a und § 31b Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), siehe dazu BVerfGE 152, 68 – Sanktionen im Sozialrecht (2019). Cara Röhner
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§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung
1. Dualität von sozialer Ungleichheit und Diskriminierung
Auf die Dualität von sozialer Ungleichheit und Diskriminierung macht Nancy Fraser aufmerksam. Sie legt dar, dass moderne Gesellschaften durch die zwei hierarchisierenden Ordnungen von Klasse und Status strukturiert sind. Während es sich bei Klasse um ein ökonomisches Subordinationsverhältnis handele, verweise Status auf hierarchisierende kulturelle Wertemuster. Zwar könne analytisch zwischen diesen zwei Ungleichheitsdimensionen differenziert werden, in der Realität weisen nach Fraser jedoch alle Achsen der Ungleichheit sowohl Klassen- als auch Statushierarchisierungen auf und seien daher aus Umverteilungs- und Anerkennungsperspektive zu betrachten.23 Umverteilung – z. B. durch soziale Leistungen – solle eine gerechte Ressourcenverteilung gewährleisten und sicherstellen, dass Einzelne über ausreichend Mittel verfügen, um als Gleiche interagieren zu können.24 Anerkennung sei auf kulturell institutionalisierte Wertemuster (value schemata) gerichtet und müsse den gleichen Respekt für alle Mitglieder gewährleisten.25 Fraser nimmt also die verschiedenen Dimensionen von sozialer Ungleichheit in den Blick: den Mangel von Ressourcen und den Mangel von Anerkennung. An Fraser anschließend konstatiert Albert Scherr, dass es sich bei Diskriminierung und 14 sozialer Ungleichheit „um zwei unterschiedliche, aber nicht voneinander unabhängige Formen gesellschaftlicher Hierarchiebildung handelt, die weitreichende Auswirkungen auf Lebensbedingungen und Lebenschancen haben; sie sind insbesondere für den Zugang zu materiellen Ressourcen, Macht, sozialer Wertschätzung sowie Bildung und beruflichen Karrieren bedeutsam.“26 In diesem Sinne versucht Scherr den Diskriminierungsbegriff ungleichheitssensibel zu konturieren und macht darauf aufmerksam, dass sozioökonomische Hierarchien durch soziale Klassifikationen (Arme, Arbeitslose, Nicht-Normale) und negative Eigenschaftszuschreibungen (geringe Arbeits- und Leistungsmotivation, kriminelle Neigung) hergestellt werden und diese sozialen Ausschluss und soziale Benachteiligung begründen und legitimieren können.27 Er zieht daraus die Konsequenz, dass sozioökonomische Ungleichheit sowohl bei der wissenschaftlichen Analyse als auch bei politischen Strategien als ein eigenständiger „diskriminierungsrelevante[r] Faktor“ berücksichtig werden müsse.28 In diesem Sinne hat das European Network of Equality Bodies festgestellt, dass Armut 15 und Diskriminierung zwei Seiten einer Medaille sind und politisch daher gemeinsam adressiert werden müssen.29 Das European Network of Equality Bodies geht davon aus, dass Diskriminierung eine Ursache von Armut und sozialer Exklusion ist, dass zugleich Armut und soziale Exklusion das Risiko erhöhen, Erfahrungen von Diskriminierung zu machen 13
23 24 25 26 27 28 29
Fraser (Fn. 18), S. 10 ff., 18 ff.; Fraser/Honneth, Umverteilung oder Anerkennung?, 2003, S. 21 ff., 69 ff. Fraser (Fn. 18), S. 31. Fraser (Fn. 18), S. 31. Scherr (Fn. 16), S. 2. Scherr (Fn. 16), S. 11 ff. Scherr (Fn. 16), S. 17. European Network of Equality Bodies, Addressing Poverty and Discrimination, 2010, S. 5. Cara Röhner
B. Konzeptionelle Konturierung der sozioökonomischen Diskriminierung
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und auch dazu führen, dass sich Betroffene weniger gegen Diskriminierung zur Wehr setzen. 2. Materiale Gleichheit zur Adressierung struktureller Diskriminierung
Für die Adressierung sozioökonomischer Diskriminierung im Recht ist nicht nur eine 16 duale, sondern auch eine materiale – in Kontrast zu einer formalen – Perspektive grundlegend.30 Ein formales Gleichheitsverständnis würde dazu führen, dass die wirtschaftliche Lage oder der soziale Status von Diskriminierung Betroffener individualisiert und als Ergebnis natürlicher Differenzierungen aufgrund unterschiedlicher Interessen, Talente und Bildungsgrade begriffen werden. In der liberalen Erzählung sind Rechtssubjekte abstrakt Freie und Gleiche, die sich im Rechtsverkehr auf Augenhöhe begegnen und ihre Angelegenheiten in eigener Verantwortung regeln. Der durch verschiedene Ungleichheitsachsen geprägte gesellschaftliche Kontext und die soziale Positionierung der Einzelnen werden durch den Fokus auf das einzelne Subjekt ausgeblendet. Dies führt dazu, dass die strukturelle Dimension von sozioökonomischer Ungleichheit, Erwerbslosigkeit, Armut oder Bildungsbenachteiligung in einer kapitalistischen Marktwirtschaft naturalisiert wird und unsichtbar bleibt. Bei Diskriminierung handelt es sich jedoch um ein gruppenbezogenes Phänomen. Die 17 gruppenbezogene, strukturelle Dimension von sozioökonomischen Diskriminierungserfahrungen wird in der Literatur analog zu Rassismus und Sexismus auch mit dem Begriff des Klassismus beschrieben. Damit wird die Zuschreibung von negativen Eigenschaften, Fähigkeiten und Wertigkeiten aufgrund einer angenommenen sozioökonomischen Positioniertheit, Klassenzugehörigkeit oder eines sozialen Status erfasst.31 Einzelne machen also Erfahrungen der Benachteiligung, weil sie einer sozialen Gruppe mit geringen ökonomischen Ressourcen oder einem geringen sozialen Status angehören oder angehörig erscheinen, z. B. Arbeitslose, Arme, Obdachlose, Gefangene, Alleinerziehende, Arbeiter:innenkinder. Diese Umstände sind solche, aus denen sich die Einzelnen nicht einfach selbst – etwa durch individuelle Anstrengung – befreien können, sondern wesentlich das Leben der Einzelnen bestimmen. Dies zeigt sich insbesondere bei der generationalen Weitergabe von Armut und Erwerbslosigkeit. Die sozialwissenschaftliche Forschung spricht hier von einer Vererbung von Armutsrisiken.32 Die Individualisierung der sozioökonomischen Lage – wie sie in einer formalen Gleichheitsperspektive droht – kann zu einer Legitimierung von Diskriminierung beitragen. Im Bildungsbereich kann sich dies z. B. zeigen, wenn Kindern aus sozial benachteiligten Familien eine schlechte Leistungsfähigkeit zugeschrieben wird und sie auf die Förderschule geschickt werden, anstatt sie ausreichend 30 Dazu umfassend mit Bezug zu sozialer Ungleichheit Röhner (Fn. 14). Zu Armut und Diskriminierung
siehe Atrey (Fn. 13), S. 411. Siehe außerdem Jackman, Constitutional Contact with the Disparities in the World, Review of Constitutional Studies 2 (1994), S. 76; Fredman, The Potential and Limits of an Equal Rights Paradigm in Addressing Poverty, Stellenbosch Law Review 22 (2011), S. 566. 31 Für den deutschen Diskurs siehe dazu Kemper/Weinbach, Klassismus, 4. Aufl. 2021; für den Bildungsbereich siehe Kemper, Klassismus – Eine Bestandsaufnahme, 2016. 32 Schiek/Ullrich, Die „Vererbung“ von Armutsrisiken, UNIKATE 52 (2018), S. 92. Cara Röhner
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§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung
zu fördern und dadurch die fehlenden Ressourcen, wie ein eigenes Zimmer oder die unzureichende Unterstützung der Eltern, auszugleichen. 18 Durch eine materiale Gleichheitsperspektive kann sozioökonomische Diskriminierung als strukturelles Phänomen begriffen und kontextuell verortet werden. Eine materiale Perspektive verschiebt den Fokus des Rechts vom abstrakten, freien und gleichen Subjekt auf die asymmetrischen gesellschaftlichen Machtbeziehungen und damit auf den ungleichen gesellschaftlichen Kontext.33 Sie fokussiert also nicht das Individuum, sondern die gesellschaftlichen Relationen.34 In der deutschen Rechtsprechung hat sich eine materiale Perspektive bereits bei der Dogmatik zur Diskriminierung aufgrund des Geschlechts durchgesetzt.35 Diese Dogmatik zeichnet sich dadurch aus, dass bei der Prüfung der Geschlechtsdiskriminierung ausführlich die gesellschaftlichen Bedingungen, die strukturellen Gründe, die hegemonialen maskulinen Normen sowie die ungleichen Auswirkungen von vermeintlich neutralen Rechtsvorschriften auf Männer und Frauen (mittelbare Diskriminierung) analysiert werden. 19 Als dogmatische Übertragung einer solchen materialen Perspektive für den Bereich der sozioökonomischen Diskriminierung kann die Dekonstruktion der „Mittelklasse-Norm“ („the norm of middle-classness“) von Atena D. Mutua gelesen werden.36 Die „MittelklasseNorm“ als verdichteter Ausdruck sozioökonomischer Ungleichheit verstärke – parallel zu den Ungleichheitskategorien Geschlecht und „Rasse“ – erstens das „Normale“ bzw. die hegemoniale Norm des Mittelklassetums. Damit verbunden sind die Norm der Erwerbstätigkeit und die Erwartung, dass Einzelne sich über die eigene wirtschaftliche Aktivität mit ausreichend materiellen und immateriellen Ressourcen versorgen können. Abweichungen werden als anormal oder als Devianz negativ markiert, sodass die ökonomisch „Anderen“ sich an die Mittelklasse- oder Erwerbsarbeitsnorm anpassen müssen und ansonsten kulturelle Abwertungen und Exklusion erfahren. Darüber hinaus erschwert die Norm des Mittelklassetums die Thematisierung von Ungleichheit und Diskriminierung, da bei sozialen Leistungen, Nachteilsausgleichen oder individueller Förderungen der Eindruck entstehen kann, dass die ökonomisch „Anderen“ etwas „extra“ bekommen. Dabei wird jedoch nicht sichtbar, dass aufgrund rechtlicher Institutionen wie Eigentum, Erbschaft und das dreigliedrige Schulsystem sozioökonomische Privilegien über Generationen hinweg fortbestehen und daher Privilegierte nicht auf soziale Leistungen oder Förderungen angewiesen sind. Bestehende Ungleichheiten werden durch die Norm des Mittelklassetums also individualisiert und nicht als Ungleichheitsbeziehung begriffen. Damit bleiben die Privilegien und Machtpositionen der Bevorteilten unbenannt, weil die rechtliche Analyse überwiegend die ökonomisch „Anderen“ fokussiert und nicht auf die Analyse von Privilegien und Privilegienabbau gerichtet ist. 33 Dazu Sacksofsky (Fn. 17), S. 305 ff.; Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, S. 221 ff.; Mangold (Fn. 17),
S. 181 ff.; Röhner (Fn. 14), S. 159 ff.
34 Röhner (Fn. 14). 35 Statt vieler: BVerfGE 85, 191 – Nachtarbeitsverbot (1992). 36 Mutua, Introducing ClassCrits: From Class Blindness to a Critical Legal Analysis of Economic Inequa-
lity, Buffalo Law Review 56 (2008), S. 859 (873 ff.).
Cara Röhner
B. Konzeptionelle Konturierung der sozioökonomischen Diskriminierung
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3. Intersektionale sozioökonomische Diskriminierungserfahrungen
Sozioökonomische Diskriminierung ist darüber hinaus als intersektionaler Begriff zu ver- 20 stehen.37 Seit Ende der 1980er Jahre hat Kimberlé Crenshaw den Begriff der Intersektionalität geprägt. Crenshaw zeigt auf, dass es im Antidiskriminierungsrecht nicht ausreichend ist, sich auf eine Ungleichheitskategorie zu beziehen, sondern, dass bestimmte Formen von Diskriminierung erst sichtbar werden, wenn die Überkreuzung verschiedener Ungleichheitsachsen erkannt wird. Anhand von arbeitsrechtlichen Fällen, in denen ausschließlich schwarzen Frauen gekündigt wurde, konnte Crenshaw sichtbar machen, dass das Erfordernis des US-amerikanischen Diskriminierungsschutzes, sich nur einer Kategorie zuzuordnen, dazu führte, dass sowohl eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ausschied als auch eine Diskriminierung aufgrund der „Rasse“ scheiterte. Crenshaw kritisiert daher, dass das Antidiskriminierungsrecht der gesellschaftlichen Privilegierung von Weißheit und Männlichkeit folge und die Überkreuzung – intersection – von Ungleichheitskategorien, hier „Rasse“ und Geschlecht, nicht als Diskriminierung erkennen könne.38 Crenshaws Begriff der intersectionality wird inzwischen auch in der deutschen Rechts- 21 wissenschaft als Analyseinstrument verwendet.39 Das Konzept von mehrdimensionaler Diskriminierung, mit dem man den englischen Intersektionalitätsbegriff in den deutschen Diskurs übersetzen könnte,40 verweist darauf, dass Diskriminierungserfahrungen komplexe Phänomene sind, die aufgrund einer Verschränkung von Ungleichheitsachsen gemacht werden, welche sich nicht einfach voneinander trennen lassen.41 Hinsichtlich sozioökonomischer Diskriminierung kann sich dies z. B. bei der Diskriminierung von Alleinerziehenden äußern.42 Frauen verfügen typischerweise über weniger Einkommen, 37 Aghazadeh-Wegener/Liebscher/Hanschmann, Rechtswissenschaftliche Expertise zur Diversity-Dimen-
sion „sozialer Status“ mit Bezug auf das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz, Oktober 2020, S. 21; Kemper (Fn. 31), S. 11. Siehe auch zu Armut als intersektionale Diskriminierungskategorie Atrey (Fn. 13). 38 Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, The University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139 (151). Ansätze einer intersektionalen Analyse z. B. bei Baines, Using the Canadian Charter of Rights and Freedoms to Constitute Women, in: Baines/Rubio-Marín (Hrsg.), The Gender of Constitutional Jurisprudence, 2005, S. 48 (66 ff.). 39 Zinsmeister, Mehrdimensionale Diskriminierung, 2007; Markard, Die andere Frage stellen: Intersektionalität als Analysekategorie im Recht, KJ 2009, S. 353; Holzleithner, Mehrfachdiskriminierung im europäischen Rechtsdiskurs, in: Hormel/Scherr (Hrsg.), Diskriminierung, 2010, S. 95; Lembke/Liebscher, Postkategoriales Antidiskriminierungsrecht?, in: Philipp u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, S. 261; einen knappen Überblick über die verschiedene Begrifflichkeiten geben Baer/Bittner/Goettsche, Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe, Theorien und juristische Analyse, 2010; ausführlich → Holzleithner, § 13. 40 So z. B. Zinsmeister, die die Verschränkung von Behinderung und Geschlecht untersucht, Zinsmeister (Fn. 39), S. 51, Fn. 135, S. 43 ff., 113 ff. Baer u. a. ziehen den Begriff der mehrdimensionalen Diskriminierung vor, da Intersektionalität als Begriff wenig selbsterklärend sei und zu einer Essentialisierung von Kategorien beitrage, Baer/Bittner/Goettsche (Fn. 39), S. 10 ff. Mangold hält am Intersektionalitätsbegriff fest und plädiert für einen reflektierten Umgang mit Kategorien als Kategorisierungen, Mangold (Fn. 17), S. 315 ff.; ähnlich Markard (Fn. 39), S. 353. 41 Zu den unterschiedlichen Schutzniveaus für verschiedene Kategorien in den europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien Holzleithner (Fn. 39), S. 96 ff. 42 Zu Frauen z. B. European Network of Equality Bodies (Fn. 29), S. 7. Cara Röhner
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§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung
Eigentum und Vermögen. Sie sind auf dem Arbeitsmarkt mit dem Gender Pay Gap konfrontiert, haben schlechtere Erwerbschancen und machen geschlechtsspezifische Diskriminierungserfahrungen im Arbeitsleben. Aufgrund von Geschlechterstereotypen verfügen sie über einen geringeren sozialen Status und erleben neben der ökonomischen, auch eine kulturelle Abwertung. Der Status als alleinerziehende Frau dürfte das Risiko, Erfahrungen von Benachteiligung z. B. bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche zu machen, noch einmal verschärfen. Ebenso dürfte sich das Risiko für Migrant:innen und Frauen mit Behinderungen noch einmal verstärken. Eine intersektionale Perspektive auf sozioökonomische Diskriminierung kann die Komplexität dieser Diskriminierungserfahrungen und das Zusammenwirken unterschiedlicher Ungleichheitsverhältnisse – und damit die besondere Vulnerabilität von Subgruppen – sichtbar machen. Damit kann auch eine rechtsdogmatische Verbindung von sozioökonomischer Diskriminierung zu anderen Diskriminierungskategorien, wie z. B. zu Geschlecht, Behinderung oder rassistischer Benachteiligung, hergestellt werden. II. Ausprägungen sozioökonomischer Diskriminierung 22
Diskriminierung aus sozioökonomischen Gründen kann sich in der sozialen Wirklichkeit ganz unterschiedlich äußern. Sozioökonomische Diskriminierung kann daher in verschiedenen Ausprägungen vorkommen. Aufgrund der bisher dargestellten Literatur und den im nächsten Abschnitt folgenden Diskriminierungsverboten aus unterschiedlichen Rechtsquellen können die folgenden Ausprägungen differenziert werden: – Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft knüpft an den familiären Hintergrund und den sozialen Status der Vorfahren an. – Diskriminierung aufgrund der Geburt umfasst Benachteiligungen von nicht-ehelichen oder adoptierten Kindern oder sonstige Umstände, in die Menschen hineingeboren werden. – Diskriminierung aufgrund eines niedrigen Einkommens bezieht sich auf ein unterdurchschnittliches Haushaltseinkommen, das zu einem Leben in Armut oder einer Armutsgefährdung führt. – Diskriminierung aufgrund eines niedrigen Bildungsniveaus begründet sich in einem fehlenden oder niedrigen formalen Bildungsabschluss. – Diskriminierung aufgrund des sozialen Status umfasst als Auffangkategorie – neben den bereits genannten – ganz unterschiedliche soziale Situationen, wie etwa Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Gefangenschaft oder den Status als Alleinerziehende oder als migrierte Person mit einem spezifischen Aufenthaltsrecht oder ohne Aufenthaltsrecht.
C. Rechtsquellen 23
Die sozioökonomische Situation oder der soziale Status als diskriminierungsrelevante Kategorien werden in verschiedenen Rechtsquellen im Völker- und Europarecht sowie in der Cara Röhner
C. Rechtsquellen
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deutschen Rechtsordnung adressiert. Auf der normativen Ebene existieren also einschlägige Diskriminierungsverbote. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie in der Rechtspraxis bisher kaum Anwendung gefunden haben. Daher gibt es so gut wie keine Spruchpraxis zu sozioökonomischen Diskriminierungserfahrungen. Aus diesem Grund wurde soziökonomische Diskriminierung – für den deutschen Kontext – bisher kaum konkretisiert. In Kanada und Südafrika gibt es z. B. Rechtsprechung zu Armut und Diskriminierung, die jedoch sehr kontextspezifisch ist und auf die in diesem Rahmen nur verwiesen werden kann.43 I. Völkerrechtliche Diskriminierungsverbote
Die sozioökonomische Situation von Personen wird in verschiedenen Menschenrechts- 24 abkommen adressiert.44 1. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR)45 25 werden ganz unterschiedliche Rechte mit Bezug zur wirtschaftlichen Lage formuliert. So gibt es z. B. das Recht auf Arbeit (Art. 6 IPwskR), das Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen (Art. 7 IPwskR), das Recht auf Soziale Sicherheit (Art. 9 IPwskR), das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 11 IPwskR), das Recht auf Gesundheit (Art. 12 IPwskR) und das Recht auf Bildung (Art. 14 IPwskR). Hinsichtlich dieser sogenannten sozialen Menschenrechte beinhaltet der IPwskR ein Diskriminierungsverbot: Art. 2 Abs. 2 IPwskR bestimmt, dass die Vertragsstaaten gewährleisten, dass die im Pakt verkündeten Rechte ohne Diskriminierung hinsichtlich der „sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status ausgeübt“ werden und adressiert damit verschiedene Ausprägungen der sozioökonomischen Diskriminierung.
43 Überblick bei Atrey (Fn. 13). 44 Zur Auslegung des deutschen Rechts im Lichte von UN-Menschenrechtspakten BVerfGE 151, 1 –
Wahlrechtsausschlüsse von Betreuten (2019); dazu kritisch Payandeh, Rechtsauffassungen von Menschenrechtsausschüssen der Vereinten Nationen in der deutschen Rechtsordnung, NVwZ 2020, S. 125. Zum Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung siehe auch BVerfGE 58, 1 (34) – Eurocontrol I (1981); BVerfGE 59, 63 (89) – Eurocontrol II (1981); BVerfGE 63, 1 (20) – Schornsteinfegerversorgung (1983). Zur EMRK-konformen Auslegung: BVerfGE 148, 296 (380) – Streikverbot für Beamte (2018). Neben den Menschenrechtsabkommen existieren internationale Ziele und Prinzipien, denen keine Rechtsverbindlichkeit zukommt. So gibt es z. B. die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen, die dazu dienen sollen, Armut und Ungleichheit zu reduzieren. Die einzelnen Länder werden aufgerufen, insbesondere die Bedürfnisse der vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen im Blick zu haben und die Ungleichheit im Land abzubauen (Ziel 10). Eine wichtige Ausprägung für den deutschen Kontext dürfte die soziale Mobilität sein (Janda, Prävention verankern, 2021, S. 40). Zur Indizwirkung von unverbindlichen internationalen Standards mit Menschenrechtsbezug siehe BVerfGE 116, 69 (90) – Jugendstrafvollzug (2006). 45 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1569. Cara Röhner
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§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung
Das Committee on Economic, Social and Cultural Rights hat zum Diskriminierungsverbot gem. Art. 2 Abs. 2 IPwskR im General Comment No. 20 Ausführungen gemacht:46 Während mit der sozialen Herkunft der vererbte soziale Status einer Person gemeint ist und die Geburt die Umstände umfasst, in die Personen hineingeboren werden, wie z. B. den Status als nicht-eheliches Kind, bezieht sich das Vermögen auf die bestehenden oder auch fehlenden Vermögenswerte einer Person. Mit dem sonstigen Status ist eine offene Formulierung gewählt, die auf unterschiedliche soziale oder wirtschaftliche Situationen angewendet werden kann. Es geht um „social groups that are vulnerable and have suffered and continue to suffer marginalization.“47 Dazu zählt das Committee neben einem Leben in Armut und Obdachlosigkeit z. B. auch Personen, die inhaftiert oder unfreiwillig in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind.48 Das Committee konkretisiert das Diskriminierungsverbot aufgrund des sozialen Status hinsichtlich der ökonomischen und sozialen Situation wie folgt: „Individuals and groups of individuals must not be arbitrarily treated on account of belonging to a certain economic or social group or strata within society. A person’s social and economic situation when living in poverty or being homeless may result in pervasive discrimination, stigmatization and negative stereotyping which can lead to the refusal of, or unequal access to, the same quality of education and health care as others, as well as the denial of or unequal access to public places.“49
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Auch andere Menschenrechtsabkommen sehen eine diskriminierungsfreie Gewährleistung der in ihnen verbürgten Rechte oder allgemeine Diskriminierungsverbote mit ähnlichen Formulierungen vor (z. B. Art. 2 Abs. 1 und Art. 26 IPbpR; Art. 2 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention), wobei zu diesen in der Regel Konkretisierungen durch die zugehörigen Ausschüsse fehlen. Die Ausführungen des Committees können daher als Indiz für die Auslegung anderer Menschenrechtsabkommen und deren Diskriminierungsverboten mit Bezug zu sozioökonomischer Diskriminierung herangezogen werden. 2. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
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Ein allgemeines Diskriminierungsverbot sieht Art. 26 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte50 vor: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In dieser Hinsicht hat das Gesetz jede Diskriminierung zu verbieten und allen Menschen gegen jede Diskriminierung, wie insbesondere wegen der […] sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status, gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten.“ Im General Comment No. 18 hat das Human Rights Committee sich zwar umfassend zu diesem Diskriminierungsverbot geäußert. Das Committee hat jedoch nicht die Diskrimi46 CESCR, General Comment No. 20, Non-discrimination in economic, social and cultural rights (art. 2,
para. 2, of the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights), UN Doc. E/C. 12/GC/20 (2009), Rn. 24–26. 47 Ebd. Rn. 27. 48 Ebd. Rn. 27, 35. 49 Ebd. Rn. 35. 50 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1533. Cara Röhner
C. Rechtsquellen
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nierungskategorien soziale Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstiger Status weiter definiert.51 3. Lebensbereichsspezifische Diskriminierungsverbote
Hinsichtlich der für die sozioökonomische Diskriminierung besonders relevanten Be- 29 reiche der Kindheit, der Bildung und der Arbeitswelt gibt es spezifische völkerrechtliche Diskriminierungsverbote, die unterschiedliche Ausprägungen sozioökonomischer Diskriminierung umfassen. Art. 2 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention52 formuliert neben dem Diskriminierungsverbot wegen der sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status in Bezug auf die in der Konvention verbürgten Rechte einen darüberhinausgehenden Diskriminierungsschutz wegen des Status und verlangt, dass die Vertragsstaaten alle geeigneten Maßnahmen treffen müssen, „um sicherzustellen, dass das Kind vor allen Formen der Diskriminierung […] wegen des Status […] geschützt wird.“ Für den Bildungsbereich existiert das UNESCO-Übereinkommen gegen Diskrimi- 30 nierung im Unterrichtswesen53, das Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft, der wirtschaftlichen Verhältnisse oder der Geburt umfasst (Art. 1 Abs. 1). Darüber hinaus gibt es für die Arbeitswelt das Abkommen der Internationalen Arbeits- 31 organisation über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf54, das die Diskriminierung wegen der sozialen Herkunft adressiert (Art. 1 Abs. 1 a). 4. Europäische Menschenrechtskonvention
Auf regionaler Ebene beinhaltet die Europäische Menschenrechtskonvention Diskriminie- 32 rungsverbote. Bezogen auf die in der Konvention garantierten Freiheitsrechte bestimmt Art. 14 EMRK, dass deren Genuss insbesondere ohne Diskriminierung wegen der sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten ist (auch die revidierte – und im Jahr 2021 von Deutschland ratifizierte – Europäische Sozialcharta von 199655 sieht in Artikel E eine solche Formulierung vor).56 Ein allgemeines Diskriminierungsverbot mit den gleichen Diskriminierungskategorien ist zudem im Zusatzprotokoll Nr. 12 der EMRK57 enthalten. 51 CCPR, General Comment No. 18: Non-discrimination v. 10.11.1989, UN Doc. HRI/GEN/1/Rev.9
(Vol. I) (2008), S. 195 ff.
52 Übereinkommen über die Rechte des Kindes v. 20.11.1989, BGBl. 1992 II, S. 121. 53 UNESCO-Übereinkommen gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen v. 15.12.1960, BGBl. 1968
II, S. 385.
54 Übereinkommen Nr. 111 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Diskriminierung in Be-
schäftigung und Beruf v. 25.6.1958, BGBl. 1961 II, S. 97.
55 Europäische Sozialcharta v. 3.5.1996, BGBl. 2020 II, S. 900. 56 Zur Akzessorietät von Art. 14 EMRK und zur Nicht-Akzessorietät von Art. 1 des ZP 12 siehe ausführ-
lich Peters/König, Das Diskriminierungsverbot, in: Dörr/Grothe/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Bd. II, 2. Aufl. 2013, Kap. 21 Rn. 31 ff. Die Europäische Sozialcharta von 1961 enthält nur in der Präambel ein Diskriminierungsverbot wegen der sozialen Herkunft. 57 Protokoll Nr. 12 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.2000, SEV Nr. 177. Cara Röhner
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§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung
In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben die für die sozioökonomische Diskriminierung einschlägigen Kategorien bisher keine nennenswerte Rolle gespielt.58 In dem Fall Stjerne, bei dem es um eine Namensänderung ging, wurde eine Diskriminierung wegen der sozialen Herkunft, der Geburt oder eines sonstigen Status gerügt, aber vom EGMR nicht erörtert.59 34 Zur Diskriminierung wegen des Vermögens hat der EGMR unterschiedliche Entscheidungen getroffen, bei denen es insbesondere um Grundeigentum und andere Vermögenswerte ging. In einem Fall wurde im Zusammenhang mit der Nichtgewährung von Prozesskostenhilfe eine Diskriminierung wegen fehlenden Vermögens vorgetragen, aber ebenfalls nicht vom EGMR geprüft.60 35 Das Verbot der Diskriminierung wegen der Geburt hat der EGMR insbesondere angewendet, um nicht-eheliche und eheliche Kinder im Recht, z. B. im Familien- und Erbrecht, gleichzustellen.61 Darüber hinaus wurde dieses auch im Fall von Adoption geprüft.62 36 Unter den Auffangtatbestand des sonstigen Status hat der EGMR verschiedene soziale Gruppen gefasst: beispielsweise Gefangene,63 Untersuchungshäftlinge,64 immigrierte Personen65 oder HIV-Infizierte.66 So hat der EGMR etwa im Urteil zum Status als HIV-infizierte Person zur Definition des sozialen Status ausgeführt: 33
„Article 14 does not prohibit all differences in treatment but only those differences based on an identifiable, objective or personal characteristic, or ‚status‘, by which persons or groups of persons are distinguishable from one another […]. The words ‚other status‘ have generally been given a wide meaning […] and their interpretation has not been limited to characteristics which are personal in the sense that they are innate or inherent.“67
An dieser Definition wird deutlich, dass der EGMR den sozialen Status weit auslegt und es nicht auf angeborene oder persönliche Eigenschaften, sondern auf die soziale Situation und Lage ankommt. Zwar werden die Gruppen nicht primär über die sozioökonomische Lage definiert, dennoch befinden sich diese – de facto – oftmals in sozioökonomisch prekären Situationen. Der soziale Status ist also eine wichtige Auffangkategorie, um die Bandbreite von sozioökonomischen Diskriminierungserfahrungen abbilden zu können. II. Europarechtliche Diskriminierungsverbote 37
Die Europäische Union hat sich zum Ziel gesetzt, soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen zu bekämpfen sowie soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz zu fördern (Art. 3 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67
Peters/König (Fn. 56), Kap. 21 Rn. 179. EGMR, Urt. v. 25.11.1994, Beschwerde-Nr. 18131/91, Stjerna v. Finnland. EGMR, Urt. v. 9.10.1979, Beschwerde-Nr. 6289/73, Airey v. Irland, Rn. 30. Als Leitentscheidung gilt EGMR, Urt. v. 13.6.1979, Beschwerde-Nr. 6833/74, Marckx v. Belgien. Z. B. EGMR, Urt. v. 13.7.2004, Beschwerde-Nr. 69498/01, Pla und Puncernau v. Andorra. Z. B. EGMR, Entsch. v. 4.1.2008, Beschwerde-Nr. 23800/06, Shelley v. Vereinigtes Königreich. Z. B. EGMR, Urt. v. 13.12.2011, Beschwerde-Nr. 31827/02, Laduna v. Slowakei. Z. B. EGMR, Urt. v. 27.9.2011, Beschwerde-Nr. 56328/07, Bah v. Vereinigtes Königreich. Z. B. EGMR, Urt. v. 10.3.2011, Beschwerde-Nr. 2700/10, Kiyutin v. Russland. EGMR, Urt. v. 10.3.2011, Beschwerde-Nr. 2700/10, Kiyutin v. Russland, Rn. 56. Cara Röhner
C. Rechtsquellen
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Abs. 3 EUV ). Sie soll der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten (Art. 6 Abs. 2 EUV ). Die Europäische Grundrechtecharta ist inzwischen anerkannter Bestandteil des europäischen Primärrechts (Art. 6 Abs. 1 EUV, Art. 52 Abs. 3 GRCh). In der Europäischen Grundrechtecharta sind in Art. 21 Abs. 1 Diskriminierungsverbote unter anderem wegen der sozialen Herkunft, des Vermögens und der Geburt normiert. Diese sind maßgeblich für die Anwendung und Auslegung von europäischen Verordnungen, Richtlinien und deren Umsetzung im deutschen Recht. Grundlegende Urteile zu diesen Diskriminierungskategorien vom Europäischen Gerichtshof liegen bisher nicht vor.68 Darüber hinaus bestimmt Art. 10 AEUV, dass „bei der Festlegung und Durchführung 38 ihrer Politik und ihrer Maßnahmen […] die Union darauf [abzielt], Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“ Dementsprechend ermächtigt Art. 19 Abs. 1 AEUV den Rat in Zusammenarbeit mit dem europäischen Parlament dazu, „geeignete Vorkehrungen [zu] treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“ Während also die sozioökonomische Lage von Personen im Grundsatz der Nichtdiskriminierung durch die soziale Herkunft, das Vermögen und die Geburt in der Europäischen Grundrechtecharta adressiert ist, fehlen solche Kategorien in den Ermächtigungsartikeln des AEUV.69 Folglich finden sich auch in den sekundärrechtlichen Gleichbehandlungsrichtlinien der Europäischen Union keine Kategorien mit Bezug zur sozioökonomischen Lage.70 Hier zeigt sich erneut die sozioökonomische Lücke des europarechtlich geprägten Antidiskriminierungsrechts. Diese ist ebenso in den 20 Grundsätzen der europäischen Säule sozialer Rechte, einem 39 Soft Law-Dokument aus dem Jahr 2017, sichtbar. Chancengleichheit und ein Recht auf Gleichbehandlung werden „auf Beschäftigung, sozialen Schutz, Bildung und den Zugang zu öffentlich verfügbaren Gütern und Dienstleistungen“, nicht jedoch auf den sozioökonomischen Status oder die soziale Lage bezogen (3. Grundsatz).
68 Siehe zu Art. 21 GRCh ausführlich v. der Decken, Diskriminierungsverbote, in: Heselhaus/Nowak
(Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl. 2020, § 49, zu den hier relevanten Diskriminierungsgründen Rn. 69 ff. 69 Zu den möglichen Gründen siehe v. der Decken (Fn. 68), Rn. 70. 70 Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft v. 29.6.2000, ABl. 2000 L 180/22 (Antirassismus-Richtlinie); Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303/16; Richtlinie 2006/54/ EG des Europäischen Parlaments und des Rats zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung) v. 5.7.2006, ABl. 2006 L 204/23 (Genderrichtlinie); Richtlinie 2004/113/EG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen v. 13.12.2004, ABl. 2004 L 373/37 (Gleichberechtigung Zivilrecht). Cara Röhner
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§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung
III. Verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbote 40 Im deutschen Grundgesetz verbietet Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG unter anderem die Benach-
teiligung oder Bevorzugung aufgrund der Heimat und Herkunft. Die Landesverfassungen enthalten überwiegend gleichlautende Garantien; zum Teil erstrecken sich Diskriminierungsverbote auch auf den „Stand“ (Art. 118 Abs. 3 BayVerf ), die „wirtschaftliche und soziale Lage“ (Art. 8 MVVerf ) oder die „soziale Stellung“ (Art. 2 Abs. 2 BremVerf, Art. 12 Abs. 2 BdbVerf, Art. 2 ThürVerf ). Diese Diskriminierungskategorien wurzeln historisch im Kampf gegen die Ständeordnung des Feudalismus, beziehen sich in der kapitalistischen Gesellschaft aber auch auf Klassen- und Schichtunterschiede.71 41 Das Bundesverfassungsgericht hat in den 1950er Jahren die Auslegung von Heimat und Herkunft gem. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG geprägt. Während sich der Begriff „Heimat“ auf die „örtliche Herkunft nach Geburt oder Ansässigkeit“ bezieht, meint der Begriff „Herkunft“ die „ständisch-soziale Abstammung und Verwurzelung“.72 Mit Herkunft ist nach dem Bundesverfassungsgericht also nicht die „in den eigenen Lebensumständen begründete Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht“, sondern „die von den Vorfahren hergeleitete soziale Verwurzelung“ gemeint.73 Das Bundesverfassungsgericht legt in der Entscheidung dar, dass zwar im Parlamentarischen Rat ein Rechtsgutachten erstellt wurde, das vorgeschlagen hatte, die Benachteiligung eines Menschen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse zu verbieten, dass diese Anregung aber nur durch die soziale Herkunft aufgegriffen wurde und mit dieser vor allem die Vertriebenen gemeint gewesen waren.74 Das Benachteiligungsverbot bezieht sich daher auf die soziale Herkunft, wie sie durch die Vorfahren vermittelt wurde, und nicht auf die eigene wirtschaftliche Lage. Da das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen bisher keine Diskriminierung wegen der Herkunft bejaht hat, bleibt ungeklärt, wie diese zu begründen ist und wie der Bedingungszusammenhang zwischen der Herkunft und der gegenwärtigen Situation zu sein hat. So weisen Nazli Aghazadeh-Wegener, Doris Liebscher und Felix Hanschmann in einer Expertise zum „sozialen Status“ darauf hin, dass es bisher keine Konkretisierung dazu gibt, ob die Verwurzelung verschiedene sozioökonomische Aspekte umfasst oder es lediglich um die formale Zuordnung der Vorfahren zu einem bestimmten Stand geht. Nach der Literatur besteht lediglich ein Schutz zur Sicherung von Chancengleichheit und sozialer Mobilität, nicht jedoch der Schutz vor Benachteiligung aufgrund einer bestimmten sozialen Lage.75 71 Uerpmann-Wittzack, Strikte Diskriminierungs- und Privilegierungsverbote, in: Merten/Papier (Hrsg.),
HGR, Bd. V/2, 2013, § 128 Rn. 59.
72 BVerfGE 5, 17 (22) – Übersiedlung in die Bundesrepublik (1956). 73 BVerfGE 9, 124 (129) – Beiordnung eines Armenanwalts (1959); siehe auch BVerfGE 23, 258 (262) –
Kindergeld (1968); BVerfGE 48, 281 (287 f.) – Versorgungsleistungen (1978).
74 BVerfGE 9, 124 (128 f.) – Beiordnung eines Armenanwalts (1959). 75 Aghazadeh-Wegener/Liebscher/Hanschmann (Fn. 37), S. 12; Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/
Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 502. Zur sozialen Mobilität siehe auch Dürig, in: Dürig/ Herzog/Scholz, GG, Grundwerk, Art. 3 Abs. 3 GG Rn. 89, 90; Eckertz-Höfer, in: Denninger u. a. (Hrsg.) AK-GG, Bd. I, 3. Aufl. 2001, Art. 3 GG, Rn. 120. Cara Röhner
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Seit diesen frühen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts kam dem Diskriminie- 42 rungsverbot wegen der sozialen Herkunft weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur eine besondere Bedeutung zu. Hinsichtlich der Rechtsprechung ist festzustellen, dass die Benachteiligung z. B. von Menschen, die existenzsichernde Leistungen bekommen beim Zugang zu Gesundheitsleistungen oder zum Existenzminimum, verfassungsrechtlich über den allgemeinen Gleichheitssatz oder das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip problematisiert wird.76 Für die Weiterentwicklung des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsschutzes wegen der gegenwärtigen sozioökonomischen Lage – in Abgrenzung zur sozialen Herkunft – bietet sich eine verschärfte Prüfung gem. Art. 3 Abs. 1 GG an, wie sie das Bundesverfassungsgericht insbesondere bei Minderheiten, z. B. bei der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren oder transgeschlechtlichen Menschen, heranzieht.77 Danach verschärft sich der Prüfungsmaßstab gem. Art. 3 Abs. 1 GG von einer Willkürkontrolle zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung dann, wenn an von den Einzelnen nicht oder nur schwer veränderbare Eigenschaften oder Umstände angeknüpft wird, eine Nähe zu einer verpönten Diskriminierungskategorie gem. Art. 3 Abs. 3 GG besteht oder Freiheitsrechte betroffen sind.78 Dies ist bei der eigenen sozioökonomischen Lage der Fall: Diese kann nicht einfach durch die Einzelnen verändert werden.79 Ein sozialer Aufstieg und oder der Ausweg aus der Armut werden zwar von Einzelnen durchaus geschafft, dies ist aber aufgrund der gesellschaftlichen Bedingungen keineswegs selbstverständlich. Vielmehr besteht aufgrund der familiären Weitergabe der sozialen Schicht- und Klassenzugehörigkeit eine Nähe zur sozialen Herkunft gem. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Wenn es um existenzsichernde Leistungen geht, ist zudem das Grundrecht auf eine menschenwürdige Existenz betroffen. Darüber hinaus gibt es Hinweise in der Literatur, die den Schutz vor struktureller Be- 43 nachteiligung in der sozialen Herkunft verankern. So geht Robert Uerpmann-Wittzack davon aus, dass das Diskriminierungsverbot aufgrund der sozialen Herkunft grundsätzlich auch Bedeutung in Hinblick auf die strukturelle Benachteiligung sozial benachteiligter Personen haben kann.80 In einer Expertise zu Präventionsketten und der Förderung von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien argumentiert dies auch Constanze Janda.81 Sie leitet aus dem Verbot der Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft ein Gebot her, schichtspezifische Ungleichheiten abzubauen und vor struktureller Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft – hier im Bildungsbereich – zu schützen. Der Schutz vor struktureller Benachteiligung soll soziale Mobilität und damit perspektivisch einen Weg aus der Armut sichern.82 Janda zieht damit eine Verbindung zwischen der Bekämpfung von struktureller Diskriminierung wegen der sozialen Herkunft im 76 77 78 79 80 81 82
Dazu Röhner (Fn. 14), S. 35 ff. BVerfGE 124, 199 (219 f.) – Gleichbehandlung eingetragener Lebenspartnerschaften (2009). Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 88, 87 (96) – Transsexuelle II (1993). Siehe auch die Begründung des LADG Berlin AbgH-Drs. 18/1996, S. 23. Uerpmann-Wittzack (Fn. 71), S. 1081. Janda (Fn. 44). Janda (Fn. 44), S. 58. Cara Röhner
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§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung
Bildungsbereich und der Überwindung von sozialer Ungleichheit – und damit der Beseitigung des Diskriminierungsgrundes. Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG folge zwar nicht, dass der Staat jegliche materielle Benachteiligung auszugleichen habe, er habe aber sicherzustellen, dass sich die Herkunft eines Menschen nicht negativ auf dessen Fähigkeiten zur Wahrnehmung seiner Freiheitsrechte auswirke.83 Die von ihr untersuchten Präventionsprogramme für den Zugang zu Bildung, Gesundheit und Teilhabe seien als positive Maßnahmen zugunsten von Kindern und Jugendlichen, die aus sozial benachteiligten Familien kommen, zu verstehen. Diese seien keine unzulässige Bevorzugung, sondern ein zulässiger Nachteilsausgleich. Die gewährten Sozialleistungen im Rahmen der Präventionsprogramme müssten dazu beitragen, Nachteile auszugleichen oder abzumildern, die daraus resultieren, in eine bestimmte Schicht hineingeboren zu sein.84 IV. Einfachgesetzliche Diskriminierungsverbote
Im einfachen Recht werden Benachteiligungen wegen der sozialen Herkunft oder der gegenwärtigen sozialen Lage primär in den Schulgesetzen der Bundesländer adressiert. Denn gerade im Bildungsbereich spielt die Benachteiligung wegen der familiären Herkunft eine besondere Rolle. Im stark gegliederten deutschen Schulsystem, das früh selektiert, entscheiden regelmäßig das Bildungsniveau oder die sozioökonomische Lage der Eltern über den Bildungserfolg der Kinder.85 Die Formulierungen in den sechzehn Schulgesetzen sind durchaus unterschiedlich gefasst.86 Einige Schulgesetze garantieren ein Recht auf Bildung oder die Erfüllung des Erziehungs- und Bildungsauftrags unabhängig von der familiären Herkunft und der wirtschaftlichen Lage. Andere Schulgesetze formulieren ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot. So bestimmt etwa das Schulgesetz für BadenWürttemberg87, dass der Auftrag der Schule sich daraus bestimmt, dass jeder junge Mensch ohne Rücksicht auf die Herkunft oder die wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung hat (§ 1 Abs. 1 SchuG BW; ähnlich auch § 1 Abs. 1 SchulG NRW). Im Hessischen Schulgesetz88 wird demgegenüber normiert, dass keine Schülerin und kein Schüler wegen der Herkunft benachteiligt oder bevorzugt werden darf (§ 3 Abs. 3 HSchuG). Jenseits des Schulrechts hat das Land Berlin im Jahr 2020 erstmals den sozialen Status 45 als Diskriminierungskategorie einfachgesetzlich erfasst. Das Land Berlin hat ein Landesantidiskriminierungsgesetz verabschiedet, das für öffentlich-rechtliches Handeln einen umfassenden Diskriminierungsschutz vorsieht. Der Diskriminierungsschutz geht über das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das für den Bereich des Arbeitsrechts und für 44
Janda (Fn. 44), S. 58 mit Bezug auf Baer/Markard (Fn. 75), Rn. 504. Janda (Fn. 44), S. 59 f. Siehe die Nachweise in Fn. 8. Ausführlich dazu Dern/Schmidt/Spangenberg, Schutz vor Diskriminierung im Schulbereich, 2012. Schulgesetz für Baden-Württemberg v. 1.8.1983, BW GBl. 1983, S. 397, zuletzt geändert durch BW GBl. 2020, S. 1233. 88 Hessisches Schulgesetz v. 30.6.2017, Hess. GVBl. 2017, S. 150, zuletzt geändert durch Hess. GVBl. 2021, S. 166. 83 84 85 86 87
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bestimmte Geschäfte im Zivilrechtsverkehr – also für das Handeln Privater – gilt, hinaus, weil es die kollektivierenden Instrumente des Verbandsklagerechts und der Prozessstandschaft sowie einen erweiterten Katalog der Diskriminierungsgründe enthält. So darf nach § 2 LADG kein Mensch im Rahmen öffentlich-rechtlichen Handelns auf Grund des sozialen Status diskriminiert werden. Damit wird der nicht-vererbte soziale Status erstmals im Rahmen eines Antidiskriminierungsgesetzes in Deutschland gesetzlich verankert. Der soziale Status wurde aufgenommen, weil es sich dabei um eine „zentrale Dimension sozialer Ungleichheit“ handele, die bisher „meist nur als Folge, nicht aber als Gegenstand von Diskriminierung thematisiert wurde“.89 Diskriminierungserfahrungen knüpften an „gesellschaftlich wirkmächtige und historisch verfestigte Ungleichheitsstrukturen“ an und äußerten sich in „Stigmatisierungen, Benachteiligungen und Ausgrenzungen von gesellschaftlicher Teilhabe“.90 Der soziale Status sei durch gesellschaftliche Strukturen begründet und könne nicht einfach und jederzeit durch das betroffene Individuum selbst geändert werden.91 Der soziale Status kann nach der Gesetzesbegründung durch verschiedene sozioöko- 46 nomische Faktoren und Situationen näher definiert werden. Es geht um die „wirkmächtige Zuordnung einer sozialen Position in einem System sozialer, d. h. gesellschaftlich eingeschriebener und historisch gewachsener Rangordnungen und Hierarchien.“92 Diese Zuordnung, die mit Stereotypisierungen einhergehe, führe zu einer ungleichen Verteilung von Lebenschancen. Der soziale Status werde unter anderem bestimmt durch „Einkommen, Armut, Überschuldung, Bildungsabschluss, Analphabetismus, Erwerbstätigkeit, Beruf, Kleidung, Wohnungs- und Obdachlosigkeit sowie die körperliche Erscheinung“.93 Die vererbte soziale Herkunft könne als zusätzliches Klassifikationsindiz herangezogen 47 werden, beispielsweise hinsichtlich der Zugangsmöglichkeiten zu Bildung und Kultur im Zusammenhang mit dem familiären Bildungshintergrund und Finanzstatus. Außerdem seien familiäre Aspekte, wie „alleinerziehend, Mutter- und Vaterschaft“ oder auch ein „gesetzlich definierter Status (z. B. eine Duldung)“ für den sozialen Status zu berücksichtigen.94 Mit dieser Beschreibung des sozialen Status greift die Legislative von Berlin wesentliche 48 Erkenntnisse der Diskriminierungsforschung auf, insbesondere, dass ein geringer sozioökonomischer Status mit Diskriminierungserfahrungen wegen des körperlichen Erscheinungsbildes und der familiären Situation einhergehen kann.95
89 90 91 92 93 94 95
BE AbgH-Drs. 18/1996, S. 16. BE AbgH-Drs. 18/1996, S. 19. BE AbgH-Drs. 18/1996, S. 23. BE AbgH-Drs. 18/1996, S. 22. BE AbgH-Drs.. 18/1996, S. 22 f. BE AbgH-Drs. 18/1996, S. 23. Beigang/Fetz/Kalkum/Otto (Fn. 1). Cara Röhner
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§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung
D. Praktische Implikationen der Anerkennung sozioökonomischer Diskriminierung 49
Obwohl sozioökonomische Diskriminierungserfahrungen bisher kaum eine Rolle in der Rechtspraxis gespielt haben, gibt es verschiedene Ansatzpunkte für deren Thematisierung aus einer dualen, materialen und intersektionalen Perspektive. Im folgenden Abschnitt werden drei Konfliktfelder dargestellt, die bisher nicht aus Perspektive einer sozioökonomischen Diskriminierung problematisiert worden sind und in denen eine Dethematisierung von sozioökonomischen Gründen für Benachteiligung zu beobachten ist: Der beschränkte Zugang von Unionsbürger:innen zu existenzsichernden Leistungen, die Sanktionierung von Leistungsberechtigten nach dem SGB II sowie die Benachteiligung von armutsbetroffenen Kindern und Studierenden während der Corona-Pandemie. Anhand dieser drei Beispiele sollen die praktischen Implikationen der Anerkennung einer sozioökonomischen Diskriminierung dargestellt werden. I. „Armutsmigration“ in Europa: Beschränkter Zugang von Unionsbürger:innen zu existenzsichernden Leistungen als rechtliche Differenzierung nach dem sozialen Status
In den letzten Jahren wurde vom Europäischen Gerichtshof mehrfach darüber entschieden, wann Unionsbürger:innen in Deutschland Zugang zu existenzsichernden Leistungen für Arbeitsuchende nach dem SGB II – allgemein bekannt als Hartz IV – haben.96 Rechtlich hat der Europäische Gerichtshof diese Fälle anhand des Diskriminierungsverbots aufgrund der Staatsangehörigkeit geprüft. Im Kern geht es bei diesen Fällen jedoch tatsächlich um eine Diskriminierung aufgrund des sozialen Status. 51 Die deutsche Legislative hat im Zuge der europäischen Krisen und der EU-Osterweiterung den Zugang für Unionsbürger:innen immer weiter eingeschränkt.97 Während Unionsbürger:innen, die in Deutschland arbeiten oder selbstständig sind, grundsätzlich existenzsichernde Leistungen für Arbeitsuchende erhalten können, sind wirtschaftlich nicht aktive oder arbeitsuchende Unionsbürger:innen oder solche ohne Aufenthaltsrecht von diesen ausgeschlossen (§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Subsidiär kann diese Gruppe von Unionsbürger:innen auch nicht mehr Leistungen der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuchs98 (§ 23 SGB XII) erhalten. Auch für die Sozialhilfe wurde der Zugang beschränkt. Es sind nur noch Überbrückungsleistungen bis zur Ausreise gesetzlich vorgesehen (§ 23 SGB XII).99 Diese Leistungsausschlüsse wurden zwischenzeitlich auf die 50
96 Röhner (Fn. 14), S. 132 ff.; Mangold, Sozial- und arbeitsrechtliche Relevanz der Unionsbürgerschaft, in:
Schlachter/Heinig (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, Enzyklopädie Europarecht, Bd. 7, 2. Aufl. 2020, § 4; Buckel, „Welcome to Europe“ – Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts, 2013, S. 99 ff. 97 Zu den Leistungsausschlüssen siehe m. w. N. Schweigler, „… wenn Gewinn aus Sozialkassen winkt“, KJ 2021, S. 335; Röhner, Begrenzte Inklusion, DÖV 2021, S. 428. 98 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe v. 27.12.2003, BGBl. 2003 I, S. 3022, zuletzt geändert durch BGBl. 2021 I, S. 4906. 99 Siehe dazu BVerfG, Beschl. v. 8.7.2020, 1 BvR 1094/20; BVerfG, Beschl. v. 8.7.2020, 1 BvR 932/20; BVerfG, Beschl. v. 26.2.2020, 1 BvL 1/20; BVerfG, Beschl. v. 4.10.2019, 1 BvR 1710/18. Cara Röhner
D. Praktische Implikationen der Anerkennung sozioökonomischer Diskriminierung
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Familienförderung ausgeweitet, sodass diese Gruppe von Unionsbürger:innen auch kein Kindergeld mehr beziehen kann (§ 62 Abs. 1a EStG).100 Das deutsche Sozialrecht differenziert also Unionsbürger:innen anhand ihres sozialen Status: Arbeitnehmer:in, selbstständig, arbeitsuchend, ohne Aufenthaltsrecht. Der Europäische Gerichtshof hat den Ausschluss von Grundsicherungsleistungen für 52 Arbeitsuchende in § 7 SGB II in mehreren Urteilen gebilligt.101 Die rechtlichen Gründe dafür sind sehr komplex und können an dieser Stelle nicht umfassend dargelegt werden.102 Knapp zusammengefasst hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass der Ausschluss von wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger:innen von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nicht gegen Unionsrecht verstößt, eine Differenzierung aufgrund der Staatsangehörigkeit hier also zulässig ist. Ansonsten könnten Unionsbürger:innen in einen anderen Mitgliedstaat ziehen, nur um dort Sozialhilfeleistungen zu beantragen. Dies würde den 10. Erwägungsgrund der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG103 leerlaufen lassen, nach dem die Finanzen der Mitgliedstaaten nicht unangemessen in Anspruch genommen werden dürfen.104 Der Sinn und Zweck der deutschen Regelung ist jedoch nicht der Ausschluss von Uni- 53 onsbürger:innen per se, also allein eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Telos ist vielmehr der Ausschluss von Unionsbürger:innen mit einem bestimmten sozialen Status: Arbeitnehmer:innen und Selbstständige – also solche, die wirtschaftlich aktiv sind – und dann arbeitslos werden, erhalten Leistungen nach dem SGB II. Ausgeschlossen sind solche, die Arbeit suchen oder nur ein Aufenthaltsrecht nach der Freizügigkeitsrichtlinie oder gar kein Aufenthaltsrecht haben. Gemeinsames Ziel der verschiedenen Leistungsausschlüsse ist es, insbesondere ärmere Unionsbürger:innen aus Südosteuropa von sozialen Leistungen in Deutschland auszuschließen. In der sozialen Ungleichheit gründet also eine sozialrechtliche Diskriminierung. Rechtspolitisch sind die deutschen Leistungsausschlüsse Ausdruck eines Diskurses um „Armutsmigration“.105 Sie basieren auf der bisher wissenschaftlich nicht belegten Annahme, dass innerhalb des europäischen Freizügigkeitssystems der deutsche Sozialstaat zum „Magnet“ für die „europäischen Armen“ werde
100 Zur Unvereinbarkeit dieser Leistungsausschlüsse mit dem Unionsrecht und dem Menschenrecht auf
ein menschenwürdiges Existenzminimum siehe: Zu § 23 Abs. 3 SGB XII m. w. N. SG Darmstadt, Beschl. v. 14.1.2020, S 17 SO 191/19 ER; zu § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2c SGB II LSG NRW, Beschl. v. 8.6.2018, L 7 AS 420/18 B ER m. w. N.; zu § 62 Abs. 1a EStG m. w. N. Röhner, Stratifizierte Sozialbürgerschaft, in: FS Plagemann, 2020, S. 217; Janda, Familienförderung nur für „Marktbürger“?, ZRP 2019, S. 94. 101 EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13, Dano; EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14, Alimanovic; EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14, García-Nieto; anders jedoch zum Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 492/2011 EuGH, Urt. v. 6.10.2020, Rs. C-181/19, JD. 102 Röhner (Fn. 14), S. 132 ff. 103 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten v. 29.4.2004, ABl. L 229/35 (Freizügigkeitsrichtlinie). 104 EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13, Dano, Rn. 71. 105 So auch zu Dano und dem neuen Ziel der Union, Armutsmigration zu verhindern: Wallrabenstein, Die Gleichheit der Freiheit, ZESAR 2016, S. 349 (354). Siehe auch Schweigler (Fn. 97). Cara Röhner
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§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung
und es zu einem unangemessenen Anstieg von Sozialausgaben für Unionsbürger:innen komme.106 In dieser Rechtsprechungslinie des Europäischen Gerichtshofes zeigt sich eine Ab54 kehr von der Sozialbürgerschaft – also einer Unionsbürgerschaft, die sozial für alle gleichermaßen abgesichert ist – und die Rückkehr zu einer Marktbürgerschaft oder earned citizenship.107 Seit den 1990er Jahren hatte der Europäische Gerichtshof zugunsten von transnationalen sozialen Rechten geurteilt und den Ausschluss von Unionsbürger:innen von sozialen Leistungen – allein aufgrund der Staatsangehörigkeit – unter hohe Rechtfertigungsanforderungen gestellt. Insbesondere durfte es keinen automatischen Leistungsausschluss geben, sondern es musste eine Verhältnismäßigkeitsprüfung für den Einzelfall vorgenommen werden. Der Europäische Gerichtshof betonte die grundlegende Gleichheit der Unionsbürger:innen aufgrund des Primärrechts: Die Unionsbürgerschaft ist „der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten […], der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.“108 Daher bekamen Studierende, Alleinerziehende, Obdachlose und auch Arbeitsuchende soziale Leistungen in ihren Wohnsitzstaaten zugesprochen. Nun hat der Europäische Gerichtshof – auch aufgrund scharfer Kritik seitens der Mitgliedstaaten und konservativer Rechtswissenschaft – eine Kehrtwende gemacht. Europarechtlich existiert bisher kein Diskriminierungsverbot aufgrund des sozialen 55 Status. Der Europäische Gerichtshof hätte dieses also in den Fällen zu § 7 SGB II nicht ausdrücklich prüfen können, er hätte jedoch über die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV ) und die grundlegende primärrechtliche Gleichheit der Unionsbürger:innen seine alte Rechtsprechungslinie fortsetzen können. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung wären verfassungsrechtlich über Art. 3 56 Abs. 1 GG ein verschärfter Prüfungsmaßstab und eine intersektionale Analyse des Leistungsausschlusses angezeigt. Letztere würde die Überschneidung verschiedener Ungleichheitsachsen – nämlich der Staatsangehörigkeit, des aufenthaltsrechtlichen Status und des sozialen Status – untersuchen und in die rechtliche Bewertung der Leistungsausschlüsse von einer bestimmten Subgruppe von Unionsbürger:innen einbeziehen. II. Sanktionen im SGB II: Die rechtliche Hierarchisierung von Arbeitsuchenden und ein fehlender Diskriminierungsschutz im Sozialverfassungsrecht 57 Im deutschen Sozialverfassungsrecht lässt sich ein fehlender Diskriminierungsschutz von
Arbeitsuchenden, die nach dem SGB II leistungsberechtigt sind, feststellen.109 Dies zeigt
106 Zum Magnet-Effekt Martinsen/Werner, No welfare magnets – free movement and cross-border welfa-
re in Germany and Denmark compared, Journal of European Public Policy 26 (2019), S. 637 (652).
107 Schweigler (Fn. 97), S. 339. 108 EuGH, Urt. v. 20.9.2001, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Rn. 31. 109 Röhner (Fn. 14), S. 35 ff.
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D. Praktische Implikationen der Anerkennung sozioökonomischer Diskriminierung
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sich exemplarisch an den Sanktionsmöglichkeiten nach dem SGB II und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu. Nach den §§ 31 ff. SGB II kann der Regelsatz, der den Bedarf für das alltägliche Leben – 58 z. B. für Lebensmittel – abdecken soll, gekürzt werden, wenn Arbeitsuchende ihren Pflichten nicht nachkommen. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn sie sich nicht ausreichend um eine neue Arbeitsstelle bemühen, eine zumutbare Arbeit nicht annehmen oder eine Eingliederungsmaßnahme abbrechen (§ 31 Abs. 1 SGB II). Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit von Sanktionen konnte der Regelsatz bis zu 100 Prozent gekürzt werden. Arbeitsuchenden konnte also der Regelsatz vollständig gestrichen werden.110 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 5. November 2019 entschieden, dass Sanktionen nur bis maximal 30 Prozent des Regelsatzes verhängt werden dürfen und es einer Verhältnismäßigkeit im Einzelfall bedarf. Zwar wies das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass es bestimmte Gruppen von Leistungsberechtigten gibt, die aufgrund von psychischen Beeinträchtigungen nicht in der Lage sind, ihren gesetzlichen Mitwirkungspflichten nachzukommen und es daher einer besonderen Berücksichtigung dieser im Sozialverwaltungsverfahren bedarf. Es wurde jedoch nicht grundsätzlich erörtert, ob in der Möglichkeit, Sanktionen gegenüber Arbeitsuchenden zu verhängen, eine Diskriminierung von Arbeitsuchenden aufgrund des sozialen Status in der Gestalt von negativen Eigenschaftszuschreibungen vorliegt. Sanktionen basieren nämlich auf abwertenden Stereotypen, nach denen Arbeitslose 59 faul oder verantwortungslos seien und es daher negativer Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bedürfe. C. B. Macpherson hat in seiner Kritik des Besitzindividualismus aufgezeigt, dass die kulturelle Abwertung der Armen mit der Entstehung der Privateigentumsgesellschaft beginnt und in den Grundbegrifflichkeiten der bürgerlichen Gesellschaftsordnung wurzelt. Schon zu John Lockes Zeiten galten Arme nicht als gleichwertige, vernünftige Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, sondern wurden als disziplinierungs- und aktivierungsbedürftig betrachtet. Privateigentumsbedingte, soziale Ungleichheit werden – vor dem Hintergrund einer normativen Gleichheit aller Menschen – als gerechte und natürliche Marktdifferenz gerade über die kulturelle Abwertung der Besitzlosen gerechtfertigt.111 Da prinzipiell jeder Mensch seine Arbeitskraft am Markt verkaufen könne, gäbe es gemäß des Besitzindividualismus keine besitzlosen Subjekte, vielmehr entstehe über die Preisbildung eine „Moral des Marktes“, durch die jede:r erhalte, was ihr:ihm zustehe. Arbeitslosigkeit und Armut wurzeln in dieser Perspektive also nicht in der kapitalistischen Ökonomie, sondern in der sittlichen Verkommenheit der Einzelnen.112 Der Soziologe Stephan Lessenich kritisiert ebenfalls die Individualisierung im Rahmen des gegenwärtigen deutschen aktivierenden Sozialstaats. In diesem werde Armut und Erwerbslosigkeit zunehmend individualisiert, eine den Sozialstaat nicht belastende Lebensführung geordert und dies durch Sanktionen abgesichert.113 110 111 112 113
BVerfGE 152, 68 – Sanktionen im Sozialrecht (2019). Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, 1973. Macpherson (Fn. 111), S. 250 ff., 261 ff., 277. Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen, 3. Aufl. 2013, S. 73 ff. Cara Röhner
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§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung
Die Zuschreibung von negativen Eigenschaften ist ein zentrales Moment sozioökonomischer Diskriminierung. Daher wäre es naheliegend, rechtliche Vorschriften, die wie §§ 31 ff. SGB II auf Stereotypen basieren und eine kulturelle Hierarchisierung von Arbeitsuchenden zum Ausdruck bringen, unter diskriminierungsrechtlichen Gesichtspunkten zu bewerten. Gerade bei Transferleistungen befinden sich die Einzelnen in existentieller Abhängigkeit vom Staat, sodass hieraus eine Gefahr für eine punitive Sozialpolitik droht. Bei der Gewährung von sozialen Leistungen kommt es daher nicht nur darauf an, ob Leistungen gewährt werden, sondern auch auf die Art und Weise der Leistungsgewährung. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sichert bisher nur das „ob“ der Leistungen, nicht aber eine diskriminierungsfreie Gewährung ab. Das Bundesverfassungsgericht räumt der Legislative einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung der Grundsicherung für Arbeitsuchende ein.114 Dieser weite Spielraum wird jedoch durch die verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbote begrenzt. Eine diskriminierungsrechtliche Perspektive auf die Leistungsgewährung würde daher die Grenzen des Gestaltungsspielraums konturieren. Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab wäre hier eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung gem. Art. 3 Abs. 1 GG wegen einer Diskriminierung aufgrund des sozialen Status oder alternativ eine duale – d. h. hier diskriminierungsrechtliche – Auslegung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Dann würde dieses Grundrecht nicht nur die Gewährung des Existenzminimums, sondern auch eine diskriminierungsfreie – also stereotypenfreie – Ausgestaltung gewährleisten. III. Bildungsbenachteiligung in der Pandemie: Schulschließungen und Studierendenkredite
Sozioökonomische Diskriminierung ist nicht nur im Bereich der existenzsichernden Sozialleistungen, sondern auch im Bildungswesen zu beobachten. Hier ist eine Benachteiligung von Kindern aus armutsbetroffenen Familien oder Arbeiter:innenkindern festzustellen. 62 In Deutschland hängt der Bildungserfolg im Vergleich zu anderen Industriestaaten stark vom Elternhaus ab.115 Zu den Gründen zählen unter anderem das Fehlen von Vorund Ganztagsschulen, die als wichtige Faktoren für mehr Bildungsgerechtigkeit gelten, weil sie Benachteiligungen durch den familiären Hintergrund ausgleichen. Die Schule als Ort des kognitiven und sozial-emotionalen Lernens ist grundlegend gerade für Schüler:innen, die zuhause weniger Unterstützung erhalten.116 Die Bildungsungleichheit setzt sich an der Universität fort. Seit den 1990er Jahren ist der Anteil der Studierenden mit einer „niedrigen“ Bildungsherkunft auf 12 Prozent (2016) gesunken.117 Auch ist der Anteil der 61
114 BVerfGE 125, 175 (222, 224 f.) – Hartz IV (2010); BVerfGE 137, 34 – Regelsatzhöhe (2014); BVerfGE
152, 68 (113 ff.) – Sanktionen im Sozialrecht (2019).
115 Siehe die Nachweise in Fn. 8. 116 Hurrelmann/Dohmen, Corona-Krise verstärkt Bildungsungleichheit, Das deutsche Schulportal,
15.4.2020.
117 Middendorff/Apolinarski/Becker/Bornkessel/Brandt/Heißenberg/Poskowsky, Die wirtschaftliche und
soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2016, 2017, S. 9. Cara Röhner
D. Praktische Implikationen der Anerkennung sozioökonomischer Diskriminierung
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BAföG-Berechtigten immer weiter zurückgegangen. Etwa 68 Prozent der Studierenden haben einen Nebenjob; 59 Prozent davon sind auf den Nebenjob angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.118 Die Covid-19-Pandemie hat die soziale Ungleichheit und die damit einhergehende Be- 63 nachteiligung sowohl im schulischen als auch im universitären Bildungsbereich noch einmal verschärft. Während der Schulschließungen und der Phasen der gesamtgesellschaftlichen Lockdowns wurden nur unzureichende staatliche Maßnahmen für Schüler:innen und Studierende aus ärmeren oder nicht-akademischen Familien getroffen, um deren Bildungsbenachteiligung auszugleichen. Während der Covid-19-Pandemie schlossen die Landesregierungen die Schulen mo- 64 natelang, um die Infektionszahlen zu begrenzen. Damit fiel der Präsenzunterricht als Voraussetzung für Bildungsgerechtigkeit weg. Erste Studien legen nahe, dass der Fernunterricht gerade bei Schüler:innen aus nicht-akademischen Elternhäusern zu erheblichen Lernrückständen führte. Es wird geschätzt, dass ein Viertel der Schüler:innen keine technische Ausstattung für den Fernunterricht hatte und an diesem nicht (ausreichend) teilnehmen konnte.119 Auch benachteiligten die Schulschließungen Schüler:innen, die von ihren Eltern keine ausreichende Unterstützung erhielten, weil diese aufgrund ihrer eigenen Bildung oder Muttersprache nicht dazu in der Lage waren oder einer Tätigkeit nachgingen, die nicht im Homeoffice ausgeübt werden konnte. Homeoffice wird vor allem von Akademiker:innen genutzt und ist ein Privileg, über das nur ungefähr ein Viertel der Berufstätigen verfügt. Die Schulschließungen haben sich also auf die Schüler:innen – je nach familiärem Hintergrund – unterschiedlich ausgewirkt. Ohne den Ausgleich struktureller Benachteiligung stellen diese im Sinne einer materialen Gleichheit eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft gem. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG von Schüler:innen aus nichtprivilegierten Elternhäusern dar. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Entscheidung vom 19. November 2021 65 mit den Schulschließungen als Grundrechtseingriff befasst und aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG erstmals ein Recht der Schüler:innen auf chancengleiche schulische Bildung abgeleitet.120 Es hat das infektionsschutzrechtlich begründete Verbot des Präsenzunterrichts als – im Ergebnis gerechtfertigten – Eingriff gewertet. Das Recht auf schulische Bildung hat nach dem Bundesverfassungsgericht verschiedene Gewährleistungsdimensionen, unter anderem vermittelt es den Kindern und Jugendlichen „einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwort118 Middendorff/Apolinarski/Becker/Bornkessel/Brandt/Heißenberg/Poskowsky (Fn. 117), S. 60, 62. 119 Hurrelmann/Dohmen (Fn. 116); Lietzmann/Wenzig, Materielle Unterversorgung von Kindern, 2020;
Hanschmann, Notebooks für Alle, Verfassungsblog v. 28.5.2020; Dern/Wersig, Bedarfe für Bildung (nicht nur) während der Corona Pandemie, info also 2020, S. 201; dies., Diskriminierungsrisiken erkennen und begegnen – auch in der Pandemiesituation – Ein antidiskriminierungsrechtlicher Blick auf Schule in der Corona Pandemie, 2020, www.adas-berlin.de. 120 BVerfG, Beschl. v. 19.11.2021, 1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21 – Bundesnotbremse II (Schulschließungen). Siehe dazu die erste Einordnung von Wolff, Schulschließung als Grundrechtseingriff: Zum Bundesnotbremsen-Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Verfassungsblog v. 30.11.2021. Cara Röhner
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§ 11 Sozioökonomische Diskriminierung
lichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten“, ohne jedoch einen Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen zu enthalten.121 Damit hat das Bundesverfassungsgericht freiheitsrechtlich das Recht der Kinder und 66 Jugendlichen auf schulische Bildung gestärkt und die Chancengleichheit als Dimension dieses Rechts betont. In Zukunft müsste diese freiheitsrechtliche Argumentation durch eine gleichheits- und antidiskriminierungsrechtliche ergänzt werden, um strukturelle Hürden für die Chancengleichheit, die in der sozialen Herkunft gründen, adressieren zu können. Auch Studierende, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft keine finanzielle Unterstüt67 zung von ihren Eltern bekommen, hat die Covid-19-Krise hart getroffen. Umfragen haben gezeigt, dass 40 Prozent der 2,9 Millionen Studierenden im Zuge der Pandemie ihren Job verloren haben; 22 Prozent sind durch die Pandemie in ernste finanzielle Schwierigkeiten geraten und mussten sich Geld aus dem sozialen Umfeld leihen oder ihr Studium abbrechen.122 Anstatt das BAföG auszuweiten, wurden lediglich Kf W-Darlehen geschaffen. Darlehen führen jedoch zu Schulden und damit zu einer Benachteiligung von Studierenden aus Elternhäusern mit wenig finanziellen Ressourcen.123 Daher wirken sich auch Kf WDarlehen auf die betroffenen Studierenden unterschiedlich aus. Je nach sozialer Herkunft wird die Aussicht, sich nur über ein Darlehen das Studium weiter finanzieren zu können, dazu führen, dass einige dies in Kauf nehmen können, andere jedoch wegen des Risikos der Überschuldung ihr Studium abbrechen müssen. 68 Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass der Zugang zu Bildung nicht von den „Besitzverhältnissen der Eltern“ abhängig sein darf.124 In der Wahl der Mittel ist die Politik frei: Sie kann entscheiden, wie sie Chancengleichheit im Bildungssystem herstellen will. Diese sozialstaatliche, auf Chancengleichheit gerichtete Rechtsprechung würde noch einmal an Kontur und Gewicht gewinnen, wenn eine diskriminierungsrechtliche materiale Perspektive ergänzt würde. Bei der Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft gem. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG besteht weniger Gestaltungsspielraum und es greift der verschärfte Prüfungsmaßstab des Art. 3 Abs. 3 GG.
121 BVerfG, Beschl. v. 19.11.2021, 1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21, Rn. 57 – Bundesnotbremse II (Schulschlie-
ßungen).
122 Klein, Wir wissen uns nicht mehr zu helfen, SZ online v. 7.6.2020. 123 Zusätzlich konnten Studierende nicht zurückzuzahlende Überbrückungsleistungen bei ihrem Studie-
rendenwerk beantragen. Auf diese bestand jedoch kein Rechtsanspruch und die Höhe deckte mit 100–500 Euro noch nicht einmal den Bedarf des Existenzminimums ab. 124 BVerfGE 75, 40 – Privatschulfinanzierung I (1987); BVerfGE 134, 1 – Studiengebühren Bremen (2013). Cara Röhner
E. Fazit
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E. Fazit Sozioökonomischer Diskriminierung kommt bisher in der Rechtsanwendung keine 69 erkennbare Bedeutung zu. Die Rechtsprechung hat den Schutzbereich und die Rechtsfertigungsanforderungen bisher nicht konturiert. Dennoch gibt es Diskriminierung aus sozioökonomischen Gründen in der sozialen Realität. Insbesondere durch die Diskussion um die Erweiterung des AGG und die Aufnahme des sozialen Status in das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz hat die rechtliche Entwicklung an Fahrt aufgenommen. Mit dem Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz besteht die Chance, dass sozioökonomische Diskriminierung zukünftig stärker rechtlich problematisiert und ausgearbeitet werden wird.
Cara Röhner
§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht Julian Krüper* Inhaltsübersicht Rn. A. Ausgangspunkt: Vier Probleme und zwei Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Kategorien im Kontext des Antidiskriminierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand und Ziele des Antidiskriminierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Merkmale von Kategorien in antidiskriminierungsrechtlichen Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tradierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Indisponibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Essentialisierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kategorie als Verbindung von Tatbestand – Verpflichteten – Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . .
8 9 12 13 14 16 18 19
C. Bestand und Merkmale politischen Anschauungsschutzes de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Politischer Anschauungsschutz im geltenden Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Völker- und Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 16a GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 33 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Art. 21, 38 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Äußerungsrechtsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beamten- und Schulrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Öffentliche Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vereinsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Politische Einflussnahme auf den Kulturbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Drittwirkung von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20 20 21 26 26 27 28 30 33 34 35 37 38 39 43 43 44 46 48 51
* Meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Katharina Schwengel schulde ich Dank für Recherche und Re-
daktion sowie für die Diskussion von Vor-, Zwischen- und Endfassungen dieses Beitrags. Anna Katharina Mangold und Mehrdad Payandeh danke ich für hilfreiche Gespräche über die Funktionen des Antidiskriminierungsrechts und den schwer zu fassenden Gegenstand dieses Beitrags und für ihre konstruktive Kritik am Text. Julian Krüper
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
D. Im Hintergrund: Aporien einer Kategorie politischer Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 I. Das Kategorienproblem als Tatbestandsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Das Politische einer politischen Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 a) Politisches als Öffentliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 b) Politisches als Privates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Strukturprobleme einer Tatbestandskategorie ‚politische Anschauung‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 67 a) Schwache Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 b) Fehlende Tradierungsbefunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 c) Fehlender Indisponibilitätsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 d) Fehlende Essentialisierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 e) Der Wert formaler Gleichheit politischer Anschauungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 II. Das Kategorienproblem als Verpflichtetenproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Staat als Verpflichteter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Private als Verpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 a) Natürliche Personen und juristische Personen ohne Eigenschaft eines Tendenzbetriebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 b) Private Tendenzbetriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 c) Private, die ein öffentliches Forum eröffnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 III. Das Kategorienproblem als Rechtsfolgenproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 1. Verbotensein der Diskriminierung als rechtliche Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2. Reaktive Rechtsfolgen ansonsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 a) Privatrechtliche Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 b) Öffentlich-rechtliche Rechtsfolgen und Durchsetzungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . 101 3. Proaktive Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Ausgangspunkt: Vier Probleme und zwei Prämissen Dieser Beitrag ist theoretischen und dogmatischen Fragen des politischen Anschauungsschutzes gewidmet. Er beruht auf der Prämisse, dass mit der politischen Anschauung von Menschen ein antidiskriminierungsrechtlicher Anknüpfungspunkt gewählt ist, der sich von anderen Anknüpfungspunkten wie dem Geschlecht oder der Rasse in relevanter Weise unterscheidet. Die vermuteten Unterschiede ergeben sich aus dem Gegenstand ‚politische Anschauung‘ selbst, aber auch aus seiner Konfrontation mit Erwartungen an eine dogmatische Ordnung des Antidiskriminierungsrechts. Fixpunkt der Überlegungen dieses Beitrags ist der Begriff der Kategorie, der für das 2 Antidiskriminierungsrecht dogmatisch und analytisch prägend ist.1 Dabei sind vier Probleme und eine weitere Prämisse zu gewärtigen: Erstens ist das Sprechen von dem Antidiskriminierungsrecht geeignet, Fehlvorstel3 lungen über die systematische und dogmatische Geschlossenheit dieses Rechtsgebiets 1
1 Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021; dies., Von Homogenität zu Vielfalt, in: Duve/
Ruppert (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Berliner Republik, 2018, S. 461 ff.; → Baer, § 5. Julian Krüper
A. Ausgangspunkt: Vier Probleme und zwei Prämissen
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„im Werden“2 hervorzurufen. Als Rechtsmaterie, die auf Rechtsquellen des Völkerrechts, Europarechts, des nationalen Verfassungs- und Gesetzesrechts ruht, die durch Normen des Privatrechts, des Strafrechts und des Öffentlichen Rechts geprägt wird, die eine Fülle verschiedener Rechtsfolgen kennt und die (jedenfalls noch) politisches und juristisches Projekt zugleich ist, ist dem Antidiskriminierungsrecht nicht mit konventionellen Geschlossenheitsvorstellungen beizukommen. Um vorschnellen normativen Kurzschlüssen vorzubeugen, wird daher im Folgenden begrifflich zwischen Normen mit antidiskriminierungsrechtlichem Gehalt und dem antidiskriminierungsrechtlichen Projekt im Ganzen – Antidiskriminierungsrecht – unterschieden. Zweitens scheinen Begriff und Konzept der Kategorie im Antidiskriminierungsrecht 4 nicht gewiss, sowohl im Hinblick auf die innere Struktur als auch die ordnende normative Kraft, die unter dem Rubrum des postkategorialen Antidiskriminierungsrechts diskutiert wird.3 Für die Zwecke dieses Beitrags wird daher ein eigener Vorschlag zur Struktur antidiskriminierungsrechtlicher Kategorien gemacht (B. II.; D. I. 2.). Drittens ist der Begriff des Politischen notorisch unscharf. Über das Merkmal der poli- 5 tischen Anschauung werden diese Unschärfen in antidiskriminierungsrechtliche Debatten hineingetragen und lösen dort Definitions- und Abgrenzungsprobleme aus. Im Hinblick auf die Fülle unterschiedlicher Rechtsfolgen von antidiskriminierungsrechtlichen Normen ist eine Auseinandersetzung mit dem Element des Politischen im Begriff der politischen Anschauung notwendig, die in diesem Beitrag indes nur angedeutet werden kann (D. I. 1.). Viertens steht am Ausgangspunkt dieses Beitrags der Befund, dass es bereits eine Reihe 6 von antidiskriminierungsrechtlichen Normen gibt, die einen Schutz politischer Anschauung gewährleisten. Insofern lässt sich sagen, dass die politische Anschauung bereits Schutzgegenstand des Antidiskriminierungsrechts ist. Damit wird von vornherein eine Spannung in den Beitrag getragen, die zu verarbeiten ist. Es geht insofern einerseits um die Bestandsaufnahme von Normen und Normpraxis des politischen Anschauungsschutzes. Dabei wird sich zeigen, dass der Symbolwert dieser Normen und ihre normative Kraft stark differieren. Art. 3 Abs. 3 GG im Merkmal der „politischen Anschauung“ ist hierfür das sprechendste, aber nicht das einzige Beispiel (C.). Auf dieser Basis geht es sodann andererseits darum, nach der Ursache der Differenz zwischen Symbolwert und normativer Kraft dieser Normen zu fragen. Diese Ursache sehe ich darin, dass sich politische Anschauung aus konzeptionellen und materiellen Gründen nicht bruchlos als antidiskriminierungsrechtliche Kategorie im Sinne des hier zugrunde gelegten Kategorienbegriffs beschreiben lässt. Der Beitrag nimmt insofern an vielen Stellen eine Zwischenposition ein – zwischen lex lata und lex ferenda, zwischen Dogmatik und Theorie, zwischen Recht und Politik und schließlich zwischen dem positivrechtlichen Sein des Antidiskriminierungsrechts und seinem konzeptionellen Sollen, wie ich es verstehe. Den Beitrag kennzeichnet also eine Perspektivenvielfalt und auch ein Wechsel im analytischen Zugriff auf das Phänomen des 2 Mangold, Von Homogenität zu Vielfalt, in: Duve/Ruppert (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Berliner
Republik, 2018, S. 461 ff.
3 → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 76 ff.; Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 305 ff.;
dies. (Fn. 2), S. 479 ff.; → Baer, § 5 Rn. 38 ff.
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
politischen Anschauungsschutzes im Antidiskriminierungsrecht, der hoffentlich jeweils hinreichend deutlich wird. Die nachfolgenden Überlegungen stehen schließlich unter der Prämisse, dass Antidis7 kriminierungsrecht als Teil einer entwickelten demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung konzipiert wird, in der Gleichheit als rechtlicher und politischer Wert grundsätzlich anerkannt und respektiert wird. Antidiskriminierungsrecht knüpft an diese Grundbedingung an und zielt auf optimale Verwirklichung des Gleichheitsversprechens, insbesondere auch gegenüber strukturell bleibenden Diskriminierungen. Ein politisches System, das das grundsätzliche Versprechen menschlicher Würde und Gleichheit nicht einlösen will, kann nicht antidiskriminierungsrechtlich diszipliniert werden.
B. Kategorien im Kontext des Antidiskriminierungsrechts 8
Will man Besonderheiten politischer Anschauung als Anknüpfungsmerkmal antidiskriminierungsrechtlicher Normen genauer in den Blick nehmen, so ist es notwendig, sich des antidiskriminierungsrechtlichen Kontexts und des Kategorienbegriffs selbst zu versichern. Der Kategorienbegriff soll dabei einmal als Tatbestandsmerkmal konkreter Normen (hier unter II., weiter dann unter D. I.), zugleich aber auch in einem weiteren Sinne als analytischer Verbundbegriff einer rechtswissenschaftlichen Reflexion des Antidiskriminierungsrechts untersucht werden (hier unter III., weiter dann unter D. II. und III.). I. Gegenstand und Ziele des Antidiskriminierungsrechts
Der Begriff des Antidiskriminierungsrechts ist ebenso wenig wie das Rechtsgebiet, das mit ihm bezeichnet wird, konzeptionell geschlossen. Im Kern steht die Diskriminierung, die nicht jede beliebige, sondern solche Formen der Ungleichbehandlung bezeichnet, die geeignet sind, einen Menschen auszugrenzen oder herabzusetzen und dadurch als Menschen zweiter Klasse erscheinen zu lassen.4 Diskriminierungen weisen insofern einen bestimmten Intensitätsgrad auf, der sie von sonstigen Ungleichbehandlungen abhebt. Besonders im Blick stehen Diskriminierungen, die einen Menschen nicht als Individuum, sondern als Mitglied einer Gruppe – der Frauen, der Muslime, der Homosexuellen usf. – diskriminieren.5 Diskriminierung ist dabei nicht allein die Schlechterstellung von Personen, sondern auch ihre sachgrundlose Gleichbehandlung.6 10 Quellen des Antidiskriminierungsrechts finden sich dabei im öffentlichen Recht ebenso wie im Privatrecht, nachgeordnet auch im Strafrecht. Von den Rechtsfolgen her betrachtet zerfällt Antidiskriminierungsrecht in Nichtdiskriminierungsrecht, das auf Diskriminie9
4 Sacksofsky, Diskriminierung und Gleichheit, in: Opfermann (Hrsg.), Unrechtserfahrungen, 2007, S. 31. 5 Khaitan, A Theory of Discrimination Law, 2015, S. 30 ff.: „cognate groups“; → Mangold/Payandeh, § 1
Rn. 76; Lembke/Liebscher, Postkategoriales Antidiskriminierungsrecht?, in: Philipp u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, S. 261 (265, 268 f.). 6 Mangold (Fn. 2), S. 464. Julian Krüper
B. Kategorien im Kontext des Antidiskriminierungsrechts
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rungen reagiert, und Gleichstellungsrecht, das positive Maßnahmen zur Förderung von Gleichheit umfasst.7 Zentral ist dabei das Konzept der Kategorie, das die Anknüpfungsmerkmale jener Un- 11 gleichbehandlungen rechtlich fasst, die als Diskriminierung verstanden werden. Die ausgrenzende und herabsetzende Wirkung solcher Diskriminierungen ergibt sich typischerweise aus der besonderen Nähe der Anknüpfungsmerkmale zur Person.8 Deswegen rücken Eigenschaften wie das Geschlecht, die Rasse, die sexuelle Orientierung, die Behinderung, das Alter, aber auch mentale Dispositionen wie die Religion oder Aspekte der sozialen Herkunft in den Blick. Dabei ist in den vergangenen Jahren besonders dem Umstand Aufmerksamkeit zuteilgeworden, dass Diskriminierungen häufig an mehrere Kategorien anknüpfen, die in einer Person verwirklicht sind („Intersektionalität“9). II. Merkmale von Kategorien in antidiskriminierungsrechtlichen Normen
Die etablierten Kategorien des Antidiskriminierungsrechts sind bei allen Differenzen 12 im Einzelnen untereinander strukturähnlich, weil die mit ihnen erfassten Eigenschaften oder Dispositionen eines Menschen ähnliche Merkmale aufweisen, die sich aus den Eigenschaften selbst bzw. aus dem Umgang mit ihnen ergeben. Die durch das Antidiskriminierungsrecht erfassten spezifischen Ungleichbehandlungen knüpfen einerseits an diese Eigenschaften an, andererseits transformieren sie sie in einer Weise, die aus einer konkreten Eigenschaft eines Menschen das Merkmal einer Gruppe macht. Folgende vier Strukturmerkmale lassen sich dabei in meinen Augen identifizieren. 1. Evidenz
Die mit den Kategorien antidiskriminierungsrechtlicher Normen erfassten Eigenschaften 13 weisen ein Element der Evidenz auf. Evidenz ist die „Einsichtigkeit von etwas, das aus der Sache heraus einleuchtet und sich uns entweder unmittelbar, schlagartig intuitiv und als gewiss in seiner Gegebenheit zeigt, von uns in seiner Wesenheit ganzheitlich erschaut bzw. vernommen wird oder mittelbar durch Ableitung aus einem per se Einsichtigen gewiss wird“.10 Evidenzphänomene setzen sich danach aus einer „Sachverhaltsevidenz“ und einer „Intuitionsevidenz“ zusammen.11 Für antidiskriminierungsrechtliche Normen ist die Evidenz ihrer Kategorien bedeutsam, weil sie Voraussetzung der verpönten Essentialisierung der mit ihnen verknüpften Merkmale ist (dazu hier unter 4.). Der einzelne Mensch wird nicht als Individuum, sondern als Teil einer Gruppe angesprochen. Dabei sind diese 7 Mangold (Fn. 3). 8 Siehe auch Khaitan (Fn. 5), S. 27 ff.: „personal ground“. 9 Lembke/Liebscher (Fn. 5); Markard, Die andere Frage stellen: Intersektionalität als Analysekategorie im
Recht, KJ 2009, S. 353; Baer/Bittner/Goettsche, Mehrdimensionale Diskriminierung, 2010, S. 10 ff.; → Baer, § 5 Rn. 68; → Holzleithner, § 13. 10 Zitat und objektiv-subjektive Struktur der Evidenz bei Kunz, Art. Evidenz, in: Prechtl/Burkard (Hrsg.), Metzler Lexikon Philosophie, 3. Aufl. 2008, S. 171. 11 Kunz (Fn. 10), S. 171. Julian Krüper
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
Evidenzzuschreibungen nicht Ausdruck tieferer Befassung oder wissenschaftlicher Reflexion.12 Vielmehr knüpfen sie an leicht zugängliche – evidente – Sachverhalte, Bilder und Imaginationen oder an historisch und gesellschaftlich tradierte Vorstellungen an, etwa von ethnischer Herkunft, von Geschlecht, Religion oder sexueller Orientierung.13 Aber auch eher prozessorientierte Beobachtungen, die bestimmte Verhaltensweisen zu Verhaltensstereotypen generalisieren, können Anknüpfungspunkte von Evidenzwahrnehmungen bilden. Dabei geht es nicht darum, dass die wahrgenommenen und empfundenen Evidenzen ‚zutreffend‘ sind, sondern darum, dass in einem als evident wahrgenommenen Sachverhalt ein materieller Anknüpfungspunkt für diskriminierende Zuschreibungen besteht. Evidenz kann in diesem Sinne zugleich vorfindlich und konstruiert sein und ist daher eng mit dem Strukturmerkmal der Essentialisierung verbunden. 2. Tradierung
Die etablierten Kategorien des Antidiskriminierungsrechts zeichnen sich durch die historische Tradierung und soziale Verfestigung der Diskriminierungshandlungen aus.14 Darüber wird rechtsdogmatisch eine Abgrenzung alltäglicher Ungleichbehandlung von struktureller Diskriminierung geleistet, die für das Antidiskriminierungsrecht deswegen wichtig ist, weil erst der spezifische Unwertgehalt diskriminierender Ungleichbehandlungen ein proaktives Rechtsfolgenregime plausibel macht. 15 Offenkundig sind historische Tradierung und soziale Verfestigung von Diskriminierung für die Kategorien Geschlecht, Rasse und Religion. Der Kampf gegen die Rassendiskriminierung beginnt in den USA schon Ende des 18. Jahrhunderts mit den Abolitionisten.15 Die erste Frauenbewegung ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts breitenwirksam geworden.16 Der Kampf gegen religiöse Diskriminierungen ist gerade in Europa Jahrhunderte alt. Der Kampf um gleichberechtigte Anerkennung homosexueller Menschen17 14
12 Freilich gibt es gerade in der wissenschaftlichen Forschung zu biologistischen Rasse- oder Geschlech-
terkonzepten immer wieder den Versuch einer Szientifizierung der verschiedenen Kategorien, siehe aus dem deutschen Sprachraum die Ansätze des hoch umstrittenen Kasseler Biologen Ulrich Kutschera, etwa in ders., Das Gender-Paradoxon, 2016. 13 Mangold (Fn. 3), S. 234; → Baer, § 5 Rn. 43 ff. 14 → Baer, § 5 Rn. 77 f.; siehe für das Merkmal der politischen Verfolgung in Art. 16a Abs. 1 GG etwa BVerfGE 76, 143 (157) – Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft (1987): „Dieser [der Flüchtlingsbegriff, Anm. JK] knüpft seinerseits an geschichtlich erfahrene politische Verfolgungen und Verfolgungsschicksale an […]; indem er sich auf die begründete Furcht vor Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen politischer Überzeugung bezieht, benennt er jene menschlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die nach geschichtlicher Erfahrung die häufigsten und entscheidenden Anknüpfungs- und Bezugspunkte für die Unterdrückung und Verfolgung Andersartiger und Andersdenkender bildeten und auch weiterhin noch bilden“. 15 Mangold (Fn. 3), S. 226 zur Bedeutung der Rasse als Ursprung des Antidiskriminierungsdenkens in den USA. 16 Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus, 3. Aufl. 2018, S. 48 ff.; dies., Der Partikularismus der Frauenrechte im 19. Jahrhundert Rechtslagen und Rechtskämpfe der Frauenbewegungen in der westlichen Welt, in: Fischer/Berlis/de Groot (Hrsg.), Frauenbewegungen des 19. Jahrhunderts, 2020, S. 29 ff. 17 Am Beispiel der Schwulenbewegung etwa Herzer (Hrsg.), Hundert Jahre Schwulenbewegung, 1998. Julian Krüper
B. Kategorien im Kontext des Antidiskriminierungsrechts
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sowie von Menschen mit Behinderung18 ist demgegenüber jüngeren Datums und trotz mancher Erfolge weniger weit fortgeschritten und vielfach noch mit der Gewährleistung formaler Gleichheit befasst. 3. Indisponibilität
Der Unwert der von antidiskriminierungsrechtlichen Normen erfassten Diskriminierun- 16 gen gründet wesentlich in der normativen Unverfügbarkeit der Anknüpfungsmerkmale. Diskriminierung aufgrund dieser Merkmale ist weder durch eigenes Zutun zu entkommen noch ist sie durch eigenes Verhalten begründet.19 Sie wird als besonders unangemessen empfunden, weil die betroffene Person nicht in ihrer Individualität, sondern nur als Teil einer Gruppe diskreditiert wird. Allerdings bestehen insoweit schon zwischen den etablierten Kategorien selbst einige Unterschiede. Ethnische Herkunft und biologisches Geschlecht knüpfen an genetische Dispositionen an, die zwar phänotypisch modifiziert werden können, aber genotypisch stabil sind. Ähnlich verhält es sich mit dem Merkmal der sexuellen Orientierung, wenngleich nach wie vor umstritten ist, welche Faktoren maßgeblich über ihre Ausprägung entscheiden und die zunehmend als potentiell fluide Eigenschaft verstanden wird. Fragen der sozialen Herkunft knüpfen zwar nicht an gegebene Eigenschaften des Individuums an, liegen diesem aber in ähnlich unverfügbarer Weise voraus. Anders liegt es bei Religion und Weltanschauung. Sie sind erworbene geistige Haltun- 17 gen und damit änderbar. Allerdings wird ihre Indisponibilität grundrechtlich abgesichert, zum einen, weil sie persönlichkeitskernnah sind und zum anderen, weil ihr Erwerb häufig sozialisationsbedingt und nicht Ergebnis bewusster Entscheidungen ist. Das religiös-weltanschauliche Bekenntnis ist also disponibel, weil es geändert werden kann, es wird aber von der Erwartung der Disponibilität freigestellt. 4. Essentialisierbarkeit
Die durch Normen des Antidiskriminierungsrechts erfassten Diskriminierungen zeichnen 18 sich dadurch aus, dass sie eine Essentialisierung der Anknüpfungsmerkmale vornehmen. Entscheidend für die Konstituierung einer Kategorie ist dabei, dass sich das Anknüpfungsmerkmal zu einer solchen Essentialisierung überhaupt eignet. Dabei ist das Merkmal der Essentialisierbarkeit eng mit den vorgenannten Merkmalen, insbesondere mit dem der Evidenz verknüpft. Nichtevidente Anknüpfungsmerkmale lassen sich nur schwer zu Gruppenmerkmalen essentialistisch überhöhen. Diskriminierungen bauen auf die subjektive Seite der Evidenzwahrnehmung, die Intuitionsevidenz. Durch sie werden an das jeweilige 18 → Zinsmeister, § 9 Rn. 34 ff. 19 Damit ist nicht gesagt, dass (legales) Verhalten legitimerweise Anknüpfungspunkt von Diskriminie-
rungen werden könnte; der Unwertgehalt von Diskriminierungen wird aber umso höher empfunden, je weniger ihnen zu entkommen ist. Dieser Gedanke spielt auch bei der Bestimmung der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte im Rahmen der sogenannten „neuen Formel“ bei Art. 3 Abs. 1 GG eine Rolle, siehe etwa BVerfGE 55, 72 (89) – Präklusion I (1980); BVerfGE 88, 87 (96): – Transexuelle II (1993); BVerfGE 91, 346 (363) – Miterbschaft eines landwirtschaftlichen Betriebs (1994). Julian Krüper
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
evidente Merkmal subjektiv empfundene Eigenschaften angeknüpft, die der antidiskriminierungsrechtliche Diskurs als unzulässige Zuschreibungen qualifiziert. III. Kategorie als Verbindung von Tatbestand – Verpflichteten – Rechtsfolge 19
Die unter II. erörterten Merkmale der Kategorien betreffen die Tatbestandsseite antidiskriminierungsrechtlicher Normen, in denen die Kategorien die Anknüpfungsmerkmale der jeweiligen Rechtsfolgen bilden. Hier hat der Kategorienbegriff seinen positivrechtlichen Schwerpunkt und beeinflusst als dogmatischer Begriff die Entwicklung des Antidiskriminierungsrechts. Er lässt sich aber auch aus der Engführung auf die Tatbestandsseite der Normen lösen und übergreifend verstehen als Begriff, unter dem die Zusammenhänge zwischen dem jeweiligen Anknüpfungsmerkmal, den Normverpflichteten und den Rechtsfolgen thematisiert werden. In dieser Perspektive ist der Begriff geeignet, die Notwendigkeit einer eigenständigen Kategorie – hier: der politischen Anschauung – zu begründen, weil so die Interdependenz von Tatbestand, Verpflichteten und Rechtsfolgen deutlicher in den Blick rückt. Vor allem beim Anknüpfungsmerkmal der politischen Anschauung, das sich einerseits häufig in antidiskriminierungsrechtlichen Normen findet, dessen Status als Kategorie aber ungewiss ist, kann ein in diesem Sinne übergreifender Begriff der Kategorie analytisch weiterführend sein.
C. Bestand und Merkmale politischen Anschauungsschutzes de lege lata I. Politischer Anschauungsschutz im geltenden Recht 20
Eine vollständige Bestandsaufnahme des politischen Anschauungsschutzes im geltenden Recht würde den Rahmen dieser Überlegungen sprengen. Sie soll hier daher nur insoweit erfolgen, wie es für die Grundierung der nachfolgend gezogenen Schlussfolgerungen notwendig ist. 1. Völker- und Europarecht
Die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien, zunächst mit starkem Schwerpunkt auf Diskriminierungsschutz im Arbeitsverhältnis, später auch darüber hinaus, haben der antidiskriminierungsrechtlichen Diskussion grundsätzliche Impulse gegeben.20 22 Eine wichtige völkerrechtliche Bezugnahme auf das Merkmal der politischen Anschauung findet sich in Art. 2 Abs. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR)21, der ein akzessorisches Diskriminierungsverbot aufgrund politischer Anschauung enthält, um ähnlich wie im Falle von Art. 14 EMRK die Möglichkeit gleicher 21
20 Mangold (Fn. 2), S. 470 ff.; → Grünberger/Reinelt, § 20 Rn. 6 ff. 21 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1533.
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C. Bestand und Merkmale politischen Anschauungsschutzes de lege lata
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Inanspruchnahme der Rechte aus dem Pakt zu sichern. Auf die politische Anschauung zielende besondere Gewährleistungen enthält der Pakt in Art. 19 Abs. 1, 2 (Meinungsfreiheit), Art. 21 (Versammlungsfreiheit)22 und Art. 22 (Vereinigungsfreiheit und Koalitionsbildung), Art. 25 (politische Partizipation, Wahlrecht, Zugang zu öffentlichen Ämtern). Zwischen den politischen Gewährleistungen des Pakts und jenen des Grundgesetzes sowie der EMRK lassen sich hohe sachliche Übereinstimmungen feststellen.23 Der Pakt begründet subjektive Rechte der der Jurisdiktion der Vertragsparteien Unterworfenen und verpflichtet in Art. 2 Abs. 2 die Vertragsstaaten zu einer Umsetzung in nationales Recht.24 Die Anwendung des Paktes durch deutsche Gerichte erfolgt nur zurückhaltend.25 Art. 14 EMRK enthält ein akzessorisches Diskriminierungsverbot aufgrund politi- 23 scher Anschauung, dessen praktische Bedeutung wegen seiner Akzessorietät gegenüber freiheitsrechtlichen Verbürgungen bislang ebenfalls eher gering ist. Der EGMR hat für Deutschland in zwei Fällen, in denen eine Entlassung von Personen wegen Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR zu überprüfen war, zwar die Anwendbarkeit des Art. 14 EMRK festgestellt, die Fälle aber über Art. 8 EMRK gelöst,26 weil es um die Verwendung von Akten der Stasi-Unterlagenbehörde ging. Ähnlich verfährt der Gerichtshof in der Entscheidung zum Verbot der Refah Partisi, in der er Art. 14 EMRK nicht erörtert und hinter der Prüfung von Art. 11 EMRK zurücktreten lässt.27 Generell ist Art. 14 EMRK zwar als eigenständige Garantie zu verstehen, aber bereits dem Wortlaut nach akzessorisch zu den Freiheitsrechten der Konvention. Insofern liegen Schwerpunkte der Entscheidungen des EGMR, die einen Bezug zu Art. 14 EMRK im Merkmal der politischen Anschauung haben, bei den politischen Mitwirkungs- und Äußerungsrechten, vor allem also Art. 10, 11 EMRK. Eine eigenständige Profilierung der Norm im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der politischen Anschauung fehlt daher. Art. 1 Abs. 1 des 12. Zusatzprotokolls zur EMRK, das die Bundesrepublik bislang nicht 24 ratifiziert hat, enthält ein weiteres Diskriminierungsverbot28 unter anderem auf Grundlage der politischen Anschauung. Das Ziel des Zusatzprotokolls ist eine Ergänzung des Art. 14 EMRK29 in der Weise, dass nicht nur im Zusammenhang mit in der Konvention 22 Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen betont die Notwendigkeit der diskriminie-
rungsfreien Gewährleistung der Versammlungsfreiheit, siehe etwa CCPR, General comment No. 37 (2020) on the right of peaceful assembly (article 21), UN Doc. CCPR/C/GC/37 (2020), Rn. 5.9. et passim. 23 Siehe etwa die Feststellungen des UN-Menschenrechtsausschusses in CCPR, Concluding Observations Sweden, UN Doc. CCPR/CO/74/SWE (2002), Rn. 6.5. sowie in CCPR, Concluding Observations Iceland, UN Doc. CCPR/C/79/Add. 98 (1998), Rn. 8. 24 Seibert-Fohr, Neue internationale Anforderungen an die Überführung von Menschenrechtsabkommen in nationales Recht, ZaöRV 62 (2002), S. 391 (397 f.). 25 Seibert-Fohr (Fn. 24), S. 413 ff. 26 EGMR, Entsch. v. 22.11.2001, Beschwerde-Nr. 41111/98, Knauth v. Deutschland; siehe für eine Konstellation des Rentenfolgerechts nach Wiedervereinigung EGMR, Entsch. v. 1.9.2005, BeschwerdeNr. 290/03, R. A. u. a. v. Deutschland. 27 EGMR, Urt. v. 13.2.2003, Beschwerde-Nr. 41340/98, 41342/98, 41343/98, 41344/98, Partisi u. a. v. Türkei, Rn. 137. 28 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl. 2021, § 26 Rn. 40. 29 Grabenwarter/Pabel (Fn. 28), § 1 Rn. 7. Julian Krüper
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
verbürgten Rechten selbst ein Diskriminierungsverbot besteht, was Art. 14 EMRK anordnet, sondern darüber hinaus ein allgemeines Diskriminierungsverbot.30 25 Art. 21 Abs. 1 GRCh enthält ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot aufgrund der politischen Anschauung und ist darin der verfassungsrechtlichen Garantie des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG strukturell ähnlich. Die Charta geht insoweit über Art. 10 AEUV hinaus, der kein Diskriminierungsverbot im Hinblick auf die politische Anschauung enthält, sondern als Aufgabennorm zu verstehen ist. Art. 21 Abs. 1 GRCh sichert besonders den gleichheitsrechtlichen Gehalt der Art. 10, 11 GRCh (Religions- und Meinungsfreiheit).31 Praktisch relevant geworden ist Art. 21 Abs. 1 GRCh im Hinblick auf das Merkmal der politischen Anschauung bislang nicht, Rechtsprechung des EuGH speziell zu diesem Merkmal liegt nicht vor. 2. Verfassungsrecht a) Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG 26
Der maßgebliche verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkt für den politischen Anschauungsschutz liegt in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, der in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis32 bis dato aber blass geblieben ist.33 Regelmäßig fehlt es schon an einer begrifflichen Konkretisierung,34 was unter einer politischen Anschauung zu verstehen ist.35 Offenbar gilt das Merkmal als self-evident. Der Anwendungsbereich der Norm ist durch das Bundesverfassungsgericht dahingehend beschränkt worden, dass eine Ungleichbehandlung „wegen“ politischer Anschauung eine bezweckte, nicht bloß bewirkte faktische Anknüpfung voraussetze.36 b) Art. 16a GG
27
Ergiebiger ist demgegenüber Art. 16a Abs. 1 GG. Nach seinem „lapidaren Wortlaut“37 genießen „politisch Verfolgte“ Asyl. Das Bundesverfassungsgericht stellt in der Entscheidung über die Verfolgung der pakistanischen Ahamdi fest, dass das Adjektiv politisch „nicht einen abgegrenzten Gegenstandsbereich von Politik, sondern eher eine Eigenschaft be30 Grabenwarter/Pabel (Fn. 28), § 26 Rn. 40. 31 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2021, Art. 21 Rn. 22. 32 Es gibt nur vereinzelte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, we-
niger noch konkrete zum Merkmal der politischen Anschauung in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, etwa BVerfGE 39, 334 – Extremistenbeschluss (1975); BVerfGE 63, 266 – Zulassung zur Anwaltschaft (1983). 33 BVerfGE 63, 266 (303 – Sondervotum Simon) – Zulassung zur Rechtsanwaltschaft (1983): „merkwürdiges Schattendasein“; siehe auch Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 522 („kaum praktische Bedeutung“). 34 Siehe etwa Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Mai 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 70; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 134. 35 Siehe dazu aber Baer/Markard (Fn. 33), Art. 3 Rn. 523, die seinen Anwendungsbereich ausdrücklich nicht auf staatliche Machtausübung begrenzt sehen wollen. 36 Dazu etwa Heun (Fn. 34), Art. 3 Rn. 120 f. 37 BVerfGE 76, 143 (156) – Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft (1987); kritisch gegen eine Verklärung des Wortlauts auch Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: April 2018, Art. 16a Rn. 25. Julian Krüper
C. Bestand und Merkmale politischen Anschauungsschutzes de lege lata
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zeichnen soll, die alle Sachbereiche unter bestimmten Umständen jederzeit annehmen können“38. Politisch wird eine Verfolgung nach Auffassung des Gerichts erst dann, wenn „die Eingriffe und Beeinträchtigungen eine Schwere und Intensität aufweisen, die die Menschenwürde verletzt […]: Sie müssen ein solches Gewicht haben, daß sie in den elementaren Bereich der sittlichen Person eingreifen, in dem für ein menschenwürdiges Dasein die Selbstbestimmung möglich bleiben muß, sollen nicht die metaphysischen Grundlagen menschlicher Existenz zerstört werden“39. In seiner Entscheidung zum Asylanspruch von Mitgliedern der tamilischen Bevölkerungsgruppe Sri Lankas hat das Bundesverfassungsgericht an dieser Linie festgehalten. Politische Verfolgung ist danach staatliche Verfolgung, die „dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen“40. c) Art. 33 Abs. 2 GG
Art. 33 Abs. 2 GG garantiert als grundrechtsgleiches Recht „gleichen Zugang“ zu jedem öf- 28 fentlichen Amt. Allerdings steht dieser Zugang unter dem Vorbehalt der Kriterien von Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung, die die Einstellungsbehörden für das jeweilig in Rede stehende konkret-funktionale Amt konkretisieren müssen. Grenzen dieser Konkretisierungsbefugnis liegen vor allem in den Diskriminierungsverboten des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG.41 Politische Anschauung darf daher nicht zu einem Eignungsmerkmal für den Zugang zum öffentlichen Dienst werden.42 Damit in Zusammenhang steht die Frage, welche Anforderungen an die Verfassungstreue von Personen zu stellen sind, die für ein bestimmtes Amt in Betracht gezogen werden. Angesprochen ist damit die unter den Stichworten von Extremistenbeschluss und Radikalenerlass bekannte Vereinbarung zwischen Bund und Ländern vom 18.2.1972 über die Überprüfung von Personen auf ihre Verfassungstreue, die sich um die Aufnahme in den öffentlichen Dienst bewarben.43 Jenseits dogmatischer Einzelfragen ging es in der Sache darum, wo für den neutralen und 29 säkularen Staat die Grenzen des Zugriffs auf das forum internum seiner Bediensteten liegen44 und welchen Anforderungen an den Fortbestand ihrer Verfassungstreue sie – „täglich, stündlich, immerfort“?45 – unterliegen. Vor allem die Frage, ob die Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen, aber als verfassungsfeindlich eingestuften Partei oder einer nicht nach Art. 9 Abs. 2 GG verbotenen, aber verfassungsfeindlichen Vereinigung hinreichend sein BVerfGE 76, 143 (157) – Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft (1987). BVerfGE 76, 143 (158) – Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft (1987). BVerfGE 80, 315 – Tamilen (1989). Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Art. 33 Rn. 94. Einzelheiten bei Brosius-Gersdorf (Fn. 41), Art. 33 Rn. 102. Dokumentation bei Frisch, Extremistenbeschluss, 1975; Koschnik (Hrsg.), Der Abschied vom Extremistenbeschluß, 1979; Kutscha, Verfassung und „streitbare Demokratie, 1979 mit historischer und rechtlicher Perspektive; für eine Gesamtübersicht etwa Braunthal, Politische Loyalität und öffentlicher Dienst, 1992. 44 Denninger, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, VVDStRL 37 (1979), S. 7 (10). 45 Denninger (Fn. 44), S. 33. 38 39 40 41 42 43
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
sollte, um an der Verfassungstreue zu zweifeln, war hoch umstritten. Mit der Beruhigung der gesamtpolitischen Situation und dem Abebben des Linksterrorismus ist es um diese Fragen zunächst ruhiger geworden. Allerdings ist in den vergangenen Jahren unter dem Vorzeichen wiedererstarkter rechtskonservativer und rechtsradikaler politischer Strömungen in der Bundesrepublik, namentlich in Gestalt der Alternative für Deutschland (AfD) und der Reichsbürgerbewegung,46 eine neue Diskussion um die Verfassungstreue von Angehörigen des öffentlichen Dienstes aufgeflammt.47 Auch Fälle, in denen es um die Verfassungstreue von Personen aus dem Umfeld islamistischer Vereinigungen ging, sind zu verzeichnen.48 d) Art. 21, 38 GG
Jenseits der grundrechtlichen Gewährleistungen im engeren Sinne wird ein wichtiger Bestandteil des politischen Anschauungsschutzes im Grundgesetz über Normen des Organisationsverfassungsrechts bewirkt. Hier ist vorrangig auf Art. 21, 38 GG hinzuweisen. 31 Art. 21 GG gewährleistet Freiheit und Gleichheit der Parteien.49 Die Freiheit der Parteien ist dabei zunächst Gründungs- und Organisationsfreiheit,50 vor allem aber ist sie Programmfreiheit51. Ihr ist allein die Grenze der Verfassungswidrigkeit gesetzt, Art. 21 Abs. 2 GG. Nur soweit Parteien an staatlicher Finanzierung partizipieren, ist diese Grenze enger gezogen, weil schon die bloße Verfassungsfeindlichkeit der Partei ausreichend ist, um sie von der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen, Art. 21 Abs. 3 Satz 1 GG. 32 Die grund- und einfachgesetzlich geschützte Gleichheit politischer Anschauung wirkt aus dem Bereich der Gesellschaft vor allem über Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG in den der verfassten Staatlichkeit fort. In der durch Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Gleichheit der Abgeordneten ist zugleich die Gleichheit ihrer politischen Anschauung im parlamentarischen Raum garantiert.52 Dies hat die Selbstorganisation des Bundestages immer wieder vor Herausforderungen gestellt, wenn es um die Integration (zunächst) als extrem wahrgenommener politischer Ränder ging. Konkret geht es zumeist um die Berücksichtigung bestimmter Fraktionen für repräsentative oder sicherheitspolitisch relevante Posten.53 Diese Fälle haben für die Frage des antidiskriminierungsrechtlichen Schutzes politischer 30
46 Siehe dazu eingehend die Beiträge in Schönberger/Schönberger (Hrsg.), Die Reichsbürger, 2019. 47 LG Karlsruhe, Urt. v. 13.8.2018, RDG 1/17; VG Magdeburg, Urt. v. 28.1.2020, 15 A 6/19; jüngst Köpke,
Unterwandert: Wie Rechte den Rechtsstaat okkupieren, 2021.
48 VGH Bay, Beschl. v. 25.2.2014, 3 ZB 12.143; OVG NRW, Beschl. v. 2.12.2016, 1 B 1194/16; VG Koblenz,
Beschl. v. 3.11.2016, 2 L 1159/16.KO; VG Aachen, Urt. v. 26.2.2015, 1 K 1395/14.
49 Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Dezember 2014, Art. 21 Rn. 248 ff.; Grzeszick/Rauber, in:
Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), GG, 14. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 35; Kluth, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: November 2021, Art. 21 Rn. 108, 132. 50 Klein (Fn. 49), Art. 21 Rn. 273 ff.; Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 148; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Art. 21 Rn. 59. 51 Klein (Fn. 49), Art. 21 Rn. 272, 278 f.; Streinz (Fn. 50), Art. 21 Rn. 108; Morlok (Fn. 50), Art. 21 Rn. 56; Grzeszick/Rauber (Fn. 49), Art. 21 Rn. 44 f. 52 Ingold, Das Recht der Oppositionen, 2015, S. 415 f. 53 BVerfGE 70, 324 (331) – Haushaltskontrollausschuss Geheimdienste (1986); BVerfGE 84, 304 – PDS/ Linke Liste (1991); BVerfGE 96, 264 – Fraktions- und Gruppenstatus (1997); BVerfG, Beschl. v. 4.5.2020, 2 BvE 1/20, Rn. 35; BayVerfGH, Entsch. v. 21.2.2002, 13 VIII 00; Lovens, Der Bundestag zwischen Wahl und Julian Krüper
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Anschauung keine unmittelbare rechtliche Folge, weil es um Gleichheitsansprüche im staatlichen Raum geht. Sie verweisen in einem allgemeineren Sinne aber auf die Schwierigkeiten im Umgang mit politischen Anschauungen und ihrer angemessenen institutionellen Berücksichtigung. e) Äußerungsrechtsfälle
Als organisationsverfassungsrechtliches Problem werden auch die seit einigen Jahren vi- 33 rulenten Äußerungsrechtsfälle verhandelt, in denen es um die Reichweite politischer Äußerungsrechte von staatlichen Amtsträgern wie Bürgermeistern,54 (Landes-) Ministern55 oder dem Bundespräsidenten56 geht.57 Wo sich diese Äußerungen aus Gründen politischer Anschauung gegen politische Parteien richten, stehen stets Gleichheitsfragen im Raum, die sich aus Art. 21 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG ergeben. Dogmatisch greifbar werden diese dann vor allem in der Frage, wie weit staatliche Funktionsträger zur Wahrung dieser Gleichbehandlungsansprüche Neutralität in ihren Äußerungen wahren müssen. 3. Verwaltungsrecht
Verwaltungsrechtlich spielt die Regelung politischer Anschauungen und politischen An- 34 schauungsschutzes in unterschiedlichen Konstellationen eine Rolle. Einmal geht es um die Zurückdrängung eigener politischer Anschauungen der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, zum anderen um deren Amtsausübung, durch die politische Anschauungen von Personen oder Programme von Vereinen nicht privilegiert oder diskriminiert werden dürfen, soweit sie sich in den Grenzen der Verfassung bewegen. a) Beamten- und Schulrecht
Die Regulierung politischer Anschauung im Beamtenrecht erfolgt vor allem über Neutrali- 35 tätsgebote wie § 60 Abs. 1 BBG. Danach ist den beamteten Bediensteten des Staates Unparteilichkeit und Allgemeinwohlorientierung auferlegt. Die Norm zielt auf parteipolitische Entsendung zu seinem Präsidium: die Causa Bisky, ZParl 2008, S. 18; Darsow, Über die Grenzen des Gutgemeinten – zum Wahlgeschehen eines Vizepräsidenten des Deutschen Bundestags, NVwZ 2019, S. 1013. 54 BVerwGE 159, 327 mit Anmerkung bei Stuttmann, NVwZ 2018, S. 433; VGH Kassel, Beschl. v. 24.11.2014, 8 A 1605/14; VG Köln, Beschl. v. 30.3.2017, 4 L 750/17. 55 BVerfGE 138, 102 – Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern (2014) mit Anmerkungen bei Krüper, JZ 2015, S. 414 und Tanneberger/Nemeczek, NVwZ 2015, S. 215; BVerfGE 148, 11 – Wanka (2018) mit Besprechungen bei Muckel, JA 2018, S. 394 und Sachs, JuS 2018, S. 404; BVerfG, Urt. v. 9.6.2020, 2 BvE 1/19 mit Besprechungen bei Hillgruber, JA 2020, S. 718 und Sachs, JuS 2020, S. 803; ThürVerfGH, Urt. v. 8.6.2016, 25/15; SaarlVerfGH, Urt. v. 8.7.2014, Lv 5/14; RhPf VerfGH, Urt. v. 21.5.2014, VGH A 39/14. 56 BVerfGE 136, 323 – Äußerungsbefugnisse des Bundespräsidenten (2014), mit Besprechungen unter anderem bei Hillgruber, JA 2014, S. 796 und Sachs, JuS 2014, S. 956. 57 Kuch, Politische Neutralität in der Parteiendemokratie, AöR 142 (2017), S. 491; Payandeh, Die Neutralitätspflicht staatlicher Amtsträger im öffentlichen Meinungskampf, Der Staat 55 (2016), S. 519; zu Hohenlohe, „Lichter aus als Zeichen gegen Intoleranz“ – Zu den Grenzen der politischen Äußerungsbefugnis von (Ober-)Bürgermeistern, VerwArch 2016, S. 62; Gärditz, Unbedingte Neutralität? Zur Zulässigkeit amtlicher Aufrufe zu Gegendemonstrationen durch kommunale Wahlbeamte, NWVBl. 2015, S. 165. Julian Krüper
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Neutralität und lehnt sich historisch an das Vorbild des Art. 130 Abs. 1 WRV an.58 Nach § 60 Abs. 1 Satz 2 BBG ist die Amtsführung in einem weiten Sinne der Unparteilichkeit verpflichtet, was auch Neutralität gegenüber den politischen Anschauungen derjenigen bedeutet, die durch das hoheitliche Handeln betroffen sind.59 36 Im Schulrecht werden Neutralitätserwartungen gesteigert artikuliert, vgl. etwa § 2 Abs. 7, 8 SchulG NRW. Das Schulpersonal ist der Unparteilichkeit verpflichtet, § 2 Abs. 8 S. 2 SchulG NRW, und muss Neutralität gegenüber religiösen, weltanschaulichen und politischen Bekenntnissen wahren, § 2 Abs. 8 Satz 3 SchulG NRW. Diese Neutralitätsverpflichtungen sind in jüngerer Zeit wieder vermehrt Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit, weil die AfD Meldeportale online gestellt hat, in denen tatsächliche oder vermeintliche Neutralitätspflichtverletzungen von Lehrern gemeldet werden konnten.60 b) Öffentliche Leistungen 37
Zu einem Klassikerproblem ist der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen geworden, der jenseits der Grenze des Art. 21 Abs. 2 GG, diskriminierungsfrei auch solchen Parteien und Vereinigungen zu gewähren ist, die als verfassungsfeindlich eingestuft, aber nicht nach Art. 21 Abs. 2 oder Art. 9 Abs. 2 GG verboten sind.61 Auch die Gewährung anderer staatlicher Leistungen wie etwa der Fraktionsfinanzierung darf auf diese Weise nicht diskriminierend erfolgen.62 c) Vereinsverbote
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Ein wichtiger Anwendungsfall staatlicher Intervention gegen politische Anschauung und Betätigung liegt im Umgang mit politischen Vereinigungen, die nicht Parteien sind.63 Sie sind nach Art. 9 Abs. 2 GG verboten, soweit ihre Zwecke oder ihre Tätigkeit Strafgesetzen zuwiderlaufen oder sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten. Das Verbotsverfahren ist beim Bundesministerium des Inneren bzw. den zuständigen Landesministerien angesiedelt, § 3 Abs. 2 Nr. 1, 2 VereinsG. Rechtliche Grundlage ist dabei das Vereinsgesetz64, §§ 4 ff., das die materiellen Verbotsvoraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 GG nicht konkretisiert, sondern schlicht wieder58 Werres, in: Brinktrine/Schollendorf (Hrsg.), BeckOK Beamtenrecht Bund, Stand: August 2021, § 60
BBG Rn. 2; Grigoleit, in: Battis (Hrsg.), Bundesbeamtengesetz, 5. Aufl. 2017, § 60 Rn. 7. Werres (Fn. 58), § 60 BBG Rn. 1, 6 f.; Grigoleit (Fn. 58), § 60 Rn. 4, 10. VG Schwerin, Urt. v. 26.11.2020, 1 A 1598/19 SN. VGH Kassel, Beschl. v. 23.2.2018, 8 B 23/18; OVG Saarlouis, Beschl. v. 10.7.2017, 2 B 554/17. VGH Kassel, Urt. v. 5.4.2017, 8 C 459/17.N. Zur verfassungs- wie verwaltungsrechtlichen Rechtsstellung von Vereinen siehe die tiefgehende Ausarbeitung bei Unger, Der Verein im Verfassungs- und Verwaltungsrecht, in: Baumann/Sikora (Hrsg.), Formular- und Handbuch Vereinsrecht, 2. Aufl. 2017, Kap. 5 (§§ 19, 20); zu Verbotsfragen Krüper, Verfassungsschutz in der wehrhaften Parteiendemokratie, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, III., § 1 Rn. 122 ff. 64 Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts v. 5.8.1964, BGBl. 1964 I, S. 593, zuletzt geändert durch BGBl. 2020 I, S. 2600. 59 60 61 62 63
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holt, § 3 Abs. 1 VereinsG. Sondervorschriften bestehen für sogenannte Ausländervereine, ausländische Vereine sowie die Koalitionen, §§ 14–16 VereinsG. Unter dem Grundgesetz hat sich eine rege Praxis von Vereinsverboten ausgebildet,65 nicht zuletzt, weil vor Erlass des Vereinsgesetzes 1964 die Rechtsauffassung vorherrschte, Art. 9 Abs. 2 GG gebe den Verbotsbehörden kein Ermessen. Nach 1964 nahmen Vereinsverbote daher zunächst ab, haben seit 1990 aber wieder deutlich zugenommen: rund 40 Vereinigungen sind zwischen 1990 und 2019 verboten worden.66 d) Politische Einflussnahme auf den Kulturbetrieb
Im Bereich informaler politischer Einflussnahme liegen die in jüngerer Zeit verabschiedeten parlamentarischen Entschließungen, nach denen öffentliche Einrichtungen nicht für Veranstaltungen des BDS und seiner Unterstützer geöffnet werden sollen.67 Die Abkürzung BDS steht für die israelkritische Bewegung „Boycott – Divestment – Sanctions“, die nach im Einzelnen umstrittener Auffassung antisemitisch ist bzw. antisemitische Teile hat. Im Rahmen des Kulturfestivals Ruhrtriennale ist es zwischen 2018 und 2020 unter Berufung auf die entsprechende Resolution des Landtags von Nordrhein-Westfalen zu Einflussnahmen auf künstlerische Entscheidungen der zuständigen Intendantin gekommen, die Einzelpersonen und Ensembles für das Festival disponiert hatte, denen Nähe zum BDS nachgesagt wurde.68 Vor allem die Einladung des kamerunischen Historikers Achille Mbembe hat bundesweit für erhitzte Debatten gesorgt.69 Die einschlägigen parlamentarischen Entschließungen haben auf Rechtsförmlichkeit (wohl strategisch) verzichtet, weil ihre Inhalte, offen in Gesetzesform gegossen, flagrante Grundrechtsverstöße begründeten, vor allem im Hinblick auf die Grundrechte der Meinungs- und Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 5 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG und, was die Entschließung des Bundestages betrifft, kompetenzwidrig gewesen wäre. Politisch motivierte Einflussnahmen auf den Kulturbetrieb sind in den letzten Jahren auch von Seiten der AfD zu verzeichnen.70 Diese nimmt Anstoß an politisch engagierter Kunst, vor allem solcher, die sich gegen ‚rechts‘, konkreter auch gegen die AfD selbst und insgesamt einen ‚konservativen Rollback‘ in Staat und Gesellschaft wendet.71 Dass der öf65 Dabei ist die Datenlage vor Erlass des Vereinsgesetzes umstritten. Bereinigte Zählungen schwanken
zwischen rund 60 und über 100 Verboten; bis 2010 sind sodann gut 60 Vereinigungen verboten worden, Einzelheiten m. w. N. bei Krüper (Fn. 63), § 1 Rn. 153 ff.; Analyse der Wirkungen bei Flümann, Streitbare Demokratie in Deutschland und den Vereinigten Staaten, 2015. 66 Eine Übersicht findet sich in Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2019, 2020, S. 342 ff. 67 BT-Drs. 19/10191; NRW LT-Drs. 17/3577; TH LT-Drs. 6/5886; BE AbgH-Drs. 18/1754; HH HB-Drs. 21/11500. 68 Kaube, Wer hat Achille Mbembe gelyncht?, FAS v. 10.5.2020, Nr. 19, S. 37; Bahners, Antisemitismus oder Freiheit der Kunst?, FAZ v. 20.8.2018, Nr. 192, S. 9; Balzer, Der Boykott vom Boykott vom Boykott, Zeit Online v. 22.6.2018. 69 Statt vieler dazu Assmann, Polarisieren oder solidarisieren?, Merkur 2021, S. 5 ff. 70 Siehe etwa die Dokumentation bei VDK (Hrsg.), Kulturkampf von rechts, 2. Aufl. 2019; jüngst Saehrendt (Hrsg.), Kunst im Kreuzfeuer, 2020. 71 Zur Debatte jüngst Hayner, Warum Theater?, 2020; Malzacher, Gesellschaftsspiele, 2020; Einordnung Julian Krüper
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fentlich geförderte Kulturbetrieb nicht immer konstruktiv dazu beiträgt, die zumeist agitatorisch vorgebrachten Vorwürfe der Parteilichkeit sachlich zu entkräften, sondern sich durchaus radikal parteiisch positioniert, ist freilich auch Teil der Wahrheit. Die hier zutage tretenden Konflikte zwischen politischer Neutralität öffentlicher Kunsteinrichtungen und Kunstfreiheit sind einstweilen nicht gelöst. 4. Privatrecht a) Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) 43 Zum Kriterienkatalog des § 1 AGG zählt die politische Anschauung nicht. Allerdings nennt
die Vorschrift das Merkmal der Weltanschauung. Ob mit seiner Aufnahme ein Diskriminierungsschutz politischer (Welt-)Anschauungen verbunden ist, ist unklar. In Anlehnung an die eingeführte Differenzierung von Religion und Weltanschauung in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG werden religiöses und weltanschauliches Bekenntnis einerseits und politische Anschauung andererseits mit der Folge unterschieden, dass das Merkmal der Weltanschauung politische Anschauungen nicht umfassen soll.72 Zwar haben beide einen Immanenzbezug und auch politische Auffassungen können gesamthaft-weltanschauliche Deutungsansprüche erheben, gleichwohl sollen sie voneinander zu trennen sein. Die Überzeugungskraft dieser Auffassung ist begrenzt, setzt sie doch voraus, den spezifischen Unterschied zwischen nicht-politischer und politischer Anschauung durchweg bestimmen zu können. Dass der Normtext von Art. 21 GRCh zwischen religiösen, weltanschaulichen und politischen Auffassungen differenziert und diese Unterscheidung auch in anderen Rechtsordnungen anzutreffen ist,73 deutet allein auf die Verbreitung der Unterscheidung, nicht aber auf Kriterien ihrer Durchführung hin. Weltanschauung als „sozial geteiltes Sinnsystem“ mag einen konzeptionellen Abgrenzungspunkt in ihrer a- oder antireligiösen Stoßrichtung haben,74 eine inhaltliche Beschränkung auf nicht-politische Weltanschauungen erfährt sie dadurch jedoch nicht. Der Ansatz, Religion und Weltanschauung im Hinblick auf ihren Totalitätsanspruch von anderen Auffassungen abzugrenzen,75 führt auch nicht zu einem verlässlichen Ausschluss politischer Auffassungen aus dem Weltanschauungsbegriff. So erhebt etwa die Deutung des Weltgeschehens als Klassenkampf, der in eine Diktatur des Proletariats münde, nicht nur in ihren theoretischen Grundlegungen, sondern gerade auch in ihren historischen Verwirklichungsformen Totalitätsansprüche, die historisch vor der Einflussnahme auf private und privateste Lebensumstände nicht zurückgeschreckt sind. Freilich ließe sich eine Grenze dort ziehen,
bei Strauß, Kommt Kunst vor Moral?, FAZ v. 31.7.2020, Nr. 176, S. 9. 72 Siehe etwa BVerwG, NJW 2005, S. 85 (88), wo die Abgrenzbarkeit von Weltanschauung und religiöser Anschauung nur dekretiert, nicht aber begründet wird. 73 Baumgärtner, in: Gsell u. a. (Hrsg.), BeckOGK, Stand: Dezember 2021, § 1 AGG Rn. 127; Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2022, § 1 AGG Rn. 37 weist im Übrigen darauf hin, dass die rechtsvergleichende Analyse für die Frage nach der Einbeziehung einfach politischer Anschauungen durchaus unterschiedliche Ergebnisse erbringe und das Argument insofern an Überzeugungskraft verliere. 74 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 73. 75 Germann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: November 2021, Art. 4 Rn. 14; Thüsing (Fn. 73), § 1 AGG Rn. 36. Julian Krüper
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wo eine Weltanschauung, die der Sache nach politisch ist, einen solchen Totalitätsanspruch erhebt. Danach wären manche, aber nicht alle politischen Anschauungen über den Begriff der Weltanschauung in § 1 AGG geschützt. Dies würde indes nicht nur erhebliche Abgrenzungsprobleme, sondern auch die Frage aufwerfen, warum manche politische Auffassungen antidiskriminierungsrechtlich privilegiert sein sollten, andere hingegen nicht. b) Arbeitsrecht
§ 74 Abs. 1 Satz 3 BetrVG untersagt den Betriebspartnern jede Form von parteipolitischer 44 Betätigung im Betrieb.76 Die Vorschrift zielt auf die Sicherung des Betriebsfriedens innerhalb eines Unternehmens.77 Sie untersagt das Eintreten für eine Partei, die Werbung für ein Parteiprogramm oder die Aufforderung zur Wahl einer bestimmten politischen Partei.78 Sie grenzt, wie auch an § 74 Abs. 2 Satz 4 BetrVG deutlich wird, den als politisch verstandenen Bereich der Koalitionsaktivitäten im Betrieb vom politischen Bereich außerhalb des Betriebes ab. Nur soweit die Bereiche nach § 74 Abs. 2 Satz 4 BetrVG ineinander übergehen, lässt die Vorschrift Ausnahmen zu. Die Vorschrift schließt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts allgemeinpolitische Stellungnahmen nicht aus, sofern sie ohne Bezug auf eine bestimmte Partei auskommen.79 Innerbetrieblichen Diskriminierungen soll § 75 BetrVG vorbeugen, der – im Wortlaut 45 insofern weitergehend als § 74 Abs. 2 Satz 3 BetrVG – ausdrücklich eine Ungleichbehandlung wegen politischer Anschauung innerhalb des Betriebes verbietet. Auch § 118 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG verwendet im Rahmen der betriebsverfassungsrechtlichen Tendenzschutzvorschriften den weiteren Begriff des Politischen. c) Drittwirkung von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG
Die wohl herrschende Meinung geht davon aus, dass eine Drittwirkung der Diskrimi- 46 nierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG im Privatrechtsverhältnis nicht besteht.80 In der Tat würde eine konsequente gleichheitsrechtliche Bindung Privater deren Freiheitssphäre in schwer vertretbarer Weise einschränken. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht über die Figur der mittelbaren Drittwirkung Einwirkungen des Art. 3 Abs. 1 GG auf das Privatrechtsverhältnis für bestimmte Sonderkonstellationen angenommen, prominent vor allem in der Entscheidung zum Stadionverbot.81 Ob Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Merkmal der politischen Anschauung auf das Privat- 47 rechtsverhältnis einwirkt, war Gegenstand der Entscheidung über die VerfassungsEingehend dazu Husemann, Das Verbot parteipolitischer Betätigung, 2013. Werner, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK Arbeitsrecht, Stand: Dezember 2021, § 74 BetrVG Rn. 26. Werner (Fn. 77), § 74 BetrVG Rn. 27. BAG, Urt. v. 17.3.2010, 5 AZR 296/09. Heun (Fn. 34), Art. 3 Rn. 139; Langenfeld (Fn. 34), Art. 3 Abs. 3 Rn. 79; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 133; Jestaedt, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL 64 (2005), S. 298 (345 Fn. 187); Britz, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL 64 (2005), S. 355 (361 f.). 81 BVerfGE 148, 267 – Stadionverbot (2018). 76 77 78 79 80
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beschwerde des ehemaligen NPD-Bundesvorsitzenden Udo Voigt, dem der Aufenthalt in einem Hotel aufgrund seiner politischen Anschauungen versagt wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage der Anwendbarkeit des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Merkmal der politischen Anschauung im Privatrechtsverhältnis in der Entscheidung ausdrücklich unbeantwortet gelassen.82 Zwar deutet es an, dass sich aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG gegebenenfalls strengere Bindungen als aus Art. 3 Abs. 1 GG ergeben könnten, verlangt aber auch ungeachtet dessen eine Abwägung mit entgegenstehenden Freiheitsrechten.83 5. Strafrecht 48 Politische Anschauung rückt im Strafrecht mittelbar in den Blick, wenn ihre Äußerung
oder das Handeln auf ihrer Grundlage zu einer pönalisierten Verletzung von Rechtsgütern führt, etwa in Gestalt von Beleidigungs-, Sachbeschädigungs-, Körperverletzungs- oder Tötungsdelikten sowie bei Haus- oder Landfriedensbrüchen. Die politische Motivation kann solche Taten nicht rechtfertigen und kann, sofern sie etwa als rassistisches Motiv einer Tötung in Erscheinung tritt, diese als niedrigen Beweggrund zum Mord qualifizieren, §§ 211, 212 StGB oder im Rahmen der Strafzumessung nach § 46 Abs. 2 StGB relevant werden.84 Auch weite Teile des politischen Strafrechts knüpfen nicht unmittelbar an eine politische Anschauung an, etwa in Gestalt subjektiver Tatbestandsmerkmale, sondern lassen bestimmte äußere Handlungen ungeachtet der jeweiligen Motivation ausreichen. Eine Ausnahme bildet insoweit etwa das Vergehen der verfassungsfeindlichen Verunglimpfung von Verfassungsorganen gem. § 90b StGB, das einen Zusammenhang zwischen der Tathandlung der Verunglimpfung der Verfassungsorgane und der verfassungswidrigen Motive verlangt: „sich dadurch absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt“. Soweit es um Äußerungsdelikte generell geht, wirkt sich Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht nur auf die Anwendung, sondern bereits auf die Setzung von Strafnormen beschränkend aus. Freilich kann eine außerhalb oder während des Verfahrens erkennbar artikulierte politische Anschauung als Indiz für den Tatvorsatz im Bereich der politischen Delikte des StGB herangezogen85 und gegebenenfalls auch bei der Strafzumessung berücksichtigt werden.86 Die prominenteste Ausnahme von der Zurückhaltung des Strafrechts im Hinblick auf 49 politische Anschauungen ist § 130 Abs. 4 StGB, der Handlungen unter Strafe stellt, durch die öffentlich oder in einer Versammlung der öffentliche Friede in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch gestört wird, dass die nationalsozialistische Gewaltund Willkürherrschaft gebilligt, verherrlicht oder gerechtfertigt wird (Volksverhetzung). In einem engen systematischen und sachlichen Zusammenhang damit steht § 130 Abs. 3 StGB, mit dem die Leugnung des Holocaust unter Strafe gestellt wird. Zwar ist die LeugBVerfG, Beschl. v. 27.8.2019, 1 BvR 879/12 – Udo Voigt; → Mangold/Payandeh § 1 Rn. 54. BVerfG, Beschl. v. 27.8.2019, 1 BvR 879/12 – Udo Voigt, Rn. 11. BGHSt 18, 37 (39); BGHSt 22, 375 (376); Schneider, in: MüKo StGB, Bd. 4, 3. Aufl. 2017, § 211 Rn. 91 ff. Beispielhaft BGH, Urt. v. 3.4.2008, 3 StR 394/07, Rn. 35. Kinzig in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 46 Rn. 15a ff.; Maier, in: MüKo StGB, Bd. 2, 4. Aufl. 2020, § 46 Rn. 210 f.
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nung des Holocausts selbst noch keine politische Anschauung, geht aber in der Regel sehr eng mit einer konkreten politischen Anschauung einher. Dass § 130 Abs. 4 StGB mit Art. 5 Abs. 2 GG der Sache nach eigentlich nicht vereinbar 50 ist, liegt auf der Hand. Das Bundesverfassungsgericht hat die Norm allerdings trotz ihres Widerspruchs zu Art. 5 Abs. 2 GG im Wege einer Ausnahmerechtsprechung für verfassungsgemäß gehalten.87 Im Hinblick auf Schutz und Stellenwert politischer Anschauungen im Strafrecht ist die Entscheidung aber nach dem erklärten Willen des Gerichts nicht zu verallgemeinern.88 II. Zwischenfazit
In der Gesamtschau lassen sich einige Charakteristika des politischen Anschauungsschutzes im geltenden Recht ausmachen. Mit Blick auf die Gewährleistungen der EMRK, der GRCh und des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Merkmal der politischen Anschauung lässt sich ein praktischer Vorrang des freiheitsrechtlichen vor dem gleichheitsrechtlichen Anschauungsschutz feststellen. Es ist Kennzeichen der von vornherein als politisch angelegten Kommunikationsfreiheiten, Freiheit als gleiche Freiheit zu schützen.89 Meinungsäußerungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit entfalten ihre Bedeutung vor allem in der egalitären Distanzierung der Freiheitssphären verschiedener Berechtigter. Ähnliches lässt sich für die nicht-politischen Kommunikationsfreiheiten feststellen, vorrangig für die Religions- und Weltanschauungs-, aber auch für Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. In jüngeren antidiskriminierungsrechtlichen Kodifikationen ist das Merkmal der politischen Anschauung nicht als Kategorie berücksichtigt, vgl. § 2 Antidiskriminierungsgesetz Berlin (LADG Bln). Die Neigung, politische Anschauung im Privatrecht zu einer maßgeblichen antidiskriminierungsrechtlichen Kategorie aufzuwerten, ist gleichfalls gering. Der Bundesgesetzgeber hat vor Jahren bei Erlass des AGG90 auf eine Kategorie politischer Anschauung verzichtet. Das Arbeitsrecht gewinnt Prägnanz (nur) dort, wo es politische Anschauung als parteipolitische Anschauung sanktioniert. Die mittelbare Drittwirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Merkmal der politischen Anschauung wird ganz überwiegend und jedenfalls tendenziell auch vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Darüber hinaus zeigt sich, dass politischer Anschauungsschutz effektiv durch Garantien streng formaler Gleichheit gewährleistet wird. Wahlrecht, Parteienrecht und öffentliches ‚Leistungsrecht‘ mit politischem Bezug gewährleisten die Gleichheit politischer Anschauungen gerade dadurch, nicht auf die konkrete politische Position zu schauen. Die 87 BVerfGE 124, 300 (321 ff.) – Wunsiedel (2009). 88 BVerfGE 124, 300 (330 f. Rn. 67) – Wunsiedel (2009); siehe aber in diese Richtung Battis/Grigoleit,
Neue Herausforderungen für das Versammlungsrecht?, NVwZ 2001, S. 121 (123 ff.); OVG Münster, Beschl. v. 23.3.2001, 5 B 395/01. 89 Michael/Morlok, Grundrechte, 7. Aufl. 2020, Rn. 1, 3. 90 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. Julian Krüper
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hohe Formalität dieses Gleichheitsverständnisses kommt dabei dadurch zum Ausdruck, dass es jenseits der Unterscheidung von verfassungsgemäßer und verfassungswidriger politischer Auffassung keinerlei rechtliche Maßstäbe gibt, die es erlaubten, mehr oder weniger erwünschte, mehr oder weniger privilegierte oder mehr oder weniger diskriminierte politische Auffassungen zu differenzieren. 55 Schließlich wird deutlich, dass politischer Anschauungsschutz zu einem Gutteil institutioneller Anschauungsschutz ist, der sich in den freiheits- und gleichheitsrechtlichen Garantien für politische Parteien, aber auch in den Anforderungen des Art. 9 Abs. 2 GG und des Vereinsgesetzes zeigt. Das ist kein Zufall, weil politische Anschauungen einen Öffentlichkeits- und Gemeinwohlbezug, anders formuliert: einen Kollektivbezug haben. Ihre Formulierung, ihre Artikulation und ihre Durchsetzung profitiert nicht nur durch institutionelle Rahmung, diese ist – schaut man etwa auf das Listenprivileg politischer Parteien, § 27 Abs. 1 Satz 1 BWahlG – zum Teil Voraussetzung für ihre Durchsetzung.
D. Im Hintergrund: Aporien einer Kategorie politischer Anschauung 56
Es hat sich gezeigt, dass individuelle politische Anschauung in vielfältiger Weise Anknüpfungspunkt rechtlicher Normen ist, die jedenfalls zum Teil dem Antidiskriminierungsrecht zuzurechnen sind. Zugleich hat sich gezeigt, dass ein individueller politischer Anschauungsschutz über diese Normen kaum effektiv bewirkt wird, weil er in der Praxis durch grundrechtliche Freiheitsgewährleistungen oder durch den besonderen Schutz institutionalisierter politischer Auffassungen bewirkt wird. Beides steht quer zum Ansatz des Antidiskriminierungsrechts, das gleichermaßen individualistisch wie egalitär orientiert ist. Unter dem Blickwinkel seiner gegenständlich-dogmatischen Fortentwicklung als Rechtsgebiet ergibt sich daraus die Frage, ob beide Befunde Ausdruck mehr oder weniger kontingenter Pfadabhängigkeiten sind oder ob sich das Merkmal der politischen Anschauung einer ‚Kategorisierung‘ im Sinne des Antidiskriminierungsrechts in grundlegenderer Weise verschließt. Dem möchte ich im Folgenden nachgehen. Die Überlegungen sind dabei am ehesten als Beiträge zu einer Meta-Dogmatik des Antidiskriminierungsrechts zu verstehen, die die Ziele und die Praxis des Antidiskriminierungsrechts nicht aus dem Blick verliert, zugleich aber auf eine theoretische Reflexion des Kategorienbegriffs zielt. Die Aussagen sind insofern analytische über die lex lata, wie sie sich in der Praxis des Antidiskriminierungsrechts zeigt, und normative Aussagen über die lex ferenda, insofern sie Zweifel an der grundsätzlichen Möglichkeit eines antidiskriminierungsrechtlichen Schutzes politischer Anschauung zu formulieren versuchen. Dazu müssen alle drei Dimensionen des Kategorienbegriffs in den Blick genommen werden (oben unter B. III.). Das Kategorienproblem politischer Anschauung ist also zu entfalten als ein Tatbestands- (I.), ein Verpflichteten- (II.) und ein Rechtsfolgenproblem (III.).
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D. Im Hintergrund: Aporien einer Kategorie politischer Anschauung
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I. Das Kategorienproblem als Tatbestandsproblem
Die Tatbestandsdimension des Kategorienbegriffs ist hier in zwei Richtungen zu unter- 57 suchen, zum einen im Hinblick auf das materielle Substrat einer Kategorie politischer Anschauung (1.), zum anderen im Hinblick auf die innere dogmatische Struktur einer solchen Kategorie (2.), wie sie hier unter B. II. entwickelt wurde. 1. Das Politische einer politischen Auffassung
Der bestehende oder noch zu begründende antidiskriminierungsrechtliche Schutz po- 58 litischer Anschauung muss sich einen Begriff vom Politischen machen und diesen etwa abgrenzen von religiösen, wissenschaftlichen oder anderweitig nicht-politischen Auffassungen. Es geht dabei um den Versuch, einen Begriff des Politischen zu entfalten, der dogmatische Kraft im Kontext antidiskriminierungsrechtlicher Normen beanspruchen kann. Dabei bietet es sich an, zwischen Politischem als einem Phänomen des Öffentlichen und des Privaten zu unterscheiden. a) Politisches als Öffentliches
Am inklusivsten ist der politikwissenschaftliche Begriff der Politik, der zwischen drei Bereichen unterscheidet: Polity als institutioneller Bezugsrahmen, Politics als die politischen Aushandlungs- und Entscheidungsfindungsprozesse und Policy als Begriff für die verhandelten Inhalte.91 Gegenüber diesem zugleich analytischen wie pragmatischen Verständnis von Politik finden sich in der politischen Theorie eine Reihe weiterer, meist stärker abstrahierter Ansätze, die in der einen oder anderen Weise Elemente des politologischen Politikbegriffs stärker ausdeuten. Gegenständlichen Annäherungen über den Gemeinwohlbezug (der Policy)92 stehen modale Deutungen (von Politics) und funktionale Beschreibungen (der Polity)93 gegenüber. Prägend für alle Ansätze ist dabei der Öffentlichkeitsbezug des Politischen als Modus der res publica. Als Anknüpfungspunkte für die Bestimmung, was eine politische Anschauung sein kann, taugen diese Ansätze nur begrenzt. Naheliegend wäre es, eine Anschauung über ihren Inhalt, also ihren Policy-Bezug zu definieren, was indes zahllose Abgrenzungsfragen zwischen Öffentlichkeits- und Privatheitsbezug aufwerfen würde. Politisch könnte eine Auffassung aber auch dann sein, wenn sie in Bezug auf Organe der Polity getätigt wird oder im Rahmen von Politics selbst, wodurch das Verständnis politischer Anschauung sehr eng geführt würde. Versucht man demgegenüber, den Begriff des Politischen eher pragmatisch zu konturieren, lohnt ein Blick auf den Umgang staatlicher Stellen mit ihm, die immer dort, wo er mit91 Schulze, in: Nohlen/Schulze (Hrsg.), Lexikon der Politikwissenschaft, Bd. 2, 4. Aufl. 2010, S. 746 f. 92 Seubert, Gemeinwohl, in: Köhler/Kerner (Hrsg.), Politische Theorie, 2004, S. 101 ff.; v. Alemann/Hein-
ze/Wehrhöfer (Hrsg.), Bürgergesellschaft und Gemeinwohl, 1999; Münkler/Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, 2002; dies. (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, 2002. 93 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2002. Julian Krüper
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telbar oder unmittelbar zur Grundlage ihres Handelns wird, unter dem Zwang stehen, ihn zu konkretisieren. Ein solcher Zwang besteht insbesondere dort, wo politisches Handeln von Bürgern Anknüpfungspunkt staatlicher Eingriffe wird, etwa im Umgang von Sicherheitsbehörden mit politischem Extremismus und politischer Kriminalität. Diese Praxis operiert mit einem zweigeteilten Begriff des Politischen: Im Bereich strafrechtlich relevanten Handelns stellt er einerseits auf institutionelle Aspekte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ab, etwa auf die Funktionsfähigkeit der Verfassungsorgane und den Schutz der in ihnen handelnden Personen. Andererseits wird auf motivationale Aspekte des Politischen abgestellt, wenn auch solche Straftaten als politisch angesehen werden, die sich gegen eine Person wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status richten.94 63 Unterhalb der Schwelle strafrechtlich relevanten Handelns verbleibt die Vorstellung des Politischen vage, wenn etwa in der Arbeit der Verfassungsschutzbehörden auf hochgeneralisierte Konzepte und geistige Ordnungsmodelle wie Nationalismus, Rassismus, Sozialismus oder Kommunismus Bezug genommen wird, deren jeweiliger Zuschnitt als Rechtsbegriff ungewiss ist. Dabei erfassen diese straf- und verfassungsschutzrechtlichen Annäherungen an das Politische nur seine extremen Ausdrucksformen, die jenseits der Grenze des Verfassungs- bzw. des Strafrechtsgemäßen liegen. Eine Bestimmung des politischen Normalfalls ist hierüber also nicht zu erlangen. b) Politisches als Privates 64
Verschiedene soziale Emanzipationsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben sich ausdrücklich oder der Sache nach gegen eine Engführung des Politikbegriffs auf Phänomene des Öffentlichen allein gewehrt. Für die Frauenbewegung hat das die Literaturwissenschaftlerin Kate Millett in ihrem epochemachenden Buch Sexual Politics formuliert: „Can the relationship between the sexes be viewed in a political light at all?“ und setzt dann fort: „The answer depends on how one defines politics“95. Politische Theorie muss danach als eine allgemeine Theorie der Herrschaftsbeziehungen verstanden und entwickelt werden, die sich für die Verarbeitung von Herrschaftskategorien wie Rasse, Kaste, Klasse oder Geschlecht öffnet.96 In diesem Sinne werden in der Folge unter dem Schlagwort der „Politik der ersten Person“97 aus einer subjektivistischen Perspektive Machtgefälle im Sinne Milletts verhandelt, die jenseits des üblicherweise als politisch bezeichneten Raumes die Beziehungen von Menschen hierarchisch strukturieren. Politisch ist in diesem Sinne dann jede Anschauung, die sich auf Strukturen der Machtverteilung zwischen den Angehörigen 94 Zur Definition politischer Kriminalität siehe die Einordnung des Bundesministeriums des Inneren
unter www.bmi.bund.de/SharedDocs/faqs/DE/themen/sicherheit/pmk/pmk.html.
95 Millett, Sexual Politics, 1969 (2000), S. 23. 96 Millet (Fn. 95), S. 24. 97 Haunss, Identität in Bewegung, 2004, S. 115 ff. mit einem Überblick über das Konzept der „Politik der
ersten Person“.
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D. Im Hintergrund: Aporien einer Kategorie politischer Anschauung
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bestimmter sozialer Gruppen bezieht. Darin liegt eine Generalisierung der analytischen Perspektive, die etwa darin zum Ausdruck kommt, dass Teile der sogenannten „zweiten Frauenbewegung“ der Auffassung waren, Herrschaftsbeziehungen zwischen Männern und Frauen könnten nicht individuell, sondern nur durch eine gesellschaftliche Bewegung verändert werden.98 In diesem Sinne ist dann auch das Private politisch und im privaten bzw. im gesellschaftlichen Raum vorfindliche Ungleichheiten werden als politisch und als Problem des politischen Systems verstanden. Beispiele sind der Gender Gap im Bereich der Bezahlung, der Übernahme von Führungspositionen, der Art der Beschäftigung oder der Arbeitszeit. Die darin liegende Aufhebung des Gegensatzes von öffentlicher politischer und nicht-öffentlicher privater Sphäre entzieht einer eindeutigen Bestimmung des Politischen als einem Phänomen des Öffentlichen die Grundlage. c) Zwischenfazit
Auch diese sehr kursorischen Überlegungen zeigen bereits, dass eine juristische Definition 65 dessen, was eine Auffassung zu einer politischen macht, kaum gelingen kann. Dieses Ergebnis wirkt kontraintuitiv, weil in der Alltagsbeobachtung sozialer Kommunikation politische Auffassungen mit einigermaßen hoher Sicherheit identifizierbar sind. Sie beziehen sich zumeist auf – Teile des politischen Systems, etwa Parteien oder Personen, – Prozesse im politischen System, z. B. auf Wahlen, – Gegenstände, die im politischen System verhandelt werden, etwa außenpolitische Positionen oder Gesetzgebungsvorhaben, – anerkannte politische Sinnsysteme, also etwa auf Sozialismus, Kommunismus, Liberalismus, Multilateralismus, Nationalismus usf. Entgegen einem ersten Eindruck lässt sich eine Aussage nach Maßgabe dieser Kriterien al- 66 lerdings keineswegs sicher als politisch qualifizieren. Denn die Variationsbreite politischer Auffassungen ist auch nach diesen Kriterien noch sehr, möglicherweise sogar zu groß, weil etwa die Gegenstände, die innerhalb des politischen Systems verhandelt werden, sachlich unbegrenzt sind und die Inbezugnahme anerkannter politischer Sinnsysteme auch auf höchst vielfältige Weise erfolgen kann. Soweit außerdem der begrenzend wirkende Öffentlichkeitsbezug dieser Kriterien gelöst wird, indem auch private Strukturen und Verhältnisse als politische gedeutet werden, wird die Qualifikation einer Auffassung als politisch noch schwieriger. Die Möglichkeit infiniter Politisierung aller denkbaren Gegenstände und damit individueller Auffassungen macht eine juristisch handhabbare Bestimmung des Begriffs der politischen Anschauung letztlich unmöglich. Wo alles und jedes politisch ist, kann ein Schutz vor struktureller Diskriminierung politischer Anschauung nicht mehr sinnvoll greifen, weil er die politische Auseinandersetzung lahmlegen würde.
98 Siehe etwa explizit Kollektiv Frankfurter Frauen (Hrsg.), Frauenjahrbuch, 1975, S. 10 f.: „Wir können
die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen nicht individuell lösen“. Julian Krüper
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
2. Strukturprobleme einer Tatbestandskategorie ‚politische Anschauung‘ 67 Die Kategorie politischer Anschauung als Tatbestandselement antidiskriminierungsrecht-
licher Normen krankt aber nicht nur an der materiellen Entgrenzung des Politischen, sondern auch an strukturellen Mängeln, die sich zeigen, wenn man die hier unter B. II. entworfene viergliedrige Struktur antidiskriminierungsrechtlicher Kategorien auf das Merkmal der politischen Anschauung bezieht.
a) Schwache Evidenz 68 Schon die Evidenz des Merkmals der politischen Anschauung ist nämlich alles andere als
offensichtlich. Unproblematisch, aber für das Merkmal politischer Anschauung wohl nicht hochrelevant, sind danach Evidenzbefunde, die an äußere Indizien für eine politische Auffassung anknüpfen, etwa das Tragen einer Kufiya (‚Palästinensertuch‘) als Halstuch, die Nutzung weißer Schnürsenkel bei Skinheads99 oder das Tragen bestimmter Kleidungsmarken oder politischer Symbole. Jenseits solcher einfach gelagerten Fälle lassen sich Evidenzen, die sich aus der Beobachtung von Verhalten als einem Indiz für eine politische Auffassung ergeben, nur schwer begründen. Politisches Handeln auf dem Forum der Öffentlichkeit kann nämlich stets unter Absehung von seinen konkreten Zielen und Inhalten beobachtet und beschrieben werden: Der Handlungsmodus von Politics ist also anschauungsneutral. Wo dieser Modus zum Anknüpfungspunkt für generalisierende Abwertungen wird, etwa in der konservativen Parlamentarismuskritik am „ewigen Gespräch“100, liegt darin keine Diskriminierung bestimmter politischer Anschauungen, sondern die Kritik eines politischen Systems. Aber auch politisches Handeln außerhalb von Polity und Politics ähnelt sich. Das gilt für das Handeln im politischen Vorfeld, in Vereinen und Verbänden der Zivilgesellschaft, aber auch im Bereich radikalen Handelns des politischen Terrorismus. Gerade dieses ist sich über alle ideologischen Grenzen hinweg ähnlich und wird nur unterschiedlich ideologisch gerahmt: als „Stadtguerilla“101, als „Djihad“102 oder als Ragnarök103 (Götterdämmerung) der pluralistischen Demokratie. 69 Politischen Anschauungen als materiellem Substrat einer Kategorie antidiskriminierungsrechtlicher Normen fehlt es danach regelmäßig an der notwendigen Evidenz. Jedenfalls aber ist sie weniger deutlich und ihr Erkennen und Bewerten verlangt größeren ko99 Während weiße Schnürsenkel häufig als rassistisches Statement („White Power“) verstanden wurden,
sollten rote Schnürsenkel auf eine unspezifisch linke politische Einstellung deuten, freilich haben sich diese Unterscheidungen mittlerweile relativiert, siehe Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Rechtsextremismus: Symbole, Zeichen, verbotene Organisationen, 2018, S. 64. 100 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 10. Aufl. 2017 [Wiederabdruck der 2. Aufl. 1926], S. 46, 58. 101 In Deutschland prominent geworden ist der Begriff durch den von der RAF verantworteten und von Ulrike Meinhof verfassten Text „Das Konzept Stadtguerilla“, der 1971 veröffentlicht wurde. Das Konzept war aber für den Linksterrorismus international prägend und geht zurück auf Guevara, Guerra sub-urbana, 1960 sowie Marighella, Minihandbuch des Stadtguerilleros, dt. 1970. 102 Siehe etwa Lohlker/Abu-Hamdeh (Hrsg.), Jihadism revisited, 2019. 103 Höchst instruktiv Schuppener, Vereinnahmung germanischer Mythologie im rezenten Rechtsextremismus, 2007. Julian Krüper
D. Im Hintergrund: Aporien einer Kategorie politischer Anschauung
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gnitiven Aufwand, der ohne Auseinandersetzung in der Sache nicht zum Erfolg führt. Das lässt die Eignung politischer Anschauung zur Kategorie des Antidiskriminierungsrechts nicht von vornherein entfallen. Allerdings deutet die relative Evidenzschwäche bereits darauf hin, dass es dem Merkmal an der Eignung zur Essentialisierbarkeit fehlen könnte, also der zuschreibenden und generalisierenden Überhöhung der wahrgenommenen Evidenzen (dazu sogleich). b) Fehlende Tradierungsbefunde
Durchgreifende Zweifel bestehen demgegenüber im Hinblick auf das Merkmal der histori- 70 schen Tradierung und Verfestigung von Diskriminierung aufgrund politischer Anschauung. Der Grund dafür verweist auf ein Strukturmerkmal politischer Ordnungen schlechthin, die von Mechanismen der Inklusion und Exklusion geprägt sind. Nach außen ist ihr Gestaltungsanspruch – exkludierend – begrenzt: sachlich, personal, territorial. Aber auch nach innen ist das Prinzip von Inklusion und Exklusion wirksam. Demokratien arbeiten dabei mit Mechanismen einer zeitlich und gegenständlich begrenzten Exklusion politischer Minderheiten zugunsten politischer Mehrheiten auf Grundlage formaler politischer Gleichheit und der Chance der Minderheit, zur Mehrheit zu werden.104 Auf der Ebene politischer Sachfragen wird das Prinzip fortgesetzt, wenn um den Ein- 71 schluss oder den Ausschluss politischer Ziele im konkreten politischen Handeln gerungen wird. Organisationsrechtlicher Ausdruck des Strukturprinzips von Inklusion und Exklusion ist dabei das Mehrheitsprinzip als Entscheidungsregel. Dabei kann und soll über die Legitimität von Inklusions- und Exklusionsstrukturen natürlich gestritten werden. Die Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit des Ausländerwahlrechts als Inklusionsmechanismus zeigt das.105 Unter umgekehrten Vorzeichen geht es um Probleme der (il-)legitimen Exklusion, etwa von Extremisten aus liberalen politischen Systemen, von Mitgliedern der „Intelligenz“ aus sozialistischen Systemen106 oder von religiös diversen Bevölkerungsgruppen aus theokratischen bzw. konfessionell gebundenen politischen Systemen.107 Minderheitenschutz wird dabei als Relativierung des Prinzips von Inklusion und Exklusion zu einem demokratischen Thema. Hier scheint eine Nähe zum antidiskriminierungsrechtlichen Denken zu bestehen, dem es um die Überwindung illegitimer kategorialer Exklusion und die Herstellung von kategorienneutraler Inklusion geht. Der Schein der Nähe trügt indes, weil die Dynamik von Inklusion und Exklusion auf die historische Tradierung und die soziale Verfestigung politischer Anschauung als Anknüpfungsmerkmal von Dis104 Statt vieler Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 173. 105 BVerfGE 83, 37 – Ausländerwahlrecht I (1990); BVerfGE 83, 60 – Ausländerwahlrecht II (1990); Isen-
see, Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993; Barley, Das Kommunalwahlrecht für Ausländer nach der Neuordnung des Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG, 1999; Schwarz, Erweiterungen des Kreises der Wahlberechtigten für Ausländer auf Landes- und Kommunalebene?, AöR 128 (2013), S. 411; Gundel, Der grundrechtliche Status der Ausländer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 198 Rn. 98 ff. 106 Siehe etwa Schramm, Wegscheiden der Weltgeschichte, 2004, S. 276 ff. 107 Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden 1555, 2004; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 3. Aufl. 2015, Rn. 22 ff. Julian Krüper
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
kriminierungen durchschlägt. Das lässt sich am Beispiel Deutschlands anschaulich schon auf der Makroebene des politischen Systems zeigen: Die konstitutionelle Monarchie der Reichsverfassung von 1871 wurde abgelöst durch den kurzlebigen demokratischen Rechtsstaat der Weimarer Republik, dieser durch eine verfassungslose Diktatur, deren politische Folgen zunächst zu einem mehrjährigen Besatzungsregime und dann zur Ausbildung des demokratischen Verfassungsstaats der Bundesrepublik und einer sozialistischen Diktatur in der DDR führten, hier wie dort unter besatzungsrechtlichen Beschränkungen. Beide bilden nunmehr wiedervereinigt einen demokratischen Rechtsstaat. Diese Systemwechsel führten zu ständigen Neukonfigurationen politischer Ingroups und Outgroups,108 von Mehrheits- und Minderheitspositionen: Monarchisten vs. Republikaner, Demokraten vs. Antidemokraten,109 Nationalsozialisten vs. Nichtnationalsozialisten, Sozialisten vs. Demokraten.110 Auch innerhalb dieser Systeme setzten sich die Spannungen fort: zwischen Stalinisten und Reformsozialisten in der DDR,111 später zwischen Systemträgern und Bürgerrechtlern,112 zwischen bürgerlichen Marktwirtschaftlern und sozialdemokratischen Planwirtschaftlern in der Bundesrepublik, zwischen Konservativen und Studentenbewegten, zwischen Linksradikalen, der bürgerlichen Mitte und der bürgerlichen Rechten oder Rechtsradikalen, der bürgerlichen Mitte und der bürgerlichen Linken, zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen, zwischen Europäern und Antieuropäern usf. 72 Dass es innerhalb dieser Systeme Praktiken der strategischen oder zwangsweisen Ausgrenzung, der politischen und öffentlichen Zurücksetzung und (sehr unterschiedliche) Formen der Verfolgung politischer Anschauungen gab, ist damit nicht bestritten. Auch haben sich unter dem Grundgesetz eher inkludierte und jedenfalls vorübergehend exkludierte politische Strömungen gebildet. Allerdings ist dieses System von Anbeginn an dynamisch gewesen, denkt man an die Absorption der Zentrumspartei durch die Unionsparteien, die organisationsrechtliche Dynamik der Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums113 und die Exklusion und Integration politischer Strömungen und Parteien am linken Rand. Zugleich haben die großen politischen Familien, greifbar im Topos der Volkspartei, stets ein breites Spektrum politischer Ansichten hinter sich versammelt und waren ideologisch selten klar auf einen Nenner zu bringen. Eine dauerhafte Dynamik von Inklusion und Exklusion erschwert die Bildung, Tradierung und Verfestigung politischer Diskriminierungsbefunde und lässt die politische Anschauung daher ungeeignet erscheinen, um Anknüpfungsmerkmal einer eigenen Kategorie von antidiskriminierungsrechtlichen Normen zu werden. 108 Zum Konzept Magen, Kontexte der Demokratie, VVDSTRL 77 (2018), S. 67 (77 f.). 109 Siehe für die Staatsrechtslehre etwa Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Repu-
blik, 2010.
110 Siehe für die Verfassungsentwicklung der DDR etwa Klaus, Von formaler Demokratie zur Diktatur,
2010.
111 Siehe etwa Jaskulowski, Demokratiekonsolidierung und die Opposition in Polen und der DDR 1945–
1989, Totalitarismus und Demokratie 4 (2007), S. 301 (305 ff.).
112 Siehe etwa Pabst/Beleites (Hrsg.), Wir sind das Volk?, 2001. 113 Krüper (Fn. 63).
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Dies gilt auch dann, wenn man etwa für die Bundesrepublik die Behandlung kom- 73 munistischer Positionen in den Blick nimmt. Institutionell sind sie mit dem KPD-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Verfassungsrechtskreis des Grundgesetzes ausgesondert, in einem untechnischen Sinne also diskriminiert worden (siehe dazu auch unter e)).114 Das institutionelle Verbot und die individuelle Diskriminierung im Sinne des Antidiskriminierungsrechts sind aber, bei aller Nähe und Verwandtschaft, zu trennen. Institutionell zeigt sich im Übrigen, dass mit der Gründung der DKP und – ungeachtet ideologischer Feindifferenzierungen – der MLPD Parteien aus dem scharf linken Spektrum das institutionelle Erbe der KPD angetreten haben, freilich ohne politische Bedeutung zu erlangen. Den Versuch, sie zu verbieten, hat es nicht gegeben. Anders sieht es dort aus, wo unter dem Stichwort des Radikalenerlasses Bewerber für 74 den öffentlichen Dienst auf ihre Verfassungstreue überprüft und ihnen der Zugang (vor allem) zum Beamtenverhältnis versagt worden ist. Hier tut eine differenzierende Betrachtung not: Einerseits sind Diskriminierungen im Sinne des Antidiskriminierungsrechts von Ungleichbehandlungen – hier: im Hinblick auf das Recht aus Art. 33 Abs. 2 GG – zu unterscheiden, andererseits darf die legitimerweise erwartete Verfassungstreue von Beschäftigten im öffentlichen Dienst nicht zu überzogenen Anforderungen führen und muss insbesondere die Umstände jedes Einzelfalls angemessen würdigen. Dies ist vor allem in den 1970er Jahren nicht durchweg zufriedenstellend gelungen. Auch unter dem Eindruck der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist hier aber entgegengesteuert worden. Antidiskriminierungsrechtlich relevante Tradierungsbefunde ergeben sich daraus aber zuletzt deshalb nicht, weil jenseits der Zugangsfrage zum öffentlichen Dienst keine bloße Ungleichbehandlungen übersteigenden, herabwürdigenden und zurücksetzenden Diskriminierungen zu konstatieren waren. c) Fehlender Indisponibilitätsschutz
Die politische Anschauung ist eine geistige Haltung eines Menschen. Sie knüpft nicht an 75 biologische, körperliche, psychische oder soziale Merkmale einer Person an, sondern ähnelt eher dem religiös-weltanschaulichen Bekenntnis und kann im Einzelfall auch ähnlich hohe individuelle Verbindlichkeit erreichen, vor allem im extremistischen Spektrum. Im Unterschied aber zu nicht disponiblen Merkmalen und im Unterschied zu religiös-weltanschaulichen Bekenntnissen ist die politische Auffassung als inhärent dynamisch zu verstehen. Sie hat einen Immanenzbezug, dem es nicht um die Wahrheit in letzten Dingen, sondern um die Gestaltung der diesseitigen Welt getan ist. Der Bestand politischer Anschauungen ist an die Dynamik der realen Welt gekoppelt, auf deren Veränderung sie reagieren. Sie können deswegen nicht den Exklusivitätsanspruch religiös-weltanschaulicher Glaubensinhalte für sich in Anspruch nehmen. Subjektives Verbindlichkeitsempfinden und objektive Verbindlichkeitsanerkennung politischer Anschauungen sind also inkongruent. Es ist die unaufgebbare Prämisse des demokratischen Diskurses, dass politische Anschauung immer wieder neu zu bilden und damit natürlich auch zu ändern ist. Die 114 BVerfGE 5, 85 – KPD (1956).
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
„politische Willensbildung des Volkes“, wie sie etwa Art. 21 Abs. 1 GG im Blick hat, meint daher nicht den Willen als Zustand, sondern den Prozess seiner Herstellung. Er ist gekennzeichnet durch das Einnehmen, Räumen, Ändern, Anpassen und Fortschreiben politischer Positionen. Die Dynamik von Inklusion und Exklusion, wie sie politische Systeme auf der Makroebene prägt, diffundiert damit auch in das Konzept politischer Anschauung, die nicht den gleichen Indisponibilitätsschutz genießt wie die Anknüpfungsmerkmale der sonstigen Kategorien. Daran ändert auch nichts der Verweis auf das demokratische Grundprinzip, dass die Minderheit stets zur Mehrheit werden können muss, denn der Minderheitenbegriff dieses Prinzips ist ein funktionaler, kein materiell-inhaltlicher. Es geht dabei also nicht um den Schutz bestimmter, sondern wechselnder, auch simultan nebeneinander bestehender, unterschiedlich konstituierter Minderheiten und Mehrheiten und damit um eine von herkömmlichen Kategorien des Antidiskriminierungsrechts verschiedene Inklusions- und Exklusionsstruktur. d) Fehlende Essentialisierbarkeit 76 Prägendes Kennzeichen von Diskriminierungen im Sinne des Antidiskriminierungsrechts
ist die essentialistische Überhöhung eines Anknüpfungsmerkmals zu einem Identitätsmerkmal einer Gruppe. Danach sind Weiße, Männer, Christen, Heterosexuelle und Nichtbehinderte so, Nicht-Weiße, Frauen, Muslime, Homosexuelle oder Behinderte anders. Voraussetzung dieser essentialistischen Überhöhung ist ein materielles Substrat, das den Kern des jeweiligen Anknüpfungsmerkmals bildet und sich zur Essentialisierung eignet: eine Hautfarbe, ein biologisches Geschlecht, ein religiöses Bekennen oder Handeln. Ob im Anknüpfungsmerkmal der politischen Anschauung ein solcher essentialisierbarer Kern enthalten ist, ist allerdings fraglich. Das wird deutlich, führt man sich den für Diskriminierungen typischen Dreischritt von Naturalisierung, Normalisierung und Neutralisierung von Unterschieden115 näher vor Augen. Schon die Feststellung, qualitative Unterschiede zwischen politischen Auffassungen seien natürlich im Sinne von vorfindlich, findet im Merkmal der politischen Anschauung keinen Anknüpfungspunkt. Politische Anschauungen sind nicht-natürliche Dispositionen, die in hohem Maße abhängig sind von den Rahmenbedingungen eines politischen Systems und dessen Wertgrundlagen. Zugleich sind sie durch die Dynamik von Inklusion und Exklusion politischer Systeme geprägt, was sie essentialisierungsungeeignet macht. Dem ließe sich entgegnen, dass auch das religiöse Bekenntnis und die nicht-religiöse 77 Weltanschauung als Geisteshaltungen nicht mit den Kategorien wie Geschlecht, Rasse, Alter, Behinderung oder sexueller Orientierung vergleichbar und trotzdem antidiskriminierungsrechtlich anerkannt sind. Doch lassen sich politische Anschauungen davon in relevanter Weise abheben. Zunächst ist die Konzeption des Menschen als Geisteswesen traditionell religiös-weltanschaulich konnotiert: Gottesvorstellungen, religiöse und spirituelle Weltdeutungen sind typisch für den Menschen und reichen zu Phänomenen des, religionswissenschaftlich teils als Urreligion verstandenen, Animismus zurück. Religion 115 → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 84.
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D. Im Hintergrund: Aporien einer Kategorie politischer Anschauung
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wird dabei nicht zu einem natürlichen Phänomen, erlangt aber eine Qualität der ‚Ursprünglichkeit‘, die sie von anderen Geisteshaltungen abhebt. Das hat auch damit zu tun, dass die Gewissheit des Menschen „über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens“116 so eng mit Personalität und Würde verknüpft ist,117 dass sich zwar ein typologischer, aber kein normativer Unterschied zwischen der Kategorie der Religion und anderen Kategorien antidiskriminierungsrechtlicher Normen ergibt. Gleiches lässt sich über das Merkmal der politischen Anschauung nicht sagen. Seine starke institutionelle Seite löst es jedenfalls objektiv aus dem engen Personalitätsbezug, der das religiös-weltanschauliche Bekenntnis kennzeichnet und rückt es von der Person ab. Politische Auffassungen sind in diesem Sinne nicht zuerst Aussagen über das Selbst, sondern Aussagen über das Andere und die Anderen, über die res publica und ihre Angelegenheiten. Und auch wenn man den Begriff des Politischen eher intensitätstheoretisch deutet, gewinnt das Merkmal nicht an Essentialisierbarkeit hinzu, denn Intensität ist ein Modus, keine Substanz. Dieses Ergebnis ist überraschend angesichts dessen, dass politische Diskriminierung 78 und Verfolgung historisch dokumentierte Tatsachen sind. Weitere Plausibilität gewinnt das Ergebnis indes mit nochmaligem Blick auf den Funktionsmodus von Exklusion und Inklusion demokratischer politischer Systeme. Dabei wird sichtbar, dass allein die Gewährleistung einer streng formalen Gleichheit politischer Auffassung das angemessene Instrumentarium ist, um diese zu schützen, weil alles andere auf eine inhaltliche Stellungnahme hinausliefe. e) Der Wert formaler Gleichheit politischer Anschauungen
Demokratische politische Systeme müssen Maßstäbe und Instrumente entwickeln, mit 79 deren Hilfe legitime und illegitime Exklusion abweichender politischer Anschauungen unterschieden werden kann. Die Exklusion politischer Auffassungen muss möglich sein, weil totale Inklusion eine Negation politischer Ordnung wäre. Umgekehrt kann nicht jede Art der Exklusion erlaubt sein, die die Billigung des politischen Systems und seiner Institutionen hat, denn politischer Minderheitenschutz bleibt essenziell für demokratische Ordnungen. Einziger Maßstab, zulässige und unzulässige Exklusion politischer Auffassungen voneinander zu unterscheiden, ist daher die Verfassung selbst. Greifbar wird dies in der deutschen Verfassungsordnung in den Begriffen der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ der Art. 18 Satz 1 GG, 20 Abs. 2 GG und der „verfassungsmäßigen Ordnung“ der Art. 9 Abs. 2, 20 Abs. 3, 4 GG. Beide Begriffe sind selbst Ausdruck der verfassungsrechtlichen Anerkennung von politischer Inklusion und Exklusion, weil die in ihnen formulierte Grenze selbst nur im Wege permanenter Aushandlungen zu ziehen ist. Diese Aushandlungsprozesse sind von einem formalen Gleichheitsverständnis geprägt. Denn von Verfassungs wegen gibt es nur verfassungsgemäße, gleichberechtigte und inkludierte politische Auffassungen oder verfassungswidrige, deswegen ungleiche und also exklu116 BVerwGE 90, 112 (115). 117 Morlok (Fn. 74), Art. 4 Rn. 43.
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
dierte politische Auffassungen. Die Debatte um Inklusion und Exklusion politischer Auffassungen kann danach nur als kategoriale eines in or out geführt werden. Innerhalb des Rahmens der verfassungsmäßigen Ordnung sind alle politischen Anschauungen formal gleich, mit den gleichen Rechten und Pflichten verbunden und vor allem: dem politischen Meinungskampf ausgesetzt. Wollte man hier in antidiskriminierungsrechtlicher Absicht tätig werden, müsste man innerhalb des Rahmens der verfassungsmäßigen Ordnung Abstufungen einziehen, an die Ungleichheitsbefunde anknüpfen müssten und in den Kampf politischer Meinungen eingreifen. Selbst wo solche Grenzen – im Hinblick auf die Gleichberechtigung der Geschlechter etwa in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG – verfassungsrechtlich vorhanden sind, stößt der Versuch einer Materialisierung des Verständnisses dort, wo der politische Raum und mit ihm politische Gleichheit betroffen ist, an – im Einzelnen indes hochumstrittene – verfassungsrechtliche Grenzen.118 80 Antidiskriminierungsrechtliche Normen zielen in emanzipatorischer Absicht auf die Inklusion marginalisierter, nicht notwendig quantitativ marginaler Gruppen in relevante politische und gesellschaftliche Prozesse. Es geht also um die Veränderung einer Randposition hin zu einer Zentrumsposition. Ein antidiskriminierungsrechtlicher Anspruch auf Schutz politischer Anschauung in einem gefestigten demokratischen System kann aber eine Umkehrung dieser Vorzeichen mit sich bringen, wenn politische Extremisten auf die Einbeziehung in politisch-gesellschaftliche Prozesse unter Hinweis auf antidiskriminierungsrechtliche Ansprüche bestehen. Konzeptionell mag man darin eine Pervertierung der antidiskriminierungsrechtlichen Idee sehen, wenn eben jenen Schutz zugesprochen werden muss, die ihn für andere gerade ablehnen, also Gleichheit für die Feinde der Gleichheit gewährleistet werden muss. 81 Es hat sich gezeigt, dass die antidiskriminierungsrechtliche Kategorialisierbarkeit des Merkmals politischer Anschauung nicht ohne dogmatische Brüche zu haben ist. Die Steuerungsschwäche, die Normen eines gleichheitsrechtlichen politischen Anschauungsschutzes typischerweise haben, mag Ausdruck dieser inneren Brüche sein. Dass auch künftig vieles dafür spricht, das Merkmal politischer Anschauung nur insoweit rechtlich relevant werden zu lassen, wie es im Einzelfall Anknüpfungspunkt von Ungleichbehandlungen wird, ergibt sich, wenn man auf die potentiellen Verpflichteten und Rechtsfolgen eines politischen Anschauungsschutzes schaut.
118 Insofern im Hinblick auf die Unzulässigkeit des Zwangs zu paritätischen Wahllisten im Ergebnis rich-
tig, das Begründungspotential aber nicht ausschöpfend, ThürVerfGH, Urt. v. 15.7.2020, 2/20; siehe eingehend für diese Auffassung Morlok/Hobusch, Ade parité? – Zur Verfassungswidrigkeit verpflichtender Quotenregelungen bei Landeslisten, DÖV 2019, S. 14; v. Ungern-Sternberg, Parité-Gesetzgebung auf dem Prüfstand des Verfassungsrechts, JZ 2019, S. 525; Gegenauffassung bei Laskowski, Zeit für Veränderungen: Ein paritätisches Wahlrecht jetzt!, RuP 54 (2018), S. 391 sowie Brünger/Laskowski, Pro Parité, Zur Geschäftsordnung, abrufbar unter: https://zurgeschaeftsordnung.de/page/6/: siehe jetzt auch BVerfGE 156, 224 – Parität (2020). Julian Krüper
D. Im Hintergrund: Aporien einer Kategorie politischer Anschauung
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II. Das Kategorienproblem als Verpflichtetenproblem
Die Frage nach dem Stellenwert und der Funktionalität eines politischen Anschauungs- 82 schutzes durch Antidiskriminierungsrecht ist auch im Hinblick darauf zu beantworten, wer Verpflichtete solcher Normen sein können.119 Dabei zeigt sich, dass vor allem auf Seiten Privater eine Differenzierung angezeigt ist, in der sich vor allem jüngere Entwicklungen der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung abbilden. 1. Staat als Verpflichteter
Die staatlichen Organe sind vielfach Verpflichtete von Regelungen, die auf politischen 83 Anschauungsschutz gerichtet sind. Allgemein zielen Art. 3 Abs. 3 Satz 1, 21 Abs. 1 Satz 1, 38 Abs. 1 Satz 1, 33 Abs. 5 GG sowie die gleichheitsrechtlichen Implikationen politischer Kommunikationsgrundrechte auf Gleichbehandlung. Auch die Regelungen staatlicher Leistungen an politische Parteien sind gleichheitsrechtlich durchformt, mit § 5 Abs. 1 ParteienG und dem Grundsatz der sogenannten „abgestuften Chancengleichheit“.120 Wo es kommunalrechtlich um den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen geht, ist die Verwaltung an strenge Gleichbehandlungsgrundsätze gebunden. Verstöße können vor den Verwaltungsgerichten geltend gemacht werden. Gleiches gilt etwa für die Weigerung öffentlichrechtlicher Banken, für eine politische Partei ein Konto zu eröffnen.121 Versammlungsverbote können nicht unter Hinweis auf die politische Anschauung der Versammelnden verboten werden, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner langjährigen Kontroverse mit dem OVG Münster ausjudiziert hat.122 Schließlich fallen auch die in den letzten Jahren durch die Rechtsprechung der Verfassungs- und Verwaltungsgerichte näher ausgeformten Neutralitätsverpflichtungen öffentlicher Amtsträger in den Bereich politischen Anschauungsschutzes. Nimmt die Legislative ihre Aufgabe zur Ausgestaltung der Grundrechte wahr, ist sie 84 im Sinne der Garantie gleicher Freiheit grundsätzlich daran gehindert, bestimmte politische Anschauungen zu privilegieren. Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in der Wunsiedel-Entscheidung ist als eng umrissene Ausnahme von politischen Gleichbehandlungsansprüchen zu verstehen und soll deren Strenge mehr unterstreichen als relativieren. Insofern unterliegen also auch die Normen des Strafrechts einer engen Kontrolle auf die Gleichbehandlung politischer Anschauung hin.
Zu Verpflichteten von antidiskriminierungsrechtlichen Normen → Gärditz, § 4. Morlok/Merten, Parteienrecht, 2018, S. 117. BVerwG, Urt. v. 28.11.2018, 6 C 2.17 und 6 C 3.17. BVerfG, NJW 2001, S. 2069 ff.; BVerfG, NJW 2001, S. 2075 f.; BVerfG, NJW 2001, S. 2076 ff.; BVerfGK 9, 48; OVG Münster, Beschl. v. 23.3.2001, 5 B 395/01; OVG Münster, Beschl. v. 12.4.2001, 5 B 492/01; OVG Münster, Beschl. v. 30.4.2001, 5 B 585/01; siehe dazu auch Wiefelspütz, Versammlungsrecht und öffentliche Ordnung, KritV 85 (2002), S. 19 (24 ff.).
119 120 121 122
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
2. Private als Verpflichtete a) Natürliche Personen und juristische Personen ohne Eigenschaft eines Tendenzbetriebs
Im Anwendungsbereich des AGG ist ein Schutz politischer Anschauung bislang nicht vorgesehen. Dass Private gegenüber politischen Zuschreibungen anderer Privater geschützt werden müssten, lässt sich auch nicht ohne Weiteres erkennen. Die politische Willensbildung als Auseinandersetzung über die Grundlagen und die Ausrichtung einer politischen Gemeinschaft ist schlechthin der Ort demokratisch legitimer Exklusion. Die Legitimation von Herrschaft findet in der Demokratie über die Auseinandersetzung kontroverser Auffassungen und ihrer mehrheitlichen Durchsetzung statt. Diese Auseinandersetzung ist eine Auseinandersetzung von Individuen, nicht von Gruppen. Der Bereich, in dem sich Private als politische Private begegnen, muss ein Bereich sein, in dem die vorbehaltslose Zurückweisung abweichender Auffassungen zulässig bleiben muss. Das Verständnis politischer Gleichheit als formaler Gleichheit sichert dabei jene Freiheitsräume, die aus einer demokratischen Ordnung eine freiheitliche demokratische Ordnung machen. 86 Offen ist, ob diese Freistellung von politischer Rücksichtnahme zwischen Privaten nur deren eigentliches politisches Handeln betrifft, oder ob sie für den gesamten Privatrechtsverkehr Geltung beanspruchen muss. Vor allem aus den USA sind Fälle geläufig, in denen zumeist aus religiösen Gründen die Eingehung von Geschäftsbeziehungen durch Private mit anderen Privaten verweigert wurde.123 Entsprechendes ist auch unter Berufung auf politische Überzeugungen denkbar und praktisch relevant, wie etwa die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Stornierung einer Hotelbuchung des NPD-Funktionärs Udo Voigt gezeigt hat.124 Der Statuierung eines Kontrahierungszwangs zwischen Privaten aus anderen als den im Privatrecht bislang anerkannten Gründen125 ist indes mit Skepsis zu begegnen. 85
b) Private Tendenzbetriebe 87
Unter dem Begriff der Tendenzorganisationen bzw. der Tendenzbetriebe wird das Recht bestimmter Organisationen verhandelt, ihr Agieren nach außen und ihre inneren Abläufe nach einer selbstgewählten inhaltlichen Orientierung auszurichten.126 Der Begriff der Tendenzorganisation ist von dem spezifisch arbeitsrechtlichen Begriff des Tendenzbetriebes abzuheben. Arbeitsrechtlich werden Tendenzbetriebe durch § 118 BetrVG näher gekennzeichnet. Zu unterscheiden sind insoweit die durch bestimmte Tendenzschutznormen gekennzeichnete Tätigkeit eines Tendenzbetriebs sowie der Tendenzschutz in mitgliedschaftlich verfassten Tendenzorganisationen. Während arbeitsrechtliche Tendenzschutznormen auf das Arbeitsrechtsverhältnis bezogen sind, sind organisationsrechtliche 123 Siehe dazu etwa die Entscheidung des US Supreme Court Masterpiece Cakeshop Ltd. v. Colorado Civil
Rights Commission, 584 U. S. ___ (2018).
124 BVerfG, Beschl. v. 27.8.2019, 1 BvR 879/12 – Udo Voigt. 125 Siehe etwa Köhler, BGB AT, 44. Aufl. 2020, § 8 Rn. 44 ff. 126 Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 119 f.
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D. Im Hintergrund: Aporien einer Kategorie politischer Anschauung
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Tendenzschutznormen eher auf das Mitgliedschaftsverhältnis gerichtet.127 Das jeweilige individuelle Schutzinteresse ist dabei ähnlich, aber nicht gleich. Während der Schutz des Arbeitsverhältnisses den Einzelnen primär in seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit von einem Arbeitgeber und damit in der Wahrnehmung von Art. 12 Abs. 1 GG schützt, zielt der Schutz des zumeist vereinsrechtlichen Mitgliedschaftsverhältnisses auf die Betätigung nichtwirtschaftlicher grundrechtlicher Freiheiten. Der Begriff der politischen Zwecke in § 118 Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. BetrVG nimmt dabei nicht nur parteipolitische, sondern auch wirtschafts- oder sozialpolitische Zwecke in den Blick,128 soweit sie nicht durch den Begriff der koalitionspolitischen Zwecke in § 118 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. BetrVG erfasst sind. Hier wie dort geht es also um die Balance verschiedener grundrechtlicher und grund- 88 rechtsähnlicher Interessen. Dabei bringt das Konzept der Tendenzorganisationen bzw. -betriebe ein weitergehendes Recht der Organisation gegenüber dem Individuum zum Ausdruck, allerdings bezogen auf den jeweiligen Tendenzzweck.129 Soweit es also um politische Tendenzorganisationen geht, kommen ihnen weitergehende Rechte gegenüber den mit ihnen verbundenen oder in ihnen organisierten Personen im Hinblick auf die Äußerungen oder das Handeln dieser Personen in politischer Hinsicht zu.130 Eine Ausweitung von Ansprüchen aus antidiskriminierungsrechtlichen Normen gegen politische Tendenzorganisationen ist mit dem Konzept des Tendenzschutzes daher erkennbar nicht vereinbar. c) Private, die ein öffentliches Forum eröffnen
Etwas anderes mag dort gelten, wo Private, zumeist juristische Personen des Privatrechts, 89 die nicht Tendenzorganisationen sind, als Teil ihres Geschäftsmodells einen für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglichen öffentlichen Raum schaffen. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist hier vor allem an die Fraport-Entscheidung sowie an die Stadionverbot-Entscheidung zu denken, außerdem an die Entscheidung zum sog. III. Weg.131 Neben der Frage einer unmittelbaren Grundrechtsbindung gemischtwirtschaftlicher 90 Unternehmen hat das Bundesverfassungsgericht in der Fraport-Entscheidung auch die Reichweite des Art. 8 GG, eines eminent politischen Grundrechts,132 für den öffentlichen Raum näher konkretisiert. Zwar sei das historische Leitbild des Art. 8 GG die Demonstration im öffentlichen Straßenraum,133 wo aber durch Grundrechtsgebundene ein dem 127 Morlok/Merten (Fn. 120), S. 89 f., 122 f.; Morlok, Couleurzwang für Rechtsanwälte? – Zum Recht der
politischen Parteien auf tendenzreine Willensbildung, NJW 1991, S. 1162.
128 Werner, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK Arbeitsrecht, Stand: Dezember 2021, § 118 BetrVG Rn. 6. 129 Werner (Fn. 128), § 118 BetrVG Rn. 6. 130 Morlok/Merten (Fn. 120), S. 89; eingehend Risse, Der Parteiausschluss, 1985; Roßner, Parteiaus-
schluss, Parteiordnungsmaßnahmen und innerparteiliche Demokratie, 2014, S. 141 ff.
131 BVerfGE 128, 226 – Fraport (2011); BVerfGE 148, 267 – Stadionverbot (2018); BVerfG, Beschl. v.
22.5.2019, 1 BvQ 42/19 – III. Weg.
132 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 8 Rn. 16 ff.; Ernst, in: v. Münch/Kunig,
GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 8 Rn. 12 ff.; Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), GG, 14. Aufl. 2018, Art. 8 Rn. 3. 133 BVerfGE 128, 226 (251 f. Rn. 67) – Fraport (2011). Julian Krüper
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
öffentlichen Straßenraum vergleichbares Forum eröffnet werde, komme es auf dessen öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Rahmung nicht an.134 Für die im Ausgangsverfahren in Anspruch genommene Fraport AG, ein grundrechtsgebundenes gemischtwirtschaftliches Unternehmen mit mehrheitlicher Beteiligung des Staates, ergebe sich daraus eine Bindung an Art. 8 GG. 91 Eine generelle Bindung Privater an Art. 3 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht in der Stadionverbotsentscheidung grundsätzlich abgelehnt und nur für besondere Konstellationen eröffnet. Sofern Private ohne Ansehung der Person eine Veranstaltung für eine allgemeine Öffentlichkeit anböten und die Teilnahme daran wesentlicher Ausdruck gesellschaftlicher Teilhabe sei,135 bestehe eine Bindung Privater aber auch an Art. 3 Abs. 1 GG. In einem obiter dictum deutete das Gericht außerdem an, dass in Monopol-Situationen oder Konstellationen struktureller Überlegenheit eine solche Bindung „möglicherweise“ auch bestehe.136 Während in der Fraport-Entscheidung mit Art. 8 GG ein politisches Grundrecht im 92 Mittelpunkt stand, der Sachverhalt politisch geprägt war und es um eine freiheitsrechtliche Eingriffskonstellation ging, konzentrierte sich die Stadionverbotsentscheidung auf das Verhältnis von Art. 14 Abs. 1 GG zu Art. 3 Abs. 1 GG. Die Bindung an Art. 3 Abs. 1 GG, wie sie das Gericht für die angesprochenen Sonderkonstellationen angenommen hat, ist indes schwach, weil sie im Sinne der Dogmatik des Allgemeinen Gleichheitssatzes nur einen sachlichen Grund für die Ungleichbehandlung fordert.137 Ob in Ansehung einer Ungleichbehandlung im Hinblick auf eine politische Anschauung strengere Maßstäbe zur Anwendung kommen müssen, ist zweifelhaft. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage nach der mittelbaren Drittwirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Merkmal der politischen Anschauung ausdrücklich offengelassen.138 Eine Ausstrahlungswirkung des Merkmals der politischen Anschauung aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auf Normen des Privatrechts, wie es das Gericht für das Merkmal der Behinderung in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG angenommen hat,139 ist nicht angezeigt: Politischer Anschauungsschutz im Verhältnis zwischen Privaten und privaten Nichttendenzorganisationen kann danach nur über die mittelbare Drittwirkung politischer Freiheitsrechte erreicht werden. Im Wege der einstweiligen Anordnung hat das Bundesverfassungsgericht 2019 dem 93 Unternehmen Facebook aufgegeben, das Profil der rechtsextremen Splitterpartei III. Weg wieder freizuschalten.140 Die Entscheidung, die als Fortsetzung der Rechtsprechung in Sachen Fraport und Stadionverbot für den digitalen Raum verstanden wird,141 hebt für den BVerfGE 128, 226 (252 ff. Rn. 69 f.) – Fraport (2011). BVerfGE 148, 267, Ls. 2 – Stadionverbot (2018). BVerfGE 148, 267 (284 Rn. 42) – Stadionverbot (2018). BVerfGE 148, 267 (285 f. Rn. 45 f.) – Stadionverbot (2018). BVerfG, Beschl. v. 27.8.2019, 1 BvR 879/12, Rn. 10 – Udo Voigt; siehe weiter auch zu Art. 3 Abs. 1 GG BVerfGE 148, 267 (283 Rn. 40) – Stadionverbot (2018). 139 BVerfG, Beschl. v. 20.1.2019, 2 BvR 1005/18, Rn. 42 ff. – Verbot eines Blindenführhundes. 140 BVerfG, Beschl. v. 22.5.2019, 1 BvQ 42/19 – III. Weg. 141 Seyderhelm, Verpflichtung zum vorübergehenden Entsperren des Accounts eines sozialen Netzwerks, NVwZ 2019, S. 959 (962). 134 135 136 137 138
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besonderen Grundrechtsschutz, den die Partei gegenüber Facebook beanspruchen könne, die Marktmacht von Facebook hervor und führt weiter aus: „Ob und gegebenenfalls welche rechtlichen Forderungen sich insoweit auch für Betreiber sozialer Netzwerke im Internet – etwa in Abhängigkeit vom Grad deren marktbeherrschender Stellung, der Ausrichtung der Plattform, des Grads der Angewiesenheit auf eben jene Plattform und den betroffenen Interessen der Plattformbetreiber und sonstiger Dritter – ergeben, ist jedoch weder in der Rechtsprechung der Zivilgerichte noch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abschließend geklärt“.142
Das Bundesverfassungsgericht führt nicht eingehender aus, worauf der Anspruch im Ein- 94 zelnen zu gründen ist, sondern verweist auf die von der Antragstellerin geltend gemachten Rechtsverletzungen insgesamt. Dabei stehen Gleichbehandlungsansprüche aus Art. 3 Abs. 1, 21 Abs. 1 und 38 Abs. 1 Satz 1 GG im Mittelpunkt, ergänzt um Art. 5 Abs. 1 und 19 Abs. 4 GG. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als gegebenenfalls einschlägige Spezialnorm des antidiskriminierungsrechtlichen Gleichheitsschutzes politischer Anschauung wird nicht bemüht. Die Entscheidung fügt sich insofern in das Gesamtbild, dass Gleichheitsgewährleistungen, die ausdrücklich auf den Schutz politischer Anschauung zielen, kaum rechtliche Relevanz entfalten, sofern der Schutz über Freiheitsrechte oder spezielle Gleichheitsgarantien erreicht werden kann. III. Das Kategorienproblem als Rechtsfolgenproblem
Schließlich ist das Kategorienproblem als Rechtsfolgenproblem in den Blick zu nehmen. 95 Grundsätzlich zu unterscheiden sind reaktive von proaktiven Rechtsfolgen.143 Vor allem letztere sind unter Aspekten politischer Wettbewerbsverzerrung von rechtlichem Interesse. Insgesamt stellt sich das Rechtsfolgenpanorama im Hinblick auf den Schutz politischer Anschauung wie folgt dar: 1. Verbotensein der Diskriminierung als rechtliche Anordnung
Nimmt man die hier unter B. überblicksartig erörterten positiv-rechtlichen Anknüpfungs- 96 punkte für einen politischen Anschauungsschutz in den Blick, fällt die von Michael Grünberger und André Reinelt statuierte Rechtsfolgenblässe der öffentlich-rechtlichen Normen des Antidiskriminierungsrechts auf.144 Diese begnügen sich explizit oder implizit damit, die Anknüpfung an das Merkmal der politischen Anschauung zu verbieten145 bzw. die Gleichheit politischer Anschauungen bzw. politischer Akteure im politischen Wettbewerb zu statuieren. Rechtsschutz, der sich gegen Ungleichbehandlungen in diesem Bereich wendet, ist re- 97 gelmäßig nachgelagert und feststellender Art. Typischerweise handelt es sich um Rechts142 143 144 145
BVerfG, Beschl. v. 22.5.2019, 1 BvQ 42/19, Rn. 15 – III. Weg. Zu reaktivem und proaktivem Antidiskriminierungsrecht → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 98 ff. → Grünberger/Reinelt § 20 Rn. 51; dies., Konfliktlinien im Nichtdiskriminierungsrecht, 2020, S. 67. → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 50, 103. Julian Krüper
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
schutz, den Organisationen gegen den Staat nachsuchen, etwa in Gestalt von Parteien, Fraktionen oder politischen Stiftungen, die sich durch staatliche Maßnahmen in ihren politischen Gleichheitsrechten verletzt sehen und insofern von vornherein außerhalb des individualorientierten Antidiskriminierungsrecht liegen. 98 Dessen ungeachtet ist die Garantiefunktion des maßgeblichen materiellen Normbestandes wesentlich symbolischer Natur in dem Sinne, dass diese Normen cum grano salis vom Staat beachtet werden und grundlegende Verstöße gegen sie nur ausnahmsweise zu beklagen sind, dann freilich auch kontrovers diskutiert werden. 2. Reaktive Rechtsfolgen ansonsten a) Privatrechtliche Rechtsfolgen
Das Spektrum sonstiger reaktiver Rechtsfolgen für einen Verstoß gegen antidiskriminierungsrechtliche Normen ist potentiell weit gespannt. Von möglichen Schadensersatzansprüchen, etwa nach § 21 Abs. 2 AGG, über Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche, etwa nach § 21 Abs. 1 AGG bis hin zu Nichtigkeitsaussprüchen, §§ 7 Abs. 2, 21 Abs. 4 AGG reicht die Bandbreite. Die Erstreckung der Gleichbehandlungsgebote im Hinblick auf die politische Anschauung ist im Privatrechtsverhältnis dabei nur dort von Bedeutung, wo das Merkmal ausdrücklich zum Anknüpfungspunkt spezieller privatrechtlicher Garantien wird. Soweit und solange die mittelbare Drittwirkung von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Merkmal der politischen Anschauung ungeklärt ist und das AGG die Kategorie politischer Anschauung nicht kennt, bleibt auch das Rechtsfolgenregime privatrechtlicher Normen des Antidiskriminierungsrechts verschlossen. Eine gewisse Ausnahme besteht für einige Normen des Arbeitsrechts. Zwar zeigt sich in 100 §§ 74 Abs. 2 Satz 3, 118 Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. BetrVG eine rechtliche Zurückdrängung des politischen Anschauungsschutzes. § 75 Abs. 1 BetrVG aber enthält ein Diskriminierungsverbot aufgrund der politischen Anschauung. Die Rechtsfolgen seiner Verletzung regelt § 23 BetrVG, dessen Abs. 1 einen Ausschluss von Betriebsratsmitgliedern ermöglicht, die gegen die Pflichten des § 75 Abs. 1 BetrVG verstoßen. Verstößt der Arbeitgeber gegen Pflichten aus § 75 Abs. 1 BetrVG, so kann er auf Unterlassung bzw. Duldung gegenläufiger Maßnahmen in Anspruch genommen und bei weiteren Verstößen zu einem Ordnungsgeld verurteilt werden. Eigenständige subjektive Rechte von Gewicht ergeben sich für den Arbeitnehmer aus der Norm nicht. Jedoch können Pflichtverstöße im Rahmen von § 75 BetrVG zugleich Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis verletzen, die Schadensersatzansprüche nach § 826 BGB auslösen können.146 99
b) Öffentlich-rechtliche Rechtsfolgen und Durchsetzungsmechanismen 101
Sofern öffentlich-rechtliche Ansprüche auf Gleichbehandlung verletzt werden, stehen als Rechtsfolgenregime die insoweit unspezifischen Normen des Staatshaftungsrechts bzw. des Verfassungsrechts zur Verfügung. 146 Werner, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK Arbeitsrecht, Stand: Dezember 2021, § 75 BetrVG Rn. 68.
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D. Im Hintergrund: Aporien einer Kategorie politischer Anschauung
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Ansprüche auf staatliche Leistungen, etwa auf Zugang zu öffentlichen Einrichtungen 102 oder Zuteilung von anderen öffentlichen Leistungen im Rahmen des Wahlkampfs, können von Parteien im Wege verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes durchgesetzt werden.147 Streitigkeiten um die Beteiligung an der staatlichen Parteienfinanzierung dürften regelmäßig nicht um Ungleichbehandlungen aufgrund politischer Anschauung geführt werden, sondern um formale Fragen der Gewährung von Parteienfinanzierung. Ähnliches gilt für das Verfahren nach § 18 Abs. 4a BWahlG. Das Verfahren nach Art. 21 Abs. 4 i. V. m. Abs. 3 GG wiederum betrifft nicht im engeren Sinne Fragen der Gleichbehandlung, berührt solche allerdings. In verfahrensrechtlicher Hinsicht können legislative Verstöße gegen politische Gleich- 103 behandlungsansprüche, soweit Grundrechte betroffen sind, zum Beispiel im Wahlrecht, im Wege der Verfassungsbeschwerde bzw. im Wahlprüfungsverfahren gerügt werden.148 Für politische Parteien tritt, soweit es um Rechte aus Art. 21 GG geht, parallel auch der Organstreit hinzu.149 Das Bundesverfassungsgericht kann im Verfahren der Verfassungsbeschwerde ein Wiederholungsverbot aussprechen, § 95 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG. Ansonsten spielt in der Praxis öffentlich-rechtlicher Leistungsgewährung an politische Parteien der Verwaltungsrechtsschutz eine wichtige Rolle, etwa gegen Entscheidungen des Bundestagspräsidenten im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung.150 3. Proaktive Rechtsfolgen
Zu den besonderen Eigenschaften des Antidiskriminierungsrechts zählt, dass es proaktive 104 Maßnahmen der Gleichstellungsförderung kennt.151 Proaktive Maßnahmen (auch: positive Maßnahmen, affirmative action) zielen darauf, in der Vergangenheit besonders diskriminierte Gruppen nicht nur nicht mehr zu diskriminieren, sondern sie besonders zu fördern.152 In ihnen kommt der besondere Anspruch von antidiskriminierungsrechtlichen Normen zum Ausdruck, nicht bloß formale Gleichheit, sondern materiale Gleichheit zu verwirklichen. Die zugleich bekannteste wie umstrittenste Maßnahme ist die Geschlechtsquotierung von Arbeitsplätzen, Funktionen und Ämtern, um dadurch dem Gleichstellungsauftrag aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG nachzukommen.153 147 Morlok/Merten (Fn. 120), S. 234 f. 148 BVerfGE 34, 81 – Wahlgleichheit (1972); BVerfGE 82, 322 (335) – Gesamtdeutsche Wahl (1990);
Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Januar 2021, Art. 38 Rn. 168 ff.; Grünewald, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, Stand: Juli 2021, § 90 Abs. 1 Rn. 87; Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 38 Rn. 16; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 38 Rn. 5; zur Wahlprüfung siehe BVerfG v. 15.12.2020, 2 BvC 46/19 – Parität. 149 BVerfGE 1, 208 (223 ff.) – Sperrklausel (1952); BVerfGE 4, 27 (30 f.) – Klagebefugnis politischer Parteien (1954); BVerfGE 51, 222 (299) – Fünf-Prozent-Klausel (1979); BVerfGE 84, 290 (299) – Treuhandanstalt I (1991); BVerfGE 111, 382 (398) – Drei-Länder-Quorum (2004); Trute (Fn. 148), Art. 38 Rn. 16; Morlok (Fn. 50), Art. 21 Rn. 48; ders./Merten (Fn. 120), S. 227 ff. 150 Zur Rolle des Bundestagspräsidenten siehe Pilniok, Der Bundestagspräsident als Parteienfinanzierungsbehörde, in: Krüper (Hrsg.), Die Organisation des Verfassungsstaats, 2019, S. 413 ff. 151 → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 122 ff.; → Schuler-Harms, § 16 Rn. 1 ff. 152 Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 234 f. 153 Pfarr, Quoten und Grundgesetz, 1988; Huster, Frauenförderung zwischen individueller GerechtigJulian Krüper
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
Was die proaktive Förderung von Gruppen betrifft, die durch gemeinsame politische Anschauung ihrer Mitglieder gebildet werden, sind dem Staat allerdings engste Grenzen gezogen. Zwar ist ihm die Förderung bestimmter im vorpolitischen Raum angesiedelter Initiativen erlaubt, etwa der politischen Stiftungen.154 Ein Eingriff in den politischen Wettbewerb im engeren Sinne ist ihm aber aus Gründen seiner politischen Neutralität versagt. Deutlich wird dies am Grundsatz der abgestuften Chancengleichheit politischer Parteien nach § 5 Abs. 1 Satz 2 ParteienG, demzufolge staatliche Leistungen an Parteien nach dem Grad ihrer Bedeutung abgestuft werden können. Gradmesser dieser Bedeutung ist ihr Abschneiden bei Wahlen, § 5 Abs. 1 Satz 3 ParteienG. Mit der Bezugnahme auf die Wahlergebnisse wird sichergestellt, dass bei der Förderung politischer Parteien keine demokratiefremden Erwägungen eine Rolle spielen, der Staat also nicht selbst Fördermaßstäbe entwickeln darf. Zugleich muss er dort, wo er fördernd und damit stabilisierend in die Struktur der politischen Ordnung eingreift, dafür sorgen, dass keine Petrifizierung dieser Strukturen stattfindet und neuen Wettbewerbern die Etablierung am ‚politischen Markt‘ möglich bleibt.155 Dementsprechend ist auch über die Zulassung politischer Parteien und Vereinigungen zu öffentlichen Einrichtungen nicht auf Grundlage ihrer inhaltlichen Position zu befinden.
E. Ergebnis 106
Der Schutz politischer Anschauung von Menschen ist ausdrücklich Gegenstand zentraler gleichheitsrechtlicher Gewährleistungen des nationalen wie des internationalen Rechts. Praktisch bedeutsam werden diese Garantien allerdings selten, weil der Schutz politischer Anschauung in der Praxis eher über Freiheitsrechte wie die Meinungs-, Versammlungsoder Vereinigungsfreiheit erfolgt, die besonders in ihrer politischen Dimension als Garantien gleicher Freiheit zu verstehen sind. Die relative Bedeutungslosigkeit gleichheitsrechtlicher Garantien des politischen Anschauungsschutzes ist aber nicht allein Ausdruck einfacheren oder effizienteren Rechtsschutzes über die Freiheitsrechte, sondern verweist auf grundlegende Probleme im antidiskriminierungsrechtlichen Schutz politischer Anschauung. Diese Probleme führen dazu, dass politische Anschauung zwar ein bestehendes, dogmatisch aber wenig überzeugendes Anknüpfungsmerkmal einer eigenen Kategorie im keit und Gruppenparität, AöR 118 (1993), S. 109; Sacksofsky (Fn. 152), S. 167 ff.; Döring, Frauenquoten und Verfassungsrecht, 1996; Schubert, Affirmative Action und Reverse Discrimination, 2003; Scheinert, Quotennormen im Arbeitsrecht unter besonderer Berücksichtigung von Geschlechter- und Schwerbehindertenquoten, 2009; Schmidt, Quotenorientierte Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen nach § 5 AGG, 2012; → Schuler-Harms, § 16 Rn. 62 ff. 154 BVerfGE 73, 1 – Politische Stiftungen (1986); Morlok/Merten (Fn. 120), S. 207 f. 155 Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren bei zwei Gelegenheiten deutlich gemacht, dass die Zulassung zum politischen Wettbewerb nicht durch zu hohe Hürden verstellt werden darf. Im Bereich der Parteienfinanzierung hat es das sogenannte 3-Länder-Quorum verworfen (BVerfGE 111, 382 – Drei-Länder-Quorum (2004)); in den mehreren Verfahren nach § 18 Abs. 4a BWahlG hat das BVerfG 2013 deutlich gemacht, dass die für die Anerkennung als Parteien zu stellenden Anforderungen an Wahlbewerber, bei aller notwendigen Strenge, nicht überzogen werden dürfen. Julian Krüper
E. Ergebnis
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Antidiskriminierungsrecht ist. Der Begriff der Kategorie wird dabei verstanden als Verbundbegriff, unter dem alle mit dem antidiskriminierungsrechtlichen Schutz eines bestimmten Anknüpfungsmerkmals verbundenen Fragen erörtert werden – des Tatbestands, der Verpflichteten und der Rechtsfolgen einer solchen Kategorie. Vor allem im Hinblick auf eine Kategorie politischer Anschauung als Tatbestands- 107 merkmal von antidiskriminierungsrechtlichen Normen stellen sich grundsätzliche Fragen. Zunächst fällt die dogmatisch belastbare Fixierung des Politischen als Element der politischen Anschauung schwer: Macht allein der Bezug auf die Polity, auf Politics oder Policy eine Auffassung zu einer politischen – und welche Abgrenzung wäre damit erbracht? Oder ist weitergehend auch das Private politisch im Sinne zivilgesellschaftlicher Emanzipationsbestrebungen wie etwa der zweiten Frauenbewegung? Ungeachtet dieser materiellen Konkretisierungsprobleme zeigt sich, dass eine eigenständige Kategorie politischer Anschauung quer steht zu etablierten Kategorien des Antidiskriminierungsrechts. Diese weisen strukturelle Ähnlichkeiten auf, weil sie an ein Element der Evidenz anknüpfen, historisch tradierte und sozial verfestigte Diskriminierungen zum Gegenstand haben, ein tatsächlich oder normativ indisponiblen Kern aufweisen und in ihrer Anlage geeignet sind, essentialistisch überhöht zu werden. Politische Anschauung als Anknüpfungsmerkmal einer eigenen Kategorie entspricht dieser Struktur nicht: Nicht nur fehlt es politischer Anschauung oder anschauungsgetragenem Handeln an spezifischer Evidenz, weil die Formen politischen Handelns inhaltsneutral sind; es lassen sich auch keine historischen Tradierungen und sozialen Verfestigungen von Diskriminierungen spezifischen politischen Handelns ausmachen. Der wesentliche Grund liegt im Bezug politischer Auffassungen auf das politische System, dessen legitime Dynamik von Inklusion und Exklusion auf politische Auffassungen durchschlägt und diese ihrerseits dynamisiert. Damit fehlt etwaigen Ungleichbehandlungen politischer Auffassungen ein fester Anknüpfungspunkt, über den sie zu dauerhaft tradierten Diskriminierungen werden können. Im Unterschied zu tatsächlich oder normativ indisponiblen Anknüpfungsmerkmalen wie dem Geschlecht, der Rasse, aber auch der Religion, genießen politische Auffassungen auch nicht denselben Indisponibilitätsschutz. Als geistige Disposition mit Immanenzbezug reagieren sie auf Veränderungen in den Bedingungen des politischen Systems und passen sich diesen Veränderungen an. Schließlich sind politische Auffassungen auch nicht geeignet, in einer übersteigerten Weise essentialisiert zu werden, weil ihre Imagination als natürlich von vornherein nicht gegeben ist. Dass sich politische Anschauungen nach alldem nicht bruchlos in die Dogmatik einer 108 antidiskriminierungsrechtlichen ‚Kategorienlehre‘ fügen, ist nicht erstaunlich, weil es der politischen Anschauung im Vergleich mit etablierten Kategorien des Antidiskriminierungsrechts an einem spezifischen Personalitätsbezug gebricht. Individuell mögen politische Überzeugungen von hoher und höchster Wichtigkeit sein, regelhaft liegen sie aber nicht so nah am Kern der Persönlichkeit wie die etablierten Kategorien in antidiskriminierungsrechtlichen Normen. Politische Auffassungen sind – anders als etwa religiöse Bekenntnisse – Aussagen über die Anderen und das Andere der res publica. Sie sind als solche schutzwürdig, aber nicht im Sinne des Antidiskriminierungsrechts. Mit alldem ist keineswegs ausgeschlossen, dass politische Auffassungen oder von politischen AuffasJulian Krüper
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§ 12 Politische Anschauung im Antidiskriminierungsrecht
sungen getragenes Handeln Gegenstand von Ungleichbehandlungen wird. Will das Antidiskriminierungsrecht im Interesse dogmatischer Kohärenz aber an einer einigermaßen konturierten Unterscheidung von (rechtmäßigen und rechtswidrigen) Ungleichbehandlungen einerseits und Diskriminierungen andererseits festhalten, muss dies Einfluss auf die dogmatische Konzeption seiner Kategorien haben. Der spezifische Unwert diskriminierender Ungleichbehandlungen ist dabei das kennzeichnende Merkmal der Kategorien antidiskriminierungsrechtlicher Normen. Er ergibt sich aus dem Zusammenspiel der vier Strukturelemente einer Kategorie und ist für das Anknüpfungsmerkmal der politischen Anschauung nicht hinreichend ersichtlich. 109 Auch auf Ebene möglicher Verpflichteter und Rechtsfolgen fügt sich eine Kategorie politischer Anschauung nicht bruchlos in die Logik des Antidiskriminierungsrechts. Dass der demokratische Staat gegenüber politischen Auffassungen und politischem Handeln neutral-distanziert sein muss, ist eine Selbstverständlichkeit. Die Gleichheitsgarantien, die vor allem das Recht der Politik hier vorsieht, sichern dies. Dass im Verhältnis von Privaten als politischen Privaten ein entsprechender Schutz politischer Auffassung angezeigt wäre, ist nicht ersichtlich. Die politische Auseinandersetzung in der Demokratie muss eine Auseinandersetzung gewillkürter Freiheit sein, um Legitimation zu gewährleisten. Dies umfasst auch eine diskriminierende oder voreingenommene Ausübung individueller Freiheit im Privatrechtsverkehr. Im Rahmen privater Tendenzbetriebe kommt ein politischer Anschauungsschutz im Tendenzbereich des jeweiligen Betriebs nicht in Betracht. Ausnahmen bestehen dort, wo Private nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen öffentlichen Raum im Sinne eines öffentlichen Forums eröffnen – sei es eine FlughafenMall, ein Fußballstadion oder eine Plattform in sozialen Medien. Ein Spezifikum von Antidiskriminierungsrecht sind seine proaktiven Rechtsfolgen, also 110 positive Fördermaßnahmen für strukturell diskriminierte Gruppen. Wie wenig eine Kategorie politischen Anschauungsschutzes sich in das bestehende Antidiskriminierungsrecht fügt, zeigt sich daran, dass proaktive Rechtsfolgen im Sinne einer Förderung bestimmter Auffassungen – und eben nicht wie bei der staatlichen Finanzierung politischer Stiftungen ‚aller‘ Anschauungen – mit den gesteigerten Neutralitätsanforderungen des Staates im politischen Wettbewerb nicht vereinbar wären. Nicht nur fehlt es an Tradierung und Verfestigung struktureller Diskriminierung bestimmter politischer Auffassungen – es sind vor allem keine Kriterien erkennbar, anhand derer eine verlässliche und nicht wettbewerbsverzerrende Auswahl förderungswürdiger Auffassungen erfolgen könnte. 111 Im Ganzen zeigt sich, dass sich der Schutz politischer Auffassungen unter demokratischen und rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht durch Antidiskriminierungsrecht, sondern durch die strikte und konsequente Gewährleistung formaler Gleichheit politischer Auffassungen und auffassungsgestützten Handelns adäquat gewährleistet werden kann. Eine Situation, in der ein solcher Anschauungsschutz mit Mitteln des Antidiskriminierungsrechts bewerkstelligt werden müsste, ist nicht zu wünschen, weil in ihr seine demokratisch-rechtsstaatliche Prämissen selbst entfallen wären.
Julian Krüper
§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung Elisabeth Holzleithner* Inhaltsübersicht Rn. A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Phänomene und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Struktur desTextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 2 5
B. Geschichte und Theorien von Intersektionalität (Mehrdimensionalität) . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Intersektionalität avant la lettre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Intersektionale Diskriminierung vor Gericht: Eine wechselvolle Geschichte (USA) . . . . . . 1. DeGraffenreid und „Pandora’s Box“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Jefferies und die „Geschlecht-plus“-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wie viele Gründe dürfen es sein? Judge v. Marsh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Intersektion, die zählte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ein dynamisches Feld: Theorie und Praxis intersektionaler Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Bild der Intersektion: Im „toten Winkel“ des Antidiskriminierungsrechts . . . . . . . . . 2. Kategorien: Normativ konstituiert, intersektional angereichert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kategorieninteraktionen: Über die Matrix der Unterdrückung zurück zur Kreuzung . . . IV. Begriffe und Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Alternativ-sequenzielle Diskriminierung einer Person aus unterschiedlichen Gründen . 2. Kumulative (additive) Mehrfachdiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Intersektionale (synergistische) Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kollisionen von Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7 8 12 13 16 20 22 24 25 29 33 37 39 40 43 48
C. Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung im EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Hierarchisiertes EU-Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Diskriminierungsbegriffe im EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unmittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Intersektionalität und die Judikatur des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Intersektion von sexueller Diskriminierung und Alter: Parris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der einseitige Fokus auf Religion in den „Kopftuchfällen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mittelbare oder unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Religion . . . . . . . . . . . . . . b) Zu einer angemessenen Konzeption intersektionaler Diskriminierung in „Kopftuchfällen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50 51 57 58 64 66 67 75 76 82
* Mein herzlicher Dank ergeht an die Herausgeber*innen, Katharina Mangold und Mehrdad Payandeh,
sowie an Nikolaus Benke, Christian Demmelbauer, Kati Danielczyk, Emanuel Lerch, Paola Lopez, Ines Rössl und Maria Sagmeister: für aufmerksame Lektüre, konstruktive Kritik und eine Fülle von Anregungen und Verbesserungsvorschlägen. Elisabeth Holzleithner
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§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
D. Intersektionale Belästigung: EGMR und darüber hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
E. Eine intersektionale Vision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
A. Einleitung 1
Das Antidiskriminierungsrecht hat zum Ziel, Benachteiligungen aus verpönten Gründen hintanzuhalten – nämlich Benachteiligungen, die auf bestimmten Kategorien der Identifikation beruhen. Wer sich mit Blick auf vom Recht anerkannte Kategorien als diskriminiert erachtet, soll dies rechtlich geltend machen können. Zunehmend setzt sich nun die Einsicht durch, dass Diskriminierung sehr häufig nicht nur auf einer Kategorie, sondern auf (dem Zusammenwirken von) mehreren Kategorien beruht. In den Fokus rücken somit Konstellationen, in denen mehr als eine Diskriminierungskategorie im Spiel ist – und es werden Personen adressiert, die von mehr als einer Diskriminierungskategorie betroffen sind. Diese Problematik kann ganz allgemein mit dem Begriff der mehrdimensionalen Diskriminierung erfasst werden; im EU-Recht ist typischerweise von Mehrfachdiskriminierung die Rede. Speziell mit Blick auf das synergistische Zusammenwirken von Kategorien wird von intersektionaler Diskriminierung gesprochen. Die zentrale Frage für das Antidiskriminierungsrecht lautet in diesem Zusammenhang: Wie können die Diskriminierungen derjenigen, die Benachteiligungen aus (Konglomeraten von) mehreren Gründen unterliegen, wahrnehmbar gemacht, und wie kann bestmögliche Abhilfe geschaffen werden?1 I. Phänomene und Herausforderungen
2
Die Begriffe mehrfache, mehrdimensionale und intersektionale Diskriminierung bezeichnen hoch komplexe Phänomene, die im Kontext der Legal Gender Studies, der Critical Race Studies und des Critical Race Feminism seit langem bearbeitet werden. Die Frage nach dem Kumulieren und Zusammenwirken mehrerer Diskriminierungsgründe ist keineswegs rein akademisch: Aus dem Eurobarometer Spezial 2015 zu Diskriminierung in der Europäischen Union geht hervor, dass etwa ein Viertel aller erlebten Fälle auf (der Interaktion von) mehreren Kategorien basiert.2 Aber ist das Recht imstande, darauf angemessen zu antworten? Einschlägige Judikatur gibt es, zumal in den Vereinigten Staaten, seit den 1970er Jahren. Besondere Aufmerksamkeit erhielten Fälle, in denen sich eine Diskriminierung aus dem synergistischen Zusammenwirken von zwei oder mehreren Gründen ergibt. Basierend auf der Analyse von Kimberlé Crenshaw werden sie als intersektionale Diskriminierung charakterisiert.3 Der Begriff taucht heute in UN-Dokumenten4 ebenso auf wie in 1 Getreu einer Bemerkung von Atrey, Intersectional Discrimination, 2019, S. 197: „All the fuss about get-
ting intersectional discrimination right is ultimately about fixing it.“
2 Europäische Kommission, Eurobarometer Spezial 437: Diskriminierung in der Europäischen Union,
2015, S. 8.
3 Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminst Critique of Antidiscrimina-
tion Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, The University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139. Elisabeth Holzleithner
A. Einleitung
545
Aktionsplänen der Europäischen Kommission zur Bekämpfung von Diskriminierung und signifiziert üblicherweise das Zusammentreffen mehrerer Diskriminierungskategorien.5 Crenshaws begrifflicher Vorschlag6 wurde in der Folge über die Rechtswissenschaften 3 hinaus in vielen Disziplinen aufgegriffen.7 So ist es üblich geworden, Probleme der Geschlechterdiskriminierung aus intersektionaler Perspektive zu analysieren,8 das heißt, unter Einbeziehung weiterer Kategorien der Unterdrückung. Überhaupt ist die Intersektionalität zu einem zentralen, wenn nicht zum bevorzugten Ansatz in der Ungleichheitsforschung geworden.9 Crenshaw hat den Begriff der Intersektionalität geprägt, sie war aber nicht die einzige und auch nicht die erste, die sich mit dem Zusammenwirken von Diskriminierungskategorien befasst hat. Bereits Mitte des 20. Jahrhunderts hatte Pauli Murray mit der Figur der „Jane Crow“ die doppelte Benachteiligung von Schwarzen Frauen durch Rassismus und Sexismus thematisiert.10 Parallel zu Crenshaws maßgeblichen Texten entstanden Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre etliche Arbeiten, die das Zusammenwirken von Gender und Race in Recht und Gesellschaft thematisierten.11 Zusätzlich 4 Insbesondere im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behin-
derungen (UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK); siehe Degener, Die UN-Behindertenrechtskonvention als Inklusionsmotor, RdjB 2009, S. 200; dies., Intersections between disability, race and gender in discrimination law, in: Schiek/Lawson (Hrsg.), EU Non-Discrimination Law and Intersectionality, 2011, S. 29. Zur Intersektionalität auf Ebene der UN siehe Crenshaw, Das Konzept der Intersektionalität und seine Bedeutung für die Menschenrechte. Kommentiert und übersetzt von Kalny, zfmr 2021, S. 142. 5 Europäische Kommission, Hin zu einer Union der Gleichheit: Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020–2025, 5.3.2020, FS/20/370; Europäische Kommission, Eine Union der Gleichheit: EU-Aktionsplan gegen Rassismus 2020–2025, 18.9.2020, COM(2020) 565 final, S. 3. Es ist bemerkenswert, dass in der deutschen Übersetzung „intersectional“ an einer Stelle als „bereichsübergreifend“ (S. 18) wiedergegeben wird. 6 Zur Weiterentwicklung und Anwendung siehe Crenshaw, Mapping the Margins, Stanford Law Review 43 (1991), S. 1241. Siehe auch Crenshaw, Postscript, in: Lutz u. a. (Hrsg.), Framing Intersectionality, 2016, S. 221. 7 Zum Überblick siehe Meyer, Theorien der Intersektionalität, 2016. 8 Berger/Guidroz, in: Berger/Guidroz (Hrsg.), The Intersectional Approach, 2009, S. 1: „Wherever one looks in women’s and gender studies […] intersectionality is being theorized, applied or debated.“ Siehe auch Atrey (Fn. 1), S. 1: „intersectionality […] has become the go-to metaphor and theory for understanding the complexity of interaction between multiple forms of disadvantage based on race, colour, ethnicity, religion, caste, sex, gender, sexual orientation, disability, age, etc.“ 9 Gleichzeitig boomt auch die Kritik am Intersektionalitätsansatz; bisweilen ist gar von „intersectionality wars“ die Rede, und es wird eine Welt „after intersectionality“ imaginiert; vgl. Nash, Black Feminism Reimagined, 2019, S. 33 ff. 10 Murray, Jim Crow and Jane Crow, in: Lerner (Hrsg.), Black Women in White America, 1992 (1972), S. 592. Zum Anstoß für die Analysekategorie „Jane Crow“ siehe Murray, Song in a Weary Throat, 2018, S. 236. Ausführlich dazu Rosenberg, Jane Crow, 2017, S. 113 ff. 11 Schiek, On uses, mis-uses and non-uses of intersectionality before the Court of Justice (EU), International Journal of Discrimination and the Law 2018, S. 98, Endnote 3, spricht vom Phänomen der „co-original identification of intersecting inequalities“. Siehe etwa Austin, „Sapphire Bound!“, Wisconsin Law Review 1989, S. 539; Collins, Black Feminist Thought, 1990; Harris, Race and Essentialism in Feminist Legal Theory, Stanford Law Review 42 (1990), S. 581; Matsuda, Beside My Sister, Facing the Enemy, Stanford Law Review 43 (1991), S. 1183; Scales-Trent, Black Women and the Constitution, Harvard Civil Rights – Civil Liberties Law Review 24 (1989), S. 9; Smith, Separate Identities, Harvard Women’s Law Journal 14 (1991), S. 21; Williams, Alchemical Notes. Reconstructing Ideals from Reconstructed Rights, Harvard Elisabeth Holzleithner
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§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
wurden immer wieder systemische Benachteiligungen aus sozioökonomischen Gründen thematisiert – unter dem Begriff der Class.12 Mittlerweile hat sich die Forschung im Bereich der Mehrfachdiskriminierung signifikant verbreitert und erfasst das Zusammenspiel einer Vielzahl von Diskriminierungsgründen – in der Theorie wie in der Praxis.13 4 Auch soziale Bewegungen, die gegen Unterdrückung und Ausgrenzung vorgehen, haben das Potenzial von intersektionalen Zugängen erkannt. Darin steckt das Ansinnen, inklusiv zu sein und nicht über eine verengte Wahrnehmung von Kategorien, die zur politischen Mobilisierung dienen sollen, Ausschlüsse vorzunehmen.14 So tritt etwa eine intersektionale feministische Bewegung an, nicht bloß die Interessen von „but for“-Frauen15 zu vertreten – Frauen also, die mit Ausnahme ihres Geschlechts nicht benachteiligt sind.16 Neben vielen anderen NGOs und Initiativen17 hat auch das Mission Statement der „Women’s Marches“18 den Begriff der Intersektionalität enthalten; solche Märsche wurden nach der Wahl von Donald Trump zum US-amerikanischen Präsidenten regelmäßig abgehalten und brachten im Jahr 2017 Millionen Menschen nicht nur in den USA, sondern in vielen Teilen der Welt auf die Straße.19 Auch in der #MeToo-Debatte – der Slogan stammt von der Schwarzen Aktivistin Tarana Burke und wurde als Hashtag #MeToo von der Schauspielerin Alyssa Milano auf Twitter popularisiert – wurde immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, die mediale Aufmerksamkeit nicht bloß auf das Erleben weißer Schauspielerinnen zu fokussieren.20 Der Hinweis auf die politische Praxis der Intersektionalität sei in diesem rechtswissenschaftlichen Handbuch gestattet. Denn einschlägige Theorien, Analysen und Konzepte sind aus der Praxis sozialer Bewegungen erwachsen21 und haben den Anspruch, auch die politische Praxis anzuleiten.22 Civil Rights – Civil Liberties Law Review 22 (1987), S. 401; dies., The Alchemy of Race and Rights, 1991; Wing, Brief Reflections toward a Multiplicative Theory and Praxis of Being, Berkeley Women’s Law Journal 6 (1990), S. 181. 12 Siehe bereits Crenshaw (Fn. 3). 13 Chege, Multidimensional Discrimination in EU Law, 2011; Graham, Social Identity and the Law, 2019; Belavusau/Henrard (Hrsg.), EU Anti-Discrimination Law Beyond Gender, 2018; Kriszan/Hege/ Squires (Hrsg.), Institutionalizing Intersectionality, 2012; MacDonald/Osborne/Smith (Hrsg.), Feminism, Law, Inclusion, 2005; Philipp u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014; Schiek/Chege (Hrsg.), European Union Non-Discrimination Law, 2009; Schiek/Lawson (Hrsg.), EU Non-Discrimination Law and Intersectionality, 2011. 14 Ein schönes Beispiel dafür ist die Kampagne zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in Irland. Dazu, wie Intersektionalität zum Dreh- und Angelpunkt von Solidarität im Einsatz für reproduktive Rechte wurde, siehe de Londras, Intersectionality, Repeal and Reproductive Rights in Ireland, in: Atrey/ Dunne (Hrsg.), Intersectionality and Human Rights Law, 2020, S. 125. 15 So schon Crenshaw (Fn. 3), S. 151. 16 Als Beispiel für solch einen Ansatz gilt Sandberg, Lean In, 2013. 17 Siehe Hancock, Intersectionality, 2016, S. 3. 18 https://womensmarchglobal.org/about/. 19 Cantalupo, And Even More of Us Are Brave, Harvard Journal of Law & Gender 42 (2019), S. 1. 20 Trott, Networked feminism: counterpublics and the intersectional issues of #MeToo, Feminist Media Studies 2020, S. 1; Villa, Die #MeToo-Debatte, POP. Kultur und Kritik, 2018, S. 79. 21 Siehe dazu Hancock (Fn. 17), S. 37 ff. 22 Diese Verflechtung von rechtlich-politischem Aktivismus und rechtswissenschaftlichen Analysen Elisabeth Holzleithner
A. Einleitung
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II. Struktur desTextes
Die folgenden Ausführungen beginnen mit einer Skizze der Vorgeschichte von Intersek- 5 tionalität (B. I.). In den Fokus rücken sodann jene Gerichtsurteile, die Anlass für die Entwicklung des Konzepts der Intersektionalität waren. Es wird gezeigt, welche Phänomene intersektionaler Diskriminierung Gerichte fähig waren zu sehen – und vor welchen sie sich (zunächst) verschlossen haben (B. II.). Anknüpfend daran werden theoretische Positionen dargelegt, die auf je unterschiedliche Weise versuchen, das Zusammenwirken von Kategorien zu erfassen. Dies gibt Anlass für eine Reflexion auf den Begriff der Kategorie selbst. Bei den darunter subsumierten Merkmalen, Überzeugungen und Verhaltensweisen handelt es sich ja nicht um wesenhafte Einheiten – vielmehr sind sie in ganz grundlegender Weise sozial konstituiert. Die Schlüsselbegriffe sind hier die normative Konstitution der Kategorien als Gegenstand rechtlicher Betrachtung und deren intersektionale Anreicherung mit anderen Kategorien (B. III.). Darauf aufbauend werden die zentralen Begriffe dieses Beitrags als Begriffe des Antidiskriminierungsrechts im engeren Sinn skizziert: mehrfache, mehrdimensionale und intersektionale Diskriminierung – und die Konstellationen, die damit erfasst werden sollen: insbesondere das sequenzielle, additiv-kumulative und intersektionale Auftreten von Kategorien sowie deren etwaige Kollisionen (B. IV.). Vor diesem Hintergrund wird primär das EU-Antidiskriminierungsrecht, das für ein- 6 zelne Diskriminierungskategorien unterschiedliche Regelungen vorsieht, auf seine Tauglichkeit im Umgang mit solchen Herausforderungen untersucht (C. I.). Nach einer kurzen Skizze der einschlägigen Regelungen (C. II.) wird auf einige vom EuGH entschiedene einschlägige Fälle eingegangen: In Parris23 war die Intersektion von Alter und sexueller Orientierung auf dem Prüfstand – dies ist, mit Stand Ende 2021, der einzige Fall, in dem eine Diskriminierung aufgrund des synergistischen Zusammenwirkens zweier Gründe erwogen (und abgelehnt) wurde. Mittlerweile vier Judikate – G4S Secure Solutions,24 Bougnaoui,25 WABE e. V. und MH Müller26 – betreffen die Diskriminierung muslimischer Frauen, die aus religiösen Gründen eine Kopfbedeckung tragen. Den Fällen liegen unterschiedliche Varianten von Verboten zugrunde; der EuGH fokussierte in seinen Entscheidungen jeweils ausschließlich auf eine mögliche Diskriminierung aufgrund der Religion. Andere naheliegende Diskriminierungskategorien – Geschlecht und Race/ethnische Herkunft – wurden nicht miteinbezogen (C. III.). Anschließend an eine kritische Analyse der EuGH-Judikate wird ein Konzept entwickelt, das einen angemessenen Umgang mit Fällen intersektionaler Diskriminierung ermöglichen soll. Dabei wird besonderes Augenmerk auf die normative Konstitution der Diskriminierungskategorien gelegt. Es folgt ein kurzer Abschnitt zur Judikatur des EGMR, der in B. S. v. Spanien27 eine intersektionale Analyse positionaler betonen auch Matsuda/Lawrence/Delgado/Crenshaw, Words That Wound, 1993, S. 3. Ebenso Dhamoon, Considerations on Mainstreaming Intersectionality, Political Research Quarterly 64 (2011), S. 230 (240). 23 EuGH, Urt. v. 26.11.2016, Rs. C-443/15, Parris. 24 EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, G4S Secure Solutions. 25 EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-188/15, Bougnaoui. 26 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, verb. Rs. C-804/18, C-341/19, WABE und MH Müller. 27 EGMR, Urt. v. 22.10.2012, Beschwerde-Nr. 47159/08, B. S. v. Spanien. Elisabeth Holzleithner
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§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
Vulnerabilität vorgenommen hat und derart der intersektionalen Herausforderung gerecht geworden ist (D.). Abschließend wird gefragt, ob es einer eigenen rechtlichen Regelung bedarf, um gegen Diskriminierungen infolge (des Zusammenwirkens) mehrerer Kategorien angemessen vorgehen zu können, und inwiefern das Recht überhaupt dafür geeignet ist, gegen gesellschaftlich etablierte Systeme der Ungleichheit vorzugehen (E.).
B. Geschichte und Theorien von Intersektionalität (Mehrdimensionalität) 7 Als Kimberlé Crenshaw Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre ihre zwei mittlerweile
berühmten Texte zum Zusammenwirken von Race, Geschlecht und auch Class veröffentlichte,28 traf sie einen Nerv. Cho kommentiert treffend: „Building upon the foundation of writing by radical feminists of color, the timing of Crenshaw’s two articles was impeccable, the analysis compelling, and the applications infinite.“29 Worum ging es Crenshaw, und auf welche Vorgedanken konnten sie und ihre Kolleginnen in den Rechtswissenschaften aufbauen? Zwei Punkte sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Zum einen machten Schwarze Frauen in sozialen Bewegungen regelmäßig die Erfahrung, an den Rand gedrängt zu werden und mit ihren Anliegen unterzugehen. Das galt für die von Schwarzen Männern dominierte Bürgerrechtsbewegung30 ebenso wie die von weißen Frauen dominierte feministische Bewegung.31 Diese Erfahrung schien sich, zum anderen, in den rechtlichen Bemühungen Schwarzer Frauen im Kampf gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz zu wiederholen. I. Intersektionalität avant la lettre
8 Zwischen den Stühlen zu sitzen und die mangelnde Sichtbarkeit eigener Anliegen war und
ist eine zentrale Erfahrung Schwarzer Frauen. Treffend brachte die erste Anthologie aus den Black Women’s Studies dies auf den Punkt: „All the Women Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave“.32 Tatsächlich gab es in der Frauenbewegung widersprüchliche Tendenzen. An ihren Anfängen steht in den USA, aber auch in Europa, ein vehementer Einsatz gegen die Sklaverei: Viele Frauenrechtlerinnen waren Abolitionist*innen33 – darunter Olympe de Gouges, die mit ihrer Erklärung der Frauen- und BürgerinCrenshaw (Fn. 3); Crenshaw (Fn. 6). Cho, Post-Intersectionality, Du Bois Review 10 (2013), S. 385 (387). Siehe durchgängig Murray, Song (Fn. 10). Einschlägige Erfahrungen des Ausschlusses machten und machen auch Schwarze und migrantische Frauen in Deutschland und Österreich: Ayim/Oguntoye/Schultz, Farbe bekennen, 2016; FeMigra, Wir, die Seiltänzerinnen, 1994. Siehe dazu Dressel, Intersektionalität und weißsein, 2018. 32 Hull/Scott/Smith (Hrsg.), All the Women Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave, 1982. Siehe auch hooks, Ain’t I a Woman?, 1981, S. 140: „In much of the literature written by white women on the ‚woman question‘ from the nineteenth century to the present day, authors will refer to ‚white men‘ but use the word ‚woman‘ when they really mean ‚white woman‘. Concurrently, the term ‚blacks‘ is often made synonymous with black men.“ 33 Hersh, The Slavery of Sex, 1975. 28 29 30 31
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B. Geschichte und Theorien von Intersektionalität (Mehrdimensionalität)
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nenrechte während der Französischen Revolution in die Geschichte eingegangen ist,34 die weißen Grimké-Schwestern,35 aber auch Schwarze Aktivist*innen wie Harriett Tubman36 und Frederick Douglass37 in den USA des 19. Jahrhunderts. Dennoch gab es auch in der frühen Bewegung für Frauenrechte stark rassistische Ten- 9 denzen. Sie zeigten sich etwa am Ablauf der Ereignisse jenes Tages während der women’s convention in Akron, Ohio, 1851, als Sojourner Truth, eine ehemals versklavte Schwarze Frau,38 jene Rede hielt, die zu den Gründungsdokumenten intersektionalen Denkens zählt: „Ain’t I a Woman?“39 Sojourner Truth rettete offenbar im Alleingang die Versammlung, die von einer Gruppe feindseliger Männer durch verächtliche Zwischenrufe gestört wurde. Die Provokateure hatten sich über die Forderungen von Frauen nach Rechten lustig gemacht, wo man ihnen doch sogar über eine Pfütze helfen müsse. Auch gegen den Widerstand der anwesenden weißen Frauen40 und mit einer Stimme wie „rolling thunder“41 hielt Sojourner Truth der johlenden Menge ihre Erfahrungen als schwerstarbeitende versklavte Frau entgegen und wiederholte immer wieder, refrainartig, „and ain’t I a woman?“ Ohnehin kamen die Stereotypen zerbrechlicher bürgerlicher Weiblichkeit nur für eine sehr kleine Schicht von Frauen in Frage, und das Podest, auf das einige wenige42 gestellt wurden, konnte sich für alle Frauen als Käfig erweisen.43 34 De Gouges, Reflexionen über die versklavten schwarzen Menschen [Réflexions sur les hommes Nè-
gres], in: de Gouges, Die Rechte der Frau und andere Texte, 2018, S. 7. Grimké/Grimké, On Slavery and Abolitionism, 2015. Siehe Clinton, Harriet Tubman, 2004, S. 191 ff. Siehe Davis, Women, Race & Class, 2019, S. 26 ff. Truth, Narrative of Sojourner Truth: A Northern Slave, 2008. Veröffentlicht zunächst durch den Journalisten Marius Robinson im Anti-slavery bugle v. 21.6.1851, S. 160; https://chroniclingamerica.loc.gov/lccn/sn83035487/1851-06-21/ed-1/seq-4/; für eine andere Version siehe https://www.thesojournertruthproject.com/compare-the-speeches/. 40 So Gage, Reminiscences: Sojourner Truth, in: Stanton/Anthony/Gage (Hrsg.), History of Woman Suffrage, Volume 1 (1848–1861), 1881, S. 115. Siehe auch Flexner/Fitzpatrick, Century of Struggle, 1992, S. 85 f. 41 Gage (Fn. 40), S. 115, erinnert sich: „The leaders of the movement trembled on seeing a tall, gaunt black woman in a gray dress and white turban, surmounted with an uncouth sun-bonnet, march deliberately into the church, walk with the air of a queen up the aisle, and take her seat upon the pulpit steps. A buzz of disapprobation was heard all over the house, and there fell on the listening ear, ‚An abolition affair!‘ Woman’s rights and niggers!‘ ‚I told you so!‘ ‚Go it, darkey!‘“ 42 Beißende Fragen formuliert Grillo: „Think of the vast body of literature about the problem of women ‚being placed on pedestals.‘ Don’t you wonder what the authors could have been thinking when in front of their very eyes and, in fact, sometimes waiting on them, were women who not only were on no one’s pedestal, but whose lot in life was to scour those pedestals?“ (Grillo, Anti-Essentialism and Intersectionality, Berkeley Women’s Law Journal 1995, S. 16 (28)). 43 Differenzierungen aufgrund des Geschlechts wurden lange Zeit als gutartig (benign) angesehen. Siehe Wheeler, Women under the Law: The Pedestal or the Cage, Journal of the Kansas Bar Association 1974, S. 25; Gertner, Bakke on Affirmative Action for Women: Pedestal or Cage?, Harvard Civil Rights – Civil Liberties Law Review 14 (1979), S. 173. Gegen diese angeblich gutartigen Ungleichheiten ging Ruth Bader Ginsburg mit dem Women’s Rights Project der American Civil Liberties Union (ACLU) im Rahmen ihrer strategischen Prozessführung vor; Ginsburg, Sex Equality and the Constitution: The State of the Art, Women’s Rights Law Reporter 1992, S. 361; vgl. Cole, Strategies of Difference: Litigating for Women’s Rights in a Man’s World, Law and Inequality 33 (1984), S. 33. 35 36 37 38 39
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§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Bürgerrechtsbewegung und etwas später die Frauenbewegung bildeten, waren diese weitgehend voneinander getrennt. Unter denjenigen, die sich um eine Verbindung bemühten, war die Juristin Pauli Murray. In den 1960er Jahren entwickelte Murray eine Strategie, welche den bislang dahinsiechenden Initiativen für Frauenrechte Schwung verleihen sollte: das „Reasoning From Race“.44 Dabei wurden rechtliche Strategien aus dem Kampf gegen rassistische Diskriminierung herangezogen, um sie in den Dienst von Frauenrechten zu nehmen.45 Auch Geschlecht sollte, wie Race, als „suspekte“ Kategorie46 angesehen werden (was in den USA bis heute nicht der Fall ist47), weil Differenzierungen aufgrund des Geschlechts ebenfalls problematisch (und gar nicht „gutartig“) sind. Damit wäre ein erhöhter Rechtsfertigungsstandard für die Zulässigkeit von Ungleichbehandlungen verbunden.48 11 Die Verzahnung der beiden Emanzipationsbewegungen und ihr gemeinsames „Wogegen“ brachte Murray mit der Figur der „Jane Crow“49 auf den Punkt – die weibliche Form von „Jim Crow“, den Inbegriff für die Gesetze zur Race Segregation. Es ist bemerkenswert, dass die Pionierleistung von Pauli Murray nur selten thematisiert wird – dabei könnte doch gerade die Figur der „Jane Crow“ als nachgerade paradigmatische Verkörperung der Situation intersektionaler Benachteiligung herangezogen werden. Parallel zu Murrays genuin juristischen Auseinandersetzungen gab es weitere Vorschläge, die Situation von häufig ökonomisch marginalisierten Schwarzen Frauen angemessen wahrzunehmen. Frances Beal etwa erfasste sie gegen Ende der 1960er Jahre als „double jeopardy“;50 die Third World Women’s Alliance gab von 1971–1975 eine Zeitschrift namens „triple jeopardy“ heraus, und Deborah King schrieb 1988 von „multiple jeopardy“.51 Einflussreich war das Manifest des Combahee River Collective, in dem die Aktivistinnen den ineinandergreifenden Charakter der Unterdrückung auf Basis von Gender, Race, Class und auch sexueller Orientierung betonten: „The synthesis of these oppressions creates the conditions of our lives.“52 10
44 So auch der Titel des Buchs von Mayeri, Reasoning From Race, 2011. 45 Mayeri (Fn. 44), S. 3. Siehe dazu Ginsburg/Flagg, Some Reflections on the Feminist Legal Thought of
the 1970s, The University of Chicago Legal Forum 1989, S. 9 (16).
46 Rosenberg (Fn. 10), S. 241 ff. 47 Es gilt ein mittlerer Standard von „intermediate scrutiny“, beginnend mit US Supreme Court, Craig v.
Boren, 429 U. S. 190 (1976). Als zentraler Fall für dessen Weiterentwicklung gilt US Supreme Court, United States v. Virginia, 518 U. S. 515 (1996); siehe dazu Cowan, Distinguishing Private Women’s Colleges from the VMI Decisions, Columbia Journal of Law and Social Problems 30 (1997), S. 137 (148 ff.). 48 Zu den unterschiedlichen Maßstäben für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen siehe Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 175 f. 49 Murray/Eastwood, Jane Crow and the Law: Sex Discrimination and Title VII, The George Washington Law Review 34 (1965–1966), S. 232 (243). Siehe auch Murray, The liberation of black women, in: Thompson (Hrsg.), Voices of the New Feminism, 1970, S. 87. 50 Beal, Black Woman’s Manifesto; Double Jeopardy: To Be Black and Female, 1969; Hancock (Fn. 17), S. 61 reiht Beal mit diesem Ansatz in die intellektuelle Geschichte der Intersektionalität ein, während andere den Ansatz als bloß additives Unterdrückungsmodell abtun; siehe Lutz u. a. (Hrsg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts, 2013, S. 11. Damit wird dieses Konzept bloß als „Abstoßungspunkt für das Konzept der intersektionalen Verschränkung von Macht“ gesehen; so Meyer (Fn. 7), S. 167, Fn. 20. 51 King, Multiple Jeopardy, Multiple Consciousness, Signs 1988, S. 47. 52 The Combahee River Collective, A Black Feminist Statement, in: Hull/Scott/Smith (Hrsg.), All the Elisabeth Holzleithner
B. Geschichte und Theorien von Intersektionalität (Mehrdimensionalität)
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II. Intersektionale Diskriminierung vor Gericht: Eine wechselvolle Geschichte (USA)
Im Kontext einer aufstrebenden Schwarzen feministischen Bewegung und einer durch Title 12 VII Civil Rights Act 1964 ermöglichten, zunehmenden Inanspruchnahme des Antidiskriminierungsrechts – auch durch Schwarze Frauen – wurde das Recht als Ressource genützt, um emanzipatorische Veränderungen herbeizuführen. Das gelang allerdings oft nicht. Besonders stachen einige Fälle heraus, in denen die Verschränkung von Diskriminierungsgründen in ganz inadäquater Weise negiert wurde. Die Auseinandersetzung damit – und mit der darin angelegten Verzerrung und Marginalisierung der Ansprüche von Schwarzen Frauen53 – führte zu einer höchst dynamischen Entwicklung in den Rechtswissenschaften und einem Reservoir von kritischen Ansätzen, auf denen heutige Überlegungen zu Intersektionalität aufbauen können. In der Folge werden einige zentrale Fälle skizziert, deren Konstruktionen des Zusammenwirkens von Diskriminierungskategorien als Grundlage für die weiteren, auch rechtstheoretischen Überlegungen dienen sollen. 1. DeGraffenreid und „Pandora’s Box“
Als in den 1970er Jahren die Weltwirtschaft im Abschwung war,54 geriet auch der Auto- 13 mobilhersteller General Motors (GM) in die Krise. Betriebsbedingte Kündigungen in erheblichem Ausmaß wurden als notwendig erachtet. Dabei wurde nach dem Senioritätsprinzip „last hired, first fired“ vorgegangen. Allerdings war damit ein Problem verbunden. Denn GM wies eine Geschichte der Diskriminierung auf. Schwarze Männer waren schon länger in der Firma beschäftigt, und auch einige (wenige) weiße Frauen. Aber erst in den frühen 1970er Jahren hatte das Unternehmen begonnen, Schwarze Frauen einzustellen – immerhin ein Fünftel der Bevölkerung im Ballungsraum von St. Louis.55 Daher waren sie von den Kündigungen überproportional betroffen: Alle bis auf eine verloren ihre Stelle wieder. Vor diesem Hintergrund klagte eine Gruppe Schwarzer Frauen wegen mittelbarer Diskriminierung aufgrund des Zusammenwirkens von Geschlecht und Race. Der zustänWomen Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave, 1982, S. 41 (42): „A combined anti-racist and anti-sexist position drew us together initially, and as we developed politically we addressed ourselves to heterosexism and economic oppression under capitalism.“ Für das Vereinigte Königreiche siehe die Organisation of Women of Asian and African Descent (OWAAD); in der „Draft Constitution“ ihrer Gründung aus 1978 wird zudem die Unterdrückung von „gays, handicapped, people in prisons“ angesprochen; zugänglich über: https://artsandculture.google.com/asset/xgHiqAbfrKfOTg?childAssetId=z QFO0itCXex7hA (mit Dank an Paola Lopez für den Hinweis). 53 Powell, The Claims of Women of Color Under Title VII: The Interaction of Race and Gender, Golden Gate University Law Review 26 (1996), S. 413 (416). 54 Zu den Auswirkungen der Krise auf die gerade erst beginnenden Erfolge feministischer Interventionen im Recht siehe Mayeri (Fn. 44), S. 7: „Feminists enjoyed their first substantial legal success just as a conservative resurgence and an economic downturn narrowed the possibilities for progressive reform.“ 55 Solanke, The EU approach to intersectional discrimination in law, in: Abels u. a. (Hrsg.), The Routledge Handbook of Gender and EU Politics, 2021, S. 209 (213). Vor 1970 hatte GM nur sehr wenige Frauen in der Fabrik in St. Louis beschäftigt; als Grund wurden die Arbeitnehmerinnenschutzgesetze von Mississippi angegeben. Einige wenige weiße Frauen arbeiteten im „cushion room“, wo Sitze und Polsterung hergestellt wurden; vgl. Mayeri (Fn. 44), S. 102. Elisabeth Holzleithner
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§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
dige Richter, H. Kenneth Wangelin, ein „Nixon Appointee“56, hatte für die Klage kein Verständnis: Er forderte für das Vorliegen jedes Diskriminierungsgrundes einen individuellen Nachweis und lehnte es ab „to combine statutory remedies to create a new ‚super-remedy‘“.57 Wangelin sah darin unabwägbare Gefahren, und er malte den Teufel in Gestalt einer mythologischen Frauenfigur an die Wand: „The prospect of the creation of new classes of protected minorities, governed only by the mathematical principles of permutation and combination, clearly raises the prospect of opening the hackneyed Pandora’s box.“58 14 Diese Position erscheint besonders fragwürdig angesichts der Geschichte der Benachteiligung gerade Schwarzer Frauen, und damit einer spezifisch intersektionalen Diskriminierung, die bei GM nachgewiesen werden konnte. Treffend kontert Sacksofsky gegen einen solchen Einwand, der mit der schieren Unüberschaubarkeit potenzieller, mathematisch möglicher Kombinationen argumentieren will,59 er treffe „zwar mathematisch zu, praktisch kann er aber nicht überzeugen. Denn das Konzept der mittelbaren Benachteiligung betrachtet nicht abstrakt denkbare Kombinationen von Ausprägungen von Kategorien, sondern basiert auf tatsächlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten […]. Diese Kontextbezogenheit dient als Filter, um sicherzustellen, dass nicht beliebige Gruppen, sondern nur jene Gruppen in den Schutz einbezogen werden, die auch in der Praxis Diskriminierung erfahren.“60 15 Auch Wangelin zog historische Argumente für seine restriktive Interpretation heran – allerdings zulasten der Klägerinnen: In der Geschichte des Civil Rights Acts würden sich keine Hinweise dafür finden, dass die Schaffung einer neuen Klassifikation von „black women“ intendiert gewesen wäre. Diese Deutung ist allerdings problematisch. Der relevante Teil der Bestimmung verbietet Diskriminierung wegen „race, color, religion, sex, or national origin.“ Die zentrale Frage für Fälle intersektionaler Diskriminierung lautet in interpretativer Hinsicht, wie das „or“ zu verstehen ist, nämlich kumulativ/intersektional oder alternativ. Die durchaus eigentümliche legislative Geschichte von Title VII Civil Rights Act61 spricht eher gegen die von Wangelin gewählte Interpretation: Denn ein Zusatz, wonach vor den Begriff „sex“ das Attribut „solely“ gesetzt werden sollte, wurde niedergeschlagen.62 56 Mayeri (Fn. 44), S. 103. 57 US District Court E. D. Missouri, DeGraffenreid v. General Motors Assembly Div., etc., 413 F. Supp. 142
(1976).
58 US District Court E. D. Missouri, DeGraffenreid v. General Motors Assembly Div., etc., 413 F. Supp. 142
(1976).
59 Der Vorbehalt findet sich, mit Blick auf mittelbare Diskriminierung und im Sinne einer „avoidance of
indefinite permutations“, auch bei Shoben, Compound Discrimination, New York University Law Review 55 (1980), S. 793 (820 ff.). 60 → Sacksofsky, § 14, Rn. 124. Zur zentralen Bedeutung auch und vor allem der historischen Dimension als Kontext intersektionaler Diskriminierung siehe Atrey (Fn. 1), S. 48 ff. 61 Howard Smith, der den Antrag gestellt hat, „sex“ in Title VII Civil Rights Act zu inkludieren, dürfte eher die Absicht gehabt haben, Title VII auf diese Weise zu Fall zu bringen als ein umfassendes Verbot der Geschlechterdiskriminierung einzuführen; siehe dazu Whalen/Whalen, The Longest Debate, 1985, S. 115 ff. 62 110 Cong.Rec. 2728 (1964), zitiert nach US Court of Appeals for the Fifth Circuit, Jefferies v. Harris Community Action Ass’n, 615 F.2d 1025 (1980), S. 1032. Das wurde von diesem Gericht bereits 1975 wahrElisabeth Holzleithner
B. Geschichte und Theorien von Intersektionalität (Mehrdimensionalität)
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2. Jefferies und die „Geschlecht-plus“-Analyse
Die Spruchpraxis der Gerichte war aber nicht einheitlich auf DeGraffenreid-Linie.63 Bereits 16 1971 hatte der US District Court for the Middle District of North Carolina in Lea v. Cone Mills Corp.64 einer „Klasse“ von Schwarzen Frauen ermöglicht, Klage gegen ihren Arbeitgeber zu führen. Dieser hatte Weiße beiderlei Geschlechts ebenso wie Schwarze Männer beschäftigt, nicht aber Schwarze Frauen. Das Gericht entschied ganz selbstverständlich, dass diese Praxis des Arbeitgebers zielgerichtet Schwarze Frauen ausgeschlossen hatte und daher als Verstoß gegen Title VII zu werten war. Im Unterschied zu DeGraffenreid handelte es sich hier um einen Fall unmittelbarer Diskriminierung. Bekannt geworden ist Jefferies v. Harris Community Action Ass’n.65 Dafro Jefferies brach- 17 te eine „individual disparate treatment action“66 dagegen ein, dass sie bei Beförderungen übergangen worden war: Statt ihrer kamen ein Schwarzer Mann und eine weiße Frau zum Zug. Der Fall landete vor dem Fifth Circuit Court of Appeals, der eine „Geschlecht-plus“Analyse durchführte. Diese war durch den US Supreme Court im Fall Phillips v. Martin Marietta Corp.67 entwickelt worden – dem ersten Fall, in dem das Höchstgericht eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts festgestellt hat.68 Die Martin Marietta Corp. hatte eine Firmenpolitik, der gemäß Frauen mit Kindern im Vorschulalter nicht angestellt werden durften. Dagegen richtete sich eine Klage wegen „systematic disparate treatment“.69 Der Supreme Court ortete darin eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und eine Diskriminierung aufgrund eines neutralen70 Faktors, der Betreuungspflicht für Kinder im Vorschulalter. In Jefferies erstreckte der Fifth Circuit Court of Appeals diesen Gedanken über einen Größenschluss auf die Diskriminierung einer Schwarzen Frau: „It is beyond belief that, while an employer may not discriminate against these subclasses of women, he genommen, in US Court of Appeals for the Fifth Circuit, Willingham v. Macon Telegraph Publishing Co., 507 F.2d 1084 (1975), S. 1089: „Presumably, Congress foresaw the debilitating effect such a limitation might have upon the sex discrimination Amendment.“ Im konkreten Fall wurde das Vorliegen einer Diskriminierung von Männern wegen nach dem Geschlecht differenzierender Regelungen erlaubter Haarlängen verneint. 63 Wie in DeGraffenreid wurde aber auch in US District Court S. D. New York, Rogers v. American Airlines, Inc., 527 F. Supp. 329 (1981) nicht anerkannt, dass Schwarze Frauen als distinkte Gruppe Diskriminierungsschutz genießen können; vgl. Goldberg, Identity-based Discrimination and the Barriers to Complexity, in: Schiek/Lawson (Hrsg.), European Union Non-Discrimination Law and Intersectionality, 2011, S. 177. 64 U. S. District Court M. D. North Carolina, Lea v. Cone Mills Corp., 301 F. Supp. 97 (1969), aff ’d in relevant part per curiam, US Court of Appeals Fourth Circuit, Lea v. Cone Mills Corp., 438 F.2d 86, 88 (1971). 65 US Court of Appeals for the Fifth Circuit, Jefferies v. Harris Community Action Ass’n, 615 F.2d 1025 (1980). 66 Zur Erläuterung siehe Powell (Fn. 53), S. 419: „The prima facie case for a disparate treatment case is set forth in McDonnell Douglas Corp. v. Green, 411 U. S. 792 (1973). The plaintiff has the burden of showing that the job was open, she applied and was qualified for the job, despite her qualifications she was rejected and the position remained open and the employer continued to seek applicants. Id. at 802.“ 67 US Supreme Court, Phillips v. Martin Marietta Corp., 400 U. S. 542 (1971). 68 Festgestellt wurde eine Diskriminierung im Widerspruch zu Title VII Civil Rights Act 1964. 69 Powell (Fn. 53), S. 420, Fn. 59. 70 Dass dieser Faktor mittelbar diskriminierend auf Grund des Geschlechts sein könnte, gehörte gerade noch nicht zum argumentativen Repertoire des Höchstgerichts und wurde von der Klägerin auch nicht vorgebracht. Das Konzept des Disparate Impact wurde kurz danach etabliert – in US Supreme Court, Griggs v. Duke Power Co., 401 U. S. 424 (1971). Elisabeth Holzleithner
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§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
could be allowed to discriminate against black females as a class. This would be a particularly illogical result, since the ‚plus‘ factors in the former categories are ostensibly ‚neutral‘ factors, while race itself is prohibited as a criterion for employment.“71 Vor diesem Hintergrund wurde in Jefferies die Beschwerde wegen Diskriminierung auf18 grund von Race und Geschlecht zugelassen, sowie wegen einer Kombination der beiden Faktoren. Die Pointe, in den Worten des Gerichts: „[A]n employer should not escape from liability for discrimination against black females by a showing that it does not discriminate against blacks and that it does not discriminate against females.“72 Damit wurde punktgenau die DeGraffenreid-Argumentation zurückgewiesen. Allerdings blieb, wie moniert wurde, die Art und Weise problematisch, in der das Gericht die Kombination der beiden Kategorien thematisierte: nämlich im Gefolge der „Geschlecht-plus“-Argumentation. Damit konnte der Eindruck entstehen, Race wäre sekundär, aufgepfropft auf das Geschlecht.73 Freilich macht diese Kritik vielleicht die Herkunft der Interpretation aus dem „Geschlecht-plus“-Kontext zu stark – in der Entscheidung ist konsequent die Rede von einer „Race and Sex Discrimination“74, und es wird betont, dass „black females as a distinct protected subgroup“75 anerkannt werden. Auch der Ninth Circuit Court of Appeals kam – in Lam v. University of Hawaii – unter 19 Bezugnahme auf Abhandlungen von Crenshaw und Winston zu dem Ergebnis, dass ein Auseinanderdividieren der Kategorien zu einem inadäquaten Ergebnis führen würde: „Rather than aiding the decisional process, the attempt to bisect a person’s identity at the intersection of race and gender often distorts or ignores the particular nature of their experiences.“76 3. Wie viele Gründe dürfen es sein? Judge v. Marsh 20
Wenn intersektionale Diskriminierung dem Grunde nach anerkannt ist, mag sich die Frage stellen, wie viele Kategorien in Betracht gezogen werden können.77 Sie wurde in 71 US Court of Appeals for the Fifth Circuit, Jefferies v. Harris Community Action Ass’n, 615 F.2d 1025
(1980), S. 1034.
72 US Court of Appeals for the Fifth Circuit, Jefferies v. Harris Community Action Ass’n, 615 F.2d 1025
(1980), S. 1032.
73 Atrey (Fn. 1), S. 12; Powell (Fn. 53), S. 421 f.; Solanke, Discrimination as Stigma, 2017, S. 146 ff. 74 US Court of Appeals for the Fifth Circuit, Jefferies v. Harris Community Action Ass’n, 615 F.2d 1025
(1980), S. 1032 ff.
75 US Court of Appeals for the Fifth Circuit, Jefferies v. Harris Community Action Ass’n, 615 F.2d 1025
(1980), S. 1032.
76 US Court of Appeals for the Ninth Circuit, Lam v. University of Hawaii, 40 F. 3d 1551, 1561 (1994), mit
Verweis auf Crenshaw (Fn. 3) und Winston, Mirror, Mirror on the Wall, California Law Review 79 (1991), S. 775. Atrey (Fn. 1), S. 115 zufolge legte die Entscheidung in Lam freilich neue Fallstricke aus: „It was no longer enough to prove that subgroups like Black women suffered disadvantage when Black men and white women did not; but it was also not sufficient to show that Black men and white women were disadvantaged in order to prove combination discrimination against Black women. Realistically, Black women, or Asian women for that matter, had only the reference point of white men for proving that they were discriminated against uniquely.“ 77 Powell (Fn. 53), S. 422. Elisabeth Holzleithner
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Judge v. Marsh virulent.78 Auch in diesem Fall ging es um eine vorenthaltene Beförderung. Das Gericht erkannte grundsätzlich an, unter anderem mit Verweis auf Jefferies, dass eine Klage als Angehörige der Subklasse Schwarzer Frauen zulässig ist. Wieder wurde die DeGraffenreid-Logik zurückgewiesen: „Race discrimination directed solely at women is not less invidious because of its specificity.“79 So selbstverständlich dies angenommen wird, so eskalierend ist die weitere Argumentation, wenn das Gericht die Vorstellung abwehrt, dass im Recht das Zusammentreffen von mehr als zwei Diskriminierungsgründen berücksichtigt werden könnte: „The difficulty with this position is that it turns employment discrimination into a many-headed Hydra, impossible to contain within Title VII’s prohibition.“80 Daher will das Gericht die Reichweite von Jefferies auf das Zusammentreffen von bloß zwei geschützten Gründen reduzieren. Dabei argumentiert es sehr spezifisch: Erfasst werden könnten bloß „employment decisions based on one protected, immutable trait or fundamental right, which are directed against individuals sharing a second protected, immutable characteristic.“81 Damit soll eine Zersplitterung des Antidiskriminierungsrechts „beyond use and recognition“82 verhindert werden. Ein weiteres Mal beschwört ein Gericht zur Abwehr komplexer Kombinationen von Diskriminierungsgründen ein weibliches Ungeheuer aus der Mythologie herauf: In DeGraffenreid war es Pandora, die alle Plagen auf die Welt brachte; in Judge die vielköpfige Hydra. Beide sind extrem bedrohliche, zerstörerische Frauenfiguren; sie im Zusammenhang mit Diskriminierungsklagen von Schwarzen Frauen ins Spiel zu bringen, fügt sich unumwunden in rassistische Stereotype ein. Auch die zugrundeliegende rechtliche Analyse überzeugt nicht. So überrascht nicht, 21 dass andere Gerichte die Berücksichtigung von Konstellationen, in denen mehr als zwei Diskriminierungskategorien interagierten, durchaus als zulässig angesehen haben: Im selben Jahr, als in Judge die Hydra beschworen wurde, konnte eine unverheiratete Schwarze Frau, die wegen einer Schwangerschaft gekündigt wurde, Klage gegen ihren Arbeitgeber führen, den Omaha Girls Club.83 Dieser hatte im Vorgehen gegen Schwangerschaften von Teenagern eine „Negative Role Model Policy“84 eingeführt, auf deren Grundlage die Kündigung ausgesprochen wurde: Schwangerschaften von alleinstehenden Mitarbeiterinnen würden ein schlechtes Beispiel abgeben und die Mission des Omaha Girls Club, jungen (darunter vielen Schwarzen) Mädchen so viele Lebensoptionen wie möglich zu eröffnen, torpedieren. Allerdings kam das Gericht dann zum Schluss, dass eine solche Policy erlaubt sein müsse als „legitimate attempt by a private organization to attack a significant problem within our society.“85 Dass die Schwangerschaft einer Frau im Alter von 22 Jahren keine Teenage Pregnancy darstellt, fiel dem Gericht offenbar nicht auf – der rassistische Subtext einer Bestimmung, die darauf hinausläuft, dass junge, unverheiratete Schwarze Frauen, die 78 79 80 81 82 83 84 85
US District Court D. Columbia, Judge v. Marsh, 649 F. Supp. 770 (1986). US District Court D. Columbia, Judge v. Marsh, 649 F. Supp. 770 (1986), S. 780. US District Court D. Columbia, Judge v. Marsh, 649 F. Supp. 770 (1986), S. 780. US District Court D. Columbia, Judge v. Marsh, 649 F. Supp. 770 (1986), S. 780. US District Court D. Columbia, Judge v. Marsh, 649 F. Supp. 770 (1986), S. 780. US District Court D. Nebraska, Chambers v. Omaha Girls Club, 629 F. Supp. 925 (1986). US District Court D. Nebraska, Chambers v. Omaha Girls Club, 629 F. Supp. 925 (1986). US District Court D. Nebraska, Chambers v. Omaha Girls Club, 629 F. Supp. 925 (1986). Elisabeth Holzleithner
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§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
Kinder bekommen, als schlechtes Vorbild angesehen werden und daher ihre Stelle verlieren, auch nicht. Nicht zuletzt waren Schwarze Frauen lange Zeit Opfer von erzwungenen Maßnahmen der Geburtenkontrolle.86 4. Die Intersektion, die zählte
Vor dem Hintergrund der skizzierten Zurückhaltung der Gerichte, die komplexen Diskriminierungserfahrungen Schwarzer Frauen wahrzunehmen, überrascht vielleicht jene Judikatur, in der eine Gruppe von diskriminierungsgefährdeten Personen ganz fraglos anerkannt wird, die ebenfalls nur aufgrund des Zusammenwirkens von mehreren Kategorien entsteht: weiße Männer nämlich.87 Es ist kaum sichtbar (pun intended),88 aber die Frage der intersektionalen Diskriminierung ist jenen Verfahren inhärent, die „affirmative action“ Maßnahmen zugunsten Angehöriger rassistisch minorisierter Gruppen als „reverse discrimination“ – ein Kampfbegriff – vor Gericht anfochten. Shoben schreibt trocken bereits in den frühen 1980er Jahren: „Courts addressing reverse discrimination claims generally have assumed without discussion that the compound category of white males is protected“.89 In einem Fall wurde gar einer „class of white male professional employees“ ermöglicht, Klage wegen Diskriminierung zu führen.90 23 Ruth Colker weist in akribischer Analyse nach, dass Gerichte in Fällen von Diskriminierung, die von Angehörigen minorisierter Gruppen eingebracht wurden, bei der Feststellung von Kausalitäten wesentlich strikter waren als bei Klagen von weißen Männern – hier seien sie „quite generous“91 gewesen, auch wenn es darum ging festzustellen, dass die weißen männlichen Beschwerdeführer kompetent und ihre Ansprüche valide waren.92 Ein bekanntes Beispiel ist Alan Bakke, der es nicht schaffte, einen Platz an der University of California at Davis Medical School zu erringen. Dafür gab es mehrere Gründe: Seine Scores waren nicht hoch genug, er galt mit seinen 33 Jahren als zu alt, und er war zu wenig wohlhabend.93 Bakke war ökonomisch aber auch nicht hinreichend benachteiligt, und er 22
86 Dazu und zur Kritik an Chambers siehe Austin (Fn. 11), S. 550 ff. 87 Das erfolgreiche Framing von weißen Männern als wahre Opfer thematisiert auch der frühere Prä-
sident der USA, Barack Obama (Holpuch, Obama: Republicans portraying white men as ‚victims‘ helped Trump win votes, theguardian.com v. 25.11.2020). Siehe zum Thema auch Kimmel, Angry White Men: American Masculinity at the End of an Era, 2017. 88 Im Sinne der Funktionsweise von Whiteness als „unmarked marker“ in einer rassistischen Gesellschaft; siehe Frankenberg, Displacing Whiteness, 1997, S. 1. 89 Shoben (Fn. 59), S. 798. 90 US District Court N. D. Texas, Jurgens v. Norton, 17 Fair Empl. Prac. Cas. 699, 700 (1978), zitiert nach Shoben (Fn. 59), S. 798, Fn. 15. 91 Colker, Whores, Fags, Dumb-Ass Women, Surly Blacks, and Competent Heterosexual White Men, Yale Journal of Law and Feminism 7 (1995), S. 195 (217). 92 Colker (Fn. 91), S. 200. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat Ruth Bader Ginsburg einige bahnbrechende Fälle mit männlichen Beschwerdeführern durchgezogen: Wenn ein weißer Mann diskriminiert wird, dann können die Gerichte das Unrecht solch benachteiligender Ungleichbehandlung eher einsehen. Siehe dazu Cole (Fn. 43); Minnow, Tribute to Justice Ruth Bader Ginsburg, Harvard Civil Rights Civil Liberties Law Review 56 (2021), S. 5 (8). 93 Es gab tatsächlich fünf Slots für „applicants from wealthy families“; siehe Colker (Fn. 91), S. 196. Elisabeth Holzleithner
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war weiß, sodass er nicht um jene 16 Positionen konkurrieren konnte, die ökonomisch unterprivilegierten, Schwarzen Personen und Angehörigen ethnisch marginalisierter Gruppen offenstanden.94 Bakke war mit seiner Klage erfolgreich, und der Supreme Court hat im Weiteren in seiner einschlägigen Judikatur den Raum für „affirmative action“ Maßnahmen denkbar knapp bemessen. Von den möglichen Gründen dafür – Kompensation vergangenen Unrechts, Herstellen von Chancengleichheit und Vielfalt – blieb allein die Berücksichtigung von Race und ethnischer Herkunft zur Förderung von Vielfalt, unter der Voraussetzung, dass eine individuelle Berücksichtigung aller Kandidat*innen erfolgt.95 III. Ein dynamisches Feld: Theorie und Praxis intersektionaler Analysen
Die US-Judikatur zur Interaktion mehrerer Diskriminierungskategorien ist, wie im letz- 24 ten Abschnitt gezeigt wurde, durchwachsen. Im Feld intersektionaler Diskriminierung hat DeGraffenreid den Rang einer paradigmatischen Entscheidung erlangt. Das ist angesichts dessen, dass Schwarze Frauen als Klägerinnen, selbst wenn ihre Ansprüche dem Grunde nach anerkannt wurden, sehr häufig letztlich nicht erfolgreich waren und es immer noch nicht sind,96 nicht wirklich überraschend. In theoretischer Hinsicht hat Kimberlé Crenshaw mit ihrer wegweisenden Analyse Geschichte geschrieben – und parallel dazu sowie anknüpfend an ihre Arbeiten haben viele Autor*innen versucht, das Zusammenwirken von Diskriminierungskategorien angemessen zu erfassen. 1. Das Bild der Intersektion: Im „toten Winkel“ des Antidiskriminierungsrechts
Crenshaw nahm die exkludierende Analyse von DeGraffenreid zum Anlass, ganz grund- 25 sätzlich über das Zusammenwirken der Unterdrückungssysteme Race und Geschlecht nachzudenken. Sie schlug vor, die Welt der Diskriminierung mit der Metapher der Straßenkreuzung – „intersection“ – zu erfassen. Dabei ging es ihr darum zu zeigen, wie Systeme der Unterdrückung zusammenwirken; die folgende, häufig zitierte Passage bringt dies auf den Punkt: „Consider an analogy to traffic in an intersection, coming and going in all four directions. Discrimination, like traffic through an intersection, may flow in one direction, and it may flow in another. If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars travelling from any number of directions and, sometimes, from all of them. Similarly, 94 Zu den Details des Affirmative Action Programms siehe US Supreme Court, University of California
Regents v. Bakke, 438 U. S. 265, 274 (1978). Zu Bakke siehe auch Gertner (Fn. 43).
95 Bestätigt wurde diese Linie in US Supreme Court, Grutter v. Bollinger, 539 U. S. 306 (2003) sowie in US
Supreme Court, Fisher v. University of Texas at Austin, 136 S.Ct. 2198, 2207 (2016); US Supreme Court, Fisher v. University of Texas at Austin, 570 U. S. 297, 301–02 (2013). Siehe dazu Onwuachi-Willig, Reconceptualizing the Harms of Discrimination, Virginia Law Review 105 (2019), S. 343 (361 ff.). Kritisch kommentiert Nash (Fn. 9), S. 23: „For the court, diversity’s value lies not in its capacity to remedy past and ongoing racism and exclusion but in its ability to produce student-citizens prepared for an increasingly global workforce and for military global security service. The work of diversity, then, is not meant to transform social institutions but to insert bodies into existing structures and even to engage in ‚rebranding an organization.‘“ 96 Kotkin, Diversity and Discrimination, William and Mary Law Review 50 (2009), S. 1439. Elisabeth Holzleithner
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§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
if a black woman is harmed because she is in the intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination.“97 Für das, was in DeGraffenreid passiert ist, fand Crenshaw ein plastisches und drastisches Bild: Wenn eine Person auf einer Straßenkreuzung von zwei Autos gleichzeitig niedergefahren, schwer verletzt oder getötet wird, und wenn man nicht genau weiß, ob nun das eine oder das andere Auto – oder beide gleichermaßen – ursächlich für die schwere Verletzung oder Tötung war(en), dann wird weder Hilfe geholt, noch wird jemand zur Verantwortung gezogen.98 26 Fälle wie DeGraffenreid offenbaren einen „toten Winkel“99 des Antidiskriminierungsrechts. Dieser wird durch die Konstruktion des Falls erzeugt, und dadurch wird eine Gruppe von Personen für das Antidiskriminierungsrecht unsichtbar gemacht.100 Gudrun Axeli-Knapp spricht im Anschluss an Crenshaw von „intersektioneller Unsichtbarkeit“101. Ich würde hier weitergehen: Wir haben es im Recht in den problematischen Fällen mit einer aktiven Invisibilisierung zu tun. Die Invisibilisierung betrifft diejenigen, die aufgrund bestimmter rassistischer und sexistischer Traditionen in der Wahrnehmung als besonders deutlich sichtbar erscheinen – eine Hypervisibilität, die eine erhöhte Diskriminierungsgefährdung mit sich bringt. Das Gericht in DeGraffenreid sieht ja durchaus, was da wem passiert ist, aber es kann es nicht als Unrecht erkennen: Es kommt nicht zu dem Ergebnis, dass die Widerfahrnisse rechtlich zählen würden und erkennt ihnen rechtlich kein Gewicht zu. Dieses Schicksal ereilt typischerweise Angehörige solcher Gruppen, die als „anders“ gelesen werden – sei es aufgrund der Hautfarbe oder des Tragens religiöskulturell konnotierter Bekleidung. Im Kontrast wurden nicht nur im Fall Bakke die Interessen einer strukturell nicht benachteiligten, unauffälligen Gruppe gewahrt, während die mehrfach Benachteiligten regelrecht im toten Winkel des Antidiskriminierungsrechts abgestellt wurden. Aber, in Anlehnung an eine bekannte Sentenz: Injustice must be seen to be undone. 27 In diesem Zusammenhang ist auf einen weiteren Aspekt von Crenshaws Kritik einzugehen, der eine gleichsam spiegelbildliche Problematik zur Unsichtbarmachung in DeGraffenreid zeigt. Hier sollte die spezielle Situation Schwarzer Frauen nicht als solche zählen. Demgegenüber erschien diese Besonderheit in zwei anderen Fällen als übermächtig. In Payne v. Travenol wurde einer Schwarzen Frau verwehrt, eine Klage für die gesamte Gruppe Schwarzer Menschen zu führen – und zwar deshalb, weil die Interessen Schwarzer 97 Crenshaw (Fn. 3), S. 149. 98 Crenshaw (Fn. 3), S. 149. 99 Schiek, Intersektionelle Diskriminierung vor dem Europäischen Gerichtshof – Ein erster verfehlter Ver-
such?, EuZA 2017, S. 407 (414).
100 Cho/Crenshaw/McCall, Toward a Field of Intersectionality Studies, Signs 2013, S. 785 (791) sprechen
von „dynamics that rendered Black female plaintiffs illegible to courts“.
101 Knapp, Intersectional Invisibility, in: Lutz/Vivar/Supik (Hrsg.), Framing Intersectionality, 2016,
S. 187. Crenshaw (Fn. 4) S. 150 hat von der Problematik (mangelnder) Sichtbarkeit im Zusammenhang mit den Problemen der „Über-Inklusion“ und „Unter-Inklusion“ geschrieben: „[B]ei unter-inklusiven Zugängen zu Diskriminierung [ist es] der Unterschied, der ein Set an Problemen unsichtbar macht, während es bei über-inklusiven Zugängen der Unterschied selbst ist, der unsichtbar gemacht wird.“ Crenshaw, Gender-Related Aspects of Race Discrimination, Background Paper, 21.–24.11.2000, S. 6. Elisabeth Holzleithner
B. Geschichte und Theorien von Intersektionalität (Mehrdimensionalität)
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Frauen mit jenen Schwarzer Männer kollidieren könnten.102 Schwarze Frauen sollten also Schwarze Männer nicht repräsentieren können, während umgekehrt kein Problem darin gesehen wurde, wenn Schwarze Männer auch Schwarze Frauen vertraten. Analog dazu wurde es Schwarzen Frauen in Moore v Hughes Helicopters verwehrt, die gesamte Gruppe der Frauen zu repräsentieren.103 Die Diskriminierung von Schwarzen Frau wurde als zu speziell wahrgenommen. Während das Gericht in DeGraffenreid die Besonderheit der Situation Schwarzer Frauen ausgeblendet hat, negierten die Gerichte in Travenol und Moore die Gemeinsamkeiten mit den Benachteiligungen, die Schwarzen Männern respektive weißen Frauen widerfahren. Crenshaw thematisiert aus Anlass dieser Fälle eine Dynamik von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Diskriminierungskonstellationen, in denen Schwarze Frauen ausgeblendet werden.104 Darin zeigt sich, was Crenshaw als zentrales Argument ihres Textes aus 1989 gesehen hat: „representations of gender that are ‚race-less‘ are not by that fact alone more universal than those that are race-specific.“105 Vielmehr erscheinen jene privilegierten Kategorien, welche in der jeweiligen Situation keine Nachteile mit sich bringen, nur deshalb als „‚unsichtbar‘ oder ‚unmarkiert‘, wodurch der Eindruck einer eindimensionalen Diskriminierung entsteht.“106 Entsprechende Analysen und rechtlich-politische Interventionen sind Teil dessen, was 28 als Projekt der Sichtbarmachung und Antisubordination im Zeichen intersektionaler Bemühungen bezeichnet werden kann.107 Voraussetzung dafür ist ein angemessener Zugang zu jenen Kategorien, die herangezogen werden, um Inklusion und Exklusion zu begründen. Das ist es auch, was eine Analyse tatsächlich als intersektional auszeichnet: Dass sie Kategorien nicht als voneinander isoliert betrachtet, sondern als immer schon angereichert, durchzogen von anderen Kategorien, „fluid and changing, always in the process of creating and being created by dynamics of power“.108 Vor diesem Hintergrund sehen Cho, Crenshaw und McCall das Feld intersektionaler Theorie und Praxis als dadurch charakterisiert, dass in ihm eine „analytische Sensibilität“109 für das komplexe Zusammenwirken von Macht entlang von Kategorien waltet. Diese Kategorien gilt es in der Folge zu explorieren. 102 US Court of Appeals for the Fifth Circuit, Payne v. Travenol, 673 F 2d 798, 810 (1982); Crenshaw
(Fn. 3), S. 146 ff.
103 US Court of Appeals for the Ninth Circuit, Moore v. Hughes Helicopters, Inc 708 F 2d 475 (1983);
Crenshaw (Fn. 3), S. 143 ff.
104 Dieses Zusammenspiel von sameness und difference thematisiert Atrey zentral in ihrem Begriff von
intersektionaler Diskriminierung: „Intersectionality illuminates the dynamic of sameness and difference in patterns of group disadvantage based on multiple identities understood as a whole, and in their full and relevant context, with the purpose of redressing and transforming them“; Atrey (Fn. 1), S. 36. Siehe dazu auch Rössl, Rereading Crenshaw. Aspekte einer intersektionalen rechtswissenschaftlichen Forschungsperspektive, Juridikum. Zeitschrift für Kritik Recht Gesellschaft 2021, S. 31 (35). 105 Crenshaw, Postscript (Fn. 6), S. 224. 106 → Mangold/Payandeh, § 1, Rn. 93. 107 Hancock (Fn. 17), S. 22 spricht von Inklusion. Nash (Fn. 9), S. 24, macht freilich darauf aufmerksam, dass Inklusion dem Paradigma der „Diversity“ verpflichtet und insofern für das Projekt der Intersektionalität zu wenig radikal erscheint: „Where diversity is a project of including bodies, intersectionality is an antisubordination project, one committed to foregrounding exclusion and its effects.“ 108 Cho/Crenshaw/McCall (Fn. 100), S. 795. 109 Cho/Crenshaw/McCall (Fn. 100), S. 795. Elisabeth Holzleithner
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§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
2. Kategorien: Normativ konstituiert, intersektional angereichert 29
Typischerweise werden über den Begriff der Kategorie Merkmale,110 Überzeugungen oder Verhaltensweisen erfasst, die in der Welt wahrnehmbar sind. Das bedeutet aber nicht, dass wir es hier mit wesenhaften Gegebenheiten zu tun haben. An diesem Punkt trifft sich die hier vertretene Position mit Anliegen postkategorialer Ansätze:111 Kategorien werden in ihrer Bedeutung sozial hergestellt (konstituiert), und zwar im Zusammenwirken mit anderen Kategorien. Insofern in die Kategorien typischerweise Hierarchien eingeschrieben sind, entfalten sich ihnen entlang Systeme der Unterdrückung. Die betreffenden Merkmale, Überzeugungen und Verhaltensweisen sind Anknüpfungspunkte für eigene Identifikation und Zuschreibung durch andere.112 Im Prozess je individueller Identifikation können sie zu Identitätsbestandteilen werden – bisweilen auch und gerade deshalb, weil permanent Zuschreibungen von außen erfolgen, seien diese affirmativ oder verwerfend.113 Dieser Prozess ist normativ angeleitet und grundsätzlich unabschließbar; er findet im Rahmen vielfältiger sozialer Kontexte und Diskurse statt, die „Identitäts- und Deutungsvorlagen“114 bieten. Sie sind Quellen von Anerkennung ebenso wie von Missachtung. Einzelne Personen können die damit verbundenen Deutungsangebote und Wertungen annehmen oder verwerfen; im Zuge dessen können negativ konnotierte Begriffe umgedeutet und angeeignet werden, zumal im Kontext von Gegenkulturen, in denen gleichsam kompensatorisch Respekt vermittelt wird.115 Die Geschichte der Aneignung des Schimpfworts „queer“ in aktivistischen wie akademischen Kontexten ist dafür ein prominentes Beispiel.116 110 Der Begriff des Merkmals ist problematisch, weil er in essenzialisierender Weise auf ontologische Ge-
gebenheiten abzustellen scheint. Diese Kritik findet sich neben vielen bei Solanke (Fn. 73), die daher mit dem Konzept des Stigmas arbeitet. Kurz und kompakt findet sich das Konzept in Solanke (Fn. 55), S. 222 f. Auch der vorliegende Text will solchen Ontologisierungen entgegentreten und liest daher Kategorien als normativ konstituiert, was auch für Merkmale gilt. Siehe dazu gleich im Text. 111 Siehe dazu etwa → Baer, § 5; außerdem: Baer, Der problematische Hang zum Kollektiv und ein Versuch, postkategorial zu denken, in: Jähnert/Aleksander/Kriszio (Hrsg.), Kollektivität nach der Subjektkritik, 2013, S. 47; Baer, Geschlecht und Recht, RZ 2014, S. 5; Lembke/Liebscher: Postkategoriales Antidiskriminierungsrecht?, in: Philipp u. a. (Hrsg.), Intersektionale Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, S. 261; eine konzise Darstellung und Kritik findet sich bei Mangold (Fn. 48), S. 335 ff. 112 Siehe dazu auch Mangold (Fn. 48), S. 343 ff. Das Wechselspiel von eigener Identifikation und Zuschreibung von außen sowie der damit einhergehenden Diskriminierungsgefährdung thematisiert Cantalupo (Fn. 19), S. 6 f.: „These questions are fundamentally ‚intersectional‘ and ‚multidimensional‘ ones in that they recognize the multiple communities with which women of color identify or may be identified, as well as the discrimination we likely face as a result of that identification.“ 113 Siehe dazu Holzleithner, Geschlecht und Identität im Rechtsdiskurs, in: Rudolf (Hrsg.), Geschlecht im Recht, 2009, S. 37 (39 f.). 114 Lang, Intersexualität, 2006, S. 62. 115 Die Formulierung findet sich in Honneth, Kampf um Anerkennung, 1994, S. 200; damit knüpft er an die „counterculture of dignity“ an, die Cobb/Sennett, The Hidden Injuries of Class, 1993, S. 83, identifizieren. Ein Beispiel: „Our politics initially sprang from the shared belief that Black women are inherently valuable, that our liberation is a necessity not as an adjunct to somebody else’s but because of our need as human persons for autonomy.“ (The Combahee River Collective (Fn. 52), S. 42). 116 Als Initialzündung kann gelten: Anonymous Queers, Queers Read This: I Hate Straights, 1990, in: Blasius/Phelan (Hrsg.), We Are Everywhere, 1997, S. 773. Siehe dazu mit weiteren Nachweisen Holzleithner, Die Queer Debatte, Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 2000, S. 14. Elisabeth Holzleithner
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Vor diesem Hintergrund sind die Kategorien als Normengeflechte zu verstehen – sie 30 sind normativ konstituiert117. Doch die in ihrem Rahmen vorgenommenen Aneignungsund Ablehnungsprozesse bleiben der Person nicht äußerlich, vielmehr materialisieren sie sich auch in „leiblichen Empfindungen“.118 Nicht nur deshalb ist Identität nicht beliebig verfügbar; verschiedene Aspekte werden vielmehr als Disposition erlebt, in die nicht einfach eingegriffen werden kann – weder durch den eigenen Willen, noch über Zwang oder Manipulation durch andere. Das bedeutet auch: Hinsichtlich unserer Identität sind wir nur in Grenzen autonom. Personale Autonomie ist damit aber nicht einfach aufgehoben. Manche Diskurse mögen äußerst mächtig sein; dadurch wird aber Handlungsfähigkeit nicht völlig überspielt.119 Vielmehr gestalten Diskurse jene Situationen, innerhalb derer autonomes Handeln – im Rahmen von bestimmten Bedingungen – stattfinden kann: Sie schaffen (oder verstellen) Lebens- und Handlungsmöglichkeiten; sich damit auseinanderzusetzen und Möglichkeiten zu ergreifen, bedarf materieller wie immaterieller Ressourcen, also auch entsprechender emotional-intellektueller Kapazitäten; und Autonomie ist nur dann gegeben, wenn in der jeweiligen Situation kein unmittelbarer Zwang und keine massive Manipulation herrscht.120 Dem Recht kommt hier eine wesentliche Rolle zu. Aufgabe des Antidiskriminierungs- 31 rechts ist es zu verhindern, dass Menschen aufgrund jener Merkmale, Überzeugungen und Verhaltensweisen, mit denen sie sich identifizieren und über die sie identifiziert werden, Ressourcen zur individuellen Entfaltung – seien es Güter und Dienstleistungen, sei es ein Arbeitsplatz – vorenthalten werden, oder dass sie deshalb Belästigungen erleiden. Dabei gestaltet das Recht jene Kategorien mit, welche Gegenstand von eigener und fremder Identifikation sind. So wird rechtlich normiert, wie Menschen zu ihrem Geschlecht kommen – und unter welchen Bedingungen sie den geschlechtlichen Personenstand ändern lassen können, sei es von „weiblich“ auf „männlich“, oder auf ein drittes Geschlecht wie „inter“ oder „divers“; auch ein Offenlassen des Geschlechtseintrags ist in Deutschland und Österreich mittlerweile möglich.121 Diese in den letzten Jahren zu beobachtende Erweiterung der rechtlichen Anerkennungsbeziehungen lässt sich als Prozess der Emanzipation durch Recht im Sinne einer Freisetzung individueller Autonomie rekonstruieren, und zwar als gleiche Freiheit im Sinn einer rechtlich verbürgten individuellen Entfaltung in Beziehungen mit anderen.122 Die erweiterten rechtlichen Möglichkeiten geschlechtlicher 117 Vorgedanken dazu finden sich in Holzleithner, Legal Gender Studies: Grundkonstellationen und He-
rausforderungen, Juridikum. Zeitschrift für Kritik Recht Gesellschaft 2015, S. 471 (478). Hier war allerdings noch die Rede davon, Kategorien seien normativ „gewendet“; dieser Begriff wird nun zugunsten jenes der Konstitution aufgegeben. 118 Lang (Fn. 114), S. 62. 119 Vgl. Davis, Dubious Equalities and Embodied Differences, 2003, S. 12. 120 Holzleithner (Fn. 113), S. 40 f. 121 Dazu unter Diskussion der einschlägigen Judikate des Bundesverfassungsgerichts sowie des österreichischen Verfassungsgerichtshofs Holzleithner, Geschlecht als Anerkennungsverhältnis, JöR n. F. 67 (2019), S. 357. Für weitere Entwicklungen und ein angemessenes rechtsdogmatisches Konzept siehe Mangold/ Markwald/Röhner, Vom pathologisierenden zum selbstbestimmten Geschlechtsmodell, zfmr 2020, S. 24. 122 Siehe zu diesen Fragen etwa die Beiträge in Baer/Sacksofsky (Hrsg.), Autonomie im Recht, 2018. Elisabeth Holzleithner
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Existenzweisen und damit verbundener Identifikationen lassen die Frage der Diskriminierungsfreiheit möglicherweise noch dringlicher erscheinen als zuvor: Denn die rechtliche Anerkennung ist das eine – die sozialen Anknüpfungen, die Diskriminierung hervorrufen, sind das andere. 32 Damit tut sich auch ein Dilemma auf, das im Recht seinen besonderen Ausdruck findet: Dass nämlich die Anknüpfung an Kategorien, in der Gesellschaft wie im Recht, diese Kategorien verfestigt, anstatt sie in ihrer Bedeutung zu reduzieren.123 Wer ein Verbot der Diskriminierung mit Blick auf bestimmte Kategorien verbürgt, scheint zu zementieren, dass diese Kategorien auf Wesenheiten verweisen, über welche Menschen identifizierbar sind. Wendy Brown hat die Problematik am Beispiel des Geschlechts paradigmatisch auf den Punkt gebracht: „To have a right as a woman is not to be free of being designated and subordinated by gender.“124 Über die Anrufung der Kategorie im Recht kommt es zu deren festlegender Regulierung, genau zu jener Verfestigung, die im Lichte der normativen Konstitution von Kategorien hintangehalten werden soll. Dieses „Dilemma der Differenz“125 ist unausweichlich; man kann sich im Antidiskriminierungsrecht nur damit auseinandersetzend bewegen. Das hat grundlegend damit zu tun, dass Kategorien im sozialen Leben eine Rolle spielen, weil Menschen sich selbst identifizieren und einander über identifizierende Zuschreibungen tatsächlich anerkennen oder missachten. 3. Kategorieninteraktionen: Über die Matrix der Unterdrückung zurück zur Kreuzung 33 Für das Interagieren von Kategorien hat Suzanne Goldberg ein einleuchtendes Bild ge-
funden: Goldberg vergleicht es mit dem Zusammenwirken von Glasobjekten in einem Kaleidoskop. Mit jedem Schütteln des Kaleidoskops erscheinen die Glasobjekte in unterschiedlichen Kombinationen – die Möglichkeiten sind schier unbegrenzt. Nun mag moniert werden, dass dieses Bild insofern unterkomplex ist, als es die einzelnen Identitätsbestandteile als scharf begrenzt und voneinander abgrenzbar darstellt und damit eine bloß additive Perspektive zu eröffnen scheint. Allerdings ist das Kaleidoskop ebenso dynamisch wie schillernd, und das im wahrsten Sinn des Wortes: „If we think about distinct traits as the small colour chips in the scope, we know that when a blue chip sits atop a red chip and we see a purple colour, it is not meaningful to separate the work of the blue chip from that of the red because the two have blended, at least for the moment.“126
123 So ja auch die Kritik des postkategorialen Rechtsdenkens. Siehe → Baer, § 5 Rn. 57 ff. 124 Brown, Suffering Rights as Paradoxes, Constellations 2000, S. 230 (232). Andererseits ist es aber auch
problematisch, so zu tun, als wären alle tatsächlich gleich. Elisabeth Wolgast etwa gründet ihre Forderung, dass eine Gesellschaft auf vorhandene Differenzen angemessen eingehen müsse, auf einen drastischen Vergleich: „To proceed otherwise is to imitate Procrustes, who invited guests to spend the night and then cut them down or stretched them to fit his bed. It is to be guided by a strange set of priorities.“ (Wolgast, Equality and the Rights of Women, 1980, S. 15). 125 Minow, Making All the Difference, 1990, S. 20. 126 Goldberg (Fn. 63), S. 181. Diese dynamische Metapher erscheint noch überzeugender als die Vergleiche, die Solanke (Fn. 55), S. 212, zieht: „Just as oxygen and hydrogen produce water not ‚oxydrogen‘, or tin and copper together make bronze, not ‚tinper‘, the synergy in intersectional discrimination creates a new subject – Black women“. Elisabeth Holzleithner
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Das ansprechende Bild von den Glasobjekten im Kaleidoskop lenkt freilich ein Stück 34 weit von der Problematik ab, die das Antidiskriminierungsrecht beschäftigt. Denn hier geht es um die diskriminierenden Folgen des Anknüpfens an miteinander interagierende Kategorien. Dabei ist wiederum zu beachten, dass nicht alle Identitätsbestandteile, die da ineinander verflochten sind, benachteiligend wirken. In der Welt multidimensionaler Positionierungen werden neben Benachteiligungen auch Privilegierungen „verteilt“. Menschen bekleiden in dieser Welt „kontradiktorische Subjektpositionen“:127 Wir sind nicht immer und überall „dieselben“ und auch nicht in jeder Situation gleichermaßen privilegiert oder marginalisiert. Vielmehr hängt die Wirkmächtigkeit unserer Positionalitäten und der damit verbundenen Stereotypisierungen jeweils davon ab, zu welcher Zeit und an welchem Ort wir mit welchen Menschen zusammentreffen.128 Diese Perspektive korrespondiert mit dem von Patricia Hill Collins entwickelten Konzept einer Matrix der Unterdrückung. Collins fasst Macht als „intangible entity that circulates within a particular matrix of domination and to which individuals stand in varying relationships.“129 Jede einzelne Person „derives varying amounts of penalty and privilege from the multiple systems of oppression which frame everyone’s lives.“130 Demzufolge mag eine einzelne Person nicht einfach unterdrückend oder unterdrückt sein, sondern „simultaneously oppressor and oppressed“.131 Die Komplexität der Positionalitäten lässt sich gut auf den Punkt bringen, wenn noch- 35 mals ein Blick auf die Metapher der Intersektion geworfen und diese, über Crenshaw hinaus, weiter angereichert wird. Wir haben es im Verkehr ja nicht nur mit einfachen Kreuzungen von zwei Straßen aus unterschiedlichen Richtungen zu tun. Neben Hauptstraßen gibt es auch Nebenfahrbahnen, die an verschiedenen Stellen einmünden können. Nicht zuletzt sind Menschen auf den Straßen mit sehr unterschiedlicher Ausstattung unterwegs: Sie können in einem luxuriösen, neuwertigen Fahrzeug sitzen, das nicht nur schnell zu fahren vermag, sondern auch einen hohen Sicherheitsstandard bietet (jedenfalls für die Personen im Fahrzeug). Oder sie bewegen sich mit einem klapprigen Fahrzeug fort, das so wirkt, als würde es gleich auseinanderbrechen. Dann ist es kein Zufall, wenn sie regelmäßig überholt werden. Und selbstverständlich sind nicht alle Verkehrsteilnehmer*innen im Auto unterwegs, sei es aus finanziellen Gründen, sei es aus Überzeugung. Bei manchen reicht es gerade für ein zweispuriges Motorgefährt, andere fahren Rad. Und diese Gefährte können bisweilen von Vorteil sein, weil man sich an einer Kolonne im Stau vorbeischlän127 Der Begriff ist von Anthias’ Nachdenken über „contradictory locations“ inspiriert; siehe Anthias, Ret-
hinking social divisions, Sociological Review 1998, S. 505 (532). Siehe dazu bereits Holzleithner, Konsum aus Perspektive der Legal Gender Studies, in: Heiss/Loacker (Hrsg.), Grundfragen des Konsumentenrechts, 2020, S. 109 (112). 128 Zu den multiplen, kontextabhängigen Wertigkeiten der diversen Identitätsbestandteile siehe Carbado/Harris, The New Racial Preferences, California Law Review 96 (2008), S. 1139. Siehe auch Hancock (Fn. 17), S. 109 ff. zu „contingency“. 129 Collins, Black Feminist Thought, 1990, S. 292. 130 Collins (Fn. 129), S. 225. 131 Collins (Fn. 129), S. 225. Vgl. Dhamoon, Considerations on Mainstreaming Intersectionality, Political Research Quarterly 64 (2011), S. 230 (235). Elisabeth Holzleithner
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geln kann. Auf einer Autobahn kann man mit einem Fahrrad aber nicht fahren. Und schon gar nicht hat jede Person die Kraft, sich auf einem Fahrrad fortzubewegen. 36 So betrachtet sieht man, wie die intersektionale Theorie es vermag, verschiedene Ebenen der Problematik auf den Punkt zu bringen: Systeme der Unterdrückung und Privilegierung, die in der Gestaltung der Straßen symbolisiert sind, individuelle Positioniertheiten, die in die Art des Fortbewegungsmittels einfließen, und da sind dann noch die individuellen Kreuzungen, die zum Verhängnis werden können. An ihnen verunfallen, bildlich gesprochen, nicht nur marginalisierte Personen. Es kann auch Menschen erwischen, die in vielfältiger Hinsicht privilegiert sind, etwa indem sie schicksalshaft eine schwere Erkrankung ereilt, die sich nicht heilen lässt, mag jemand auch noch so bevorzugten Zugang zu medizinischen Ressourcen haben.132 Interagierende Achsen von Macht und Ungleichheit erzeugen komplexe Verhältnisse von individueller und kollektiver Benachteiligung und Privilegierung. Ob und wie sie in einzelnen Situationen durchschlagen, ob und wie das Recht hier korrigierend eingreifen kann und mit welchem begrifflichen Instrumentarium es solche Konstellationen zu erfassen vermag – diesen Fragen wenden sich die folgenden Ausführungen zu. IV. Begriffe und Konstellationen 37 Bislang war vorwiegend die Rede von intersektionaler Diskriminierung. Diese bezeich-
net, wie gezeigt wurde, ein synergistisches Zusammenwirken von Kategorien, das einer Diskriminierung zugrunde liegt. Mehrfachdiskriminierung und mehrdimensionale Diskriminierung dienen dagegen als Überbegriffe für diverse denkbare Arten des Zusammenspiels mehrerer Diskriminierungsgründe und beinhalten auch Fälle, in denen mehrere Diskriminierungsgründe alternativ (sequenziell) oder kumulativ auftreten – in denen die Kategorien also analytisch getrennt voneinander betrachtet werden können. Der Begriff der Mehrfachdiskriminierung ist speziell für das EU-Antidiskriminierungsrecht prägend.133 Der Verweis auf mehrfache Betroffenheiten findet sich in den beiden Antidiskriminierungsrichtlinien aus 2000: So wird in Erwägungsgrund 14 der Präambel zur Antirassismus-Richtlinie darauf verwiesen, dass die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern sei, „zumal Frauen häufig Opfer mehrfacher Diskriminierungen sind.“134 Ein gleichlautender Hinweis findet sich in Erwägungsgrund 3 der Rahmenrichtlinie.135 Dass 132 Harmon, The Puzzle of Pancreatic Cancer: How Steve Jobs Did Not Beat the Odds – but Nobel Win-
ner Ralph Steinman Did, scientificamerican.com, 7.10.2011.
133 Siehe etwa Hannett, Equality at the Intersections, Oxford Journal of Legal Studies 23 (2003), S. 65.
Die Europäische Union hat der Problematik etliche Publikationen gewidmet, beginnend mit Europäische Kommission, Bekämpfung von Mehrfachdiskriminierung, 2007. Siehe weiters Bielefeldt, Tackling Multiple Discrimination: Practices, Policies and Laws, 2007, S. 17. 134 Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft v. 19.7.2000, ABl. L 180/22 (Antirassismus-Richtlinie). 135 Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 2.12.2000, ABl. L 303/16 (Rahmenrichtlinie Beschäftigung). Elisabeth Holzleithner
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selbstverständlich auch Männer Opfer mehrfacher Diskriminierung sein können, geht bei dieser Formulierung unter. Zunehmend gebräuchlich ist schließlich der Begriff der mehrdimensionalen Diskrimi- 38 nierung.136 Er evoziert, in den Worten von Anna Katharina Mangold, „Vorstellungen von Räumlichkeit“ und „gemahnt an die Stringtheorie“,137 die von einer Vielzahl an Dimensionen ausgeht. Verschiedentlich wurde argumentiert, dass Mehrdimensionalität der für die Erforschung von Männlichkeiten138 und Sexualitäten139 angemessenere Begriff und Zugang sei, da im Kontext intersektionaler Theoriebildung primär auf Frauen und Weiblichkeiten fokussiert werde.140 Dieser Vorschlag hat sich allerdings nicht durchgesetzt. Im Weiteren wird darauf verzichtet, die Begriffe Mehrfachdiskriminierung und Mehrdimensionalität mit spezifischen Bedeutungen zu belegen, wie dies in der Literatur häufig zu finden ist.141 Sie können beide als Überbegriffe für die unterschiedlichen Varianten und Konstellationen gelten, deren Ausdifferenzierung Gegenstand der folgenden Ausführungen ist. 1. Alternativ-sequenzielle Diskriminierung einer Person aus unterschiedlichen Gründen
Eine erste Möglichkeit ist ein alternatives, diesfalls sequenzielles Auftreten unterschied- 39 licher Diskriminierungsgründe im Leben einer Person, die von mehreren Diskriminierungsgründen betroffen ist.142 Wenn wir etwa beim Beispiel einer Schwarzen Frau bleiben, so kann ihr in einer Situation Diskriminierung aufgrund des Geschlechts widerfahren, in einer anderen Diskriminierung aufgrund ihrer Race.143 Das ist dann möglich, wenn sie sich in einer ansonsten verhältnismäßig homogenen Umgebung bewegt, wo tatsächlich nur ein Diskriminierungsgrund zum Tragen kommen mag, oder wenn aufgrund der Situation eine Kategorie besonders in den Vordergrund tritt. Patricia Hill Collins skizziert 136 Siehe etwa Chege (Fn. 13); Mangold, Mehrdimensionale Diskriminierung – Potentiale eines materia-
len Gleichheitsverständnisses, RphZ 2016, S. 152; Schiek, From European Union Anti-Discrimination Law towards Multidimensional Equality Law for Europe, in: Schiek/Chege (Hrsg.), European Union Non-Discrimination Law, 2009, S. 1; Elsuni/Göttsche, Multidimensional Discrimination and the Law, Sociologia del Diritto 2016, S. 87; Ulrich, Zur Mehrdimensionalität von Gleichheitsgarantien, in: Ulrich/Greif/Neuwirth (Hrsg.), Kritisches Rechtsdenken I, 2020, S. 129. Baer charakterisiert jene sozialen Spaltungen, welche sie an der Wurzel aktueller Ungleichheitsrelationen verortet, als „multidimensional, complicated and affected by intersectional identities“; Baer, Speaking Law: Towards a Nuanced Analysis of „Cases“, German Law Journal 18 (2017), S. 271 (281). 137 Mangold (Fn. 136), S. 152. 138 Siehe etwa McGinley/Cooper, Masculinity, Multidimensionality, and Law: Why They need One Another, in: McGinley/Cooper (Hrsg.), Masculinities and the Law: A Multidimensional Approach, 2012, S. 1; Mutua, Multidimensionality is to Masculinities What Intersectionality is to Feminism, Nevada Law Journal 13 (2013), S. 341. 139 Siehe etwa Kwan, Jeffrey Dahmer and the Cosynthesis of Categories, Hastings Law Journal 48 (1997), S. 1257; Hutchinson, Identity Crisis: „Intersectionality,“ „Multidimensionality,“ and the Development of an Adequate Theory of Subordination, Michigan Journal of Race & Law 6 (2001), S. 285. 140 Zur Kritik an den damit verbundenen Kritiken siehe Cho (Fn. 29). 141 Siehe etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, Solanke (Fn. 55), S. 211 ff. sowie Atrey (Fn. 1), S. 109 ff. 142 Siehe zum Begriff der sequenziellen Mehrfachdiskriminierung Fredman, Intersectional Discrimination in EU Gender Equality and Non-discrimination Law, 2016, S. 27. 143 Europäische Kommission (Fn. 133), S. 16. Elisabeth Holzleithner
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solche unterschiedlichen Relevanzwerdungen im Selbstverhältnis wie in der Wahrnehmung durch andere: „Her gender may be more prominent when she becomes a mother, her race when she searches for housing, her social class when she applies for credit, her sexual orientation when she is walking with her lover, and her citizenship status when she applies for a job. In all of these contexts, her position in relation to and within intersecting oppressions shifts.“144 In manchen Situationen mag eine Perspektive sequenzieller Diskriminierung also durchaus Sinn machen und zutreffende Analysen ermöglichen. 2. Kumulative (additive) Mehrfachdiskriminierung
Die Analyse einer sequenziellen, auf unterschiedlichen Kategorien beruhenden Abfolge von Diskriminierungserfahrungen, basiert auf einer additiven Perspektive. Eine solche additive Perspektive unterliegt auch der Vorstellung, dass mehrere Diskriminierungsgründe in einer bestimmten Situation kumulieren können: dass also eine Person in einer bestimmten Situation „aus zwei oder mehreren Gründen gleichzeitig diskriminiert“145 wird. Hier wird davon ausgegangen, dass das Zusammenwirken beider oder mehrerer Gründe zur Benachteiligung führt, die Gründe sich aber in der Analyse der Diskriminierungssituation trennen lassen. Dabei kann bisweilen auch gezeigt werden, inwiefern die Kumulation der Gründe zu einer Verstärkung der Diskriminierung führt.146 Zur Illustration wird häufig ein Fall aus dem Vereinigten Königreich herangezogen: 41 Nwoke v. Government Legal Service and Civil Service Commissioners.147 Der Fall betraf eine Schwarze Britin, die sich für eine Stelle im Government Legal Service beworben hatte. Im Zuge der Qualifikationsbeurteilung wurden alle Bewerber*innen nach den Aufnahmegesprächen entlang einer Skala von A bis E gereiht. Frau Nwoke wurde mit der schlechtesten Bewertung versehen. Im Zuge der nachfolgenden Überprüfung konnte eruiert werden, dass alle weißen Bewerber*innen besser bewertet worden waren, selbst bei schlechterer Ausbildung. Derart wurde Race als eigenständiges diskriminierendes Merkmal ausgewiesen. Überdies hatten weiße Frauen, selbst wenn ihre Qualifikationen höher eingeschätzt wurden als jene von weißen Männern, geringere Chancen auf eine Einstellung; wenn sie die Stelle bekamen, dann war ihr Gehalt niedriger. Auch das Geschlecht erschien so als eigenständiges diskriminierendes Merkmal. Die benachteiligende Behandlung basierte dieser Rekonstruktion zufolge auf einer Kumulation von Geschlecht und Race.148 In einer derartigen Konstellation ist es zwar möglich, sich auf eine von mehreren im Spiel befindlichen Diskriminierungsgründe zu stützen. Das Spezifische an der Situation wird damit 40
144 Collins (Fn. 129), S. 293. 145 Europäische Kommission (Fn. 133), S. 16. 146 Siehe dazu auch die Ausführungen von Shoben (Fn. 59), S. 795 ff. am Beispiel der Vorgaben für die
Aufnahme von Personal in die Polizei.
147 Nwoke v. Government Legal Service and Civil Service Commissioners 28 EOR 6 (1996); zur Darstel-
lung und Kritik des Falls siehe etwa Hannett (Fn. 133), S. 68; Solanke, Putting Race and Gender Together, The Modern Law Review 72 (2009), S. 723 (728). Siehe zum Folgenden Holzleithner, Mehrfachdiskriminierung im europäischen Rechtsdiskurs, in: Hormel/Scherr (Hrsg.), Diskriminierung, 2010, S. 95 (98). 148 Fredman (Fn. 142), S. 27 spricht hier von „additiver Mehrfachdiskriminierung“. Elisabeth Holzleithner
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aber nicht erfasst. Und nur dann, wenn es möglich ist, in einem rechtlichen Verfahren das Wirksamwerden mehrerer Kategorien glaubhaft zu machen, wird die der Diskriminierung verdächtigte Partei etwaige Rechtfertigungen mit Blick auf alle vorgetragenen Kategorien erbringen müssen – nach den jeweils für die Kategorien geltenden Standards, die unterschiedlich sein mögen. Ein gemeinsames Geltendmachen aller im Spiel befindlichen Kategorien ist nicht zu- 42 letzt deshalb von Bedeutung, weil es im Zuge ihrer Kumulation vielfach zu einer Verstärkung kommt. Dieses Phänomen wurde in den USA bereits Mitte der 1970er Jahre ausgemacht: Almquist konnte in ihrer Studie über Arbeitslosigkeitsraten nachweisen, dass die Summe aus dem „racial gap“ (Vergleich von weißen und Schwarzen Männern) und dem „sexual gap“ (Vergleich von Männern und Frauen) geringer war als der „racial-sexual gap“ (weiße Männer im Vergleich mit Schwarzen Frauen). Almquist sah daher eine wechselseitige Beeinflussung der Kategorien im Spiel, welche eine weitergehende Benachteiligung erzeugte, als eine einfache Addition von Geschlecht und Race annehmen lassen würde.149 In den Worten von Scales-Trent: „This suggests that race and sex interact to magnify the effect of each independently.“150 Auch diese Beobachtung erweist, dass eine schlichte Differenzierung zwischen einzelnen Diskriminierungsgründen und die Vorstellung, man könne diese dann einfach addieren, nicht angemessen ist. Die Distinktion mag analytisch möglich sein, sie entspricht aber nicht der Lebenserfahrung von Menschen, die mehreren Diskriminierungskategorien zugerechnet werden. Das heißt aber auch, um hier nicht bloß individualisierend auf einzelne Personen zu fokussieren: Sie sind von mehreren ineinandergreifenden Systemen der Unterdrückung betroffen.151 3. Intersektionale (synergistische) Diskriminierung
Die Perspektive muss daher erweitert werden – darum, dass die Diskriminierung eine ganz 43 eigene Gestalt und Qualität annimmt, wenn mehrere Gründe im Spiel sind. Jeder Diskriminierungsgrund ist gewissermaßen immer schon intersektional angereichert. Eine spezielle Herausforderung liegt darin, Diskriminierung ausschließlich aufgrund des synergistischen Zusammenwirkens zweier oder mehrerer Diskriminierungsgründe wahrzunehmen, wenn gerade deren Kombination das benachteiligende Ergebnis produziert. Als paradigmatischer Fall wurde mit Crenshaw das Urteil in DeGraffenreid dargestellt. An einem anderen Beispiel sei nochmals die Struktur der Argumentation skizziert: Ein Arbeitgeber stellt keine muslimischen Frauen ein, die aus religiösen Gründen eine Kopfbedeckung tragen. Zur Rechtfertigung bringt er vor, dass er, erstens, muslimische Arbeitskräfte egal welchen Geschlechts beschäftige und, zweitens, Frauen, auch muslimischen Glaubens. Eine Frau, die durch Kopftuchtragen ihre religiösen Überzeugungen für alle sichtbar nach außen trage, würde einer Subgruppe angehören, die nicht spezifisch durch das Recht geschützt 149 Almquist, Untangling the Effects of Race and Sex, Social Science Quarterly 56 (1975), S. 129 (135 ff.). 150 Scales-Trent (Fn. 11), S. 9. 151 Hier sei an die Matrix der Unterdrückung von Collins (Fn. 11) erinnert; siehe bereits The Combahee
River Collective (Fn. 52), S. 41.
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§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
sei. Weil er weder aus religiösen Gründen noch aufgrund des Geschlechts diskriminiere, könne im Fall der Kopftuch tragenden Frauen auch keine Diskriminierung vorliegen. Eine solche, in den Worten von Ute Sacksofsky, „spitzfindige und offensichtlich in44 adäquate“152 Argumentation führt das Antidiskriminierungsrecht ad absurdum.153 Warum sollte der diskriminierende Charakter einer Situation dadurch entfallen, dass er sich (bloß) als Kombination mehrerer, ohnehin geschützter Kategorien realisiert? Die Aufgabe des Antidiskriminierungsrechts besteht doch gerade darin, ein Vorgehen gegen jene (Konglomerate von) Gründe(n) zu ermöglichen, die all jene benachteiligen, die in einer oder mehreren Hinsicht(en) von der privilegierten Maßfigur abweichen: männlich, heterosexuell, weiß, einheimisch, nicht zu alt, nicht zu jung, körperlich und geistig halbwegs fit, religiös und weltanschaulich unauffällig. Dafür ist je nach Situation eine Anzahl von Faktoren potenziell relevant, die in ihrem Zusammenwirken die jeweilige Gefährdungslage einer Person erzeugen. Mit dieser Beobachtung ist kein rein asymmetrisches Verständnis von Antidiskriminie45 rungsrecht verbunden. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine vorrangige Berücksichtigung aufgrund einer Förderungsmaßnahme zur Diskriminierung eines (typischerweise männlichen und weißen) Mitbewerbers führt. So wurde in Österreich bei einer offenbar auch parteipolitisch motivierten Besetzung der Sektionsleitung in einem Ministerium dem benachteiligten Mitbewerber eine hohe Entschädigung zugesprochen.154 Wenn im Rahmen von Förderungsmaßnahmen nicht jegliche Form der vorrangigen Berücksichtigung erlaubt sein soll, zumal bei Stellen, die aufgrund hoher Qualifikationen vergeben werden, dann ist dies eine der Konsequenzen. Die Judikatur des EuGH etwa zieht die Grenzen von Förderungsmaßnehmen schon vom Ansatz her durchweg eng, weil sie als Ausnahmen vom (formal verstandenen) Verbot der Diskriminierung angesehen werden.155 Aber auch das Zusammenwirken eines typischerweise benachteiligenden mit einem 46 typischerweise privilegierenden Merkmal kann eine diskriminierende Situation erzeugen. Eine solche Konstellation lag dem AG Oldenburg vor: Drei Personen wollten Einlass in eine Disco: ein weißer Mann, eine Schwarze Frau und ein Schwarzer Mann. Die Schwarze Frau und der weiße Mann bekamen Zutritt, der Schwarze Mann hingegen nicht. Seiner Klage wegen Diskriminierung aufgrund einer Kombination von (dunkler) Hautfarbe und (männlichem) Geschlecht wurde stattgegeben.156 Die Diskriminierung wurde ohne ge152 → Sacksofsky, § 14 Rn. 86. 153 Dazu und zum Folgenden Holzleithner, Gendergleichheit und Mehrfachdiskriminierung, in: Arioli
u. a. (Hrsg.), Wandel der Geschlechterverhältnisse durch das Recht?, 2008, S. 305 (311).
154 Der betroffene Mitbewerber war Mitglied einer anderen (rechtsnationalistischen) politischen Partei
und überdies schlagender Burschenschaftler: Spitzenbeamter erhält Nachzahlung, Bures verteidigt Entscheidung, derstandard.at v. 19.3.2018. 155 In eine stärker substanzielle Richtung weist EuGH, Urt. v. 9.3.2017, Rs. C-406/15, Milkova, wo Fördermaßnahmen attestiert wurde, auf die Herstellung von materieller, nicht bloß formeller Gleichheit gerichtet zu sein (Rn. 47); siehe dazu De Vos, The European Court of Justice and the March towards Substantive Equality in European Union Anti-Discrimination Law, International Journal of Discrimination and the Law 20 (2020), S. 62 (78). 156 AG Oldenburg, Urt. v. 23.7.2008, E2 C 2126/07; siehe dazu → Sacksofsky, § 14. Elisabeth Holzleithner
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nauere Begründung bejaht. Ebenso urteilte das OLG Stuttgart in einem ähnlich gelagerten Fall wenige Jahre später und erkannte richtungweisend dem Betroffenen eine Geldentschädigung wegen erheblichen Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu. Auch generalpräventive Erwägungen wurden dabei berücksichtigt.157 Zur intersektionalen Diskriminierung zählen neben jenen Fällen, die aufgrund eines 47 synergistischen Zusammentreffens von Diskriminierungskategorien entstehen, auch jene Konstellationen, die nur dann angemessen wahrgenommen werden können, wenn die Intersektion mehrerer Kategorien berücksichtigt wird.158 So wird in den „Kopftuchfällen“ im Antidiskriminierungsrecht nicht selten bloß die Diskriminierung aufgrund der Religion geltend gemacht;159 die Analyse bleibt daher bei der Betrachtung dieses ostentativen Diskriminierungsgrundes stehen. Eine angemessene Betrachtung dieser Fälle muss dagegen die hier relevante Intersektion der Kategorien von Geschlecht, Religion und Race berücksichtigen.160 4. Kollisionen von Kategorien
Im Zuge der Interaktion von Diskriminierungskategorien kann es aber auch zu Kollisio- 48 nen kommen. Damit sind solche Situationen bezeichnet, in denen Argumente mit Blick auf die eine Kategorie in eine andere Richtung weisen als jene mit Blick auf eine andere. In feministischen Kontexten wird die Frage des Kopftuchtragens bisweilen so konzipiert: Während die einen die Problematik in der Diskriminierung aufgrund des Kopftuchtragens sehen, meinen die anderen, die Benachteiligung liege im Kopftuchtragen selbst respektive in jener religiös-repressiven Struktur, die Frauen dazu nötige, sich religiös zu kleiden. Demzufolge würden Geschlechtergleichheit und Religionsfreiheit miteinander kollidieren. Frauen, so kommt es aus einschlägigen Stellungnahmen heraus, würden sich durch das Kopftuchtragen auf ihre eigene Unterdrückung einlassen.161 Der richtige Ansatz würde dieser Perspektive zufolge daher nicht in einem Diskriminierungsverbot liegen, sondern in Verboten, aus religiösen Gründen eine Kopfbedeckung zu tragen. Kopftuchtragen wird 157 OLG Stuttgart, Urt. v. 12.12.2011, 10 U 106/11. Einschränkend hält das Gericht fest, generalpräventive
Erwägungen dürften „nicht dazu führen, dass die Diskriminierung zu einem ‚Geschäft‘ für den Benachteiligten wird.“ Es gelte, „[u]ferlosen Entschädigungsansprüchen nach dem AGG […] vorzubeugen“ (Rn. 35). Wie Liebscher in ihrer Anmerkung festhält, hat das Gericht die „Frage, ob die Mehrdimensionalität der Diskriminierung Einfluss auf die Entschädigungshöhe haben kann und im konkreten Einzelfall hatte“, ungeprüft gelassen (NJW 2012, 1087). 158 Schiek (Fn. 11), S. 83. 159 Mit Blick auf die vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelten Fälle diagnostizieren → Walter/ Tremml, § 8 Rn. 17 ff. eine „freiheitsrechtliche Überlagerung“ der Argumentation. Schiek (Fn. 11), S. 93 schreibt von der „ambiguous position of banning discrimination on grounds of religion, which can appear as an auxiliary to the substantive right of religious freedom.“ (Mit Verweis unter anderem auf McColgan, Discrimination, Equality, and the Law, 2014, S. 67 f.). 160 Siehe dazu unten Rn. 82 ff. (C. III. 2. b)). 161 In diese Richtung geht etwa auch die Argumentation von Lady Hale in Begum – sie verortet Diskriminierung in zentraler Weise in restriktiven Bekleidungsvorschriften für Frauen; siehe dazu Roseberry, The Assimilationist Anti-Discrimination Paradigm and the Immigrant Muslim Woman, in: Schiek/Lawson (Hrsg.), European Union Non-Discrimination Law and Intersectionality, 2016, S. 191 (198 ff.). Elisabeth Holzleithner
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§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
als Übel angesehen, als Negation der Freiheit der Frauen, die dazu gezwungen werden (und das sind nach dieser Perspektive alle Frauen, die ein Kopftuch tragen); dieses Übel sei nur aus der Welt zu schaffen, indem durch Kopftuchverbote verhindert wird, dass Frauen gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen – eine Konstellation ganz im Sinne jener doppelten Negation, mit welcher Immanuel Kant den Einsatz von Rechtszwang legitimiert.162 Freilich krankt diese Deutung bereits an der apodiktischen negativen Konnotation des Kopftuchtragens.163 49 Typisch sind weiters Kollisionen zwischen religiösen Rechten und jenen von LGBTIQ*Personen.164 Selbstverständlich sind nicht alle Religionen und religiösen Gruppen LGBTIQ*-Personen gegenüber feindselig gestimmt – der öffentliche Diskurs ist aber doch immer wieder von religiösen Ressentiments geprägt, etwa vonseiten traditionalistisch eingestellter Evangelikaler oder der römisch-katholischen Kirche.165 Deren Repräsentanten agitieren seit etlichen Dekaden im Gleichschritt mit muslimischen Geistlichen gegen den „Genderismus“.166 Darunter hat etwa die Erklärung und Aktionsplattform der Weltfrauenkonferenz von Beijing gelitten.167 Und in Einzelfällen kann es beim Diskriminierungsschutz, wie noch zu zeigen sein wird, zu schwierigen Abwägungssituationen kommen.
C. Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung im EU-Recht 50 Vor dem Hintergrund der vorangegangenen theoretischen Ausführungen sei nun mit dem
Recht der EU ein Praxisbeispiel dargebracht. Es anerkennt seit dem Vertrag von Amsterdam (1997) eine Mehrzahl von Diskriminierungsgründen; davor waren bloß Geschlecht und Nationalität geschützte Kategorien.168 Die Entwicklung war nicht zuletzt durch das
162 Kant, Die Metaphysik der Sitten: Rechtslehre, 1977, S. 338 f.: „[W]enn ein gewisser Gebrauch der
Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d. i. recht“. 163 Siehe dazu kritisch Holzleithner, Der Kopftuchstreit als Schauplatz der Debatten zwischen Feminismus und Multikulturalismus, in: Berghahn/Rostok (Hrsg.), Der Stoff, aus dem Konflikte sind, 2009, S. 341 m. w. N. Siehe überdies Bilge, Beyond Subordination vs. Resistance, Journal of Intercultural Studies 31 (2010), S. 9. 164 Siehe dazu bereits Holzleithner, Emanzipatorisches Recht – Eine queer_intersektionale Analyse, in: Philipp u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, S. 103 (113 ff.). 165 Allerdings hat Papst Franziskus in einem Interview für den Dokumentarfilm „Francesco“ gesagt, Homosexuelle hätten das Recht auf eine Familie. Was genau das bedeutet und wie weitgehend diese Aussage ist, darüber ist eine Debatte ausgebrochen, vgl. Papst Franziskus: „Recht auf Familie für Homosexuelle“, diepresse.com, 22.10.2020. 166 Siehe dazu etwa Holzleithner, Intersektionen von Gender und Religion im Menschenrechtsdiskurs: Der Fall sexueller Orientierung, zfmr 2011, S. 21. 167 Eindrücklich hierzu Girard, Negotiating Sexual Rights and Sexual Orientation at the UN, in: Parker/ Petchsky/Sember (Hrsg.), Sex Politics, 2007, S. 311 (329 ff.). 168 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, unElisabeth Holzleithner
C. Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung im EU-Recht
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Anliegen motiviert, dem zunehmenden Rassismus und dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in etlichen Mitgliedstaaten, darunter Frankreich und Österreich, etwas entgegenzuhalten169 – ein Anliegen, das angesichts der autoritären Entwicklungen etwa in Ungarn und Polen nachhaltig aktuell bleibt. Artikel 19 AEUV nennt acht Gründe – Geschlecht, Rasse, ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung – und ermächtigt den nach dieser Vorschrift für die Unionsgesetzgebung zuständigen Rat dazu, rechtliche Vorgaben zur Bekämpfung von Diskriminierung zu machen.170 Die infolge des Vertrags von Lissabon rechtsverbindliche EU-Grundrechtecharta (GRCh) ist noch breiter angelegt und listet in Artikel 21 mit Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, ethnischer oder sozialer Herkunft, genetischen Merkmalen, Sprache, Religion oder Weltanschauung, politischer oder sonstiger Anschauung, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Vermögen, Geburt, Behinderung, Alter und sexueller Ausrichtung – in demonstrativer, nicht abschließender Aufzählung – gleich 13 Kategorien. Auch die in der GRCh über den AEUV hinaus aufgezählten Kategorien spielen eine eminente rechtliche Rolle. So hat der EuGH Art. 21 GRCh unmittelbar privatrechtsgestaltende Wirkung zugesprochen.171 Für die im AEUV aufgezählten Kategorien wurden rechtliche Regelwerke erlassen, welche die Diskriminierungsverbote ausdifferenzieren. I. Hierarchisiertes EU-Antidiskriminierungsrecht
In den EU-Verträgen finden sich für die in Art. 19 AEUV gelisteten Kategorien unterschied- 51 liche Regelungen, die sich als Hierarchisierungen deuten lassen.172 So ist die Geschlechtergleichheit insofern hervorgehoben, als die EU sich in Art. 8 AEUV ganz allgemein darauf verpflichtet, bei all ihren Tätigkeiten auf eine Beseitigung von Ungleichheiten hinzuwirken – und speziell die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern. Diese Bestimmung ist die Grundlage für Gender Mainstreaming als Querschnittsaufgabe der EU: Geschlechterfragen sollen in jedem Politikbereich insofern miteinbezogen werden, als Gleichstellung zu bewirken ist.173 Weniger weitgehend ist demgegenüber die ebenfalls terzeichnet am 2.10.1997, in Kraft getreten am 1.5.1999; ABl. 97/C 340/01. Siehe zum Folgenden bereits Holzleithner, EU-rechtliche Bestimmungen zum Antidiskriminierungsverbot, in: Scherr u. a. (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 211 (212 ff.). 169 Givens/Case, Legislating Equality. The politics of antidiscrimination in Europe, 2014, S. 12. Zum Kontext siehe Merlingen/Mudde/Sedelmeier, The Right and the Righteous?, Journal of Common Market Studies 39 (2001), S. 59. 170 Im Regelfall des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 294 AEUV sind hingegen Ministerrat und Europäisches Parlament gemeinsam für die Gesetzgebung zuständig. 171 Mit Blick auf das Alter: EuGH, Urt. v. 15.1.2014, Rs. C-176/12, Association de médiation sociale, Rn. 47; mit Blick auf Religion und Weltanschauung: EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 76; EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-68/17, IR, Rn. 69. Siehe dazu etwa Schubert, Die Grundrechtecharta der Europäischen Union als Mittel zur Expansion des Unionsrechts?, EuZA 2020, S. 302. 172 Siehe dazu im Detail Holzleithner, Mainstreaming Equality. Dis/Entangling Grounds of Discrimination, Transnational Law & Contemporary Problems 14 (2005), S. 927 (931 ff.). 173 Europäische Kommission, Leitfaden für die durchgängige Berücksichtigung der Geschlechterperspektive, 2008. Elisabeth Holzleithner
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dem Mainstreaming verpflichtete Vorgabe in Art. 10 AEUV. Ihr zufolge zielt die EU bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen (bloß) darauf ab, Diskriminierungen aus allen im AEUV genannten Gründen zu bekämpfen. Vollendet wird das Geschlechtergleichheit vorrangig berücksichtigende Bild durch eine weitreichende Bestimmung, der zufolge Maßnahmen zur „effektive[n] Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben“ (Art. 157 Abs. 4 AEUV ) zu schaffen sind. 52 Die in den Verträgen etablierten Hierarchisierungen zwischen den Kategorien mit Blick auf die proaktiven Maßnahmen setzen sich auf der Ebene der Richtlinien fort, die zur Antidiskriminierung erlassen wurden. Dies kann auf die Behandlung von Fällen der mehrdimensionalen Diskriminierung durchschlagen. So sind schon die Geltungsbereiche unterschiedlich ausgestaltet: Mit Blick auf das Geschlecht ist Gleichheit im Sinne von umfassender Gleichstellung im Arbeitsleben zu gewährleisten;174 das inkludiert die Möglichkeit, fördernde Maßnahmen für das unterrepräsentierte Geschlecht zu etablieren. Diskriminierung ist auch beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen175 verboten. Darüber hinaus werden, wiederum in eigenen Richtlinien, spezifische Regelungen für Schwangerschaft, Mutterschaft und Elternurlaub verfügt.176 53 Der Geltungsbereich der Antirassismus-Richtlinie umfasst neben Beschäftigung und Beruf sowie Zugang zu Gütern und Dienstleistungen auch noch den Bereich der Bildung. Diesbezüglich besteht ein Alleinstellungsmerkmal. Für die Verwendung des Begriffs der Rasse hat man sich erst nach kontroversen Debatten entschieden; in Erwägungsgrund 6 der Präambel distanziert sich die EU von rassistischen Theorien: „Die Europäische Union weist Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, zurück. Die Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ in dieser Richtlinie impliziert nicht die Akzeptanz solcher Theorien.“ Im Folgenden wird im Einklang mit dem Vorschlag von Barskanmaz177 der Begriff der Rasse dort verwendet, wo von der einschlägigen Richtlinie die Rede ist. 54 Der Schutz vor Benachteiligungen aufgrund des Alters, der sexuellen Orientierung, von Religion und Weltanschauung sowie einer Behinderung gemäß der Rahmenrichtlinie gilt nur für Beschäftigung und Beruf. Eine bereits im Jahr 2008 vorgestellte Richtlinie zur Gleichbehandlung auch im Bereich der Güter und Dienstleistungen wurde nie erlassen.178 174 Richtlinie 2006/54 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes
der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen v. 5.7.2006, ABl. L 204/23. 175 Richtlinie 2004/113 des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen v. 13.12.2004, ABl. L 373/37. 176 Siehe dazu, und auch zur Implementierung in den Mitgliedstaaten, Europäische Kommission, Die Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund von Schwangerschaft, Mutterschaft und Elternschaft, 2013. 177 → Barskanmaz, § 7. Siehe überdies Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, sowie Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021. 178 Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen AusrichElisabeth Holzleithner
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Die Rahmenrichtlinie eröffnet den Mitgliedstaaten in Art. 3 Abs. 4 die Möglichkeit, ihre Geltung für die Streitkräfte mit Blick auf Behinderung und Alter auszuschließen. Im Umkehrschluss dürfen die Streitkräfte nicht aufgrund der sexuellen Ausrichtung diskriminieren. Dies ist nicht selbstverständlich, wie sich etwa an der Geschichte der Diskriminierung von Homosexuellen in der deutschen Bundeswehr179 und des Ausschlusses von Homosexuellen aus dem britischen Heer zeigt.180 Eine intersektionale Analyse eröffnet Perspektiven für die Geltendmachung von Dis- 55 kriminierung aus Gründen, für die unterschiedliche Geltungsbereiche normiert sind. Man denke an die Diskriminierung aufgrund der Religion in Verbindung mit Merkmalen wie Geschlecht und/oder Rasse/ethnischer Herkunft im Bereich des Zugangs zu Gütern und Dienstleistungen – etwa im Fall der Diskriminierung aufgrund religiös motivierten Tragens einer Bedeckung wie dem Kopftuch beim Zugang zu einem Freibad. Werden derartige Fälle ausschließlich unter dem Aspekt religiöser Diskriminierung betrachtet, wie das typischerweise der Fall ist,181 dann entfällt der Schutz wegen des Geschlechts. Anders ist das aber, wenn die intersektionale Dimension der Diskriminierung ernstgenommen wird. Werden Religion und Geschlecht sowie Rasse/ethnische Herkunft als untrennbares Konglomerat angesehen,182 dann müssen die stärker geschützten Merkmale „durchschlagen“. Derart hebt eine Verknüpfung der Religion mit Geschlecht und Rasse/ethnischer Herkunft den Fall gleichsam über die Schwelle des Geltungsbereichs – und diskriminierendes Verhalten wird auch beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen adressierbar.183 Eine andere Position vertritt Victoria Asaba Chege: „claims cannot be extended beyond 56 the scope of the common level of protection. Thus one may not be able to bring intersectional claims on grounds of religion and sex in the supply of goods and services, because Directive 2000/78/EC does not have effect in this area.“184 Diese Argumentation ist im Lichte einer intersektionalen Analyse unzutreffend. Auch eine Betrachtung allein unter dem Gesichtspunkt von Geschlecht und/oder Rasse/ethnischer Herkunft wäre aber unzulänglich. Denn zum einen würde man im Fall von Frauen, die aus religiösen Motiven ein Kopftuch tragen, typischerweise nicht zur Diagnose einer Diskriminierung gelangen, tung, 2.7.2008, KOM/2008/0426 endg. Siehe zu dem Entwurf Bell, Advancing EU anti-discrimination law: The European Commission’s 2008 proposal for a new directive, The Equal Rights Review 3 (2009), S. 7. 179 Erst im Jahr 2000 wurde seitens der Personalabteilung verfügt: „Homosexualität stellt keinen Grund für Einschränkungen hinsichtlich Verwendung oder Status und somit auch kein gesondert zu prüfendes Eignungskriterium dar“ (BArch, BW 1/503302: BMVg, PSZ III 1, 3.7.2000, zitiert nach Storkmann, Tabu und Toleranz, 2020, S. 261). 180 Dargestellt in EGMR, Urt. v. 27.9.1999, Beschwerde-Nr. 33985/96, 33986/96, Smith und Grady v. Vereinigtes Königreich. 181 Siehe dazu im Abschnitt zur Judikatur des EuGH Rn. 75 ff. (C. III. 2.). 182 Zur Begründung siehe im Detail Rn. 82 ff. (C. III. 2. b)). 183 In diesem Zusammenhang ist auch auf § 4 AGG zu verweisen: „Erfolgt eine unterschiedliche Behandlung wegen mehrerer der in § 1 genannten Gründe, so kann diese unterschiedliche Behandlung nur gerechtfertigt werden, wenn sich diese Rechtfertigung auf alle diese Gründe erstreckt, derentwegen die unterschiedliche Behandlung erfolgt.“ 184 Chege, The European Union anti-discrimination directives and European Union equality law, ERA Forum 2012, S. 275 (280). Elisabeth Holzleithner
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wenn allein auf das Geschlecht fokussiert wird; daran hindert die ausschließende intersektionale Logik: „Frauen als solche“ werden ja nicht diskriminiert. Religion ist ein genuiner Teil jener Diskriminierung, die einer Betroffenen hier widerfährt. Und man muss sich jedenfalls die Frage stellen, wie damit umzugehen ist, dass die (im EU-Recht schwächer geschützte) Religion „hineinspielt“. Das Problem stellt sich freilich in all jenen EU-Mitgliedstaaten nicht, die ein Levelling Up vorgenommen haben – die also den Diskriminierungsschutz für die Merkmale Alter, Behinderung, sexuelle Orientierung sowie Religion und Weltanschauung auf den Bereich des Zugangs zu Gütern und Dienstleistungen ausgeweitet haben. Dazu gehört Deutschland, nicht aber Österreich.185 II. Diskriminierungsbegriffe im EU-Recht 57
Die Richtlinien verwenden gleichlautende Definitionen von Diskriminierung. In allen Fällen wird zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung differenziert. Auch sexuelle Belästigung sowie Belästigung wegen eines geschützten Grundes gelten als Diskriminierung. Verboten ist überdies die Anweisung zur Diskriminierung. Das Konzept der Diskriminierung ist durch den EuGH in signifikanter Weise erweitert worden:186 Wenn eine Person aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer anderen Person diskriminiert wird, die geschützte Merkmale aufweist, dann kann auch das als Diskriminierung geltend gemacht werden.187 1. Unmittelbare Diskriminierung
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Unmittelbare Diskriminierung liegt dann vor, wenn eine Person aus einem der genannten Gründe „in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“188 Für die Feststellung einer Diskriminierung ist daher die Existenz einer konkreten Vergleichsperson, die günstiger behandelt wurde, nicht erforderlich. Es reicht, wenn erwiesen werden kann, dass eine Person mit Blick auf eine geschützte Kategorie typischerweise eine weniger günstige Behandlung erleidet.189 Nicht zuletzt in Fällen mehrdimensionaler Diskriminierung kann solch ein Zugang von Vorteil sein: Denn eine Diskriminierung liegt eben nicht nur dann vor, wenn die Person, die eine Benachteiligung erlitten hat, mit einer konkreten anderen Person verglichen werden kann, die sich – bis auf eine oder mehrere Diskriminierungskategorie(n) – in einer vergleichbaren Lage befindet. Gleichwohl bleibt die Problematik virulent, denn auch eine flexiblere Vorgabe erzeugt ein Korsett für mögliche Begründungen. Wie ein Gericht mit Blick auf die Beweisbarkeit von Diskriminierung festgestellt hat: „the more specific the 185 Österreich hat das Levelling Up nur hinsichtlich der Kategorie Behinderung vollzogen; siehe § 2 Abs 2
Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz – BGStG.
186 Siehe zum Folgenden bereits Holzleithner (Fn. 168), S. 216 ff. 187 EuGH, Urt. v. 17.7.2008, Rs. C-303/06, Coleman. 188 Art. 2 Abs. 2 lit. a RL 2000/43/EG; Art. 2 Abs. 2 lit. a RL 2000/78/EG; Art. 2 Abs. 1 lit. a RL 2006/54/
EG; Art. 2 lit. a RL 2004/113/EG.
189 Ellis/Watson, EU anti-discrimination law, 2015, S. 171 ff.
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composite class in which the plaintiff claims membership, the more onerous that ultimate burden becomes.“190 Das dürfte der Grund sein, warum Beschwerdeführer*innen, angeleitet von ihren Anwält*innen, wenn dies möglich ist, eine im jeweiligen Kontext dessen, was als unauffällig angesehen wird, weniger komplexe, auf bloß eine Kategorie abstellende Darstellung der Problematik vorziehen – weil sie sich davon mehr Erfolg versprechen.191 Dazu kommt, dass in manchen Rechtsordnungen eine Bezugnahme auf mehrere Diskriminierungsgründe aus verfahrensrechtlichen Gründen gar nicht möglich ist – wie etwa im Vereinigten Königreich, wo zwar seit 2010 eine Norm für Mehrfachdiskriminierung (aber auch nur im Zusammenspiel von zwei Gründen) gilt, diese aber nicht anwendbar ist.192 Unmittelbare Diskriminierungen sind jedenfalls unzulässig; sie sind einer Rechtfer- 59 tigung nicht zugänglich. Freilich bedeutet das nicht, dass immer formal gleichbehandelt werden müsste. Vielmehr erlauben die Richtlinien bestimmte Ungleichbehandlungen – dann handelt es sich aber begrifflich nicht um eine Diskriminierung, sondern eben um eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung. Eine Ausnahmebestimmung greift mit Blick auf alle Diskriminierungsgründe: Die Richtlinien erlauben eine unterschiedliche Behandlung, wenn diese mit bestimmten beruflichen Anforderungen in Verbindung stehen: dann nämlich, „wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“193 Nach ständiger Judikatur des EuGH sind solche Ausnahmebestimmungen eng zu interpretieren194 – sie sollen nicht als Freibrief für unterschiedliche Behandlung genützt werden können. Zur Illustration sei hier auf jene komplexe Bestimmung eingegangen, welche die Rah- 60 menrichtlinie Beschäftigung zu beruflichen Anforderungen im Kontext von Religion und Weltanschauung enthält.195 Durch sie wird die in den Rechtsordnungen mancher Mitgliedstaaten etablierte Sonderrolle von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen anerkannt, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht. Aufbauend auf nationalstaatlichen Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie bereits existierten, dürfen Mitgliedstaaten Regelungen beibehalten oder neu gestalten, denen zufolge „eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion 190 US District Court D. Maryland, Jeffers v. Thompson, 264 F. Supp. 2d 314, 327 (2003), zitiert nach
Goldberg (Fn. 63), S. 185.
191 Siehe dazu Goldberg (Fn. 63). 192 Atrey (Fn. 1), S. 8. 193 Art. 4 RL 2000/43/EG; Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG; Art. 14 Abs. 2 RL 2006/54/EG. Analog dazu
schließt Art. 4 Abs. 5 RL 2004/111/EG „eine unterschiedliche Behandlung nicht aus, wenn es durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist, die Güter und Dienstleistungen ausschließlich oder vorwiegend für die Angehörigen eines Geschlechts bereitzustellen, und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.“ 194 Zum Grundsatz der restriktiven Auslegung von Ausnahmeregelungen siehe Hantel, Europäisches Arbeitsrecht, 2016, S. 14 ff. 195 Siehe zum Folgenden bereits Holzleithner (Fn. 168), S. 228 ff. Elisabeth Holzleithner
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oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.“196 Besonders wird darauf hingewiesen, dass einschlägige Bestimmungen verfassungskonform sein müssen – und dass keine Diskriminierung aufgrund einer anderen Kategorie gerechtfertigt werden kann. Hier zeigt sich wiederum die Bedeutung des Zusammenspiels mehrerer Diskriminierungskategorien. Wie weit geht diese Erlaubnisnorm? Der EuGH hat dies erstmals in Vera Egenberger 61 gegen Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V.197 ausgelotet. Vera Egenberger hatte sich bei der evangelischen Diakonie für eine Stelle beworben, in deren Rahmen ein Parallelbericht zur Antirassismuskonvention erstellt werden sollte.198 Wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewerbung war die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche, die Vera Egenberger nicht vorweisen konnte, deswegen hat sie die Stelle auch nicht bekommen. Der EuGH hat dem zuständigen nationalen Gericht Kriterien für die Entscheidung übermittelt, ob dies rechtmäßig war: Aufgrund des konkreten Kontextes ist zu überprüfen, ob die gegenständlichen Anforderungen tatsächlich wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt sind. Der EuGH spezifizierte, dass die einschlägigen Anforderungen objektiv geboten sein müssen, und sie dürfen „keine sachfremden Erwägungen ohne Bezug zu diesem Ethos oder dem Recht dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie umfassen“.199 Dies läuft auf eine Abwägung im Einzelfall hinaus: zwischen dem Selbstverständnis der Kirche oder religiösen Einrichtung auf der einen und den Interessen der (prospektiven) Arbeitnehmer*innen auf der anderen Seite.200 Es muss nachvollziehbar sein, dass die Anforderung für die spezifische Tätigkeit von Relevanz ist. Das Thema wird noch komplexer, wenn auch der zweite Satz dieser Ausnahmebestim62 mung einbezogen wird. Dieser verfügt, dass Kirchen und andere öffentliche Organisationen, deren Ethos auf religiösen oder weltanschaulichen Grundsätzen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften verlangen dürfen, dass sich ihre Mitarbeiter*innen loyal und aufrichtig im Sinne dieses Ethos verhalten – unter der Voraussetzung, dass „die Bestimmungen dieser Richtlinie im übrigen“ eingehalten werden. Genau an dieser Stelle wird jene mehrdimensionale Herausforderung relevant, die als Kollision von Diskriminierungskategorien bezeichnet wurde – und bei der es gerade auch um die Rechte intersektional positionierter/marginalisierter Personen geht: z. B. homosexuelle Katholik*innen, die eine Anstellung in ihrer Kirche wollen.201 Denn religiöse Arbeitgeber*innen mögen einen Widerspruch darin sehen, wenn Menschen, die in gleichgeschlechtlichen Beziehungen leben oder mit einer Person des gleichen Geschlechts verheiratet sind, eine Position in ihrem Unternehmen anstreben oder innehaben. Aber 196 Ar. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG. 197 EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger. 198 Siehe zum Folgenden Holzleithner/Lerch, Demokratie und Gerechtigkeit, in: Lehner-Hartmann/Pir-
ker (Hrsg.), Religiöse Bildung – Perspektiven für die Zukunft, 2021, S. 35 (43 ff.).
199 EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger, Ls. 2. 200 Kalb, Kirchliche Selbstbestimmung und Arbeitsrecht – weitere Konkretisierungen, JAS 2013, S. 43
(55).
201 Siehe Rn. 48 f. (B. IV. 4.). Mit herzlichem Dank an Ines Rössl für die Formulierung.
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bedeutet die Richtlinienbestimmung nun, dass sie hier restriktiv vorgehen dürfen? Dass also LGBTIQ*-Bewerber*innen oder Arbeitnehmer*innen benachteiligt werden dürfen? Die spezifische Frage ist bislang noch nicht geklärt, aber der EuGH hat in IR gegen JQ 63 einen weiteren wichtigen Akzent gesetzt.202 Ein Chefarzt in einem Ordensspital hatte nach einer Scheidung eine weitere Ehe geschlossen; das Arbeitsverhältnis wurde gekündigt. Die Arbeitgeberin hat als Gesellschaftszweck die Verwirklichung von Aufgaben der Caritas als Lebens- und Wesensäußerung der römisch-katholischen Kirche durch unter anderem den Betrieb von Krankenhäusern. Nun geht es bei der Anforderung tatsächlich um einen zentralen Aspekt des Ethos der römisch-katholischen Kirche, nämlich die Heiligkeit und Unauflöslichkeit der kirchlichen Eheschließung. Dieses muss nach Ansicht des EuGH aber zu der Tätigkeit der fraglichen Person in Beziehung gesetzt werden. Angesichts der konkret auszuübenden Tätigkeit – „Beratung und medizinische Pflege in einem Krankenhaus und Leitung der Abteilung Innere Medizin“ – scheint dem EuGH „die Akzeptanz des kirchlichen Eheverständnisses für die Bekundung des Ethos nicht notwendig“ und damit „nicht im Sinne der Richtlinie eine wesentliche Voraussetzung der beruflichen Tätigkeit zu sein“.203 Egenberger wie IR schränken den kirchlichen Spielraum insofern ein, als sie festhalten, dass die Kirchen als Arbeitgeberinnen zwar Ethos-orientierte Anforderungen an ihre Arbeitnehmer*innen stellen dürfen. Diese müssen aber mit Blick auf die konkreten Anforderungen der Stelle begründet werden und können nicht abstrakt auf dem religiösen Selbstverständnis basieren.204 Das muss jedenfalls auch für Fälle der Kollision zwischen dem religiösen Ethos und dem Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung gelten, wenn nicht überhaupt jegliche unmittelbare Benachteiligung aus diesem Grund ausgeschlossen ist.205 2. Mittelbare Diskriminierung
Auch die Definition der mittelbaren Diskriminierung ist in allen Richtlinien gleichlautend. 64 Mit dieser Figur kann aufgegriffen werden, wenn Norm und Realität auf eine Weise miteinander interagieren, dass es zu diskriminierenden Effekten kommt. Entsprechend erfasst der Begriff jene Situationen, in welchen „dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren“ Personen mit Blick auf bestimmte Kategorien in besonderer Weise gegenüber Personen „benachteiligen können“, die davon nicht betroffen sind.206 Freilich gilt nicht jede derart hervorgerufene Benachteiligung als Diskriminierung, und das unterscheidet die mittelbare von der unmittelbaren Diskriminierung. Denn in die Definitionen von mittelbarer Diskriminierung sind Rechtfertigungsgründe eingebaut: Eine Benachteiligung, die sich aufgrund einer dem Anschein nach neutralen Regelung ergibt, ist dann erlaubt, EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-68/17, IR. EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-68/17, IR, Rn. 58. Siehe dazu auch → Walter/Tremmel, § 8 Rn. 43 ff. So etwa Pudzianowska/Śmiszek/Tobler, Combating sexual orientation discrimination in the European Union, European Equality Law Review 1 (2015), S. 41 (47 f.). 206 Zum Konzept der mittelbaren Diskriminierung siehe → Sacksofsky, § 14; Tobler, Indirect Discrimination, 2005. 202 203 204 205
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wenn gezeigt werden kann, dass – in den Worten der EU-Richtlinie – „die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren […] durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel […] zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.“207 Wie kann mittelbare Diskriminierung identifiziert werden? Vielfach wird „auf statis65 tische Verfahren zurückgegriffen“208; allerdings ist der Nachweis statistischer Signifikanz nicht zwingend erforderlich, so wollte es ganz dezidiert der europäische Gesetzgeber.209 Man wird daher auf typische Betroffenheiten abstellen, die mit bestimmten, dem Anschein nach neutralen Bestimmungen regelmäßig verbunden sind. Der EuGH selbst spricht von einer „hypothetischen Betrachtungsweise“.210 Dafür ist eine „Plausibilitätsprüfung“211 durchzuführen. Dabei mag man sich auf objektivierbare Daten stützen, die etwa von Sachverständigen vorgetragen werden.212 Man wird sich jedenfalls auch damit befassen müssen, was der historische Kontext der fraglichen Problematik ist. Wenn etwa eine neutrale Bestimmung, wie im Fall DeGraffenreid, deshalb benachteiligende Auswirkungen für eine ganz bestimmte Gruppe von Personen zeitigt, die aufgrund des synergistischen Zusammenwirkens von zwei oder mehreren Diskriminierungsmerkmalen entsteht, weil es erwiesenermaßen eine (unmittelbar) diskriminierende Praxis der Nichtanstellung der betroffenen Personengruppe gegeben hat, dann sollte dies als Nachweis ausreichen. Schließlich mag, dies ist eine weitere Variante, auf Normen verwiesen werden, die ausschließlich für Angehörige bestimmter Religionsgemeinschaften gelten und die neutral formulierte Bestimmungen für sie zur Benachteiligung werden lassen: Man denke nur an allgemein gehaltene Verbote von Kopfbedeckungen. Hier lässt sich plausibel argumentieren, dass diese typischerweise Menschen benachteiligen, die eine Kopfbedeckung tragen, weil sie dies als ihre religiöse Pflicht ansehen. Bisweilen liegt der Verdacht nahe, dass allgemein gehaltene Regelungen in Wahrheit dazu dienen, das Verbot der Diskriminierung wegen der Religion zu umgehen; man könnte hier auch von „verdeckter“ Diskriminierung sprechen.213 III. Intersektionalität und die Judikatur des EuGH 66 In der Geschichte der EuGH-Judikatur gab es einige Fälle, die von einem Zusammenwir-
ken mehrerer Diskriminierungskategorien gekennzeichnet waren. So hatte der dritte der wegweisenden Defrenne-Fälle seinen Ausgangspunkt darin, dass Gabriele Defrenne nicht
207 Art. 2 Abs. 2 lit. b RL 2000/43/EG; Art. 2 Abs. 2 lit. b, i RL 2000/78/EG; Art. 2 Abs. 1 lit. b RL 2006/54/
EG; Art. 2 lit. b RL 2004/113/EG.
208 Schrader/Schubert, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 3 Rn. 51. 209 Schrader/Schubert (Fn. 208), § 3 Rn. 62 verweisen darauf, dass es im Lichte der O’Flynn-Entscheidung
die erklärte Absicht war, auf einen statistischen Nachweis zu verzichten; mit Referenz auf Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.6.2000, KOM (1999), 565 endg., Art. 9 sowie Erwägungsgrund 15 RL 2000/78/EG. 210 EuGH, Urt. v. 21.9.2000, C-124/99, Borawitz, Rn. 25. 211 Schiek, in: Schiek (Hrsg.), AGG, 2007, § 3 Rn. 43 ff.; Schrader/Schubert (Fn. 208), § 3 Rn. 64. 212 Schrader/Schubert (Fn. 208), § 3 Rn. 64. 213 → Sacksofsky, § 14 Rn. 54, 105. Elisabeth Holzleithner
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nur weniger verdiente, sondern überdies als Flugbegleiterin mit dem Erreichen des 40. Lebensjahres vertragsgemäß ihren Arbeitsplatz verlor.214 Freilich konnte Altersdiskriminierung im Jahr 1978 noch gar nicht geltend gemacht werden, weil die rechtliche Grundlage dafür fehlte; der Fokus konnte (allein) auf dem Geschlecht liegen, denn es lag jedenfalls insofern eine geradlinige Benachteiligung gegenüber Männern vor, als diese auch nach Erreichen des 40. Lebensjahres weiterhin tätig sein konnten. Allerdings kam Defrenne III selbst in dieser Hinsicht zu früh, denn zum Zeitpunkt der geschlechterdiskriminierenden Alterskündigung war bloß die Entgeltdiskriminierung verboten. In Kücükdeveci215 lag eine Altersdiskriminierung an der Schnittstelle mit ethnischer Herkunft und Geschlecht vor, die im EuGH-Judikat allerdings nicht direkt thematisiert wurde.216 Das Alter war, zusammen mit der sexuellen Orientierung, im Spiel, als es der EuGH in Parris217 tatsächlich mit einer Konstellation synergistischen Zusammenwirkens zweier Diskriminierungsgründe zu tun hatte, die jener von DeGraffenreid strukturell ähnelt. Mit diesem Fall setzt die folgende Analyse ein. Danach widmet sie sich jenen mittlerweile vier Fällen, die sich mit Diskriminierungen aufgrund religiös motivierten Kopftuchtragens durch muslimische Frauen befassen. Diese wurden durch den EuGH, unter Ausblendung der intersektionalen Aspekte, ausschließlich aus der Perspektive der Religion behandelt. 1. Zur Intersektion von sexueller Diskriminierung und Alter: Parris
Parris konfrontierte den EuGH mit folgender Problematik: In Irland war es für gleich- 67 geschlechtliche Paare lange Zeit nicht möglich, ihre Beziehung rechtlich anerkennen zu lassen.218 Das änderte sich erst mit dem Civil Partnership and Certain Rights and Obligations of Cohabitants Act 2010. Davor konnten gleichgeschlechtliche Lebensgefährt*innen auch keine Berechtigung für eine Hinterbliebenenpension erwerben. Als Voraussetzung für den Erwerb von Anwartschaften können nach irischem Recht Altersgrenzen vorgesehen werden. Diese Ungleichbehandlung aufgrund des Alters gilt aufgrund der Ausnahmebestimmung in Art. 6 Abs. 2 der RL 2000/78/EG (und im darauf Bezug nehmenden irischen Recht) als zulässig.219 Im gegenständlichen Fall sah der Pension Fund des Trinity 214 EuGH, Urt. v. 15.6.1978, Rs. 149–77, Defrenne III. 215 EuGH, Urt. v. 19.1.2010, Rs. C-246/09, Kücükdeveci. 216 Weitere Beispiele für Konstellationen mehrfacher Betroffenheit an der Schnittstelle zum Alter sind
EuGH, Urt. v. 12.10.2010, Rs. C-250/09, Rosenbladt und EuGH, Urt. v. 12.1.2010, Rs. C-555/07, Petersen; vgl. Schiek, Age discrimination before the ECJ – conceptual and theoretical issues, Common Market Law Review 48 (2011), S. 777 (797 ff.). 217 EuGH, Urt. v. 26.11.2016, Rs. C-443/15, Parris. 218 Die Ehe wurde dann in Folge des Verfassungsreferendums vom 22.5.2015 geöffnet. Siehe dazu Tiernan, The history of marriage equality in Ireland, 2020. 219 Im Wortlaut: „Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit die Festsetzung von Altersgrenzen als Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente oder von Leistungen bei Invalidität einschließlich der Festsetzung unterschiedlicher Altersgrenzen im Rahmen dieser Systeme für bestimmte Beschäftigte oder Gruppen bzw. Kategorien von Beschäftigten und die Verwendung im Rahmen dieser Systeme von Alterskriterien für versicherungsmathematische Berechnungen keine Diskriminierung wegen des Alters darstellt, solange dies nicht zu Diskriminierungen wegen des Geschlechts führt.“ Elisabeth Holzleithner
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College Dublin vor, dass eine Person zum Zeitpunkt der Eheschließung (oder der Schließung einer eingetragenen Partnerschaft) das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, um anspruchsberechtigt zu sein. Davon war der Beschwerdeführer David Parris betroffen. Er hatte zum Zeitpunkt der Verpartnerung das 60. Lebensjahr bereits überschritten, und daher konnte sein Partner keine Berechtigung für eine Hinterbliebenenpension erlangen. Eine rechtzeitige Eheschließung oder Verpartnerung war aufgrund der früheren irischen Rechtslage nicht möglich. 68 Die Konstellation ist in der Tat klassisch intersektional: Die Regelung selbst, welche diese Altersgrenze vorsieht, gilt für verschieden- wie für gleichgeschlechtliche Paare; es liegt also keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung vor. Die Altersgrenze, umgangssprachlich als „Gold-Digger Clause“220 bezeichnet, ist von der Ausnahmeregelung erfasst – auch hier ist demnach rechtlich keine Diskriminierung feststellbar. Erst das Zusammenwirken der beiden Faktoren lässt die diskriminierende Situation entstehen. Mit Blick auf sexuelle Orientierung ist die Regelung offensichtlich neutral formuliert; hier kommt demnach nur eine mittelbare Diskriminierung in Frage. Dass eine solche vorliegt, hat mit dem Nachwirken des historischen Ausschlusses von der Eheschließung zu tun, wodurch Betroffene nicht rechtzeitig – in einem anspruchseröffnenden Alter – von diesem Recht Gebrauch machen konnten. 69 Generalanwältin Kokott sah in dieser Konstellation eine Diskriminierung durch die Kombination der beiden Gründe. Sie forderte den EuGH um der „Lebenswirklichkeit“ willen zu einer gebührenden Würdigung der „Kombination beider Faktoren“ auf, anstatt das Alter und die sexuelle Orientierung jeweils bloß isoliert zu betrachten. Schließlich habe sich „das streitige Erfordernis einer Eheschließung oder Verpartnerung vor dem vollendeten 60. Lebensjahr für eine ganze Bevölkerungsgruppe in Irland als unüberwindbares Hindernis entpuppt“.221 Kokott berücksichtigte demnach die Geschichte der Ausgrenzung und Entrechtung von gleichgeschlechtlichen Paaren – im Sinne eines Nachwirkens rechtlicher Benachteiligung aufgrund sexueller Orientierung. Vor diesem Hintergrund stellte sie eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Alters in Kombination mit einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung fest. In ihrer Analyse von Kokotts Argumentation bindet Schiek die Frage der mittelbaren Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung an die Feststellung von (dis-)proportionalen Betroffenheiten und findet sich in Schwierigkeiten wieder, welche damit zu tun haben, dass die Zahl der von der Regelung betroffenen, über sechzigjährigen Homosexuellen nur relativ niedrig war.222 Genau hier sieht man aber die Vorteile einer Betrachtung, welche auf Typizitäten, historische Entwicklungen und spezifische Kontexte blickt – die Frage nach der Anzahl der Betroffenen in Relation zu anderen, nicht Betroffenen spielt dann keine Rolle.223 220 McGrath, Gold-Digger Clauses and LGBT Rights: The Trinity Lecturer Fighting for his Pension, uni-
versitytimes.ie v. 6.2.2017.
221 EuGH, Schlussanträge der GA Kokott v. 30.6.2016, Rs. C-443/15, Parris, Rn. 4. 222 Schiek (Fn. 11), S. 91. 223 Siehe oben Rn. 65 (C. II. 2.).
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Der EuGH folgte Kokotts Argumentation allerdings nicht. Vielmehr lehnte er die Be- 70 rücksichtigung der intersektionalen Konstellation ab: Eine Diskriminierung könne zwar auf jedem der in RL 2000/78/EG genannten Gründe beruhen. Doch es gebe „keine neue, aus der Kombination mehrerer dieser Gründe wie der sexuellen Ausrichtung und des Alters resultierende Diskriminierungskategorie […], die sich dann feststellen ließe, wenn eine Diskriminierung wegen dieser Gründe, einzeln betrachtet, nicht nachgewiesen ist.“224 Dagmar Schiek hat daher ganz treffend vom „DeGraffenreid-Moment“225 des EuGH gesprochen; und in der Tat ertönt in Parris ein Echo der DeGraffenreid-Logik. Man mag einwenden, dass der EuGH deshalb Zurückhaltung geübt hat, weil die Euro- 71 päische Union in Angelegenheiten des Familienrechts aufgrund der föderalen Kompetenzordnung gar nicht zuständig ist. Und tatsächlich könnte innerhalb der Europäischen Union keinem Mitgliedstaat auferlegt werden, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen oder ein Rechtsinstitut wie die eingetragene Partner*innenschaft einzuführen. Ganz in diesem Sinn verfügt Punkt 22 der Präambel zur Rahmenrichtlinie, dass diese „die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über den Familienstand und davon abhängige Leistungen unberührt“ lässt. Allerdings hat dies den EuGH nicht davon abgehalten, in einigen Fällen und unter bestimmten Umständen eine Gleichbehandlung von verschiedengeschlechtlichen Ehepartner*innen und gleichgeschlechtlichen eingetragenen Lebenspartner*innen dort zu verfügen, wo die Angelegenheit an sich in den Geltungsbereich der Richtlinie fällt – insofern als Anwartschaften auf Hinterbliebenenpensionen als Entgeltbestandteile angesehen werden können, ist dies der Fall.226 In Parris kapriziert der EuGH sich nun einseitig auf den Punkt, dass Irland nicht dazu verpflichtet gewesen sei, für Menschen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen ein Rechtsinstitut zur Verfügung zu stellen – und dass es im Einklang damit auch zulässig ist, „den Zeitpunkt festzulegen, ab dem eine solche Ehe oder alternative Form ihre Wirkungen entfaltet.“227 Der EuGH hätte aber – unter Anknüpfung an Maruko228, Römer229 und Hay230 – den Schwerpunkt ebenso auf das Diskriminierungsverbot legen und argumentieren können, dass es schlicht eine Frage der Konsequenz ist, nicht durch ein Nachwirken der Ungleichbehandlung eine Diskriminierung beim Zugang zu Pensionsanwartschaften entstehen zu lassen.231 Es hätte aber sogar noch einen weiteren Ansatzpunkt gegeben, den Kokott in ihren 72 Schlussanträgen nicht berücksichtigt hat – der aber ebenfalls in Form einer Kombination EuGH, Urt. v. 26.11.2016, Rs. C-443/15, Parris, Rn. 80. Schiek (Fn. 11), S. 82. Bestätigt durch EuGH, Urt. v. 26.11.2016, Rs. C-443/15, Parris, Rn. 33. EuGH, Urt. v. 26.11.2016, Rs. C-443/15, Parris, Rn. 60. EuGH, Urt. v. 1.4.2008, Rs. C-267/06, Maruko. EuGH, Urt. v. 10.5.2011, Rs. C-147/08, Römer. EuGH, Urt. v. 12.12.2013, Rs. 267/12, Hay. O’Halloran, Sexual Orientation, Gender Identity and International Human Rights Law, S. 176, bezeichnet diese Situation als „Parris anomaly“. Jene Parlamentarierin, die einen Gesetzentwurf einbrachte, um hier Abhilfe zu schaffen, sprach von einem „legacy Bill“: „Despite the fact we now have equality for same-sex couples, we still have a legacy of discrimination that is based on archaic age restriction clauses in some occupational pension schemes“ (zitiert ebenda).
224 225 226 227 228 229 230 231
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hätte argumentiert werden müssen. Es ist nämlich nicht so klar, dass die Ausnahmebestimmung zur Altersdiskriminierung in Art. 6 Abs. 2 RL 2000/78/EG den Ausschluss im vorliegen Fall ganz geradlinig trägt. Sie erlaubt zwar sehr großzügig, Ausnahmen im Bereich von Rentensystemen festzulegen – allerdings mit der Einschränkung, dass diese „nicht zu Diskriminierungen wegen des Geschlechts“ führen dürfen. Nun könnte man gleich vorbringen, dass eine Diskriminierung wegen des Geschlechts eben keine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung ist – genauso hatte es der EuGH ja in Lisa Grant gegen South West Trains Ltd.232 gesehen. In diesem Fall wurde argumentiert, dass Frauen, die mit Frauen in einer Beziehung leben, gleich behandelt werden wie Männer, die mit Männern in einer Beziehung leben. Verglichen wurden also die Benachteiligten; dass sie gegenüber Menschen, die mit Personen des anderen Geschlechts in einer Beziehung leben, diskriminiert sind, sollte nicht zählen. Deshalb wurde allenthalben eine eigene Bestimmung zur Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung für nötig gehalten, die mittlerweile bekanntlich existiert. Überdies hat sich die Lage seit Lisa Grant auch insofern verändert, als in Coleman der verallgemeinerbare Gedanke entwickelt wurde, dass eine Diskriminierung aufgrund eines Näheverhältnisses zu einer anderen Person ebenso verboten ist.233 Dieses Argument greift im vorliegenden Fall jedenfalls auch: David Parris war von Alters wegen aufgrund des Geschlechts seines Lebenspartners schlechter gestellt. Die Rechtfertigung der Altersdiskriminierung entfällt somit. Schiek verweist in diesem Zusammenhang für das deutsche Recht auf § 4 AGG, wonach etwaige Rechtfertigungen von Ungleichbehandlungen für alle Merkmale vorliegen müssen.234 73 Schiek lässt in ihrer Analyse offen, ob man Parris als Fall von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts wegen eines Naheverhältnisses oder wegen der Abweichung von Stereotypen235 ansieht – beide Argumente können greifen.236 Den zweiten Sinn hat US Supreme Court Judge Neil Gorsuch in seiner aufsehenerregenden Opinion of the Court in Bostock aufgegriffen, in der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung wie der Geschlechtsidentität als Fälle von Geschlechterdiskriminierung eingeordnet werden: „An employer who fires an individual for being homosexual or transgender fires that person for traits or actions it would not have questioned in members of a different sex. Sex plays a necessary and undisguisable role in the decision, exactly what Title VII forbids.“237 74 Auffällig ist, dass die erste „echte“ intersektionale Konstellation vor dem EuGH ausgerechnet zwei weiße Männer in Kombination mit dem Alter traf. Das mag vor dem Hintergrund der Herkunft und Pointe intersektionaler Theoriebildung irritieren, werden doch EuGH, Urt. v. 17.2.1998, Rs. C-249/96, Lisa Grant. So McColgan, Reconfiguring discrimination law, Public Law 2005, S. 74 (78). Schiek (Fn. 11), S. 92. In diesem Sinn Richards, Identity and the Case for Gay Rights, 1999, S. 193 ff. Schiek (Fn. 11), S. 92. US Supreme Court, Bostock v. Clayton County, 590 U. S. ___ (2020), S. 2. Noch deutlicher mit Blick auf Stereotypen ist eine spätere Passage, die so wirkt, als sei sie eine unmittelbare Antwort auf die verquere Argumentationsweise in Lisa Grant: „So an employer who fires a woman, Hannah, because she is insufficiently feminine and also fires a man, Bob, for being insufficiently masculine may treat men and women as groups more or less equally. But in both cases the employer fires an individual in part because of sex.“
232 233 234 235 236 237
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C. Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung im EU-Recht
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die Kategorien Männlichkeit und Weißsein gemeinhin mit Privilegiertheit assoziiert. Allerdings sind gerade schwule Männer im Lauf der Geschichte zum Opfer systematischer Benachteiligung, auch strafrechtlicher Verfolgung geworden. Es ist das eine, ob intersektionale Theoriebildung unter Außerachtlassung ihrer Wurzeln im Schwarzen Feminismus und den Critical Race Studies betrieben wird – das ist jedenfalls problematisch.238 Auf der anderen Seite aber kann das juristische Aufspüren intersektionaler Konstellationen nicht auf die Kategorien Race und Geschlecht beschränkt werden – die analytische Dimension hat insoweit einen die Herkunftsgeschichte überschreitenden Gehalt.239 2. Der einseitige Fokus auf Religion in den „Kopftuchfällen“
Die „Kopftuchfälle“ vor dem EuGH betreffen unterschiedliche Konstellationen: Boug- 75 naoui und ADDH betraf den Fall einer Softwaredesignerin. Nach einer Beschwerde eines Kunden, bei dem sie vor Ort tätig war, wurde Asma Bougnaoui vor die Wahl gestellt, das Kopftuch entweder abzulegen oder ihre Stelle zu verlieren. Die Mitarbeiterin wollte auf den Hijab nicht verzichten, und ihr wurde gekündigt. Der EuGH sollte klären, ob darin eine Diskriminierung aufgrund der Religion lag – oder eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung gemäß Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG. Dafür war zu prüfen, ob die Berücksichtigung eines Kundenwunsches als „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“240 gesehen werden kann. In Achbita wurde das Verbot, ein Kopftuch zu tragen, auf eine unternehmensinterne Regelung gestützt, wonach am Arbeitsplatz keine äußeren Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugung getragen werden dürfen, um allen Kund*innen gegenüber konsequent religiös und weltanschaulich neutral aufzutreten. Da Samira Achbita, die an der Rezeption tätig war, sich weigerte, auf das Kopftuchtragen zu verzichten, verlor sie ihre Stelle. Der EuGH sollte klären, ob darin eine durch RL 2000/78/EG verbotene unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Religion lag.241 Auch zwei im Jahr 2021 entschiedene Fälle betrafen unternehmensinterne Neutralitätsvorschriften, aufgrund derer eine Sonderpädagogin der Kindertagesstätte WABE und eine Verkäuferin der Drogeriekette MH Müller ihre jeweilige Stelle verloren.242 In MH Müller war die Neutralitätsvorgabe insofern besonders gelagert, als sie allein das Tragen von „auffälligen und großflächigen“ politischen, religiösen und weltanschaulichen Zeichen verbot.243 238 Siehe etwa Carbado, Colorblind Intersectionality, Signs 2013, S. 811. 239 So auch Solanke (Fn. 147), S. 729: „Although this ‚multiple consciousness perspective‘ was originally
asserted in relation to black women, there is no reason why any group which demonstrates that it is discrete, insular and powerless – such as young black men or Asian women – should not be able to claim similar protection.“ Freilich ist dies nicht unumstritten, und um die Frage, wem Intersektionalität „gehört“ und was die angemessenen Anwendungen von Intersektionalität sind, haben sich heftige Debatten entsponnen; siehe dazu Hancock (Fn. 17), S. 11 ff. sowie (kritisch) Nash (Fn. 9), S. 1 ff. 240 EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-188/15, Bougnaoui, Rn. 25. 241 EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, G4S Secure Solutions, Rn. 22. 242 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, verb. Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE und MH Müller. 243 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, verb. Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE und MH Müller, Rn. 35. Elisabeth Holzleithner
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§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
a) Mittelbare oder unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Religion 76 In allen Entscheidungen stützte sich der EuGH ausschließlich auf RL 2000/78/EG und
blendete derart die Dimensionen Geschlecht sowie Rasse/ethnische Herkunft aus. Darauf wird zurückzukommen sein. Der Blick richtet sich aber zunächst auf die Frage, ob der EuGH in den Kündigungen wegen Weigerung, am Arbeitsplatz das Kopftuch abzunehmen, überhaupt eine Diskriminierung sah. Dafür ist als Vorfrage zu klären, was genau das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Religion schützt. Im Einklang mit der Judikatur des EGMR geht der EuGH in beiden Fällen davon aus, dass an sich sowohl das Forum Internum, also die innere Überzeugung, als auch das Forum Externum, also das im Einklang mit religiösen Normen befindliche äußere Verhalten, davon erfasst sind.244 Ebenfalls in beiden Fällen stellt sich in der Folge die Frage, ob das Verhalten des Arbeitgebers, wenn es als Diskriminierung kategorisiert werden kann, als unmittelbare oder als mittelbare Diskriminierung einzuordnen ist. 77 Bei der Kündigung infolge eines Kund*innenwunsches in Bougnaoui geht der EuGH implizit davon aus, dass es sich von der Konstellation her um eine unmittelbare Diskriminierung handelt. Denn er verlangt für die gegenständliche Rechtfertigung, dass sie auf einem Grund beruht, der „eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 darstellt.“245 Als Ausnahmebestimmung vom Diskriminierungsverbot ist diese Norm restriktiv auszulegen, und der EuGH betont, dass eine solche Anforderung sich aus „der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder de[n] Bedingungen ihrer Ausübung“246 ergeben muss. Ein rein subjektiver Kundenwunsch, der mit der Qualität der zu erledigenden Arbeit nichts zu tun hat, sich also nicht objektiv fundieren lässt, kommt für eine Rechtfertigung daher nicht in Frage.247 78 In G4S Secure Solutions kommt der Gerichtshof zu der Einschätzung, dass die interne Regel, um deren Anwendung es ging, in gleicher Weise auf alle Arbeitnehmer*innen angewendet wird – dass also insofern alle Arbeitnehmer*innen gleich behandelt werden, denn es wird „ihnen allgemein und undifferenziert unter anderem vorgeschrieben […], sich neutral zu kleiden, was das Tragen solcher Zeichen ausschließt.“248 Diese Einschätzung erstaunt.249 Denn die Vorgabe, es sei nicht erlaubt, sichtbare Zeichen der eigenen religiösen oder (in der Diktion der Richtlinie) weltanschaulichen Überzeugung zu tragen, nimmt doch ganz unmittelbar Bezug auf die geschützten Kategorien Religion und Weltanschauung. Die Einordnung als mittelbare Diskriminierung ist daher unzutreffend.250
244 EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-188/15, Bougnaoui, Rn. 28 ff.; EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15,
G4S Secure Solutions, Rn. 26 ff. EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-188/15, Bougnaoui, Rn. 34. EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-188/15, Bougnaoui, Rn. 39. EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-188/15, Bougnaoui, Rn. 40. EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, G4S Secure Solutions, Rn. 30. Mangold/Payandeh, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit im Unionsrecht, EuR 2017, S. 620 (625) bezeichnen sie zurecht als „irrig“. 250 So neben etlichen anderen auch Mangold/Payandeh (Fn. 249), S. 624. 245 246 247 248 249
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In dem späteren Verfahren gegen MH Müller schränkte der Gerichtshof seine Ent- 79 scheidung ein: In MH Müllers Verbot ausschließlich auffälliger und großformatiger Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen identifiziert der EuGH eine stärkere Beeinträchtigung jener Personen, die deren Tragen als geboten erachten.251 Diese sei, im Fall des Kopftuchtragens, untrennbar mit den entsprechenden religiösen Überzeugungen verbunden. Dementsprechend kann laut EuGH in solchen Fällen eine unmittelbare Diskriminierung festgestellt werden.252 Auch diese Feststellung ist nicht nachvollziehbar, da Fragen der Auswirkung von Regelungen gerade in den Bereich der mittelbaren Diskriminierung fallen. Freilich liegt eine unmittelbare Diskriminierung in diesem Fall in der Ungleichbehandlung von Personen, die aus religiösen Motiven ein auffälliges religiöses Zeichen tragen gegenüber denjenigen, deren Zeichen unscheinbar ist. Und es ist jedenfalls zu begrüßen, dass der Gerichtshof die Voraussetzungen für eine Einschränkung der Religionsfreiheit verschärft hat. Er hat auch klargestellt, dass ein Arbeitgeber ein „wirkliches Bedürfnis“ bezüglich einer Politik der Neutralität nachweisen muss; der bloße Wille eines Arbeitgebers, eine Neutralitätspolitik zu verfolgen, gilt „für sich genommen“ nicht als hinreichender Grund.253 Vielmehr müssen einer solchen Politik legitime Wünsche von Kund*innen zugrunde liegen – und der Arbeitgeber müsste ohne eine solche Politik nachteilige Folgen gewärtigen. Dazu können auch „soziale Konflikte“ innerhalb des Unternehmens zählen.254 Mit dieser Argumentation nähert der EuGH die Vorgaben für die Legitimität von Neutralitätsregeln jenen Kriterien an, die er in Bougnaoui aufgestellt hat: Demzufolge ist es unzulässig, einem Kund*innenwunsch nachzukommen, dass kein*e Mitarbeiter*in mit Kopftuch zur Arbeit in die Firma geschickt werden soll. Dies erscheint als konsequent: Warum sollten die Kriterien andere sein, wenn die Vorgabe nicht individuell an eine Mitarbeiterin gerichtet, sondern als allgemeine Regel aufgestellt wird? Damit wird die missliche Konsequenz der Einordnung als mittelbare Diskriminierung 80 etwas gemildert: Denn diesfalls entfällt die üblicherweise als strenger angesehene Ausnahmeregelung zur Rechtfertigung von unmittelbaren Ungleichbehandlungen,255 und es sind (bloß) die Kriterien der Rechtfertigung im Spiel, die Art. 2 Abs. 2 lit. b Ziff. i RL 2000/78/ EG vorsieht: Demnach kann eine mittelbare Diskriminierung durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt sein, unter der Voraussetzung, dass die zum Erreichen des Ziels eingesetzten Mittel angemessen und erforderlich sind.256 In G4S Solutions sah der EuGH – in seinen Anregungen für das dann entscheidende nationale Gericht – alle Voraussetzungen als gegeben an, und zwar mit Hinweis auf das in Art. 16 GRCh verankerte Recht auf unternehmerische Freiheit. Einschränkend wurde die Voraussetzung statuiert, diese Politik könne ausschließlich mit Blick auf Arbeitnehmer*innen verfolgt werden, die auch tatsäch251 252 253 254 255 256
EuGH, Urt. v. 15.7.2021, verb. Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE und MH Müller, Rn. 72. EuGH, Urt. v. 15.7.2021, verb. Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE und MH Müller, Rn. 73. EuGH, Urt. v. 15.7.2021, verb. Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE und MH Müller, Rn. 64. EuGH, Urt. v. 15.7.2021, verb. Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE und MH Müller, Rn. 70. Siehe zu dieser Problematik auch → Sacksofsky, § 14 Rn. 95 ff. EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, G4S Secure Solutions, Rn. 35. Elisabeth Holzleithner
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lich Kund*innenkontakt haben, wie das bei der Rezeptionistin Samira Achbita der Fall war.257 Dies mag man begrüßen. Solanke etwa meint, Samira Achbita habe damit ein „wichtiges 81 Prinzip“258 errungen. Allerdings streicht Solanke gleich im Anschluss die Ungeheuerlichkeit dieses Ansatzes heraus, die in ihrer intersektionalen Zumutung liegt: „The suggestion that women wearing the hijab should be hidden from the sight of customers […] harkens back to the rampant discrimination common in 1960s Britain, where Black workers would only be given non-client facing roles and could not progress into any other position.“259 Im Übrigen fällt der EuGH damit hinter seine eigene rezente Judikatur zum „discretion requirement“ zurück:260 In Asylverfahren gab es früher die Praxis, Menschen mit dem Argument in ihre Herkunftsstaaten zurückzuschicken, dass sie dort etwaiger Verfolgung wegen abweichender Religion oder sexueller Orientierung dadurch entgehen können, dass sie sich dezent und unauffällig verhalten.261 Mit Blick auf beide Kategorien262 hat der EuGH diese Argumentation für unzulässig erklärt.263 G4S Secure Solutions wurde so entschieden, als hätte es diese Judikate nie gegeben. Die Entscheidung in diesem Fall hat zu einer Schwächung des Antidiskriminierungsrechts geführt.264 b) Zu einer angemessenen Konzeption intersektionaler Diskriminierung in „Kopftuchfällen“ 82
Wie könnte ein angemessener Zugang zu den „Kopftuchfällen“ aussehen? In der Folge soll versucht werden, die Interaktion der im Spiel befindlichen Kategorien auf den Punkt zu bringen. Neben der Religion sind die Kategorien Geschlecht und Rasse/ethnische Herkunft im Fokus. Diese Intersektion wurde von der Beschwerdeführerin in der Rechtssache WABE angesprochen. Sie brachte vor, dass die Neutralitätsregel „ausschließlich Frauen“ und zudem „überproportional häufig Frauen mit Migrationshintergrund“ treffe.265 Die Kategorie der ethnischen Herkunft hat es allerdings nicht bis zum EuGH geschafft, der dann die geschlechtsspezifische Dimension aus formalen Gründen verworfen hat. Dies ist ein falscher limitierter Ansatz, wie unter Bezugnahme auf die These, dass Diskriminierungskategorien normativ konstituiert sind, argumentiert werden soll.
EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, G4S Secure Solutions, Rn. 38. Solanke (Fn. 55), S. 219. Solanke (Fn. 55), S. 219. Ulrich, Betriebliche Neutralitätspolitik ist keine Lizenz zur Geschlechterdiskriminierung, in: Feigl/ Konstatzky (Hrsg.), Auf dem Weg zur Gleichbehandlung, 2018, S. 263 (269). 261 Kritisch dazu bereits Adamietz/Markard, Keep it in the Closet? Flüchtlingsanerkennung wegen Homosexualität auf dem Prüfstand, KJ 2011, S. 294. 262 Betreffend Religion: EuGH, Urt. v. 5.9.2012, verb. Rs. C-71/11 und C-99/11, Y und Z; betreffend sexuelle Orientierung: EuGH, Urt. v. 7.11.2013, verb. Rs. C-199/12, C-200/12 und C-201/12, X, Y und Z. 263 Sußner, Mit Recht gegen die Verhältnisse, zfmr 2020, S. 61 (73 ff.), die sich der „Instrumente der Postkategorialität und Intersektionalität“ (S. 73) bedient; ausführlich Sußner, Flucht – Geschlecht – Sexualität, 2020, S. 236 ff. 264 So auch Mangold/Payandeh (Fn. 249), S. 620; Ulrich (Fn. 260), S. 267. 265 EuGH, Urt. v. 15.7.2021, verb. Rs. C-804/18 und C-341/19, WABE und MH Müller, Rn. 30. 257 258 259 260
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Mit Blick auf Religion ist die normative Konstitution der Kategorie ganz offensichtlich: 83 Religiös angemessenes Verhalten ist ganz genuin als Normenfolgen rekonstruierbar. Wer sich religiös bekleidet, kommt einschlägigen religiösen Vorgaben nach. Diese sind typischerweise nach Geschlecht verschieden, nicht selten gibt es auch regional Unterschiede und solche nach der ethnischen Herkunft. In diesem Sinn reichert die Tatsache, dass das Kopftuch neben einem religiösen ebenso ein geschlechtlich konnotiertes Kleidungsstück ist, die Kategorie der Religion intersektional an. Das Tragen eines Kopftuchs aus religiösen Motiven ist eben nicht einfach eine religiöse, sondern eine ebenso unhintergehbar geschlechtlich konnotierte Praxis – eine Genderperformance. Eine Benachteiligung einer Frau wegen des Tragens von auch geschlechtlich konnotierten Kleidungsstücken ist insofern immer auch eine Diskriminierung auf Grund des Geschlechts.266 Geschlecht wird, im Sinne seiner normativen Konstitution, als Anerkennungsverhält- 84 nis konzipiert.267 Im Recht geht es um ganz grundlegende Fragen der Anerkennung individueller geschlechtlicher Entfaltung. Das Recht hat die Bedingungen des Zusammenlebens so zu gestalten, dass gleiche Freiheit im Geschlechterleben (im wahrsten Sinn des Wortes) gewährleistet werden kann. Denn Recht schafft die Rahmenbedingungen dafür, wer wir – auch und gerade im Hinblick auf unser Geschlecht – füreinander sein können. Jenseits essenzialistischer Engführungen ist das Geschlecht eine körperlich-seelische Entität, ein Prozess der Entfaltung der eigenen Körperlichkeit, der mit entsprechenden Identifikationen einhergeht und der im Kontext vielfältiger Erwartungen268 hinsichtlich der Darstellung von Geschlecht – der Geschlechterperformance – zur Existenzweise269 wird. Geschlecht ist demzufolge als Normengeflecht zu verstehen.270 In dessen Rahmen wird Anerkennung für individuelle geschlechtliche Existenzweisen erteilt und bisweilen versagt, und an seinen vielfältigen Anforderungen arbeiten Menschen sich ab, verhandeln sie und integrieren sie in ihr Verhalten. Das bedeutet auch, dass die rechtlichen wie sozialen Normen des Geschlechts verhandelbar und veränderbar sind. Auch die Kategorie der Rasse/ethnischen Herkunft tritt in rechtlichen Auseinander- 85 setzungen um das Kopftuchtragen üblicherweise zurück, obwohl viele Kopftuch tragende Muslimas als einer „anderen“ ethnischen Herkunft zugehörig identifiziert werden – sei es aufgrund ihrer Vor- und Nachnamen oder mittels „Blickdiagnose“. Die Kategorie Rasse/ ethnische Herkunft bezeichnet Zuschreibungen von und Identifikationen mit bestimmten Gruppen, die primär durch Abstammung qua Geburt konstituiert werden, oft verbunden mit bestimmten Vorstellungen, wie eine Person sich gibt und wie sie aussieht. Sie knüpfen etwa an Bekleidungsgepflogenheiten, Gesichtszüge oder die Art des Haares (Farbe, Konsistenz, Haartracht) an. Zur Illustration mag ein Fall dienen, der eine junge Frau türkischer Herkunft betraf. In ihrer Tätigkeit als Auszubildende wurde ihr aufgetragen, ihr schwarzes Siehe dazu im Detail Holzleithner (Fn. 153), S. 305. Holzleithner (Fn. 113). Adamietz, Geschlecht als Erwartung, 2011. Siehe Maihofer, Geschlecht als Existenzweise, 1995. In diesem Sinn Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991; Butler, Körper von Gewicht, 1994. Zur Zumutung von Geschlecht siehe Baer (Fn. 111), S. 60 mit Nachweisen. 266 267 268 269 270
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Haar blond zu färben, und ihre Vorgesetzte sprach sie als „Kathi“ oder „Heidi“ an. Die österreichische Gleichbehandlungskommission für die Privatwirtschaft hat dies als intersektionale Diskriminierung aufgrund Geschlechts und ethnischer Herkunft angesehen.271 Die Diskriminierung aufgrund des Kopftuchtragens kann aber auch selbst als Diskri86 minierung aufgrund der Rasse/ethnischen Herkunft angesehen werden, weil die Benachteiligung auf kulturalisierenden Zuschreibungen beruht.272 Auch hier handelt es sich um normative Vorstellungen, die an Merkmale, Überzeugungen und Verhaltensweisen angelegt werden. Gerade mit Blick auf antimuslimische Haltungen wird von einem religiös-kulturell fundierten Rassismus gesprochen. Dieser beruht nicht in biologistischer Weise auf der Zuschreibung signifikanter körperlicher Merkmale. Vielmehr wird „die Zugehörigkeit zu einer konstruierten fremden Kultur als Markierungs- und Determinierungskriterium für die intellektuellen und persönlichen Eigenschaften der Betroffenen aufgenommen.“273 Für Barskanmaz konstituiert ein solcher Vorgang des religiös-kulturellen „Othering“ die andere Person in ihrer Existenzweise „in unverrückbarer Distanz zur eigenen westlichen Kultur, so dass eine unüberwindbare binäre Opposition zwischen dem überlegenen Eigenen und dem unterlegenen Anderen entsteht.“274 Der Einsicht, dass Diskriminierung aufgrund Rasse/ethnischer Herkunft und Religion häufig ineinandergreifen, trägt auch die gängige Interpretation des Begriffs „racial discrimination“ in Artikel 1 der UN-Antirassismuskonvention275 Rechnung. Nach Interpretation des zuständigen Antirassismusausschusses sind davon „auch ‚ethno-religiöse‘ Diskriminierungen“ umfasst.276 Nicht zuletzt haben rassistische Zuschreibungen an minorisierte Religionsgemeinschaften in Europa eine ebenso lange wie verheerende Tradition.277 Wenn die Gedanken zur Verflechtung der Kategorien Religion, Rasse/ethnische Her87 kunft und Geschlecht nun auf die Kopftuchfälle übertragen werden, sind nochmals unterschiedliche Konstellationen zu unterscheiden. Gehen wir zunächst davon aus, dass ein Arbeitgeber, anders als in G4S Secure Solutions, jegliche Form der Kopfbedeckung am Arbeitsplatz verbietet. Diesfalls sind religiöse wie säkulare Bedeckungen erfasst, und nach Geschlecht wie ethnischer Herkunft wird nicht differenziert. Daher ist zunächst an eine mittelbare Diskriminierung auf Grund der Religion zu denken. Denn religiöse Menschen, die sich dem in ihrer Religion (oder in ihrem Verständnis einer bestimmten Glaubenspraxis) verankerten Gebot, religiöse Bedeckungen zu tragen verpflichtet sehen, sind davon 271 Österreichische Gleichbehandlungskommission für die Privatwirtschaft (GBK), Einzelfallprüfungs-
ergebnis GBK II/79/09, S. 13.
272 Siehe dazu Mancini, Patriarchy as the exclusive domain of the other, International Journal of Constitu-
tional Law 10 (2012), S. 411.
273 Barskanmaz, Das Kopftuch als das Andere, in: Berghahn/Rostock (Hrsg.), Der Stoff, aus dem Kon-
flikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 2009, S. 361 (366).
274 Barskanmaz (Fn. 273), S. 366. 275 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung v. 7.3.1966,
BGBl. 1969 II, S. 961.
276 → Walter/Tremml, § 8 Rn. 4 mit Verweis auf Thornberry, The International Convention on the Eli-
mination of All Forms of Racial Discrimination, A Commentary, 2016, S. 138.
277 So auch Schiek (Fn. 11), S. 96.
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besonders betroffen. Sie sind im Übrigen nicht bloß gegenüber nicht religiösen Personen benachteiligt, sondern ebenso gegenüber religiösen Personen, deren religiöse Performance unauffällig bleiben kann – sei es, weil einschlägige Normen fehlen oder weil sie nicht beachtet werden.278 Das betrifft Christ*innen ebenso wie Musliminnen, die nicht der Norm des Kopftuchtragens folgen. Ebenso ist eine mittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts im Spiel, da die Auswirkungen einer solcher Regelung – aufgrund der Einhaltung einschlägiger Normen – typischerweise geschlechtsspezifisch sind. Auch Rasse/ethnische Herkunft sind mittelbar betroffen – einerseits über die Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder nationalen Gruppe, andererseits über die ethnisierende Deutung des Kopftuchtragens als Ausdruck einer als fremd und verwerflich geltenden Bekleidungspraxis. Wenn die Bestimmung demgegenüber direkt darauf abzielt, das Kopftuch und damit 88 muslimischen Frauen die religiös motivierte Bedeckung zu verbieten, so sind eben Frauen betroffen, die sich aus religiösen Gründen in bestimmter Weise kleiden. Die Intersektion kann so formuliert werden, wie Crenshaw dies im Fall der Diskriminierung Schwarzer Frauen gezeigt hat: Betroffen sind weder „Frauen“ noch „religiöse Personen“; erst die Kombination von Weiblichkeit und (sichtbarer, ethnisierter) Religiosität erzeugt jene Subjektposition, die in dem Unternehmen unerwünscht ist. Diese Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ist dann aber auch unmittelbar: Wer keine Frau mit Kopftuch beschäftigen möchte, will es vermeiden, eine Person zu beschäftigen, die eine bestimmte, im Unternehmen unerwünschte Art von Weiblichkeit verkörpert, weil sie, in den Worten der österreichischen Gleichbehandlungskommission für die Privatwirtschaft, „nicht dem vom Unternehmen vorgegebenen Erscheinungsbild der weiblichen Arbeitnehmerinnen entspricht“.279 Die Benachteiligung bezieht sich daher unmittelbar auf die Art, wie Geschlecht dargestellt wird. Und es ist zwar rein faktisch möglich, das eigene Verhalten an säkulare Vorgaben anzupassen – eine solche Verhaltensänderung ist aber, wie Anna Katharina Mangold und Mehrdad Payandeh bemerken, normativ unzumutbar.280 Auch dies lässt sich im Sinn der normativen Konstitution des Geschlechterbegriffs fundieren – es geht immer um die Anforderungen an die Genderperformance und inwieweit diese (überhaupt) zu rechtfertigen sind. Die Interpretation zum Stellenwert der Genderdimension beim Kopftuchtragen ist ver- 89 allgemeinerbar. Damit kann generell eine kritische Perspektive auf Dresscodes gerichtet werden, die sicherstellen sollen, dass Frauen eine bestimmte, attraktive Performance von Weiblichkeit entlang je aktueller Mainstream-Standards an den Tag legen.281 Das beinhaltet etwa die Pflicht zum Tragen von engen Röcken, welche manche Fluglinien ihren weib278 Ich danke Mehrdad Payandeh für diesen Hinweis! 279 Daher Subsumption unter den Tatbestand der Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes gemäß
§ 3 Nr. 1 österreichisches Gleichbehandlungsgesetz (GlBG) GBK I/392/11-M, Einzelfallprüfungsergebnis v. 26.5.2014, S. 8. Näher zur Spruchpraxis der GBK siehe Holzleithner, Die Situation von Muslimen, insbesondere von muslimischen Frauen in Österreich, in: Müller (Hrsg.), Diskriminierung in der Schweiz und in Österreich, 2015, S. 91 (94 ff.). 280 Mangold/Payandeh (Fn. 249), S. 630. 281 Siehe dazu Rhode, The Beauty Bias, 2010. Elisabeth Holzleithner
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lichen Mitarbeiterinnen nach wie vor auferlegen,282 oder gar die Vorgabe, dass während des Boardens der Passagier*innen High Heels zu tragen sind.283 Während nun im Fall des Kopftuchtragens „zu viel“284 (ethno-religiös abweichende) Weiblichkeit an den Tag gelegt wird, zeigt die Flugbegleiterin in Hosen und flachen Schuhen „zu wenig“ (ethno-religiös konforme) Weiblichkeit. Die Logik ist die Nämliche: Frauen sollen sich im Rahmen der kulturell üblichen Konventionen (attraktiver, d. h. auch: heterosexueller) Weiblichkeit bewegen. 90 Auf diese Art kann Antidiskriminierungsrecht ganz allgemein für Menschen brauchbar gemacht werden, die von stereotypen Erwartungen hinsichtlich der Geschlechterperformance abweichen, sei diese nun religiös inspiriert, den kulturellen Konventionen minorisierter Gruppen folgend oder dem „bloßen“ Wunsch zur Abweichung von Geschlechterstereotypen geschuldet.285 Dieser Ansatz nimmt die dekonstruktivistische These ernst, dass Kategorien normative Konstruktionen sind. Davon sollen mit Blick auf das Geschlecht all jene profitieren können, die nicht gängigen Stereotypen entsprechen, seien sie fromm, politisch religiös, unkonventionell feminin, maskulin oder nicht-binär. Diesem Ansatz zufolge dürfen Normen der Geschlechterperformance im Europarecht nur nach der strengen Bestimmung zur Rechtfertigung von unmittelbarer Diskriminierung durchgesetzt werden: Wenn sie als Charakteristikum erwiesen werden, das „aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“286 Diese Ausnahme ist, wie bereits betont, eng zu interpretieren. Eine bloße Behauptung, die Abweichung von den Geschlechternormen würde die berufliche Performance beeinträchtigen, kann dafür jedenfalls nicht ausreichen.287 Das hat der EuGH, wie gezeigt wurde, mittlerweile klargestellt.
282 Siehe als ein Beispiel die von den Stewardessen selbst als zu eng und zu kurz wahrgenommenen Uni-
formen der chinesischen Airline Cathay Pacific: Sexy Uniformen werden Stewardessen zum Verhängnis, focus.de v. 9.5.2014. 283 So die Vorgabe von El Al. Einer Zeitungsmeldung zufolge wehr(t)en sich viele Stewardessen gegen diese Vorgabe, indem sie sie schlicht ignorierten: Allison Kaplan Sommer, Kicking Off their High Heels, El Al Flight Attendants are voting with their feet, haaretz.com v. 2.7.2015. (16.11.2020). 284 Noch weiter geht der Bericht des französischen Parlaments, Vollverschleierung – hier wird die Weiblichkeit jenen vorenthalten, die bereit sind, ihre weiblichen Reize zur Schau zu stellen. In den Worten von Mancini (Fn. 272), S. 420: „The French Parliamentary report refers to the full veil as to an ‚assault on women’s dignity and on the affirmation of femininity,‘ linking the latter to the visibility of the physical body, and using the concept of dignity in providing normative assumptions of traditional gender norms.“ 285 Berüchtigt ist der Fall von Darlene Jesperson, die ihre Stelle als Barfrau verlor, weil sie sich den konventionell femininen „Personal Best“-Vorgaben für ihr Aussehen nicht unterwerfen wollte. Siehe dazu Bell, Commentary on Jesperson v. Harrrah’s Operating Co., im Abschnitt „Intersectional Aproaches to Appearances“ von McGinley/Porter, Feminist Judgements, 2020, S. 119 ff. 286 Art 14 Abs. 2 RL 2006/54/EG. 287 So die Befürchtung von Schiek (Fn. 11), S. 94. Elisabeth Holzleithner
D. Intersektionale Belästigung: EGMR und darüber hinaus
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D. Intersektionale Belästigung: EGMR und darüber hinaus Nun war viel von verunglückten Zugängen zu intersektionaler Diskriminierung die Rede 91 und davon, dass intersektionale rechtswissenschaftliche Theorie es noch nicht wirklich in den Mainstream des Antidiskriminierungsrechts geschafft hat. Es gibt aber auch positive Beispiele.288 Im Folgenden soll in aller Kürze ein Thema angesprochen werden, das zunächst entlang eines Judikats des EGMR skizziert werden kann: die intersektionale Belästigung, Gegenstand von B. S. v. Spanien.289 Die Betroffene, eine Schwarze Frau, stammte aus Nigeria und war als Sexarbeiterin in Spanien tätig. Als solche wurde sie von der Polizei regelmäßig einem racial profiling unterzogen und rassistischen Belästigungen ausgesetzt. So wurde sie etwa von Polizeibeamten als „schwarze Hure“290 beschimpft, und es wurde ihr bedeutet, sie solle sich davonmachen.291 Gegen diese Vorfälle wandte sie sich mit einer Beschwerde an die spanischen Behörden, die in ihrer Untersuchung die rassistischen Aspekte der polizeilichen Vorgangsweise ignorierten. Entsprechend behauptete die spanische Regierung in ihrer Stellungnahme zur Beschwerde von B. S., es habe keinerlei rassistische Übergriffe gegeben. Auf Seiten von B. S. intervenierten zwei Verbände, die geltend machten, ihr Fall müsse intersektional betrachtet werden, weil man ihm ansonsten nicht gerecht werden könne.292 In seiner Beurteilung der Sachlage ging der EGMR dann tatsächlich von der Notwen- 92 digkeit aus, die Gesamtsituation der Betroffenen in den Blick zu nehmen, und das heißt eben auch, die Interaktion verschiedener Kategorien zu beachten, die zur Benachteiligung führen konnten. Und so kam er zu dem Ergebnis, dass die spanischen Gerichte die besondere Vulnerabilität der Beschwerdeführerin in ihrer Position als im Bereich der Sexarbeit tätige Schwarze Frau in Betracht hätte ziehen müssen. Insbesondere hätte der Zusammenhang zwischen rassistischen Haltungen und der strukturellen Schlechterstellung von B. S. exploriert werden müssen. Weil dies nicht der Fall war, stellte der EGMR einen Verstoß gegen Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 3 EMRK fest – dem Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung.293 Dieses Urteil ist ermutigend. Es zeigt, dass intersektionale Theorie in juristischer Pra- 93 xis eine produktive Rolle spielen kann. Es ist im Übrigen nicht untypisch, dass es sich dabei um einen Fall von Belästigung gehandelt hat. Die Gerichte dürften sich in solchen Fällen leichter tun, das Ineinander etwa von sexistischen und rassistischen Belästigungen zu erkennen: Das intersektionale Unrecht tritt, wenn es denn bewiesen werden kann (das 288 Eine Fülle von Beispielen aus diversen nationalen und internationalen Kontexten findet sich bei Atrey
(Fn. 1).
289 EGMR, Urt. v. 22.10.2012, Beschwerde-Nr. 47159/08, B. S. v. Spanien. 290 EGMR, Urt. v. 22.10.2012, Beschwerde-Nr. 47159/08, B. S. v. Spanien, Rn. 61. 291 EGMR, Urt. v. 22.10.2012, Beschwerde-Nr. 47159/08, B. S. v. Spanien, Rn. 61. In der englischen Über-
setzung des Urteils: „get out of here you black whore“.
292 EGMR, Urt. v. 22.10.2012, Beschwerde-Nr. 47159/08, B. S. v. Spanien, Rn. 56 f. 293 EGMR, Urt. v. 22.10.2012, Beschwerde-Nr. 47159/08, B. S. v. Spanien, Rn. 62. Zum Urteil siehe unter
anderem Atrey (Fn. 1), S. 133 f.; Solanke (Fn. 55), S. 220; Yoshida, Towards Intersectionality in the European Court of Human Rights, The case of B. S. v Spain, Feminist Legal Studies 21 (2013), S. 195. Elisabeth Holzleithner
592
§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
Hauptproblem in Fällen von Belästigungen), sehr deutlich zutage. Belästigungen an der Schnittstelle von Geschlecht, Religion und Rasse/ethnischer Herkunft – bislang nicht Gegenstand von EuGH-Judikatur – werden in nationalen Kontexten regelmäßig zum Thema, sei es vor Antidiskriminierungsstellen oder vor Gericht. Sie betreffen nicht selten Kopftuch tragende Frauen. 94 Die Situation von exotisierten, etwa Schwarzen oder asiatisch gelesenen Frauen ist hochgradig ambivalent. Zum einen gelten sie laut herrschender Stereotypen als hypersexualisiert; immer noch verbreitet ist der Mythos, sie seien sexuell unersättlich, wahllos und leicht zu haben. Das führt dazu, dass man ihnen häufig nicht abnimmt, Opfer gewesen zu sein. Wenn es aber gelungen ist, einen Vorgang intersektionaler Belästigung zu beweisen, wenn etwa rassistische und sexistische Stereotypen in sexueller Belästigung zusammenfallen, dann entfällt zumindest eine ansonsten übliche „Rechtfertigung“ belästigenden Verhaltens: Dass es ja nur galant gemeint gewesen sei, als Kompliment, das schlicht falsch verstanden wurde. Crenshaw bringt die Problematik mit Blick auf Schwarze Frauen auf den Punkt: „Black women share with other women the experience of being referred to and treated as ‚cunts,‘ ‚beavers,‘ or ‚piece.‘ Yet for Black women those insults are sometimes prefaced with ‚Black,‘ or ‚nigger,‘ or ‚jungle.‘ […] There is little room to doubt that this behavior is hostile and discriminatory. Racism may provide the clarity to see that sexual harassment is not a flattering or misguided social overture but an intentional act of sexual discrimination that is threatening and humiliating.“294
E. Eine intersektionale Vision 95 In den vorangegangenen Ausführungen wurde herausgearbeitet, dass der rechtliche Um-
gang mit Herausforderungen intersektionaler (mehrdimensionaler) Diskriminierung bislang etliche Wünsche offenlässt. Vor dem Hintergrund der Desiderata lautet eine der zentralen Fragen, ob das geltende Recht ausreicht, solchen Herausforderungen intersektionaler (mehrdimensionaler) Diskriminierung angemessen zu begegnen – oder ob es dafür eigene gesetzliche Grundlagen braucht. 96 Mit Verve plädieren Catharine MacKinnon und Kimberlé Crenshaw in einem 2019 erschienen Artikel für eine eigenständige Regelung. Sie fordern (nach dem mehrmaligen Scheitern einer auf das Geschlecht bezogenen Verfassungsnorm295) ein intersektional angelegtes Equal Rights Amendment zur US-Verfassung.296 Damit soll eine Abwendung von der unangemessenen Sprache und den unzulänglichen Interpretationsroutinen des herkömmlichen Antidiskriminierungsrechts erfolgen. Die an Metaphern reiche Diagnose: 294 Crenshaw, Race, Gender, and Sexual Harassment, Southern California Law Review 65 (1992), S. 1467
(1469 f.).
295 Zu den wechselvollen und letztlich erfolglosen Bemühungen um die Einfügung eines Equal Rights
Amendment in die US-Verfassung siehe Mathews/De Hart, Sex, Gender, and the Politics of ERA, 1990.
296 MacKinnon/Crenshaw, Reconstituting the Future: The Equality Amendment, The Yale Law Journal
Forum, 2019, S. 343. Bislang sind alle Versuche, ein genderspezifisches Equal Rights Amendment zu schaffen, im Sand verlaufen. Elisabeth Holzleithner
E. Eine intersektionale Vision
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„both gender and race equality have been cast into treacherous seas – with gender hanging onto race like a castaway clinging to a slender piece of doctrinal driftwood.“297 Vor diesem Hintergrund soll die verfassungsrechtliche Gleichheit „from the ground up“ neu imaginiert werden. Geschlechtergleichheit wird von Frauen aus gedacht, und so soll Section 1 des neuen Equality Amendments lauten: „Women in all their diversity shall have equal rights“298. In Section 2 wird Geschlechtergleichheit ausdifferenziert und in Beziehung zu anderen Kategorien gesetzt: „Equality of rights shall not be denied or abridged […] on account of sex (including pregnancy, gender, sexual orientation, or gender identity), and/or race (including ethnicity, national origin, or color), and/or like grounds of subordination (such as disability or faith).“ Der Vorschlag enthält eine eigene Bestimmung, wonach zur vollen Realisierung der in dem Amendment garantierten Rechte Maßnahmen getroffen werden sollen „to prevent or redress any disadvantage suffered by individuals or groups because of past and/or present inequality as prohibited by the Amendment“. Weiters sollen alle erforderlichen und effektiven Schritte für angemessene politische Repräsentation gesetzt werden.299 An diesem beachtenswerten Vorschlag mag kritisiert werden, dass Intersektionalität 97 von der Kategorie des Geschlechts aus gedacht und damit Geschlecht tendenziell priorisiert wird.300 Das gilt auch für das Europarecht. Es ist zwar mit Blick auf das „höchste Recht“ umfassender aufgestellt. Aber auch hier wäre ein explizites Aufgreifen von mehrdimensionaler Diskriminierung in all ihrer Komplexität wünschenswert – und nicht bloß in zwei Richtlinien-Präambeln, die im Wesentlichen auf den Hinweis der Mehrfachgefährdung von Frauen beschränkt sind.301 Immerhin enthalten die aktuellen Strategiepapiere der Europäischen Union zu den einzelnen Diskriminierungskategorien jeweils Hinweise darauf, dass es notwendig ist, einen intersektionalen Ansatz zu pflegen, um der vielfältigen Realität von Stereotypisierungen und Benachteiligungen gerecht zu werden – und ihr entgegenzuwirken.302 Diese Absichtserklärungen haben sich bislang freilich nicht in einem echten intersektionalen Antidiskriminierungsrecht niedergeschlagen. Das Recht kann Formen der mehrdimensionalen Diskriminierung jedenfalls nur dann 98 gerecht werden, wenn es Opfer von Diskriminierung nicht dazu zwingt, sich beim Einklagen ihrer Rechte (jedenfalls hauptsächlich) auf eine Diskriminierungskategorie zu stützen und die anderen auszublenden oder in den Hintergrund zu drängen. Mangelnde rechtliche Grundlagen für das Geltendmachen von mehreren Diskriminierungskategorien sowie die im EU-Recht aufzufindenden Hierarchisierungen sind in jenen Mitgliedstaaten, die sie in ihrem nationalen Recht übernommen haben, ein erhebliches Hindernis für eine MacKinnon/Crenshaw (Fn. 296), S. 347. MacKinnon/Crenshaw (Fn. 296), S. 358. MacKinnon/Crenshaw (Fn. 296), S. 260 f. Solanke (Fn. 55), S. 223. Tatsächlich stellt sich im US-Kontext die Frage, wie sich das neue Amendment etwa zum 14. Amendment verhält. Diese Problematik kann hier nicht weiter vertieft werden. 301 So bereits Europäische Kommission (Fn. 132), S. 7. Scharfe Kritik übt Solanke (Fn. 55), S. 223 f., die das Problem darin sieht, dass Race durch Gender regelrecht ausgelöscht werde: „The problem is less the absence of a gender lens but rather the extent to which gender eclipses race.“ 302 Siehe Europäische Kommission (Fn. 5). 297 298 299 300
Elisabeth Holzleithner
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§ 13 Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung
angemessene Wahrnehmung. Sie gebieten geradezu „die Auswahl desjenigen Grundes, der den besten Schutz gewährt“303 – oder der aufgrund der Konstellation am aussichtsreichsten erscheint.304 Mit einer eigenen EU-Richtlinie zur mehrdimensionalen Diskriminierung könnte nicht nur die rechtliche Grundlage für erfolgreiche Klagen in Fällen intersektionaler Diskriminierung gelegt werden, zumal der EuGH den Weg über die Interpretation von EU-Recht, wie ihn zuvor noch Schiek und Mulder vorgeschlagen hatten,305 durch sein Judikat in Parris verstellt hat. Ein neues rechtliches Regelwerk könnte auch zu einer Sensibilisierung der Justiz führen und insgesamt das Bewusstsein für einschlägige Problematiken stärken. 99 Schließlich ist aber auch klar, dass man in diesem Rahmen innerhalb des Rechts verbleibt. Es geht darum, Reformen im Recht anzustoßen bzw. das geltende Recht so anzuwenden, dass intersektionale Konstellationen angemessen wahrgenommen und nicht im „toten Winkel“ des Antidiskriminierungsrechts abgestellt werden. Cho, Crenshaw und McCall nennen dies die „reformist dimension“. Daneben verorten sie eine diese begleitende, „more radical critique of law premised in part on understanding how it reified and flattened power relationships into unidimensional notions of discrimination.“306 Sie haben angesichts der aufgezeigten Probleme und des rechtlichen Versagens gewiss ihre Berechtigung. Doch Recht ist jenes Medium, mittels dessen Menschen einander als gleichermaßen freie Subjekte anerkennen und entsprechende Rechtansprüche durchsetzen können.307 Subjektive Rechte sind daher nachhaltig das, was wir „nicht nicht wollen können.“308 Das Recht sollte diesem Anspruch auch in mehrdimensionalen, speziell in intersektionalen Diskriminierungskonstellationen gerecht werden und nicht selbst zum Medium der Diskriminierung werden, wie dies nur allzu häufig der Fall war und ist.309 Der vorliegende Text will dazu einen Beitrag leisten.
303 Schiek/Mulder, Intersektionelle Diskriminierung und EU-Recht – Eine kritische Reflexion, in: Philipp
u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Diskriminierung und Benachteiligung, 2014, S. 43 (65). So ist es auch vielfach geschehen; Ellis/Watson, EU Anti-Discrimination Law, 2. Aufl. 2012, S. 157. Schiek/Mulder (Fn. 303), S. 65. Cho/Crenshaw/McCall (Fn. 100), S. 791. Williams, The Alchemy of Race and Rights, 1991, S. 153. So unter anderem Brown (Fn. 124), S. 231, in Anknüpfung an Spivak, und nicht ohne später skeptisch anzumerken: „That which we cannot not want is also that which ensnares us in the terms of our domination.“ (S. 235). 309 In diesem Sinne die treffende Beobachtung von Nash (Fn. 9): „Intersectionality shows that antidiscrimination law is itself a technology of discrimination, rather than an actual form of redress, a location that reproduces the violence it is supposed to upend.“ 304 305 306 307 308
Elisabeth Holzleithner
Dritter Teil: Dogmatische Figuren des Antidiskriminierungsrechts
§ 14 Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung Ute Sacksofsky Inhaltsübersicht Rn. A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsquellen und Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zu Diskriminierungskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zur Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gleichheitskonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorüberlegung: Zwei Rechte der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formelle und materielle Gleichheit – antidiskriminierungsrechtlich gewendet . . . . . . . . a) Formelle Gleichheit: Differenzierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Materielle Gleichheit: Dominierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Historische Abfolge bei der Diskriminierungsbekämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 4 9 12 15 17 21 22 27 28 32
C. Unmittelbare Diskriminierung – Tatbestandsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Feststellung der Anknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anknüpfung – weitere Erfordernisse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Diskriminierungsabsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kausalität oder Begründungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleichbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Symmetrie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ersetzen der fehlenden expliziten Anknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Diskriminierungsabsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Untrennbarer Zusammenhang mit einer Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. „Neutrale“ Verwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quoten für jedes Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Parität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Betroffenheit aller durch eine Kategorie positiv gekennzeichneter Gruppen . . . . . . . . . . 4. Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Diskriminierte Person und Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verantwortungsübernahme für eine andere Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kombination verschiedener Ausprägungen einer Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Intersektionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zur Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unionsrecht/AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35 36 40 41 43 45 48 53 54 58 66 67 69 71 73 78 79 81 84 88 90 95 99
Ute Sacksofsky
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§ 14 Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
D. Mittelbare Diskriminierung – Tatbestandsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Geschützte Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Person versus Personengruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. (Keine) Symmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schutz von Mehrheitsangehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Intersektionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Nachteilig betroffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Rolle von Statistiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kausalität oder Vergleichbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zur Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unionsrecht/AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101 102 104 110 111 114 119 121 125 126 132 134 135 138 139
E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
A. Einleitung Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung sind zwei zentrale Rechtsfiguren des Antidiskriminierungsrechts und seit Jahrzehnten fest etabliert. Holzschnittartig lässt sich ihre Abgrenzung einfach beschreiben: Bei unmittelbarer Diskriminierung wird explizit an eine Diskriminierungskategorie angeknüpft, bei mittelbarer Diskriminierung wird ein – scheinbar – von der Kategorie unabhängiges Merkmal oder Verfahren verwendet, welches sich nachteilig auf geschützte Personengruppen auswirkt. Der Beitrag baut auf der These auf, dass unmittelbare und mittelbare Diskriminierung auf unterschiedlichen Gleichheitsverständnissen beruhen. Für eine effektive Diskriminierungsbekämpfung bedarf es daher der Berücksichtigung beider Formen der Diskriminierung. 2 Die Untersuchung geht – neben Einleitung und Fazit – in drei Schritten vor. In einem ersten Abschnitt werden die Grundlagen der Erörterung gelegt: Vorannahmen expliziert, Begrifflichkeiten erläutert und die beiden Gleichheitsverständnisse dargestellt, welche mit den zu erörternden Formen der Diskriminierung korrespondieren (B.). Der näheren Entfaltung der beiden Rechtsfiguren dienen die nächsten beiden Hauptteile des Beitrages: unmittelbare Diskriminierung (C.) und mittelbare Diskriminierung (D.). 1
B. Grundlagen 3
Zunächst sollen die unterschiedlichen Regelungsarten, die unmittelbare und/oder mittelbare Diskriminierung verbieten, im Vordergrund stehen. Damit ist auch zu reflektieren, inwieweit dogmatische Figuren losgelöst von konkreten Rechtsquellen behandelt werden können (I.). Es folgen Bemerkungen zu den relevanten Diskriminierungskategorien (II.). Ute Sacksofsky
B. Grundlagen
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Im Anschluss geht es um terminologische Fragen (III.). Abschließend folgt der umfangreichste Abschnitt: die Entfaltung zweier grundlegend unterschiedlicher Gleichheitsverständnisse und ihrer Konsequenzen für das Antidiskriminierungsrecht (IV.). I. Rechtsquellen und Dogmatik
Das Antidiskriminierungsrecht speist sich aus zwei Wurzeln: allgemein formulierten men- 4 schenrechtlichen Gleichheitsgarantien und Diskriminierungsverboten bezogen auf konkrete Rechtsbereiche, insbesondere im Arbeitsrecht. Diskriminierungsverbote finden sich daher auf zahlreichen Rechtsebenen: in internationalen oder supranationalen Instrumenten ebenso wie in nationalen Rechtsordnungen. Dabei enthalten die nationalen Rechtsordnungen selbst häufig wieder Diskriminierungsverbote sowohl auf Verfassungsebene als auch im einfachen Recht. Die Art der Normen, die Diskriminierungsschutz gewähren, ist vielfältig – sowohl in Bezug auf eine nähere Definition dessen, was eine Ungleichbehandlung ausmacht, als auch im Hinblick auf mögliche Rechtfertigungen oder in Bezug genommene Kategorien. Manche Rechtsebenen benennen ausdrücklich das Verbot unmittelbarer und mittel- 5 barer Diskriminierung. Dazu zählt beispielsweise das Europarecht, das schon früh begonnen hatte, beide Formen der Benachteiligung – unmittelbare wie mittelbare – explizit zu verbieten. Bereits die Gleichbehandlungsrichtlinie1 aus dem Jahr 1976 kannte diese Unterscheidung. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)2, welches die europäischen Richtlinien umsetzt, untersagt beide Diskriminierungsformen gleichermaßen. Anders ausgestaltet sind hingegen Diskriminierungsverbote in menschenrechtlichen Verfassungen und (völkerrechtlichen) Instrumenten des Menschenrechtsschutzes: Diese greifen besondere Konstellationen heraus, in denen intensiverer gleichheitsrechtlicher Schutz gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz gewährt wird. Sie benennen bestimmte Kategorien explizit und verbieten die Ungleichbehandlungen „wegen“ dieser Kategorien, typischerweise treffen sie – da als Verfassungsnormen weniger detailliert ausformuliert – aber keine explizite Unterscheidung zwischen mittelbarer und unmittelbarer Diskriminierung. Eine für besondere Gleichheitssätze typische Formulierung findet sich etwa in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Während solche Gleichheitssätze unzweifelhaft unmittelbare Diskriminierung verbieten, kann die Frage, ob auch mittelbare Diskriminierung erfasst wird, umstritten sein; für Art. 3 Abs. 2 und 3 GG ist dies lange Zeit bezweifelt worden, jedenfalls für bestimmte Kategorien erkennt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aber inzwischen auch ein Verbot der mittelbaren Diskriminierung an.3 1 Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Män-
nern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen v. 9.2.1976, ABl. 1976 L 39/40 (Gleichbehandlungsrichtlinie), geändert durch Richtlinie 2002/73/EG v. 23.9.2002, ABl. 2002 L 269/15. 2 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. 3 Dazu unten Rn. 103 (D. I.). Ute Sacksofsky
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§ 14 Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
Über dogmatische Figuren zu schreiben, ohne sich auf eine bestimmte Rechtsordnung oder Rechtsebene festzulegen, wirft Probleme auf. Dogmatik ist als „systematische Erfassung der einzelnen Bereiche des geltenden Rechts“4 notwendigerweise bezogen auf eine konkrete Rechtsordnung. 7 Illustrieren lässt sich dies bereits im Rahmen der deutschen Rechtsordnung, nämlich für das Verhältnis von AGG und Grundgesetz.5 § 3 AGG enthält Legaldefinitionen für unmittelbare und mittelbare Benachteiligung. Diese Definitionen nehmen im Wesentlichen die Terminologie der europäischen Richtlinien auf, zu deren Umsetzung das AGG dienen sollte. In der Kommentarliteratur zum AGG ist umstritten, ob die Legaldefinitionen des AGG auch für andere Benachteiligungsverbote heranzuziehen sind.6 Schon aus Gründen der Normenhierarchie ist offensichtlich, dass die Legaldefinitionen des AGG zur Auslegung der verfassungsrechtlichen Gleichheitsvorschriften nicht dienen können. Zudem ist das AGG sehr spezifisch bezogen auf den Schutz vor Diskriminierung von Einzelnen im Zivil- und Arbeitsrecht. Das AGG mag zwar gelegentlich auch ganze Gruppen von Arbeitnehmer*innen schützen und erfassen, doch seine Denkweise zielt stark auf den Einzelfall und nicht auf allgemeine Regelungen, wie sie bei der Normsetzung eine Rolle spielen. 8 Die nachfolgenden Überlegungen resultieren aus Grundlinien eines Nachdenkens über Gleichheit. Sie lassen daher spezifische Gegebenheiten einzelner Rechtsquellen außer Acht. Die hier getroffenen Aussagen sind aus diesem Grund gegebenenfalls für die Beantwortung einer konkreten Rechtsfrage nach den spezifischen Vorgaben der jeweiligen Rechtsordnung zu modifizieren.7 6
II. Zu Diskriminierungskategorien 9
Die Konzepte unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung sind untrennbar mit dem Verbot der Diskriminierung im Hinblick auf bestimmte Kategorien verknüpft.8 Im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes oder unspezifischer Diskriminierungsverbote ergibt die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung keinen Sinn: Wird die Gleichbehandlung aller Menschen geboten, kann es keine Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung geben, da es keine vorgegebenen Kategorien gibt, an die angeknüpft oder eben nicht angeknüpft werden kann. Freilich stellt sich im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes ein verwandtes Problem. Auch der all4 Koller, Theorie des Rechts, 2. Aufl. 1977, S. 49. 5 Näher zum Verhältnis Lehner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz und Grundrechte, 2013. 6 Ablehnend: Bauer/Krieger/Günther, AGG, 5. Aufl. 2018, § 3 AGG Rn. 6; Schrader/Schubert, in: Däubler/
Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 3 Rn. 1 wollen sie – wegen des Charakters als Querschnittsgesetz – zumindest ergänzend heranziehen. 7 Beispielsweise stellt sich die Frage, ob eine Diskriminierung wegen Schwangerschaft eine unmittelbare Benachteiligung darstellt (dazu Rn. 58 ff. (C. III. 2.)) nicht, wenn dies im jeweiligen Rechtsinstrument explizit normiert wurde, wie z. B. in § 3 Abs. 1 Satz 2 AGG. 8 Vorüberlegungen zu diesem Beitrag, freilich allein bezogen auf die Auslegung von Art. 3 Abs. 3 GG, finden sich bei Sacksofsky, Was heißt Ungleichbehandlung „wegen“?, in: Kempny/Reimer (Hrsg.), Gleichheitsdogmatik heute, 2017, S. 63. Ute Sacksofsky
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gemeine Gleichheitssatz verlangt nicht immer identische Behandlung, sondern kann auch die unterschiedlichen Auswirkungen identischer Behandlung thematisieren.9 Traditionell wird dies indes durch die Forderung nach Ungleichbehandlung von „wesentlich Ungleichem“ dogmatisch verarbeitet, indem also die Frage nach einer gebotenen Ungleichbehandlung gestellt wird.10 Die Berücksichtigung unterschiedlicher Auswirkungen bei identischer Behandlung kann sich grundsätzlich bei jeder Gleichheitsprüfung stellen, auch wenn es sich nicht um diskriminierungsgefährdete Gruppen handelt.11 Es ist daher wenig plausibel, den Begriff der unmittelbaren und mittelbaren „Diskriminierung“ auch im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes einzusetzen, denn damit ginge die antidiskriminierungsrechtliche Zielsetzung dieser Rechtsfiguren verloren. Welche Kategorien in Diskriminierungsverbote aufgenommen werden, unterscheidet 10 sich je nach Regelungsinstrument deutlich: Im Grundgesetz (Art. 3 Abs. 3) sind andere Kategorien aufgezählt als in der EMRK (Art. 14) oder im EU-Recht (Art. 19 AEUV, Art. 21 GRCh). Die (durch eine Kategorie konstituierten) Gruppen, denen das Schutzversprechen der Diskriminierungsverbote gilt, sind nicht objektiv vorgegeben, sondern abhängig von dem jeweiligen zeitlichen und örtlichen Kontext. Häufig sind sie durch soziale Bewegungen erkämpft worden. Die folgenden Überlegungen sind grundsätzlich auf alle Kategorien übertragbar. Daher 11 kommt es auch auf die Frage, ob Diskriminierungsverbote Kategorien abschließend aufzählen oder einer Erweiterung zugänglich sind,12 nicht an. Da Kategorien als solche in diesem Beitrag nicht im Vordergrund stehen,13 ist auch eine genaue Auseinandersetzung mit dem Bedeutungsgehalt einzelner Kategorien nicht erforderlich. Doch soll bereits hier betont werden, dass die Kategorien, wegen derer Diskriminierung verboten ist, sozial konstruiert sind. Dies wird besonders deutlich bei den Kategorien, die früher als „Eigenschaften“ von Menschen geradezu ontologisch bestimmt worden sind: Dazu gehören insbesondere Rasse und Geschlecht. Doch auch wenn wir inzwischen um die soziale Konstruktion dieser Kategorien wissen, haben sie nicht an Wirkmächtigkeit in der sozialen Wirklichkeit verloren. Gerade die Zuschreibung einer solchen vermeintlichen Kategorie begründet für bestimmte Personen oder Personengruppen häufig besondere Diskriminierungsgefahr.14 9 Ausführlich dazu Rn. 18 ff. (B. IV. 1.). 10 BVerfGE 98, 365 (368) – Versorgungsanwartschaften (1998); BVerfGE 112, 268 (279 f.) – Kinderbetreu-
ungskosten (2005); Kirchhof, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: September 2015, Art. 3 Abs. 1 Rn. 296; Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 82. Erhellend dazu Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 157 ff. 11 Beispielsweise sah das BVerfG in gleichen Beitragssätzen für Eltern wie für Kinderlose eine Benachteiligung der Eltern: BVerfGE 103, 242 – Pflegeversicherung III (2001). 12 Manche Normen benennen die Offenheit der Merkmalskataloge ausdrücklich, indem sie das Wort „insbesondere“ voranstellen; dies ist typischerweise dann der Fall, wenn ein allgemeines Verbot der Diskriminierung ausgesprochen wird, wie etwa in Art. 21 GRCh oder Art. 14 EMRK. 13 Dazu ausführlich Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 437 ff.; → §§ 5–13. 14 Die Einsicht in die soziale Konstruktion von Kategorien macht deutlich, dass eine Bekämpfung von Rassismus durch Streichung des Merkmals Rasse aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht überzeugen kann: ausführlich dazu Barskanmaz, Rasse – Unwort des Antidiskriminierungsrechts?, KJ 2011, S. 382 (387). Ute Sacksofsky
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§ 14 Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
III. Zur Terminologie
Die Terminologie hinsichtlich der hier näher zu untersuchenden Rechtsfiguren ist in zweifacher Hinsicht nicht einheitlich. Zum einen ist schon die Bezeichnung der beiden Rechtsfiguren nicht auf eine Begrifflichkeit festgelegt. Während das deutsche AGG in § 3 „unmittelbare Benachteiligung“ und „mittelbare Benachteiligung“ legal definiert, sprechen die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien von „unmittelbarer Diskriminierung“ und „mittelbarer Diskriminierung“.15 In England wird von „direct discrimination“ und „indirect discrimination“ gesprochen, in den USA sind „disparate treatment“ und „disparate impact“ gebräuchlich. Fraglich ist daher, ob mit der unterschiedlichen Begrifflichkeit auch sachliche Unterschiede einhergehen. 13 Der deutsche Gesetzgeber ist bewusst von der europäischen Terminologie abgewichen: Die Gesetzesbegründung führt aus, mit der von den EU-Richtlinien abweichenden Begrifflichkeit wolle man deutlich machen, dass nicht jede unterschiedliche Behandlung, die mit der Zufügung eines Nachteils verbunden ist, diskriminierenden Charakter habe. Unter „Diskriminierung“ werde nämlich schon im allgemeinen Sprachgebrauch nur die rechtswidrige, sozial verwerfliche Ungleichbehandlung verstanden.16 Es ist indes zweifelhaft, ob dem Gesetzgeber mit der Verwendung des Begriffs „Benachteiligung“ eine neutrale Wortwahl gelungen ist. Zumindest alltagssprachlich ist auch „Benachteiligung“ mit einer negativen Konnotation verbunden. Daher werden im Folgenden Diskriminierung und Benachteiligung synonym verwendet. 14 Das Problem, auf das der AGG-Gesetzgeber reagieren wollte, liegt aber tiefer und stellt sich im Rahmen aller Gleichheitssätze.17 Auch im Kontext des allgemeinen Gleichheitssatzes ist manchmal unklar, ob Ungleichbehandlung nur die Tatbestandsseite (also die Unterschiedlichkeit der Behandlung) meint oder ob die Rechtfertigungsebene einbezogen wird, so dass nur die ungerechtfertigte unterschiedliche Behandlung erfasst wird. Der generellen Struktur von Gleichheitssätzen entspricht es, begrifflich zwischen Tatbestand und Rechtfertigung zu unterscheiden. Schließlich ist der zweistufige Aufbau der Gleichheitsprüfung schon aus dem Kontext des allgemeinen Gleichheitssatzes wohlbekannt. Um die Unterscheidung zwischen Tatbestand und Rechtfertigung zu reflektieren, ist es empfehlenswert, bei Vorliegen des Tatbestandes von unmittelbarer oder mittelbarer „Ungleichbehandlung“ zu sprechen. Liegen Rechtfertigungsgründe vor, kann man dies als gerechtfertigte Ungleichbehandlung bezeichnen. Sowohl mittelbare als auch unmittelbare Benachteiligung sind daher nur anzunehmen, wenn eine Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt werden kann. Da nach der hier verwendeten Terminologie kein Unterschied zwischen „Benachteiligung“ und „Diskriminierung“ gemacht wird, schließen mittelbare und unmittelbare Diskriminierung ebenfalls das Fehlen einer Rechtfertigung mit ein. 12
15 Siehe z. B. Art. 2 RL 2002/73/EG. 16 BT-Drucks. 16/1780, S. 30. 17 → Reimer, § 17 Rn. 1 ff.
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IV. Gleichheitskonzeptionen
Im allgemeinsten Sinne ist es Ziel des Antidiskriminierungsrechts, die gleiche Behand- 15 lung aller Menschen zu gewährleisten.18 Durch Gleichbehandlung wird Gerechtigkeit hergestellt; der enge Bezug von Gerechtigkeit und Gleichheit ist seit der Antike bekannt.19 Beide dogmatischen Figuren – das Verbot der unmittelbaren ebenso wie das Verbot der mittelbaren Benachteiligung – dienen diesem Zweck. Für ihr Verständnis ist daher unabdingbar, sich Klarheit über das zugrundeliegende Verständnis von Gleichheit zu verschaffen.20 Dies soll in drei Schritten geschehen. Am Anfang steht eine allgemein auf Gleichheit 16 bezogene Vorüberlegung, die zwei Rechte der Gleichheit expliziert (1.). Diese zwei Rechte der Gleichheit werden sodann antidiskriminierungsrechtlich gewendet in zwei grundlegend unterschiedliche Deutungen von Diskriminierungsverboten (2.). Die Leistungsfähigkeit dieser beiden Konzepte wird in einem idealtypischen Modell der historischen Abfolge von Diskriminierungsbekämpfung erprobt (3.). 1. Vorüberlegung: Zwei Rechte der Gleichheit
Gleichheit wird vielfach, fast automatisch, mit der identischen Behandlung zweier Per- 17 sonen gleichgesetzt. Doch eine solche Gleichsetzung wird der Komplexität des – auch intuitiven – Gleichheitsverständnisses nicht gerecht. Gleichbehandlung bedeutet nicht immer formal gleiche, im Sinne von identischer, Be- 18 handlung.21 Es gibt zahlreiche Konstellationen, in denen eine formale Gleichbehandlung ungerecht und damit ungleich ist. Ein Beispiel hierfür ist die Kopfsteuer, bei der jeder Mensch die absolut gleiche Summe an Steuern bezahlt; sie verstößt offensichtlich gegen unser Verständnis von Steuergerechtigkeit. Gerade weil Menschen unterschiedlich sind und in unterschiedlichen Konditionen leben, kann formale Gleichbehandlung zu unterschiedlichen Auswirkungen und damit zu Ungerechtigkeit führen, wie es schon in dem berühmten Satz von Anatole France zum Ausdruck kommt: „Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet sowohl den Reichen wie auch den Armen, unter Brücken zu schlafen, in den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen“.22 Gleichheit darf daher nicht mit identischer Behandlung im Sinne formaler Gleichbehandlung verwechselt werden. Ronald Dworkin hat daher zwei Formen eines Rechts auf Gleichheit unterschieden.23 19 Die erste Form ist das Recht auf gleiche Behandlung, d. h. das Recht auf eine gleiche Ver18 Grundlegend zur normativen Rechtfertigung von Antidiskriminierungsrecht: Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021; grundlegend zur Antidiskriminierung im Privatrecht: Grünberger, Personale Gleichheit, 2013; einen vergleichenden Überblick geben Schiek/Waddington/Bell (Hrsg.), Cases, Materials and Text on National, Supranational and International Non-Discrimination Law, 2007. 19 Siehe schon Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, in: Grumach/Flashar/Rapp (Hrsg.), Aristoteles, Bd. 6, 2020 (330 v. Chr.). 20 Vorüberlegungen dazu Sacksofsky, Geschlechterforschung im Öffentlichen Recht, JöR n. F. 67 (2019), S. 377. 21 Ausführlich zu Gleichheit: Sacksofsky, Gleichheitsrechte, in: Herdegen u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, S. 1229. 22 France, Die rote Lilie, 1964 (1894), S. 71. 23 Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 227.
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teilung einer Chance, Ressource oder Last. Die zweite Form umfasst das Recht, als Gleiche behandelt zu werden. Eine Behandlung als Gleiche bedeutet, auf dieselbe Weise mit Achtung und Rücksicht behandelt zu werden wie jede*r andere. Während das erstgenannte Verständnis des Rechts auf gleiche Behandlung mit der 20 intuitiv dominierenden Vorstellung identischer Behandlung korrespondiert, reicht das zweitgenannte Recht der Behandlung als Gleiche tiefer. Es verspricht Gleichheit in einem umfassenderen materiellen Sinne, indem es verlangt, dass auch der Maßstab, nach dem gehandelt wird, selbst Gleichheitsansprüchen genügt. Aus antidiskriminierungsrechtlicher Perspektive ist dieses Recht der Behandlung als Gleiche von besonderer Bedeutung. Langanhaltende Diskriminierung bestimmter Personengruppen hat häufig diskriminierende gesellschaftliche Strukturen zur Folge. Das Recht der Behandlung als Gleiche gibt marginalisierten Gruppen das Recht zu verlangen, dass ihre Interessen, Lebensbedingungen und Perspektiven bei der Regelsetzung berücksichtigt werden. Das Aufbrechen diskriminierender Strukturen ist ein Recht der Gleichheit, nicht nur eine politische Aufgabe. 2. Formelle und materielle Gleichheit – antidiskriminierungsrechtlich gewendet 21
Die zwei Rechte der Gleichheit – das Recht auf gleiche Behandlung und das Recht der Behandlung als Gleiche – prägen auch das Verständnis von Diskriminierungsverboten. Hier wirken sich formale und materielle Gleichheit in je spezifischem Sinne aus. Der Betonung der formellen Gleichbehandlung entspricht ein Verständnis als Differenzierungsverbot, welches dogmatisch durch das Verbot unmittelbarer Diskriminierung verarbeitet wird (a). Die Berücksichtigung materieller Gleichheit führt zu einem Verständnis als Dominierungsverbot; dieses findet seinen dogmatischen Ausdruck in dem Verbot mittelbarer Diskriminierung (b).24 a) Formelle Gleichheit: Differenzierungsverbot
Ein formales Verständnis von Diskriminierungsverboten setzt die Forderung nach identischer Behandlung dogmatisch um: Diskriminierungsverbote sind in diesem Sinne als Anknüpfungs- oder Differenzierungsverbote zu verstehen. Hintergrund eines solchen Verständnisses ist die Vorstellung, dass die in Diskrimi23 nierungsverboten aufgeführten Kategorien nicht die Grundlage für eine unterschiedliche Behandlung (im Recht) bilden dürfen. Daher erscheint jegliche Verwendung einer solchen Kategorie als äußerst problematisch und muss rechtlich unterbunden oder jedenfalls strengsten Rechtfertigungsanforderungen unterworfen werden. 24 Das strenge Verbot, die in Diskriminierungsverboten genannten Kategorien zu verwenden, zieht seine Plausibilität aus dem Charakter der (meisten) Kategorien: Es erscheint als ungerecht und willkürlich, Menschen unterschiedliche Rechte und Pflichten aufgrund von Kategorien zuzuweisen, die die Identität des Einzelnen prägen. Es geht also um Kategorien, die sie nicht beeinflussen können oder zu deren Veränderung sie im freiheitlichen 22
24 Ausführlich dazu Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 306 ff.
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Staat nicht gezwungen werden dürfen. Viele der Kategorien sind unveränderlich und von Geburt an vorgegeben, wie etwa ethnische Herkunft. Andere Kategorien resultieren aus der Ausübung eines verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsrechts, wie beispielsweise politische oder religiöse Überzeugung.25 Gerade weil es in Diskriminierungsverboten um Kategorien geht, die für die indivi- 25 duelle Identität so wichtig sind, tragen Beurteilungen nach diesen Kategorien die Gefahr in sich, Urteile über den höheren oder geringeren Wert einer Person abzugeben; in letzter Konsequenz kann das zur Folge haben, die Menschenwürde abzuerkennen. Die Verwendung einer Kategorie als Anknüpfungspunkt für Rechte oder Pflichten ist daher in diesem Verständnis schon per se diskriminierend: Entweder ist sie willkürlich oder sie ist vorurteilsbehaftet und beruht auf ausgrenzenden und abzulehnenden Weltbildern, wie beispielsweise Rassismus, Sexismus oder Ableismus. Dem begegnet ein Verständnis als Differenzierungsverbot: So sichtbar diese Katego- 26 rien (teilweise) sind, so wenig darf der Staat sie beachten. An den Gesetzgeber gerichtet bedeutet ein Differenzierungsverbot, dass die Diskriminierungskategorien in der Rechtsordnung nicht mehr vorkommen dürfen, bei der Entscheidung im Einzelfall (sei es der Entscheidung eines Gerichts, einer Behörde oder – soweit das Antidiskriminierungsrecht auch Private bindet – einer Privatperson) dürfen diese Kategorien keine Rolle spielen. Das Differenzierungsverbot entspricht damit dem Inbegriff des Rechts: dem Urteilen ohne Ansehen der Person – dem Bild der blinden Justitia.26 b) Materielle Gleichheit: Dominierungsverbot
Dem zweiten Verständnis von Differenzierungsverboten als Dominierungsverboten27 er- 27 scheint eine Vorstellung von Diskriminierung als quasi-willkürliche, vorurteilsbehaftete und aktiv menschenwürdegefährdende Bewertung des*der Einzelnen aufgrund einer Kategorie, die eigentlich keine Rolle spielen dürfte, zu kurz gegriffen. Dieses Modell bezieht vielmehr den gesellschaftlichen Kontext, insbesondere die historische Erfahrung, mit ein und rückt dadurch die strukturelle Natur von Diskriminierung in den Blick. Gesellschaften sind von den Interessen, Perspektiven und Lebenserfahrungen dominierender Gruppen geprägt. Dies hat Auswirkungen sowohl auf die Regelungsstrukturen und Institutionen als auch auf die Denkweise der Einzelnen. Diskriminierung ist danach nicht notwendigerweise die bewusste Ausgrenzung einer Person oder einer Gruppe, sondern eine häufig unbe25 Da sich Freiheitsrechte primär gegen den Staat richten, gilt ein Verbot der Berücksichtigung solcher
Kategorien nicht zwingend zwischen Privaten. Insoweit kommt es auf die je spezifische Regelung an. Beispielsweise wird in Art. 19 AEUV – und entsprechend in § 3 AGG – die politische Überzeugung nicht als Diskriminierungskategorie erwähnt. Hinsichtlich der Diskriminierung aus religiösen Gründen lässt § 9 AGG besondere Rechtfertigungsmöglichkeiten zu. 26 Fiss, Groups and the Equal Protection Clause, in: Cohen u. a. (Hrsg.), Equality and Preferential Treatment, 1977, S. 84 (96). 27 Grundlegend: MacKinnon, Sexual Harassment of Working Women, 1979; dies., Feminism Unmodified, 1987; dies., Toward a Feminist Theory of the State, 1989; dies., Geschlechtergerechtigkeit, in: NaglDocekal/Pauer-Studer (Hrsg.), Politische Theorie, Differenz und Lebensqualität, 1996, S. 140 ff.; Sacksofsky (Fn. 24); ähnlich das Hierarchisierungsverbot von Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995. Ute Sacksofsky
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wusste, tief verinnerlichte, gewissermaßen automatische Reaktion auf bestimmte Gruppenzugehörigkeiten. Diskriminierung wird so strukturell begriffen: nicht mehr primär als Vorwurf an Täter*innen, sondern als Erfahrung der Ausgrenzung oder geringeren Berücksichtigung bei der Verteilung von Ressourcen. Denn – wie bereits erwähnt – krankt die Maßstabsbildung selbst an diskriminierenden Strukturen. Nach diesem materiellen Verständnis von Gleichheit besteht Diskriminierung nicht nur in der expliziten Anknüpfung an eine Diskriminierungskategorie, sondern erfasst auch Formen von Benachteiligung, die sich, obgleich scheinbar neutral, strukturell zu Lasten von diskriminierungsgefährdeten Gruppen auswirken. Dies gilt in besonders starkem Maße für Gruppen mit einer langwährenden Diskriminierungsgeschichte. 3. Historische Abfolge bei der Diskriminierungsbekämpfung 28 In den Anfängen des Antidiskriminierungsrechts lag der Fokus auf dem Verbot unmittel-
barer Benachteiligung; die Rechtsfigur der mittelbaren Benachteiligung wurde erst später entwickelt. Dies ist kaum verwunderlich, wenn man sich den typischen Ablauf von Diskriminierungsbekämpfung ansieht. Diskriminierungsbekämpfung verläuft typischerweise in mehreren Phasen. Verein29 fachend und idealisierend gesprochen, lassen sich – grob28 – zwei Phasen rechtlicher Diskriminierung und entsprechend rechtlicher Diskriminierungsbekämpfung unterscheiden. Diese entsprechen der historischen Entwicklung, wie sie sich bei der Frauendiskriminierung in Europa beobachten lässt; auch die Diskriminierung von Schwarzen Menschen29 in den USA verlief in ähnlichen Phasen.30 Zu Beginn der ersten Phase ist die Kategorie Geschlecht bzw. Rasse in der Rechtsord30 nung eingesetzt, um Menschen erster und Menschen zweiter Klasse explizit zu unterscheiden. Ausdruck solcher Regelungen ist die Aberkennung des Bürger*innenstatus, wie etwa in den Regelungen zur Rassentrennung in den USA, im Ausschluss vom Wahlrecht oder in der Unterordnung von Ehefrauen unter den Ehemann, wie sie das BGB in seiner ursprünglichen Fassung vorsah. In dieser – besonders offensichtlich menschenwürdewidrigen – Phase erscheint Diskriminierungsabbau im Wege des Verbots der Verwendung der jeweiligen Kategorie naheliegend; ein Verständnis der besonderen Gleichheitssätze als Differenzierungsverbote ist in dieser Phase naheliegend. 31 Während in dieser ersten Phase das Differenzierungsverbot einen wichtigen Beitrag zur Diskriminierungsbekämpfung leisten kann, ändert sich dies entscheidend nach der 28 Ausdifferenzierter bei Sacksofsky, Diskriminierung und Gleichheit, in: Opfermann (Hrsg.), Unrechts-
erfahrungen, 2007, S. 31 ff. (36 ff.); eine etwas andere Einteilung in Phasen trifft Mangold (Fn. 18), S. 4 f., 185–187. 29 Es handelt sich bei der Bezeichnung Schwarz und Weiß nicht um eine tatsächliche Beschreibung von Hautfarben. Die Begriffe werden auch als Adjektive großgeschrieben, um die Konstruiertheit der dahinterliegenden Zuordnungsmuster zu verdeutlichen. Ausführlich Sow, Deutschland Schwarz Weiß, 2018, S. 24 ff., die „weiß“ allerdings klein schreibt, weil dieser Begriff „im Gegensatz zu ‚Schwarz‘ keine politische Selbstbezeichnung aus einer Widerstandssituation heraus“ sei (S. 19). 30 Ausführlich zur Entwicklung: Sacksofsky (Fn. 24), S. 207 ff.; Mangold (Fn. 18), S. 97 ff.; Grünberger (Fn. 18). Ute Sacksofsky
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Beseitigung aller, oder jedenfalls aller zentralen, ausdrücklich nach der Kategorie differenzierenden Regelungen. Jetzt geht es um die Einsicht, dass die typischen Institutionen der Gesellschaft nicht gleichheitskonform ausgelegt sind. Um tatsächliche Gleichheit zu erreichen, bedarf es struktureller Veränderungen. Wiederum am Beispiel der Geschlechterverhältnisse: Die Gesellschaft hat sich entsprechend der traditionellen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau eingerichtet. Deutliches Beispiel dafür ist etwa die lange währende Benachteiligung von Teilzeitarbeitenden, die wesentlich aus dem Grund erfolgte, dass der „normale Arbeitnehmer“ als Vollzeitarbeitnehmer gedacht wird. Dies hat wiederum Auswirkungen auf das Arbeits- und Sozialrecht, ohne dass in den entsprechenden Rechtsnormen explizit auf die Kategorie Geschlecht Bezug genommen wird. Begnügt man sich mit formaler Gleichbehandlung nach dem Geschlecht, ist der Umstand, dass die volle Rente nur bei ununterbrochener Erwerbsbiographie erreicht wird, irrelevant. Denn es existiert kein logisch zwingender Grund, warum Frauen eher als Männer ihren Berufsweg – etwa wegen Kinderbetreuung – unterbrechen. Solche, sich typischerweise in den Geschlechtsgruppen unterschiedlich manifestierenden, Auswirkungen kommen nur dann in den Blick, wenn sie nicht von vornherein auf Basis einer rein formellen Gleichbehandlung als für die rechtliche Prüfung irrelevant ausgeschieden werden. 4. Fazit
Beide Blickweisen auf das Verständnis von besonderen Gleichheitssätzen haben ihre Be- 32 rechtigung. Einerseits ist die Anknüpfung an Kategorien, die für die Einzelnen unverfügbar sind oder aus der Ausübung von Freiheitsrechten resultieren, problematisch, so dass besondere Gleichheitssätze Schutz gewähren, indem sie strenge Rechtmäßigkeitsanforderungen stellen. Andererseits aber ist für (durch Kategorien konstituierte) Personengruppen, die langanhaltende und intensive Diskriminierung erfahren haben, der Schutz durch besondere Gleichheitssätze unvollständig, wenn er sich mit der Herstellung formaler Gleichbehandlung begnügt. Bei besonderen Gleichheitssätzen ist es unumgänglich, auch die materielle Gleichbe- 33 handlung in den Blick zu nehmen, jedenfalls dann, wenn der jeweilige besondere Gleichheitssatz das Ergebnis von historischen Erfahrungen und Emanzipationsbewegungen ist. Wenn eine Kategorie in eine Rechtsnorm – sei es Verfassung, völkerrechtlicher Menschenrechtsvertrag oder Primär- bzw. Sekundärrecht der EU – gerade als Instrument zur Bekämpfung von Diskriminierung einer durch diese Kategorie konstituierten Gruppe aufgenommen wurde, muss das Verständnis des besonderen Gleichheitssatzes über eine bloß formale Gleichstellung hinausgehen. Denn die Diskriminierung solcher Gruppen hat besonders deutliche Spuren in der Ausgestaltung des Rechts hinterlassen. Sie kann daher nur dann, wenn auch die strukturelle Ebene in den Blick genommen wird, effektiv bekämpft werden. Das moderne Verständnis des Antidiskriminierungsrechts spiegelt diese Doppelgesich- 34 tigkeit der Diskriminierungsverbote wider. Das Verbot unmittelbarer Benachteiligung trägt einem Verständnis als Anknüpfungsverbot Rechnung, das Verbot mittelbarer BenachteiUte Sacksofsky
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§ 14 Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
ligung – und einige andere neue Rechtsfiguren, wie etwa positive Maßnahmen31 und angemessene Vorkehrungen32 – basieren auf einem Verständnis als Dominierungsverbot.
C. Unmittelbare Diskriminierung – Tatbestandsvoraussetzungen 35
Die Feststellung, ob eine unmittelbare Diskriminierung vorliegt, verlangt – wie bei allen Gleichheitsrechten – die Prüfung des „Tatbestandes“, also ob eine unmittelbare Ungleichbehandlung vorliegt, sowie das Fehlen einer Rechtfertigung. Auf der Tatbestandsseite verheißt ein Verständnis der unmittelbaren Diskriminierung als Anknüpfungsverbot, wie es hier vertreten wird,33 eigentlich eine einfache Antwort: Wird die Kategorie verwendet, liegt eine unmittelbare Ungleichbehandlung wegen der Kategorie vor; wird die Kategorie nicht verwendet, ist auch keine unmittelbare Ungleichbehandlung gegeben. Doch die schlichte Eleganz des Anknüpfungsverbots kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eine ganze Reihe von Aspekten gibt, die näherer Analyse bedürfen. Diese Fragen werden in den ersten sechs Abschnitten systematisiert. Zunächst geht es darum, wie Anknüpfung festgestellt werden kann (I.). Sodann wird gefragt, ob zusätzlich zur Anknüpfung weitere Anforderungen gegeben sein müssen (II.). Es folgt die geradezu gegenläufige Frage, ob unter bestimmten Voraussetzungen auf eine Anknüpfung verzichtet und dennoch eine unmittelbare Ungleichbehandlung angenommen werden kann (III.). Sodann werden verschiedene Facetten des Problemkreises erörtert, ob eine unmittelbare Benachteiligung auch dann vorliegt, wenn zwar nach einem Merkmal differenziert wird, dann aber gleichartige Rechtsfolgen angeordnet werden (IV.). Einige Aspekte zum Zusammenhang von Diskriminierungsopfer und Kategorie werden anschließend behandelt (V.). Es folgen einige Bemerkungen zu Intersektionalität im Zusammenhang mit unmittelbarer Diskriminierung (VI.). Der letzte Abschnitt wechselt die Perspektive und wendet sich Fragen der Rechtfertigung zu. Die Bejahung einer unmittelbaren Ungleichbehandlung hat nicht zwingend zur Folge, dass jegliche Anknüpfung an solche Kategorien absolut verboten wäre, sondern bedeutet zunächst nur, dass sie rechtfertigungsbedürftig ist. Zu klären ist daher, welchen Voraussetzungen die Rechtfertigung unterliegt (VII.). I. Feststellung der Anknüpfung
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Für ein Verständnis der unmittelbaren Benachteiligung als Verbot der Anknüpfung an eine der Diskriminierungskategorien kommt es entscheidend auf die Frage an, wann genau eine Anknüpfung festzustellen ist. Hierbei ergeben sich – vor allem in der Praxis – erhebliche Unterschiede, je nachdem, ob es sich um eine allgemein-generelle Regelung oder um eine Einzelfallentscheidung handelt. 31 → Schuler-Harms, § 16. 32 → Degener, § 15. 33 Andere Verständnisse, wie etwa Begründungsverbot oder das Verlangen nach einem kausalen Zusam-
menhang, werden unter Rn. 40 ff. (C. II.) erörtert.
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C. Unmittelbare Diskriminierung – Tatbestandsvoraussetzungen
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Bei allgemein-generellen Regelungen ist die Frage der Anknüpfung an eine Kategorie 37 typischerweise leicht zu beurteilen. Rechtsnormen bestehen im Regelfall aus Tatbestand und Rechtsfolge. Eine Anknüpfung an eine Diskriminierungskategorie lässt sich daher unmittelbar am Tatbestand der Rechtsnorm ablesen. Ist eine Diskriminierungskategorie eine der Tatbestandsvoraussetzungen, handelt es sich um eine Anknüpfung: Eine solche Norm stellt eine unmittelbare Ungleichbehandlung aufgrund einer der Diskriminierungskategorien dar. Auch bei individuell-konkreten Entscheidungen ist von einem Verständnis als Anknüp- 38 fungsverbot auszugehen. Problematisch ist bei Einzelmaßnahmen, wie beispielsweise Einstellungsentscheidungen, freilich, dass die Anknüpfung nicht immer leicht erkennbar ist, so dass die Prüfung nur theoretisch einfach strukturiert ist: Zu prüfen ist, ob die konkrete Entscheidung in gleicher Weise getroffen worden wäre, wenn der Person die betreffende Kategorie nicht zugeschrieben worden wäre.34 Tatsächlich aber gestaltet sich die Prüfung durchaus schwierig. Denn individuell-konkrete Entscheidungen lassen nicht notwendigerweise ihre tatsächlichen Gründe erkennen – insoweit liegt der Fall in der Tat anders als bei Rechtsnormen, die ihre Tatbestandsvoraussetzungen explizit ausweisen. Zudem geht es nicht zwingend darum, dass der Person, die die diskriminierende Entscheidung trifft, die diskriminierenden Gründe auch bewusst sind. Andernfalls würde fehlende Reflexion Diskriminierung verhindern können.35 Eindeutig ist der Fall, wenn die nachteilige Behandlung mit einer der Diskriminie- 39 rungskategorien begründet wird;36 eine Anknüpfung an die Kategorie ist damit offensichtlich gegeben. Doch die explizite Anknüpfung an eine Diskriminierungskategorie ist nicht (mehr) der Regelfall. Ob ein Arbeitgeber bei seiner Entscheidung an die Kategorie angeknüpft hat, kann daher zumeist nur durch Indizien festgestellt werden; § 22 AGG sieht insoweit eine Beweislastumkehr vor. Damit verlagert sich die Diskussion darauf, was als hinreichendes Indiz für eine Diskriminierung anzuerkennen ist.37 II. Anknüpfung – weitere Erfordernisse?
Versteht man das Verbot unmittelbarer Benachteiligung als Differenzierungsverbot, liegt 40 nahe, die bloße Anknüpfung an eine Kategorie für ausreichend zu erachten. Doch gibt es eine Reihe von Kriterien, die teilweise über die bloße Anknüpfung hinaus für erforderlich gehalten werden. Erörtert werden Diskriminierungsabsicht (1.), Kausalität (2.), Vergleichbarkeit (3.) und Symmetrie (4.). 34 Zu einem etwas anderen Ansatz, dem Vergleichspersonenkonzept, Rn. 45 (C. II. 3.). 35 Ausführlich dazu Rn. 41 f. (C. II. 1.). 36 Siehe etwa den Sachverhalt in BVerfGE 89, 276 – § 611a BGB (1993). Einer Frau war schriftlich mit-
geteilt worden, sie sei nicht eingestellt worden, weil die Tätigkeit eine Frau physisch überfordere. Dennoch war der Arbeitgeber vor den Arbeitsgerichten mit der (Schutz-)Behauptung erfolgreich, in Wahrheit sei die Frau nicht qualifiziert gewesen und die schriftliche Begründung habe nur dazu gedient, ihr die Aussichtslosigkeit ihrer Bewerbung schonend beizubringen. 37 Zu Beweisfragen → Muthorst, § 19. Ute Sacksofsky
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1. Diskriminierungsabsicht 41 Diskriminierungsverbote sind häufig so formuliert, dass sie eine Benachteiligung „wegen“
oder „aus Gründen“ von bestimmten Kategorien verbieten. Dies könnte so verstanden werden, dass nur solche Ungleichbehandlungen erfasst sein sollen, die gerade auf Benachteiligung abzielen. Denn Diskriminierung hat einen pejorativen Beiklang. Viele Menschen verbinden mit Diskriminierung die böse Absicht des*der Diskriminierenden, welche*r den eigenen Rassismus, Sexismus oder die Homophobie gegenüber anderen Personen auslebt. Bei einem solchen Verständnis wäre nur die mit Diskriminierungsabsicht verbundene Benachteiligung relevant. Doch das Antidiskriminierungsrecht basiert nicht auf der Perspektive der Täter*innen. Es kommt nicht (primär) darauf an, eine konkrete Person für ihr Handeln zur Verantwortung zu ziehen, sondern es geht darum, die aus diesem Handeln resultierenden Benachteiligungen zu unterbinden. Eine Diskriminierungsabsicht ist daher nach überwiegender Auffassung auch für eine unmittelbare Benachteiligung nicht erforderlich.38 42 Das Berufen auf Geschäftsnotwendigkeiten beispielsweise lässt daher eine unmittelbare Benachteiligung nicht entfallen. Eine solche Konstellation lag dem vom EuGH entschiedenen Fall Feryn zugrunde: Der Direktor eines Unternehmens hatte sich öffentlich dahingehend geäußert, dass sein Betrieb grundsätzlich Monteure einstellen wolle, aber keine Menschen fremder Herkunft beschäftigen könne, da die Kunden Bedenken hätten, ihnen für die Dauer der Arbeiten Zugang zu ihren Privatwohnungen zu gewähren.39 Ob besagter Direktor selbst solche Vorurteile wegen der ethnischen Herkunft hegt, ist irrelevant; ausschlaggebend ist allein, dass er die ethnische Herkunft als Kriterium für die Entscheidung über die Einstellung heranziehen will.40 Bei dem Verbot der Rassendiskriminierung geht es nicht darum, Rassist*innen zu „bestrafen“, sondern zu verhindern, dass die Anknüpfung an die Kategorie Rasse zu Benachteiligungen führt. 2. Kausalität oder Begründungsverbot 43 Häufig ist zu lesen, dass es bei der Frage, ob ein besonderer Gleichheitssatz einschlägig ist,
auf „Kausalität“ der Diskriminierungskategorie für den in Frage stehenden Akt ankomme.41 Hinter dieser Formulierung verbirgt sich vielfach die Vorstellung, die Anknüpfung an eine Kategorie reiche nicht aus, sondern es müsse zusätzlich die Kategorie auch der ei-
38 Schrader/Schubert (Fn. 6), § 3 Rn. 38; Bauer/Krieger/Günther (Fn. 6), § 3 Rn. 10; Plum, in: Schleuse-
ner/Suckow/Plum (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2019, § 3 Rn. 15; (teilweise) a. A.: Adomeit, in: Adomeit/Mohr, AGG, 2. Aufl. 2011, E. Rn. 130 ff. 39 EuGH, Urt. v. 10.7.2008, Rs. C-54/07, Feryn. In der Begründung setzt sich der EuGH freilich allein mit der Frage auseinander, ob eine Diskriminierung entfällt, weil es kein konkretes Opfer gab (Rn. 23 ff.). 40 Ähnlich gelagert EuGH, Urt. v. 25.4.2013, Rs. C-81/12, Asociaţia Accept. Inzwischen ist ausdrücklich geklärt, dass Kundenerwartungen als Rechtfertigung nicht ausreichen: EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-188/15, Bougnaoui, Rn. 40. 41 Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Mai 2015, Art. 3 Abs. 3 Rn. 20 f.; Uerpmann-Wittzack, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. V, 2013, § 128 Rn. 6; ähnlich auch Adomeit (Fn. 38), E. Rn. 133; Schrader/Schubert (Fn. 6), § 3 Rn. 37; Bauer/Krieger/Günther (Fn. 6), § 7 Rn. 13 ff.; zurückhaltend und jedenfalls keine enge Auslegung fordernd: v. Roetteken, AGG, Stand: Februar 2020, § 3 Rn. 378. Ute Sacksofsky
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gentliche Grund für die Regelung sein. Ein solches Verständnis, Diskriminierungsverbote als Begründungsverbote zu verstehen, ist heute überholt.42 Es übersieht, dass jegliche Anknüpfung an eine der Kategorien nach dem formellen Gleichheitsverständnis problematisch und daher rechtfertigungsbedürftig ist. Diese Auffassung wurde prominent in einer Zeit vertreten, in der vielen die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen über weite Strecken noch als quasi selbstverständlich legitimiert schien.43 Das Verlangen nach Kausalität hat sich mit einem Verständnis als Anknüpfungsverbot 44 in Wahrheit erledigt: Was mehr als die explizite Verwendung einer Kategorie sollte das Erfordernis der „Kausalität“ verlangen können? Fälle, in denen die Kategorie nicht „kausal“ sein soll, müssen anders geregelt werden (können), als durch die Verwendung der Kategorie als Tatbestandsmerkmal. Während die Forderung nach Kausalität also für abstraktgenerelle Regelungen nicht wirklich passt, denken viele derjenigen, die Kausalität fordern, denn auch eher an individuell-konkrete Handlungen, wie etwa Einstellungsentscheidungen.44 Wenn Kausalität getreu der Conditio-sine-qua-non-Formel verstanden wird, könnte beim Vorliegen mehrerer Gründe für eine benachteiligende Entscheidung angenommen werden, dass damit der auf Diskriminierung basierende Grund nicht relevant war. Doch für § 3 AGG hat die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in erfreulicher Klarheit festgestellt: Nicht erforderlich ist, dass die Diskriminierungskategorie „ausschließliches oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist“.45 Eine bloße Mitursächlichkeit genügt.46 Die Anknüpfung begründet Mitursächlichkeit. Liegt eine Anknüpfung vor, ist eine eigene Untersuchung von Kausalität bei Rechtsnormen wie bei Einzelentscheidungen überflüssig. 3. Vergleichbarkeit
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG liegt eine unmittelbare Benachteiligung dann vor, wenn eine 45 Person wegen einer Diskriminierungskategorie eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person „in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde“. Dies hat zur Folge, dass immer wieder auf Vergleichbarkeit abgestellt wird.47 Die Begrifflichkeit kommt aus den europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien, deren Umsetzung das AGG dient. Da das europäische Antidiskriminierungsrecht wesentlich vom englischen Recht beeinflusst ist, ist Hintergrund dieser Formulierung das Vergleichspersonenkonzept des englischen Rechts.48 Analytisch betrachtet hat das Abstellen auf Ver42 In diese Richtung auch Baer/Markard (Fn. 13), Art. 3 Abs. 3 Rn. 426; Kingreen, in: Kahl/Waldhoff/
Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand: Februar 2020, Art. 3 Rn. 436.
43 Entwickelt wurde das Begründungsverbot insbesondere von Podlech, Gehalt und Funktionen des all-
gemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, 1971, S. 91 ff.; weiterentwickelt von Schlink, Zwischen Identifikation und Distanz, Der Staat 15 (1976), S. 335 (350). 44 Siehe z. B. Bauer/Krieger/Günther (Fn. 6), § 7 Rn. 11 ff. 45 BAG Urt. v. 18.9.2014, 8 AZR 753/13, Rn. 22. 46 BAG Urt. v. 18.9.2014, 8 AZR 753/13, Rn. 22; BAG Urt. v. 26.9.2013, 8 AZR 650/12, Rn. 25. 47 Siehe etwa: Bauer/Krieger/Günther (Fn. 6), § 3 Rn. 11. 48 Schiek, in: Schiek (Hrsg.), AGG, 2007, § 3 Rn. 2. Ute Sacksofsky
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gleichspersonen jedoch erhebliche Schwächen.49 Wer als geeignete Vergleichsperson in Frage kommt, ist keineswegs offensichtlich, sondern wird oft umstritten sein. Für diese Frage bietet die Forderung nach Vergleichbarkeit aber kaum Maßstäbe, zudem kann eine adäquate Vergleichsperson komplett fehlen, so dass – strenggenommen – Diskriminierung dann gar nicht festgestellt werden könnte. Ein besonders offensichtliches Beispiel stellt die Diskriminierung einer Schwangeren dar: Mit wem sollte sie verglichen werden – einem kranken Mann? 46 Das AGG hat diese Problematik dadurch zu umgehen versucht, dass es auch eine hypothetische Vergleichsperson für ausreichend erachtet, um unmittelbare Diskriminierung zu bejahen.50 Sobald aber das Erfordernis der konkreten Vergleichsperson aufgegeben wird, kann es nur noch um die Frage nach der Anknüpfung an eine Diskriminierungskategorie gehen. Der „Umweg“ über die Vergleichsperson erweist sich bei näherer Betrachtung als überflüssig. Systematisch ist das Vorhandensein einer konkreten Vergleichsperson ein starkes Indiz für die Feststellung einer Anknüpfung.51 47 Ein zweiter Strang, der auf Vergleichbarkeit abstellt, kommt aus dem deutschen Verfassungsrecht. „Vergleichsgruppenbildung“ ist eine Methode, die im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes vielfach verwendet wird. Sie ist jedoch bereits dort irreführend und wenig hilfreich.52 Noch weniger ertragreich ist sie im Hinblick auf besondere Gleichheitssätze,53 denn es besteht die Gefahr, dass sie zur Relativierung der Diskriminierungsverbote eingesetzt wird. Der Sache nach lassen sich die meisten der unter der Rubrik „Vergleichbarkeit“ verorteten Gesichtspunkte auf der Ebene der Rechtfertigung abhandeln. Denn die Argumente, mit denen „Vergleichbarkeit“ verneint wird, sind regelmäßig (potentiell) rechtfertigender Natur. Prinzipiell ist alles mit allem „vergleichbar“; es hängt schlicht von dem tertium comparationis ab, zu welchem Ergebnis der Vergleich kommt. Es ist also schon eine Auswahl vorgenommen worden, wenn Vergleichbarkeit untersucht werden soll. Eine solche Auswahl ist notwendigerweise mit Wertungen verbunden. Es ist kein dogmatischer Gewinn, diese Wertungen bereits auf der Tatbestandsebene einzubringen. Stattdessen sollten die Gesichtspunkte, die an der Vergleichbarkeit der Sache nach zweifeln lassen mögen, im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung erörtert werden.54 Die Frage, ob es hinreichende Gründe gibt, die eine Ungleichbehandlung wegen einer Diskriminierungskategorie tragen können, ist der dogmatisch richtige Ort, um über Unvergleichbarkeit nachzudenken.55 49 Ausführlich dazu Bell, in: Schiek/Waddington/Bell (Hrsg.), Cases, Materials and Text on National, Supranational and International Non-Discrimination Law, 2007, S. 205 ff.; Gerards, Judicial Review in Equal Treatment Cases, 2005, S. 229 ff. 50 § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG lässt eine weniger günstige Behandlung, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation „erfahren würde“, genügen. 51 Siehe oben Rn. 36 ff. (I.). 52 Dazu Sacksofsky (Fn. 21). 53 Das Bundesverfassungsgericht hat denn auch nur in seiner frühen Rechtsprechung zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen in diese Richtung argumentiert: BVerfGE 6, 389 (422 f.) – Homosexuelle (1957). 54 So auch → Reimer, § 17 Rn. 12 ff. 55 Insbesondere in der Rechtsprechung des EuGH wird sehr deutlich, dass er mit Vergleichbarkeitsüberlegungen funktional Rechtfertigungsfragen erörtert: dazu auch Rn. 98 (C. VII. 2.).
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4. Symmetrie?
Fraglich ist, ob das Anknüpfungsverbot symmetrisch in dem Sinne ist, dass unbeachtlich 48 ist, zu wessen Gunsten oder Lasten eine Anknüpfung an eine Kategorie erfolgt. Dieser Streit ist vor allem bei der Diskussion um die Zulässigkeit von affirmative action zum Tragen gekommen, also um Maßnahmen, die Angehörigen von langzeitig diskriminierten Gruppen den Zugang zu Bereichen öffnen sollen, die ihnen bisher verschlossen blieben.56 Diejenigen, die besondere Gleichheitssätze ausschließlich als Anknüpfungsverbote verstehen, halten die eine Anknüpfung für genauso verwerflich wie die andere: Es könne nicht darauf ankommen, „whose ox is gored“57. Für die Vertreter*innen eines Verständnisses als Dominierungsverbot macht es hingegen einen erheblichen Unterschied, ob eine Maßnahme exkludierende oder inkludierende Zwecke verfolgt. Versteht man Diskriminierungsverbote ausschließlich im Sinne materieller Gleichheit, kann dies zur Folge haben, dass schon die Einschlägigkeit des besonderen Gleichheitssatzes verneint wird und affirmative action nur am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes zu prüfen ist.58 Sieht man hingegen Differenzierungs- wie Dominierungsverbot als relevante Teilgehal- 49 te besonderer Gleichheitssätze an, kommt es für die Quotendiskussion entscheidend auf das Verhältnis der beiden zueinander an. Quotenregelungen knüpfen an eine Diskriminierungskategorie an und stellen somit eine unmittelbare Ungleichbehandlung dar. Sie können aber durch das Dominierungsverbot als Ausdruck eines materiellen Gleichheitsverständnisses gerechtfertigt werden. Hinsichtlich der Zulässigkeit von positiven Maßnahmen zeigen sich erhebliche Un- 50 terschiede schon in der textlichen Ausgestaltung verschiedener Rechtsinstrumente. In vielen völkerrechtlichen Verträgen wird die Zulässigkeit positiver Maßnahmen explizit angeordnet, wie beispielsweise in Art. 1 Abs. 4 ICERD oder in Art. 4 CEDAW. Auch im Unionsrecht ist die Zulässigkeit von positiven Maßnahmen schon seit langem anerkannt. Die Zulässigkeit von Maßnahmen zur Förderung der effektiven Gewährleistung der vollen Gleichstellung sind im Primärrecht (Art. 157 Abs. 4 AEUV ) wie auch in den Antidiskriminierungsrichtlinien explizit formuliert. § 5 AGG übernimmt diesen Gedanken und erklärt eine unterschiedliche Behandlung für zulässig, wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile verhindert oder ausgeglichen werden sollen. Trotz dieser in den Regelwerken weitgehend gebilligten positiven Maßnahmen hat der EuGH nur relativ weiche Quotenregelungen für mit dem Unionsrecht vereinbar gehalten; die Recht-
56 Ausführlich dazu Sacksofsky (Fn. 24), S. 233 ff.; → Schuler-Harms, § 16 Rn. 26 ff. Für einen Überblick
über die philosophische Diskussion siehe Rössler (Hrsg.), Quotierung und Gerechtigkeit, 1993.
57 Bickel, The Morality of Consent, 1975, S. 133. 58 In diese Richtung geht etwa die Position der Gruppe von Richter*innen um Justice Brennan in der
ersten Entscheidung des US Supreme Court zu affirmative action. Diese wollte affirmative action nicht – wie die Diskriminierung von Afroamerikaner*innen – in die „höchste“ Stufe der Gleichheitsprüfung einordnen, sondern lediglich einen mittleren Prüfungsmaßstab anwenden: US Supreme Court, Regents of the University of California v. Bakke, 438 U. S. 265 (1978), 357 ff. In eine ähnliche Richtung auch Baer/Markard (Fn. 13), Art. 3 Abs. 3 Rn. 422, 435. Ute Sacksofsky
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sprechung des EuGH zu Quotenregelungen, die manche billigte, andere für unionsrechtswidrig erklärte,59 ist nicht einfach konsistent zu rekonstruieren.60 Im deutschen Verfassungsrecht ergibt sich die Zulässigkeit von positiven Maßnah51 men für die Kategorie Behinderung bereits daraus, dass Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG allein die Benachteiligung, nicht aber die Bevorzugung verbietet. Für alle anderen Kategorien wird die Verfassungsmäßigkeit positiver Maßnahmen nicht explizit geregelt; ein Versuch, eine solche Klarstellung bei der Verfassungsreform 1994 für das Merkmal Geschlecht aufzunehmen, scheiterte.61 Das Bundesverfassungsgericht hat zwar noch nicht unmittelbar über Quotenregelungen entschieden, jedoch dogmatisch den Weg ihrer Rechtfertigung vorgezeichnet. Das Gericht erkennt als eine Möglichkeit der Rechtfertigung einer unmittelbaren Ungleichbehandlung kollidierendes Verfassungsrecht an und betont, dass der Verfassungsauftrag zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung zu diesem kollidierenden Verfassungsrecht zählt.62 An der dogmatischen Einordnung von Quotenregelungen zeigt sich besonders deut52 lich, weshalb auch formelle Gleichheit ein wichtiger Teilgehalt von Diskriminierungsverboten ist. Die Versagung von Möglichkeiten aufgrund der Anknüpfung an eine Diskriminierungskategorie löst bei den Betroffenen ein Gefühl von Ungerechtigkeit aus, da sie ungleich behandelt werden wegen eines Merkmals, „für das sie nichts können“. Scheidet man positive Maßnahmen schon aus dem Tatbestand unmittelbarer Benachteiligung aus, kann dieses Ungerechtigkeitserleben nicht aufgenommen und juristisch verarbeitet werden. Wenn aber, wie nach der hier vertretenen Position, der Tatbestand der unmittelbaren Diskriminierung bejaht wird, kann im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung präziser herausgearbeitet werden, weshalb die individuell – verständlicherweise – als ungerecht empfundene Anknüpfung an eine Kategorie im Ergebnis keine Diskriminierung darstellt. III. Ersetzen der fehlenden expliziten Anknüpfung 53
Naheliegenderweise ist für ein Anknüpfungsverbot die Anknüpfung an eine Kategorie von zentraler Bedeutung. Fehlt eine solche, kann der Tatbestand einer unmittelbaren Diskriminierung allenfalls in Ausnahmefällen angenommen werden. Zwei solche denkbaren Konstellationen sollen im Folgenden erörtert werden. Zum einen geht es um die Frage, ob eine Diskriminierungsabsicht die Anknüpfung ersetzen kann (1.), zum zweiten geht es um die Anknüpfung an ein Merkmal, welches in untrennbarem Zusammenhang mit einer Diskriminierungskategorie steht (2.). 59 Gebilligt: EuGH, Urt. v. 11.11.1997, Rs. C-409/15, Marschall; EuGH, Urt. v. 28.3.2000, Rs. C-158/97,
Badeck u. a.; verworfen: EuGH, Urt. v. 17.10.1995, Rs. C-450/93, Kalanke; EuGH, Urt. v. 6.7.2000, Rs. C-407/9, Abrahamsson und Anderson; EuGH, Urt. v. 30.9.2004, Rs. C-319/03, Briheche; betreffend die Bevorzugung von Müttern in der Bereitstellung von subventionierten Kindertagesstättenplätzen: EuGH, Urt. v. 19.3.2002, Rs. C-479/99, Lommers. 60 Ausführlich dazu: Sacksofsky, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Frauenfördermaßnahmen, RdJB 2002, S. 193. 61 Eine Dokumentation der damaligen Verfassungsdiskussion bieten Limbach/Eckertz-Höfer (Hrsg.), Frauenrechte im Grundgesetz des geeinten Deutschland, 1993. 62 BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeitsverbot (1992); BVerfGE 92, 91 (109) – Feuerwehrabgabe (1995). Ute Sacksofsky
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1. Diskriminierungsabsicht
Handlungen, die mit Diskriminierungsabsicht, aber ohne (explizite) Anknüpfung an eine Diskriminierungskategorie erfolgen, können als „verdeckte Diskriminierung“ („covert discrimination“) bezeichnet werden. Bei der Beurteilung, ob es sich bei solchen Handlungen um eine unmittelbare Diskriminierung handelt, ist wiederum zwischen der allgemein-generellen Regelung und dem Einzelakt zu unterscheiden. Liegt eine Diskriminierungsabsicht vor, ist die unmittelbare Diskriminierung bei der individuell-konkreten Entscheidung unschwer zu bejahen. Denn Handeln mit diskriminierender Absicht zielt ja gerade darauf, wegen (der Zuschreibung)63 einer Diskriminierungskategorie zu benachteiligen. Schwieriger ist die Konstellation bei allgemein-generellen Regelungen zu beurteilen. Theoretisch kontaminiert die diskriminierende Absicht auch in diesem Fall die Neutralität der Regelung, sodass der Tatbestand einer unmittelbaren Diskriminierung anzunehmen ist. Doch stellen sich hier im Praktischen erhebliche Probleme. Denn bei abstrakt-generellen Regelungen, die nicht an eine Kategorie anknüpfen, lässt sich eine Diskriminierungsabsicht – grundsätzlich64 – nur äußerst schwer feststellen. Illustrieren lässt sich dies etwa an der Blindenführhund-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.65 Die blinde Beschwerdeführerin befand sich in Behandlung in einer Physiotherapiepraxis, die sich im selben Gebäude befand wie eine orthopädische Gemeinschaftspraxis. Die Physiotherapiepraxis war – neben dem Weg über eine offene Stahlgittertreppe, den die Blindenführhündin nicht benutzen konnte – ebenerdig durch die Räumlichkeiten der orthopädischen Gemeinschaftspraxis zu erreichen. Ein Schild wies auf beide Wege hin. Nachdem die Beschwerdeführerin den Durchgang durch die Praxis bereits mehrfach mit ihrer Blindenführhündin genutzt hatte, verweigerten die Ärzt*innen unter Berufung auf hygienische Gründe, diesen Weg mit ihrer Hündin zu benutzen. Rekonstruiert man die Berufung auf hygienische Gründe als allgemeine Regel des Verbots des Mitführens von Tieren, könnte eine Diskriminierungsabsicht zweifelhaft sein; andererseits sprachen aber im konkreten Fall erhebliche Indizien für das Vorliegen einer Diskriminierungsabsicht.66 Besondere Schwierigkeiten stellen sich bei Rechtsnormen, die von der Legislative erlassen worden sind; hier lässt sich kaum eine Diskriminierungsabsicht nachweisen. Die aufgeworfenen Probleme sind aus der Diskussion um eine Begründungspflicht von Gesetzen wohlbekannt.67 Äußerungen in der parlamentarischen Debatte sind für sich genommen nicht aussagekräftig, könnte die Mehrheit doch aus ganz anderen Gründen dem Gesetzesbeschluss zugestimmt haben. Hinzu kommt ein weiteres: Der Regelung können – da die ei63 Dazu Rn. 11 (B. II.). 64 Zur Verwendung eines Merkmals, welches in untrennbarem Zusammenhang zu einer Diskriminie-
rungskategorie steht, siehe Rn. 58 ff. (C. III. 2.).
65 BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18 – Blindenführhund. 66 Das Bundesverfassungsgericht lässt offen, ob es sich um eine unmittelbare Benachteiligung handelt;
BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18, Rn. 41 – Blindenführhund.
67 Dazu mit weiteren Nachweisen Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987; Kischel, Die Begrün-
dung, 2003; Gartz, Begründungspflicht des Gesetzgebers, 2015. Ute Sacksofsky
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gentlich beabsichtigte Kategorie nicht verwendet wurde – auch andere Fallkonstellationen unterfallen, die die Normgeber eigentlich vermeiden wollten. So trafen die auf Neutralität verpflichtenden Verbote für Lehrer*innen, religiöse Symbole zu tragen, die eigentlich nur das Kopftuchtragen islamischer Lehrerinnen verhindern sollten, auch das Nonnenhabit; für dieses sahen die Gesetze dann wieder besondere Ausnahmen vor, was ihnen im Ergebnis aber nichts nützte, denn das Bundesverfassungsgericht erklärte die Ausnahmevorschriften als „Privilegierungsbestimmung“ zu Recht für verfassungswidrig.68 Normalerweise69 wird sich also bei Rechtsnormen keine Diskriminierungsabsicht feststellen lassen, so dass die fehlende Anknüpfung an eine Kategorie in diesen Fällen nicht ersetzt werden kann; bei entsprechenden Regelungen wäre aber jedenfalls eine mittelbare Diskriminierung zu prüfen. 2. Untrennbarer Zusammenhang mit einer Kategorie 58
Es gibt Kriterien, die mit Diskriminierungskategorien in untrennbarem Zusammenhang stehen, aber nicht selbst eine solche Kategorie darstellen. Lange Zeit war streitig, wie mit solchen Charakteristika umzugehen ist.70 Das bekannteste Beispiel für diese Fallkonstellation ist die Schwangerschaft. Der US Supreme Court hielt es in einer frühen Entscheidung für verfassungsmäßig, dass das Krankenversicherungssystem des Staates Kalifornien medizinische Kosten der Arbeitnehmer*innen in allen Fällen außer bei Schwangerschaft übernahm.71 Die Argumentation, mit der eine Ungleichbehandlung wegen der Schwangerschaft nicht als Diskriminierung wegen des Geschlechts angesehen wird, funktioniert scheinbar logisch. Während die „normale“ Anknüpfung an eine Diskriminierungskategorie die Rechtsunterworfenen in zwei Gruppen trennt, die lediglich durch die Diskriminierungskategorie unterschieden sind, hat die Anknüpfung an Attribute wie Schwangerschaft nur zur Folge, dass eine der beiden Gruppen ausschließlich aus Personen einer bestimmten Kategorie bestehen, mit anderen Worten: Die Regelung unterscheidet zwischen Schwangeren (nur Frauen) und nicht-schwangeren Personen (Frauen und Männer). Der EuGH trat dieser rabulistischen Argumentation bereits in den neunziger Jahren klar entgegen und führte aus, dass die Verweigerung einer Einstellung wegen Schwangerschaft nur Frauen gegenüber in Betracht komme und daher eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstelle.72 Inzwischen ist in § 3 Abs. 1 Satz 2 AGG ausdrücklich klargestellt – 68 BVerfGE 138, 296 (346 Rn. 123) – Kopftuchverbot II (2015). 69 Ausnahmen wären allenfalls denkbar, wenn Gesetzesbegründung, Plenardiskussion und gesellschaftli-
cher Kontext eindeutig auf Diskriminierungsabsicht hinweisen.
70 Bei untrennbarem Zusammenhang bejahend: Fehling, Mittelbare Diskriminierung und Art. 3 (Abs. 3)
GG, in: FS Würtenberger, 2013, S. 669 (678); Langenfeld (Fn. 41), Art. 3 Abs. 3 Rn. 34; Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 182 Rn. 31 („spezifische Begleitmerkmale“); Bauer/Krieger/Günther (Fn. 6), § 1 Rn. 56; noch ablehnend: Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand: Mai 1996, Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 562. 71 US Supreme Court, Geduldig v. Aiello, 417 U. S. 484 (1974). Später auch für die Auslegung des Antidiskriminierungsgesetzes: US Supreme Court, General Electric Co. v. Gilbert, 429 U. S. 125 (1976). 72 EuGH, Urt. v. 8.11.1990, Rs. C-177/88, Dekker; ausführlich zum Umgang mit Schwangerschaft im Ute Sacksofsky
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und in der Literatur überwiegend anerkannt73 – dass eine ungünstigere Behandlung einer Frau wegen Schwangerschaft eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts darstellt.74 Dasselbe dogmatische Problem stellt sich bei der Ungleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft. Der EuGH hat darin eine unmittelbare Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung gesehen: Eine unterschiedliche Behandlung, die darauf beruhe, dass Arbeitnehmer*innen verheiratet sind, und nicht ausdrücklich auf ihre sexuelle Ausrichtung Bezug nimmt, stelle dennoch eine unmittelbare Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung dar, da homosexuelle Arbeitnehmer*innen die notwendige Voraussetzung nicht erfüllen könnten, um die beanspruchte Vergünstigung zu erhalten, weil die Ehe Personen unterschiedlichen Geschlechts vorbehalten war.75 Denkbar wäre der Gegeneinwand, die Entscheidung für einen bestimmten Familienstand habe nicht zwingend mit sexueller Identität zu tun; schließlich erfolgte bei der Eheschließung oder Verpartnerung keine Überprüfung der sexuellen Identität.76 Doch erscheint ein solcher Einwand zu formalistisch. Inzwischen ist der „untrennbare Zusammenhang“ bei beiden genannten Beispielen freilich aus ganz anderen Gründen problematisch geworden. Durch die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu transgender* Personen77 wird die früher eindeutige „Untrennbarkeit“ brüchig. So war die Unterscheidung von heterosexuell (Ehe) und homosexuell (Lebenspartnerschaft) bereits seit einer Entscheidung von 2008 nicht mehr ganz zwingend;78 noch vor der Öffnung der Ehe für alle war in Ausnahmefällen auch eine Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partner*innen möglich. Auch hinsichtlich der Schwangerschaft haben sich durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2011 Änderungen ergeben,79 da die Unfruchtbarkeit nicht länger zwingende Voraussetzung der Personenstandsänderung ist. Seitdem ist zumindest ein Fall eines gebärenden Mannes in Deutschland bekannt geworden.80 Diese Beispiele zeigen, dass der Zusammenhang zwischen Diskriminierungskategorien und anderen Kriterien jedenfalls in den genannten Beispielen so untrennbar nicht ist. Eva Kocher hält dieser Betrachtungsweise bezogen auf Untrennbarkeit von Schwangerschaft und Geschlecht zudem entgegen, dass es sich um eine stereotypisierende Begründung Kontext des Arbeitslebens durch BAG und EuGH: Kocher, „Geschlecht“ im Antidiskriminierungsrecht, KJ 2009, S. 386 (389 f.). 73 Bauer/Krieger/Günther (Fn. 6), § 3 Rn. 19 bezeichnen die Regelung gar als „überflüssig“. 74 Art. 4 Abs. 1 a) Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13.12.2004; auch der US-amerikanische Gesetzgeber hatte so schon mit einer gesetzgeberischen Klarstellung auf die Entscheidung des US Supreme Court reagiert: 42 U. S. § 2000(e)(k) (1978). 75 EuGH, Urt. v. 1.4.2008, Rs. C-267/06, Maruko, Rn. 72; EuGH, Urt. v. 10.11.2011, Rs. C-147/08, Römer, Rn. 52; EuGH, Urt. v. 12.12.2013, Rs. C-267/12, Hay v. Crédit Agricole Mutuel, Rn. 44. 76 Anders aber bei Scheinehen, ausführlich dazu Markard, Eheschließungsfreiheit im Kampf der Kulturen, in: Lembke (Hrsg.), Regulierungen des Intimen, 2017, S. 139 (142 ff.). 77 Ausführlich dazu Adamietz, Geschlecht als Erwartung, 2011; Sacksofsky, Grundrechtlicher Schutz für Transsexuelle in Deutschland und Europa, in: FS Jaeger, 2011, S. 675. 78 BVerfGE 121, 175 – Transsexuelle V (2008). 79 BVerfGE 128, 109 – Lebenspartnerschaften von Transsexuellen (2011). 80 BGHZ 215, 318. Ute Sacksofsky
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handele, die auf einer bestimmten Vorstellung eines „Frauenkörpers“ beruhe. Sie plädiert für eine eher an der Struktur des Erwerbsarbeitsverhältnisses und des Arbeitsmarktes ansetzende Begründung und will auf Elternschutz setzen.81 Ihre Kritik trifft einen wichtigen Punkt: Die Einführung biologischer Argumente in den Diskurs um Geschlechtsdiskriminierung muss immer mit Skepsis betrachtet werden. Doch bei Schwangerschaft ist an der (biologisch begründeten) Geschlechtsdiskriminierung festzuhalten. Denn Schwangerschaft ist nicht nur – bis auf zahlenmäßig ganz minimale Ausnahmen – an die Kategorie „Frau“ geknüpft, sondern auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ist Schwangerschaft geradezu Inbegriff des Frau-Seins: Schwangere werden als Frauen wahrgenommen; selbst wenn dies mit der Selbstbeschreibung der Betroffenen nicht übereinstimmt, besteht die Gefahr einer Diskriminierung wegen dieser Zuschreibung.82 Hierin liegt ein entscheidender Unterschied gegenüber der Elternschaft für geborene Kinder. Hinzu kommt, dass das Verbot der Geschlechterdiskriminierung im Europarecht stärker verankert ist als der Schutz von Eltern; eine theoretisch denkbare Abkehr von der Bezugnahme auf den weiblichen Körper hätte damit erhebliche Rechtsschutzlücken zur Folge. 63 Teilweise wird für die unmittelbare Benachteiligung nicht einmal ein wirklich „untrennbarer Zusammenhang“ mit einer Diskriminierungskategorie verlangt, sondern dieses Erfordernis noch weiter aufgeweicht. So soll nach der Stellungnahme der Antidiskriminierungsstelle des Bundes im bereits erwähnten Blindenführhund-Fall für die unmittelbare Benachteiligung bereits ausreichen, dass die Mitnahme von Führhunden aufs Engste mit den rechtlichen und biologischen Umständen der Behinderung verbunden sei und daher einer unmittelbaren Benachteiligung wegen der Behinderung besonders nahekomme.83 64 Solche Versuche, die unmittelbare Benachteiligung auszuweiten, sind abzulehnen, da sie dem Grundverständnis als Anknüpfungsverbot zuwiderlaufen. Unmittelbare Benachteiligung sollte nur dann ohne Anknüpfung an die Diskriminierungskategorie bejaht werden, wenn der Zusammenhang wirklich „untrennbar“ ist. Der „untrennbare Zusammenhang“ sollte daher restriktiv ausgelegt und nur bei strenger Betrachtungsweise angenommen werden. Damit stellt man die Betroffenen auch nicht schutzlos, denn es ist dann – wenn eine unmittelbare Benachteiligung verneint wird – eine mittelbare Benachteiligung zu prüfen.84 65 Bei abstrakt-generellen Regelungen kommt es daher auf die Formulierung an: Wird die Mitnahme von Blindenführhunden verboten, ist ein untrennbarer Zusammenhang mit dem Merkmal Behinderung anzunehmen, wird hingegen die Mitnahme von Tieren verboten (und lässt sich keine Diskriminierungsabsicht feststellen), ist eine mittelbare Benachteiligung zu prüfen.85 81 Kocher (Fn. 72), S. 386 (390 f.). 82 Siehe Rn. 11, 78 (B. II., V.). 83 Ausweislich der Darstellung des Gerichts: BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18, Rn. 24 – Blin-
denführhund.
84 So geht auch das Bundesverfassungsgericht vor: BVerfGE 132, 72 (97) – Elterngeld (2012). 85 Der nahe Zusammenhang kann dann in besonders strengen Rechtfertigungsanforderungen berück-
sichtigt werden, allgemein zu Rechtfertigungsanforderungen bei mittelbarer Benachteiligung Rn. 135 ff. (D. V. 1.). Ute Sacksofsky
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IV. „Neutrale“ Verwendung
Während die klassische Form der Diskriminierung überwiegend klar erkennen lässt, wel- 66 che Ausprägung einer Kategorie (Mann oder Frau/Schwarz oder Weiß) privilegiert oder benachteiligt werden soll, gibt es auch scheinbar neutrale Anknüpfungen, indem verschiedene Ausprägungen einer Kategorie mit der gleichen Rechtsfolge belegt werden. Fraglich ist, ob auch solche Regelungen vor dem Anknüpfungsverbot gerechtfertigt werden müssen. Ganz überwiegend stellen sich diese Probleme im Hinblick auf die Kategorie Geschlecht. Auch wenn sich die Problematik jeweils abstrakt für beliebige Kategorien denken lässt, wird insoweit auf die Kategorie Geschlecht fokussiert. Die Erörterung anhand dieser Beispiele ermöglicht nicht nur ein leichteres Verständnis, sondern verdeutlicht auch die Aktualität und Relevanz der Fragestellungen. Vier Problemkonstellationen werden untersucht: Quoten für Männer und Frauen (1.), Parität (2.), Betroffenheit aller Ausprägungen einer Kategorie (3.) und Segregation (4.). 1. Quoten für jedes Geschlecht
Die moderne Gesetzgebung flaggt positive Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlech- 67 ter häufig nicht als Frauenfördermaßnahmen aus, sondern setzt auf geschlechtsneutrale Formulierungen. Die neue Quotenregelung für Aufsichtsräte nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AktGEG verlangt etwa, dass Frauen und Männer jeweils mit einem Anteil von mindestens 30 Prozent vertreten sein müssen. Entsprechend sieht das Betriebsverfassungsgesetz in § 15 Abs. 2 BetrVG vor, dass „[d]as Geschlecht, das in der Belegschaft in der Minderheit ist, […] mindestens entsprechend seinem zahlenmäßigen Verhältnis im Betriebsrat vertreten sein [muss], wenn dieser aus mindestens drei Mitgliedern besteht.“ Unzählige weitere Normen – von der Jugendschöffenwahl (§ 33a Abs. 1 JGG) über den Wahlvorstand der Personalvertretung (§ 20 Abs. 1 BPersVG), die Bestellung ehrenamtlicher Richter*innen (§ 44 Abs. 1a DRiG) bis hin zu den Auswahlkommissionen im Bundeseisenbahnvermögen (§ 18 Abs. 4 ELV ) und bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung (§ 3 Abs. 4 Satz 2 GtDWSVVDV ) – verlangen eine „angemessene Berücksichtigung von Männern und Frauen“ oder jedenfalls, dass überhaupt Männer und Frauen vertreten sein sollen. Die Befürworter*innen solch scheinbar geschlechtsneutraler Regelungen scheinen der 68 Auffassung zu sein, dass Quotenregelungen leichter zu rechtfertigen sind, wenn sie für beide Geschlechter gelten. Doch dies ist ein Irrtum, denn auch Mindestquoten für jedes Geschlecht knüpfen an das Geschlecht an. Dies zeigt sich, wenn man aus den Höhen der abstrakten Regelung auf die konkrete Entscheidungssituation blickt, denn dann kann es geschehen, dass eine Person des „falschen“ Geschlechts eine Position nicht einnehmen kann. Das Anknüpfungsverbot schützt aber genau davor, dass – je nach Geschlecht einer Person – unterschiedliche Rechtsfolgen eintreten. Die Regelungen sind nur scheinbar neutral. Sie sind daher nur dann verfassungskonform, wenn sie auch rechtfertigungsfähig sind (unter Anlegung strikter Prüfungsmaßstäbe). Rechtfertigungsfähig sind sie aber nur insoweit, als es um Quotenregelungen zugunsten von Frauen geht. Denn die Durchsetzung tatsächlicher Gleichberechtigung ist nicht symmetrisch: Der Verfassungsauftrag aus Art. 3 Ute Sacksofsky
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Abs. 2 Satz 2 GG kann nur für Frauenquoten zur Rechtfertigung dienen; für eine Mindestpartizipation von Männern gibt dieser Verfassungsauftrag hingegen keine Rechtfertigung. 2. Parität 69
Noch einen Schritt weiter gehen Quotenregelungen bei der Besetzung von Parlamenten, da sie nicht nur auf Mindestquoten, sondern auf Parität im Geschlechterverhältnis abzielen, d. h. „halbe/halbe“ erreichen wollen. Inspiriert von den französischen Parité-Regelungen haben einige deutsche Bundesländer, allen voran Brandenburg, Paritätsgesetze erlassen.86 Nach dem brandenburgischen Modell mussten, vereinfacht dargestellt, die Parteien zunächst zwei Listen erstellen, von denen eine nur mit Frauen und die andere nur mit Männern zu besetzen ist. Aus diesen beiden Listen werden dann die jeweiligen Landeslisten, mit denen sie zur Wahl antreten wollen, im Reißverschlussverfahren gebildet, d. h. immer abwechselnd mit Männern und Frauen bestückt.87 Das Anliegen des brandenburgischen Gesetzgebers ist gut nachvollziehbar. Es ist bedenklich, dass der Frauenanteil in Parlamenten auch einhundert Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts nicht über ein Drittel hinausgeht, im Bundestag gar rückläufig ist.88 Fraglich ist jedoch, ob das Setzen auf Parität der richtige Weg ist. So hat eine intensive Diskussion über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Paritätsgesetzen begonnen, die sich vor allem mit dem Demokratieprinzip, der Chancengleichheit der Parteien oder der Freiheit der Wahl beschäftigt. All diese Fragen bleiben hier ausgeklammert,89 hier soll es allein um eine gleichheitsrechtliche Perspektive gehen. Zum ersten stellt sich wieder das Problem, dass Parität, die abwechselnd Männer- und Frauenplätze auf Listen vorsieht, der Sache nach auch eine Mindestquote für Männer beinhaltet und insoweit nicht rechtfertigungsfähig ist.90 Zum zweiten verfestigt das Verfolgen von Parität die binäre Struktur der Kategorie Geschlecht: Parität soll es nur 86 Neben Brandenburg (LT Brandenburg-Drucks. 6/10466) hatte auch Thüringen (LT Thüringen-
Drucks. 6/6964) ein Paritätsgesetz erlassen. Die Funktionsweise in beiden Ländern unterschied sich geringfügig. Die jeweiligen Landesverfassungsgerichte haben die entsprechenden Gesetze inzwischen für verfassungswidrig erklärt: VerfGH Thüringen, Urt. v. 15.7.2020, VerfGH 2/20; VerfG Brandenburg, Urt. v. 23.10.2020, VfGBbg 9/19. 87 Das hat freilich noch nicht zur Folge, dass auch das Parlament zur Hälfte mit weiblichen Abgeordneten versehen ist, weil die Direktmandate ungeregelt bleiben. 88 Waren im 18. Deutschen Bundestag von 630 Abgeordneten 234 weiblich (37,3 Prozent) und im 19. Deutschen Bundestag 221 der 709 Abgeordnete (31,2 Prozent), sind es im 20. Deutschen Bundestag 256 von 736 Abgeordneten (34,8 Prozent). 89 Zur intensiven verfassungsrechtlichen Diskussion siehe: kritisch etwa: v. Ungern-Sternberg, Parité-Gesetzgebung auf dem Prüfstand des Verfassungsrechts, JZ 2019, S. 525; Morlok/Hobusch, Ade parité?, DÖV 2019, S. 14; Volkmann, Notizen aus der Provinz, Verfassungsblog v. 9.2.2019; Morlok/Hobusch, Sinnvoll heißt nicht verfassungsgemäß, NVwZ 2019, S. 1734; paritätische Regelungen für jedenfalls erlaubt (teils sogar geboten) haltend: Laskowski, Pro Parité!, djbZ 2014, S. 93; Payandeh, Quoten für den Bundestag?, ZRP 2018, S. 189; Meyer, Verbietet das Grundgesetz eine paritätische Frauenquote bei Listenwahlen zu Parlamenten?, NVwZ 2019, S. 1245 (beide mit Blick auf Art. 3 Abs. 2 GG); Röhner, Gerechte Staatlichkeit, djbZ 2019, S. 125 (mit Blick auf das Demokratieprinzip); Völzmann, Je freier desto besser?, djbZ 2019, S. 130 (mit Blick auf die Parteienfreiheit); Hohmann-Dennhardt, Der Kampf geht weiter, Verfassungsblog v. 17.7.2020. 90 Siehe Rn. 68 (C. IV. 1.). Denkbar wäre insoweit zwar auch eine andere Ausgestaltung, die allein beUte Sacksofsky
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zwischen Männern und Frauen geben. Der Umgang mit Personen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität kann dann nicht gleichberechtigt gelingen. Die brandenburgische Regelung zeigte dies besonders deutlich. Intersexuelle Personen durften sich „aussuchen“, ob sie auf der Männer- oder der Frauenliste kandidieren, mussten sich damit aber genau mit einem Geschlecht identifizieren, ob sie es wollten oder nicht.91 In der Forderung nach Geschlechterparität zeigt sich das in der feministischen Dis- 70 kussion seit langem erkannte „Dilemma der Differenz“92 in besonderer Schärfe. Dieses Dilemma betrifft alle positiven Maßnahmen, die an Kategorien anknüpfen. Indem die Zuerkennung von Rechten an die Kategorie Geschlecht anknüpft, werden immer auch Geschlechtsstereotype, Stigmatisierungen und Identitätskategorien verfestigt. Quotenregelungen sind daher – wiewohl verfassungsrechtlich zur Förderung diskriminierter Gruppen rechtfertigbar – in ihren Wirkungen ambivalent zu beurteilen. 3. Betroffenheit aller durch eine Kategorie positiv gekennzeichneter Gruppen
An der Kategorie Religion lässt sich eine weitere Form der – teils – als „neutral“ angese- 71 henen Verwendung von Kategorien illustrieren. Es gibt Regelungen, die sich – jedenfalls der Formulierung nach – nicht spezifisch gegen eine bestimmte Religion richten, sondern alle Religionen betreffen. Beispielsweise hat eine Reihe von Bundesländern im Zuge der Debatte um das muslimische Kopftuch das Tragen aller religiösen Symbole durch Lehrer*innen in der Schule untersagt.93 Einen parallelen Fall im Arbeitsleben – geregelt in der Arbeitsordnung eines Unternehmens – hatte der EuGH zu beurteilen. Generalanwältin Juliane Kokott sieht hierin keine unmittelbare Benachteiligung wegen der Religion. Sie hebt hervor, dass nicht zwischen den Religionen diskriminiert werde. Da sich die Betriebsregelung nicht auf ein Verbot des Tragens sichtbarer Zeichen einer religiösen Überzeugung beschränke, sondern auch ausdrücklich das Tragen sichtbarer Zeichen einer politischen oder philosophischen Überzeugung untersage, handele es sich überhaupt nicht um eine unmittelbare Benachteiligung wegen der Religion. Die Betriebsregelung sei vielmehr Ausdruck einer allgemeinen und völlig unterschiedslos geltenden Unternehmenspolitik der religiösen und weltanschaulichen Neutralität.94 Es komme also nur zu einer Ungleichbestimmte Plätze für Frauen reserviert. Dies wären dann aber völlig andere Modelle als die bisher unter Parität in Deutschland diskutierten. 91 Insoweit war das thüringische Modell besser: Personen, die als „divers“ registriert waren, konnten unabhängig von der Reihenfolge der Listenplätze kandidieren. 92 So die Formulierung von Minow, Making All the Difference, 1990, S. 20. Dazu weiterführend etwa: Holzleithner, Emanzipation durch Recht?, KJ 2008, S. 250 (252); Brown, Suffering Rights as Paradoxes, Constellations 2000, S. 232; Maihofer, Gleichheit oder Differenz? Zum Verlauf einer Debatte, in: Kreisky/Sauer (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformation, 1997, S. 155 ff.; Baer, Dilemmata im Recht und Gleichheit als Hierarchisierungsverbot, Kriminologisches Journal 1996, S. 242; Gerhard u. a. (Hrsg.), Differenz und Gleichheit, 1990. 93 Relevant wird das Verbot aber natürlich nur gegenüber solchen Religionen, die überhaupt das Tragen bestimmter Kleidungsstücke oder Symbole verlangen; Christ*innen des Mainstreams erleben dadurch keine Einschränkungen. 94 EuGH, Schlussanträge der GA Kokott v. 31.5.2016, Rs. C-157/15, Achbita, Rn. 50 f. Ute Sacksofsky
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handlung zwischen Arbeitnehmer*innen, die eine bestimmte Überzeugung – sei sie religiöser, politischer oder philosophischer Natur – aktiv zum Ausdruck bringen wollten, und ihren Kolleg*innen, die dieses Bedürfnis nicht verspürten.95 72 Diese Argumentation geht fehl. Die streitbefindliche Regelung untersagt die Verwendung religiöser Symbole, damit wird an die Kategorie der Religion angeknüpft; daher handelt es sich um eine unmittelbare Benachteiligung.96 Der Umstand, dass eine explizit betroffene Gruppe durch weitere Gruppen erweitert wird, ändert an ihrer Ausgrenzung nichts; eine Diskriminierung entfällt nicht dadurch, dass weitere Personen diskriminiert werden. 4. Segregation
Auf den ersten Blick könnte auch die bloße Trennung nach einer Kategorie neutral wirken. Bekannt wurde diese Form der Argumentation durch die „separate but equal“-Doktrin des US Supreme Court. Ihren Höhepunkt fand sie in der Entscheidung Plessy v. Ferguson aus dem Jahr 1896, als der US Supreme Court die Rassentrennung in der Eisenbahn in dieser Weise rechtfertigte.97 Es dauerte über fünfzig Jahre, bis die „separate but equal“-Doktrin in den USA durch die zentrale Entscheidung in Brown v. Board of Education aufgehoben wurde: „separate educational facilities are inherently unequal“98. 74 Für den Bereich der Rassendiskriminierung ist „separate but equal“ als rechtliche Anordnung von Segregation überwunden, wenn sich auch Segregation faktisch beispielsweise im Bildungswesen oder auf dem Wohnungsmarkt weiter abspielt;99 im Hinblick auf die Kategorie Behinderung sind selbst separierende Rechtsregime weit verbreitet.100 Auch im Bereich der Geschlechter kennen wir noch eine Vielzahl von Trennungen, beispielsweise im Hinblick auf Toiletten oder im Strafvollzug. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung erscheinen diese Trennungen unproblematisch, da diese nicht als „inhärent ungleich“ wahrgenommen werden. Doch liegt insoweit eine unmittelbare Ungleichbehandlung im Sinne 73
95 EuGH, Schlussanträge der GA Kokott v. 31.5.2016, Rs. C-157/15, Achbita, Rn. 53. 96 So auch Mangold/Payandeh, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit im Unionsrecht,
EuR 2017, S. 700 (704 ff.); EuGH, Schlussanträge der GA Sharpston v. 13.7.2016, Rs. C-188/15, Bougnaoui, Rn. 85 ff. 97 US Supreme Court, Plessy v. Ferguson, 163 U. S. 537 (1896), 539. 98 US Supreme Court, Brown v. Board of Education, 347 U. S. 483 (1954), 495; ausführlich zur Entwicklung dieser Rechtsprechungslinie Sacksofsky (Fn. 24), S. 217 ff. 99 Dies immer wieder monierend: CERD, Concluding observations on the combined nineteenth to twenty-second periodic reports of Germany v. 13.5.2015, UN Doc. CERD/C/DEU/CO/19–22, S. 6. 100 Grundlegend zur Behindertenrechtediskussion: Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, 2005; Aichele (Hrsg.), Das Menschenrecht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht, 2013; Degener, Disability in a Human Rights Context, in: Arstein-Kerslake (Hrsg.), Disability Human Rights Law, 2016, S. 1; dies., Antidiskriminierungsrechte für Behinderte, ZaöRV 2005, S. 889. Im Bereich der gemeinsamen Schulbildung wird dies besonders deutlich: Reichenbach, Der Anspruch behinderter Schülerinnen und Schüler auf Unterricht in der Regelschule, 2001; Poscher/Rux/Langer, Das Recht auf Bildung, 2008; Welti, Verantwortlichkeit von Schule und Sozialleistungsträgern für Barrierefreiheit und angemessene Vorkehrungen für behinderte Schülerinnen und Schüler, in: Cremer u. a. (Hrsg.), Auf dem Weg zur inklusiven Schule, 2017, S. 25. Ute Sacksofsky
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einer Anknüpfung an eine Diskriminierungskategorie vor. Denn die Trennung nach der Kategorie Geschlecht legt fest, dass es auf diese Kategorie ankommt. Dies widerspricht dem Anliegen des Anknüpfungsverbots: Die Diskriminierungskategorie soll im Rechtsleben gerade keine Bedeutung haben. Auch die Segregation ohne Unwerturteil über die „andere Hälfte“ ist rechtfertigungsbedürftig. Ob die Rechtfertigung gelingt, kann hier nicht vertieft erörtert werden.101 Jedenfalls sei angedeutet, dass die Rechtfertigung für die Trennung im Hinblick auf Toiletten nicht unproblematisch ist: Nicht nur ist allgemeine Lebenserfahrung, dass – außer auf der Staatsrechtslehrertagung – die Schlangen vor den Frauentoiletten deutlich länger sind als vor den Männertoiletten, sondern Studien zeigen auch, dass (Männer-) Toiletten vielfach zum Netzwerken genutzt werden – Möglichkeiten, die Frauen verschlossen bleiben.102 Zudem bringt der Zwang zur Kategorisierung für manche Personen eine erhebliche Belastung mit sich. Für all diejenigen, die sich in die binäre Klassifizierung männlich/weiblich nicht einfügen, wirft jede Trennung das Problem auf, dass sie sich auf eine Kategorie festlegen müssen, auf die sie sich nicht festlegen können oder wollen; für intergeschlechtliche und transgender* Personen stellt sich hier ein reales und gravierendes Problem. Für Justizvollzugsanstalten könnte die Rechtfertigung hingegen angesichts der Gefahren sexueller Belästigung oder Vergewaltigung in geschlossenen Institutionen leichter gelingen. Besonders brisant wird das Problem der Segregation dann, wenn Organisationen oder 75 Vereine die Mitgliedschaft auf Personen eines Geschlechts beschränken. Gerade bei traditionellen Männervereinigungen bringt die Mitgliedschaft häufig erhebliche Vorteile mit sich. Viele der traditionell auf Männer beschränkten Vereine, wie etwa Rotarier, haben inzwischen die Geschlechtsbeschränkung aufgegeben.103 Doch in verschiedenen Bereichen ist die Frage immer noch aktuell. Für die juristische Beurteilung ist von zentraler Bedeutung, ob die jeweilige Vereinigung vom Staat betrieben oder privat organisiert ist.104 Staatlich betrieben werden beispielsweise häufig Knabenchöre. Ein 9-jähriges Mädchen, 76 das die Aufnahme in den Berliner Staats- und Domchor einklagte, scheiterte in der ersten Instanz.105 Das Gericht rechtfertigt die Ungleichbehandlung wesentlich mit der Berufung auf die Kunstfreiheit des Chorleiters, der einen „Knabenchorklang“ erzeugen wolle106 – was immer das genau sein mag.107 Dass es wirklich einen Geschlechtsunterschied der Stimmen bei vorpubertären Kindern geben soll, erscheint zweifelhaft; zudem sprachen zahlreiche Indizien im vorliegenden Fall dafür, dass der Charakter als „Knabenchor“ aus101 → Reimer, § 17. 102 Vor allem Mary Ann Case hat in ihren „Bathroom Studies“ intensiv für die Aufhebung der Trennung
plädiert, Case, Why Not Abolish the Laws of Urinary Segregation?, in: Molotch/Norén (Hrsg.), Toilet, 2010. 103 Den Anspruch, in die (nur Männern vorbehaltene) Gruppe der Stadtbachfischer (Untergruppierung eines Vereins) aufgenommen zu werden, der das Fischertagsfest ausrichtete, musste sich eine Frau noch im Jahr 2020 über den Rechtsweg erstreiten: AG Memmingen, Urt. v. 31.8.2020, 21 C 952/19. 104 → Gärditz, § 4 Rn. 2 ff. 105 VG Berlin, Urt. v. 16.8.2019, 3 K 113/19. 106 VG Berlin, Urt. v. 16.8.2019, 3 K 113/19, Rn. 56 ff. 107 Dass ein Vorsingen der Klägerin nicht erfolgreich war, vermag angesichts der entschiedenen Verteidigung der Einrichtung des Knabenchores kaum zu überraschen. Ute Sacksofsky
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schlaggebendes Motiv war.108 Das Gericht wendet daher auch erhebliche Mühe auf, um nachzuweisen, dass der Satzung nach eine Beschränkung des Knabenchores auf Jungen nicht zwingend war,109 denn den strikten verfassungsgerichtlichen Maßstäben zur Rechtfertigung einer Differenzierung nach dem Geschlecht – „soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind“110 – hätte eine solche Beschränkung wohl kaum genügt. Im privaten Bereich unterliegt die Beschränkung der Mitgliedschaft auf ein Geschlecht 77 hingegen weniger starken Rechtfertigungsanforderungen, da Private Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 GG genießen und keiner unmittelbaren Grundrechtsbindung unterliegen; auch das AGG verlangt nicht von allen Vereinen einen diskriminierungsfreien Zugang zur Mitgliedschaft.111 Doch viele der Vereine wollen steuerliche Privilegien, insbesondere eine Förderung der Gemeinnützigkeit nach § 52 Abs. 1 Satz 1 AO, in Anspruch nehmen, so dass auf diese Weise doch wieder der Staat ins Spiel kommt. Der BFH hat 2017 entschieden, dass eine Freimaurerloge, die nur Männer als Mitglieder aufnahm, keine gemeinnützigen Zwecke i. S. d. § 52 AO verfolgte.112 Dies hat eine intensive Diskussion darüber ausgelöst, ob auch Frauenvereinigungen damit nicht mehr gemeinnützig sind.113 Doch Frauenvereinigungen verfolgen häufig als Vereinszweck die Förderung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen; ihre steuerliche Förderung kann sich daher auf den Verfassungsauftrag aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG stützen. Die Schaffung eigener Räume für Frauen war seit jeher zentrales Anliegen der Frauenbewegung: Zur Entlarvung und Bekämpfung der dominierenden kulturellen Macht des Patriarchats sind Räume erforderlich, in denen sich Gegenöffentlichkeiten entwickeln können. Frauenvereinigungen, die solche Ziele verfolgen, darf daher nicht die steuerliche Gemeinnützigkeit aberkannt werden.114 V. Diskriminierte Person und Kategorie 78 Fragen stellen sich auch im Hinblick auf den Zusammenhang von Person und Kategorie.
Eindeutig ist, dass es nicht darauf ankommt, ob eine diskriminierte Person das verpönte Merkmal tatsächlich aufweist oder ob es ihr lediglich – fälschlicherweise – zugeschrieben wird.115 Diskriminierungsverbote sollen verhindern, dass bestimmte Personen wegen vorherrschender diskriminierender Strukturen benachteiligt werden. Auch wenn sie „zu Un108 Zum Beispiel warb der Chor mit „Berliner Jungs sollen singen“. 2008 war ein Mädchenchor eigens
zum Zwecke einer der Jungen gleichwertigen Förderung gegründet worden. VG Berlin, Urt. v. 16.8.2019, 3 K 113/19, Rn. 37 ff. BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeitsverbot (1992); BVerfGE 92, 91 (109) – Feuerwehrabgabe (1995). Insbesondere bezogen auf den beruflichen Bereich: siehe § 3 Abs. 1 Nr. 4 AGG. BFH, Urt. v. 17.5.2017, V R 52/15. Siehe beispielsweise: Gersch, in: Klein (Hrsg.), AO, 15. Aufl. 2020, § 52 Rn. 3; Bruschke, Gemeinnützigkeit, SteuK 2016, S. 171; Spangenberg, Können reine Frauenverbände gemeinnützig sein?, djbZ 2017, S. 184; Bruschke, Förderung der Allgemeinheit im Gemeinnützigkeitsrecht, DStR 2017, S. 2416. 114 Ausführlich Sacksofsky, Steuerliche Gemeinnützigkeit und Gleichberechtigung, September 2019; siehe auch Spangenberg (Fn. 113). 115 Schrader/Schubert (Fn. 6), § 3 Rn. 35; Hey, in: Hey/Forst (Hrsg.), AGG, 2. Aufl. 2015, § 3 Rn. 2; Wendeling-Schröder, in: Wendeling-Schröder/Stein (Hrsg.), AGG, 2008, § 3 Rn. 8. 109 110 111 112 113
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recht“ davon getroffen werden, sind sie vor solchen Benachteiligungen geschützt.116 Irrtum schützt den Diskriminierenden nicht. Probleme können aber auftauchen, wenn Diskriminierung nicht isoliert auf eine Person bezogen ist. 1. Verantwortungsübernahme für eine andere Person
Bei einem hinreichend engen Verantwortungszusammenhang zwischen Personen muss 79 das Diskriminierungsmerkmal nicht bei der diskriminierten Person selbst verwirklicht (oder ihr zugeschrieben) sein. Der EuGH hat dies im Fall Coleman entschieden: Die Mutter eines behinderten Kindes übernahm wesentlich die Pflege dieses Kindes und wurde deswegen von ihrem Arbeitgeber benachteiligt. Der EuGH bejahte eine Benachteiligung (der Mutter) wegen Behinderung. Zweck des Gleichbehandlungsgrundsatzes der Antidiskriminierungsrichtlinie sei nicht der Schutz einer bestimmten Kategorie von Personen, sondern der „Bezug“ auf die dort genannten Gründe.117 Dieser Entscheidung ist zuzustimmen: Diskriminierungsverbote sollen jede Form der 80 Diskriminierung aus den dort genannten Gründen bekämpfen.118 Für Art. 3 Abs. 3 GG wird dies vielfach anders gesehen,119 weil der Wortlaut „wegen seines […], seiner […]“ einen klareren Individualbezug aufweist. Doch sollte auch für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Wortlaut nicht überbetont werden, so dass man – als teleologisches Argument – dem eigentlichen Zweck des Diskriminierungsschutzes Genüge tun sollte. 2. Kombination verschiedener Ausprägungen einer Kategorie
Am Beispiel der Ungleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft lässt sich eine 81 weitere Fallkonstellation illustrieren, die sich freilich auf die Rechtslage vor Öffnung der Ehe für alle bezog. Während das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren die Abschaffung der Privilegierung der Ehe gegenüber der Lebenspartnerschaft entscheidend vorangetrieben hat, hat es in den ersten Jahren nach Einführung der Lebenspartnerschaft eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts verneint, wenn die Ungleichbehandlung sich aus der „Geschlechtskombination“ (eines Paares) ergebe. Im Rahmen der Prüfung, ob der Zugang zur eingetragenen Lebenspartnerschaft auf gleichgeschlechtliche Personen beschränkt werden kann, führte das Gericht in den ersten Entscheidungen aus: „Das Gesetz verbindet Rechte und Pflichten nicht mit dem Geschlecht einer Person, sondern knüpft an die Geschlechtskombination einer Personenverbindung an, der sie den Zugang zur Lebenspartnerschaft einräumt. Den Personen in dieser Verbindung weist sie dann Rechte und Pflichten zu. Ebenso wie die Ehe mit ihrer Beschränkung auf die Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau gleichgeschlechtliche Paare wegen ihres Geschlechts nicht diskriminiert, benachteiligt die Lebens116 Instruktiv insoweit EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14, CHEZ Razpredelenie Bulgaria. (Wobei der
EuGH freilich offenlässt, ob es sich um eine unmittelbare oder um eine mittelbare Diskriminierung handelt). 117 EuGH, Urt. v. 17.7.2008, Rs. C-303/06, Coleman, Rn. 38. 118 Weitere Beispiele bei: Bauer/Krieger/Günther (Fn. 6), § 1 Rn. 59; Däubler, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 1 Rn. 97 f. 119 Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 130. Ute Sacksofsky
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§ 14 Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
partnerschaft heterosexuelle Paare nicht wegen ihres Geschlechts. Männer und Frauen werden stets gleichbehandelt. Sie können eine Ehe mit einer Person des anderen Geschlechts eingehen, nicht jedoch mit einer ihres eigenen Geschlechts. Sie können eine Lebenspartnerschaft mit einer Person ihres eigenen Geschlechts gründen, nicht aber mit einer des anderen.“120 82 Diese Argumentation ist aus der Perspektive des Anknüpfungsverbotes nicht überzeugend,
da auch die „Geschlechtskombination“ an das Geschlecht der Betroffenen anknüpft. Die Anknüpfung wird nur dadurch zum Verschwinden gebracht, dass sie von den konkret Betroffenen abstrahiert wird. Dies zeigt schon eine einfache Überlegung: A will B heiraten. B ist eine (konkrete) Person, deren Geschlecht feststeht; nehmen wir an, es handele sich bei B um eine Frau. Nun hängt allein vom Geschlecht von A ab, ob er/sie B heiraten kann: Ist A männlich, ist die Heirat möglich, ist A weiblich, ist nach der damals geltenden Rechtslage die Ehe ausgeschlossen. Es kommt also – für die Rechtsfolge – allein auf das Geschlecht von A an. Weshalb dies von vornherein keine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts darstellen soll, erschließt sich nicht. Im Fall der Rassendiskriminierung wird das Anknüpfen an die Kombination denn auch 83 nicht als Ausschlussgrund für die Annahme von Ungleichbehandlung wegen der Rasse angesehen. Die Verbote von gemischt-rassigen Ehen in den USA hat der US Supreme Court als verfassungswidrige Rassendiskriminierung aufgehoben.121 VI. Intersektionalität 84 Der Begriff der „intersectional discrimination“ wurde von der amerikanischen Rechts-
wissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw in die juristischen Gleichheitsdebatten eingeführt122 und ist zu einem zentralen Begriff des Antidiskriminierungsrechts geworden.123 In Deutschland hat sich neben Intersektionalität auch der Begriff der multi- oder mehrdimensionalen Diskriminierung durchgesetzt.124 Crenshaw arbeitete heraus, dass die spezifischen Diskriminierungserfahrungen Schwarzer Frauen in der juristischen Diskussion
120 BVerfGE 105, 313 (351 f.) – Lebenspartnerschaftsgesetz (2002); später nutzt das Gericht diesen Ge-
danken in einer Reihe von Kammerentscheidungen, um die Schlechterstellung der Lebenspartnerschaft nicht als Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts erscheinen zu lassen: BVerfG, Beschl. v. 20.9.2007, 2 BvR 855/06, Rn. 15 – Versagung des Verheiratetenzuschlags; BVerfG, Beschl. v. 8.11.2007, 2 BvR 2334/06, Rn. 15 – Beschränkung des Familienzuschlags; BVerfG, Beschl. v. 8.11.2007, 2 BvR 2526/06, Rn. 13 – Beschränkung des Familienzuschlags; BVerfG, Beschl. v. 8.11.2007, 2 BvR 2466/06, Rn. 13 – Beschränkung des Familienzuschlags. 121 US Supreme Court, Loving v. Virginia, 388 U. S. 1 (1967); auch den Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare von der Ehe hat der US Supreme Court inzwischen als verfassungswidrig verworfen, auf die Frage, ob dies eine Ungleichhandlung wegen des Geschlechts darstellt, geht er aber in dieser Entscheidung nicht ein: US Supreme Court, Obergefell v. Hodges, 576 U. S. (2015). 122 Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminst Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, The University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139 ff. 123 → Holzleithner, § 13 Rn. 2 ff.; Baer/Bittner/Göttsche, Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe, Theorien und juristische Analyse, 2010; Schiek/Lawson, European Union Non-Discrimination Law and Intersectionality, 2011. 124 Siehe etwa Zinsmeister, Mehrdimensionale Diskriminierung, 2007; Holzleithner, MehrfachdiskrimiUte Sacksofsky
C. Unmittelbare Diskriminierung – Tatbestandsvoraussetzungen
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ausgeblendet wurden. Prägnant kommt dies in der Formulierung „all the women are white, all the blacks are men“125 zum Ausdruck. An der Intersektionalitätsdebatte wird deutlich, dass Diskriminierungskategorien nicht isoliert betrachtet werden dürfen, weil die Identität jedes Menschen durch die Überschneidung – Crenshaw verwendet das Bild der Straßenkreuzung – verschiedener Kategorien gekennzeichnet wird. § 4 AGG nimmt gewisse Einsichten der Intersektionalitätsdebatte auf. Indem § 4 AGG 85 aber formuliert, dass bei einer unterschiedlichen Behandlung wegen mehrerer Gründe sich die Rechtfertigung auf alle diese Gründe erstrecken muss, klingt es so, als wären die jeweiligen Diskriminierungsgründe getrennt voneinander zu untersuchen. Ein solches Verständnis verfehlte aber gerade den Kern von Intersektionalität. Intersektionalität verlangt, Diskriminierung nicht additiv, sondern integrativ zu verstehen. Die Diskriminierungserfahrung von Menschen innerhalb einer durch ein Merkmal definierten Gruppe kann sich grundlegend unterscheiden.126 Schwarze Frauen werden nicht wie Weiße Frauen und noch zusätzlich wie Schwarze Männer diskriminiert, sondern ihre Diskriminierung nimmt eine völlig andere Gestalt an. Zur Illustration aus der heutigen Zeit mag folgender Fall dienen: Eine Schwarze Frau, 86 ein Schwarzer Mann und ein Weißer Mann wollen in eine Diskothek. Der Weiße Mann und die Schwarze Frau werden hereingelassen, der Schwarze Mann nicht. Prüft man – ohne Rücksicht auf Intersektionalität –, könnte argumentiert werden, dass weder Geschlecht (der Weiße Mann wurde hineingelassen) noch Rasse (die Schwarze Frau wurde ebenfalls hineingelassen) hier eine Rolle spielte. Das deutsche Gericht verstieg sich nicht auf diese spitzfindige und offensichtlich inadäquate Argumentation und bejahte eine Diskriminierung, auch ohne eine präzise Begründung dafür vorzunehmen.127 Vom EuGH wurde in der Parris-Entscheidung hingegen Intersektionalität nicht hinrei- 87 chend berücksichtigt. Parris wollte erreichen, dass seinem eingetragenen Lebenspartner eine Hinterbliebenenrente nach seinem Tod gezahlt würde. Hinterbliebenenrechte wurden aber nur denjenigen zuerkannt, die bereits vor dem 60. Lebensjahr eine Ehe oder eingetragene Lebenspartnerschaft geschlossen hatten. Lebenspartnerschaften wurden aber in Irland erst ab dem Jahr 2011 anerkannt, einem Zeitpunkt als Parris bereits über sechzig Jahre alt war. Obwohl gerade das Zusammenspiel von Alter und sexueller Ausrichtung die Benachteiligung von Parris verursachte, prüft der EuGH jeweils nur getrennt und spricht sich explizit gegen die Anerkennung intersektionaler Diskriminierung aus: „Hierzu ist festzustellen, dass eine Diskriminierung zwar auf mehreren der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG genannten Gründe beruhen kann, dass es jedoch keine neue, aus der Kombination mehrerer dieser Gründe wie der sexuellen Ausrichtung und des Alters resultienierung im europäischen Rechtsdiskurs, in: Hormel/Scherr (Hrsg.), Diskriminierung, 2010, S. 95; Mangold, Mehrdimensionale Diskriminierung, RPhZ 2016, S. 152. 125 Hull/Scott/Smith, All the Women Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave, 1982. 126 Zur besonderen Situation von Frauen mit Behinderung etwa Zinsmeister (Fn. 124); Hermes, Mehrdimensionale Diskriminierung, in: Degener/Diehl (Hrsg.), Handbuch Behindertenrechtskonvention, 2015, S. 253 ff. 127 AG Oldenburg, Urt. v. 23.7.2008, E2 C 2126/07. Ute Sacksofsky
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§ 14 Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
rende Diskriminierungskategorie gibt, die sich dann feststellen ließe, wenn eine Diskriminierung wegen dieser Gründe, einzeln betrachtet, nicht nachgewiesen ist.“128 VII. Zur Rechtfertigung 88 Für die Beurteilung, ob eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist, kommt es auf eine
genaue Analyse der jeweiligen Konstellation an. Es kann daher im Folgenden nur um die anzuwendenden Maßstäbe der Rechtfertigung gehen. Doch selbst auf Maßstabsebene erweisen sich allgemeine Aussagen zur Rechtfertigung als schwierig. Denn insoweit bestehen große Unterschiede sowohl im Hinblick auf die jeweiligen Rechtsinstrumente bzw. Rechtsordnungen als auch im Hinblick auf die Diskriminierungskategorien. 89 Ausgehend von allgemeinen gleichheitstheoretischen Überlegungen ist zunächst festzuhalten, dass der Rechtfertigungsmaßstab strenger sein muss als beim allgemeinen Gleichheitssatz. Ein einfacher sachlicher Grund, wie ihn das Willkürverbot verlangt, kann zur Rechtfertigung nicht ausreichen. Andernfalls hätte die Normierung von Diskriminierungsverboten neben dem allgemeinen Gleichheitssatz keinen Sinn. Wie dieser strengere Maßstab aber genau aussieht, und ob möglicherweise Rechtfertigungen bei unmittelbarer Ungleichbehandlung ganz ausscheiden, sei für Verfassungsrecht (1.) und Unionsrecht/ AGG (2.) getrennt erörtert. 1. Verfassungsrecht 90 Im Verfassungsrecht haben sich die Rechtfertigungsmaßstäbe über die Zeit erheblich ver-
ändert. Über lange Jahre entschied das Bundesverfassungsgericht allein über Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts.129 Von Anfang an hat das Gericht – jedenfalls im Prinzip – einen strengen Maßstab der Rechtfertigung verlangt: Während im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes nur die Einhaltung äußerster Grenzen verlangt werde, finde die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in den besonderen Gleichheitssätzen eine „feste Grenze“130. Es deutete das Verbot der Geschlechtsdiskriminierung als Differenzierungsverbot: Durch Art. 3 Abs. 2 GG sei „grundsätzlich und ein für alle Mal die Differenzierung nach dem Geschlecht verboten“131. Dieses strikte Differenzierungsverbot wurde freilich konterkariert, indem das Gericht Ausnahmen zuließ, die auf „objektiven biologischen und/oder funktionalen Unterschieden“ beruhten132. Seit der Nachtarbeitsentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht seinen Prüfungsmaßstab verschärft und erkennt nur unter zwei Voraussetzungen eine Rechtfertigung für möglich. 91 Zum einen ist eine Ungleichbehandlung, die an das Geschlecht anknüpft, mit Art. 3 Abs. 3 GG dann vereinbar, „soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur 128 129 130 131 132
EuGH, Urt. v. 24.11.2016, Rs. C-443/15, Parris, Rn. 80. Ausführlich zur Entwicklung der Rechtsprechung: Sacksofsky (Fn. 24), S. 23 ff., 386 ff. BVerfGE 21, 329 (343) – Beamtinnenwitwer (1967); BVerfGE 31, 1 (4) – Sorgerechtsregelung (1971). BVerfGE 37, 217 (244) – Staatsangehörigkeit von Abkömmlingen (1974). Seit BVerfGE 3, 225 (242) – Gleichberechtigung (1953). Ute Sacksofsky
C. Unmittelbare Diskriminierung – Tatbestandsvoraussetzungen
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entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich“133 ist. Es ist wenig erstaunlich, dass es seither keine Fälle in der Rechtsprechung gibt, in denen eine geschlechtsbezogene Ungleichbehandlung auf diesem dogmatischen Weg für zulässig gehalten wurde. Gleichzeitig finden sich aber auch in der Verfassungswirklichkeit kaum noch Fälle, in denen Frauen und Männer explizit ungleich behandelt werden.134 Zum anderen hält das Gericht eine Rechtfertigung durch „kollidierendes Verfassungs- 92 recht“ für möglich. Dies mag auf den ersten Blick wenig überraschen, ist doch nach deutschem Verfassungsrecht „kollidierendes Verfassungsrecht“ auch geeignet, vorbehaltlos gewährte Grundrechte zu beschränken. Die Besonderheit liegt aber darin, dass das Gericht ausdrücklich auf den Verfassungsauftrag zur Herstellung tatsächlicher Gleichberechtigung (Art. 3 Abs. 2 GG) verweist, der zur Rechtfertigung geeignet sein könne.135 Zwar gibt es auch insoweit noch keine Entscheidung, die eine Rechtfertigung auf diesem Weg begründete, aber sie stellt eine Möglichkeit der Rechtfertigung von Frauenfördermaßnahmen dar.136 Diese Grundsätze lassen sich auf andere Kategorien des Art. 3 Abs. 3 GG übertragen. 93 Explizit hat das Gericht lediglich eine unmittelbare Benachteiligung wegen Behinderung geprüft und einen strengen Maßstab angewendet.137 Es verlangt, dass „zwingende Gründe“ zur Rechtfertigung vorliegen müssen. Die in Rede stehende Maßnahme müsse unerlässlich sein, um behindertenbezogenen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Dies sei nicht der Fall, wenn der Staat durch Fördermaßnahmen oder Assistenzsysteme die Einschränkungen, denen Menschen mit Behinderungen unterliegen, beseitigen kann; erst wenn dies unmöglich oder unzumutbar sei, könne eine Benachteiligung gerechtfertigt sein.138 Ungleichbehandlungen wegen der religiösen Überzeugung werden in der deutschen 94 verfassungsrechtlichen Diskussion zumeist (ausschließlich) im Rahmen einer Verletzung der Glaubensfreiheit aus Art. 4 GG thematisiert. Der Rechtfertigungsmaßstab ist aber auch in dieser freiheitsrechtlichen Prüfung sehr hoch, da die Glaubensfreiheit ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht darstellt; eine Rechtfertigung kann daher nur durch kollidierendes Verfassungsrecht und unter strikter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gerechtfertigt werden.139 2. Unionsrecht/AGG
Auf den ersten Blick scheinen die Rechtfertigungsmaßstäbe im Unionsrecht und dem Eu- 95 roparecht umsetzenden AGG noch strenger als im Verfassungsrecht. Grundsätzlich kann 133 BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeitsverbot (1992); BVerfGE 92, 91 (109) – Feuerwehrabgabe (1995). 134 Siehe aber auch BVerfGE 114, 357 (364) – Aufenthaltserlaubnis (2005); BVerfG, Beschl. v. 7.11.2008, 2
BvR 1870/07, Rn. 27 – Ungleichbehandlung männlicher und weiblicher Gefangener.
135 BVerfGE 74, 163 (180) – Altersruhegeld (1987); BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeitsverbot (1992);
BVerfGE 92, 91 (109) – Feuerwehrabgabe (1995).
136 Dazu Rn. 51 (C. II. 4.). 137 Baer/Markard (Fn. 13), Art. 3 Abs. 3 Rn. 544; Nußberger (Fn. 10), Art. 3 Rn. 314; Kischel, in: Epping/
Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: November 2021, Art. 3 Rn. 236; Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke (Hrsg.), GG, 15. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 89. 138 BVerfGE 151, 1 (Rn. 57) – Wahlrechtsausschuss Bundestag (2019). 139 BVerfGE 32, 98 (107 ff.) – Gesundbeter (1971); BVerfGE 52, 223 (246 f.) – Schulgebet (1979). Ute Sacksofsky
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§ 14 Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
eine unmittelbare Benachteiligung überhaupt nicht gerechtfertigt werden.140 Dies zeigt sich schon in den unterschiedlichen Legaldefinitionen von unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung in § 3 AGG. Während § 3 Abs. 1 AGG für die unmittelbare Benachteiligung keine Rechtfertigungsmöglichkeit eröffnet, nimmt § 3 Abs. 2 AGG für die mittelbare Benachteiligung das Fehlen einer Rechtfertigung mit in die Definition hinein. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass funktionale Äquivalente der Sache nach Rechtfertigungen auch bei unmittelbarer Ungleichbehandlung ermöglichen. Dies geschieht auf zwei Wegen. 96 Zum einen kennen das AGG und das Unionsrecht eine ganze Reihe von explizit normierten Ausnahmen von den Diskriminierungsverboten.141 Von zentraler Bedeutung ist etwa § 8 AGG, der eine unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anforderungen zulässt. Zudem stellt das AGG in § 9 für die Kategorie Religion und in § 10 für das Alter Sonderregelungen auf. Auch werden in § 5 AGG positive Maßnahmen für zulässig erklärt. Teils sehen die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien selbst weitere Ausnahmeregelungen vor, wie etwa Art. 2 Abs. 5 der RL 2000/78/EG, wonach diese nicht die „im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind“, berührt.142 Diese Ausnahmen sind nach der Rechtsprechung des EuGH wegen ihres Charakters 97 als Ausnahmeregelungen eng auszulegen.143 Zudem muss bei den Ausnahmeregelungen – grundsätzlich144 – dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt werden.145 Dies wird für die Kategorie Alter ausdrücklich in § 10 Abs. 1 AGG normiert. In § 8 AGG wird verlangt, dass die Kategorie „wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist.“ Zum anderen prüft der EuGH auch bei unmittelbaren Benachteiligungen, ob sich die 98 ungleich behandelten Personen in einer „vergleichbaren Lage“ befinden.146 In diese Er-
140 EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-222/14, Maistrellis, Rn. 52; EuGH, Urt. v. 18.11.2010, Rs. C-356/09,
Kleist, Rn. 41.
141 Die funktionale Äquivalenz zeigt sich schon daran, dass der EuGH diese Ausnahmeregelungen teils
explizit als „Rechtfertigung“ prüft: EuGH, Urt. v. 15.11.2016, Rs. C-258/15, Salaberria Sorondo, Rn. 49; EuGH, Urt. v. 16.6.2016, Rs. C-159/15, Lesar, Rn. 22. 142 Dazu etwa EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-197/17, Cresco Investigation, Rn. 52; EuGH, Urt. v. 12.12.2013, Rs. C-267/12, Hay, Rn. 45. 143 Siehe z. B.: EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-197/17, Cresco Investigation, Rn. 55; EuGH, Urt. v. 16.6.2016, Rs. C-159/15, Lesar, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 6.3.2014, Rs. C-595/12, Napoli, Rn. 41. 144 Es gibt freilich auch Entscheidungen des EuGH, in denen, nach der Bejahung einer Ausnahmeregelung, keine Verhältnismäßigkeitsprüfung mehr vorgenommen wird: EuGH, Urt. v. 18.11.2010, Rs. C-356/09, Kleist, Rn. 42 f.; EuGH, Urt. v. 16.6.2016, Rs. C-159/15, Lesar, Rn. 31. 145 Siehe v. Roetteken (Fn. 41), § 3 Rn. 514 mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung; siehe z. B. EuGH, Urt. v. 22.11. 2005, Rs. C-144/04, Mangold, Rn. 65. 146 Siehe z. B. EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-222/14, Maistrellis, Rn. 47; EuGH, Urt. v. 18.11.2010, Ute Sacksofsky
D. Mittelbare Diskriminierung – Tatbestandsvoraussetzungen
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örterung der „vergleichbaren Lage“ fließen häufig Erwägungen ein, die im deutschen Verfassungsrecht als Rechtfertigungsgründe geprüft werden.147 3. Fazit
Unmittelbare Ungleichbehandlungen sind daher sowohl nach Unionsrecht als auch nach 99 deutschem Verfassungsrecht nicht per se und immer verboten. Sie können gerechtfertigt werden, auch wenn das Unionsrecht insoweit eine andere Terminologie verwendet. Für die meisten Kategorien sind aber äußerst strenge Maßstäbe für die Rechtfertigung anzulegen. In der Formulierung „zwingende Gründe“ kommt daher treffend zum Ausdruck, dass sowohl das Gewicht der zur Rechtfertigung herangezogenen Ziele groß als auch die Verhältnismäßigkeitsanforderungen strikt beachtet werden müssen. Durch diese besonders strengen Rechtfertigungsanforderungen wird der Bedeutung formeller Gleichheit Rechnung getragen. Positive Maßnahmen werden jedoch in vielen Instrumenten ausdrücklich zugelassen. Fehlt es an einer eindeutigen Regelung zur Zulässigkeit positiver Maßnahmen, können diese – wie etwa nach deutschem Verfassungsrecht im Hinblick auf den Verfassungsauftrag zur Durchsetzung tatsächlicher Gleichberechtigung – über ein Vorgehen materieller Gleichheit gerechtfertigt werden.148 Dass die Kategorie Alter nicht ganz so strikten Voraussetzungen unterliegt, sondern 100 insoweit die Beachtung „normaler“ Verhältnismäßigkeitsanforderungen ausreicht, zeigt einmal mehr die Sonderstellung der Kategorie Alter. Im Gegensatz zu den anderen Diskriminierungsverboten ist das Diskriminierungsverbot wegen des Alters nicht von einer sozialen Bewegung getragen oder gar erkämpft worden. Auch ist das Diskriminierungsverbot wegen des Alters eine Besonderheit des Unionsrechts;149 weder das Verfassungsrecht noch andere menschenrechtliche Instrumente zählen Alter zu den zentralen Diskriminierungskategorien.
D. Mittelbare Diskriminierung – Tatbestandsvoraussetzungen Noch immer herrscht große Unklarheit über das Konzept der mittelbaren Diskriminie- 101 rung. Nach einer knappen Darstellung der Entwicklung dieser Rechtsfigur (I.) folgen Erörterungen über die Bestimmung ihrer Funktion (II.). Nur unter Rückgriff auf diese grundsätzlichen Überlegungen lassen sich Fragen nach den vor mittelbarer Benachteiligung geschützten Personen beantworten; dabei stellen sich eine Reihe von parallelen Problemen, wie sie schon bei der unmittelbaren Benachteiligung angesprochen worden sind (III.). Ganz neue Fragen sind jedoch aufgeworfen im Umgang damit, wann eine BeRs. C-356/09, Kleist, Rn. 32; EuGH, Urt. v. 29.11.2001, Rs. C-366/99, Griesmar, Rn. 39; EuGH, Urt. v. 16.9.1999, Rs. C-218/98, Abdoulaye u. a., Rn. 16. 147 Dazu Rn. 47 (C. II. 3.). 148 Ausführlich dazu Rn. 48 ff. (C. II. 4.). 149 Der EuGH hält das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters für einen „allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“: EuGH, Urt. v. 22.11.2005, Rs. C-144/04, Mangold, Rn. 75. Ute Sacksofsky
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§ 14 Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
nachteiligung vorliegt, die überhaupt erst den Tatbestand der mittelbaren Benachteiligung begründet (IV.). Auch bei der mittelbaren Diskriminierung ist schließlich zu klären, unter welchen Voraussetzungen eine Rechtfertigung denkbar ist (V.). I. Entwicklung
Es dauerte geraume Zeit, bis das Verbot mittelbarer Diskriminierung rechtliche Anerkennung fand. Die Rechtsfigur stammt aus den USA. Im Jahr 1971 entwickelte der US Supreme Court im berühmten Fall Griggs v. Duke Power Co. sein Konzept des „disparate impact“.150 In Europa übernahm zunächst das britische Antidiskriminierungsrecht Mitte der siebziger Jahre diese Rechtsfigur.151 Für das Gemeinschaftsrecht fand der Grundsatz der mittelbaren Benachteiligung im Hinblick auf das Merkmal Geschlecht152 seinen ersten Niederschlag in der Richtlinie 76/207/EWG. Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie bestimmte: „Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Sinne der nachstehenden Bestimmungen beinhaltet, dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts – insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand – erfolgen darf.“ Eine Legaldefinition der Rechtsfigur der mittelbaren Benachteiligung enthielt die Richtlinie damals nicht.153 Im Rahmen des Gemeinschaftsrechts lässt sich ein zweiter Strang der Entwicklung der Rechtsfigur der mittelbaren Benachteiligung identifizieren:154 Im Hinblick auf das Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit hatte der Gerichtshof bereits 1974 die Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung entwickelt.155 Inzwischen enthalten alle neueren Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union ein explizites Verbot und eine Legaldefinition mittelbarer Diskriminierung. Über das Gemeinschaftsrecht fand die Rechtsfigur der mittelbaren Benachteiligung 103 auch Eingang in das deutsche Recht, freilich zunächst nur in das einfache Recht, insbesondere das Arbeitsrecht. Lange Jahre hatte das Bundesverfassungsgericht – getreu seinem ursprünglichen Verständnis von Art. 3 Abs. 3 GG (allein) als Differenzierungsverbot156 – eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts bei geschlechtsneutral formulierten Normen von vornherein abgelehnt.157 Erst im Jahr 1997 erkannte das Gericht die mittel102
150 US Supreme Court, Griggs v. Duke Power Co., 401 U. S. 424 (1971). 151 Siehe zur Entwicklung in Großbritannien etwa: McCrudden, Institutional Discrimination, Oxford
Journal of Legal Studies 2 (1982), S. 303 ff.; ders., Equality Law between Men and Women in the European Community, 1994. 152 Die Vorläufer zur zentralen Gleichbehandlungsrichtlinie enthielten noch keine Bezugnahme auf die mittelbare Benachteiligung, siehe etwa: Richtlinie 75/117/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen v. 10.2.1975, ABl. 1975 L 45/19. 153 Erstmals gab die Richtlinie 97/80/EG des Rates über die Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts v. 15.12.1997, ABl. 1997 L 14/6 eine Legaldefinition vor. 154 Darauf weist Bieback, Mittelbare Diskriminierung, 1997, S. 24, zu Recht hin. 155 EuGH, Urt. v. 12.2.1974, Rs. C-152/73, Sotgiu, Rn. 153. 156 Ausführlich dazu Sacksofsky (Fn. 24). 157 BVerfGE 47, 1 (19) – Hausgehilfin (1977). Ute Sacksofsky
D. Mittelbare Diskriminierung – Tatbestandsvoraussetzungen
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bare Benachteiligung vorsichtig und unter Berufung auf den EuGH als Rechtsfigur an.158 Inzwischen aber spielt die mittelbare Benachteiligung in einer ganzen Reihe von Entscheidungen eine wichtige Rolle.159 In der Literatur wird teilweise heute noch bestritten, dass mittelbare Benachteiligung von den besonderen Gleichheitssätzen erfasst wird.160 II. Funktion
In der Bestimmung der Funktion der mittelbaren Benachteiligung wirkt sich aus, welches Gleichheitsverständnis zugrunde gelegt wird.161 Versteht man das Verbot mittelbarer Diskriminierung von einem formellen Gleichheitsverständnis ausgehend, liegt die Funktion dieser Rechtsfigur allein in der „Flankierung“162 der Bekämpfung unmittelbarer Benachteiligung. Um eine zu einfache Umgehung des Verbots unmittelbarer Benachteiligung zu vermeiden, sollen auch solche Regelungen und Maßnahmen angegriffen werden können, die zwar nicht an die Kategorien direkt anknüpfen, wohl aber einen ähnlichen Effekt erzielen. In diesem Sinne dient das Verbot der mittelbaren Diskriminierung der Bekämpfung verdeckter Diskriminierung. In dieselbe Richtung geht eine Funktionsbestimmung von mittelbarer Benachteiligung als Beweiserleichterung für unmittelbare Benachteiligung. Werden durch eine Maßnahme überwiegend Personen eines bestimmten Geschlechts, einer spezifischen ethnischen Herkunft, Religion etc. benachteiligt, besteht eine Diskriminierungsvermutung, so dass dann die Beweislastregel des § 22 AGG eingreift. Doch eine solche Deutung der Funktion der Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung greift bei weitem zu kurz: Das Verbot mittelbarer Diskriminierung ist – im Gegensatz zum Verbot unmittelbarer Diskriminierung – Ausdruck eines materiellen Gleichheitsverständnisses und hat daher einen eigenen materialen Gehalt.163 Da sich massive und historisch verfestigte Diskriminierungen in den Strukturen der Gesellschaft abbilden, prägen 158 BVerfGE 97, 35 (43) – Hamburger Ruhegeldgesetz (1997) unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die
Rechtsprechung des EuGH. In der Literatur war die Anerkennung des Verbots mittelbarer Benachteiligung bereits früher gefordert worden: Sacksofsky (Fn. 24), S. 305 ff.; Fuchsloch, Das Verbot der mittelbaren Geschlechtsdiskriminierung, 1995. 159 Siehe etwa BVerfGE 104, 373 (393) – Ausschluss von Doppelnamen (2002); BVerfGE 113, 1 (15) – Kindererziehungszeiten in der Anwaltsversorgung (2005); BVerfGE 121, 241 (254 ff.) – Versorgungsabschlag (2008); BVerfG, Beschl. v. 30.1.2020, 2 BvR 1005/18, Rn. 41 ff. – Blindenführhund. 160 Siehe etwa Rüfner (Fn. 70), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 567; Sachs (Fn. 70), § 182 Rn. 32; Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 3 Rn. 143–145 (anders nun 7. Aufl. 2021, Rn. 143–145); nur für Geschlecht: Kischel (Fn. 137), Art. 3 Abs. 3 Rn. 215; nur für Geschlecht und Behinderung: Langenfeld (Fn. 41), Art. 3 Abs. 3 Rn. 38. 161 Ausführlich – auch zu den folgenden Abschnitten – Sacksofsky, Mittelbare Diskriminierung und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, 2010, S. 17. 162 So die Formulierung von Schiek (Fn. 48), § 3 Rn. 21. 163 So auch Schiek (Fn. 48), § 3 Rn. 21; Rebhahn/Kietaibl, Mittelbare Diskriminierung und Kausalität, RW 2010, S. 373 (389); Mangold (Fn. 18), S. 241 ff.; v. Roetteken (Fn. 41), § 3 Rn. 539; wohl auch Koch/ Nguyen, Schutz vor mittelbarer Diskriminierung, EuR 2010, S. 364; Fredman, Discrimination Law, 2. Aufl. 2011, S. 182. Eine etwas andere Beschreibung gibt Tobler, Grenzen und Möglichkeiten des Konzepts der mittelbaren Diskriminierung, 2008, S. 28. Ute Sacksofsky
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sie auch die Rechtsordnung. Ein Konzept formaler Gleichheit kann diese Strukturen nicht beseitigen, weil es die unterschiedlichen Auswirkungen von Maßnahmen außer Acht lässt. 108 Als Ausformung eines materiellen Gleichheitsverständnisses verlangt mittelbare Benachteiligung nicht nur keine Diskriminierungsabsicht, sondern muss nicht einmal bewusst als Diskriminierung erfolgen.164 Mittelbare Benachteiligung ist im Gegenteil die Antwort auf die (häufig unbewusste) Marginalisierung und Ausschließung diskriminierter Gruppen. Noch deutlicher als bei der unmittelbaren Benachteiligung geht es nicht um die Bekämpfung moralisch verwerflichen Handelns, vielmehr beurteilt mittelbare Benachteiligung Diskriminierung aus der „Opferperspektive“, stellt also auf den Effekt bestimmter Vorgehensweisen oder Kriterien ab.165 Das Verbot mittelbarer Benachteiligung fragt nicht nach Schuld, ja es geht nicht einmal um ein Wissen (der handelnden Person) um die diskriminierenden Auswirkungen. Es reicht für den Tatbestand der mittelbaren Diskriminierung aus, dass sich eine Regelung zum Nachteil einer durch eine der Kategorien konstituierten geschützten Gruppe auswirkt. 109 Erst in dieser Deutung wird das „fundamentale transformative Potential“166 der mittelbaren Benachteiligung erkennbar. Doch sind viele noch in Denkmustern verfangen, die auf das Anknüpfungsverbot zurückzuführen sind. Sie wollen die mittelbare Benachteiligung auf ihre dienende Funktion zur Flankierung der unmittelbaren Benachteiligung reduzieren.167 Damit aber verfehlen sie den Gehalt besonderer Gleichheitssätze, die sich – wie oben gezeigt – nicht auf das Anknüpfungsverbot reduzieren lassen. III. Geschützte Personen 110
Die Bestimmung der vor mittelbarer Benachteiligung geschützten Personen(gruppen) wirft zunächst die Frage auf, welches Verständnis von „Personengruppe“ dieser Rechtsfigur zugrunde liegt (1.). Sodann folgt eine Reihe von Klarstellungen, die Parallelen zu den Erörterungen bei der unmittelbaren Diskriminierung aufweisen, so dass es ausreicht, hier allein die Besonderheiten für die mittelbare Diskriminierung herauszuarbeiten. Dabei geht es zunächst um die Frage der Symmetrie (2.), um den Schutz von Angehörigen der dominanten Mehrheit (3.) und schließlich um Intersektionalität (4.).
164 Ähnlich Bauer/Krieger/Günther (Fn. 6), § 3 Rn. 29, die ein Verschulden explizit ablehnen; Schrader/
Schubert (Fn. 6), § 3 Rn. 63; Diesen zentralen Gedanken betont Thüsing, Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, NZA 2000, S. 570 ff. 165 In diese Richtung auch: Baer, „Ende der Privatautonomie“ oder grundrechtlich fundierte Rechtsetzung?, ZRP 2002, S. 290 (293). 166 Mangold (Fn. 18), S. 244. 167 Wiedemann/Thüsing, Der Schutz älterer Arbeitnehmer und die Umsetzung der Richtlinie 2000/78/ EG, NZA 2002, S. 1234 (1236); Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 3 AGG Rn. 24; Mohr, in: Adomeit/Mohr, AGG, 2. Aufl. 2011, § 3 Rn. 127: „ausschließlich als Beweiserleichterung für das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung zu verstehen“; Bauer/Krieger/Günther (Fn. 6), § 3 Rn. 20: „Hilfsinstrument zur Durchsetzung des eigentlichen Verbots unmittelbarer Benachteiligung“. Ute Sacksofsky
D. Mittelbare Diskriminierung – Tatbestandsvoraussetzungen
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1. Person versus Personengruppe
Bei mittelbarer Benachteiligung spielen Personengruppen eine entscheidende Rolle. Struk- 111 turelle Benachteiligung, die durch mittelbare Diskriminierung bekämpft werden soll, ist nicht primär durch individuelle Einzelakte gekennzeichnet, sondern erfasst Normierungen, die eine Vielzahl von Personen betreffen. Die Betroffenheit qua Gruppenzugehörigkeit ist gerade entscheidendes Merkmal mittelbarer Benachteiligung. Der Begriff der Personengruppe wird dabei rein analytisch im Sinne von „Vielzahl von 112 (kategorial bestimmten) Personen“ verwendet. Ein dichteres Konzept von Gruppe, wie es etwa in der Soziologie verwendet wird,168 ist damit nicht gemeint. Insbesondere kommt es nicht auf Gruppenidentität oder Zugehörigkeitsgefühle zu dieser Gruppe an. Ein solcher Gruppenbezug sprengt auch nicht etwa das individualrechtliche Konzept 113 von (Grund-)Rechten oder Rechtsschutz.169 Rechte einfordern kann jeweils die einzelne Person, die strukturelle Diskriminierung erfährt. Möglichkeiten kollektiven Rechtsschutzes mögen daher zwar sinnvoll sein, sind aber nicht zwingend von dem Konzept mittelbarer Diskriminierung impliziert. Zudem ist Gruppenbezug bei Gleichheitsfragen geradezu typisch, denn allgemeine Regelungen betreffen nun mal mehrere Personen, also im hiesigen Sprachgebrauch „Gruppen“. 2. (Keine) Symmetrie
Das Anknüpfungsverbot ist – wie oben ausgeführt170 – symmetrisch: Unabhängig davon, 114 wer betroffen ist, ist eine Anknüpfung an eine Diskriminierungskategorie nur dann zulässig, wenn den – grundsätzlich strikten171 – Rechtfertigungsanforderungen genüge getan ist. Bei der mittelbaren Diskriminierung ist dies – jedenfalls bezogen auf ihre zentrale Funktion – anders. Nach der oben beschriebenen Funktion von Diskriminierungsverboten findet mittelbare Benachteiligung nur zugunsten der Personengruppen Anwendung, die struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind. Denn nur bei dieser Personengruppe besteht die Gefahr, dass ihre Perspektiven und Interessen aufgrund ihrer mangelnden Repräsentanz so sehr vernachlässigt werden, dass sie besonderen Schutz benötigen. Welche Personengruppen dies sind, ergibt sich aus dem zeitlichen und örtlichen Kon- 115 text der jeweiligen Normen. Hinter verfassungsrechtlich gewährleisteten besonderen Gleichheitssätzen stehen besondere Diskriminierungserfahrungen, die oft von sozialen Bewegungen im Zuge der Verfassungsgebung thematisiert worden sind. Auch bei den meisten Kategorien des § 1 AGG ist klar, welche historischen Diskriminierungserfahrungen und sozialen Bewegungen zur Aufnahme der jeweiligen Kategorie in die Liste der verbotenen Benachteiligungen geführt haben. Das Verbot der Diskriminierung nach dem Geschlecht sollte Frauen schützen, bei der ethnischen Herkunft ging es nicht um Angehörige 168 Siehe z. B. Abels, Einführung in die Soziologie, Band 2: Die Individuen in ihrer Gesellschaft, 2019,
S. 235–279.
169 Dazu schon Sacksofsky (Fn. 24), S. 361 f. 170 Siehe Rn. 48 ff. (C. II. 4.). 171 Siehe Rn. 90 ff. (C. VII. 1.).
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der Mehrheitsgesellschaft, bei der Religion nicht um die dominanten Glaubensrichtungen, bei sexueller Identität nicht um den Schutz Heterosexueller.172 Die Angehörigen der dominanten Gruppe sind daher nicht vor Maßnahmen geschützt, 116 die sich zu ihren Lasten auswirken. In Deutschland sind (derzeit) Männer gegenüber Frauen, Heterosexuelle gegenüber Homosexuellen oder Christen gegenüber Muslimen nicht von mittelbarer Benachteiligung erfasst. Dies liegt daran, dass die gesellschaftlichen Strukturen oder das Design bestimmter Institutionen gerade die Interessen der dominanten Bevölkerungsgruppe widerspiegeln. Freilich können sich gerade auf Inklusion gerichtete, auf die Verwirklichung tatsächlicher Gleichheit zielende Maßnahmen zum Nachteil der dominanten Bevölkerungsgruppe auswirken. Illustriert sei dies an einem Beispiel: § 10 Abs. 1 Satz 2 HGlG verlangt, bei der Qualifikationsbeurteilung Fähigkeiten und Erfahrungen, die durch die Betreuung von Kindern oder Pflegebedürftigen im häuslichen Bereich (Familienarbeit) erworben wurden, zu berücksichtigen. Dies ist ein Kriterium, welches sich zu Lasten von Männern auswirkt, da diese in weitaus geringerem Maße Familienarbeit wahrnehmen. Hierin liegt aber gerade keine mittelbare Diskriminierung von Männern, sondern der Versuch des Ausgleichs struktureller Benachteiligungen von Frauen. Es würde daher das materielle Gleichheitsverständnis konterkarieren, wenn ein Mann im Wege der mittelbaren Benachteiligung solche Regelungen angreifen könnte. 117 Der EuGH sieht dies allerdings anders und prüft mittelbare Benachteiligung auch zugunsten von Männern nach den gleichen Maßstäben wie bei mittelbarer Benachteiligung von Frauen.173 Die Problematik, die eine solche symmetrische Behandlung der mittelbaren Benachteiligung mit sich bringt, zeigt sich besonders pikant im Fall der Abschmelzung von besonders hohen Altersbezügen, die wenig überraschend (ganz überwiegend) Männern zukamen.174 Es ist nicht die Funktion des Antidiskriminierungsrechts, das Abschmelzen von auf diskriminierenden Strukturen basierenden Privilegien einer besonderen gerichtlichen Prüfung zu unterziehen. Der Ausschluss der jeweils dominanten Bevölkerungsgruppe ist dabei natürlich nicht 118 absolut, sondern tritt nur in der Gegenüberstellung zu der jeweils durch eine marginalisierte Ausprägung der jeweiligen Kategorie gekennzeichneten Gruppe auf. Intersektional betrachtet, können selbstverständlich auch Männer (beispielsweise als Muslime) den Schutz mittelbarer Benachteiligung beanspruchen.175 3. Schutz von Mehrheitsangehörigen 119
Denkbar ist freilich auch der Fall, dass sich ein Angehöriger der dominanten Mehrheit in der gleichen Lage befindet wie die Angehörigen der diskriminierten Gruppe. Kann er sich dann auf mittelbare Benachteiligung berufen? Beispielsweise wäre zu überlegen, ob ein teilzeitbeschäftigter Mann gegen die Diskriminierung von Teilzeitkräften unter Berufung 172 Zur Sonderstellung des Merkmals Alter siehe oben Rn. 96 (C. VII. 2.). 173 Siehe z. B. EuGH, Urt. v. 17.7.2014, Rs. C-173/13, Leone; EuGH, Urt. v. 24.9.2020, Rs. C-223/19, YS
v. NK AG.
174 EuGH, Urt. v. 24.9.2020, Rs. C-223/19, YS v. NK AG. 175 Siehe Rn. 121 ff. (D. III. 4.).
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auf Geschlechtsdiskriminierung in gleicher Weise wie eine teilzeitbeschäftigte Frau vorgehen kann.176 Dafür, dass auch Männer sich in solchen Fällen auf das Verbot mittelbarer Benachteiligung berufen können, spricht, dass es bei mittelbarer Benachteiligung um die Bekämpfung von struktureller Diskriminierung geht; diese kann „untypische“ Männer in gleicher Weise treffen wie „typische“ Frauen. Gerade im Hinblick auf die Geschlechterordnung zeigt sich, dass die allmähliche Durchbrechung der traditionellen Rollenmuster auch von Männern erwarten lässt, dass sie einen stärkeren Anteil an Reproduktionsaufgaben übernehmen. Dies macht sie in gleicher Weise schutzwürdig wie Frauen.177 Aus den gleichen Grundüberlegungen hat der EuGH richtigerweise eine Diskriminie- 120 rung wegen der ethnischen Herkunft bejaht, bei einer Maßnahme, die alle Einwohner*innen eines überwiegend von Roma bewohnten Gebietes traf, unabhängig davon, ob sie sich selbst als Roma bezeichneten.178 4. Intersektionalität
Intersektionalität muss auch bei mittelbarer Benachteiligung berücksichtigt werden; die 121 von mittelbarer Benachteiligung betroffene Gruppe muss nicht zwingend durch eine einzige der Kategorien bestimmt werden. Dies spielt vor allem bei der Frage eine Rolle, zugunsten welcher Gruppen mittelbare 122 Benachteiligung angenommen werden kann. Gerade weil Personengruppen, die durch die Verschränkung verschiedener Kategorien definiert werden, sehr unterschiedlichen Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt sind, ist eindeutig, dass die geschützte Personengruppe nicht nur im Hinblick auf eine Kategorie (alle Frauen), sondern auch im Hinblick auf die verschränkten Kategorien (Schwarze Frauen, Frauen mit Behinderung, auch: Schwarze Männer) definiert werden kann. Gerade der Beispielsfall, an dem Crenshaw das Konzept der Intersektionalität entwickelte, zeigt dies deutlich. In DeGraffenreid179 ging es um Entlassungen, die in den USA nach der Regel „last in, first out“ stattfinden. General Motors hatte bis kurz zuvor keine Schwarzen Frauen beschäftigt, während Schwarze Männer (für körperlich schwere Arbeit) und Weiße Frauen (in Büro-Jobs) beschäftigt worden waren; die Entlassungen trafen daher ganz überproportional Schwarze Frauen. Aktuell sind vor allem die Verbote des Tragens religiöser Kleidung als Beispiel für inter- 123 sektionale mittelbare Diskriminierung relevant. Denn diese Verbote treffen – sie werden ja auch häufig verkürzt als Kopftuchverbote bezeichnet – ganz überwiegend muslimische Frauen. Der intersektionale Aspekt wird indes nur selten thematisiert. Verbote des Kopf-
176 Diese Frage wirft auch Feldhoff, Mittelbare Diskriminierung teilzeitbeschäftigter Frauen, ZESAR
2008, S. 509 (511) auf.
177 Im Ergebnis ebenso, wenn auch mit anderer Begründung: Fuchs, Gemeinschaftswidrige Gleich- oder
Ungleichbehandlung im Rahmen von Art. 141 EG?, EuR 2008, S. 697 (701).
178 EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14, CHEZ Razpredelenie Bulgaria. Freilich hat der Gerichtshof sich
nicht festgelegt, ob es sich um eine mittelbare oder unmittelbare Benachteiligung handelt.
179 US District Court for the Eastern District of Missouri, DeGraffenreid v. General Motors, 558 F.2d 480
(8th Cir. 1977).
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tuchtragens werden fast ausschließlich unter der Rubrik der Glaubensfreiheit abgehandelt, häufig bleibt der Gender-Aspekt vollständig ausgeblendet.180 124 Der naheliegende Einwand, es gebe eine unüberschaubar große Anzahl möglicher Kombinationen der Ausprägung von Kategorien und damit auch unzählige potentiell geschützte Gruppen – Schlagwort „Quotenpuzzle“ – trifft zwar mathematisch gesehen zu, praktisch kann er aber nicht überzeugen. Denn das Konzept der mittelbaren Benachteiligung betrachtet nicht abstrakt denkbare Kombinationen von Ausprägungen von Kategorien, sondern basiert auf tatsächlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten. Treffend kontrastiert Catharine A. MacKinnon „phony groupings“181 mit den tatsächlichen gesellschaftlichen Dominierungsverhältnissen. Diese Kontextbezogenheit dient als Filter, um sicherzustellen, dass nicht beliebige Gruppen, sondern nur jene Gruppen in den Schutz einbezogen werden, die auch in der Praxis Diskriminierung erfahren (haben). IV. Nachteilig betroffen 125
Der Tatbestand der mittelbaren Diskriminierung verlangt die Feststellung der nachteiligen Betroffenheit einer geschützten Personengruppe. Nachdem bereits geklärt wurde, welche Personen Schutz vor mittelbarer Benachteiligung beanspruchen können, geht es jetzt um die Frage, wann eine solche nachteilige Betroffenheit vorliegt. Dies erfordert eine Analyse der Auswirkungen einer Regelung oder Maßnahme. Daher können Statistiken eine wichtige Rolle bei der Feststellung spielen (1.). Fraglich ist, ob für den Fall, dass eine (zahlenmäßige) nachteilige Betroffenheit festgestellt worden ist, noch weitere Kriterien vorliegen müssen (2.). 1. Zur Rolle von Statistiken
Statistiken können eine wertvolle Hilfe für den Nachweis mittelbarer Benachteiligung sein.182 So nutzte beispielsweise der EGMR in seiner Entscheidung zur diskriminierenden Beschulung von Roma-Kindern Zahlenmaterial intensiv.183 Teils wird verlangt, dass der Nachweis, eine Gruppe werde durch eine Regelung benachteiligt, durch verlässliche Statistiken erbracht werden müsse. 127 Nach geltendem europäischem Recht ist dies nicht mehr zwingend geboten,184 so dass die Möglichkeit besteht, die Benachteiligung auf andere Weise als durch Statistiken plausi126
180 In den EuGH-Entscheidungen zum Kopftuch (EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-188/15, Bougnaoui und
EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, Achbita) kommt dieser Aspekt beispielsweise gar nicht vor. Auch in der ersten Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird die Frage der Geschlechterdiskriminierung nicht behandelt (BVerfGE 108, 282 – Lehrerin mit Kopftuch (2003)). Anders aber die zweite Kopftuchentscheidung: BVerfGE 138, 296, Rn. 142 ff. – Kopftuchverbot II (2015). 181 MacKinnon, Substantive Equality, Minnesota Law Review 96 (2011), S. 1 (12). 182 Ausführlich zu Statistiken → Towfigh, § 18 Rn. 1 ff. 183 EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik. 184 Siehe Erwägungsgrund 15 der Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft v. 29.6.2000, ABl. 2000 L Ute Sacksofsky
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bel zu machen.185 Dabei genügt eine hypothetische Betrachtungsweise.186 Dies kommt in der Formulierung des § 3 Abs. 2 AGG „in besonderer Weise benachteiligen können“ zum Ausdruck und entspricht der Rechtsprechung des EuGH.187 Der Verzicht auf Statistiken ist von erheblicher Bedeutung, da in vielen Bereichen keine aussagekräftigen Statistiken vorliegen.188 Abzulehnen ist eine Auffassung, die einen statistischen Nachweis nur in engen Ausnahmefällen entfallen lassen will.189 Wenn Statistiken verwendet werden, muss die unterschiedliche Betroffenheit erheblich 128 genug sein, um eine Diskriminierungsvermutung auszulösen.190 Freilich ist nicht geklärt, was Erheblichkeit in diesem Sinne genau bedeutet. Man wird wohl kaum eine eindeutige Prozentzahl festlegen können.191 Stattdessen spielt hier die Intensität des Nachteils eine Rolle: Je gravierender die Benachteiligung, desto weniger hoch muss das quantitative Ausmaß des Nachteils sein. Auch die Bildung der Vergleichsgruppe, mithilfe derer aussagekräftige Statistiken er- 129 bracht werden können, erweist sich als schwierig. Nicht immer ist klar, welche Gruppen adäquate Referenzgruppen sind. Illustrativ sind hierfür beispielsweise die Fälle der „gläsernen Decke“.192 Denkbar wäre etwa abzustellen auf den Frauenanteil in der Bevölkerung, den Frauenanteil derjenigen, die die einschlägige berufliche Qualifikation aufweisen, den Frauenanteil in der Branche, den Frauenanteil im Betrieb, den Frauenanteil in der Hierarchieebene direkt unter der Führungsebene und viele andere mehr. Die Frage nach der „richtigen“ Vergleichsgruppe lässt sich nicht abstrakt und allgemein 130 beantworten.193 Je nach Kontext können verschiedene Vergleichsgruppen adäquat sein. Gesteuert werden muss die Auswahl der Vergleichsgruppe von der Funktion der mittelbaren Benachteiligung, strukturelle Diskriminierung zu erfassen. Daher ist es nur in den seltensten Fällen ausreichend, schlicht auf Bewerber*innenzahlen abzustellen. Am Beispiel 180/22 und der Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303/16. 185 Däubler, Was bedeutet „Diskriminierung“ nach neuem Recht?, ZfA 2006, S. 479 (487); Rust, in: Rust/Falke (Hrsg.), AGG, 2007, § 3 Rn. 13; Bauer/Krieger/Günther (Fn. 6), § 3 Rn. 26a; Plum (Fn. 38), § 3 Rn. 100. 186 Hierzu mit weiteren Nachweisen: Schlachter, in: Müller-Glöge u. a. (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, § 3 AGG Rn. 12. 187 EuGH, Urt. v. 21.9.2000, Rs. C-124/99, Borawitz, Rn. 25. 188 Beispielsweise werden Gleichstellungsdaten zu rassistischer/ethnischer Diskriminierung in Deutschland kaum erhoben. Zum Problemstand: Ahyoud/Aikins/Bartsch/Bechert/Gyamerah/Wagner, Wer nicht gezählt wird, zählt nicht, Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in der Einwanderungsgesellschaft – eine anwendungsorientierte Einführung, 2018. Siehe auch Stix, Rassismuskritik in der Rechtswissenschaft, in Bretthauer u. a. (Hrsg.), Wandlungen im Öffentlichen Recht, 2020, S. 217 (230 ff.); → Barskanmaz, § 7 Rn. 54. 189 Mohr (Fn. 167), § 3 Rn. 145. 190 Ausführlich zur Wesentlichkeitsschwelle und dem Diskriminierungsgrad Hoffmann, Die Feststellung mittelbarer Diskriminierungen, AcP 214 (2014), S. 822 (838 ff.). 191 Schiek (Fn. 48), § 3 Rn. 40. 192 BAG, Urt. v. 22.7.2010, 8 AZR 1012/08; ausführlich dazu Mangold (Fn. 18), S. 253 ff. 193 Ellis/Watson, EU Anti-Discrimination Law, 2. Aufl. 2005, S. 153 sprechen Gerichten insoweit ein „important element of discretion“ zu. Ute Sacksofsky
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§ 14 Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
der Geschlechterungleichbehandlungen: Gerade in Bereichen mit gravierender struktureller Benachteiligung sind die Berufsbiographien von Frauen erheblichen Nachteilen ausgesetzt. Ihre Qualifikation wird vielfach unterschätzt. Deshalb werden häufig Frauen durchschnittlich besser qualifiziert sein als Männer in vergleichbarer Position. Das Mindeste, was daher zu einer effizienten Bekämpfung struktureller Diskriminierung erforderlich ist, ist das – in der Wissenschaft inzwischen vielfach akzeptierte – Kaskadenmodell194: Dieses nimmt als Ausgangsbasis jeweils die Qualifikationsstufe unter jener, um die es aktuell geht. 131 Wenn keine statistischen Daten vorhanden sind, muss danach gefragt werden, ob die anscheinend neutralen Kriterien, Vorschriften oder Verfahren geeignet sind, sich überwiegend zum Nachteil einer geschützten Personengruppe auszuwirken. Hierbei geht es um eine Plausibilitätsprüfung.195 So kann das Abstellen auf Körperkraft auch ohne statistischen Nachweis eine mittelbare Ungleichbehandlung begründen.196 2. Kausalität oder Vergleichbarkeit
Der Tatbestand der mittelbaren Benachteiligung setzt – in der Formulierung des § 3 Abs. 2 AGG – voraus, dass „dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können“. Dies könnte so klingen, als ob für mittelbare Ungleichbehandlung weitere Anforderungen als die nachteilige Betroffenheit aufzustellen sind; doch dies ist nicht der Fall.197 Insbesondere gibt es kein eigenes Kausalitätserfordernis.198 Da es bei der mittelbaren Benachteiligung um die Auswirkungen von Regelungen oder Maßnahmen geht, reicht es aus, dass die nachteilige Betroffenheit einer geschützten Personengruppe festgestellt wird. Die Forderung nach einem Kausalitätserfordernis ist Ausdruck dessen, dass die Funktion der Rechtsfigur der mittelbaren Benachteiligung – unzulässigerweise – auf die Hilfsfunktion für die Bekämpfung unmittelbarer Diskriminierung reduziert wird.199 133 Auch eine eigene Vergleichbarkeitsprüfung, die teilweise gefordert und von Gerichten vorgenommen wird,200 ist entbehrlich: Immer wenn eine nachteilige Betroffenheit festgestellt wird, sind – wie bereits oben ausgeführt201 – weitere Erörterungen nur auf der Ebene der Rechtfertigung angezeigt.202 132
Beispielsweise verankert in den Gleichstellungsstandards der DFG. Schiek (Fn. 48), § 3 Rn. 43 ff.; Schrader/Schubert (Fn. 6), § 3 Rn. 48. Vgl. EuGH, Urt. v. 1.7.1986, Rs. C-237/85, Rummler, Rn. 15. Wißmann, Mittelbare Geschlechtsdiskriminierung, in: FS Wlotzke, 1996, S. 807 (817). Siehe insbesondere Rebhahn/Kietaibl (Fn. 163), S. 373 ff.; Mangold (Fn. 18), S. 259 ff. Ähnlich Mangold (Fn. 18), S. 254 ff. Plum (Fn. 38), § 3 Rn. 98; Schrader/Schubert (Fn. 6), § 3 Rn. 42a; siehe etwa: BAG, Urt. v. 19.4.2012, 6 AZR 578/10; BAG, Urt. v. 27.1.2011, 6 AZR 526/09. 201 Siehe Rn. 45 ff. (C. II. 3.). 202 Den Zusammenhang von Vergleichbarkeit und Rechtfertigung betont auch Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 64. 194 195 196 197 198 199 200
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D. Mittelbare Diskriminierung – Tatbestandsvoraussetzungen
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V. Zur Rechtfertigung
Für die Untersuchung der Rechtfertigung bei der mittelbaren Benachteiligung gelten im 134 Ausgangspunkt die gleichen Überlegungen wie bei der Rechtfertigung der unmittelbaren Benachteiligung.203 Auch hier erfordert die Prüfung der Rechtfertigung eine genaue Analyse der Fallkonstellation, so dass es vorliegend nur um Rechtfertigungsmaßstäbe gehen kann. Insoweit aber drängt sich eine wichtige Frage auf: Sind die Rechtfertigungsmaßstäbe bei unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung identisch oder unterscheiden sie sich? Dies soll wiederum für Verfassungsrecht (1.) und Unionsrecht/AGG (2.) getrennt untersucht werden. 1. Verfassungsrecht
Während das Bundesverfassungsgericht äußerst strenge Maßstäbe bei der Rechtfertigung 135 unmittelbarer Diskriminierung anlegt, hat es noch nicht eindeutig geklärt, welches die Rechtfertigungsmaßstäbe bei der mittelbaren Benachteiligung sind. Vor allem bei der Kategorie Geschlecht, die den ganz überwiegenden Teil der Rechtsprechung ausmacht, ist die Diskrepanz eklatant. Eine unmittelbare Ungleichbehandlung hält das Gericht – abgesehen von kollidierendem Verfassungsrecht – nur für zulässig, „soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich“ ist.204 Für die Rechtfertigung der mittelbaren Ungleichbehandlung verlangt das Gericht teils 136 Güter von Verfassungsrang,205 teils prüft es das Vorliegen „sachlicher Gründe“.206 „Strenge“ Rechtfertigungsanforderungen stellt das Gericht auf, wenn – wie in dem dort zu entscheidenden Fall – Frauen aufgrund rechtlicher und biologischer Umstände der Mutterschaft gegenüber Männern benachteiligt werden. Ausnahmsweise könne die mittelbare Ungleichbehandlung auch durch sonstige Sachgründe zu rechtfertigen sein, die jedoch von erheblichem Gewicht sein müssten.207 Diesen Anforderungen ist zuzustimmen. Die Rechtfertigungsmaßstäbe von unmittel- 137 barer und mittelbarer Benachteiligung sind unterschiedlich. Es ist überzogen, nur Güter von Verfassungsrang zur Rechtfertigung der mittelbaren Benachteiligung zuzulassen. Angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die traditionelle Geschlechterordnung fortwirkt, wirken sich zahlreiche Regelungen unterschiedlich auf Männer und Frauen aus. Verlangte man hier immer Gründe von Verfassungsrang,208 hätte die Rechtsfigur der mittelbaren Benachteiligung nicht nur „transformatives Potential“, sondern könnte zu einer verfassungsrechtlich vorgezeichneten und verfassungsgerichtlich durchgesetzSiehe Rn. 88 ff. (C. VII.). BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeitsverbot (1992); BVerfGE 92, 91 (109) – Feuerwehrabgabe (1995). BVerfGE 121, 241 (254, 257 ff.) – Parteibeteiligung an Rundfunkunternehmen (2008). BVerfGE 97, 35 (44) – Hamburger Ruhegeldgesetz (1997); BVerfGE 104, 373 (393) – Ausschluss vom Doppelnamen (2002); BVerfGE 113, 1 (15) – Kindererziehungszeiten in der Anwaltsversorgung (2005). 207 BVerfGE 132, 72 (97 f. Rn. 58) – Elterngeld (2012). 208 So etwa Baer/Markard (Fn. 13), Art. 3 Abs. 3 Rn. 429; Richter, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. V, 2013, § 126 Rn. 82. 203 204 205 206
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§ 14 Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
ten kompletten Umgestaltung der Gesellschaft führen. Auf der anderen Seite dürfen nicht bloß beliebige sachliche Gründe zur Rechtfertigung ausreichen. Denn sonst führte die Verortung der mittelbaren Benachteiligung in den besonderen Gleichheitssätzen nicht zu einer intensiveren Prüfung als auch der allgemeine Gleichheitssatz als Maßstab hergeben würde. Das Erfordernis von Gründen von erheblichem Gewicht kennzeichnet daher zutreffend den Mittelweg.209 2. Unionsrecht/AGG 138
Im Unionsrecht und dem zu seiner Umsetzung erlassenen AGG unterscheiden sich die Maßstäbe der Rechtfertigung von unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung noch deutlicher. Während das AGG für die unmittelbare Benachteiligung keine Rechtfertigungsmöglichkeit (sondern nur Bereichsausnahmen) kennt,210 sind in § 3 Abs. 2 AGG die Rechtfertigungsmaßstäbe ausdrücklich normiert. Die den Tatbestand der mittelbaren Benachteiligung auslösenden, „neutralen“ Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind nur dann zulässig, wenn sie „durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel […] zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich“ sind. Die vom EuGH typischerweise gewählte Formulierung verlangt, dass die Maßnahme „durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben“.211 Der Gerichtshof sieht einen solchen Fall gegeben, wenn die gewählten Mittel einem legitimen Ziel der Sozialpolitik des Mitgliedstaats dienen, um dessen Rechtsvorschriften es geht, und zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind.212 Doch könne ein solcher Faktor nur dann als zur Erreichung des geltend gemachten Ziels geeignet angesehen werden, wenn er tatsächlich dem Anliegen gerecht werde, dieses Ziel zu erreichen, und in kohärenter und systematischer Weise angewandt wird.213 Zwar betont der EuGH, dass es letztlich Sache des für die Beurteilung des Sachverhalts und die Auslegung des innerstaatlichen Rechts allein zuständigen nationalen Gerichts ist, festzustellen, ob und in welchem Umfang die fragliche Rechtsvorschrift durch einen solchen objektiven Faktor gerechtfertigt ist, doch immer wieder hat der EuGH im Interesse der „sachdienlichen“ Beantwortung der Vorlagefragen Hinweise gegeben, welche Argumente geeignet oder eben ungeeignet sind, eine mittelbare Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.214
Für einen solchen mittleren Rechtfertigungsmaßstab auch: Nußberger (Fn. 10), Art. 3 Rn. 256 f. Siehe Rn. 95 ff. (C. VII. 2.). EuGH, Urt. v. 20.10.2011, Rs. C-123/10, Brachner, Rn. 70. EuGH, Urt. v. 8.2.1996, Rs. C-8/94, C. B. Laperre, Rn. 14 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 213 EuGH, Urt. v. 18.11.2010, Rs. C-250/09 und C-268/09, Georgiev, Rn. 56 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 214 So geht das Gericht im Fall Brachner eine ganze Reihe von Argumenten durch und verneint ihre rechtfertigende Kraft: EuGH, Urt. v. 20.10.2011, Rs. C-123/10, Brachner, Rn. 76 ff. 209 210 211 212
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E. Fazit
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3. Konsequenzen
Auch wenn sich die Maßstäbe im Unionsrecht und im Verfassungsrecht in der Formulie- 139 rung unterscheiden, ähneln sie sich doch insoweit, als sie eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen. Die Rechtfertigungsanforderungen sind auf beiden hier untersuchten Rechtsebenen für die Prüfung der mittelbaren Benachteiligung (etwas) geringer als bei der unmittelbaren Benachteiligung (für die zwingende Gründe verlangt werden).215 Dieser Unterschied lässt sich darüber rechtfertigen, dass die Anknüpfung an eine Kategorie besonders starke Diskriminierungsgefahren mit sich bringt, denn sie unterteilt die Menschen anhand dieser Kategorie. Zudem dürfen die Unterschiede in den Rechtfertigungsmaßstäben auch nicht überbewertet werden. Denn auch die mittelbare Ungleichbehandlung wird einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung müssen Regelungsziele und die Mittel 140 ihrer Erreichung in Beziehung gesetzt werden. Insbesondere die Frage danach, ob das Ziel auch mit milderen, d. h. weniger diskriminierenden Mitteln erreicht werden kann, gibt Raum, Alternativen zu eruieren und scheinbare Notwendigkeiten neu zu hinterfragen. Dies ist für die Bekämpfung struktureller Diskriminierung von entscheidender Bedeutung. Strukturen haben sich häufig über lange Zeit herausgebildet und erscheinen daher als Normalität. Durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung werden diese weithin akzeptierten Normalitätsvorstellungen einer neuen Überprüfung und Reflexion unterworfen. Damit kann das Verbot mittelbarer Diskriminierung wichtige Ansatzpunkte für den Abbau von Diskriminierung entfalten.
E. Fazit Grundthese des Beitrags ist, dass unmittelbare und mittelbare Diskriminierung an ver- 141 schiedene Gleichheitsverständnisse rückgebunden sind. Das Verbot unmittelbarer Benachteiligung ist als Anknüpfungsverbot zu verstehen und damit Ausdruck formeller Gleichheit. Dies hat zur Folge, dass jegliche Anknüpfung an eine Diskriminierungskategorie – sei sie „neutral“, symmetrisch oder scheinbar unerheblich – eine Rechtfertigungsnotwendigkeit auslöst. Mittelbare Benachteiligung erfasst demgegenüber scheinbar neutrale Kriterien, die sich zum Nachteil einer kategorial geschützten Personengruppe auswirken. Diese Rechtsfigur stellt entscheidend auf die tatsächlichen Auswirkungen von Regelungen ab und ermöglicht es daher, strukturelle Benachteiligungen zu bekämpfen. Mittelbare Benachteiligung darf nicht auf die „Flankierung“ unmittelbarer Benachteiligung reduziert werden; sie ist Ausdruck materieller Gleichheit und hat damit einen eigenen materiellen Gehalt.
215 In diese Richtung auch Kingreen (Fn. 42), Art. 3 Rn. 439; Fehling (Fn. 70), S. 684 ff.
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§ 15 Angemessene Vorkehrungen Theresia Degener Inhaltsübersicht Rn. A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Herkunft und Entwicklung des Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
C. Dogmatische Einordnung der Figur der angemessenen Vorkehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einordnung in den Antidiskriminierungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Abgrenzung von Maßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einordnung als Diskriminierungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unmittelbare Diskriminierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mittelbare Diskriminierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Neue Rechtsfigur des reaktiven Diskriminierungsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Theoretische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwischen Rehabilitations- und Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zugrundeliegendes Gleichheitskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16 17 19 26 27 28 29 30 31 34
D. Zum Begriff der angemessenen Vorkehrungen in der Spruchpraxis zur UN-BRK . . . . . . . . . I. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verpflichtungsgehalt und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36 36 42
E. Sachlicher und personaler Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46 46 49
F. Grenzen der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen als Rechtfertigungsgrund und prozedurale Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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G. Verankerung im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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H. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Einleitung Mit der Aufnahme der Figur der „angemessenen Vorkehrungen“ wurde eine neue Phase 1 im Antidiskriminierungsrecht eingeläutet. Denn wenn die Verweigerung angemessener Vorkehrungen eine Diskriminierung darstellt, hat dies Auswirkungen auf die Rechte und Pflichten der Beteiligten, aber auch auf das zu Grunde liegende Gleichheitskonzept. Wenn die Verweigerung einer behindertengerechten Gestaltung des Arbeitsplatzes oder die Verweigerung der Berücksichtigung von religiösen Feiertagen, die außerhalb des Mainstreams Theresia Degener
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§ 15 Angemessene Vorkehrungen
liegen, den Tatbestand der Diskriminierung erfüllen können, dann wird offenbar, dass Diskriminierungsverbote mehr verlangen als negative Verhaltenspflichten. Die Pflicht zur Gewährung angemessener Vorkehrungen kann in den seltensten Fällen durch schlichtes Nichtstun erfüllt werden. Sie verlangt denknotwendig aktives Handeln der Beteiligten. Sowohl die verpflichtete Person als auch die anspruchsberechtigte Person müssen interaktiv kommunizieren und handeln. Damit durchkreuzt die Figur der angemessenen Vorkehrungen die Unterscheidung des Antidiskriminierungsrechts in reaktives und proaktives Gleichstellungsrecht.1 Als neue dogmatische Figur entwickelt sie Antidiskriminierungsrecht fort. Die Figur der angemessenen Vorkehrungen spielt eine prominente Rolle in der UN2 Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)2 von 2006, weil sie dort in die Antidiskriminierungsklausel aufgenommen wurde. Gemäß Art. 5 Abs. 2 und 3 UN-BRK sind die Vertragsstaaten verpflichtet, jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu verbieten und alle geeigneten Schritte zu unternehmen, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung zu gewährleisten. Damit wurde nicht nur der bis dahin bekannte internationale Diskriminierungsbegriff erweitert,3 dies führte auch zu einer Klarstellung im EU-Recht. Bereits eine halbe Dekade zuvor war die Figur der angemessenen Vorkehrungen in das Sekundärrecht der damaligen Europäischen Gemeinschaften (heute EU) aufgenommen worden. In der Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Rahmenrichtlinie)4, die aufgrund der Antidiskriminierungsklausel in Art. 13 des Amsterdamer Vertrags (heute Art. 19 AEUV ) erlassen wurde und auch die Kategorie Behinderung erfasst, heißt es in Art. 5: „Um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Diese Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch geltende Maßnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des Mitgliedstaates ausreichend kompensiert wird.“ 3 Aufgrund der systematischen Ansiedlung dieser Pflicht in einem anderen Absatz als der Definition von Diskriminierung wurde im EU-Recht lange diskutiert, ob die Verweigerung angemessener Vorkehrungen eine Form der Diskriminierung darstelle oder nur die Verlet1 Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 204. 2 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen v. 13.12.2006, BGBl. 2008 II,
S. 1419.
3 Degener, Die UN-Behindertenrechtskonvention, JöR n. F. 67 (2019), S. 487; Quinn, A Short Guide to the
UNCRPD, European Yearbook of Disability Law 1 (2009), S. 89. 4 Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303/16 (Rahmenrichtlinie). Theresia Degener
B. Herkunft und Entwicklung des Konzepts
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zung einer sonstigen Obliegenheit. Mit der Verabschiedung der UN-BRK wurde diese Unklarheit ausgeräumt.5 In der ersten Dekade ihrer Existenz traten mehr als zwei Drittel aller UN-Mitgliedstaaten der UN-BRK bei, sowie die EU im Jahre 2010, für die mit Art. 44 UNBRK eigens eine Beitrittsmöglichkeit geschaffen wurde. Die UN-BRK ist die erste internationale Menschenrechtskonvention, der die EU beigetreten ist. Mit Wirkung von 2011 ist damit Art. 5 UN-BRK für die EU verbindlich. Gleiches gilt für die EU-Mitgliedstaaten, die mittlerweile ebenfalls alle der UN-BRK beigetreten sind. Im Oktober 2020 hatte die UNBRK 182 Mitgliedstaaten, weshalb nun die Figur der angemessenen Vorkehrungen zum globalen Standard des Antidiskriminierungsrechts gezählt werden kann.6 Der UN-BRK Fachausschuss, der gem. Art. 34 ff. UN-BRK mit der Überwachung der 4 Konvention beauftragt ist, hat sich in seiner Rechtspraxis mehrfach zu dem Begriff der angemessenen Vorkehrungen geäußert. In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 zu Art. 5 UN-BRK (Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung) hat er 2018 zudem ein neues Gleichheitsmodell, die „inklusive Gleichheit“, in den internationalen Diskurs eingeführt. Auch hierbei spielen die angemessenen Vorkehrungen eine zentrale Rolle.
B. Herkunft und Entwicklung des Konzepts Während der Begriff der „angemessenen Vorkehrungen“ im Gleichheitsrecht der meisten 5 europäischen Staaten noch recht jung ist, gibt es ihn in der US-amerikanischen, der australischen und der kanadischen Antidiskriminierungsgesetzgebung bereits seit mehreren Dekaden als „reasonable accommodations“ bzw. als „reasonable adjustments“.7 Erstmalig tauchte er 1972 im Rahmen einer Reform des US-amerikanischen Civil Rights Act von 1964 im Kontext von Religion auf. Arbeitgeber*innen wurden 1972 verpflichtet, angemessene Vorkehrungen für religiöse Praktiken zu treffen, solange diese keine unbillige Härte darstellen würden.8 Im Kontext von Behinderung erhielt der Begriff dann eine weit größere Bedeutung im US-amerikanischen Rehabilitation Act von 1973 und dem diesem folgenden Americans with Disabilities Act (ADA) von 1990. Damit war der US-amerikanische Diskriminierungsbegriff um eine neue dogmatische 6 Figur erweitert. Neben direkter und indirekter Diskriminierung bzw. Benachteiligung gab es nun die Verweigerung angemessener Vorkehrungen als neue Diskriminierungsform. Als angemessene Vorkehrungen in Bezug auf behinderte Menschen galten von Anfang an eine große Bandbreite von Anpassungsmaßnahmen, wie etwa die Überwindung von Stufen mittels Rampe, die Anpassung von Zulassungs- oder Prüfungsanforderungen, die Bereit5 Waddington, Equal to the task?, European Yearbook of Disability Law 4 (2013), S. 169. 6 United Nations, Treaty Series Vol. 2515, 2008, S. 3. 7 Quinn/McDonagh/Kimber, Disability Discrimination Law in the United States, Australia and Canada,
1993.
8 Waddington, Reasonable Accommodation, in: Schiek/Waddington/Bell (Hrsg.), Cases, Materials and
Text on National, Supranational and International Non-Discrimination Law, 2007, S. 629 (630); Blanck u. a., Disability, Civil Rights Law, and Policy, 2004, Kap. 2, S. 9. Theresia Degener
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§ 15 Angemessene Vorkehrungen
stellung von Gebärdendolmetscher*innen, die Anbringung taktiler Wegweiser oder die Bereitstellung persönlicher oder technischer Hilfen. Erstmalig wurde damit rechtlich ein Diskriminierungsverständnis eingeführt, das die Umwelt und ihre Bedingungen als Bestandteil von Chancengleichheit anerkannte. Für behinderte Menschen, deren Differenz aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung im Vergleich zu anderen Kategorien oft besonders gravierend erscheint, war und ist das Konzept der angemessenen Vorkehrungen daher von enormer Bedeutung. Während beispielsweise rassistische oder sexistische Diskriminierungen oftmals als Einstellungs- und Verhaltensphänomen beschrieben werden können, lässt sich abelistische Diskriminierung erst erkennen, wenn die Barrieren in der Umwelt, die behinderte Menschen exkludieren, nicht als Schicksal qualifiziert werden. 7 Section 504 des Rehabilitation Act führte dazu, dass insbesondere Einrichtungen, die Bundesmittel erhielten, sich in ihren Angeboten auch auf behinderte Nutzer*innen einstellen mussten. Das waren insbesondere Universitäten und andere Bildungseinrichtungen, aber auch Einrichtungen der Bundesverwaltung und der Bundesstaaten. Der ADA von 1990 erweiterte den Anwendungsbereich des Konzepts der angemessenen Vorkehrungen auf den Bereich des Erwerbslebens (Titel I) und den Bereich der Güter und Dienstleistungen für die Allgemeinheit.9 8 Während der ADA bereits in seiner ersten Dekade viel Kritik auf sich zog, die sowohl in öffentlichen Debatten als auch in einer restriktiven Rechtsprechung zum Ausdruck kam und sich als „Backlash against the ADA“ zusammenfassen lässt,10 spielte das Gesetz im internationalen Bereich eine ganz andere Rolle. Für viele Länder erwies sich der ADA als Modellgesetz, dem die Legislative insbesondere im Hinblick auf die Aufnahme behinderter Menschen in das Diskriminierungsschutzrecht folgte.11 Der Begriff „reasonable accommodations“ erwies sich dabei bald als Schlüsselbegriff, der nicht nur in nationale, sondern auch supranationale und internationale Rechtsordnungen Eingang fand. Im Völkerrecht fand der Begriff erstmals Aufnahme im sogenannten soft law. Die 1994 verabschiedete Allgemeine Bemerkung Nr. 5 des UN Fachausschusses zum Sozialpakt12 thematisierte behinderte Menschen und deren Schutz durch den Internationalen Sozialpakt.13 Da behinderte Personen weder ausdrücklich als geschützter Personenkreis im Sozialpakt noch Behinderung in dessen Antidiskriminierungsklausel als Kategorie benannt werden, stellt die Allgemeine Bemerkung Nr. 5 klar, dass behinderte Personen unter den Schutz der Konvention fallen14 und dass die Verweigerung angemessener Vorkehrungen eine Form von Behindertendiskriminierung darstellt.15 9 Sechs Jahre später fand der Terminus Eingang in das Sekundärrecht der Europäischen Gemeinschaft. Mit der Rahmenrichtlinie 2000/78/EG wurde das Konzept der angemesse9 Blanck u. a. (Fn. 8). 10 Krieger, Backlash against the ADA, 2003. 11 Degener, Antidiskriminierungsrechte für Behinderte, ZaöRV 65 (2005), S. 887; Waddington (Fn. 8). 12 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II,
S. 1569. Deutschland hat den Pakt am 17.12.1973 ratifiziert.
13 CESCR, General Comment No. 5: Persons with Disabilities v. 9.12.1994, UN Doc. E/1995/22. 14 CESCR, General Comment No. 5 (Fn. 13), Art. 7. 15 CESCR, General Comment No. 5 (Fn. 13).
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B. Herkunft und Entwicklung des Konzepts
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nen Vorkehrungen Teil des Unionsrechts. Im Gegensatz zur Allgemeinen Bemerkung Nr. 5 des UN Fachausschusses zum Sozialpakt von 1994 führte die Rahmenrichtlinie von 2000 zu einem sprunghaften Anstieg nationaler Gesetzgebungen, mit denen der Begriff in das Antidiskriminierungsrecht aufgenommen wurde, denn die Rahmenrichtlinie verpflichtete die EU-Mitgliedstaaten, ihre Gesetze innerhalb eines bestimmten Zeitraums anzupassen.16 Der Streit um die Einordnung der Verweigerung angemessener Vorkehrungen als (neue) Form der Diskriminierung im EU-Recht kann mit der Aufnahme des Konzepts in das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen nun als beseitigt angesehen werden. Nach Art. 2 UN-BRK umfasst Diskriminierung alle Formen „einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen“. Mit Beitritt der EU zur UN-BRK17 wurde die Konvention zum verbindlichen Bestandteil des EU-Rechts, jedenfalls gem. Art. 216 Abs. 2 AEUV bindend für die EU-Institutionen und ihre Mitgliedsstaaten. Der EuGH hatte bereits 1996 entschieden, dass Völkerrechtsverträge, denen die EU beigetreten ist, in deren Rangordnung unterhalb des Primärrechts und oberhalb des Sekundärrechts angesiedelt sind. Es wurde weiter ausgeführt, dass auslegungsbedürftiges Sekundärrecht möglichst im Einklang mit dem verbindlichen Völkerrechtsvertrag auszulegen ist.18 Der EuGH hat sich nach Inkrafttreten der UN-BRK im EU-Recht mehrfach mit der Auslegung der Rahmenrichtlinie im Sinne der UN-BRK beschäftigt, und dabei deren Verbindlichkeit auch für diese, zeitlich vor der UN-BRK erlassene, Richtlinie betont.19 Allerdings hat das Gericht bislang die Frage, ob die Verweigerung einer angemessenen Vorkehrung als Diskriminierung im Sinne des Art. 2 RRL anzusehen ist, unbeantwortet gelassen. Zudem hat das Gericht 2014 der UN-BRK eine unmittelbare unionsrechtliche Wirkung abgesprochen.20 Eine klarstellende Auslegung des Art. 5 RRL im Sinne der UNBRK und der Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 durch den EuGH in naher Zukunft wäre daher zu befürworten.21 In die Europäische Grundrechtscharta von 2000 (EU GRCh) wurden auch behinderte 10 Personen mit einem eigenen Artikel 26 in das Gleichheitskapitel aufgenommen. Dieser proklamiert einen Integrationsanspruch für behinderte Personen. Im Gegensatz zum Diskriminierungsverbot des Art. 21 EU GRCh enthält diese Norm jedoch keine einklagbaren Rechte.22 Weder in Art. 26 noch in Art. 21 EU GRCh wurde die Figur der angemessenen Vorkehrungen explizit verankert. 16 Waddington (Fn. 8); Ferri/Lawson, Reasonable accommodation for disabled people in employment
contexts, 2016.
17 Die UN-BRK ist der erste Menschenrechtsvertrag im Völkerrecht, der den Beitritt einer supranationa-
len Organisation wie der EU erlaubt (Art. 44 UN-BRK). Die Vorgängerorganisationen der EU unterzeichneten die UN-BRK im Jahr 2007 und seit 2010 ist die EU rechtlich Mitglied-“Staat“. Für einen umfassenden Überblick vgl. Waddington, The European Union, in: Waddington/Lawson (Hrsg.), The UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities in Practice, 2018, S. 131–152. 18 EuGH, Urt. v. 10.9.1996, Rs. C-61/94, Kommission v. Bundesrepublik Deutschland, Rn. 52. 19 Nachweise bei Waddington/Broderick, Combatting disability discrimination and realising equality, 2018, S. 70 ff.; Waddington (Fn. 17). 20 EuGH, Urt. v. 19.3.2014, Rs. C- 363/12, Z, Rn. 90. 21 Diese Empfehlung geben auch Waddington/Broderick (Fn. 19), S. 89. 22 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 26 GRCh Rn. 4. Theresia Degener
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§ 15 Angemessene Vorkehrungen
Sie ist auch im europäischen Völkerrecht weder in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)23 von 1950 noch in der revidierten Sozialcharta (RESC)24 von 1996 ausdrücklich verankert. In der Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als auch in der seiner Schwesterorganisation, des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte (EAsR), gewinnt die Figur jedoch zunehmend an Bedeutung. Das gilt besonders seit der Verabschiedung der UN-BRK. 12 Während der EGMR differenzsensible Maßnahmen zum Menschenrechtsschutz zunächst im Rahmen der Freiheitsrechte erörterte,25 nahm er ab 2009 mit Glor v. Schweiz26 auch explizit den antidiskriminierungsrechtlichen Kontext von behinderungssensiblen Maßnahmen in den Blick. Spätestens 2016 mit der Entscheidung Çam v. Türkei27 wurde sodann die Figur der angemessenen Vorkehrungen als Antidiskriminierungspflicht aus der EMRK im Lichte der UN-BRK abgeleitet.28 13 Der EAsR hat den Gedanken der angemessenen Vorkehrungen erstmalig in einer Entscheidung aus dem Jahr 200329 aufgegriffen, in der es um das Recht auf inklusive gleichberechtigte Bildung behinderter Kinder in Frankreich ging. Seither spielt die Figur der angemessenen Vorkehrungen insbesondere bei der Umsetzung von Art. 15 RESC (Recht behinderter Menschen auf Eigenständigkeit, soziale Eingliederung und Teilhabe am Leben der Gemeinschaft) eine wichtige Rolle.30 14 Unter den europäischen Staaten zeichnet sich insbesondere Großbritannien als Vorreiterland aus. Bereits der 1995 verabschiedete Disability Discrimination Act (DDA) enthielt die Pflicht zur Vornahme angemessener Vorkehrungen für Arbeitgeber mit mehr als 20 Arbeitnehmenden sowie für Servicedienstleistende für Güter und Waren.31 Zwar war der DDA im Vergleich zu dem bereits seit zwei Dekaden existierenden Sex Discrimination 11
23 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.1950, BGBl. 1952 II, S. 686,
in der Fassung der Bekanntmachung v. 22.10.2010, BGBl. 2010 II, S. 1198; zuletzt geändert mit Wirkung zum 1.8.2021 (BGBl. 2021 II, S. 522) durch Protokoll Nr. 15 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 24.6.2013, BGBl. 2014 II, S. 1034. 24 Europäischen Sozialcharta (revidiert) v. 3.5.1996, BGBl. 2020 II, S. 900. 25 Z. B. EGMR, Urt. v. 6.4.2000, Beschwerde-Nr. 34369/97, Thlimmenos v. Griechenland die Freiheit der Religionsausübung (Art. 9 EKMR) betreffend, oder EGMR, Urt. v. 10.7.2001, Beschwerde-Nr. 33394/96, Price v. Vereinigtes Königreich das Recht auf Schutz vor erniedrigender und unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EKMR) durch Unterlassen behinderungssensibler Maßnahmen bei einer Gefangenen betreffend. 26 EGMR, Urt. v. 30.4.2009, Beschwerde-Nr. 13444/04, Gor v. Schweiz das Recht auf Schutz vor Diskriminierung (Art. 14 i. V. m. Art. 8 (Privatsphäre)) im Zusammenhang mit Militärdienst betreffend. 27 EGMR, Urt. v. 23.2.2016, Beschwerde-Nr. 51500/08, Çam v. Türkei das Recht auf Schutz vor behinderungsbedingter Diskriminierung (Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 2 ZP 1 (Bildung)) beim Zugang zu staatlichen Musikhochschulen betreffend. 28 Zur Analyse der Rechtsprechung des EGMR zu angemessenen Vorkehrungen bzw. zur UN-BRK allgemein vgl. Rabe-Rosendahl, Angemessene Vorkehrungen für behinderte Menschen im Arbeitsrecht, 2017, S. 92 ff.; Lewis, Council of Europe, in: Waddington/Lawson (Hrsg.), The UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities in Practice, 2018, S. 89 (106 ff.); Ferri/Broderick, The European Court of Human Rights and the ‚human rights model of disability‘, European Yearbook on Human Rights, 2019, S. 263. 29 EAsR, Entsch. v. 4.11.2003, Beschwerde-Nr. 13/2002, Autism Europe v. Frankreich, Rn. 51. 30 Quinn, The European Social Charter and the EU Anti-Discrimination Law in the Field of Disability, in: de Búrca/de Witte/Ogertschnig (Hrsg.), Social Rights in Europe, 2005, S. 279. 31 Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 249 f. Theresia Degener
C. Dogmatische Einordnung der Figur der angemessenen Vorkehrungen
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Act (SDA, 1975) und dem Race Discrimination Act (RDA, 1976) im Hinblick auf Rechtsdurchsetzung und Anwendungsbereich deutlich schwächer ausgestaltet, aufgrund der EURahmenrichtlinie wurden diesbezüglich jedoch wesentliche Korrekturen vorgenommen. Mit dem Equality Act von 2010 (EA, 2010)32 wurde das britische Antidiskriminierungsgesetz reformiert und harmonisiert, indem die Diskriminierungsverbote für alle geschützten Merkmale in einem Gesetz zusammengefasst wurden. Eine Besonderheit des britischen Behindertengleichstellungsrechts im Hinblick auf angemessene Vorkehrungen ist dessen Bezeichnung und dessen zeitlicher Pflichtenumfang. Die Bezeichnung „reasonable adjustment“ statt „reasonable accommodation“ weist auf den Anpassungscharakter der Pflicht hin. Es geht nun um die Anpassung der Umwelt an die Bedürfnisse/Voraussetzungen des behinderten Menschen, was eine Umkehrung des Rehabilitationsparadigmas impliziert. Zudem gibt es im britischen Behindertengleichstellungsrecht, anders als in anderen Staaten bzw. im EU- und Völkerrecht, eine Pflicht zur antizipatorischen angemessenen Anpassung. Damit ist eine vorausschauende Pflicht zur behindertengerechten Anpassung der Umwelt gemeint, die nicht erst realisiert werden muss, wenn es einen konkreten Bedarf einer behinderten Person gibt.33 Die Pflicht zur antizipatorischen angemessenen Anpassung weist Parallelen zur Pflicht zur Herstellung von Barrierefreiheit auf, wenngleich diese in vielen anderen Ländern in spezifischen Gesetzen (Baurecht, Telekommunikationsrecht, Personenverkehrsrecht) geregelt ist.34 Das britische Antidiskriminierungsrecht in Bezug auf behinderte Menschen ist auch 15 deshalb bemerkenswert, weil es recht früh mit sogenannten Codes of Practice35 seit 2011 detaillierte – rechtlich unverbindliche – Empfehlungen und Hinweise für die Praxis zur Umsetzung des Konzepts der angemessenen Vorkehrungen enthält. Auf diese wird in der juristischen Literatur sowie bei der Erarbeitung von Handreichungen für die Praxis gerne zurückgegriffen.
C. Dogmatische Einordnung der Figur der angemessenen Vorkehrungen Da das Behindertenrecht in der Regel dem Bereich des Sozial- und Rehabilitationsrechts 16 zugeordnet und Behinderung als Lebenslage nach dem medizinischen Modell von Behinderung ausschließlich als Sozialleistungstatbestand qualifiziert wird, verwundert es kaum, dass die Figur der angemessenen Vorkehrungen häufig nicht im Antidiskriminierungskontext verortet wird. Viele Staatenberichte an den UN-BRK Fachausschuss reflektieren diese Haltung, weshalb der UN-BRK Fachausschuss die Staaten regelmäßig ermahnt, das medi32 Dieses gilt mit Ausnahme von Nordirland, in dem nach wie vor der DDA von 1995 in Kraft ist. 33 Eingehend dazu Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 272 f. 34 Auf Barrierefreiheit und deren dogmatische Abgrenzung wird in diesem Beitrag später noch eingegan-
gen, siehe unten Rn. 19 (C. II.).
35 The Equality Act 2010 Codes of Practice (Services, Public Functions and Associations, Employment,
and Equal Pay) Order 2011 v. 17.3.2011, SI 2011/857.
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§ 15 Angemessene Vorkehrungen
zinische Modell von Behinderung durch das menschenrechtliche Modell zu ersetzen.36 Die legislative systematische Verankerung der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen erfolgte in einigen Ländern nicht eindeutig antidiskriminierungsrechtlich,37 auch das erschwert die Aufnahme der Figur in das Antidiskriminierungsrecht. In einigen Rechtsordnungen und Diskursen fällt auf, dass Behinderung nicht als Diskriminierungskategorie anerkannt wird. Die tradierte Vorstellung von Behinderung als tragisches, mit Leid und Unfähigkeit verbundenes persönliches Schicksal scheint die juristische Einordnung als Diskriminierungskategorie zu erschweren. Behinderung als Differenzkategorie wurde als „Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit“38 erst mit der UN-BRK in den verbindlichen Menschenrechtskanon aufgenommen. I. Einordnung in den Antidiskriminierungskontext
Behindertengleichstellungsrecht ist in den meisten Rechtsordnungen asymmetrisch ausgestaltet, d. h., zum personalen Schutzbereich des Antidiskriminierungsrechts gehören nur die Personen, die von Behindertendiskriminierung faktisch betroffen sind. Das können Personen sein, die aktuell behindert sind (z. B. Schwerbehinderte), in der Vergangenheit behindert waren (z. B. Psychiatrie- oder Krebspatient*innen), als behindert angesehen werden (z. B. HIV-Positive), denen eine Behinderung prognostiziert wird (z. B. Personen mit einer spezifischen genetischen Disposition) oder die Angehörige bzw. Partner*innen von behinderten Personen sind. Die Asymmetrie des Behindertengleichstellungsrechts unterscheidet es von anderen Kategorien des Antidiskriminierungsrechts, die in der Regel symmetrisch und (scheinbar) neutral benannt werden (Geschlecht, Ethnie/„Rasse“, Religion, sexuelle Orientierung, Alter, Herkunft …). Einige Stimmen ordnen das Behindertengleichstellungsrecht daher als anti-hierarchisch ein.39 18 Eine weitere, weit umstrittenere Frage ist die Einordnung der Figur der Verweigerung angemessener Vorkehrungen. In den Antidiskriminierungsgesetzen ist die Handlung der Verweigerung angemessener Vorkehrungen nicht immer als Diskriminierungsform aufgeführt.40 Zuweilen gibt es eine Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen, jedoch kein korrespondierendes subjektives Recht der behinderten Person,41 oder die Figur ist als Diskriminierungsverbot aufgenommen, es gibt jedoch keine Pflicht zur Vornahme angemessener Vorkehrungen.42 Eine präzisere dogmatische Einordnung ist daher notwendig, worauf später zurück gekommen wird.43 17
Uldry/Degener, Auf dem Weg zu inklusiver Gleichheit, 2018, S. 23. Vgl. den Überblick bei Degener (Fn. 11); Ferri/Lawson (Fn. 16). Art. 3 lit. d) UN-BRK. Bagenstos, Subordination, Stigma, and „Disability“, Virginia Law Review 86 (2000), S. 397. So fehlt es z. B. im AGG, vgl. dazu das Rechtsgutachten von Eichenhofer, Angemessene Vorkehrungen als Diskriminierungsdimension im Recht, 2018. 41 Z. B. im britischen Antidiskriminierungsrecht vgl. Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 56. 42 Z. B. in Australien dazu Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 56. 43 Unten Rn. 26 (C. III. 26). 36 37 38 39 40
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II. Abgrenzung von Maßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit
Eine angemessene Vorkehrung kann in dem Einbau einer Rampe zur Überwindung phy- 19 sischer Barrieren bestehen; sie kann in der Veränderung der Arbeitszeit oder des Arbeitsorts (Homeoffice) bestehen; auch die Anschaffung einer Software zur Sprachausgabe von Texten, die Bereitstellung von Hilfsmitteln zur Öffnung von Türen oder Bedienung von Arbeitsgeräten oder taktile Orientierungsmaßnahmen auf dem Boden oder auf Hinweisschildern sind Beispiele für mögliche Maßnahmen der angemessenen Vorkehrung. Damit sind sie von Maßnahmen der Barrierefreiheit, wie sie in den meisten Bauordnungen und Regelwerken für Informations- und Kommunikationstechnologie mittlerweile vorgesehen sind, technisch schwierig abzugrenzen. Denn auch bei Maßnahmen der Barrierefreiheit kann es sich z. B. um Rampen, Aufzugslifte, Türöffner, Sprachsoftware, taktile Leitsysteme handeln. Barrierefreiheit ist im deutschen Recht seit 2002 im Behindertengleichstellungsgesetz definiert: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind.“44
Spätestens seit Inkrafttreten der UN-BRK wurden Maßnahmen der Barrierefreiheit (ac- 20 cessibility)45 in den rechtlichen Antidiskriminierungskontext eingeordnet. Zwar sind sie nicht Bestandteil der Definition von Diskriminierung, jedoch widmet die Konvention dem Thema Barrierefreiheit einen eigenständigen Artikel, mit dem die Vertragsstaaten verpflichtet werden, „den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, zu gewährleisten“.46 Während zunächst unklar war, ob diese Norm lediglich ein objektiv-rechtliches Prinzip oder ein subjektives Recht enthält, hat der UNBRK Fachausschuss mittlerweile in mehreren Entscheidungen den subjektiven Rechtscharakter der Norm betont.47 In mehreren Allgemeinen Bemerkungen48 hat der UN-BRK 44 § 4 Satz 1 BGG. 45 Was in der amtlichen deutschen Übersetzung der UN-BRK mit „Zugänglichkeit“ übersetzt wird. Dem-
gegenüber heißt es in der von der Zivilgesellschaft herausgegebenen „Schattenübersetzung“ der UN-BRK „Barrierefreiheit“, vgl. Netzwerk ARTIKEL 3 e. V., Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Schattenübersetzung, 3. Aufl. 2018, Art. 9. Diese Terminologie ist in der Behindertenbewegung wie auch in der Fachöffentlichkeit gebräuchlicher, weshalb auch die Verfasserin diese verwendet. 46 Art. 9 Abs. 1 Satz 1 UN-BRK. 47 Z. B. CRPD, Decision v. 16.4.2013, Communication No. 1/2012, Nyusti and Takács v. Hungary, UN Doc. CRPD/C/9/D/1/2010; CRPD, Decision v. 21.8.2015, Communication No. 21/2014, F. v. Austria, UN Doc. CRPD/C/14/D/21/2014; CRPD, Decision v. 1.4.2016, Communication No. 11/2013, Gemma Beasley v. Australia, UN Doc. CRPD/C/15/D/11/2013; CRPD, Decision v. 16.2.2018, Communication No. 19/2014, Fiona Given v. Australia, UN Doc. CRPD/C/D/19/D/2014. 48 CRPD, General Comment No. 2, Article 9: Accessibility v. 22.5.2014, UN Doc. CRPD/C/GC/2 und Theresia Degener
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Fachausschuss sich auch zur Abgrenzung zwischen Maßnahmen der Barrierefreiheit und der angemessenen Vorkehrungen geäußert. Danach sind Maßnahmen der Barrierefreiheit gruppenbezogen und angemessene Vorkehrungen beziehen sich auf den Einzelfall.49 Erstere werden als „ex ante“- und letztere als „ex nunc“-Pflichten qualifiziert, womit auf den Zeitpunkt der Entstehung der Handlungspflicht rekurriert wird. Barrierefreiheit muss hergestellt werden, bevor eine einzelne behinderte Person die Einrichtung, das Transportoder Kommunikationsmittel oder die Dienstleistung nutzen möchte. Die Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen setzt voraus, dass die verpflichtete Person den Bedarf kennt, d. h. der Anspruch im Einzelfall geltend gemacht wird.50 Später weitete der UN-BRK Fachausschuss die Handlungspflicht bezüglich angemessener Vorkehrungen auf Fälle aus, „in denen ein potenzieller Pflichtträger erkennen kann, dass die betreffende Person eine Behinderung hat, die möglicherweise Anpassungen erfordert, um Barrieren für die Ausübung von Rechten zu beseitigen.“51 21 Die Pflichten zur Barrierefreiheit müssen vorab kollektiv mit den einschlägigen Organisationen der Interessenvertretung (etwa Blinden- oder Gehörlosenverbände) ausgehandelt werden, sie sind sachnotwendig weit und allgemein zu formulieren.52 Demgegenüber erfordern die angemessenen Vorkehrungen ein Aushandeln mit der betreffenden Person, die sie benötigt.53 Für dieses Verfahren der Aushandlung hat der UN-BRK Fachausschuss ebenfalls Empfehlungen entwickelt.54 22 Barrierefreiheit und angemessene Vorkehrungen stehen in einem Wechselverhältnis. Je barrierefreier eine Einrichtung, ein Mobilitäts- oder Kommunikationsmittel oder eine Dienstleistung ist, desto geringer wird der Bedarf an individuellen Vorkehrungen sein. Umgekehrt kann auch eine angemessene Vorkehrung zu einem kollektiven Gut werden, weil sie nicht nur einer einzelnen Person nützt.55 23 Während die Verweigerung angemessener Vorkehrungen in Art. 2 UN-BRK eindeutig als Diskriminierung definiert ist, hat der UN-BRK Fachausschuss die Verletzung von allgemeinen Barrierefreiheitspflichten als mögliche Diskriminierung qualifiziert, indem er den Diskriminierungskontext dieser Situation betont.56 Jedenfalls in zwei Fällen sieht der UN-BRK Fachausschuss auch den Tatbestand der Diskriminierung erfüllt: (1) wenn nicht barrierefreie Dienstleistungen, Waren und Räume in der Öffentlichkeit angeboten wurden, nachdem Barrierefreiheitsgesetze verabschiedet wurden und (2) wenn die Barrierefreiheit
CRPD, General Comment No. 6 on equality and non-discrimination v. 26.4.2018, UN Doc. CRPD/C/ GC/6. 49 CRPD, General Comment No. 2 (Fn. 48), Abs. 25. 50 CRPD, General Comment No. 2 (Fn. 48), Abs. 26. 51 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 24 lit. b) (angepasste automatisierte Übersetzung der Verfasserin aus dem Englischen). 52 CRPD, General Comment No. 2 (Fn. 48), Abs. 25. 53 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 24 lit. b). 54 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 26. 55 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 24 lit. b). 56 CRPD, General Comment No. 2 (Fn. 48), Abs. 29. Theresia Degener
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der Einrichtung oder Dienstleistung zur Zeit ihrer Entstehung mit angemessenen Vorkehrungen hätte hergestellt werden können.57 Neben der UN-BRK haben insbesondere der US-amerikanische Americans with Dis- 24 ability Act und der britische Equality Act 2010 eindeutige Vorgaben für die Verankerung der Rechtsfigur der angemessenen Vorkehrungen im Antidiskriminierungsrecht entwickelt. Hilfreich für die Praxis sind insbesondere die britischen Codes of Practice von der Equality and Human Rights Commission58 sowie die von der US-amerikanischen Equal Employment Opportunity Commission 2002 herausgegebene Enforcement Guidance.59 Dabei ist die Unterscheidung von Maßnahmen der Barrierefreiheit/Zugänglichkeit ins- 25 besondere im Hinblick auf das im britischen Recht bekannte Konzept der antizipatorischen Anpassungen nicht immer einfach. Die Rechtsfigur der antizipatorischen Anpassungen vereinigt Elemente der gruppenbezogenen Barrierefreiheit und der individualbezogenen angemessenen Vorkehrungen. Die Verpflichtung setzt keine konkrete Forderung im Einzelfall voraus, sondern verpflichtet zur vorausschauenden Planung von Barrierefreiheit mit Berücksichtigung individueller Nachteile.60 Der UN-BRK Fachausschuss verhält sich zu dieser Rechtsfigur in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 zögerlich zustimmend. Das ergibt sich aus der ausführlichen Abgrenzung zwischen ex ante Pflichten der kollektiven Barrierefreiheit61 und den ex nunc Pflichten der individuellen Vorkehrungen62 einerseits und der Ausweitung der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen auf Situationen, „in denen ein potenzieller Pflichtträger erkennen kann, dass die betreffende Person eine Behinderung hat, die möglicherweise Anpassungen erfordert“,63 andererseits. III. Einordnung als Diskriminierungsform
Die Einordnung der Figur der Verweigerung der angemessenen Vorkehrungen als dog- 26 matische Diskriminierungsfigur ist seit längerem ein Diskussionsthema im Antidiskriminierungsrecht.64 In einigen Gesetzen bzw. Rechtsordnungen wird sie als unmittelbare,65 in anderen Ländern als mittelbare Diskriminierung66 bzw. als Diskriminierungsform sui generis67 eingestuft. In der rechtswissenschaftlichen Literatur werden verschiedene dog-
57 CRPD, General Comment No. 2 (Fn. 48), Abs. 31. 58 Rabe-Rosendahl (Fn. 28). 59 U. S. Equal Employment Opportunity Commission, Enforcement Guidance on Reasonable Accommo-
dation and Undue Hardship under the ADA v. 17.10.2002, EEOC-CVG-2003–1. Rabe-Rosendahl (Fn. 28). CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 24 lit. a). CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 24 lit. b). CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 24 lit. b). Vgl. bereits Waddington (Fn. 8); Fredman, Disability Equality, in: Lawson/Gooding (Hrsg.), Disability Rights in Europe, 2005, S. 199; Degener (Fn. 11); Lawson, Disability and Equality Law in Britain, 2008. 65 So in Schweden, vgl. Waddington (Fn. 8), S. 741 f. 66 Z. B. Slowakei, vgl. Waddington (Fn. 8), S. 742 ff. 67 Z. B. in den Niederlanden und in Großbritannien, vgl. Waddington (Fn. 8), S. 744. 60 61 62 63 64
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matische Einordnungen diskutiert: als mittelbare Form der Diskriminierung,68 als proaktive/positive Form der Diskriminierung,69 als Diskriminierungsform sui generis70 oder auch als sekundäres Recht im Sinne eines Rechtsmittels gegen Diskriminierung bzw. als Prävention (un)mittelbarer Diskriminierung.71 1. Unmittelbare Diskriminierung? 27 Die Einordnung als Form der direkten Diskriminierung wird häufig aufgrund der fehlen-
den Vergleichssituation nur schwer gelingen. Die Figur der angemessenen Vorkehrungen zielt auf die Herstellung gleicher Bedingungen ab, die es der einzelnen behinderten Person ermöglicht, z. B. im Arbeitsverhältnis gleiche Qualifizierung beweisen zu können. Zudem sind die (gesundheitlichen) Beeinträchtigungen, die Bestandteil einer Behinderung sein können, so divers, dass auch deshalb ein Vergleich mit gleich situierten Personen im Einzelfall schwer zu führen sein wird. Zwar ist ein Vergleich nicht ausgeschlossen, insbesondere wenn das Bild der hypothetischen Vergleichsperson72 ins Feld geführt wird, doch wird direkte Diskriminierung als Ausdruck formaler Gleichheit oft als Differenzierungsverbot verstanden.73 Unter dem Verbot der Ungleichbehandlung auch ein Verbot der Verweigerung angemessener Vorkehrungen zu verstehen, ist jedenfalls nach alltäglichem Sprachgebrauch nur schwer zu begründen. Denn die Gewährung angemessener Vorkehrungen ist ja gerade die Antwort auf die Berücksichtigung von Differenzen. Sie ist daher richtigerweise als „Akkommodierung von Differenz“ bezeichnet worden.74
2. Mittelbare Diskriminierung? 28 Ähnliches gilt im Ergebnis für die Einordnung der Verweigerung angemessener Vorkeh-
rungen als Form der mittelbaren Diskriminierung. Sie lässt sich nicht kohärent begründen. Auch hier kommt es auf die Bildung von Vergleichsgruppen an, die im Ergebnis von der scheinbar neutralen Maßnahme nachteilig bzw. privilegiert betroffen sind. Zwar ist das Verhältnis zwischen mittelbarer Diskriminierung und Verweigerung angemessener Vorkehrungen wesentlich komplexer, da es auch zahlreiche Überschneidungspunkte gibt.75 Beide Figuren zielen jedoch auf die Beseitigung von de facto Ungleichbehandlung ab, nehmen also den Kontext der Situation, in der sich die betreffenden Personen befinden, in den Blick. Beide Figuren nehmen strukturelle Benachteiligungen, die in Gesellschaftssysteme 68 Stein, Angemessene Vorkehrungen am Arbeitsplatz – auch für Fragen der Religion und Weltanschau-
ung?, NZA 2014, S. 1053.
69 So etwa Colker zitiert nach Waddington (Fn. 8), S. 745 ff.; Doyle zitiert nach Lawson (Fn. 64), S. 223;
Schmidt (2001) zitiert nach Schiek, in: dies. (Hrsg.), AGG, 2007, Art. 3 Rn. 80. 70 Waddington (Fn. 8); Lawson (Fn. 64); Schiek (Fn. 69); Rabe-Rosendahl (Fn. 28) Fuerst, Angemessene Vorkehrungen, in: Deinert/Welti (Hrsg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 2. Aufl. 2018, Rn. 1; Mangold (Fn. 1), S. 208. 71 Khaitan, A Theory of Discrimination Law, 2016, S. 78–79. 72 Schiek (Fn. 69), Rn. 11. 73 Dazu → Sacksofsky, § 14 Rn. 22. 74 Mangold im Anschluss an Schiek: Mangold (Fn. 1), S. 203. 75 Ausführlich dazu Lawson (Fn. 64); Rabe-Rosendahl (Fn. 23). Theresia Degener
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eingebettet sind, wahr und enttarnen als objektiv neutral oder naturgegeben markierte Exklusion als Diskriminierung. Ein wesentlicher Unterschied zur Figur der mittelbaren Diskriminierung ist bei dem Verbot der Verweigerung angemessener Vorkehrungen jedoch in dessen Individualbezogenheit zu sehen. Während die Figur der mittelbaren Diskriminierung auf Gruppengerechtigkeit zielt, bezweckt das Verbot der Verweigerung der angemessenen Vorkehrungen die Herstellung individueller Gerechtigkeit. Es geht um die Beseitigung von Nachteilen, die eine behinderte Person nicht als Angehörige einer sozialen Gruppe, sondern als Individuum mit spezifischen Bedingungen erfährt. Insbesondere auch der positive Pflichtcharakter, der dem Verbot angemessener Vorkehrungen inhärent ist, und die Erfassung der (physischen) Barrierefreiheit als ein Ziel76 unterscheiden die Figur von dem Verbot der mittelbaren Diskriminierung. Die Verwandtschaft zwischen mittelbarer Diskriminierung und angemessener Vorkehrung lässt sich am besten damit erklären, dass sich Letztere aus der Ersteren entwickelt hat.77 3. Neue Rechtsfigur des reaktiven Diskriminierungsschutzes
Der fehlende Gruppenbezug, aber auch der mangelnde Verpflichtungscharakter von För- 29 dermaßnahmen sprechen gegen eine Einordnung des Verbots der Verweigerung angemessener Vorkehrungen als positive Diskriminierung. Die Pflicht zur Vornahme angemessener Vorkehrungen wird in der Regel durch einen konkreten Anlass in einem Einzelfall78 ausgelöst. Die Figur enthält eine positive Handlungspflicht, die dennoch reaktiv ist. Anders als angemessene Vorkehrungen ist das Konzept der Barrierefreiheit gruppenbezogen und antizipatorisch ausgerichtet. Es ist deshalb auch richtigerweise als positive Diskriminierungsform bzw. proaktive Fördermaßnahme (im Sinne von affirmative action) einzuordnen, selbst wenn es im Einzelfall eine gesetzliche Pflicht zur Herstellung gibt.79 Die Tatsache, dass sowohl angemessene Vorkehrungen als auch Barrierefreiheit den Abbau von Barrieren bezwecken, sollte jedoch nicht dazu verleiten, diese Figuren als dogmatisch identisch anzusehen. Das Verbot der Verweigerung angemessener Vorkehrungen ist vielmehr als reaktives Diskriminierungsverbot einzuordnen.80 Diese als präventive Antidiskriminierungsmaßnahmen einzustufen, die den Eintritt einer Diskriminierung verhindern,81 ist hingegen weniger überzeugend. Der Tatbestand der Diskriminierung wird erfüllt, wenn angemessene Vorkehrungen, die zumutbar sind, verweigert werden. Ebenso ist der Tat76 Rabe-Rosendahl (Fn. 28). 77 Anna Katharina Mangold weist zurecht darauf hin, dass die enge Verwandtschaft beider Figuren mit-
unter auch dazu führen kann, dass ein Anspruch auf angemessene Vorkehrungen aus dem Verbot mittelbarer Diskriminierung folgen kann, vgl. Mangold (Fn. 1), S. 208. 78 Mit Ausnahme der antizipatorischen Pflicht zur Vornahme angemessener Vorkehrungen, die ein Spezifikum des britischen Rechts ist, vgl. oben Rn. 14 f. (B.). 79 Im Ergebnis auch Rabe-Rosendahl (Fn. 28). 80 Zustimmend z. B. Lawson (Fn. 64), S. 182 f.; Broderick, The Long and Winding Road to Equality and Inclusion for Persons with Disabilities, 2015, S. 119; Mangold (Fn. 1), S. 208; Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 50 f. 81 Kocher/Wenckebach, § 12 AGG als Grundlage für Ansprüche auf angemessene Vorkehrungen, SR 2013, S. 17 (20); Mangold (Fn. 1), S. 207. Theresia Degener
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bestand der direkten Diskriminierung erfüllt, wenn eine ungerechtfertigte Schlechterbehandlung erfolgt, die an eine geschützte Kategorie anknüpft. Beide Verbote zielen letztendlich auf die Prävention von Diskriminierung, einmal durch Unterlassen und das andere Mal durch Tun. Prävention von Diskriminierung ist der Zweck einer jeden Antidiskriminierungsnorm, auch wenn sie als reaktiv eingeordnet wird. Der Anspruch auf angemessene Vorkehrungen ist kein aliud zum Anspruch auf Gleichbehandlung, jedenfalls auf der Basis eines gehaltvollen, materialen Gleichheitsbegriffs (substantive/inclusive equality).82 IV. Theoretische Einordnung 30 Eine theoretische Einordnung der Figur der angemessenen Vorkehrungen ist zum einen
im Hinblick auf die theoretische Zuordnung zum Antidiskriminierungsrecht allgemein, im Gegensatz etwa zum Rehabilitations- bzw. Sozialleistungsrecht, erforderlich. Hier herrscht immer noch viel Unklarheit. Erforderlich ist zum anderen eine Erörterung des basierenden Gleichheitskonzepts, insbesondere im Hinblick auf die bekannten Modelle der formalen, substantiellen bzw. materialen oder der transformativen bzw. inklusiven Gleichheit.
1. Zwischen Rehabilitations- und Antidiskriminierungsrecht 31 Wenn hier von der theoretischen Verortung im Kontext des Diskriminierungs- versus Re-
habilitationsleistungsrechts die Rede ist, soll damit nicht etwa vertreten werden, im Rehabilitations- bzw. weiteren Sozialrecht seien Antidiskriminierungsvorschriften fehlplatziert. Die Legislative hat hier etwa mit § 33 c SGB I längst begrüßenswerte Fakten geschaffen, und selbstverständlich ist der große Bereich der Sozialpolitik und ihrer Praxis nicht frei von Diskriminierungen, denen auch mit Rechtsnormen begegnet werden muss.83 Auch dieses Handbuch basiert auf der Prämisse, dass Antidiskriminierungsrecht sich nicht einem herkömmlichen Sachgebiet der Rechtsordnung zuordnen lässt.84 Deshalb sei vorab klargestellt: Antidiskriminierungsnormen können und sollten in allen Sachgebieten des Rechts zu finden sein. Gleichwohl ist zu unterscheiden zwischen dem Zweck von Sozialleistungen für behinderte Menschen (wie etwa medizinische, bildungsbezogene, berufliche oder soziale Teilhabeleistungen des Rehabilitationsrechts nach SGB IX) und dem Schutz vor behinderungsspezifischer Diskriminierung durch Verweigerung angemessener Vorkehrungen. Der Zweck und die Adressaten der Verpflichtung unterscheiden sich: Verpflichtete für behinderungsspezifische Sozialleistungen sind allein der Staat und seine Leistungsträger. Hingegen können Verpflichtete für angemessene Vorkehrungen sowohl öffentliche als auch private Stellen und Personen sein. Sozialleistungen dienen der distributiven Gerechtigkeit und der Umsetzung des auf 32 gesellschaftlicher Solidarität basierenden Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG). Dem82 Vgl. dazu unter Rn. 34 f. (C. IV. 2) 83 Dern, Sozialrechtliche Gleichstellungs- und Antidiskriminierungskonzeptionen, 2012. 84 Vgl. Kap. 1 des Handbuchs → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 11–13.
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C. Dogmatische Einordnung der Figur der angemessenen Vorkehrungen
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gegenüber bezwecken Antidiskriminierungsrechte als Abwehr- und Schutzrechte die Herstellung kompensatorischer und restitutiver Gerechtigkeit. Sozialleistungen für behinderte Menschen werden geleistet, weil die gesundheitliche Beeinträchtigung als Nachteil, aber nicht als Unrechtstatbestand85 gesehen wird. Die Verweigerung angemessener Vorkehrungen ist verboten, weil diese Haltung als diskriminierendes Unrecht qualifiziert wird. Hierin liegt zugleich der innovative Sprung des Antidiskriminierungsrechts: Behinderung darf in diesen Situationen nicht (mehr) als individuelles Schicksal mit naturgegebenen exkludierenden Folgen für die Betroffenen aufgefasst werden. Die Pflicht zur angemessenen Berücksichtigung der Differenz Behinderung basiert auf der Anwendung der gleichen fundamentalen Rechtsprinzipien für behinderte Personen, die allem Antidiskriminierungsrecht inhärent ist: Würde, Freiheit und Gleichheit.86 Nicht selten stehen wohlfahrtsstaatliche Sozialleistungsansprüche zu Diskriminierungsschutzvorschriften in einem Spannungsverhältnis. Während Anspruchsnormen im Behindertensozialrecht oft an die Kategorie Behinderung anknüpfen (z. B. § 99 SGB IX), sind Diskriminierungsschutznormen nicht selten als (negative) Anknüpfungsverbote formuliert (z. B. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG). Während Wohlfahrtsleistungen für behinderte Personen oft als Ausgleich für Unfähigkeiten (z. B. Erwerbsunfähigkeit) gewährt werden, setzen Antidiskriminierungsnormen gleiche Leistungsfähigkeit als Qualifikation oft voraus. Dieses Spannungsverhältnis zwischen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und Antidiskriminierungsschutz kennzeichnet das moderne Behindertenrecht. Die Implikationen für den modernen Sozialstaat bzw. für modernes Antidiskriminierungsrecht werden seit geraumer Zeit diskutiert.87 Diese Debatte ist aber zu trennen von der Frage, ob angemessene Vorkehrungen im Wohlfahrts- oder Antidiskriminierungskontext zu verorten sind. Der Anspruch auf angemessene Vorkehrungen wird insbesondere im deutschen Rechts- 33 kreis nicht selten als Sozialleistung missverstanden. Das mag daran liegen, dass die deutsche Rechtsordnung in Europa zu den wenigen Ausnahmen gehört, in der die Figur noch wenig bekannt ist. Außerdem befand sich bis 2016 der Begriff der angemessenen Vorkehrungen nur im Schwerbehindertenrecht,88 das dem Sachgebiet des Rehabilitationsrechts zugeordnet wird. Danach hat der Arbeitgeber der schwerbehinderten Person im Rahmen der Pflicht zur Bereitstellung eines behindertengerechten Arbeitsplatzes auch angemessene Vorkehrungen zu gewähren. Über den antidiskriminierungs-rechtlichen Charakter dieser Norm gibt es unterschiedliche Meinungen. Während einige hierin eine Antidiskriminierungsschutzvorschrift im Sinne der Umsetzung der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien sehen, problematisieren andere den fehlenden Antidiskriminierungskontext. Im Herzstück des deutschen Antidiskriminierungsrechts, des Allgemeinen Gleichbehand85 Wenngleich die Einordnung der Verursachung von Behinderung durch Krieg, Straftat, Impfschaden
o. ä. als „Sonderopfer“ in der versorgungsrechtlichen Säule unseres Sozialleistungssystems dies nahelegt.
86 Vgl. → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 1; → Hong, § 2 Rn. 1. 87 Ausführlich dazu Fuerst, Behinderung zwischen Diskriminierungsschutz und Rehabilitationsrecht,
2009.
88 § 81 SGB IX und dessen Vorläufer im Schwerbehindertengesetz (SchwbG), vgl. dazu die Ausführungen
unter Rn. 57 ff. (G.).
Theresia Degener
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§ 15 Angemessene Vorkehrungen
lungsgesetzes (AGG)89, fehlt die Figur allerdings bis heute (2022). Erst mit der Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes im Jahre 2016 wurde die Figur explizit ins deutsche Antidiskriminierungsrecht aufgenommen. Seither gilt im Kontext des Diskriminierungsverbots für die Bundesverwaltung die Verweigerung angemessener Vorkehrungen als Benachteiligung in § 7 Abs. 2 BGG. 2. Zugrundeliegendes Gleichheitskonzept 34 Mit einem formalen Gleichheitskonzept ist die Figur der angemessenen Vorkehrungen im
Antidiskriminierungsrecht nur schwer zu begründen. Sie verlangt gerade nicht die formale Gleichbehandlung gleich Situierter, sondern die respektvolle Berücksichtigung von Differenzen, die im gesellschaftlichen Zusammenleben eine Rolle spielen. Angemessene Vorkehrungen sind daher zugleich eine Absage an Assimilation in hierarchischen Kontexten als Voraussetzung für Gleichheitsansprüche. Eine gehörlose Bewerberin darf nicht erst dann ihr Recht auf gleichberechtigte Berücksichtigung im Bewerbungsverfahren geltend machen, wenn sie so gut Lippen lesen kann, dass Gebärdendolmetscher*innen oder andere Kommunikationsmodi entbehrlich sind. Ist sie darüber hinaus aktiv muslimisch religiös, darf von ihr nicht verlangt werden, dass sie diesen Teil ihrer Identität negiert, bevor sie eine gleiche Chance auf die Stelle bekommt. In der feministischen Rechtstheorie wurde dem formalen Gleichheitsmodell das substantielle bzw. materiale Gleichheitskonzept gegenübergestellt, um auch mittelbare, strukturelle und andere subtilere Formen der Diskriminierung zu erfassen sowie Dominanzverhältnisse in den Blick zu nehmen.90 Die Figur der angemessenen Vorkehrungen lässt sich in dieses materiale Gleichheitskonzept gut einordnen, denn mit ihr geht es darum, Raum für die Anerkennung von menschlichen Differenzen zu schaffen und einen Ausweg aus dem „Dilemma der Differenz“ zu finden. Als Dilemma der Differenz bezeichnete Martha Minow bereits 1990 das Dilemma des US-amerikanischen Antidiskriminierungsrechts91: Menschen können Diskriminierung erfahren, weil ihre Differenz berücksichtigt wird (z. B. Apartheids-Rassismus), und sie können Diskriminierung erfahren, weil ihre Differenz nicht berücksichtigt wird (z. B. Assimilations-Rassismus). 35 Der UN-BRK Fachausschuss führt in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 ein weiteres Gleichheitskonzept ein, das über substantielle bzw. materiale Gleichheit hinausgeht und sich stark an dem von Sandra Fredman geprägten Konzept der transformativen Gleichheit orientiert.92 Das als „inclusive equality“ neu in das Völkerrecht eingeführte Gleichheitskonzept wird beschrieben als „new model of equality developed throughout the Conventi89 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer
Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897.
90 Grundlegend dazu Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996; Baer, Würde
oder Gleichheit?, 1995; Mangold (Fn. 1), S. 5 ff.; Oddný Mjöll, A Future of Multidimensional Disadvantage Equality?, in: ders./Quinn (Hrsg.), The UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities, 2009, S. 41 (44 ff.). 91 Minow, Making All the Difference, 1990. 92 Fredman u. a., Achieving Transformative Equality for Persons with Disabilities, 2017; Degener (Fn. 3), S. 493. Theresia Degener
D. Zum Begriff der angemessenen Vorkehrungen in der Spruchpraxis zur UN-BRK
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on. It embraces a substantive model of equality and extends and elaborates on the content of equality in: (a) a fair redistributive dimension to address socioeconomic disadvantages; (b) a recognition dimension to combat stigma, stereotyping, prejudice and violence and to recognize the dignity of human beings and their intersectionality; (c) a participative dimension to reaffirm the social nature of people as members of social groups and the full recognition of humanity through inclusion in society; and (d) an accommodating dimension to make space for difference as a matter of human dignity.“93 Mit diesen vier Dimensionen inklusiver Gleichheit lassen sich modernes Antidiskriminierungs- und Sozialrecht möglicherweise besser vereinbaren. Die Figur der angemessenen Vorkehrungen ist sowohl in der zweiten als auch in der vierten Dimension verankert.94
D. Zum Begriff der angemessenen Vorkehrungen in der Spruchpraxis zur UN-BRK I. Bedeutung
Über die Bedeutung des Begriffs der angemessenen Vorkehrungen gibt es unterschiedliche 36 Auffassungen. Diese sind jedenfalls teilweise auf historische und kulturelle Gründe zurückzuführen, da der Begriff zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Rechtsordnungen und diversen Sachgebieten eingeführt und ausgelegt wurde. Dabei kommt es nicht selten zu Missverständnissen. So wird der englische Begriff „accommodation“ zuweilen mit „Unterkunft“ oder „Behausung“ übersetzt, statt den Begriff im Kontext von Anpassungsmaßnahmen anzusiedeln. Auch die Grenzen des Vorkehrungsgebots werden in den verschiedenen Rechtsordnungen und in der rechtswissenschaftlichen Literatur unterschiedlich ausgelotet. Während einige Stimmen im Begriff „angemessen“ die entscheidende Grenze für die Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen sehen, siedeln andere diese erst in der konjunktiven Qualifizierung an: soweit sie „keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung“ (Art. 2 UN-BRK) darstellen. Eine Definition der angemessenen Vorkehrungen findet sich in Art. 2 der UN-BRK: 37 „[A]ngemessene Vorkehrungen [sind] notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können (…)“. Der Begriff selbst taucht an verschiedenen Stellen des Vertragstextes wiederkehrend auf, so als Bestandteil der Definition von Diskriminierung (Art. 2 UN-BRK), im Kontext vom Recht auf Bildung und Recht auf Arbeit (Art. 24, 27 UN-BRK), im Zusammenhang der Freiheitsrechte (Art. 14 UN-BRK) oder beim Zugang zur Justiz (Art. 13 UN-BRK)95. 93 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 11. 94 Degener (Fn. 3), S. 494. 95 Allerdings hier ohne die Beschränkung auf „angemessene Vorkehrungen“.
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§ 15 Angemessene Vorkehrungen
Der UN-BRK Fachausschuss hat in seiner ersten Dekade (2008–2018) in seiner Rechtsprechung in sieben Entscheidungen den Begriff der angemessenen Vorkehrungen interpretiert.96 In der Entscheidung Nyusti and Takács v. Hungary97 ging es um die Zugänglichkeit von Bankautomaten für blinde Personen. Die Beschwerdeführer machten geltend, in ihren Konventionsrechten durch eine nationale Gerichtsentscheidung verletzt worden zu sein. Das Gericht hatte ein ungarisches Bankunternehmen zwar verurteilt, die Geldautomaten in ihrer unmittelbaren Wohnumgebung barrierefrei anzupassen, nicht jedoch alle vom Bankunternehmen betriebenen Geldautomaten in Ungarn. Darin sahen die Beschwerdeführer eine Diskriminierung und eine Verletzung ihres Rechts auf Freizügigkeit. Der Fall gab dem UN-BRK Fachausschuss die Gelegenheit, den Unterschied zwischen individualbezogenen angemessenen Vorkehrungen und gruppenbezogenen Maßnahmen der Barrierefreiheit zu erörtern. Während die Anpassung der Automaten in der unmittelbaren Wohnumgebung eine angemessene Vorkehrung sei, ziele das Begehren der umfänglichen Barrierefreiheit aller Geldautomaten des Bankunternehmens auf Barrierefreiheit im Sinne des Art. 9 UN-BRK. Der UN-BRK Fachausschuss sah die Beschwerde als begründet an, weil es der ungarische Staat versäumt habe, durch gesetzliche Maßnahmen die Barrierefreiheit privatrechtlicher Bankdienstleistungen sicherzustellen. 39 Im Fall Jüngelin v. Sweden98 hatte eine sehbehinderte Schwedin sich bei einer Sozialversicherungsbehörde als Sachbearbeiterin beworben. Sie war abgelehnt worden, weil die Arbeit auch die Auswertung handgeschriebener Dokumente beinhaltete und die Grenze der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen als überschritten angesehen wurde. Die Computersysteme könnten nicht angepasst werden und die Kosten für eine Vorlesekraft seien über die Maßen hoch. Der UN-BRK Fachausschuss lehnte die Beschwerde als unbegründet ab und betonte, dass den Mitgliedstaaten ein Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) bei der Auslegung der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen zukäme. Die Entscheidung wurde von sechs Ausschussmitgliedern, die eine Vertragsverletzung erkannten, mit Minderheitsvoten ergänzt. Der Fall gab dem UN-BRK Fachausschuss die Gelegenheit, sich mit den Kriterien für die Angemessenheit einer Vorkehrung auseinanderzusetzen. Die Mehrheit der Ausschussmitglieder folgte dem schwedischen Antidiskriminierungsgesetz, das folgende zu berücksichtigende Kriterien vorsah: 1) Kosten der Maßnahme im Verhältnis zur Finanzierbarkeit durch den*die Arbeitgeber*in; 2) die tatsächliche Umsetzbarkeit der Vorkehrung und die voraussichtliche Auswirkung der Vorkehrung auf den behinderten Menschen; 3) die Umsetzbarkeit am konkreten Arbeitsplatz; 4) der Einfluss der Vorkehrung auf die Fähigkeit des behinderten Menschen, die Tätigkeit auszuführen und 5) die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses. Eine Minderheit der Ausschussmitglieder sah aber auch zwei weitere, von der Beschwerdeführerin angeführte Kriterien als relevant an: 6) die positiven Auswirkungen auf zukünftige behinderte Beschäftigte und 7) die besondere 38
96 Eine Übersicht findet sich in Uldry/Degener (Fn. 36). 97 CRPD, Decision v. 16.4.2013, Communication No. 1/2012, Nyusti and Takács v. Hungary, UN Doc.
CRPD/C/9/D/1/2010.
98 CRPD, Decision v. 2.10.2014, Communication No. 5/2011, Jungelin v. Sweden, UN Doc. CRPD/C/
12/D/5/2011.
Theresia Degener
D. Zum Begriff der angemessenen Vorkehrungen in der Spruchpraxis zur UN-BRK
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Rolle der Sozialversicherungsbehörde als staatlicher Arbeitgeber und die Möglichkeit der finanziellen Unterstützung durch den Staat.99 Außerdem hat sich der UN-BRK Fachausschuss mit dem Begriff der angemessenen 40 Vorkehrungen in mehreren Allgemeinen Bemerkungen beschäftigt. In der Allgemeinen Bemerkung Nr. 2 zu Art. 9 UN-BRK (Zugänglichkeit/Barrierefreiheit) werden die individualbezogenen angemessenen Vorkehrungen von den gruppenbezogenen Barrierefreiheitspflichten abgegrenzt.100 Die Allgemeine Bemerkung Nr. 4 zu Art. 24 UN-BRK erläutert die Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen im Kontext des Rechts auf inklusive Bildung.101 Eine ausführliche Interpretation liefert die Allgemeine Bemerkung Nr. 6 zu Art. 5 UN-BRK (Nichtdiskriminierung und Gleichheit).102 Als Beispiele für angemessene Vorkehrungen werden dort genannt: „die Herstellung von Barrierefreiheit von Einrichtungen und Informationen für Personen mit Behinderungen; Ausrüstungen modifizieren; Reorganisation von Aktivitäten; Umplanung von Arbeiten; Lernmaterialien und Lehrstrategien anpassen; medizinische Verfahren anpassen; oder den Zugang zu Unterstützungspersonal ohne unverhältnismäßige oder übermäßige Belastung zu ermöglichen.“103 Ausführlich nimmt der UN-BRK Fachausschuss zu den Adjektiven „angemessen“ sowie 41 „unverhältnismäßig“ bzw. „unbillig“ Stellung. Es lassen sich mindestens zwei unterschiedliche Interpretationen ausmachen. Erstens kann der Begriff „angemessen“ als Grenze der Vorkehrungspflicht verstanden werden, sodass Schwierigkeiten finanzieller oder anderer Art, die mit der Vorkehrung/Anpassung verbunden sind, diese zu einer unangemessenen Forderung werden lassen können. Dies kann dann als zusätzliche Begrenzung des Anspruchs verstanden werden, zusätzlich zu der Anforderung, dass die Vorkehrung nicht mit unverhältnismäßigen und übermäßigen Belastungen für die*den Verpflichtete*n (Proportionalitätspflicht) verbunden ist. Angemessenheit kann zweitens als sachliche Qualifizierung der Vorkehrung im Sinne ihrer sachlichen Geeignetheit im Einzelfall angesehen werden. In diesem Fall wäre die Kostenfrage lediglich eine Frage des Proportionalitätstestes. In einigen europäischen Staaten wird die erste Auffassung vertreten (so z. B. in Finnland), in anderen die zweite (z. B. in den Niederlanden)104 schließlich gibt es Rechtsordnungen (USA, UK, EU), in denen beide Interpretationen – oft inkonsistent – in Rechtsprechung oder Ausführungsvorschriften zur Anwendung kommen.105 Der UN-BRK Fachausschuss empfiehlt eine klare Trennung zwischen sachlicher Qualifikation (Angemessenheit) und Begrenzung der Vorkehrungspflicht (Proportionalitätstest): „‚Angemessene Vorkehrungen‘ ist ein Gesamtbegriff und ‚angemessen‘ sollte nicht als Ausnahmeklausel missver99 CRPD, Decision v. 2.10.2014, Communication No. 5/2011, Jungelin v. Sweden, UN Doc. CRPD/C/
12/D/5/2011, Sondervotum Abs. 5 f.
100 CRPD, General Comment No. 2 (Fn. 48), Abs. 25. 101 CRPD, General Comment No. 4 on the right to inclusive education v. 25.11.2016, UN Doc. CRPD/C/
GC/4, Abs. 28 ff.
102 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 23 ff. 103 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 23 (angepasste automatisierte Übersetzung der Ver-
fasserin aus dem Englischen).
104 Waddington (Fn. 8). 105 Rabe-Rosendahl (Fn. 28); Blanck u. a. (Fn. 8).
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§ 15 Angemessene Vorkehrungen
standen werden. Das Konzept der ‚Angemessenheit‘ […] ist kein Maßstab, mit dem die Kosten für die Vorkehrung oder die Verfügbarkeit von Ressourcen beurteilt werden können – dies geschieht zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Beurteilung der ‚unverhältnismäßigen oder übermäßigen Belastung‘ vorgenommen wird. Die Angemessenheit einer Vorkehrung ist vielmehr ein Hinweis auf ihre Relevanz, Angemessenheit und Wirksamkeit für die Person mit einer Behinderung. Eine Vorkehrung ist daher angemessen, wenn sie den Zweck (oder die Zwecke) erfüllt, für den/die sie gemacht wird, und auf die Bedürfnisse der behinderten Person zugeschnitten ist; […] ‚Unverhältnismäßige oder unbillige Belastung‘ sollte als einheitlicher Begriff verstanden werden, der die Grenze der Pflicht zur Bereitstellung angemessener Vorkehrungen festlegt. Beide Begriffe sollten als Synonyme angesehen werden, da sie sich auf den gleichen Gedanken beziehen: Der Antrag/Anspruch auf angemessene Vorkehrungen wird durch eine mögliche übermäßige oder ungerechtfertigte Belastung der verpflichteten Partei begrenzt.“106 Abzugrenzen sei der Begriff der angemessenen Vorkehrungen auch von den „besonderen Maßnahmen“ im Sinne des Art. 5 Abs. 5, Unterstützungsmaßnahmen im Sinne von Art. 19 (Selbstbestimmt Leben) bzw. Art. 12 UN-BRK (gleiche Anerkennung vor dem Recht) und den Verfahrensanpassungen im Sinne des Art. 13 UN-BRK (Zugang zur Justiz). Besondere Maßnahmen im Sinne des Art. 5 Abs. 5 sieht der UN-BRK Fachausschuss als klassische positive Maßnahmen, um historischen und systemischen Diskriminierungen entgegenzuwirken. Dagegen seien angemessene Vorkehrungen „Nichtdiskriminierungspflichten“.107 Während Unterstützungsmaßnahmen nicht weiter abgegrenzt werden, wird darauf hingewiesen, dass Verfahrensanpassungen im Sinne des Art. 13 UN-BRK keine Belastungsgrenze haben.108 II. Verpflichtungsgehalt und Verfahren 42 Der Einzelfallcharakter der Pflicht zur Vornahme einer angemessenen Vorkehrung offen-
bart sich auch in den mit ihr verbundenen Verfahrenspflichten, die Konsultationen und Mitteilungen betreffen. Diese sind in den meisten Rechtsordnungen nicht explizit festgelegt, sondern wurden durch die Rechtsprechung entwickelt. Dazu gehören Konsultationen über die Art und Weise der gewünschten Vorkehrung mit der behinderten Person sowie die Einbeziehung Dritter, wie etwa betriebliche Gremien oder medizinische Expert*innen.109 Jedoch herrscht hier im Detail viel Unsicherheit. Angesichts dessen hat der UN-BRK Fachausschuss in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 ein Verfahren mit sieben Schlüsselkomponenten empfohlen. Danach sind erstens Barrieren im Dialog mit der betreffenden behinderten Person zu identifizieren; zweitens die tatsächliche und recht-
106 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 25 lit. a) und b) (angepasste automatisierte Übersetzung der Verfasserin aus dem Englischen). 107 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 25 lit. c) (angepasste automatisierte Übersetzung der Verfasserin aus dem Englischen). 108 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 25 lit. c) und d) (angepasste automatisierte Übersetzung der Verfasserin aus dem Englischen). 109 Eine Übersicht geben Ferri/Lawson (Fn. 16), S. 78 ff.
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D. Zum Begriff der angemessenen Vorkehrungen in der Spruchpraxis zur UN-BRK
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liche Durchführbarkeit der Vorkehrung zur Beseitigung dieser Barrieren einzuschätzen; drittens ist die Relevanz und Effektivität der Maßnahme zu bewerten; viertens die Verhältnismäßigkeit der Vorkehrung im Hinblick auf die Belastung der*des Verpflichteten zu beurteilen; fünftens die Verhältnismäßigkeit der Vorkehrung im Hinblick auf das zu erreichende Ziel (Gleichberechtigung) zu überprüfen; sechstens sicherzustellen, dass die behinderte Person nicht die Kosten der Maßnahme zu tragen hat; und siebtens zu gewährleisten, dass die Beweislast für die Unverhältnismäßigkeit der Vorkehrung bei der verpflichteten Person liegt, die sich hierauf beruft.110 Detaillierte Vorgaben entwickelte der UN-BRK Fachausschuss in seiner Allgemeinen 43 Bemerkung Nr. 6. Als ex nunc Pflicht müssten angemessene Vorkehrungen in Abgrenzung zu Maßnahmen der Barrierefreiheit getroffen werden, „sobald eine Person mit einer Behinderung Zugang zu einer nicht zugänglichen Situation oder Umgebung benötigt oder ihre Rechte ausüben möchte. […] Bei der Verpflichtung zur Bereitstellung angemessener Vorkehrungen handelt es sich um eine individualisierte Reaktionspflicht, die ab dem Zeitpunkt gilt, an dem eine Anfrage auf Vorkehrung eingeht.“111 Gleichwohl sei die Pflicht nicht auf Situationen beschränkt, in denen behinderte Personen um eine Vorkehrung bitten oder der*dem Verpflichteten tatsächlich bekannt ist, dass eine Behinderung vorliegt. Der UN-BRK Fachausschuss will die Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen auch auf die Situation ausweiten, „in denen ein potentieller Pflichtträger erkennen kann, dass die betreffende Person eine Behinderung hat, die möglicherweise Anpassung erfordert, um Barrieren für die Ausübung von Rechten zu beseitigen.“112 Strukturelle Vorgaben finden sich in Leitlinien, die der UN-BRK Fachausschuss im 44 Hinblick auf die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen formuliert. Dazu gehören die Ermittlung von Barrieren, die beseitigt werden müssen; die Beurteilung, ob eine Vorkehrung machbar und relevant ist; die Einschätzung, ob die Vorkehrung mit unverhältnismäßigen oder übermäßigen Belastungen verbunden ist; die Gewährleistung, dass angemessene Vorkehrungen am Ziel der Förderung der Gleichstellung orientiert sind; sowie die Sicherstellung, dass behinderte Menschen weder die Kosten der Vorkehrung noch die Beweislast für mögliche Belastungen tragen.113 Mit diesen Vorgaben aus der Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 reagiert der UN-BRK Fach- 45 ausschuss auf unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich des Inhalts und der Grenzen angemessener Vorkehrungen in den verschiedenen Rechtsordnungen.114
110 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 26 lit. a) bis g). 111 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 24 lit. b) (angepasste automatisierte Übersetzung der
Verfasserin aus dem Englischen).
112 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 24 lit. b) (angepasste automatisierte Übersetzung der
Verfasserin aus dem Englischen).
113 CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 26 (angepasste automatisierte Übersetzung der Ver-
fasserin aus dem Englischen).
114 Vgl. dazu oben Rn. 41 (D. I.).
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§ 15 Angemessene Vorkehrungen
E. Sachlicher und personaler Anwendungsbereich I. Sachlicher Anwendungsbereich 46 In sachlicher Hinsicht findet die Figur der angemessenen Vorkehrungen überwiegend
im Bereich des arbeitsrechtlichen Antidiskriminierungsrechts Anwendung. Hier ist sie in legislativer wie judikativer Hinsicht am weitesten entwickelt. Dieser Befund entspricht dem Status des Antidiskriminierungsrechts, das sich seit jeher bereichsspezifisch besonders stark im Arbeitsrecht entwickelte.115 Für das europäische Antidiskriminierungsrecht maßgeblich ist auch, dass die Figur der angemessenen Vorkehrungen lediglich in der EURahmenrichtlinie 2000/78/EG verankert ist und damit die EU-Mitgliedstaaten lediglich verpflichtet sind, entsprechende Antidiskriminierungsnormen für das Berufs- und Erwerbsleben zu erlassen. 47 Eine 2016 veröffentlichte vergleichende Studie über 31 europäische Staaten (28 EUMitgliedstaaten plus Liechtenstein, Island und Norwegen) kommt zu dem Schluss, dass in fast allen Ländern angemessene Vorkehrungen als Antidiskriminierungspflichten im öffentlichen und privaten Erwerbssektor – einschließlich beruflicher Bildung – vorgesehen sind.116 Nur in einigen Ländern werden auch Selbständigkeit und unbezahlte Erwerbsarbeit einbezogen, während der militärische Erwerbssektor in der Regel vom Anwendungsbereich ausgeschlossen ist.117 In einigen (wenigen) Staaten wird die Pflicht zur Vornahme angemessener Vorkehrungen durch Vorschriften zur Barrierefreiheit am Arbeitsplatz bzw. im Erwerbssektor flankiert.118 Die Studie unterstreicht die Interdependenz von Barrierefreiheit und angemessenen Vorkehrungen, wenn darauf verwiesen wird, dass die Pflicht zur Vornahme angemessener Vorkehrungen sich für Arbeitgebende verringert, wenn Arbeitsplätze von vorneherein barrierefrei gestaltet werden.119 In den meisten Ländern stehen staatliche Subventionen für angemessene Vorkehrungen im Erwerbsleben zur Verfügung.120 48 Seit 2008 wird eine Erweiterung auf andere Lebensbereiche diskutiert, jedoch kam eine entsprechende sekundärrechtliche EU-Richtlinie über das Entwurfsstadium bisher nicht hinaus.121 Weitere bisher anerkannte sachliche Anwendungsbereiche sind der Bildungssektor122 sowie der Bereich der Güter und Dienstleistungen für die Allgemeinheit123 oder öffentliche Plätze und Anlagen.124 Eine 2016 veröffentlichte vergleichende Vgl. → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 18. Ferri/Lawson (Fn. 16), S. 9. Ferri/Lawson (Fn. 16), S. 9. Ferri/Lawson (Fn. 16), S. 12. Ferri/Lawson (Fn. 16), S. 109. Ferri/Lawson (Fn. 16), S. 11. Degener, The impact of the UNCRPD on EU Anti-Discrimination Law, in: Giegerich (Hrsg.), The European Union as Protector and Promoter of Equality, 2020, S. 349 ff. 122 So z. B. UK, USA, Australien, Kanada, Irland, vgl. Degener (Fn. 11); Quinlivan, Reasonable Accommodation in Education, The Irish Community Development Law Journal 4 (2015), S. 16; Broderick/Ferri, International and European Disability Law and Policy, 2019. 123 Z. B. in UK und USA, vgl. Waddington (Fn. 8); Blanck u. a. (Fn. 8). 124 Z. B. in den USA, vgl. Blanck u. a. (Fn. 8). 115 116 117 118 119 120 121
Theresia Degener
E. Sachlicher und personaler Anwendungsbereich
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Untersuchung für 28 EU-Mitgliedstaaten über angemessene Vorkehrungen für behinderte Menschen außerhalb von Beruf und Beschäftigung belegt, dass viele EU-Mitgliedstaaten entsprechende Rechtspflichten in drei Lebensbereichen vorsehen: 1. Bildung, 2. Güter und Dienstleistungen für die Allgemeinheit sowie 3. Sozialschutz (insbesondere Gesundheitsleistungen und sozialer Wohnraum).125 Von den 28 untersuchten EU-Mitgliedstaaten haben 13 Staaten explizit angemessene Vorkehrungen in Antidiskriminierungsgesetzen mit sachlichem Anwendungsbereich in einem oder allen diesen Lebensbereichen verabschiedet. Elf weitere EU-Mitgliedstaaten haben implizite Pflichten zur Vornahme angemessener Vorkehrungen in diesen Bereichen und nur vier EU-Mitgliedstaaten begrenzen die Figur der angemessenen Vorkehrungen einzig auf den Erwerbsbereich. Im Gegensatz dazu stehen Kroatien, Spanien und Zypern, deren Rechtsordnungen einen extrem weiten Anwendungsbereich – etwa alle Menschenrechte – für angemessene Vorkehrungen vorsehen.126 Dies steht im Einklang mit der UN-BRK, die die Figur der angemessenen Vorkehrungen explizit auf die Lebensbereiche Bildung,127 Arbeit128 und Freiheitsentziehung129 erstreckt und implizit über die Formel „gleichberechtigt mit anderen“ auf alle Menschenrechte anwendet. II. Persönlicher Anwendungsbereich
Der persönliche Anwendungsbereich der Figur der angemessenen Vorkehrungen erstreckt 49 sich in den meisten Rechtsordnungen auf behinderte Menschen. Eine Ausnahme stellt Kanada dar, wo die Figur auf alle Diskriminierungskategorien Anwendung findet.130 In den USA und einigen EU-Ländern (z. B. Bulgarien und Spanien) können angemessene Vorkehrungen auch von Angehörigen religiöser Minderheiten eingefordert werden; nach dem französischen Arbeitsrecht auch von Familienangehörigen.131 Während die Ausweitung auf andere geschützte Kategorien zunehmend Befürwortung findet,132 hat sich bislang eine Dogmatik überwiegend für die Kategorie Behinderung entwickelt.133 Die Kategorie Behinderung wird im Antidiskriminierungsrecht oft weiter gefasst als im 50 Sozialrecht. In den USA134 sowie im europäischen und internationalen Recht werden nicht nur Personen mit einer gegenwärtigen Behinderung gegen Diskriminierung geschützt, sondern auch jene mit einer vergangenen, einer zukünftigen oder einer zugeschriebenen Behinderung. Auch (Familien-) Angehörige können unter die geschützte Kategorie falWaddington/Broderick, Disability law and reasonable accommodation beyond employment, 2016. Waddington/Broderick (Fn. 125), S. 12. Art. 24 Abs. 2 und 5 UN-BRK. Art. 27 Abs. 1 lit. i) UN-BRK. Art. 14 Abs. 2 UN-BRK. Stein (Fn. 68), S. 1055. Waddington (Fn. 8), S. 679 ff. Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 55, 494 jeweils m. w. N. Für die Kategorie Religion bzw. Weltanschauung vgl. Bielefeldt/Ghanea-Hercock/Wiener, Freedom of Religion or Belief, 2016, S. 324. 134 Vgl. Blanck u. a. (Fn. 8).
125 126 127 128 129 130 131 132 133
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§ 15 Angemessene Vorkehrungen
len.135 Dieses weite Verständnis gilt allerdings nicht für den Anwendungsbereich der Figur der angemessenen Vorkehrungen. Diese ist auf den Personenkreis der gegenwärtig behinderten Personen und ausnahmsweise auf ihre Angehörigen beschränkt. Eine deutsche Besonderheit ist die Begrenzung auf schwerbehinderte Personen im Arbeitsrecht.136 51 Eine weitere Qualifikation im Hinblick auf den personalen Schutzbereich kann sich aus dem sachlichen Kontext ergeben. Im Arbeitsrecht wird etwa regelmäßig erwartet, dass die behinderte Person gleichermaßen qualifiziert ist. Die angemessene Vorkehrung hat hier die Funktion, behinderungsbedingte Wettbewerbsnachteile auszugleichen. Im Hinblick auf die wesentlichen beruflichen Anforderungen werden jedoch gleichwertige Qualifikationen erwartet. Im Bildungskontext dagegen stellt sich die Situation anders dar. Als absolutes Recht darf das Recht auf Bildung und damit der Anspruch auf angemessene Vorkehrungen, zumindest im Primarbereich, nicht von gleichen Fähigkeiten abhängig gemacht werden. In höheren Bildungsbereichen sowie in anderen Feldern, wie etwa dem Dienstleistungs- oder Gesundheitssektor, spielen persönliche Fähigkeiten eine nachgeordnete Rolle.137
F. Grenzen der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen als Rechtfertigungsgrund und prozedurale Fragen 52 Die Grenzen der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen bzw. die Rechtfertigung der Ver-
weigerung einer angemessenen Vorkehrung ergeben sich aus einer Abwägung mit den implizierten Aufwendungen und Belastungen für die verpflichtete Person. Gemäß Art. 2 UN-BRK fallen nur „Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen“, unter die Antidiskriminierungspflicht. 53 In einigen Rechtsordnungen138 sowie im EU-Recht wird eine weitere Grenze bzw. Rechtfertigung in der Unangemessenheit der Vorkehrung im Einzelfall gesehen. Hieraus wird in der Literatur eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall abgeleitet, in die sowohl die Angemessenheit der Vorkehrung als auch die mit ihr verbundenen positiven und negativen Implikationen, wie etwa finanzielle Kosten, betriebsorganisatorische Aspekte, Leistungsfähigkeit der*des Verpflichteten sowie Rechte Dritter, einfließen.139 Diese Interpretation orientiert sich insbesondere an der Auslegung von Art. 5 der EU-Rahmenrichtlinie durch den EuGH, der in den verbundenen Rechtssachen Ring und Skoube Werge v. Dänemark die Auffassung vertrat, die Vorkehrung, die der behinderten Person zusteht, müsse angemessen sein, d. h., sie dürfe keine unverhältnismäßige Belastung für
135 Degener (Fn. 11); CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48). 136 Dazu weiter unten Rn. 62 (G.). 137 Lisa Waddington und Andrea Broderick stellen für den Bildungsbereich allerdings nur in Bulgarien
eine absolute Vorkehrungspflicht fest, vgl. Waddington/Broderick (Fn. 125), S. 100.
138 Etwa in den USA und Großbritannien, vgl. m. w. N. Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 178. 139 Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 175 f.
Theresia Degener
F. Grenzen der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen als Rechtfertigungsgrund
669
den Arbeitgeber darstellen.140 Mit der 2018 verabschiedeten Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 zu Art. 5 UN-BRK hat der UN-BRK Fachausschuss klargestellt, dass diese Auslegung fehl geht. Wie ausgeführt, ist der Begriff der Angemessenheit im Sinne einer Effektivitätsprüfung, nicht aber als Rechtfertigungsgrund im Antidiskriminierungsrecht zu verstehen.141 Als Mitglied ist die EU an die UN-BRK rechtlich gebunden, weshalb auch der Europäische Gerichtshof gehalten ist, seine Rechtsprechung in Einklang mit dieser und anderen Empfehlungen des UN-BRK Fachausschusses zu bringen.142 Welche Aspekte bei der Bewertung einer angemessenen Vorkehrung als unverhältnis- 54 mäßig zu berücksichtigen sind, wird in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 6 beispielhaft benannt. Dazu zählen finanzielle Kosten, verfügbare Ressourcen (inklusive staatliche Subventionen), die Gesamtgröße der verpflichteten Partei, die Auswirkungen der Modifikation auf die Institution oder das Unternehmen, Nutzen für Dritte, negative Auswirkungen für Dritte sowie angemessene Gesundheits- und Sicherheitsvorkehrungen.143 Finanzielle Aspekte werden in der Mehrzahl der Rechtsordnungen bei der Verhältnis- 55 mäßigkeitsprüfung als entscheidender Faktor berücksichtigt.144 Interessanterweise haben US-amerikanische Studien ergeben, dass die durchschnittlichen Kosten für angemessene Vorkehrungen eher minimal sind.145 Aus dem EU-Recht sind als weitere Aspekte noch die faktische und rechtliche Möglichkeit der Vornahme der Anpassung sowie die Abwägung mit Rechten Dritter bekannt.146 Einige Länder, wie z. B. Österreich und die Slowakei, ziehen für den Maßstab der Verhältnismäßigkeit auch die Erfüllung von Barrierefreiheitspflichten heran. Danach kann die Rechtfertigung der unverhältnismäßigen Belastung nicht angeführt werden, wenn die Anpassung bereits nach allgemeinen Barrierefreiheitsregeln vorgeschrieben ist.147 Der UN-BRK Ausschuss hat in Jungelin v. Sweden148 den Vertragsstaaten bezüglich des 56 Maßstabs der Verhältnismäßigkeitsprüfung einen Ermessensspielraum eingeräumt, in der späteren Entscheidung Michael Lockrey v. Australia149 allerdings betont, die Rechtfertigung der unverhältnismäßigen Belastung müsse mit Daten oder Analysen begründet werden.
EuGH, Urt. v. 11.4.2013, Rs. C-335/11, C-337/11, HK Danmark (Ring und Skouboe Werge), Rn. 58. Vgl. oben Rn. 41 (D.). So auch Waddington/Broderick (Fn. 125), S. 72. CRPD, General Comment No. 6 (Fn. 48), Abs. 26 lit. e). Waddington (Fn. 8), S. 729; Broderick/Ferri (Fn. 122), S. 108 ff. Unter 600 US Dollar laut Hendricks/Batiste/Hirsh/Schartz/Blanck, Cost and Effectiveness of Accommodations in the Workplace, Disability Studies Quarterly 25 (2005). 146 Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 182 ff. 147 Vgl. Ferri/Lawson (Fn. 16), S. 10. 148 CRPD, Decision v. 2.10.2014, Communication No. 5/2011, Jungelin v. Sweden, UN Doc. CRPD/C/ 12/D/5/2011, Abs. 10.5. 149 CRPD, Decision v. 1.4.2016, Communication No. 13/2013, Michael Lockrey v. Australia, UN Doc. CRPD/C/15/D/13/2013, Abs. 8.5. 140 141 142 143 144 145
Theresia Degener
670
§ 15 Angemessene Vorkehrungen
G. Verankerung im deutschen Recht 57 Die Figur der angemessenen Vorkehrungen hatte im deutschen Antidiskriminierungs-
recht lange Zeit keine Beachtung gefunden. Erst mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsgesetzes vom 19.7.2016 (BGG)150 wurde sie in den Kanon der Antidiskriminierungsgesetze aufgenommen. Seither lautet § 7 Abs. 2 Satz 1 BGG: „Die Versagung angemessener Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen ist eine Benachteiligung im Sinne dieses Gesetzes.“151 Die in der Gesetzesbegründung vorgetragene Haltung, die Einführung diene lediglich der Klarstellung,152 ist allerdings angesichts der uneinheitlichen Rechtsprechungspraxis sowie der teils widersprüchlichen dogmatischen Einordnung in der Literatur wenig überzeugend.153 Das 1994 in das Grundgesetz aufgenommene Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 58 Satz 2 GG154 definiert den Begriff der Benachteiligung nicht. Der Begriff der angemessenen Vorkehrungen wurde erst nach der Verabschiedung der Rahmenrichtlinie im Jahre 2000, vermehrt dann nach der Verabschiedung der UN-BRK im Jahre 2006, in die verfassungsrechtliche Diskussion zu Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG eingebracht.155 Das Bundesverfassungsgericht hat spätestens in seinem Maßregelbeschluss156 die UN-BRK als Auslegungshilfe für Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG benannt. Insofern ließe sich die Figur der angemessenen Vorkehrungen in den Benachteiligungsbegriff des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hineinlesen, zumal auch das Bundesverfassungsgericht inzwischen die verwandte Figur der mittelbaren Diskriminierung anerkennt.157 Einen anderen Weg ging das BSG, indem es Art. 5 Abs. 2 UN-BRK als sogenannte self-executing Vorschrift des Völkerrechts einstufte, die dem Regelungsgehalt des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG entspreche.158 59 Eine andere – auch in der europäischen Literatur rezipierte159 – Auffassung sieht die Figur der angemessenen Vorkehrungen bereits in der Sonderschulentscheidung des Bun-
150 Gesetz zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts v. 19.7.2016, BGBl. 2016 I,
S. 1757.
151 Bemerkenswert ist auch die Verknüpfung mit Barrierefreiheitspflichten in der gleichen Norm. Ein
Verstoß gegen diese wird gem. § 7 Abs. 1 Satz 3 BGG als vorliegende Diskriminierung widerleglich vermutet. 152 BT-Drs. 18/7824, S. 34. 153 Vgl. Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 464 ff. 154 „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ 155 Z. B. Welti, Das Diskriminierungsverbot und die „angemessenen Vorkehrungen“ in der BRK – Stellenwert für die staatliche Verpflichtung zur Umsetzung der in der BRK geregelten Rechte, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, DVfR, Forum D, Beitrag 09/2012, reha-recht.de v. 31.5.2012, S. 3 f.; Degener, Antidiskriminierungsrechte für Behinderte, ZaöRV 2005, S. 887 (913); Fuerst (Fn. 86), S. 90 ff. 156 BVerfGE 128, 282 – Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug (2011). 157 Vgl. m. w. N. Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 430. 158 BSG, Urt. v. 6.3.2012, B 1 KR 10/11, Rn. 31 ff. 159 Waddington/Broderick (Fn. 125), S. 53. Theresia Degener
G. Verankerung im deutschen Recht
671
desverfassungsgerichts von 1997160 angelegt.161 Darin hatte der erste Senat ausgeführt, dass eine Benachteiligung nicht nur in der Verweigerung des Zutritts zu öffentlichen Einrichtungen oder Leistungen zu sehen sei. „Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluß [sic] von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird.“162 In dem Konzept der kompensierenden Fördermaßnahme wird der Gedanke der angemessenen Vorkehrungen gesehen. Diese Interpretation verkennt, dass mit dieser Entscheidung die vor über 100 Jahren entwickelte US-amerikanische „separate but equal“-Doktrin für den verfassungsrechtlichen Diskriminierungsschutz behinderter Menschen übernommen wurde.163 Im konkreten Fall hatte der Senat nämlich angenommen, die zwangsweise Sonderbeschulung stelle eine solche kompensierende Fördermaßnahme dar und schließe eine Benachteiligung i. S. d. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG aus. Die Segregation in der Bildung zur „Rassen“trennung wurde in den USA 1954 sodann mit der bahnbrechenden Entscheidung Brown vs. Board of Education164 als Diskriminierung und damit als verfassungswidrig eingestuft. Die Figur der angemessenen Vorkehrungen, so wie sie im US-amerikanischen Recht entwickelt wurde, knüpft an diesem Gedanken des „separate is inherently unequal“ an, indem es behinderten Menschen ein Leben außerhalb von Sondereinrichtungen ermöglicht.165 Eine angemessene Vorkehrung kann deshalb niemals in der Segregation behinderter Personen in Sondereinrichtungen gesehen werden.166 Die Einstufung der „separate but equal“-Doktrin als Form der direkten Diskriminierung wird auch im deutschen Verfassungsrecht – jedenfalls im Hinblick auf die Kategorien „Rasse“ und Geschlecht – vertreten.167 Wenngleich daher die Sonderschulentscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine geeignete Anknüpfung für die Verortung der Rechtsfigur der angemessenen Vorkehrungen im deutschen Verfassungsrecht darstellt,168 so ist doch die mittlerweile erfolgte Aufnahme der Rechtsfigur als Diskriminierung durch Unterlassen in die Kommentarliteratur zu Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu begrüßen.169 160 BVerfGE 96, 288 – Integrative Beschulung (1997). In der Entscheidung ging es um die Frage, ob die
Sonderschuleinweisung gegen den Willen der Betroffenen eine Diskriminierung i. S. d. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darstellt. 161 Welti (Fn. 155), S. 5; Waddington/Broderick (Fn. 125), S. 53. 162 BVerfGE 96, 288 (303) – Integrative Beschulung (1997). 163 Degener, Verfassungsrechtliche Probleme mit der Behindertendiskriminierung in Deutschland, KJ 2000, S. 425 (432); ebenso → Zinsmeister, § 9 Rn. 126. 164 US Supreme Court, Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U. S. 483 (1954). 165 Blanck u. a. (Fn. 8), S. 1 f.; Siehr/Wrase, Das Recht auf inklusive Schulbildung als Strukturfrage des deutschen Schulrechts, RdJB 2 (2014), S. 161. 166 Ähnlich argumentieren auch Rothfritz, Die Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschen mit Behinderungen, 2010, S. 244; Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 326 ff. 167 Baer/Markard (Fn. 157), Art. 3 Abs. 3 Rn. 419. 168 Viel besser eignet sich die zwei Jahre später ergangene Entscheidung des Ersten Senats zur Testierfähigkeit schreib- und sprechunfähiger Personen, vgl. BVerfGE 99, 341 – Testierausschluss schreib- und sprechunfähiger Personen (1999). 169 Baer/Markard (Fn. 157), Art. 3 Abs. 3 Rn. 541 ff. Theresia Degener
672 60
§ 15 Angemessene Vorkehrungen
Auf bundesrechtlicher Ebene fand die Figur vor dem reformierten BGG von 2016 bereits 1986 Eingang in das arbeitsrechtliche Schwerbehindertenrecht,170 ohne dass allerdings der antidiskriminierungsrechtliche Kontext geklärt wurde. Der Anspruch schwerbehinderter Arbeitnehmer*innen auf behindertengerechte Ausgestaltung des Arbeitsplatzes wurde zunächst nur in einem rehabilitationsrechtlichen Sinne diskutiert.171 Erst im Zuge der Umsetzung der RRL durch das AGG 2006 wurde der Anspruch auf behindertengerechte Ausgestaltung des Arbeitsplatzes als Beispiel für angemessene Vorkehrungen gesehen. Der heute in § 164 Abs. 4 SGB IX geregelte Anspruch auf behindertengerechte Ausgestaltung des Arbeitsplatzes im weiteren Sinne wird begrenzt durch einen Verhältnismäßigkeitsvorbehalt sowie durch den Vorbehalt entgegenstehender Vorschriften des Arbeitsschutzes oder des Beamtenrechtes.172 Er wird begleitet durch ein Benachteiligungsverbot, in dem auf das AGG verwiesen wird.173 Aufgrund des nun ausdrücklichen Verweises auf das AGG und der inzwischen stattfindenden rechtsdogmatischen Diskussionen in der Literatur174 ist der antidiskriminierungsrechtliche Kontext des § 164 SGB IX nicht mehr umstritten. Allerdings wäre es verfehlt, § 164 SGB IX insgesamt als Beispiel für die Kodifizierung der Diskriminierungsform „Verweigerung angemessener Vorkehrungen“ i. S. d. Art. 2 UN-BRK einzuordnen. Vielmehr handelt es sich bei dieser Rechtsvorschrift um eine Hybridnorm, die Diskriminierungsverbote und positive Maßnahmen, d. h. gruppenbezogene Förder170 § 14 Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft
(Schwerbehindertengesetz, SchwBG) v. 26.8.1986, BGBl. 1986 I, S. 1421, reformiert durch Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter (SchwbBAG) v. 29.9.2000, BGBl. 2000 I, S. 1394: Danach waren Arbeitgeber*innen verpflichtet, Arbeitsplätze und Gerätschaften behindertengerecht anzupassen. 171 Ausführlich dazu Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 334 f.; Fuerst (Fn. 87). 172 § 164 Abs. 4 SGB IX lautet: „Die schwerbehinderten Menschen haben gegenüber ihren Arbeitgebern Anspruch auf 1. Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können, 2. bevorzugte Berücksichtigung bei innerbetrieblichen Maßnahmen der beruflichen Bildung zur Förderung ihres beruflichen Fortkommens, 3. Erleichterungen im zumutbaren Umfang zur Teilnahme an außerbetrieblichen Maßnahmen der beruflichen Bildung, 4. behinderungsgerechte Einrichtung und Unterhaltung der Arbeitsstätten einschließlich der Betriebsanlagen, Maschinen und Geräte sowie der Gestaltung der Arbeitsplätze, des Arbeitsumfelds, der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeit, unter besonderer Berücksichtigung der Unfallgefahr, 5. Ausstattung ihres Arbeitsplatzes mit den erforderlichen technischen Arbeitshilfen unter Berücksichtigung der Behinderung und ihrer Auswirkungen auf die Beschäftigung. Bei der Durchführung der Maßnahmen nach Satz 1 Nummer 1, 4 und 5 unterstützen die Bundesagentur für Arbeit und die Integrationsämter die Arbeitgeber unter Berücksichtigung der für die Beschäftigung wesentlichen Eigenschaften der schwerbehinderten Menschen. Ein Anspruch nach Satz 1 besteht nicht, soweit seine Erfüllung für den Arbeitgeber nicht zumutbar oder mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden wäre oder soweit die staatlichen oder berufsgenossenschaftlichen Arbeitsschutzvorschriften oder beamtenrechtliche Vorschriften entgegenstehen.“ 173 § 164 Abs. 2 SGB IX. 174 Vgl. Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 352 ff.; Fuerst (Fn. 70), S. 66; Schiek (Fn. 69), § 3 Rn. 81; Stein (Fn. 68); Welti, Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes im Auftrag des BMAS, 2014; Welti, Barrierefreiheit und angemessene Vorkehrungen, Sozialer Fortschritt 64 (2015), S. 267. Theresia Degener
G. Verankerung im deutschen Recht
673
pflichten, enthält. Nur Teile der Norm – namentlich § 164 Abs. 4 Ziff. 4 und 5 SGB IX – sind daher der Figur der angemessenen Vorkehrungen zuzuordnen.175 Eine weitere bundesrechtliche Vorschrift, die als Beispiel für die Verankerung angemes- 61 sener Vorkehrungen im deutschen Recht angesehen wird, ist die mit „Barrierefreiheit“ übertitelte Norm des § 554a BGB, wonach Mieter*innen von Vermieter*innen behindertengerechte Umbauten bzw. Nutzung der Mietsache verlangen können.176 Der Anspruch wird begrenzt durch entgegenstehende berechtigte Interessen der Vermieter*innen und anderer Mieter*innen, nicht jedoch durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Norm wurde in das Mietrecht zur Umsetzung der „Treppenlift-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts177 aus dem Jahr 2000 aufgenommen, um das verfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als Teil der objektiven Wertordnung für das Mietrecht umzusetzen. Damit steht sie zwar im Kontext des Diskriminierungsrechts, eine dogmatische Zuordnung zur Figur der angemessenen Vorkehrungen i. S. d. Art. 2, 5 UNBRK wird jedoch, soweit ersichtlich, weder in der einschlägigen mietrechtlichen noch in der behindertenrechtlichen Literatur vorgenommen. Dem widerspricht auch die Ausgestaltung des Rechts der Mieter*innen, die Umbauten selbst vorzunehmen, während angemessene Vorkehrungen in der Regel von der verpflichteten Person vorgenommen werden. In das AGG wurde die Figur der angemessenen Vorkehrungen als eigenständige Diskri- 62 minierungsform bisher nicht aufgenommen. Darin sah die Europäische Kommission im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland bereits 2008 einen Verstoß gegen Art. 5 RRL und mahnte Korrekturen an.178 Mangels gesetzgeberischer Tätigkeit wird daher in Rechtsprechung und Literatur seit geraumer Zeit eine richtlinienkonforme Auslegung des AGG bzw. der Verweisvorschrift im SGB IX vorgenommen bzw. diskutiert. So wird die Figur der angemessenen Vorkehrungen in das Verbot der mittelbaren Diskriminierung nach § 3 Abs. 2 AGG179, zur Begrenzung der Rechtfertigungsgründe nach § 8 AGG i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB180 oder auch in die Organisationspflichten von Arbeitgeber*innen nach Art. 12 AGG181 hineingelesen. Weitere schuldrechtliche Vorschriften des BGB – etwa § 618 BGB – werden entsprechend ausgelegt.182 Jedoch können diese begrüßenswerten Schritte in Literatur und Rechtsprechung nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Auslegungen dogmatisch nicht in jeder Hinsicht unproblematisch sind183 und weitere Lücken im Hinblick auf die Umsetzung der UN-BRK in die deutsche Rechtsordnung 175 Ausführlich Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 352 ff. 176 Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Zweiter und dritter Staatenbericht der Bundesrepublik
Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, 2019, S. 4 ff. 177 BVerfG, Beschl. v. 28.3.2000, 1 BvR 1460/99 – Treppenlift. 178 Europäische Kommission, Vertragsverletzungsverfahren Nr. 2007/2362, Aufforderungsschreiben K (2008) 0103 v. 31.1.2008, S. 6. 179 Fuerst (Fn. 70), S. 9; Stein (Fn. 68), S. 1053 ff.; Schiek (Fn. 69), § 3 Rn. 81; Mangold (Fn. 1), S. 210 f. 180 BAG, Urt. v. 19.12.2013, 6 AZR 190/12, Rn. 53. 181 Kocher/Wenckebach (Fn. 81). 182 Rabe-Rosendahl (Fn. 28), S. 478 f. 183 Vgl. dazu die Ausführungen zur dogmatischen Einordnung, oben Rn. 26 (C.). Theresia Degener
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§ 15 Angemessene Vorkehrungen
bestehen bleiben. Denn die arbeitsrechtliche Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen nach § 164 Abs. 4 Ziff. 4 und 5 SGB IX ist nicht auf alle behinderten Personen anwendbar, da eine Schwerbehinderung und ein Beschäftigungsverhältnis vorliegen müssen. Damit fallen nicht schwerbehinderte Arbeitende sowie behinderte Bewerber*innen aus dem Schutzbereich heraus. Außerdem fehlt es auch in der Rechtsprechung an einer eindeutigen Einordnung der Verweigerung der in § 164 Abs. 4 und 5 SGB IX genannten Maßnahmen als eine Diskriminierungsform. 63 Auch in einigen wenigen Landesgesetzen ist die Antidiskriminierungspflicht der angemessenen Vorkehrungen bekannt. Zwar betrifft dies nicht die für die Gleichstellungspolitik so wichtigen Landesschulgesetze.184 Doch haben zwei von 16 Bundesländern die Figur der angemessenen Vorkehrungen in ihre Behindertengleichstellungsgesetze aufgenommen.185 64 Die mangelhafte Umsetzung der Figur der angemessenen Vorkehrungen wurde vom UN-BRK Fachausschuss in seinen Abschließenden Bemerkungen zum ersten deutschen Staatenbericht angemahnt.186 Die Bundesregierung bringt in ihrem kombinierten zweiten und dritten Staatenbericht von 2019 die Ansicht einer weitgehenden Umsetzung der Rechtsfigur in die deutsche Rechtsordnung zum Ausdruck. Gleichwohl werde die Möglichkeit geprüft, angemessene Vorkehrungen auch für Private, die Dienstleistungen für die Allgemeinheit erbringen, vor allem im Gesundheitssektor, umzusetzen.187 Das in diesem Zusammenhang erwähnte Gutachten zum Thema, das von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegeben wurde, kommt zutreffend zu der Empfehlung, angemessene Vorkehrungen als „Grundbegriff des allgemeinen Gleichbehandlungsrechts“ aufzunehmen und „jedem nach § 1 AGG geschützten Menschen einen Rechtsanspruch auf angemessene Vorkehrungen“ zuzuerkennen.188
H. Fazit 65 Die neue Figur der Verweigerung angemessener Vorkehrungen verfügt über hohes Po-
tenzial für die Weiterentwicklung der Dogmatik und der Theorie des Antidiskriminierungsrechts. Wenngleich ihre dogmatische Einordnung und Konturierung noch mit einigen offenen Fragen verbunden ist, ist sie doch geeignet, ein materiales und inklusives Gleichheitsverständnis im Diskriminierungsschutz umzusetzen. Ihr Potenzial zeigt sich insbesondere im Hinblick auf individualbezogene Dimensionen der menschlichen Vielfalt. In der Rechtspraxis und -wissenschaft wurde sie überwiegend im Kontext von Behin-
184 Mißling/Ückert, Inklusive Bildung, 2014, S. 30. 185 Nordrhein-Westfalen: BGG NRW neu gefasst mit Wirkung v. 1.7.2016 durch Erstes allgemeines
Gesetz zur Stärkung der Sozialen Inklusion in Nordrhein-Westfalen v. 14.6.2016, GV. NRW 2016, S. 442, Art. 2; sowie Sachsen-Anhalt: BGG LSA v. 16.12.2010, GVBl. LSA 2010, S. 584. 186 CRPD, Concluding observations on the initial report of Germany v. 13.4.2015, UN Doc. CRPD/C/ DEU/CO/1, Abs. 14 lit. b). 187 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Fn. 176), S. 6. 188 Eichenhofer (Fn. 40), S. 75. Theresia Degener
H. Fazit
675
derung und Abelism entwickelt. Dort wird sie von der gruppenbezogenen Partnerfigur der Barrierefreiheit begleitet. Ihre Anwendung auf andere Diskriminierungsdimensionen (insbesondere Religion) wird zunehmend diskutiert. Anders als in Deutschland, wo die Figur der Verweigerung angemessener Vorkehrungen bislang kaum bekannt ist, wurde sie in den letzten drei Dekaden insbesondere in den USA und Großbritannien entwickelt. Durch die Aufnahme in der EU-Rahmenrichtlinie 2000 und in die UN-Behindertenrechtskonvention 2006 hat sie auch international an Bedeutung gewonnen.
Theresia Degener
§ 16 Positive Maßnahmen Margarete Schuler-Harms Inhaltsübersicht Rn. A. Positive Maßnahmen als Element des Antidiskriminierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Quoten und vergleichbare Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Andere positive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 3 3 3 12 13 21 21 24
B. Rechtsentwicklung und rechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsentwicklung und Diskussion in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Übergreifende Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26 26 29 33 39 42
C. Konzepte und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gleichheitskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kompensation oder Verteilungsgerechtigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Chancen- und Ergebnisgleichheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weitere Zielsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45 46 50 50 51 53 54
D. Politischer Gestaltungsraum, rechtliche Leitlinien und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zielbestimmungen und Aufträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gleichheitsrechte Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Positive Maßnahmen als Diskriminierung der nicht berücksichtigen Gruppe? . . . . . . . . . 2. Besonderer Legitimationsbedarf für Quoten und vergleichbare Maßnahmen . . . . . . . . . . a) Situation der „reverse discrimination“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Quoten und Leistungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Quoten und Sozialstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Demokratieprinzip, Parteienfreiheit und Wahlrechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verfassungsrechtliche geschützte Positionen von Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 57 59 59 62 62 65 70 71 77
E. Schwächen und konzeptionelle Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 16 Positive Maßnahmen
A. Positive Maßnahmen als Element des Antidiskriminierungsrechts I. Begriff
Der aus dem englischen „positive action“ übernommene Begriff bezeichnet einen bestimmten Typus von Maßnahmen, die nicht nur (reaktiv und passiv – und damit „negativ“) Diskriminierung vermeiden, sondern ([pro-]aktiv und damit „positiv“) zu dem Zweck ergriffen werden, der Diskriminierung und ihren Folgen für die Zukunft entgegenzuwirken.1 Sie haben die Funktion, bestehende soziale Praktiken zu ändern und dadurch Ausschlüsse und Benachteiligungen für Personen aus benachteiligten Gruppen zu beseitigen.2 Dieser Gruppenbezug steht typischerweise im Zusammenhang mit Diskriminierungskategorien, wie sie etwa Artikel 10 AEUV oder Artikel 3 Abs. 3 Satz 1 GG bezeichnen: Geschlecht, Rasse/Ethnie, Alter, Behinderung, Alter, Herkunft, Religion und Weltanschauung sowie sexuelle Orientierung. Positive Maßnahmen kennzeichnet folglich ihre Zuordnung zum Antidiskriminierungsrecht. 2 Die Terminologie ist vielfältig. Der Aspekt aktiven Handelns prägt den vor allem im US-amerikanischen Raum verbreiteten Begriff der „affirmative action“3 oder auch den in Europa gebräuchlicheren der „positive action“,4 aber auch der deutsche Begriff der „Fördermaßnahme“.5 Andere Bezeichnungen vermitteln besondere Tendenzen und Subtexte. Bezeichnungen wie „aktive Gleichbehandlung“ oder „proaktives Gleichstellungsrecht“ heben die funktionelle Abgrenzung solcher Maßnahmen zu den Verboten (insbesondere mittelbarer) Diskriminierung hervor.6 „Positive Diskriminierung“ deutet demgegenüber auf eine mit der Maßnahme verbundene Nichtberücksichtigung und bezeichnet damit Maßnahmen, die mit Nachteilen für Personen verbunden sind, welche der zu fördernden Gruppe nicht angehören.7 Der Begriff der „reverse discrimination“ konnotiert gar eine Benachteiligung solcher Personen. Mit anderer Tendenz verweist der vor allem in Südafrika geläufige Begriff der „corrective action“8 auf ein Ziel der Korrektur oder Kompensation ver1
1 Vgl. nur Schubert, Affirmative Action und Reverse Discrimination, 2003, S 33; Raasch, Positive Maß-
nahmen – Eine Einführung, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Positive Maßnahmen, 2010, S. 4; Markard, Affirmative Action angesichts von Intersektionalität, in: Mangold/Sacksofsky (Hrsg.), Materiale Gleichheit, im Erscheinen, Manuskript S. 2. 2 Archbong/Kingsley, Affirmative Action Measures and Gender Equality, 2021, S. 41 m. w. N. 3 Mit Bezug zu Amerika Peters/Birkhäuser, Affirmative Action à l’Americaine? – Ein Vorbild für Europa, ZaöRV 65 (2005), S. 1 ff. 4 Mit Bezug zur EU z. B. Peters, The Many Meanings of Equality and Positive Action in Favour of Women under the European Community Law, European Law Journal 2 (1996), S. 177. 5 Schubert (Fn. 1), S. 33; Payandeh, Positive Verpflichtungen im Zusammenhang mit verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverboten. Rechtswissenschaftliche Analyse im Auftrag von Bündnis 90/Die Grünen v. 18.4.2021, S. 7. 6 Bieback, Die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts, 1997, S. 35 ff.; Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 290 ff. 7 Vgl. etwa Boysen in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 134 ff. 8 Adam, The Politics of Redress: South African Style Affirmative Action, in: Journal of Modern African Studies, 1997, S. 231; für Südafrika berichtend Schubert (Fn. 1), S. 214; Archibong/Bucktrout/Giga/Ashraf/ Margarete Schuler-Harms
A. Positive Maßnahmen als Element des Antidiskriminierungsrechts
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gangener (und noch gegebener) Diskriminierung und damit auf ein spezifisches Legitimationskonzept.9 Eng in der Konzeptualisierung und unscharf in den Konturen sind Begriffe wie „ausgleichende“ oder „konstruktive Maßnahmen“, „strukturelle Initiativen“ oder „Diversifizierungsstrategien“ und erst recht der in der betriebswirtschaftlichen Managementlehre begründete Begriff des „Diversity Management“.10 II. Typologie 1. Übersicht a) Quoten und vergleichbare Maßnahmen
Die größten rechtlichen Herausforderungen verbinden sich mit positiven Maßnahmen, 3 die Angehörige einer benachteiligten Gruppe bei der Vergabe knapper Positionen oder anderer Ressourcen bevorzugen. Die bekannteste und meist diskutierte unter ihnen ist die Quote. Als Quoten werden Maßnahmen und Regeln bezeichnet, die eine bestimmte Gruppe aufgrund kategorialer Zuordnung bei der Vergabe eines knappen Gutes, etwa eines Ausbildungsplatzes, eines Amts oder Arbeitsplatzes, einer beruflichen oder politischen Führungsposition oder einer Beförderung, bevorzugen. Zu den positiven Maßnahmen zählen Quoten zu dem Ziel, jedenfalls auch strukturell bedingte Benachteiligungen einer Gruppe auszugleichen. Die Quote knüpft dabei an die statistische Unterrepräsentanz einer Gruppe an, die als Indiz einer strukturell bedingten Benachteiligung gewertet wird, und verfolgt das unmittelbare Ziel einer Beseitigung dieser Unterrepräsentanz. Den Ausgangspunkt von antidiskriminierungsrechtlich begründeten Quotierungen bildet aber die Erfahrung auffälliger Benachteiligungen von Personen aufgrund bestimmter Kategorien, etwa des Geschlechts, der Hautfarbe, der Herkunft oder Religion, einer Behinderung oder des Alters, beim Zugang zu Arbeits- und Ausbildungsplätzen, Stipendien, Ämtern oder Funktionen oder anderen Formen gesellschaftlicher Teilhabe.11 Die Beseitigung oder wenigstens Milderung von Unterrepräsentanz zielt deshalb mittelbar auf Beseitigung der strukturellen Benachteiligung. Diesem Ziel dienen Quoten nicht allein durch die unmittelbare Bevorzugung von Angehörigen benachteiligter Gruppen, sondern auch durch deren Ermutigung, solche Positionen auch anzustreben, sowie die Setzung von Anreizen, um innerhalb einer Organisation auf die Qualifizierung und Förderung von Angehörigen der beBaxter/Johnson, A Concept Analysis of Positive Action in Health and Education, Diversity in Health and Social Care 3 (2006), S. 223 (238). 9 Siehe unten Rn. 50 (C.). Zur Einordnung Rössler, Quotierung und Gerechtigkeit: Ein Überblick über die Debatte, in: dies. (Hrsg.), Quotierung und Gerechtigkeit, 1993, S. 7 (16). 10 Der Begriff ist mit der Arbeitswelt verknüpft und am Ziel wirtschaftlichen Erfolgs ausgerichtet; er zielt auf eine Organisationskultur der Wertschätzung und der Bekämpfung von Vorurteilen; vgl. nur Beiträge in Becker/Seidel (Hrsg), Diversity Management: Unternehmens- und Personalpolitik der Vielfalt, 2006; Becker, Systematisches Diversity Management, 2015, S. 17 ff., vgl. auch S. 165: „Affirmative Action als Theoriefundament der Managing Diversity“. Das Konzept des Diversity Managements weist Verbindungen zum Konzept der positiven Maßnahmen im Antidiskriminierungsrecht auf, muss aber terminologisch und typologisch sauber unterschieden werden. 11 Vgl. Rössler (Fn. 9), S. 8. Margarete Schuler-Harms
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§ 16 Positive Maßnahmen
nachteiligten Gruppe hinzuwirken. Antidiskriminierungsrechtlich motivierte Quoten sind dabei auf eine asymmetrische Wirkung zugunsten der begünstigten Gruppe ausgelegt. Da sie auf einen Zustand hinzielen, in dem statistische Repräsentanz keine Benachteiligung mehr indiziert, sind sie konzeptionell nicht auf Dauer angelegt. 4 Kategorien als Bezugspunkte für Quoten wie auch die Einsatzbereiche differieren im Zeitverlauf sowie nach Rechtssystemen und Regionen.12 So wurden Quoten in den USA zunächst auf Ethnizität und Hautfarbe bezogen.13 Im Zentrum der rechtspolitischen und rechtswissenschaftlichen Debatten in Deutschland und der Europäischen Union steht bis heute die sogenannte Frauenquote. Vermehrt wird in Deutschland nun auch über Quoten im Zusammenhang von Migration debattiert.14 Lange schon sind Mindestquoten für Menschen mit Behinderungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt etabliert.15 Hingegen sind förmliche Quoten mit Bezug auf die Kategorien der sexuellen Orientierung, der Religion16 oder bestimmter Anschauungen in Europa selten. Derartige Quotierungen können sich jedoch im Rahmen von Rekrutierungsprinzipien der gesellschaftlichen Repräsentation, etwa bei den Rundfunkräten, oder der gesellschaftlichen Partizipation ergeben. Quoten lassen sich zunächst entlang ihres Bezugs zu Kriterien von Qualifikation und 5 Leistung klassifizieren.17 Selten sind von Qualifikationsanforderungen unabhängige „starre“ Quoten. In Bezug auf die erforderliche Qualifikation lassen sich an Mindestanforderungen gebundene Quoten sowie Quoten, die gleiche oder gleichwertige Qualifikation erfordern, unterscheiden. Den Quoten gleich stehen Vorzugsregeln bei gleicher bzw. gleichwertiger Eignung (sogenannte Türöffner-Regeln).18 12 Zur historisch-geografischen Kontingenz von Kategorien und „constitutional moments“ Mangold
(Fn. 6), S. 306 ff.
13 Dies galt später und gilt auch für andere Staaten und Rechtskreise, insbesondere etwa Südafrika, siehe
die Nachweise oben Fn. 8 und unten Fn. 126 f.; vergleichbar sind (Probleme der) Quotierungen nach Kasten- und Stammeszugehörigkeit in Indien, vgl. Art. 15 Abs. 4, 5, Art. 16 der Verfassung der Republik Indien. 14 Vgl. Liebscher, Möglichkeiten zur Verbesserung der Chancen für Menschen mit Migrationshintergrund/Migrationsgeschichte durch eine Novellierung des PartIntG Berlin, Rechtsgutachten, 2019, S. 11 ff.; Mayer/Pautsch, „Positive Diskriminierung“ – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von „Migrantenquoten“ und Bevorzugung wegen Migrationshintergrundes beim Zugang, ZAR 2020, S. 414 ff.; Payandeh (Fn. 5), S. 21 ff. m. w. N.; Groß, Die Verfassungskonformität einer Quote für Eingewanderte, JZ 2021, S. 880. Vgl. § 7 Abs. 2 des Gesetzes zur Förderung der Partizipation in der Migrationsgesellschaft des Landes Berlin (Partizipationsgesetz – PartMigG) i. d. F. des Gesetzes zur Neuregelung der Partizipation im Land Berlin vom 5.7.2021, Berl. GVBl. 2021, S. 842. 15 Bereits das Schwerbeschädigtengesetz v. 16.6.1953 normierte in § 3 für Betriebe mit mehr als sieben Arbeitsplätzen eine Quote von 10 Prozent oder 8 Prozent – je nach Branche – und in § 9 die Sanktion einer Ausgleichsabgabe bei Nichterfüllung; §§ 50 Abs. 4 S. 2, 14 Abs. 2 SchwbG gebot den Vorzug einer Person mit schwerer Behinderung durch öffentliche Arbeitgeber bei gleicher Eignung für die angestrebte Verwendung; vgl. dazu auch BVerwGE 86, 244 (249 f.); Groß (Fn. 14), S. 883. Die aktuelle Regelung findet sich in § 154 SGB IX. 16 Diskussion z. B. bei Frings, Diskriminierung aufgrund der islamischen Religionszugehörigkeit im Kontext Arbeitsleben, 2010, S. 96 f. 17 Hohmann-Dennhardt, Ungleichheit und Gleichberechtigung, 1982, S. 30 ff.; Pfarr, Quoten und Grundgesetz, 1988, S. 203 f. 18 Mangold (Fn. 6), S. 296 ff. Beispiel in § 8 Abs. 1 BGleiG. Margarete Schuler-Harms
A. Positive Maßnahmen als Element des Antidiskriminierungsrechts
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Quoten werden oft beziffert, wobei sich die Bezifferung aus der Regelung selbst oder aus 6 dem Regelungskontext ergeben kann.19 Quoten können absolut gesetzt20 oder als Basis(bzw. Mindest-)quote gefasst sein.21 Bemessungsgrundlagen für eine Quote sind z. B. der Anteil einer Gruppe an der Zahl der Beschäftigten in einem Bereich einer Dienststelle22 oder der Gremiensitze, an der Gruppenquote der jeweils vorgelagerten Ebene („Kaskade“) oder an der Gesamtzahl der (z. B.) erwerbsfähigen Personen oder der Bevölkerung.23 Nach der Quotenart lassen sich Ziel- und Besetzungsquoten unterscheiden.24 Zielquo- 7 ten gelten der zu schaffenden Besetzungssituation.25 Sie lassen sich auch nach ihrer Verbindlichkeit einordnen: Das Ziel kann verbindlich vorgegeben sein oder in Form einer „Soll“-Regelung Spielräume ermöglichen. Eine schwächere Verbindlichkeit wird mit der Formulierung „ist anzustreben“ geschaffen. Schließlich kann den Adressaten einer Quote aufgegeben werden, die Zielquote selbst zu bestimmen und insoweit eine Selbstbindung einzugehen.26 Besetzungsquoten beziehen sich hingegen auf die konkrete Rekrutierungsentscheidung.27 Starre (oder fixe) Vorzugsregeln begünstigen Personen allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer unterrepräsentierten Gruppe ohne Rücksicht auf weitere Kriterien, etwa solche der Qualifikation oder eines sozialpolitischen Bedarfs. Sie finden sich z. B. für die Besetzung von Gremien- oder Parlamentssitzen28 und umfassen gegebenenfalls auch Vorgaben für die Ausgestaltung von Listen.29 Im Bereich der Beschäftigung dominieren flexible Quoten, d. h. Vorzugsregeln zugunsten einer unterrepräsentierten Gruppe bei gleicher Qualifikation. 19 Schuler-Harms/Valentiner, Rechtsgutachten zur Frage der wirkungsvollen Ausgestaltung gesetzlicher
Regelungen zur Realisierung eines ausgewogenen Geschlechterverhältnisses in Gremien, 2016, S. 30.
20 Den Bezug bildet dann die jeweilige Stellensituation oder Zahl der Gremiensitze, z. B. „Parität“ als An-
teil eines Geschlechts an einer Wahlliste; § 10 SG: „jede sechste Stelle“.
21 Z. B. § 154 SGB XI: Mindestquote von 5 % Beschäftigten mit Schwerbehinderung. 22 Z. B. § 5 Abs. 1 i. V. m. § 3 Abs. 3 HmbGleiG. 23 Bemessungsgrundlage bildet nach § 7 Abs. 2 PartMigG der Anteil der Personen mit Migrationshinter-
grund an der Berliner Bevölkerung; überdies soll der Anteil dieser Personen nicht mehr unter den bereits bestehenden Anteil der Personen mit Migrationshintergrund am Anteil der Beschäftigten fallen. Bezug der Vorzugsregel in § 5 Abs. 1 HmbGleiG auf die Begründung eines Dienst-, Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses, die Übertragung höherwertiger Tätigkeiten, die Übertragung eines Beförderungsdienstpostens oder die Beförderung; Präzisierung einer Bemessungsgrundlage in § 157 SGB IX oder in § 5 Abs. 2 HmbGleiG. 24 Dem entspricht die Einteilung bei Pfarr (Fn. 17), S. 205 f. Vgl. auch die Differenzierung von „quotas“ und „goals“ in der Rechtsprechung des US Supreme Court, Schubert (Fn. 1), S. 144; Raasch, Frauenquoten und Männerrechte, 1990, S. 221. 25 Eine Zielquote formuliert z. B. § 1 BGremG mit der Vorgabe einer paritätischen Vertretung von Frauen und Männern in Gremien, soweit der Bund über deren Besetzung bestimmen kann. 26 Vgl. bereits die – noch rohe – Klassifizierung bei Pfarr (Fn. 17), S. 204 f. Vorgaben, die Quote selbst festzulegen, enthalten z. B. § 7 Abs. 2 PartMigG Berlin; §§ 76 Abs. 4, 111 Abs. 5 AktG i. V. m. § 289 Abs. 2 Nr. 4 HGB. Vgl. auch § 37a HochschulG NRW: Festlegung einer Quote im dreijährlichen Turnus. 27 Vgl. z. B. § 76 Abs. 3 AktG: Besteht ein Vorstand in den genannten Gesellschaften aus mindestens drei Personen, muss mindestens eine Frau und mindestens ein Mann Mitglied des Vorstands sein. 28 Keine weiteren Anforderungen normieren (bzw. normierten) z. B. § 4 BGremG; § 76 Abs. 3 AktG; Siebtes Gesetz zur Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes – Einführung der paritätischen Quotierung v. 30.7.2019, Thür. GVBl. 2019, S. 322. 29 Vgl. für die Ausgestaltung der Reihung von Wahllisten z. B. § 12 Abs. 1 Hessisches Kommunalwahlgesetz. Margarete Schuler-Harms
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§ 16 Positive Maßnahmen
Quotenregelungen können besondere Vorgaben für das Besetzungsverfahren vorsehen.30 Häufig finden sich Regelungen für das Verfahren der Bestellung von Gremienmitgliedern und, soweit diese zu wählen sind, für die Rekrutierung der Kandidatinnen und Kandidaten. Die Vorgaben hierbei können von der allgemeinen Vorgabe, Personen einer Merkmalsgruppe „angemessen zu berücksichtigen“, bis zu konkreten Vorgaben reichen. 9 Quotenregelungen sehen in unterschiedlichem Umfang Ermächtigungen zu Ausnahmen oder Abweichungen von konkreten Besetzungsquoten und -verfahren vor. Von besonderer Bedeutung sind Ausnahmeregelungen aus Gründen überwiegender Schutzinteressen von Mitbewerbern und Mitbewerberinnen im Einzelfall.31 Abweichungen von einer festen Besetzungsquote sind denkbar zugunsten eines Kaskadenmodells, z. B. wenn die Zahl der wählbaren Personen einer Merkmalsgruppe eine kritische Marke unterschreitet. 10 Schließlich unterscheiden sich Besetzungsquoten auch nach Rechtsfolgen und Sanktionen bei ihrer Verfehlung und auch insoweit nach dem Grad ihrer Verbindlichkeit. In Betracht kommen Berichts- und Begründungspflichten,32 Zahlungspflichten,33 und bei Gremienbesetzungen in geeigneten Fällen die Sanktion des „leeren Stuhls“, gegebenenfalls mit der Folge der mangelnden Beschlussfähigkeit. Ist die Pflicht zur Förderung als individueller Anspruch ausgestaltet, kommt auch eine Verpflichtung auf die Förderung, gegebenenfalls durch Gerichtsentscheidung, in Betracht. 11 Den Quoten in der Stoßrichtung vergleichbar sind z. B. feste Kontingente für bestimmte Gruppen, Bewerbungsverbote (etwa für Männer in Bezug auf Studiengänge, die sich ausschließlich an Frauen richten) oder Zusatzpunkte (Boni für Angehörige benachteiligter Gruppen bei der Bewerbung um einen Studienplatz). 8
b) Andere positive Maßnahmen 12
Der Katalog der weiteren positiven Maßnahmen ist vielfältig, nicht abschließend und einer Systematisierung kaum zugänglich.34 Teilweise werden Maßnahmen indirekter (oder struktureller) Förderung und individueller (bzw. gruppenbezogener) Ansprache und Förderung unterschieden.35 Zu den Gruppen bevorzugenden Maßnahmen zählen Bevorzugungen bei Angeboten der beruflichen Bildung, spezielle Angebote von Trainings mit dem Ziel des empowerments, besondere Aufforderungen von Gruppen in Ausschreibungen, sich zu bewerben, oder Bevorzugungen bei der Einladung zum Vorstellungsgespräch. Positive Maßnahmen können auch an die Funktion oder Rolle einer Person anknüpfen und auf diese Weise eine benachteiligte Gruppe mittelbar fördern. So kommen Maßnahmen 30 Vgl. z. B. § 8 HmbGleiG: Vorgabe einer zu gleichen Teilen mit Männern und Frauen besetzten Auswahl-
kommission.
31 Vgl. z. B. § 8 Abs. 1 S. 2 BGleiG: Überwiegende schutzwürdige Interessen in der Person eines Mitbewer-
bers.
32 Vgl. § 289 f. HGB i. V. m. § 76 Abs. 2 AktG: Besondere Begründungspflicht bei Aufstellung einer so-
genannten Null-Zielquote.
33 Vgl. § 160 SGB IX: Ausgleichsabgabe bei Verfehlung der Mindestquote. 34 Instruktive Aufzählung bei Merx, Positive Maßnahmen in der Praxis, in: Heinrich-Böll-Stiftung
(Hrsg.), Positive Maßnahmen, 2010, S. 52 (60 f.). 35 Markard (Fn. 1), S. 3.
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zur Förderung der Vereinbarkeit von beruflicher Tätigkeit bzw. gesellschaftlicher Teilhabe mit Care-Arbeit vor allem Frauen zugute, da diese statistisch häufiger Care-Arbeit leisten als Männer. Auch ein vergleichsweises höheres Arbeitsentgelt oder eine besondere geldwerte Leistung für in Teilzeit oder befristet Beschäftigte, wie es § 4 TzBfG ermöglicht, begünstigt aus diesen Gründen statistisch besonders häufig Frauen. Zugleich werden mit solchen, nicht unmittelbar an die Kategorie des Geschlechts knüpfenden Maßnahmen auch Angehörige des grundsätzlich nicht benachteiligten Geschlechts gefördert, die Care-Arbeit leisten bzw. in Teilzeit arbeiten. Der spezifische Gruppenbezug entfällt z. B. bei Arbeitszeitkonzepten, die es allen Beschäftigten ermöglichen, ihre Arbeitszeit freier einzuteilen und variabler zu gestalten, oder im Falle der anonymen Bewerbung. Dienen solche nicht unmittelbar an die Kategorie des Geschlechts anknüpfenden Maßnahmen jedenfalls auch der Beseitigung sozial gefestigter Nachteile, handelt es sich auch hierbei um positive Maßnahmen. 2. Systematisierung
Vielfältig sind auch die Ansätze zur Systematisierung positiver Maßnahmen. De Schutter 13 unterscheidet Maßnahmen des Monitorings zur Erfassung von Unterrepräsentation von Gruppen mit Blick auf Abhilfemaßnahmen, eine Neudefinition des Verteilungskriteriums (z. B. Leistung), gruppenbezogene und individuelle Maßnahmen zur Unterstützung und Sensibilisierung (z. B. in Form von Training für bestimmte Gruppen, einer Aufforderung an solche Gruppen, sich zu bewerben, oder der individuellen Garantie eines Bewerbungsgesprächs bei Erfüllung der Kriterien), sowie die Vorzugsbehandlung von Angehörigen einer Gruppe bei gleicher Qualifikation mit oder ohne Ausnahmeregelung.36 Archbong und Kingsley differenzieren zwischen einer Strategie der Modifikation von Auswahlkriterien mit dem Ziel, unterprivilegierte Gruppen aufzunehmen bzw. ihnen Zugang zu verschaffen, und einer Strategie, die an den originären Auswahlkriterien und dem Leistungsprinzip festhält und stattdessen stärker auf Angebote von Trainingsgelegenheiten innerhalb von Erziehung/Bildung und Arbeitsorganisation setzt mit dem Ziel, den Angehörigen der betroffenen Gruppen Hilfe bei der Überwindung ihrer Nachteile zu verschaffen.37 Bossuyt, der UN Special Rapporteur on the Concept and Practice of Affirmative Action, unterscheidet zwischen Maßnahmen, die die Zielgruppe stärken und ermutigen (affirmative mobilization), Maßnahmen zur Überprüfung der Diskriminierungsfreiheit von Institutionen (affirmative fairness) und solchen, die Gruppenangehörige gegenüber konkurrierenden Personen bevorzugen oder (wie z. B. Bewerbungsverbote oder Zusatzpunkte) eine ähnliche Stoßrichtung entfalten (affirmative preference).38 Baer bietet eine Typisierung in Maßnahmen zur Ermächtigung Beteiligter (empowerment), Maßnahmen 36 De Schutter, Positive Action, in: Schiek u. a. (Hrsg.), Non-Diskrimination Law, 2007, S. 757 (761 f.); referierend Markard (Fn. 1), S. 3. 37 Archbong/Kingsley, Affirmative Action Measures and Gender Equality, 2021, S. 41 (42). 38 Bossuyt, The concept and practice of affirmative action, Final report v. 17.6.2002, UN Doc. E/CN.4/ Sub.2/2002/21; referierend Markard (Fn. 1), S. 3.
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§ 16 Positive Maßnahmen
zur Gestaltung von Entscheidungen (anti bias, Antidiskriminierung im engeren Sinne) und Maßnahmen zur Gestaltung von Verhältnissen (Pluralismus) an.39 14 Für die theoretische Konzeptualisierung im Rahmen des Antidiskriminierungsrechts skizziert aus rechtsvergleichender Perspektive Christopher McCrudden eine viel zitierte und rezipierte40 Typologie der affirmative action.41 Mangold und Payandeh unterscheiden unter den dort aufgeführten acht Maßnahmentypen reaktive Maßnahmen als typische Konsequenzen der Diskriminierungsverbote, Maßnahmen zur Beseitigung der Wirkung mittelbarer Diskriminierung (je nach Bezugsrahmen der statistischen Vergleichsgruppe) sowie angemessene Vorkehrungen und (eindeutig) proaktive Gleichstellungsmaßnahmen, und ordnen positive Maßnahmen der letzteren Kategorie zu.42 In dieser unterscheidet Mangold im Anschluss an McCrudden indirekte Fördermaßnahmen (etwa Projekte und Förderansätze für bildungs- und einkommensschwache Schichten im Bildungssektor), die individuelle Ansprache und Förderung von Personen aus benachteiligten Gruppen (etwa in Form von Trainingsprogrammen für Bewerbungsverfahren) und gruppenbasierte Maßnahmen (insbesondere sogenannte Quoten).43 Eine ähnliche Dreiteilung findet sich bei Lindner.44 Koloianow knüpft an den Dualismus von Chancen- und Ergebnisgleichheit an. Auf 15 Antidiskriminierung, Desegregation und Integration gerichtete Maßnahmen mit dem Ziel der Herstellung von Chancengleichheit bezeichnet er als schwach und an den Wirkungen von Antidiskriminierung ansetzende, auf Angleichung der ursprünglich benachteiligten und der ursprünglich begünstigten Gruppe (im Sinne von Ergebnisgleichheit) zielende Maßnahmen, insbesondere also Quoten, als stark.45 An Zielsetzungen orientiert sich in Bezug auf Maßnahmen der Frauenförderung eine 16 von der Generalanwaltschaft beim EuGH skizzierte Dreiteilung:46 Die erste Gruppe suche 39 Baer, Chancen und Risiken positiver Maßnahmen: Grundprobleme des Antidiskriminierungsrechts,
in: in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Positive Maßnahmen, 2010, S. 23 (36).
40 Z. B. Porsche, Bedeutung, Auslegung und Realisierung des Konzepts der positiven Maßnahmen nach
§ 5 AGG im unionsrechtlichen Kontext, 2015, S. 211 ff.; → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 125 f.; Mangold (Fn. 6), S. 292 ff.; referierend auch Markard (Fn. 1), S. 3. 41 McCrudden, A Comparative Taxonomy of „Positive Action“ and „Affirmative Action“ Policies, in: Schulze (Hrsg.), Non-Discrimination in European Private Law, 2011, S. 157. Folgende der acht Kategorien beziehen sich auf positive Maßnahmen: proaktive Maßnahmen, um mittelbare, systemische und institutionelle Diskriminierung abzuschaffen; mittelbar inkludierende Maßnahmen wie staatliche Unterstützung für bestimmte innerstädtische Gruppen, so dass bestimmte rassische oder ethnische Gruppen überproportional profitieren, weil sie überproportional bedürftig sind; Werbung und Training gezielt für unterrepräsentierte Gruppen; türöffnende Maßnahmen (tie-break policies): Bevorzugung von Individuen aus unterrepräsentierten Gruppen, wenn diese Individuen gleich gut qualifiziert sind; Vorzugsbehandlung (preferential treatment) für Mitglieder einer Zielgruppe; Neudefinition davon, was als „Leistung“ gilt und wie diese zu bewerten ist. Zur Kategorie der angemessenen Vorkehrungen (reasonable accommodation) siehe unten Rn. 25 (A. II. 3.). 42 → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 126. 43 Mangold (Fn. 6), S. 292 ff. 44 Lindner, Von der Chancengleichheit zur gleichen Teilhabe, ZPTh 2018, S. 269 (271). 45 Kaloianov, Affirmative Action und Integration von MigrantInnen, 2008, S. 16 ff. 46 EuGH, Schlussanträge des GA Tesauro v. 6.4.1995, Rs. C-450/93, Kalanke, Rn. 9 ff.; Bezugnahme in EuGH, Schlussanträge des GA Alber v. 6.11.2001, Rs. C-476/99, Lommers, Rn. 10 mit Fn. 5. Margarete Schuler-Harms
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Ursachen für die geringen Chancen von Frauen auszuräumen, etwa durch Einfluss auf die Berufswahl und die Berufsbildung; die zweite Gruppe ziele auf Förderung des Gleichgewichts zwischen Berufs- und Carearbeit sowie der besseren Verteilung der Carearbeit auf beide Geschlechter; die dritte Gruppe suche fortdauernde nachteilige Auswirkungen historischer rechtlich relevanter Diskriminierung durch eine Entscheidungsbindung (etwa durch Quotensysteme) zu korrigieren, welche Stereotype kompensiere.47 Rechtlich bedeutsam ist eine Unterscheidung positiver Maßnahmen nach ihrer Wir- 17 kungsintensität für eine betroffene Konkurrenzgruppe.48 Besondere Anforderungen an das Recht stellen danach gruppenbasierte Maßnahmen der Bevorzugung bei finaler Zuteilung einer Ressource (etwa eines Arbeitsplatzes) wie Quoten und Maßnahmen mit vergleichbarer Stoßrichtung. In einem weiteren Sinn zählen dazu auch Maßnahmen, die einer kategorial bestimmten Gruppe zugestanden, einer anderen Gruppe aber versagt werden.49 Einen großen Anwendungs- und Wirkbereich50 finden positive Maßnahmen auf dem 18 Gebiet von Arbeit und Beschäftigung einschließlich des öffentlichen Dienstes, einen weiteren auf dem Gebiet von Bildung, Aus-, Fort- und Weiterbildung. Positive Maßnahmen betreffen auch die Förderung der Teilhabe an Gremien und Führungspositionen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft sowie im Bereich politischer Repräsentation. Sie finden zunehmend auch Eingang in andere gesellschaftliche Bereiche wie die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen51 oder im Wohnungsmarkt.52 Die Maßnahmen und ihre rechtlichen Grundlagen stehen damit zugleich in unterschiedlichen rechtlichen Kontexten: Dem Arbeitsrecht und Recht des öffentlichen Dienstes, dem Gesellschaftsrecht sowie dem öffentlichen Wirtschaftsrecht, dem Recht von Bildung, Aus- und Weiterbildung, dem Mietrecht sowie dem Staatsrecht unter Einschluss des Wahl- und Parteienrechts. Positive Maßnahmen lassen sich auch nach jenen Personen und Institutionen typisie- 19 ren, an die das Recht Zielbestimmungen und Aufträge richtet, die es zu positiven Maßnahmen ermächtigt und gegebenenfalls auch verpflichtet. Zielbestimmungen und Gebote des Völker- und Unionsprimärrechts richten sich an die Konventions- und Mitgliedstaaten und ihre Institutionen. Die Staaten erlegen sich verfassungsrechtliche Verpflichtungen auf und formulieren einfachrechtliche Bindungen, die sie gegebenenfalls auf Bereiche mittelbarer Staatsverwaltung erstrecken. Als Adressaten staatlicher Zielvorgaben, Aufträge und Verpflichtungen kommen auch Privatpersonen sowie Parteien und Wählervereinigungen in Betracht.53 Auch insoweit sind staatliche Zielvorgaben und selbst Rechtspflichten denkbar. Bezug hierauf bei Thüsing in: MüKo BGB, Bd. I, 9. Aufl. 2021, § 5 AGG Rn. 7 ff. Zur Kategorisierung Porsche (Fn. 40), S. 207. Porsche (Fn. 40), S. 207, nennt das Beispiel des erweiterten Urlaubs für ältere Beschäftigte. Vgl. dazu Porsche (Fn. 40), S. 206. Vgl. Richtlinie 2004/113/EG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen v. 13.12.2004, ABl. 2004 L 373, S. 37. 52 Thüsing/Vianden, Rechtsfreie Räume? Die Umsetzung der Antirassismusrichtlinie im Wohnungsbereich – Zum Umsetzungsbedarf der Richtlinie 2000/43/EG im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, 2019. 53 Zur Geltung eines Staatsziels der Gleichberechtigung in Bezug auf andere Gruppen und die Legitima47 48 49 50 51
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§ 16 Positive Maßnahmen
Nach der Handlungsform lassen sich positive Maßnahmen in Form von Programmen, Konzepten, Initiativen, Politiken, Strategien und Einzelmaßnahmen unterscheiden. Rechtswissenschaftlich ist diese Kategorisierung vor allem für die Frage von Bedeutung, ob die Maßnahmen Außenwirkung entfalten und – nicht zwingend hiermit übereinstimmend – welche rechtsstaatlichen Anforderungen für sie gelten. III. Abgrenzung 1. Zweck
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Positive Maßnahmen als Strategien und Instrumente des Antidiskriminierungsrechts dienen jedenfalls auch dem Ziel, Diskriminierung zu beenden54 und so tatsächliche (substanzielle) Gleichberechtigung herzustellen.55 Die Abgrenzung zu sozialstaatlicher Förderung fällt oft nicht leicht, denn auch diese verfolgt das Ziel einer Verbesserung der sozialen Position von Einzelnen oder Gruppen und ist „gerichtet auf Beseitigung oder Minderung von Nachteilen, insbesondere auch der Vermittlung von Chancengleichheit.“56 Positive Maßnahmen lassen sich hiernach als eine durch eine besondere Zwecksetzung ausgezeichnete Teilmenge aller Fördermaßnahmen zur Herstellung faktischer Gleichheit verstehen.57 Die Abgrenzung bleibt vor allem dann schwierig, wenn sich die Förderung auf bestimmte benachteiligte Gruppen bezieht und deren Chancen – etwa durch Maßnahmen der Ausbildungsförderung – verbessert werden sollen: Im Hinblick auf die (soziale) Herkunft werden trotz deren Nennung in Art. 3 Abs. 3 GG Fördermaßnahmen nicht im Antidiskriminierungsrecht, sondern in der Regel im Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz verortet.58 Lange galt dies auch für Maßnahmen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen;59 die Kategorie der Behinderung erhielt erst mit der UN- Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK)60 und der Einfügung des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG einen expliziten antidiskriminierungsrechttion im privaten Bereich positiver Maßnahmen auch in Gestalt von Quoten vgl. Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 364; für das EU-Antidiskriminierungsrecht Boysen (Fn. 7), Art. 3 Rn. 149 ff., jeweils m. w. N. 54 Baer (Fn. 39), S. 36, 38. Baer sieht darin eine „Querschnittsaufgabe demokratischer Politik im aktivierenden Gewährleistungsstaat“, S. 37. 55 Grünberger, Personale Gleichheit: Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht, 2013, S. 707; Bieback, Die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts, 1997, S. 37: Ziel, über die rechtliche Gleichstellung hinaus die soziale Lage besonders benachteiligter Gruppen zu verbessern; vgl. auch Fuchsloch, Das Verbot der mittelbaren Geschlechtsdiskriminierung, 1994, S. 128 ff. 56 Zacher, Sozialrecht und Gerechtigkeit, in: v. Maydell/Eichenhofer (Hrsg.), Abhandlungen zum Sozialrecht, 1993, S. 308 (317 f.), unter zusätzlicher Nennung der Familien. Vgl. auch Waltermann, Sozialrecht, 14. Aufl. 2020, § 2 Rn. 46. 57 Vgl. auch Abgrenzung im Bereich der Schutzpflichten bei Payandeh (Fn. 5), S. 12 f. 58 Das BVerfG versteht Herkunft als „ständisch-soziale Abstammung und Verwurzelung“ und hat soziale Ungleichheit nicht zum Gegenstand des in Art. 3 Abs. 3 GG aufgenommenen Kriteriums gemacht, vgl. Boysen (Fn. 7), Art. 3 Rn. 184 f. m. w. N. 59 Vgl. noch Pfarr (Fn. 17), S. 94 f. 60 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen v. 13.12.2006, BGBl. 2008 II, S. 1420. Margarete Schuler-Harms
A. Positive Maßnahmen als Element des Antidiskriminierungsrechts
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lichen Bezug.61 Auch der Mutterschutz folgt beiden Logiken und wurde lange allein im Sozialstaatsprinzip verortet: Art. 6 Abs. 4 GG ist einerseits ein soziales Grundrecht in Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips und knüpft hierfür andererseits an einen an der Kategorie des Geschlechts orientierten Tatbestand an.62 Nicht in die Kategorie der positiven Maßnahmen fallen sozialstaatlich motivierte Stel- 22 lenvorbehalte, Quoten und andere Vergünstigungen, die an die an erlittenes Unrecht oder kriegsbedingte Lasten anknüpfen.63 Auch Förderprogramme für ausscheidende Soldatinnen und Soldaten aus dem Wehrdienst wie der Stellenvorbehalt für den öffentlichen Dienst für aus dem Wehrdienst ausscheidende Soldatinnen und Soldaten (§ 10 Soldatenversorgungsgesetz) zählen nicht dazu.64 Sie dienen ausschließlich sozialstaatlichen sowie wehrrechtlichen Zwecken65 und stehen außerhalb des Antidiskriminierungsrechts.66 Auch Quotierungen im Dienstrecht des Bundes nach Landeszugehörigkeit sind nicht 23 Teil des Antidiskriminierungsrechts. Art. 36 Abs. 1 S. 1 GG formuliert, einer schon in der Weimarer Republik begründeten Staatspraxis folgend, einen Grundsatz der föderativen Parität. Hiernach sind bei den obersten Bundesbehörden, nach herrschender Meinung (in entsprechender Anwendung des Art. 36 Abs. 1 S. 1 GG) auch bei den Zentralstellen nach Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG sowie den Behörden und Einrichtungen nach Art. 87 Abs. 3 61 Zu den Funktionen des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG → Zinsmeister, § 9 Rn. 69 ff. Zur Andersartigkeit der Dis-
kriminierungsverbote zu sozialstaatlichen Regelungen vgl. Britz, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL 64 (2005), S. 357 (384 ff.). 62 Vgl. Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 281 ff., 287 f.; vgl. aber Heiderhoff, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 6 Rn. 195: „Abs. 4 enthält vor allem eine Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips“; ähnlich Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: August 2021, Art. 6 Rn. 68; vgl. auch BVerfGE 32, 273 (279) – Mutterschutz I (1972); BVerwG, NJW 1993, S. 696 (697). 63 § 9 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes v. 11.5.1951, BGBl. 1951 I, S. 291. Weitere Regelungen zur bevorzugten Berücksichtigung von Personen bei Besetzungsentscheidungen enthielt bis 1991 § 9 des Gesetzes über Hilfsmaßnahmen für Heimkehrer (Heimkehrergesetz) v. 9.6.1950, BGBl. 1950 I, S. 221, für nach dem 1.1.1948 aus Kriegsgefangenschaft heimgekehrte ehemalige Soldaten; § 8 des Gesetzes zur Regelung der Weiterverwendung nach Einsatzfällen (Einsatzweiterverwendungsgesetz – EinsWVG) v. 12.12.2007, BGBl. 2007 I, S. 2070, neugefasst am 4.9.2012 durch BGBl. 2012 I, S. 2070, zuletzt geändert durch Gesetz v. 19.6.2020, BGBl. 2020 I, S. 1328; § 16 Bundesevakuierungsgesetz; § 77 Bundesvertriebenengesetz. Vgl. Pfarr (Fn. 17), S. 95; Papier/Heidebach, Rechtsgutachten zur Frage der Zulässigkeit von Zielquoten für Frauen in Führungspositionen im öffentlichen Dienst sowie zur Verankerung von Sanktionen bei Nichteinhaltung, 2014, S. 18 f. 64 Papier/Heidebach (Fn. 63), S. 19; kritisch Lorse, Privilegierter Zugang von Soldaten zum Beamtenverhältnis – verfassungsrechtlich zulässig?, DVBl. 2020, S. 1577. 65 Vergleichbare Förderprogramme für Militärveteranen gibt es auch in anderen Ländern. Vgl. für die USA Schubert (Fn. 1), S. 165 Fn. 823, wonach in den USA entsprechende Präferenzen bereits seit 1865 gewährt werden und im Veterans’ Preference Act von 1944 zusammengefasst wurden; vgl. auch Dworkin, Umgekehrte Diskriminierung, in: Rössler (Hrsg.), Quotierung und Gerechtigkeit, 1993, S. 44 (77), als Kriterium der Studienplatzvergabe für ehemalige Soldaten, die vor Eintritt in den Militärdienst an der Fakultät waren. 66 Vgl. Bowe-Gutmann, Frauen im öffentlichen Dienst – Entwicklung und Maßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland, Schweden und den USA, Band III, Teil D: Bericht der Vereinigten Staaten von Amerika, 1982, S. 23; Colneric, Frauen, Quoten und Soldaten, in: FS Kehrmann, 1997, S. 125 ff. Margarete Schuler-Harms
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§ 16 Positive Maßnahmen
S. 1 GG67 Beamte aus allen Ländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden. Dieser Proporz wird begründet mit der Vertrautheit der Beamten mit den besonderen Verhältnissen und Eigenarten ihrer Bundesländer sowie dem Vertrauen der Länder in die Bundesverwaltung, wenn gewährleistet ist, dass die Beamten aus allen Ländern kommen.68 Informelle Länderquoten prägen über das Besetzungsverfahren nach Art. 95 Abs. 2 GG auch die Besetzung der Bundesgerichte.69 Art. 36 Abs. 2 sieht die Berücksichtigung der föderalen Gliederung und der besonderen landsmannschaftlichen Verhältnisse der Länder in den Wehrgesetzen vor. Um positive Maßnahmen handelt es sich auch hierbei nicht. 2. Maßnahmen
In einem weit verstandenen Sinn sind positive Maßnahmen all jene Maßnahmen, die darauf zielen, zu Gleichstellung und Vielfalt ohne Ausgrenzung beizutragen.70 Allerdings haben auch die Gleichheitssätze und vor allem die Diskriminierungsverbote mit dem Abbau rechtlicher Diskriminierungen einen solchen historischen Beitrag erbracht.71 Auch Maßnahmen zur Abwehr mittelbarer (indirekter) Diskriminierungen setzen bei einer Analyse der Wirklichkeit an. Gleichwohl werden diese Verbote nicht zu den positiven Maßnahmen gezählt, da bei ihnen die auf Veränderung der Wirklichkeit gerichtete Tendenz nicht (mehr) im Vordergrund steht. Beispielsweise fordert das Entgelttransparenzgesetz von privaten Arbeitgebern einer bestimmten Größe die regelmäßige Durchführung betrieblicher Prüfverfahren zur Überprüfung ihrer Entgeltregelungen und von Arbeitgebern geeignete Maßnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen, wenn diese sich aus der Prüfung ergeben. Dabei handelt es sich zwar um gesetzliche Pflichten zu aktivem Tun, doch dienen die Maßnahmen dem Zweck der Beseitigung von Entgeltungleichheit für Frauen und Männer.72 Die Maßnahmen sind – reaktiv – auf Aufhebung einer verbotenen Diskriminierung gerichtet, sind teilweise auch als prozedurale Vorkehrungen an diesem Zweck orientiert und daher nicht als positive Maßnahmen einzuordnen.73 25 Besonders schwer fällt die Abgrenzung der positiven Maßnahmen zu angemessenen Vorkehrungen (reasonable accommodation).74 Als angemessene Vorkehrungen gelten aktive Maßnahmen wie z. B. Anpassungen eines Arbeitsplatzes an eine Behinderung oder das 24
67 Bauer, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 36 Rn. 11 m. w. N.; Gubelt/Bickenbach, in: v.
Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 36 Rn. 11 m. w. N.; Münkler, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke (Hrsg.), GG, 15. Aufl. 2021, Art. 36 Rn. 5; Hense, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: August 2021, Art. 36 Rn. 4. 68 Gubelt/Bickenbach (Fn. 66), Art. 36 Rn. 1 m. w. N. 69 Vgl. BVerfGE 143, 22 (32) – Bundesrichterwahl (2016); Jachmann-Michel, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Stand: Januar 2019, Art. 95 Rn. 127 m. w. N. 70 Baer (Fn. 39), S. 23 (36). 71 Für die equal protection clause im US-amerikanischen Verfassungsrecht Schubert (Fn. 1), S. 126 f.; für die mittelbare Diskriminierung Burg, Positive Maßnahmen zwischen Unternehmerfreiheit und Gleichbehandlung, 2009, S. 56 f. 72 Vgl. §§ 17–19 EntgTranspG sowie die Zweckbestimmung in § 1 EntgTranspG. 73 A. A. Horcher, in: Hau/Poseck (Hrsg.), BeckOK BGB, Stand: November 2021, § 5 AGG Rn. 17. 74 → Degener, § 15 Rn. 29. Margarete Schuler-Harms
B. Rechtsentwicklung und rechtlicher Rahmen
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fortgeschrittene Alter einer Person, Anpassungen einer Wohnung, der Sprache oder Schrift, teilweise auch Ausnahmen von Verboten aus Gründen der Religion, etwa des Schächtens oder der Kopfbedeckung auf Passbildern, oder Regelungen über Arbeitsfreistellungen an religiösen Feiertagen. Doch der Zweck dieses aktiven Handelns besteht in der Erfüllung einer Rechtspflicht zur Gleichbehandlung,75 und die Vorenthaltung solcher Maßnahmen erfüllt nach verbreiteter Ansicht den Tatbestand der mittelbaren Diskriminierung. Angemessene Vorkehrungen bilden eine weitere, recht neue Rechtsfigur des Antidiskriminierungsrechts,76 deren Grenzlinie zu den positiven Maßnahmen vom jeweiligen Verständnis der Diskriminierungsverbote bestimmt wird und noch nicht abschließend ausgelotet ist.77 Teilweise werden angemessene Vorkehrungen als individuelle Maßnahmen charakterisiert und strukturelle Förderungen den positiven Maßnahmen zugerechnet,78 wobei noch offen ist, ob der individuelle Charakter Ursache oder Folge der Einordnung angemessener Vorkehrungen ist.79 Angemessene Vorkehrungen unterscheiden sich von positiven Maßnahmen auch durch ihre typische Anlage auf Dauer, da sie einen Ausgleich substanzieller, sich aus einer besonderen, vom „Normalmodell“ abweichenden Situation ergebenden Nachteile mit dem Ziel der Gleichberechtigung bzw. gleichen Teilhabe ausgleichen sollen. Die Abgrenzung bleibt schwierig, auch deshalb, weil „angemessene Vorkehrungen“ wie positive Maßnahmen proaktiv orientiert sind.
B. Rechtsentwicklung und rechtlicher Rahmen I. Rechtsentwicklung und Diskussion in den USA
Ihren Ursprung haben positive Maßnahmen im Antidiskriminierungsrecht und der Anti- 26 diskriminierungspolitik der USA. Erstmals wurden der Begriff „affirmative action“ im Jahr 1935 im Zusammenhang des National Labor Relations Act als Verpflichtungen der Arbeitgeber zur Ausmerzung von „unfair labour practices“ gebraucht.80 Seit den 1960er Jahren81 bezeichnet er eine aktive Politik zur Beseitigung von Antidiskriminierung zugunsten von 75 BAGE 147, 60; prägnant Schiek, Zwischenruf: Den Pudding an die Wand nageln? Überlegungen zu
einer progressiven Agenda für das EU-Antidiskriminierungsrecht, KJ 2014, S. 396 (405): „Akkommodierung von Differenz“; Mangold (Fn. 6), S. 282: „Gleichheit ohne Angleichung“, mit Bezug auf Gerhard, Gleichheit ohne Angleichung, 1990. Anders offenbar Thüsing (Fn. 47), § 5 AGG Rn. 25 mit Verweis auf § 1 AGG Rn. 33. Vgl. auch Wladasch/Liegl, Positive Maßnahmen, 2009, S. 7. 76 Vgl. auch die Definition in Art. 2 UAbs. 4 UN-BRK, Art. 5 RL 2000/78/EG; Mangold (Fn. 6), S. 300 ff. m. w. N.; Kocher/Wenckebach, § 12 AGG als Grundlage für Ansprüche auf angemessene Vorkehrungen, SR 2013, S. 17 ff.; → Degener, § 15 Rn. 20. 77 Vgl. → Degener, § 15 Rn. 30 ff. 78 Degener, Antidiskriminierungsrechte für Behinderte: Ein globaler Überblick, ZaöRV 65 (2005), S. 887 (915 f.); Kocher/Wenkebach (Fn. 76), S. 21; Mangold (Fn. 6), S. 286 f. 79 Vgl. Degener (Fn. 78), S. 912 ff., mit dem Nachweis, dass in den untersuchten Maßnahmen unterschiedliche Antidiskriminierungskonzepte zu finden sind. 80 Schubert (Fn. 1), S. 1 m. w. N.; Peters/Birkhäuser (Fn. 3), S. 11. 81 Begründet wurde „affirmative action“ im Zusammenhang des Antidiskriminierungsrechts durch John F. Kennedy, Executive Order 10925 v. 6.3.1961. Margarete Schuler-Harms
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§ 16 Positive Maßnahmen
Angehörigen diskriminierter ethnischer Minderheiten vor allem im Zusammenhang von College-Zulassungen, in die – zunächst eher beiläufig – auch Frauen integriert wurden.82 Präsidentendekrete verpflichteten staatliche oder staatlich finanzierte Arbeitgeber auf positive Maßnahmen mit dem Ziel der Herstellung von Chancengleichheit in Bezug auf Ethnizität, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder Nationalität von Arbeitnehmern und legten Quoten für die Beschäftigung von Minderheiten und Frauen bei staatlichen Aufträgen fest.83 Der US Supreme Court formulierte 1978 in der Entscheidung Regents of University of California v. Bakke erste Grundsätze84 und führte diese Rechtsprechung in einer Reihe von Entscheidungen zur Kategorie race fort.85 Über eine Frauen fördernde Maßnahme entschied der Supreme Court erstmals 1987.86 27 Der Age Discrimination Employment Act von 1967 verbietet Arbeitgebern mit mindestens 20 Beschäftigten die Benachteiligung von Beschäftigten jenseits des 40. Lebensjahrs. In der Entscheidung General Dynamics Land Systems v. Cline verneinte der Supreme Court die Frage, ob eine positive Maßnahme zugunsten älterer Beschäftigter in der Gruppe der über 40-Jährigen die jüngeren diskriminiere.87 Das Merkmal des Alters wirkt damit in Bezug auf die Zulässigkeit positiver Maßnahmen asymmetrisch: Sie sind zugunsten, nicht aber zulasten älterer Beschäftigter möglich.88 28 Strenge Verpflichtungen zu positiven Maßnahmen regelte das U. S.-amerikanische Recht ebenfalls früh zugunsten von Menschen mit Behinderungen. Der Rehabilitation Act von 1973 verpflichtet die Bundesbehörden zur Vorlage von Programmen für positive Maßnahmen zur Einstellung und zum Aufstieg von Menschen mit Behinderungen und sieht vor, dass Vertragspartner des Bundes ab einem bestimmten Mindestauftragsvolumen positive Maßnahmen zugunsten fähiger Menschen mit Behinderungen ergreifen sollen mit dem Ziel, deren Einstellung und Beförderung zu unterstützen. Unmittelbar wurden durch den Americans with Disabilities Act von 1990 Arbeitgeber mit mindestens 15 Beschäftigten auf angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen verpflichtet und die Unterlassung solcher Vorkehrungen zur Diskriminierung erklärt.89 82 Peters/Birkhäuser (Fn. 3), S. 11 m. w. N. 83 Lyndon B. Johnson, Executive Order 11246 v. 24.9.1965 und 11375 v. 13.10.1967; vgl. auch Richard
Nixon, Executive Order 11478 v. 8.8.1969; vgl. auch Rössler (Fn. 9), S. 11; Schubert (Fn. 1), S. 138 f.
84 US Supreme Court, Regents of the University of California v. Allan Bakke, 438 U. S. 265 (1978); in deut-
scher Übersetzung mit Kürzungen in: EuGRZ 1978, S. 522.
85 Überblick über die Rechtsprechung bei Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl.
1996, S. 238 ff.; Raasch, Die Rechtsprechung des US Supreme Court zur reverse discrimination, DuR 1991, S. 178 ff.; Schubert (Fn. 1) S. 139 ff.; Burg (Fn. 71), S. 142 ff.; Dworkin, What Did Bakke Really Decide?, in: ders., A Matter of Principle, 1985 (reprint 2001), S. 304 ff. 86 US Supreme Court, Johnson v. Transportation Agency, 480 U. S. 616 (1987), Auszüge in deutscher Übersetzung in: EuGRZ 1989, S. 404. 87 Gegenstand der Entscheidung bildete der tarifvertraglich vereinbarte Wegfall einer Zahlung an pensionierte ehemalige Beschäftigte, von dem Beschäftigte ab dem 50. Lebensjahr ausgenommen bleiben sollten. 88 Wiedemann/Thüsing, Der Schutz älterer Arbeitnehmer und die Umsetzung der RL 2000/78/EG, NZA 2002, 1234 (1240); Burg (Fn. 71), S. 134 f. 89 Vgl. Burg (Fn. 71), S. 138 f. Zur Rechtsfigur der „angemessenen Vorkehrungen“ siehe oben Rn. 25 (A. III. 2.). Margarete Schuler-Harms
B. Rechtsentwicklung und rechtlicher Rahmen
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II. Europäische Union
Das Konzept der positive action wurde früh in das Recht der Europäischen Union integriert. 29 Hier wie in den Mitgliedstaaten prägte zunächst das Ziel der Gleichberechtigung von Frauen die Rechtsdiskussion und Rechtsentwicklung. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei jeweils dem gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt. Für die Europäische Union erklärt sich dies aus ihrem ersten und frühesten Ziel der Schaffung eines Binnenmarktes. Die erste Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von 30 Männern und Frauen90 enthielt in Art. 2 Abs. 4 eine Regelung zugunsten positiver Maßnahmen und konzipierte damit einen neuartigen Baustein für geschlechtsspezifische Gleichbehandlung im Erwerbsleben.91 Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde 1999 dem zuvor in Art. 119, sodann in Art. 141 EGV enthaltenen Verbot der Entgeltdiskriminierung ein neuer Absatz 4 hinzugefügt, der eine Ermächtigung zu positiven Maßnahmen mit dem Ziel einer Gleichstellung der Geschlechter im Arbeitsleben primärrechtlich verankerte. Der die Regelung in Art. 141 Abs. 4 EGV (heute 157 Abs. 4 AEUV ) aufnehmende Art. 23 Abs. 2 GrCh92 stellt klar, dass der Grundsatz der Gleichheit der Beibehaltung oder Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht nicht entgegensteht. Auf eine Erweiterung der Politikbereiche im Amsterdamer Vertrag folgte eine Auswei- 31 tung des sekundärrechtlichen Antidiskriminierungsrechts. Art. 5 RL 2000/43/EG (Antirassismus-Richtlinie)93 und Art. 7 Abs. 1 RL 2000/78/EG (Rahmenrichtlinie)94 erlauben positive Maßnahmen als Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgebot. Der Anwendungsbereich der Antirassismus-Richtlinie wurde besonders weit gefasst und bezieht sich neben Beschäftigungsverhältnissen auf den sozialen Bereich, das Bildungswesen und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen.95 In Art. 2 Abs. 8 RL 2002/73/EG96 und später Art. 3 RL 2006/54/EG (Gleichbehandlungsrichtlinie)97 wurde ein Verweis auf die primär90 Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von
Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen v. 9.2.1976, ABl. 1976 L 39, S. 40. 91 Überblick zur Entwicklungsgeschichte bei Raasch (Fn. 1), S. 4 ff. 92 Vgl. Jarass/Kment, EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2019, § 26 Rn. 1; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2021, Art. 23 Rn. 3, 14; Mohr, in: Franzen/Gallner/Oetker (Hrsg.), Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2022, Art. 23 GRCh Rn. 4. 93 Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft v. 29.6.2000, ABl. 2000 L 180/22 (Antirassismus-Richtlinie). 94 Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303, S. 16. (Rahmenrichtlinie). 95 Vgl. Art. 1, 3 RL 200/43/EG. Payandeh (Fn. 5), S. 40; näher Barskanmaz, Recht und Rassismus – Das menschenrechtliche Gebot der Diskriminierung wegen der Rasse, 2019, S. 173 f. 96 Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen v. 23.9.2002, ABl. 2002 L 269, S. 15. 97 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verwirklichung des GrundMargarete Schuler-Harms
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§ 16 Positive Maßnahmen
rechtliche Gewährleistung (heute Art. 157 Abs. 4 AEUV ) aufgenommen.98 Eine Ermächtigung zu positiven Maßnahmen enthält auch Art. 6 RL 2004/113/EG (Genderrichtlinie)99, also jene Richtlinie, die den geschlechtsspezifischen Diskriminierungsschutz auf den Verkehr mit Gütern und Dienstleistungen und damit das Vertragsrecht erweiterte. 32 In fünf Leitentscheidungen zog der EuGH zwischen 1995–2004 den positiven Maßnahmen der affirmative preference enge Grenzen.100 Eine Quote oder ihr vergleichbare Maßnahme muss hiernach die Beendigung struktureller Benachteiligung bezwecken und sich zur Erreichung dieses Zwecks eignen. Es darf außerdem keine mildere Maßnahme mit vergleichbarer Wirkung denkbar sein, wobei dem Gesetzgeber sowohl hinsichtlich der Eignung als auch der Erforderlichkeit ein Einschätzungsspielraum eingeräumt ist. Quoten- und vergleichbare Vorzugsregeln sollten, soweit dies nach Art der Nachteile geboten ist, zeitlich befristet sein. Ihre Eignung und Erforderlichkeit sollten evaluiert werden. Das Gebot der Angemessenheit erfordert im Falle sogenannter harter (Besetzungs-)Quoten101 unter Umständen Härtefallregelungen aus sozialen Erwägungen, deren Reichweite in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt ist. III. Deutschland 33 In Deutschland werden Quoten mit dem Ziel der Beseitigung struktureller Benachtei-
ligung seit den 1980er Jahren erwogen, diskutiert und verwirklicht. Wie in der EU und anderen europäischen Staaten bezogen sie sich zunächst auf das Merkmal des Geschlechts. Anders als in der EU standen am Beginn Maßnahmen zur Verbesserung des Zugangs zu politischen Ämtern und zum öffentlichen Dienst.102 Erstere wurden als Selbstverpflichtungen in Parteisatzungen aufgenommen.103 Letztere fanden zunächst Aufnahme in Verwaltungsvorschriften und später in den Gleichstellungsgesetzen von Bund und Ländern.104
satzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen v. 5.7.2006, ABl. 2006 L 204, S. 23 (Gleichbehandlungsrichtlinie). 98 Art. 1 RL 2002/73/EG verankerte außerdem den Grundsatz des Gender Mainstreamings, also der aktiven Berücksichtigung des Gleichberechtigungsziels bei der Formulierung und Umsetzung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften, Politiken und Tätigkeiten. 99 Richtlinie 2004/113/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen v. 13.12.2004, ABl. 2004, L 373, S. 37 (Genderrichtlinie). 100 EuGH, Urt. v. 17.10.1995, Rs. C-450/93, Kalanke; EuGH, Urt. v. 11.11.1997, Rs. C-409/95, Marschall; EuGH, Urt. v. 28.3.2000, Rs. C-158/97, Badeck; EuGH, Urt. v. 6.7.2000, Rs. C-407/98, Abrahamsson; EuGH, Urt. v. 30.9.2004, Rs. C-319/03, Briheche. 101 Zur Unterscheidung von Zielquoten und Besetzungsquoten oben Rn. 7 (A. II. 1. a)). 102 Rössler (Fn. 9), S. 12 f. 103 Vgl. die Hinweise bei Oebbecke, Quotierung auf Landeslisten, JZ 1988, S. 176; Ebsen, Verbindliche Quotenregelungen für Frauen und Männer in Parteistatuten, 1988; Maidowski, Umgekehrte Diskriminierung, 1989, S. 186 ff.; zur Historie in den einzelnen Parteien Werner, Gesetzesrecht und Satzungsrecht bei der Kandidatenaufstellung politischer Parteien, 2010, S. 74 ff., 96 ff., 113 ff., 122 ff., 148 ff. 104 Richtlinie zur Förderung von Frauen im öffentlichen Dienst der Freien und Hansestadt Hamburg v. 7.12.1982, umgesetzt durch Tarifvertrag zwischen dem Senatsamt für den Verwaltungsdienst der Freien und Hansestadt Hamburg und der Deutschen Angestelltengewerkschaft (Landesverband Hamburg), dem Margarete Schuler-Harms
B. Rechtsentwicklung und rechtlicher Rahmen
693
Diese Rechtslage erfuhr in den ersten drei Leitentscheidungen des EuGH grundsätzliche Konturen.105 Bis heute bewegen die „Quoten“, wie solche Maßnahmen und ihre Ermächtigungen verkürzt genannt werden, auch die wissenschaftliche Debatte. Zum etablierten Regelungsgut gehören auch Maßnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Carearbeit, die sich nicht explizit an Frauen richten, diesen aber in den statistisch überwiegenden Fällen zugutekommen. Das BVerfG hatte lange keinen Anlass, sich zu Quoten zu äußern.106 In zwei Ent- 34 scheidungen 1987 und 1992 leitete es aber aus dem Gleichberechtigungsgebot des Artikel 3 Abs. 2 GG a. F. die Ermächtigung des Staates zum Ausgleich faktischer Nachteile, die überwiegend Frauen treffen, durch begünstigende Regelungen ab.107 Der durch die Verfassungsreform von 1994 eingefügte Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG enthält einen diese Rechtsprechung bekräftigenden Verfassungsauftrag zur Herstellung tatsächlicher Gleichberechtigung von Frauen und Männern.108 Meilensteine in Bezug auf positive Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen bilden der 1994 eingefügte Verfassungsauftrag in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG sowie die 2006 geschlossene und 2008 ratifizierte UN-BRK. Hierauf werden seitdem109 positive Maßnahmen mit Bezug auf das Geschlecht und bestehende Behinderungen gestützt. Aktuell wird die Frage erörtert, ob die geltende Verfassungslage Quoten und vergleichbare Maßnahmen mit Bezug auf andere, in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG genannte Kategorien erlaubt.110 Verfassungspolitisch wird über eine Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG um einen staatsgerichteten Handlungsauftrag unter anderem zu positiven Maßnahmen debattiert.111 Deutschen Beamtenbund (Landesbund Hamburg) und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (Landesbezirk Nordmark) v. 30.11.1983 mit Wirkung zum 1.1.1984, abgedruckt in: Streit 1984, S. 89 f.; Richtlinie für die berufliche Förderung von Frauen in der Bundesverwaltung v. 24.2.1986, GMBl. 8/1986, S. 148. Die Verwaltung folgte dabei einer Empfehlung der für den öffentlichen Dienst der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission „Frau und Gesellschaft“, Bericht v. 29.8.1980, BT-Drs. 8/4461, S. 16. Zur Entwicklung vgl. Benda, Notwendigkeit und Möglichkeit positiver Aktionen zugunsten von Frauen im öffentlichen Dienst, 1986; Colneric, Frauenquoten auf dem Prüfstand des EG-Rechts, BB 1996, S. 265. 105 EuGH, Urt. v. 17.10.1995, Rs. C-450/93, Kalanke; EuGH, Urt. v. 11.11.1997, Rs. C-409/95, Marschall; EuGH, Urt. v. 28.3.2000, Rs. C-158/97, Badeck. 106 Vgl. nunmehr aber BVerfGE 156, 224 – Parität bei Bundestagswahl (2020) zur paritätischen Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts. 107 BVerfGE 74, 163 (180) – Altersruhegeld (1987); BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeitsverbot (1992). 108 Eckertz-Höfer, in: Denninger u. a. (Hrsg.) AK-GG, Bd. I, 3. Aufl. 2001, Art. 3 Rn. 74; Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Stand: Mai 2015, Art. 3 Abs. 2 Rn. 56; Boysen (Fn. 7), Art. 3 Rn. 166 f.; Staatsaufgabe“ bei Baer/Markard (Fn. 53), Art. 3 Abs. 2 Rn. 355 – jeweils unter Bezug auf die Genese in der Verfassungsreform von 1994. 109 Ableitung aus dem Sozialstaatsprinzip noch durch OVG Münster, Beschl. v. 23.10.1990, 12 B 2298/90; Benda (Fn. 104), S. 131 ff.; in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG (a. F.) auch Fuchsloch, Erforderliche Beseitigung des Gleichberechtigungsdefizits oder verfassungswidrige Männerdiskriminierung?, NVwZ 1991, S. 442 (444); Dix, Gleichberechtigung durch Gesetz, 1984, S. 372; Eckertz-Höfer, Frauen kommen … Art. 3 Abs. 2 und das Sozialstaatsgebot, in: FS Simon, 1987, S. 447 (475 ff.); Slupik, Die Entscheidung des GG für Parität im Geschlechterverhältnis, 1988, S. 81, 86 ff. 110 Vgl. die Nachweise oben Fn. 14. 111 Vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3 – Ersetzung des Wortes Rasse und Ergänzung zum Schutz gegen gruppenbezogene Menschenwürdeverletzungen) v. Margarete Schuler-Harms
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§ 16 Positive Maßnahmen
Das deutsche Recht optiert traditionell für eine starke Verpflichtung der öffentlichen Hand. Quotenregelungen für den öffentlichen Dienst mit dem Ziel der Herstellung geschlechtsspezifischer Gleichstellung zählen heute zum festen Bestand der Gleichstellungsgesetzgebung. In Gleichstellungs- und Gremiengesetzen verpflichten sich Bund und Länder auf Geschlechterquoten im öffentlichen Dienst sowie auf eine Quotierung der Gremienbesetzung in öffentlichen Unternehmen und Organisationen, teilweise auch solchen mit dem Recht zur Selbstverwaltung. Auf den öffentlichen Dienst beziehen sich auch aktuelle Rechtsentwicklungen und Debatten zu Quoten im Zusammenhang mit Migration.112 Quoten für Menschen mit Behinderungen, etwa in § 154 SGB IX, sind (auch) an öffentliche Arbeitgeber adressiert. 36 Einen Meilenstein für die Konzeption positiver Maßnahmen bedeuteten die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien und ihre Umsetzung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)113 von 2006. § 5 AGG rechtfertigt unter der Überschrift „Positive Maßnahmen“ unterschiedliche Behandlungen, wenn „durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes verhindert oder ausgeglichen werden sollen.“ Zulässig sind derartige Maßnahmen seitdem auch dann, wenn sie auf anderen Gründen als dem Geschlecht oder einer Behinderung beruhen. Von großer praktischer Bedeutung ist § 5 AGG für positive Maßnahmen aus Gründen einer Behinderung, rechtfertigt aber auch positive Maßnahmen aus anderen Gründen.114 Anders als Art. 7 der Rahmenrichtlinie erstreckt § 5 AGG dabei die Rechtfertigung für positive Maßnahmen über den Staat hinaus auf Private.115 37 2015 formulierte der Gesetzgeber eine verbindliche Mindestquote für die Aufsichtsräte börsennotierter, paritätisch geführter Unternehmen in Höhe von 30 % je Geschlecht116 und 2021 verbindliche Mindestquote von einer Frau bzw. einem Mann für mindestens drei Personen umfassende Vorstände in paritätisch geführten Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigen.117 Für Aufsichtsräte, Vorstände und nachgeordneten Führungsebenen 35
18.11.2020, BT-Drs. 19/24434 mit folgendem Formulierungsvorschlag für einen neuen Satz 3: „Der Staat gewährleistet Schutz gegen jedwede gruppenbezogene Verletzung der gleichen Würde aller Menschen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ (S. 6). Die Entwurfsbegründung verweist auf einen Vorschlag von Barskanmaz, Critical Race Theory in Deutschland, Verfassungsblog v. 24.7.2020. Diskussion und alternativer Formulierungsvorschlag bei Payandeh (Fn. 5), S. 58 f.: „Der Staat gewährleistet Schutz vor Diskriminierungen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Benachteiligungen hin.“ 112 Vgl. Rn. 4 (A. II. 1. a) mit Fn. 14). 113 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. 114 Vgl. Baer (Fn. 39), S. 23 (35 f.). 115 Horcher (Fn. 73), § 5 AGG Rn. 2. Vgl. auch die amtliche Begründung, BT-Drs. 16/1780, S. 34. 116 Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst v. 24.4.2015, BGBl. 2015 I, S. 642. Verfassungsrechtliche Einordnung bei Heidebach/Papier, Die Einführung einer gesetzlichen Frauenquote für die Aufsichtsräte deutscher Unternehmen unter verfassungsrechtlichen Aspekten, ZGR 2011, S. 305 ff.; Habersack/Kersten, Chancengleiche Teilhabe an Führungspositionen in der Privatwirtschaft, BB 2014, S. 2819 (2822 ff.). 117 Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst v. 7.5.2021, BGBl. 2021 I, S. 3311; Entwurf v. 15.2.2021, BT-Drs. 19/26689. Margarete Schuler-Harms
B. Rechtsentwicklung und rechtlicher Rahmen
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kleinerer Unternehmen wurden flexible Quoten für Frauen vorgeschrieben, die sich die Unternehmen selbst setzen und über deren Erreichung sie berichten sollten.118 Diese Anforderungen wurden 2021 verschärft; so sind nun insbesondere die häufig selbstgesetzten „Null-Quoten“ ausführlich und verständlich zu begründen.119 Positive Maßnahmen mit Bezug auf die Repräsentanz von Frauen haben, bislang kaum 38 erfolgreich, Eingang in das Wahlrecht gefunden. Eine Klausel im Kommunalwahlrecht von Rheinland-Pfalz, wonach auf Wahlzetteln ein Hinweis die numerische Unterrepräsentanz von Frauen aufgenommen werden sollte, wurde als verfassungswidrig verworfen.120 Zielquoten und Soll-Regelungen für die Gestaltung von Wahllisten enthalten einige Kommunalgesetze.121 Gescheitert sind aber Gesetze mit präzisen und verbindlichen Vorgaben unter anderem zur Gestaltung der Wahllisten und teilweise auch Aufstellung der Direktmandate in Brandenburg und Thüringen.122 Weitere Bestrebungen auf diesem Gebiet zeichnen sich ab.123 Das BVerfG verneint zwar – ebenso wie der BayVerfGH124 – eine Verfassungspflicht zu entsprechenden Veränderungen des Wahlrechts, lässt aber die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit ausdrücklich offen.125
118 Vgl. insbesondere § 76 Abs. 2, 3, § 111 AktG, §§ 36, 52 Abs. 2 GmbHG. 119 Zur Einordnung Spindler, Die Einführung der Geschlechterquote auf Vorstandsebene – Das FüPoG
II, WM 2021, S. 817 ff.; Pieper/Rieken, Verbindliche Vorgaben für mehr Frauen in Vorständen, NZG 2021, S. 169; zum (abweichenden) Gesetzentwurf Leyendecker/Balinger, Frauenquoten im Gesellschaftsrecht – Eine Kritik am Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Teilhabe von Frauen an Führungspositionen (FüPoG II), NZG 2020, S. 1212 ff. 120 Sechzehntes Landesgesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes v. 8.5.2013, GVBl. RheinlandPfalz 2013, S. 139; VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 13.6.2014, VGH N 14/14 u. VGH B 16/14. Anders noch Ebsen, Quotierung politischer Entscheidungsgremien durch Gesetz?, JZ 1989, S. 553 (559). 121 Derzeit § 12 Abs. 1 HessKommG; § 15 Abs. 4 KWahlG Rheinland-Pfalz; § 9 Abs. 6 KWahlG B-W. 122 Für das Siebte Gesetz zur Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes – Einführung der paritätischen Quotierung – v. 30.7.2019, GVBl. Thüringen 2019, S. 322, ThürVerfGH, Urt. v. 15.7.2020, VerfGH 2/20. Für Artikel 1 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Brandenburgischen Landeswahlgesetzes – Parité-Gesetz vom 12.2.2019, GVBl. Brandenburg 2019 I Nr. 1, BbgStGH, Urt. v. 23.10.2020, VfGBbg 55/19. Besprechung durch Möllers, Krise der demokratischen Repräsentation vor Gericht: Zu den Parité-Urteilen der Landesverfassungsgerichte in Thüringen und Brandenburg, JZ 2021, S. 338. Zum Vorbild der ParitéGesetzgebung in Frankreich Zimmermann, Gleichheit und politische Repräsentation von Frauen: Anmerkungen zur Entscheidung des französischen Conseil constitutionnel v. 30.5.2000, EuGRZ 2000, S. 431 ff.; Cleff Le Divellec, Parité in Frankreich, djbZ 3/2019, S. 117 ff. 123 Vgl. den Bericht zu weiteren Gesetzentwürfen bei Geppert, Parité-Gesetzentwürfe in den Bundesländern, djbZ 3/2019, S. 119 ff.; Äußerungen der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Veit, Paritätsgesetz trotz negativer Urteile nicht am Ende, Zeit online v. 22.11.2020. 124 BayVerfGH Urt. v. 26.3.2018, Vf. 15-VII-16. 125 BVerfGE 156, 224 – Parität bei Bundestagswahl (2020). Auslotung verbleibender Gestaltungsspielräume bei Valentiner, How to … Paritätsgesetz. Mit dem Bundesverfassungsgericht zur verfassungskonformen Regelung, Verfassungsblog v. 4.2.2021; Schuler-Harms/Valentiner, Aktuelle Fragen des Wahlrechts und der Wahlrechtsgrundsätze, JURA 2021, S. 1172 (1176 ff.); Penz, Jetzt erst recht! – Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 15.12.2020, 2 BvC 46/19, DÖV 2021, S. 422; zurückhaltender die Besprechungen von Hecker, NVwZ 2021, S. 479; Sachs, JuS 2021, S. 897; kritisch Hillgruber, JA 2021, S. 435. Margarete Schuler-Harms
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§ 16 Positive Maßnahmen
IV. Völkerrecht 39 Das Konzept der positiven Maßnahmen hat auch im internationalen Vergleich weite Ver-
breitung gefunden.126 In Südafrika sind sie als wesentliches Element zur Überwindung der Apartheid und der Kompensation historischer Benachteiligung („corrective action“) gar mit der Identität von Staat und Verfassung verbunden.127 40 Im Völkerrecht enthalten die EMRK und die Internationalen Pakte (noch) wenige Anhaltspunkte. Bezüge auf positive Maßnahmen enthalten spätere Vertragswerke, vor allem das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW)128, das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung (ICERD)129, die Kinderrechtekonvention (UN-KRK)130 sowie die UN-BRK und auch einschlägige Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Diese Übereinkommen unterscheiden besondere Schutz- und Hilfsmaßnahmen,131 Sondermaßnahmen132 und angemessene Vorkehrungen.133 Das 12. Zusatzprotokoll zur EMRK von 2000 normiert ein allgemeines Diskriminie41 rungsverbot unter einleitender „Bekräftigung der Tatsache“ durch die Vertragsstaaten, „dass der Grundsatz der Nichtdiskriminierung die Vertragsstaaten nicht daran hindert, Maßnahmen zur Förderung der vollständigen und wirksamen Gleichberechtigung zu treffen, sofern es eine sachliche und angemessene Rechtfertigung für diese Maßnahmen gibt.“ Dieses Zusatzprotokoll wurde in Deutschland bislang nicht ratifiziert.134 Der EGMR bejaht aber die grundsätzliche Zulässigkeit positiver, auch gruppenbezogener, Maßnahmen.135 Einige Entscheidungen werden auch in Richtung einer Gebotenheit solcher Maßnahmen interpretiert;136 Verpflichtungen zu konkreten Fördermaßnahmen lassen sich aber auch nach dieser Auffassung weder aus Art. 14 EMRK, noch ließen sie sich aus dem 12. Zusatzprotokoll ableiten. 126 Überblick bei Sowell, Affirmative Action Around the World. An empirical study, 2004; Gerapetritis,
Affirmative Action Policies and Judicial Review Worldwide, 2016.
127 Vgl. Fn. 8; außerdem Gas, Affirmative Action in der Republik Südafrika – Unter Berücksichtigung ver-
fassungsvergleichender Bezüge, 2002, S. 39 ff.; Schubert (Fn. 1), S. 210 ff.; Archibong, Internationale Sichtweisen zu positiven Maßnahmen, 2009, S. 53 ff. 128 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau v. 18.12.1972, BGBl. 1985 II, S. 648. 129 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung v. 7.3.1966, BGBl. 1969 II, S. 961. 130 Übereinkommen über die Rechte des Kindes v. 20.11.1989, BGBl. 1992 II, S. 122. 131 Art. 5 ILO Übereinkommen Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf v. 25.6.1958. 132 Art. 4 Abs. 1 CEDAW; Art. 1 Abs. 4 ICERD. 133 Art. 5 Abs. 3 UN-BRK. 134 Das Zusatzprotokoll wurde von Deutschland unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. 135 Langenfeld (Fn. 108), Art. 3 Abs. 3 Rn. 33; Porsche (Fn. 40), S. 222 m. w. N.; Payandeh (Fn. 5), S. 33 ff. m. w. N.; Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh, Diversität in der Rechtswissenschaft, 2021, S. 57 f. 136 Insbes. Peters/König, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Bd. II, 2. Aufl. 2013, Kap. 21 Rn. 101 m. w. N.; Payandeh (Fn. 5), S. 34 f. m. w. N. A. A. Heyden/Ungern-Sternberg, Ein Diskriminierungsverbot ist kein Fördergebot. Wider die neue Rechtsprechung des EGMR zu Art. 14 EMRK, EuGRZ 2009, S. 82 (86 ff.); Langenfeld (Fn. 108), Art. 3 Abs. 3 Rn. 33. Margarete Schuler-Harms
B. Rechtsentwicklung und rechtlicher Rahmen
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V. Übergreifende Aspekte
Nach der Bindungswirkung lassen sich Ermächtigungs- und Rechtfertigungsnormen, Ziel- 42 bestimmungen, Aufträge und Verpflichtungen unterscheiden. Sie alle prägt – allein aufgrund der Tatsache ihrer Setzung – eine staatliche Programmatik zugunsten des Ziels einer Änderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und eines besonderen Handlungstyps.137 Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang Art. 4 Abs. 1 CEDAW, Art. 1 Abs. 4 ICERD, wonach positive Maßnahmen ausdrücklich nicht als Diskriminierung gelten. Beide Konventionen sehen außerdem vor, dass positive Maßnahmen grundsätzlich vorübergehenden Charakter haben und zu beenden sind, wenn die erwünschten Ergebnisse erzielt und über einen längeren Zeitraum beibehalten wurden.138 Zielbestimmungen, Aufgaben- und Auftragsnormen formulieren den (objektiv-recht- 43 lichen) Auftrag zu ihrer Gestaltung. Rechtspflichten oder gar individuelle Ansprüche formulieren sie in der Regel nicht.139 Vielmehr hat (und benötigt) der Gesetzgeber Spielraum bei der Einschätzung der Lage und der Wirksamkeit positiver Maßnahmen zu ihrer Änderung.140 Hier und da wird etwa im Völkerrecht eine allgemeine Verpflichtung zu positiven Maßnahmen formuliert und mit Berichtspflichten und Begründungslasten versehen.141 Rechtspflichten und vor allem individuelle Ansprüche können aber einfachrechtlich geregelt und auf konkrete Maßnahmen bezogen sein.142 In der Regel wurden positive Maßnahmen zunächst für eine oder einzelne Kategorien 44 (Rasse/Ethnie oder Geschlecht) ausgebildet und im Laufe der Zeit auf weitere Kategorien erstreckt. Nur wenige Ansätze finden sich zu positiven Maßnahmen mit Bezügen auf mehrere Kategorien im Zusammenhang der Mehrfachdiskriminierung:143 Sie findet Beach137 Vgl. auch Mangold (Fn. 6), S. 220: Proaktives Gleichstellungsrecht rational rekonstruiert als „bewusste
Entscheidung, die gesellschaftlichen Verhältnisse stärker inklusiv auszugestalten.“
138 UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau, Allgemeine Empfehlung Nr. 25
zu Artikel 4 Abs. 1 CEDAW (Zeitweilige Sondermaßnahmen), 2004; vgl. auch die früheren Allgemeinen Empfehlungen Nr. 5 (1988) über zeitweilige Sondermaßnahmen und Nr. 8 (1988) sowie die Allgemeine Empfehlung Nr. 23 (1997) über die Frau im politischen und öffentlichen Leben; Allgemeine Empfehlung Nr. 36 (2017) zum Recht von Mädchen und Frauen auf Bildung. 139 Für die Paritätsgesetzgebung vgl. BayVerfGH, Entsch. v. 26.3.2018, 15-VII-16, NVwZ 2018, 881; BVerfGE 156, 224 – Parität bei Bundestagswahl (2020) und nahezu einhellig das einschlägige Schrifttum. A. A. für ein paritätisches Wahlrecht Laskowski, Pro Parité!, djbZ 3/2014, S. 93 ff.; dies., Pro Parité! Ein verfassungskonformes Wahlrechtsmodell, in: Eckertz-Höfer/Schuler-Harms (Hrsg.), Gleichberechtigung und Demokratie, 2019, S. 125 ff. 140 Zur Struktur und Funktion von Staatszielbestimmungen vgl. Degenhart, Staatsrecht I, 38. Aufl. 2021, Rn. 588. 141 Vgl. z. B. die Verpflichtung der Konventionsstaaten zu zeitweiligen Sondermaßnahmen in UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau, Allgemeine Empfehlung Nr. 25 zu Art. 4 Abs. 1 CEDAW, 2004; König, Die Diskriminierungsverbote im Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW), ZESAR 2004, S. 214 ff. 142 Die positive Maßnahme kann gerade in der Begründung solcher Ansprüche bestehen, vgl. etwa den arbeitsrechtlichen Anspruch auf Kinderkrankenpflegetage nach § 45 SGB V, oder durch die Ausgestaltung als individueller Anspruch an Durchsetzungskraft gewinnen, etwa im Falle von Quoten für die Einstellung in den öffentlichen Dienst. 143 Zur wissenschaftlichen Perspektive der Intersektionalität vgl. unten Rn. 83 (E., bei Fn. 224). Margarete Schuler-Harms
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§ 16 Positive Maßnahmen
tung in Erwägungsgrund 14 RL 2000/43/EG (Antirassismus-Richtlinie), Erwägungsgrund 4 RL 2000/78/EG (Rahmenrichtlinie) und in § 4 AGG. Spezifische Berücksichtigung erfahren Frauen mit Behinderungen.144
C. Konzepte und Ziele 45 Hinter positiven Maßnahmen und ihren rechtlichen Grundlagen stehen konkrete Vorstel-
lungen und Konzepte von Gerechtigkeit. Für das Rechtskonzept positiver Maßnahmen sind solche außerhalb des Rechts liegenden Vorstellungen und Konzepte in unterschiedlicher Weise relevant: Sie zu erklären, kann den Gehalt entsprechender Zielvorgaben, Aufträge oder Verpflichtungen auf positive Maßnahmen über teleologische Argumente ermitteln helfen. Werden mit positiven Maßnahmen Interessen anderer, nicht der begünstigten Gruppe angehörender Personen berührt, können Vorstellungen zur ethischen Rechtfertigung solcher Effekte in politische Entscheidungen eingehen und sich in positivem Recht niederschlagen. Wie für die Rechtsprechung zu den sogenannten Quoten herausgearbeitet wurde,145 beruht auch die Konkretisierung vermeintlich oder tatsächlich kollidierender Rechtspositionen auf solchen (Vor-)Verständnissen von Gerechtigkeit. Deren Reflexion begünstigt die Rationalität von Entscheidungen. Die Vorstellungen, Konzepte und Debatten um Gerechtigkeit werden hier mit Blick auf den rechtlichen Kontext kurz skizziert.146 I. Gleichheitskonzepte
46 Den Gleichheitssätzen und Diskriminierungsverboten in staatlichen Verfassungen und
internationalen Konventionen liegt das Prinzip der Gleichheit vor dem Recht zugrunde; sie postulieren zum einen das Gebot der Gleichbehandlung, zum anderen den Grundsatz gleicher Rechte für alle ohne Ansehen der Person.147 Dem Konzept formaler Gleichheit entspricht eine symmetrische Konzeption von Diskriminierungsverboten als Differenzierungsverbote. An ein verpöntes Merkmal anknüpfende (essentialisierende) positive Maßnahmen erweisen sich schon wegen dieser Differenzierung als rechtfertigungsbedürftig. Dieses Konzept bildete einen wichtigen Schritt für die Entwicklung des Antidiskriminierungsrechts und ist noch heute für die rechtliche Gleichheit bedeutsam. Doch ignoriert es zugleich den Kern der Diskriminierung, nämlich die historisch gewachsene und tief in gesellschaftliche Strukturen eingeschriebene, mit der Sicherung von Privilegien in der Normalität verbundene ungleiche Verteilung von Ressourcen, Chancen und Anerkennung.148 Werden Regeln symmetrisch gefasst, so wird Wirklichkeit aus der Sicht derer
144 Art. 6 UN-BRK, § 154 Abs. 1 S. 2 SGB IX und öfter. 145 Siehe oben Rn. 33 f. (B. III.). 146 Weiterführend Sacksofsky (Fn. 85), S. 27 ff., 306 ff.; Hofmann, Jenseits von Gleichheit, 2019, S. 13 ff.;
Beiträge in Rössler (Fn. 9).
147 Hofmann (Fn. 146), S. 31. 148 Vgl. Baer (Fn. 39), S. 29.
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C. Konzepte und Ziele
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konstruiert, die privilegiert sind bzw. deren Leben nicht auch durch Diskriminierung geprägt ist. Den gesellschaftlichen und historischen Kontext von Diskriminierung nimmt das Kon- 47 zept sogenannter materialer bzw. substanzieller Gleichheit auf. Diskriminierungsverbote erweisen sich in diesem Konzept als Verbote der Dominierung149 bzw. Hierarchisierung150 bestimmter Gruppen. Positive Maßnahmen prägen dieses Konzept aus, da sie auf Verhinderung oder Beseitigung tatsächlicher Nachteile zielen, die bei Angehörigen dieser Gruppen besonders häufig auftreten. Im Konzept materialer Gleichheit benachteiligen positive Maßnahmen nicht diejenigen, die dieser kategorial bestimmten Gruppe nicht angehören und denen die Maßnahme damit nicht zugutekommt. Dem Konzept entspricht auch eine Anlage positiver Maßnahmen und ihrer Regeln auf begrenzte Zeit, denn eine Angleichung von Ressourcen, Chancen und Anerkennung im Zeitverlauf ist denkmöglich und die mit diesen Maßnahmen und Regeln verbundene Zielsetzung ihrer Natur nach temporär.151 Ein Angebot von Trainingsmaßnahmen für bestimmte Gruppen erübrigt sich mit Angleichung von Chancen der unterschiedlichen Gruppen etwa im Rahmen von Bewerbungsverfahren oder beruflichem Aufstieg. Die jeweilige Perspektive auf Gleichheit bestimmt auch das Verständnis der „angemes- 48 senen Vorkehrungen“ und ihre Abgrenzung zu den positiven Maßnahmen.152 Aus der Perspektive formal-symmetrischer Gleichheit wird der Katalog der „angemessenen Vorkehrungen“ eng begrenzt, aus der Perspektive des material-asymmetrischen Gleichheitskonzepts lässt er sich weiter fassen. Denn in letzterem Sinne erfüllen angemessene Vorkehrungen die Funktion einer Beseitigung von Diskriminierungen und erfahren durch die Diskriminierungsverbote eine besonders starke Legitimation.153 Die gleichzeitige Betroffenheit in unterschiedlichen Diskriminierungskategorien wird 49 als Herausforderung für die Strukturierung positiver Maßnahmen nur im Konzept materialer Gleichheit sichtbar. Die Forschung zur Intersektionalität ergibt, dass z. B. Maßnahmen, welche Frauen begünstigen, die nach Alter, Gesundheitsstatus, Staatsangehörigkeit, Migrationsgeschichte, sexueller Orientierung oder Einkommen der Frauen unterschiedlichen Chancen innerhalb der Gruppe von Frauen zu wenig berücksichtigen.154 Auch das Konzept materialer Gleichheit bietet allerdings keine Erklärung, worin die Ungerechtigkeit dieser Benachteiligung konkret besteht und welches Ziel mit der Verhinderung und Beseitigung solcher Benachteiligung verfolgt wird/werden kann. Sacksofsky (Fn. 85), S. 349 ff., unter Bezug auf MacKinnon. Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, S. 221 ff. Vgl. oben bei Rn. 3 ff. (A. II. 1. a)) und Rn. 42 ff. (B. V.). Vgl. oben Rn. 24 f. (A. III. 2.). Vgl. → Degener, § 15 Rn. 17 ff. Zu den Gleichheitskonzepten und ihren Folgen Baer/Markard (Fn. 53), Art. 3 Rn. 418 ff.; Mangold (Fn. 6), S. 275 ff., insbes. 285 ff. Zur Abgrenzung Schiek, „Kalanke“ und die Folgen – Überlegungen zu EG-rechtlichen Anforderungen an eine betriebliche Gleichstellungspolitik, AuR 1996, S. 128 (132); Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 285; → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 118 ff.; → Sacksofsky, § 14 Rn. 34. 154 Foljanty, Quotenregelungen: Herausforderungen angesichts der Komplexität von Diskriminierung, femina politica 2012, S. 37 ff.; Markard (Fn. 1). Vgl. nochmals unten Rn. 83 (E.). 149 150 151 152 153
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§ 16 Positive Maßnahmen
II. Ziele 1. Kompensation oder Verteilungsgerechtigkeit? 50
Nur noch selten werden positive Maßnahmen mit der Kompensation in der Vergangenheit erlittenen Unrechts begründet.155 Nicht zuletzt ermöglicht der Begründungsansatz retributiver Gerechtigkeit nicht die Entwicklung eines gerechten Zustands für die Zukunft als Ziel rechtlicher Vorgaben. Diese Zukunftsorientierung ermöglicht hingegen ein auf Verteilungsgerechtigkeit gerichteter (distributiver) Begründungsansatz. Er legt zugrunde, dass Lasten und Profite, die eine Gesellschaft zu vergeben hat, so gerecht wie möglich verteilt sein sollten. 2. Chancen- und Ergebnisgleichheit?
Vor allem Quoten und vergleichbare Maßnahmen sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, es werde damit ein Zustand der Gleichheit (sogenannte Ergebnisgleichheit) angestrebt. Tatsächlich wird z. B. mit der Vorgabe, Gremien mit Männern und Frauen paritätisch zu besetzen, und der Bindung dieser Vorgabe an strikte Rechtsfolgen eine Gleichheit im Ergebnis intendiert. Allerdings wirft dies die Frage auf, ob die Quotenregelung nicht ein weitergehendes Ziel verfolgt und die Chancen einer benachteiligten Gruppe auf Partizipation an öffentlichen Entscheidungen oder – noch weitergehend – auf gleiche Verteilung von Lasten und Profiten zwischen Frauen und Männern erhöhen möchte. Eine Quote für die Studienplatzvergabe an Angehörige bestimmter Ethnien zielt hinsichtlich der Studienplätze auf Ergebnisgleichheit; jedoch ist mit dieser Maßnahme die Steigerung der Chancen auf eine gute Position im Erwerbsleben verbunden und die konkrete Maßnahme auch so motiviert. Positive Maßnahmen lassen sich deshalb auch im Falle der Quoten durch das Ziel der Chancengleichheit begründen und rechtfertigen. 52 Dieses Ziel der Herstellung von Chancengleichheit lässt sich wiederum unterschiedlich begründen. Ein Ansatz begründet Verteilungsgerechtigkeit hinsichtlich der Lasten und Profite etwa damit, dass Ressourcen zugleich Chancen für Verwirklichung eines guten Lebens bedeuten. Ein anderer stellt auf die mit Ressourcen verbundenen Verwirklichungschancen ab. „Equal consideration for all may demand very unqual treatment in favor of the disadvantaged.“156 Diese Erkenntnis von Amartya Sen und die Idee, durch Hinderung oder Ausgleich tatsächlicher Nachteile allen zu gleichen Chancen zur Verwirklichung eines guten Lebens zu verhelfen, prägen auch das Konzept der positiven Maßnahmen. Nach anderer Lesart begünstigt eine gerechte Verteilung von Lasten und Profiten den fairen Wettbewerb um Positionen etwa im Erwerbsleben oder in der Politik. 51
155 Vgl. referierend Rössler (Fn. 9), S. 17. 156 Sen, Inequality reexamined, 1992, S. 1.
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3. Diversität
Diversität steht für die Forderung, „dass sich die Vielfalt menschlicher Identitäten gleich- 53 berechtigt in staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen wiederfindet“.157 Die Erwartungen an Vielfalt richten sich auf Staat oder Gesellschaft oder auch auf einen Bereich, eine Organisation oder ein Unternehmen. Vielfalt erfordert Inklusion und Emanzipation aller als gleiche Freie. Gleichheit in Vielfalt ermöglicht Sichtweisen, Haltungen, Fähigkeiten und Ansprachen jenseits gewachsener Strukturen. Das Konzept von Vielfalt ist deshalb nicht nur ein spezifisches Ideal der Gerechtigkeit, sondern auch durch Nutzenerwägungen motiviert. 4. Weitere Zielsetzungen
Zielsetzungen zugunsten materieller Gleichberechtigung durch positive Maßnahmen ver- 54 vollständigen das Antidiskriminierungsrecht im Sinne materialer Gerechtigkeit. Gerechtigkeit in diesem Sinne ist aber nicht nur moralphilosophisches Ideal,158 sondern bildet heute einen Grundwert vieler Gesellschaften, Staaten und Verfassungen. Ein weiterer Nutzen positiver Maßnahmen wird in der Förderung des Zugangs bis- 55 her benachteiligter Gruppen zu Ausbildung und Arbeitsmarkt mit dem Ziel gesehen, den infolge des demografischen Wandels sich reduzierenden Pool an Arbeitskräften aufzufüllen und zur Funktionsfähigkeit der Systeme sozialer Sicherheit beizutragen. Vor allem die Wirtschaft fordert mit diesem Ziel seit längerem vermehrt staatliche Maßnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Erwerbs- mit Carearbeit und begrüßt etwa den Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung. Gerechtigkeits- und Nützlichkeitserwägungen können sich auch in der Konzeption 56 positiver Maßnahmen ergänzen. So ist eine aktive Förderung des Zugangs benachteiligter Gruppen zu Angeboten der Aus- und Weiterbildung gerecht. Zugleich ist gerade diese Maßnahme nützlich im Hinblick auf die Steigerung der Chancen auf gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt. Quoten zur Steigerung des Anteils von Frauen an Führungspositionen in der Wirtschaft führen zur gerechteren Teilhabe von Frauen in der Wirtschaft. Zugleich fördern sie den Anteil an Vorbildern und Personen mit Verantwortung für das Personalmanagement eines Unternehmens zum Nutzen für die Chancen aller Frauen. Aus der Sicht des Diversity Managements159 könnten diese Effekte des Personalmanagements einen betriebswirtschaftlichen Nutzen entfalten.
157 Grünberger u. a. (Fn. 135), S. 11; vgl. auch Lembke, Diversity als Rechtsbegriff, Rechtswissenschaft
2012, S. 46; Grünberger (Fn. 55), S. 874 ff., 902 ff.
158 Beiträge in Rössler (Fn. 9). 159 Nachweis oben Fn. 10.
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§ 16 Positive Maßnahmen
D. Politischer Gestaltungsraum, rechtliche Leitlinien und Grenzen I. Zielbestimmungen und Aufträge 57 Art. 3 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 2 GG, Art. 23 Abs. 2 GrCh und Art. 157 Abs. 4 AEUV sowie die
einschlägigen Regelungen des Sekundärrechts formulieren Ziele und Aufträge, nicht aber konkrete Pflichten zu bestimmten positiven Maßnahmen. Diese liegen vielmehr im Gestaltungsraum der Gesetzgebung. Die genannten Aufträge verfolgen aber das Ziel zukunftsgerichteter Maßnahmen zur Beseitigung struktureller Diskriminierung; sie verwirklichen damit ein Konzept materialer Gleichheit. Ein ähnliches Schutzkonzept formulieren Art. 14 EMRK und Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls in der Rechtsprechung des EGMR. Besonders deutlich wird dieses Konzept in Art. 4 Abs. 1 CEDAW und Art. 1 Abs. 4 ICERD.160 Im deutschen Verfassungsrecht lassen die Bestimmungen in Art. 3 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 58 S. 2 GG nicht auf eine Entscheidung des Grundgesetzes schließen, dass positive Maßnahmen in Bezug auf andere Kategorien als das Geschlecht und die Behinderung ausgeschlossen sein sollten. Maßnahmen zum Schutz und zur Teilhabe bestimmter Gruppen, darunter auch Quoten, waren bereits vor 1994 etabliert und verfassungsrechtlich akzeptiert.161 Häufig wurden sie sozialstaatlich motiviert und mit dieser Motivation anerkannt. Die Formulierung von Aufträgen und Zielen zu positiven Maßnahmen mit antidiskriminierungsrechtlicher Stoßrichtung in der Verfassungsreform von 1994 hat an diesem Befund nichts geändert. Wie jedes staatliche Handeln bedürfen positive Maßnahmen mit Bezug auf andere Kategorien daher einer Legitimation nur dann, wenn sie in Grundrechte eingreifen oder andere verfassungsrechtliche Positionen tangieren. Auch Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG wird vielfach162 als Aufgabennorm zur aktiven Herstellung von Chancengleichheit verstanden und die Zulässigkeit positiver Maßnahmen mit Bezug auf die genannten Kategorien bejaht,163 teilweise sogar – mit dem Verständnis des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG als eines asymmetrisch verstandenen Diskriminierungsverbots – bereits eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung verneint.164 II. Gleichheitsrechte Dritter 1. Positive Maßnahmen als Diskriminierung der nicht berücksichtigen Gruppe? 59 Die Frage nach der Ungleichbehandlung und ihrer Rechtfertigung stellt sich in Bezug auf
Gleichheitsrechte Dritter, wenn positive Maßnahmen zwischen der begünstigten Gruppe und jener oder jenen Gruppen differenzieren, die dabei nicht zum Zuge kommen. Im
Vgl. Baer/Markard (Fn. 53), Art. 3 Rn. 419; Boysen (Fn. 7), Art. 3 Rn. 142; Peters (Fn. 4), S. 177. Vgl. oben bei Rn. 3 ff. (A. II. 1.). A. A. z. B. Langenfeld (Fn. 108), Art. 3 Abs. 3 Rn. 30, 74. Baer/Markard (Fn. 53), Art. 3 Rn. 406; Grünberger u. a. (Fn. 135), S. 51 ff.; Boysen (Fn. 7), Art. 3 Rn. 134 ff., insbes. 137; Groß (Fn. 14), S. 882 m. w. N., letztere beide mit ausdrücklichem Bezug auf das materiale Verständnis der einschlägigen Diskriminierungsverbote im Völkerrecht und der EMRK, Groß mit dem Postulat einer restriktiven teleologischen Auslegung des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. 164 Baer/Markard (Fn. 53), Art. 3 Rn. 406; Grünberger u. a. (Fn. 135), S. 53 f. m. w. N. 160 161 162 163
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Konzept materialer Gleichheit werden Differenzierungen durch positive Maßnahmen, die bestimmte Gruppen bevorzugen und hierdurch struktureller Diskriminierung entgegenwirken wollen, bereits tatbestandlich nicht erfasst, sofern sie nicht – wie eine Quote – mit individuellen Nachteilen für Personen verbunden sind, die der bevorzugten Gruppe nicht angehören.165 Fördermaßnahmen wie beispielsweise Förderunterricht in deutscher Sprache für nicht deutschsprachige Kinder wären nach dem material-asymmetrischen Verständnis von Gleichheit schon tatbestandlich keine Differenzierung wegen der Sprache, da und soweit die Fördermaßnahmen Nachteile der von der Maßnahme Begünstigten ausgleichen sollen und Ausgeschlossene – hier deutschsprachige Kinder – nicht benachteiligen.166 Im Konzept formaler Gleichheit greifen positive Maßnahmen in die – als Differenzie- 60 rungsverbote verstandenen – Diskriminierungsverbote ein und bedürfen daher grundsätzlich der Rechtfertigung.167 Auch hier lässt sich jedoch der Tatbestand der Anknüpfung eng fassen und es lassen sich Konstellationen tatbestandlich ausschließen, in denen der zu regelnde Lebenssachverhalt keine gemeinsamen Elemente mit dem als Vergleich gewählten Lebenssachverhalt enthält oder in denen ein gemeinsamer Lebenssachverhalt zwar besteht, aber die Verwirklichungsformen derart verschieden sind, dass ein Vergleich willkürlich wäre, oder in denen nicht der persönliche Rechtsstatus einer Person geregelt wird.168 Im oben genannten Beispiel würden deutschsprachige Kinder mangels Anknüpfung an einen beide Gruppen betreffenden Sachverhalt bereits tatbestandlich nicht diskriminiert. Auch unter der Annahme, dass positive Maßnahmen den Tatbestand einer Ungleich- 61 behandlung verwirklichen, sind sie grundsätzlich legitimationsfähig. Ist eine Fördermaßnahme nicht (wie z. B. die Quote) mit substanziellen Nachteilen für Angehörige nicht berücksichtigter Gruppen verbunden, bedarf es eines gewichtigen sachlichen Grundes, doch keines Grundes von Verfassungsrang. Es genügt, wenn die Maßnahme die künftige Beseitigung struktureller Diskriminierung bezweckt und unter Berücksichtigung des großen gesetzgeberischen Gestaltungsraums geeignet und erforderlich ist.
165 Baer/Markard (Fn. 53), Art. 3 Rn. 418 ff.; Payandeh (Fn. 5), S. 8; Grünberger u. a. (Fn. 135), S. 53 f. 166 Beispiel bei Baer/Markard (Fn. 53), Art. 3 Rn. 423. 167 Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 8. Aufl. 2020, Rn. 497 ff.; Jarass, in: ders./Pieroth
(Hrsg.), GG, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 136 f.; Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: November 2021, Art. 3 Rn. 190; Kingreen, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand: Februar 2020, Art. 3 Rn. 211 ff.; Sachs, Die sonstigen besonderen Gleichheitssätze, in: Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, S. 1702 (1748). Ein symmetrisches Konzept von Diskriminierungsprüfungen legt auch der US Supreme Court seiner Rechtsprechung zugrunde, vgl. Peters/Birkhäuser (Fn. 3), S. 21 m. w. N. 168 Boysen (Fn. 7), Art. 3 Rn. 136 f.; Langenfeld (Fn. 108), Art. 3 Rn. 30; ferner Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 119. Strenger Sachs (Fn. 166), S. 1748. Margarete Schuler-Harms
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2. Besonderer Legitimationsbedarf für Quoten und vergleichbare Maßnahmen a) Situation der „reverse discrimination“ 62 Da und soweit die Nachfrage das Angebot an Gütern169 wie Ausbildungs- und Arbeits-
plätze, Dienst- und Aufstiegsstellen, Gremien-, Rats- oder Parlamentssitze sowie Führungspositionen in Wirtschaft und Politik übersteigt, gehen Pflichten oder gar individuelle Rechte auf Zuteilung solcher Güter wegen der Zugehörigkeit zu einer kategorial bestimmten Gruppe mit einer Versagung der Position an Angehörige anderer Gruppen einher. Die damit verbundene individuell benachteiligende Wirkung wird unter dem Begriff der „umgekehrten Diskriminierung“ („positiven Diskriminierung“, „reverse discrimination“) diskutiert.170 Nicht zu überzeugen vermag eine ältere Auffassung, wonach diese Benachteiligung 63 die Unzulässigkeit von Quoten- und vergleichbaren Vorzugsregeln begründe.171 Wissenschaftshistorisch wurden und werden solche Vorzugsregeln deutlich weniger problematisiert, wenn sie Angehörigen ohnehin privilegierter Gruppen zugutekamen172 oder in anderer Weise nicht antidiskriminierungsrechtlich begründet sind.173 Verfassungsrechtlich ist heute die grundsätzliche Möglichkeit zur Einschränkung von Diskriminierungsverboten und anderen besonderen Gleichheitssätzen174 auf der Basis kollidierenden Verfassungsrechts anerkannt.175 Eine Legitimation erfahren Quoten und vergleichbare Maßnahmen allerdings auch 64 nur dann, wenn ihr Zweck in der Beseitigung struktureller Diskriminierung besteht. Fehlt es an diesem Zweck, bedarf es rechtfertigender Gründe außerhalb des Diskriminierungsrechts.176 Als problematisch erweist sich unter diesem Aspekt ein recht neuer Typ von am Prinzip paritätischer Gleichheit ausgerichteter Quoten.177 Die erstmals als „Geschlechteransprache“ verwirklichte, aber auch für andere Kategorien grundsätzlich denkbare Regelungstechnik knüpft die Rechtsfolge der Förderung allein an die Unterrepräsentanz eines Geschlechts.178 Begründet wird dies mit dem Übergang von einer reinen Frauenförderung zu einer „modernen Gleichstellungspolitik“ als Politik der „Gleichstellung der Geschlech169 Ausführlich Peters/Birkhäuser (Fn. 3), mit Hinweis auf knappe Güter S. 6. 170 Zur Terminologie siehe oben Rn. 2 (A. I.). 171 Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, 1987, S. 325 f.; Schmitt Glaeser, Abbau des tatsächlichen
Gleichberechtigungsdefizits der Frauen durch gesetzliche Quotenregelungen, 1982, S. 44; offen gelassen bei Benda (Fn. 109), S. 132, 153. 172 Instruktiv zu den älteren „Männerquoten“ Pfarr (Fn. 17), S. 15 ff. 173 Zu diesen Quoten oben Rn. 22 f. (A. II. 1. a)). Vgl. Colneric (Fn. 66), S. 125 ff.; Brückner, Länderquote statt Frauenquote? Frauenquote statt Länderquote!, DRiZ 2012, S. 44 ff. 174 Zum Leistungsprinzip und zu sozialpolitischen Belangen sogleich. 175 BVerfGE 114, 357 (364) – Aufenthaltserlaubnis (2005); Sachs (Fn. 167), S. 1762 ff., sowie die überwiegende Kommentarliteratur; vgl. aber Kingreen (Fn. 167), Art. 3 Rn. 435. 176 Z. B. aus Grundlage des Art. 36 GG, dazu oben Rn. 23 (A. III. 1.). 177 Beispielsweise §§ 1, 4 BGremG (Parität); § 76 Abs. 3a AktG (mindestens eine Frau und ein Mann im mindestens dreiköpfigen Vorstand); sogenanntes Reißverschlussverfahren bei der Besetzung von Wahllisten politischer Parteien. 178 Schuler-Harms/Valentiner (Fn. 19), S. 28 f. Margarete Schuler-Harms
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ter“, hier und da auch mit dem Erfordernis einer Förderung von Männern „auf Vorrat“.179 Einer schlichten Anknüpfung an die Repräsentanz fehlt die antidiskriminierungsrechtliche Stoßrichtung, wenn nicht die (asymmetrisch bestehende) strukturelle Benachteiligung einer Gruppe diese Maßnahme motiviert. So lassen sich Quoten zugunsten von Männern „auf Vorrat“ dem Antidiskriminierungsrecht grundsätzlich, allerdings mit Zweifeln hinsichtlich der Eignung einer „Geschlechteransprache“ zur Erreichung dieses Ziels, zuordnen. Auch das Motiv der Akzeptanz positiver Maßnahmen kann eine Geschlechteransprache in gewissem Rahmen180 als Element des Antidiskriminierungsrechts ausweisen. Antidiskriminierungsrechtlich motiviert wäre ebenfalls z. B. eine Quote für erziehende Väter in Teilzeitarbeit. Geschlechterparität lässt sich unter Umständen auch dort rechtfertigen, wo eine andere Regelungstechnik nach der Eigenart des Regelungsgegenstandes ausscheidet. Ein Beispiel hierfür sind Quotierungen der Landeslisten politischer Parteien.181 b) Quoten und Leistungsprinzip
Eine grundsätzliche, sowohl philosophisch als auch rechtswissenschaftlich geführte De- 65 batte rankt sich um das Verhältnis von Maßnahmen der affirmative preference zum Prinzip der Verteilung von Gütern und Positionen nach Leistung. Vorzugsrechte für bestimmte Gruppen werfen die Frage nach dem Verhältnis zum Prinzip der Leistungsgerechtigkeit auf.182 Als ein Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit fordert das Leistungsprinzip – nach anderer Diktion das Prinzip des Verdienstes183 und in Verbindung mit einem Prinzip der Qualifikation184 – eine Einkommensverteilung entlang des Wertes der Leistung der jeweiligen Gesellschaftsmitglieder. Das Leistungsprinzip kann in diesem Verständnis als moralisches Prinzip ungleiche Einkommens- oder Bildungschancen legitimieren. Gerade im Hinblick auf positive Maßnahmen wird allerdings die grundsätzliche Legitimität eines Leistungsprinzips teilweise bezweifelt. Das maßgebliche Argument hierfür lautet, dass auch herkömmliche Verteilungsprinzipien, vor allem das Leistungsprinzip, nur scheinbar egalitär wirkten und ihrerseits Diskriminierungen begründen könnten.185 Nach anderer Auffassung stehen andere Zuteilungsprinzipien, etwa Geschlecht, Ethnie oder Migrationsgeschichte, zum grundsätzlich anerkannten Leistungs- oder Qualifikationsprinzip im gleichen Rang. Und schließlich lässt sich bei grundsätzlicher Anerkennung dieser Prinzipien 179 Schuler-Harms/Valentiner (Fn. 19), S. 28 f., 41. 180 Unter dem Aspekt der Akzeptanz ist eine Vorgabe vollständiger Parität wie in §§ 1, 4 BGremG nicht
erforderlich; hingegen lassen sich Mindestquoten wie in § 76 Abs. 3a AktG damit gut begründen.
181 Vgl. nur Brosius-Gersdorf, Ergebnisparität oder Chancengleichheit? Quotenmodelle zur Steigerung
des Frauenanteils im Parlament, Verfassungsblog v. 25.2.2019; dies., Auf dem Tandem ins Parlament. Zu Sinn und Unsinn von Quoten für Wahlen, djbZ 2/2019, S. 57 (58). 182 Aus jüngerer Zeit Dear, Leistungsgerechtigkeit im politischen Liberalismus – Eine philosophische Untersuchung, 2018; Auerbacher u. a. (Hrsg.), Leistung und Gerechtigkeit – Das umstrittene Versprechen des Kapitalismus, 2017. 183 Rössler (Fn. 9), S. 21 m. w. N. 184 Vgl. insbesondere Art. 33 Abs. 2 GG. 185 Grundlegend Dworkin (Fn. 65), S. 74 ff. Margarete Schuler-Harms
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auch erwägen, dass eine Quote oder eine vergleichbar strenge positive Maßnahme diese unterstützt.186 Im rechtlichen Kontext findet allerdings die Auffassung, dass eine Quote Angehörige 66 der kategorial nicht berücksichtigten Gruppe bereits tatbestandlich nicht diskriminiere, nur selten Anhänger. Insbesondere zieht die Rechtsprechung den Spielraum der Gesetzgebung für Quoten unter Bezug auf das Leistungsprinzip grundsätzlich eng. Der US-Supreme behandelte Quoten für den Zugang zu Aus- und Fortbildung schon früh in Konkurrenz zu Qualifikation und Vorleistungen. Der EuGH verwirft in der Entscheidung Abrahmsson eine auf einer hinreichenden Mindestqualifikation gründende und damit „starre“ Quote als unionsrechtswidrig, ohne das Gebot gleicher Qualifikation näher im positiven Recht zu verankern.187 In der Entscheidung Badeck werden demgegenüber feste Ausbildungsquoten wegen der Förderung der Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt grundsätzlich gebilligt.188 In Deutschland formuliert Art. 33 Abs. 2 GG ein Prinzip der Bestenauslese für den öf67 fentlichen Dienst und damit ein Leistungsprinzip mit Verfassungsrang. Eine starre Quotierung im Zusammenhang von Vergabe- und Beförderungsentscheidungen bedürfte deshalb einer verfassungsrechtlichen Grundlage, die mit Art. 3 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 2 GG für Quotierungen aus Gründen des Geschlechts oder der Behinderung zwar grundsätzlich gegeben ist. Der EuGH189 und die ihm folgende nationale Rechtsprechung190 erlauben aus Gründen der Verhältnismäßigkeit Quotierungen für den öffentlichen Dienst dennoch nur unter der Voraussetzung gleicher Qualifikation. Nicht abschließend geklärt ist für die in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG genannten Gruppen, 68 ob eine Vorzugsregel bei gleicher Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung (flexible Quote) einer verfassungsrechtlichen Grundlage bedürfte und ob in diesem Falle Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG eine solche Grundlage böte.191 Gegen das Erfordernis einer verfassungsrechtlichen Grundlage sprechen die angeführten Gründe192 sowie der Umstand, dass die Anordnung eines weiteren Kriteriums bei gleicher Eignung Befähigung und fachlicher Leistung das in Art. 33 Abs. 2 GG verankerte Leistungsprinzip nicht berührt. Jedenfalls aber ermöglicht Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG, verstanden als Gebot materialer Gleichheit, die verfassungsrechtliche Legitimation einer flexiblen Quote als Instrument zur Beseitigung struktureller Diskriminierung. Insoweit ergeben sich Parallelen zu Art. 3 Abs. 2 GG a. F.,
186 Alle drei Rechtfertigungsstrategien bei Rössler (Fn. 9), S. 21 f. m. w. N. 187 EuGH, Urt. v. 30.9.2004, Rs. C-407/98, Abrahamsson; anders insoweit das US-amerikanische Recht,
vgl. Thüsing (Fn. 47), § 5 AGG Rn. 9 m. w. N.
188 EuGH, Urt. v. 28.3.2000, Rs. C-158/97, Badeck, Rn. 52 ff. 189 Siehe oben bei Fn. 100. 190 Vgl. z. B. OVG Saarland, Urt. v. 19.1.1988, 1 V 48/97; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 6.3.1998, 3
M 34/97; OVG NRW, Beschl. v. 29.5.1998, 12 B 247/98; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 29.6.1999, 2 B 11189/99. 191 Vgl. Payandeh (Fn. 5), S. 22 ff. 192 Vgl. oben Fn. 171 f. Margarete Schuler-Harms
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dem das BVerfG vor der Verfassungsreform von 1994 eine Ermächtigung zu positiven Maßnahmen entnahm.193 Keine Bedeutung entfaltet das Leistungsprinzip für die Besetzung von Gremien, soweit 69 es hierfür als Besetzungskriterium im Einzelfall nicht eigens verankert ist.194 Hier sind folglich auch sogenannte starre Quoten grundsätzlich zulässig. Das Leistungsprinzip wird freilich auch in der rechtswissenschaftlichen Debatte um die Einführung von Quoten für die Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen angeführt.195 Einerseits wird mit Bezug auf das Kriterium der Qualifikation nur eine flexible Quote für die Besetzung von Aufsichtsräten befürwortet und dies mit dem Vorschlag verbunden, zugleich Sachkunde zur expliziten Voraussetzung zu machen;196 andererseits wird Quoten zugunsten bislang nicht (angemessen) berücksichtigter Gruppen sogar das Potenzial bescheinigt, das Leistungskriterium zu stärken.197 c) Quoten und Sozialstaatlichkeit
Der EuGH fordert über die gleiche Qualifikation der Bewerberinnen und Bewerber hinaus 70 eine Betrachtung des Einzelfalls.198 Begründet wird dies auch mit sozialpolitischen Erwägungen, da und soweit eine Quote besondere soziale Härten erzeugen könnte. Flexible Quoten werden daher regelmäßig um Klauseln zur Berücksichtigung sozialer Härten im Einzelfall beim Zugang zum Arbeitsmarkt und öffentlichen Dienst ergänzt.199 Für die Besetzung von Gremien in öffentlichen Organisationen und Unternehmen sowie im Bereich der Wirtschaft oder Politik fordert das Sozialstaatsprinzip derartige Klauseln nicht.200
193 BVerfGE 74, 163 (180) – Altersruhegeld (1987); BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeitsverbot (1991);
dazu oben bei Fn. 107.
194 Vgl. Schuler-Harms/Valentiner (Fn. 19), S. 51 f. 195 Vgl. exemplarisch etwa Redenius-Hövermann, Zur Frauenquote im Aufsichtsrat, ZIP 2010, S. 660
(665), einerseits, Schladebach/Stefanopoulou, Frauenquote in Aufsichtsräten: Überlegungen zur Änderung des Aktienrechts, BB 2010, S. 1042 (1046), andererseits. 196 Habersack/Kersten (Fn. 116), S. 2927, mit der Begründung, mit Einführung der Quote liege die Verantwortung für die Besetzung nicht mehr allein bei Anteilseignern und Unternehmen. Allerdings ist es Anteilseignern und Unternehmen auch unter Geltung einer „fixen“ Quote unbenommen, auf ein hinreichendes Maß an Qualifikation in den Aufsichtsräten hinzuwirken. § 100 Abs. 5 AktG statuiert für kapitalmarktorientierte AGs eine objektive Besetzungsregel mit Anforderungen an das Gremium, wenn auch nicht an einzelne seiner Mitglieder, Drygala, in: Schmidt/Lutter (Hrsg.), AktG, 4. Aufl. 2020, § 100 AktG Rn. 42, der einen Vorbehalt der „gleichen Eignung“ fordert. 197 Weller/Harms/Rentsch/Thomale, Der internationale Anwendungsbereich der Geschlechterquote für Großunternehmen, ZGR 2015, S. 361 (374 f.): „Unter der Prämisse, dass die Eignung für und das Interesse an Aufsichtsratspositionen gleich verteilt sind, (…) stellen Quoten (…) ein Mittel dar, um leistungsfeindliche Auswahlprozesse effizienter zu gestalten, indem sie das Potential der aus sachfremden Gründen verdrängten Bewerberinnenkohorte heben.“ 198 Vgl. oben Rn. 32 (B. II.). 199 Vgl. z. B. § 8 Abs. 1 S. 2 BGleiG. 200 Schuler-Harms/Valentiner (Fn. 19), S. 51 ff. Margarete Schuler-Harms
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§ 16 Positive Maßnahmen
III. Demokratieprinzip, Parteienfreiheit und Wahlrechtsgrundsätze 71 In Deutschland diskutierte positive Maßnahmen mit dem Ziel politischer Gleichberechti-
gung sind am Maßstab des Demokratieprinzips und seiner Ausprägungen in Art. 21 und Art. 38 GG zu messen.201 72 Das Recht politischer Parteien zur Gestaltung positiver Maßnahmen mit dem Ziel einer Beseitigung struktureller Diskriminierung und auch die Selbstbindung durch satzungsmäßige Quoten für den Zugang zu öffentlichen Ämtern werden als Ausprägung der Parteienfreiheit überwiegend grundsätzlich anerkannt.202 Große Übereinstimmung herrscht auch darin, dass eine Gesetzgebung, die die Parteien bei der Gestaltung von Wahllisten und unter Umständen auch bei der Bestimmung der Direktkandidaten an bestimmte Quotenvorgaben bindet, in die Organisations- und gegebenenfalls auch in die Programmfreiheit der Parteien eingreift und daher einer Legitimation auf Grundlage kollidierenden Verfassungsrechts bedarf. 73 Als besondere Hürde für positive Maßnahmen mit dem Ziel der Beseitigung struktureller Diskriminierung erweisen sich die Wahlrechtsgrundsätze, auch wegen deren Vorwirkung für die Ausgestaltung innerparteilicher Wahlen.203 Das BVerfG versteht das Prinzip der Wahlrechtsgleichheit in ständiger Rechtsprechung und – trotz des dilatorischen Charakters – wohl auch in der Entscheidung zur Parität als formal-egalitär204 und steht damit im Einklang mit der herrschenden Auffassung im Schrifttum. Grenzziehungen, wenn auch keine grundsätzlichen Schranken erfährt die Gesetzgebung auch durch den Grundsatz der Wahlrechtsfreiheit.205 Für den Zugang von Frauen zu politischen Ämtern erkennt das BVerfG aber die grundsätzliche Abwägungsfähigkeit des Gleichberechtigungsgrundsatzes aus Art. 3 Abs. 2 GG als Rechtfertigungsgrund für Einschränkungen der passiven Wahlrechtsgleichheit grundsätzlich an;206 dies war von einem Teil der Literatur bestritten worden.207 201 Diskussion unterschiedlicher positiver Maßnahmen bei Ebsen (Fn. 120). 202 BVerfG, Beschl. v. 1. 4. 2015, 2 BvR 3058/14, Rn. 25 m. w. N. – Frauenquote in Parteien; Penz, Frau-
enquote innerhalb politischer Parteien – Anmerkungen zum Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 1.4.2015, 2 BvR 3058/14, DÖV 2015, S. 963 ff. Bereits früher Ebsen (Fn. 103); Lange, „Frauenquoten“ in politischen Parteien, NJW 1988, S. 1174 (1183); grundsätzlich auch Oebbecke (Fn. 103), S. 179 ff.; Maidowski (Fn. 103), S. 196 ff.; Deller, Die Zulässigkeit von gesetzlichen und satzungsrechtlichen Quotenregelungen zugunsten von Frauen in politischen Parteien, 1995, S. 49 ff. Kritisch Friehe, Wahlrechtsgrundsätze als Säulen der innerparteilichen Demokratie, Verfassungsblog v. 5.8.2021, in Bezug auf eine Quotierung von Parteilisten nach dem Geschlecht unter Festlegung der ungeraden Plätze mit Frauen, da diese für kleine Parteiverbände faktisch den Ausschluss von Männern begründen könnte. 203 Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 38 Rn. 80; Friehe (Fn. 202). 204 BVerfGE 156, 224 (243 f. Rn. 56 f. m. w. N.) – Parität bei Bundestagswahl (2020). 205 Vgl. nur Trute (Fn. 203), Art. 38 Rn. 56. 206 BVerfGE 156, 224 (254 ff. Rn. 84 ff.) – Parität bei Bundestagswahl (2020), vgl. die Einschätzung der Entscheidung bei Valentiner (Fn. 125); Schuler-Harms/Valentiner (Fn. 125), S. 1178. 207 Unter anderem Morlok/Hobusch, Ade parité? – Zur Verfassungswidrigkeit verpflichtender Quotenregelungen bei Landeslisten, DÖV 2019, S. 14 (18); Ungern-Sternberg, Parité-Gesetzgebung auf dem Prüfstand des Verfassungsrechts, JZ 2019, S. 525 (533); Pernice-Warnke, Parlamente als Spiegel der Bevölkerung?, DVBl. 2020, S. 81 (86 f.); Rixen, Demokratieprinzip und Gleichberechtigungsgebot: VerfasMargarete Schuler-Harms
D. Politischer Gestaltungsraum, rechtliche Leitlinien und Grenzen
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Um diese verfassungsdogmatischen Fragen rankt sich eine grundsätzlichere Debatte 74 zu Prinzip und Verständnis von Demokratie, die sich hier nur andeuten lässt. Der grundlegende Einwand gegen die sogenannte Paritätsgesetzgebung lautet, dass sie mit dem Gruppenbezug einem ständischen, jedenfalls dem Grundgesetz fremden Verständnis von Demokratie Vorschub leiste und dieser Gruppenbezug sich kaum auf die Kategorie des Geschlechts beschränken ließe.208 Nach anderer Auffassung erweist sich dieses Verständnis „von einer responsiven und die Pluralität der Gesellschaft aufnehmenden Konzeption der Repräsentation her als zu eng“.209 Für die Ergebnisse dieser Debatte ist zwischen verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Konsequenzen zu unterscheiden. Vereinzelte Stimmen sehen in sogenannter Paritätsgesetzgebung einen Verstoß gegen 75 Art. 79 Abs. 3 GG210 und verkennen hierin die Elastizität des Demokratieprinzips und den weiten Gestaltungsraum der Gesetzgebung. Dies lässt sich auch der entgegengesetzten Auffassung entgegenhalten, die unter anderem aus dem Demokratieprinzip eine verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers zu paritätischen Aufteilung von Parlaments- (und Regierungs-)Sitzen nach dem Geschlecht ableiten will.211 Für die verfassungsrechtliche Einordnung wird vielmehr maßgeblich sein, ob ein Verfassungsauftrag wie der zur Herstellung tatsächlicher Gleichberechtigung in Art. 3 Abs. 2 GG Quotierungen im Wahlrecht zu legitimieren vermag, was unter anderem auf das Demokratieverständnis des Grundgesetzes zurückführt,212 oder ob es hierfür einer Änderung der Verfassung bedarf. Für andere Gruppen, etwa Personen mit Migrationsgeschichte, sind verbindliche Quoten mit dem Ziel der Herstellung politischer Gleichheit auf bestehender verfassungsrechtlicher Grundlage nicht möglich. Verfassungspolitisch stellt sich die Frage nach der Opportunität von Quoten für die Be- 76 setzung politischer Ämter auch213 im Hinblick auf das Demokratieprinzip. Die Faktizität unterschiedlicher Repräsentation einzelner Bevölkerungsgruppen steht außer Zweifel. Ob aber numerische Unterrepräsentanz ein Defizit darstellt, worin es genau besteht und wie ihm abgeholfen werden kann, erfordert gründliche Analyse. Der Befund ungleicher nusungsrechtliche Relationen, in: Eckertz-Höfer/Schuler-Harms (Hrsg.), Gleichberechtigung und Demokratie, 2019, S. 67 ff. 208 Vgl. Markard (Fn. 1), S. 11 unter Bezug auf eine Äußerung von Morlok, „Parteienrechtler: Frauen in Parlamenten ‚überrepräsentiert‘“, Berliner Morgenpost v. 3.2.2019; Prüfung altersbezogener Quoten bei Pernice-Warnke (Rn. 206), S. 89 ff. 209 Trute (Fn. 203), Rn. 80; mit ähnlicher Konzeption Wapler, Politische Gleichheit: Demokratietheoretische Überlegungen, JöR n. F. 67 (2019), S. 427 ff.; Fontana, Parität als verfassungsrechtlicher Diskurs, DVBl. 2019, S. 1153 (1154). Unter Betonung der fehlenden Historizität des Demokratieprinzips Röhner, Relationale Demokratie. Das verfassungsrechtliche Demokratieprinzip und gerechte Staatlichkeit in Deutschland, femina politica 2/2018, S. 40 ff.; dies., Von demokratischer Repräsentation zu politischer Gleichheit – Politische Teilhabe und gesellschaftliche Ungleichheit, Der Staat 59 (2020), S. 421 ff.; vgl. auch Schuler-Harms, Gleichstellung und Demokratie, djbZ 1/2022, im Erscheinen. 210 Burmeister/Greve, Parité-Gesetz oder Demokratie-Prinzip: Verfassungsauftrag oder Identitätsverstoß?, ZG 2019, S. 154 ff. 211 Vgl. Laskowski (Fn. 139), S. 93 ff.; dies., Pro Parité! Ein verfassungskonformes Wahlrechtsmodell, in: Eckertz-Höfer/Schuler-Harms (Hrsg.), Gleichberechtigung und Demokratie, 2019, S. 125 ff. 212 Vgl. BVerfGE 156, 224 (246 ff. Rn. 64 ff.) – Parität bei Bundestagswahl (2020). 213 Grundsätzliche Überlegungen zur Opportunität von Quoten unter Rn. 79 ff. (E.). Margarete Schuler-Harms
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merischer Repräsentanz kann außerdem zum Ausgangspunkt von Überlegungen genommen werden, die über die Herstellung numerischer Repräsentanz durch Quoten hinausreichen.214 IV. Verfassungsrechtliche geschützte Positionen von Adressaten 77 Besonderer Legitimation bedürfen positive Maßnahmen, die Privatpersonen (private Ar-
beitgeber, Unternehmen oder Tarifparteien) verpflichten, etwa im Falle verpflichtender Vorgaben für die Beschäftigung schwerbehinderter Personen oder für eine Quotierung von Spitzenpositionen in der Wirtschaft. Zur Legitimation solcher Eingriffe in die von Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 13 GrC geschützte Berufsausübung genügt jeder vernünftige, dem Gemeinwohl dienende Zweck, an dem auch die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu messen ist. 78 Legitimationsbedürftig sind auch215 Verpflichtungen von Einrichtungen wie Kommunen, Kammern oder Universitäten auf positive Maßnahmen wegen der damit verbundenen Eingriffe in das jeweilige Recht der Selbstverwaltung; ähnliches gilt für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in dessen Organisationshoheit mit solchen Vorgaben eingegriffen wird.216
E. Schwächen und konzeptionelle Herausforderungen 79 Positive Maßnahmen haben, insbesondere wenn sie an die Angehörigkeit zu kategorial be80
stimmten Gruppen anknüpfen, konzeptionelle Schwächen. Quoten und andere gruppenbezogene Präferenzregeln werfen Fragen in Bezug auf ihre Wirksamkeit auf. Die vielfach allein zulässigen flexiblen Quoten lassen sich recht einfach umgehen, indem etwa Qualifikationen im Auswahlverfahren nicht als gleichwertig erachtet werden, wo dies zu Anwendung einer Quote führen würde.217 Eine antidiskriminierungsrechtliche Absicht ist dabei nicht entscheidend: Auch eine immer ausgefeiltere Differenzierung der Leistungsbewertung für öffentliche Ämter, die nahezu zwingend zu einer Reihung führt, lässt eine Quotenregelung praktisch ins Leere laufen.218 Auch dysfunktionale Effekte gilt es zu bewerten, wenn z. B. die konkrete Ausgestaltung aktiver Maßnahmen mittelbar faktische Nachteile für Mitglieder der einschlägigen Gruppe begründet, etwa wenn arbeitgeberseitige Pflichten mit dem Ziel der besseren Vereinbarkeit von Berufs- mit Carearbeit die Entscheidung zur Beschäftigung von Frauen im gebärfähi-
Vgl. Wapler (Fn. 209), S. 447. Zur Verpflichtung politischer Parteien vgl. oben Rn. 72 ff. (D. III.). Schuler-Harms/Valentiner (Fn. 19), S. 57 ff., 109 ff. Raasch (Fn. 24), S. 103 ff.; Markard (Fn. 1), S. 15. Hohmann-Dennhardt (Fn. 17), S. 40 f.; Maidowski (Fn. 103), S. 157; Papier/Heidebach (Fn. 63), S. 40 f.
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E. Schwächen und konzeptionelle Herausforderungen
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gen Alter negativ beeinflussen und damit Arbeitnehmerinnen mittelbar faktisch diskriminieren.219 Probleme entstehen auch daraus, dass Quoten umso besser wirken, je genauer die Ka- 81 tegorie, an die sie anknüpfen, bestimmt wird; die Anforderung großer Präzision – etwa als rechtsstaatliche Voraussetzung für die Schaffung individueller Ansprüche – birgt andererseits die Gefahr, Gruppenzugehörigkeit und damit Ausschlüsse in einer für die Kategorie dysfunktionalen Weise festzuschreiben.220 Dies gilt heute auch für das lange binär konstruierte Geschlecht.221 Unter dem Schlagwort des „Dilemmas“ oder der „Paradoxie der Differenz“ wird der 82 mögliche Effekt von Quoten und vergleichbaren Maßnahmen behandelt, durch ihren Gruppenbezug gerade diejenigen Dichotomien zu begründen, zu vertiefen und zu festigen, denen sie entgegenwirken wollen.222 So können Quoten und vergleichbare Maßnahmen z. B. alte Stereotype festigen und neue begründen.223 Es besteht außerdem die – grundsätzlichere – Befürchtung, dass derartige Maßnahmen auf Anpassung an eine bestehende Norm/einen Normalfall und möglicherweise zu wenig auf strukturelle Veränderungen angelegt sind.224 Aus der Perspektive der Intersektionalität225 zeigt sich schließlich, dass Angehörige 83 einer Gruppe von den auf sie bezogenen Maßnahmen unter Umständen in unterschiedlichem Maße profitieren. Dies ist dann besonders problematisch und bedarf der Verarbeitung im Antidiskriminierungsrecht, wenn diese Unterschiede wiederum entlang diskriminierungsrechtlich relevanter Kategorien bestehen, etwa wenn Präferenzregeln für Frauen im öffentlichen Dienst und in den Spitzenpositionen der Wirtschaft faktisch vorwiegend 219 Vgl. BVerfGE 109, 64 (Ls. 3 und 89 ff.) – Mutterschaftsgeld II (2003). 220 Am Beispiel des Migrationsbezugs Foljanty (Fn. 154), S. 42 ff. Vgl. auch das Beispiel bei Barskanmaz
(Fn. 95), S. 224 ff. unter Bezug auf eine Entscheidung des BayVGH, Urt. v. 24.11.2011, 4 N 11.1412.
221 Vgl. nur BVerfGE 147, 1 – Drittes Geschlecht (2017). Zu möglichen Folgerungen in Bezug auf positive
Maßnahmen Dutta/Fornasier, Jenseits von männlich und weiblich – Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung im Arbeitsrecht und öffentlichen Dienstrecht des Bundes, 2020, S. 82 ff. 222 Baer/Markard (Fn. 53), Art. 3 Abs. 2 Rn. 374, und öfter. Angesichts der Verbreitung von geschlechtsbezogenen Quoten findet sich besonders häufig der Aspekt des „feministische(n) Dilemma(s)“; vgl. Rn. 374; Mangold (Fn. 6), S. 343 ff. 223 Vgl. z. B. EuGH, Urt. v. 19.3.2002, Rs. C-476/99, Lommers, Rn. 41, mit der Feststellung, dass die Maßnahme, Kindertagesplätze vorrangig weiblichen Beschäftigten und Bediensteten mit Kindern vorzubehalten, zur Verfestigung einer herkömmlichen Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern beitragen kann. Die Qualifizierung als „Quotenfrau“ wendete ein Projekt „#quotenfrauen“ der Zeitschrift Stern emanzipatorisch, https://www.stern.de/politik/quotenfrauen/. 224 Markard (Fn. 1), S. 15 f. 225 Zu Begriff und Phänomen grundlegend Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Feminist Critique of Anti-Discrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, The University of Chicago Legal Forum 139 (1989), S. 139 ff. Für Europa: Europäische Kommission, Bekämpfung von Mehrfachdiskriminierung: Praktiken, Politikstrategien, Rechtsvorschriften, 2007; Markard, Die andere Frage stellen: Intersektionalität als Analysekategorie im Recht, KJ 2009, S. 353 ff.; Holzleithner, Mehrfachdiskriminierung im europäischen Rechtdiskurs, in: Hormel/Scherr (Hrsg.), Diskriminierung, 2010, S. 95 (100 f.); Schiek/Mulder, Intersektionelle Diskriminierung und EU-Recht – Eine kritische Reflexion, in: Philipp u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2015, S. 43 ff.; Mangold (Fn. 6), S. 328 ff. m. w. N. Margarete Schuler-Harms
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weiße, gut qualifizierte Frauen ohne Behinderung begünstigen und z. B. die Lage für Frauen mit Migrationserfahrung deutlich weniger verändern.226 84 Das Konzept der positiven Maßnahmen und insbesondere der affirmative preference bedarf daher vertiefter Prüfung daraufhin, in welchen Konstellationen und zu welchen Zwecken solche Maßnahmen sinnvoll und angemessen oder im konkreten Fall andere, weniger dysfunktional wirkende Maßnahmen wie z. B. solche des empowerments vorzuziehen sind. Grundsätzlicher wird erwogen, die Konzeption von positiven Maßnahmen aus der mit dem Gruppen- und Kategorienbezug verbundenen Essentialisierung vollständig zu lösen.227 Unter dem Schlagwort eines postkategorialen Antidiskriminierungsrechts werden dabei unterschiedliche Konzepte diskutiert. Eines favorisiert den Verzicht auf die Kategorisierung positiver Maßnahmen und den damit verbundenen „Gruppismus“; ihm entspräche etwa eine konsequente Gestaltung von Maßnahmen zur Vereinbarung von Erwerbs- und Sorgearbeit, die sich nicht – auch nicht implizit – an ein Geschlecht richten, sondern Anreize zur Partnerschaftlichkeit setzen.228 Ein weniger radikaler Ansatz empfiehlt jeweils sorgfältige Abwägung, ob positive Maßnahmen von kategorial bestimmten Tatbeständen abhängig gemacht werden,229 und gegebenenfalls die Einbettung kategorial bestimmter Maßnahmen in ein umfänglicheres Setting, in dem sich z. B. Quoten mit Maßnahmen des empowerments sinnvoll ergänzen. Ein weiterer Vorschlag zielt darauf ab, nicht bei der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, sondern bei spezifischen Nachteils- und Diskriminierungserfahrungen anzusetzen.230 Erwogen wird außerdem eine intersektionale Ausrichtung positiver Maßnahmen, die ebenfalls noch zu konzipieren wäre.231 Allen Konzeptvarianten postkategorialen Antidiskriminierungsrechts ist gemeinsam, dass sie vertiefte Studien zur Wirkung positiver Maßnahmen unter Zugrundelegung der zusätzlichen Perspektiven erfordern und die Komplexität, aber auch die Wirkgenauigkeit positiver Maßnahmen steigern werden.
226 Vgl. Foljanty (Fn. 154), S. 42 ff. 227 Baer (Fn. 39), S. 23 (31. f.). 228 Beispiel bei Baer/Markard (Fn. 53), Art. 3 Rn. 375; vgl. auch Nebe/Gröhl/Thoma, Der Diskriminie-
rungsschutz von Sorgeleistenden, ZESAR 2021, S. 157 ff., 211 ff. Gegen einen Verzicht auf Kategorien, im konkreten Fall mit Bezug auf die Kategorie der Rasse, Barskanmaz/Samour, Das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse, Verfassungsblog v. 16.6.2020. 229 Mangold (Fn. 6), S. 346. 230 Foljanty (Fn. 154), S. 45 f.: Angeknüpft werden solle nicht an bestimmte (verpönte) Merkmale, sondern an die verbindende Diskriminierungserfahrung. Die statistische Unterrepräsentanz von Migrant*innen wäre damit nicht auf deren Staatsangehörigkeit, Herkunft oder der Herkunft ihrer Eltern zurückzuführen, sondern auf die Erfahrung rassistischer Diskriminierung. Eine weitere Variante wäre die Knüpfung einer Vorzugsregel an den jeweiligen Einzelfall, etwa die wiederkehrende Prüfung, welchen Akt des Diskriminierens es bei Einstellungen etwa im öffentlichen Dienst jeweils auszugleichen gilt; vgl. auch Markard (Fn. 1), S. 16; → Baer, § 5 Rn. 80 ff. 231 Markard (Fn. 1), S. 15; → Holzleithner, § 13 Rn. 95 ff. Margarete Schuler-Harms
§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen Philipp Reimer Inhaltsübersicht Rn. A. Rechtfertigung als Strukturelement von Ungleichbehandlungsverboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Weichen oder Verdrängtwerden des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtfertigung als negatives Tatbestandsmerkmal des Gleichheitssatzes selbst . . . . . . . . . 2. Rechtfertigung durch Verdrängung des Gleichheitssatzes im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vergleichbarkeit als dogmatisches Konkurrenzangebot zur Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . .
1 3 4 7 12
B. Rechtfertigung über andere Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsfolgentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erlaubnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Pflicht zur Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Pflicht nur zur Behandlung einer Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Derogation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Tatbestandstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18 20 20 24 27 28 31 32
C. Rechtfertigung über tragfähige Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Differenzlogik der Gleichheitssätze: Unterschiedlichkeit als Rechtfertigungsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterschied als Eigenschaftendifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Differenzierungskriterien als Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Typologie der Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtliche/tatsächliche Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtlich geschaffene Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Tatsächliche Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfügbare/unverfügbare Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Behandlung irrelevant machende Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Probabilistische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bewertung des Unterschieds als tragfähig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gespaltene Bewertungsmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Generelle Unterschiedsausschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unterschied der Behandlung selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterschied des Anknüpfungsmerkmals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Positivrechtliche Ausschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Typisierende Unterschiedsauswechslung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Funktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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38 40 44 50 52 53 55 59 64 70 74 75 78 79 80 83 84 84 88
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
c) Positivrechtliche Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fallgruppen der Unterschiedsauswechslung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Positivrechtliche Bewertungsmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Sachliche Gründe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grundsätzlich: niedrige Hürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verschärfungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Zwingende Gründe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Charakteristische tragfähige Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) „Berufliche Anforderungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwecklogik statt Differenzlogik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Zweckproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Schwereproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schwere der Anknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schwere der Ungleichbehandlung selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Positivrechtliche Anwendungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91 93 100 102 102 105 109 113 113 116 120 122 123 127 129 131 134
D. Zusammenfassende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Rechtfertigung als Strukturelement von Ungleichbehandlungsverboten Nicht jede Ungleichbehandlung ist verboten.1 Mit dem dogmatischen Begriff „Rechtfertigung“ wird ein wesentlicher Teil der Situationen erfasst, in denen ein Gleichheitssatz – verstanden als Verbot gewisser Ungleichbehandlungen – trotz Vorliegens einer Ungleichbehandlung die Verbotsfolge nicht eintreten lässt. Andere solche Situationen betreffen persönliche und sachliche Qualifikationen von Ungleichbehandlungen (Fragen: durch wen, gegen wen, im Vergleich zu wem, auf welchem Sachgebiet, in Anknüpfung an welches Merkmal und ob in nachteiliger Weise). Als „Rechtfertigung“ werden dann die Situationen erfasst, in denen eine Ungleichbehandlung alle erforderlichen persönlichen und sachlichen Qualifikationen aufweist, um verboten zu sein, und dennoch nicht für verboten gehalten wird. 2 Die vorliegende Analyse des Strukturelements „Rechtfertigung“ verfolgt den Ansatz einer generischen Dogmatik, die ein Beschreibungsangebot für Gleichheitssätze verschiedener Herkunft und Zielrichtung machen will.2 Das erscheint möglich angesichts des Ausgangsbefunds, dass Gleichheitssätze eine prinzipiell gleichartige Struktur aufweisen, auch wenn sie unterschiedlichen Ursprungs sind und insofern auch verschiedenen höherran1
1 Hierin liegt bereits die – heute gängige – terminologische Vorentscheidung, als „Ungleichbehandlung“
nicht nur den voll tatbestandlichen und damit verbotenen Fall zu bezeichnen. Anders etwa Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 259; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, S. 1487 f.; Blome, Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) – ein ordentliches Grundrecht!, JA 2011, S. 486 (489). 2 Im methodischen Anschluss an Kempny/Reimer, Die Gleichheitssätze, 2012, S. VII. Philipp Reimer
A. Rechtfertigung als Strukturelement von Ungleichbehandlungsverboten
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gigen Determinanten unterliegen (worunter der Gegensatz von Grundrechtsbindung der Verpflichteten staatsgerichteter und Grundrechtsberechtigung der Verpflichteten nichtstaatsgerichteter Gleichheitssätze hervorsticht). I. Weichen oder Verdrängtwerden des Gleichheitssatzes
Für die Funktionsweise des Strukturelements „Rechtfertigung“ sind zunächst zwei kon- 3 struktive Möglichkeiten voneinander zu unterscheiden. 1. Rechtfertigung als negatives Tatbestandsmerkmal des Gleichheitssatzes selbst
Das Ergebnis, dass der in Frage stehende Gleichheitssatz die in Frage stehende Ungleich- 4 behandlung effektiv nicht verbietet, kann zum einen dadurch herbeigeführt werden, dass dieser Gleichheitssatz selbst eine Ausnahme enthält, also „weicht“. In diesem Sinne ist Rechtfertigung dann ein negatives Tatbestandsmerkmal des Gleichheitssatzes.3 Die jeweilige Gleichheitsgesetzgebung hat es insofern in der Hand, ob eine Rechtfertigung möglich sein soll. „Fehlen einer Rechtfertigung“ ist kein notwendiges Tatbestandsmerkmal, sondern beruht auf einer kontingent-rechtsinhaltlichen Entscheidung. So begegnen – wenn auch selten – Gleichheitssätze, die in keinem Falle weichen sollen, im staatsrechtlichen Kontext etwa Art. 91a Abs. 3 Satz 2 2. Hs. GG („die Beteiligung ist für alle Länder einheitlich festzusetzen“).4 Jedenfalls muss die Ausnahme das Ergebnis der Auslegung der fraglichen Gleichheitsbestimmung sein, darf also nicht vorschnell angenommen werden. Eine Rechtfertigungsmöglichkeit kann dabei bereits im Wortlaut angesprochen sein 5 wie etwa in § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG, wo der Charakter als negatives Tatbestandsmerkmal besonders deutlich wird („es sei denn, dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen“). Die dogmatische Einordnung als „Rechtfertigung“ erscheint auch dann zweckdienlich, wenn die gesetzliche Formulierung von dem negativen Merkmal ihren Verbotstatbestand selbst abhängig macht wie über die Definitionsnorm des § 3 Abs. 2 AGG („mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn […], es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerecht3 Zugrunde liegt hier ein weiter (rechtstheoretischer) Tatbestandsbegriff, dem es maßgeblich darauf
ankommt, dass das Fehlen der Rechtfertigung zu der logisch gleichgeordneten Reihe kumulativer (also „und“-verknüpfter) Voraussetzungen dafür gehört, dass die Rechtsfolge (also die Verbotswirkung) eintritt; in diesem Sinne bereits Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 98, 153. Ein enger Tatbestandsbegriff ist weiter verbreitet, aber weniger klar; er würde nicht die Gesamtheit, sondern nur einen Ausschnitt der Voraussetzungen für den Eintritt der Rechtsfolge umfassen. Das macht eine Abgrenzung erforderlich, die nicht trennscharf möglich ist und gegebenenfalls wiederum ein überflüssiges „dogmatische[s] Niemandsland“ entstehen lässt; der Begriff, wenn auch nicht die Konsequenz, bei Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 36 AEUV Rn. 86. 4 So jedenfalls die Deutung von Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 104. – Eine ähnliche Regelungsabsicht lässt § 20 Abs. 2 Satz 1 AGG („auf keinen Fall“) erkennen, dort geht es allerdings nicht um einen schlechthinnigen Ausschluss der Rechtfertigung vor dem Gleichheitssatz des § 19 Abs. 1 AGG, sondern um die inhaltliche Begrenzung eines (durchaus vorhandenen) Rechtfertigungsgrundes. Philipp Reimer
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
fertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich“).5 Die ausdrückliche Statuierung kann sich auch in einer anderen Bestimmung desselben Rechtsakts finden wie etwa in §§ 5, 8–10 AGG für den Gleichheitssatz aus § 7 Abs. 1 AGG.6 Dass eine Rechtfertigungsmöglichkeit beabsichtigt war, kann sich alternativ auch aus 6 dem systematischen Verhältnis zu anderen entstehungszeitlich vorhandenen7 Rechtsakten ergeben. So mag man der Verfassungs- oder Gesetzgebung durchaus einmal zusinnen, – dass vorhandene Spezialregelungen unberührt bleiben sollten (lex specialis anterior), – dass „Gattungsbildungen, die der Verfassung selbst zugrunde liegen“, auch von den Gleichbehandlungsverpflichteten eingesetzt werden dürfen8 oder – dass mit Blick auf völkerrechtliche (Differenzierungs-)Pflichten eine Ausnahme gelten sollte. 2. Rechtfertigung durch Verdrängung des Gleichheitssatzes im Einzelfall 7 Zum anderen kann das Ergebnis „effektives Nichtverbotensein der Ungleichbehand-
lung“ aber auch dadurch bewirkt werden, dass das Ungleichbehandlungsverbot durch eine andere Norm verdrängt wird.9 Diese – nicht gleichheitsspezifische – zweite Variante von „Rechtfertigung“ kann auch die Gleichbehandlungsgesetzgebung nicht verhindern, denn von einer anderen Norm verdrängt zu werden, kann keine Norm per se ausschließen. Die fragliche andere Norm muss sich allerdings durch eine geeignete Herkunft quali8 fizieren, die rechtsverdrängende Kraft verschafft.10 Eine solche wird jedenfalls für das deutsche Recht allgemein höherrangigen Normen (als lex superior) und späteren oder speziellen11 gleichrangigen Normen (als lex posterior vel specialis) zugeschrieben. Rechtsver5 Das entspricht der Formulierung der Gleichbehandlungsrichtlinien, siehe Art. 2 Abs. 2 lit. b RL 2000/43/
EG, Art. 2 Abs. 1 RL 2000/78/EG, Art. 2 lit. b RL 2004/113/EG und (nunmehr) Art. 2 Abs. 1 lit.b RL 2006/54/EG. Die Rechtfertigungsdeutung schwingt auch mit im RegE AGG v. 8.6.2006, BT-Drs. 16/1780, S. 33 („Vorliegen sachlich rechtfertigender Gründe“); der Unterschied wird dort mit der Beweislastverteilung begründet. – Für eine „unmittelbare Benachteiligung“ nach § 3 Abs. 1 AGG, soweit nach §§ 7, 19 AGG prima facie verboten, muss dagegen die Rechtfertigung in einer anderen Norm gesucht werden. 6 Solche Einschränkungen im Hinblick auf andere Bestimmungen nennt „quasi-tatbestandlich“ Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 230; dem folgend Jasper, Religiös und politisch gebundene öffentliche Ämter, 2015, S. 100 und öfter. Aber der „Unterschied (…) ist ein lediglich äußerlicher“ (Sachs, aaO.); mit gleichem Recht könnte man „tatbestandlich“ sagen. Berührt wird hier das allgemeine (rechtstheoretische) Problem der Inbezugsetzung von Norm(sinn) und Normtext: wo hört eine Norm auf und fängt die nächste an (vgl. nur Reimer, Rechtstheorie, 2022, § 7 Rn. 25–42)? Denn es ist nicht ausgemacht, dass §§ 5 und 7 Abs. 1 AGG zwei Normen sind und nicht vielmehr zusammen nur eine ergeben. 7 Denn nur im Hinblick auf Gleichzeitiges und Vergangenes kann man der jeweiligen normsetzenden Stelle einen entsprechenden historischen Willen zusinnen. Wer stattdessen auf einen „objektiven Willen des Gesetzes“ abhebt, verwischt auch hier Grenzen: eine „nachträgliche Sinnänderung“ wäre von einer Verdrängung (siehe Rn. 7 ff. (A. I. 2.)) nicht mehr zu unterscheiden. 8 Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 531 (mit Beispielen aus dem österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz). 9 Dieser Fall ist noch nicht gesondert betrachtet bei Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 99–104. 10 Vgl. dazu nur Wiederin, Die Stufenbaulehre Adolf Julius Merkls, in: Griller (Hrsg.), Rechtstheorie, 2011, S. 81 (104–121) m. w. N. 11 Zu Differenzierungen vgl. Faust, Spezialität – ein überschätztes Prinzip, in: FS Canaris, 2017, S. 479. Philipp Reimer
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drängungsmacht für den Einzelfall wird man aber überdies auch den fallentscheidenden Individualnormen12 zusprechen müssen, insbesondere den Gerichtsurteilen – soweit ihre Rechtskraft reicht, kommt auch ein „höherrangiger“ Gleichheitssatz nicht mehr zum Zuge. Gegenüber den Gleichheitssätzen des Grundgesetzes kommen damit nur andere grund- 9 gesetzliche und mit Anwendungsvorrang ausgestattete unionsrechtliche Normen in Frage. Insbesondere können damit vor grundgesetzlichen Gleichheitssätzen Ungleichbehandlungen nicht mit Normen des Landes(verfassungs)rechts,13 mit einfachgesetzlichen Normen,14 mit völkerrechtlichen Normen15 oder auch mit staatskirchenvertraglichen Normen16 gerechtfertigt werden. In erster Linie verbleibt damit das kollidierende (Bundes-) Verfassungsrecht.17 Inwieweit dieses dann tatsächlich rechtfertigend wirkt, hängt maßgeblich von seinem Inhalt ab.18 Gegenüber den Gleichheitssätzen des einfachgesetzlichen Bundesrechts, etwa des All- 10 gemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)19, kann dementsprechend prinzipiell jede Bundesgesetzesnorm sowie jede Bundesverfassungs- oder unmittelbar anwendbare Unions- oder (über Art. 25 GG) Völkerrechtsnorm eine Rechtfertigung liefern. Die nachfolgenden Überlegungen werden mithin im Blick behalten müssen, dass sich 11 die Freistellung von gleichheitsrechtlichen Prima-facie-Verboten rechtstechnisch auf zwei Arten vollziehen kann. II. Vergleichbarkeit als dogmatisches Konkurrenzangebot zur Rechtfertigung
Soweit es um das Weichen von Gleichheitssätzen geht, also um deren Zurücktreten bei 12 Verwirklichung eines negativen Tatbestandsmerkmals20, sieht sich das Konzept der Rechtfertigung einem dogmatischen Konkurrenzangebot in Gestalt der (Un-)Vergleichbarkeit ausgesetzt. Auch hierin liegt konstruktiv ein negatives Tatbestandsmerkmal, denn auch 12 Zu deren aus rechtstheoretischer Sicht gleichartigem Normcharakter vgl. nur Kelsen, Reine Rechts-
lehre, 2. Aufl. 1960, S. 240.
13 BVerfGE 138, 296 (349 f.) – Kopftuch II (2015); Jasper (Fn. 6), S. 107 (hier als „[q]uasi-tatbestandliche
Begrenzungen“ verhandelt), 119 (dort als Rechtfertigung).
14 Gleichsinnig Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbotes, 1987, S. 70. 15 Ebenso Jasper (Fn. 6), S. 117; Sachs (Fn. 1), S. 1684. Höchstens können vom Völkerrecht Impulse für
das Verfassungsverständnis ausgehen.
16 BVerfGE 19, 1 (12) – Gebührenfreiheit Neuapostolische Kirche (1965); Schrooten, Gleichheitssatz und
Religionsgemeinschaften, 2015, S. 248 f.
17 Vgl. (insgesamt zurückhaltend) Jasper (Fn. 6), S. 119–134, der auch davor warnt, vorschnell von Dingen
mit „Verfassungsrang“ zu sprechen (vgl. ebd., S. 126 f., 163 m. N.); offener dagegen etwa Jarass, in: ders./ Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 18, 118, 152; Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand: Mai 1996, Art. 3 Rn. 575, 577. Beachtliche übergreifende Kritik zum Konzept „verfassungsimmanenter Schranken“ bei Enders, Die Lehre von den verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken, in: FS Wahl, 2011, S. 283 (296). 18 Dazu noch Rn. 21, 27 ff. 19 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. 20 Siehe Rn. 4 ff. (A. I. 1.). Philipp Reimer
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
nach dieser Vorstellung soll die Verbots-Rechtsfolge eines Gleichheitssatzes nicht eintreten, wenn die verglichenen Fälle „unvergleichbar“ sind. Zumindest sprachlich ist das von vornherein unbefriedigend, weil ein Vergleich stets möglich, nur manchmal eben fernliegend und unergiebig ist. Der Sache nach geht es insofern eigentlich um „Unähnlichkeit“, also – im Gegensatz zum binären „vergleichbar/unvergleichbar“ – eine skalierbare Größe. Das lässt erkennen, dass auch beim Konzept „Vergleichbarkeit“ ein wertendes Tatbestandsmerkmal im Raume steht. Die Vergleichbarkeitslehre begegnet in zwei Varianten: (1) Alternativ zur Rechtfertigung: Die Vergleichbarkeit kann die Stelle des Strukturelements „Rechtfertigung“ ersetzend einnehmen. So kann man etwa die ältere Verfassungsrechtsprechung (zu Art. 3 Abs. 1,21 Abs. 322 und Art. 38 Abs. 1 GG23) lesen, die von Rechtfertigung nicht spricht und stattdessen die Gleichheit oder Ungleichheit der Tatbestände prüft, bei deren Fehlen auch ein gleichheitsrechtliches Verbot verneint wird. Es handelt sich dann nur um eine terminologische Abweichung.24 (2) Kumulativ zur Rechtfertigung: Anders liegt es, wenn „(Un-)Vergleichbarkeit“ (oder „wesentliche [Un-]Gleichheit“25) als vorgehendes Tatbestandsmerkmal vor „Rechtfertigung“ gesetzt wird. Das ist etwa für Art. 3 Abs. 1 GG eine häufige Lesart in Rechtsprechung26 wie Literatur.27 Gegen diese Konstruktion bestehen allerdings insofern erhebliche Bedenken, als sie zu einer Verdoppelung der wertend bestimmten Tatbestandsausnahme führt.28 Das schafft überflüssige Komplexität und auch die Gefahr, dass Wertungen aus 21 BVerfGE 6, 389 (432) – § 175 StGB (1957); BVerfGE 9, 124 (129 f.) – SGG-Armenanwalt (1959); BVerf-
GE 60, 113 (119) – Sterbegeld (1982); BVerfGE 67, 70 (85 f.) – Besteuerung belasteten Vermögens (1984); BVerfGE 74, 182 (200) – Bewertung von Einfamilienhäusern (1987). Zur Deutung der älteren Verfassungsrechtsprechung siehe auch Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994 (1985), S. 364–369; Pietzcker, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. V, 2013, § 125 Rn. 39. 22 BVerfGE 6, 389 (423) – § 175 StGB (1957); dem eng folgend auch noch BVerfGE 15, 337 (343) – Höfeordnung (1963); BVerfGE 31, 1 (4) – Beitragserstattung an Witwer (1971) (jeweils: wenn „vergleichbare Elemente (…) vollkommen zurücktreten“). Seit BVerfGE 43, 213 (225) – Fremdrenten/Rentenversicherung (1977) fällt das Wort „vergleichbar“ hier weg. Siehe aber auch Sachs (Fn. 14), S. 491 und öfter, dem die Vergleichbarkeit bei Art. 3 Abs. 2 und 3 GG „[s]trukturelle Anwendungsvoraussetzung“ ist (wenn auch keine „selbständige Voraussetzung des Gleichheitsurteils“: ebd., S. 344) und der eine eigene Rechtfertigungsstation nicht vorsieht. 23 BVerfGE 6, 84 (97) – Sperrklausel (1957). 24 So generell Pietzcker (Fn. 21), Rn. 7. 25 Eine „irreführende Leerformel“ sagt dazu Michael, Die drei Argumentationsstrukturen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 148 (152). 26 Siehe etwa BVerfGE 35, 263 (272) – Beschwerderecht der Behörde (1973); BVerfGE 130, 151 (175) – dynamische IP-Adressen (2012); BVerfGE 133, 1 (21) – Geldbußenverzinsung (2012). 27 Siehe etwa Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, 1980, S. 56; Kloepfer, Gleichheitssatz und Abgabengewalt, in: FS Stober, 2008, S. 703 (703); Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, S. 440, 450; Jarass (Fn. 17), Art. 3 Rn. 11. 28 Das gilt letztlich auch für die Unterscheidung von zweierlei Zwecken, deren eine einer Entsprechungsprüfung („interne Zwecke“) und deren andere einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen werden sollen („externe Zwecke“), nach Huster, Rechte und Ziele, 1993, besonders S. 165–175, 242 f. (er spricht auch bei ersterer Prüfung aber von „gerechtfertigt“: ebd., S. 170). Zur Kritik etwa Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 30. Philipp Reimer
B. Rechtfertigung über andere Normen
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dem bereits stärker rationalisierten Rechtfertigungsbereich in den eher intuitiv verbliebenen Vergleichbarkeitsbereich verschoben und hier geradezu versteckt werden könnten;29 für die Trennung würde es nur sprechen, wenn sich daran irgendwelche rechtlichen Konsequenzen festmachen ließen, etwa prozessualer Art.30 Wo letzteres nicht der Fall ist und der Normtext eine kumulative Auslegung nicht erzwingt, sollte diese nach allem möglichst vermieden werden. Soweit die Gesetzgebung allerdings ausdrücklich einmal die Vergleichbarkeit zur Vo- 17 raussetzung neben einem Rechtfertigungsmerkmal gemacht hat wie in § 4 TzBfG, sind beide Merkmale für die Dogmatik des positiven Rechts unverfügbar. Wie man die beiden hier jedoch konstruktiv einbaut, ist damit aber noch nicht vorentschieden. Man kann sie als kumulative Tatbestandsmerkmale begreifen.31 Stattdessen ist es aber auch möglich, den Regelungsgehalt der Vergleichbarkeit in die Rechtfertigungsfrage – gerichtet auf die Auffindung und Bewertung von Unterschieden – zu integrieren; dann wäre „Unvergleichbarkeit“ ein gesetzlich vertypter Rechtfertigungsfall.
B. Rechtfertigung über andere Normen Unter den verschiedenen Möglichkeiten der Ausfüllung des Strukturelements „Recht- 18 fertigung“ können zunächst diejenigen abgeschichtet werden, die über andere Normen wirken und insofern die Vorteile besserer Zugänglichkeit und geringerer Wertungsoffenheit versprechen. Die Präposition „über“ wird dabei gewählt, um eine Festlegung zu vermeiden auf entweder „Rechtfertigung durch andere Normen“ (also Verdrängung32) oder „Rechtfertigung im Hinblick auf andere Normen“ (was auf interpretatorisch gewonnene Tatbestandsausnahmen verwiese33). Im vorliegenden Abschnitt sollen vielmehr beide konstruktiven Möglichkeiten grundsätzlich – wie meist üblich – zusammen betrachtet werden, denn der Sache nach geht es um die gleiche Frage: unter welchen Voraussetzungen mit rechtlichen Bestimmungen außerhalb des in Rede stehenden Gleichheitssatzes argumentiert werden darf, um dessen Verbotswirkung zu verneinen. 29 Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 40–44; Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm kom-
parativer Systeme, 1997, S. 227; Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 82. In diese Richtung auch Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S. 945 (948); Boysen, Vergleichbarkeit und „wesentliche Gleichheit“, in: Kempny/Reimer (Hrsg.), Gleichheitssatzdogmatik heute, 2017, S. 35; Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung, 2008, S. 148 f. Entsprechend zu den Grundfreiheiten als unionsrechtlichen Gleichheitssätzen EuGH, Schlussanträge der GA Kokott v. 13.3.2014, Rs. C-48/13, Nordea Bank, Rn. 21–28; EuGH, Schlussanträge der GA Kokott v. 10.1.2019, Rs. C-607/17, Memira, Rn. 46; zu Art. 20 GRCh Valta/Gerbracht, Perspektiven eines europäischen Leistungsfähigkeitsprinzips am Beispiel der Zinsschranke, StuW 2019, S. 118 (124). Zum AGG wird das Problem angedeutet von Rothballer, Berufliche Anforderungen im AGG, 2016, S. 63. 30 In diesem Sinn zu Art. 3 Abs. 1 GG Machado, Verhältnismäßigkeitsprinzip vs. Willkürverbot, 2015, S. 142 f., Fn. 15: unterschiedliche „Argumentationslast“ – für Vergleichbarkeit die Ungleichbehandelten, für Rechtfertigung die Verpflichteten. 31 Siehe Bayreuther, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK Arbeitsrecht, Stand: Dezember 2021, § 4 TzBfG Rn. 8. 32 Siehe Rn. 7 ff. (A. I. 2.). 33 Siehe Rn. 6 (A. I.). Philipp Reimer
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
Damit die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung gelingen kann, muss die andere Norm einen tauglichen Inhalt aufweisen. Entscheidend ist dabei ihre Rechtsfolge (dazu I), während für die Tatbestandsseite verschiedene Gestalten möglich sind (dazu II). I. Rechtsfolgentypen 1. Erlaubnis
Abgezielt wird auf eine Aushebelung des grundsätzlichen Verbots, das der betrachtete Gleichheitssatz ausspricht. Rechtstechnisch verlangt dies nach einer Erlaubnisnorm, die dem Verbot entgegengehalten werden kann und die ausspricht, dass die fragliche Ungleichbehandlung eben doch nicht verboten sei.34 21 Gegenüber den grundrechtlichen Gleichheitssätzen bieten gewisse Differenzierungserlaubnisse etwa Art. 7 Abs. 3 GG bezüglich des nach Bekenntnis getrennten Religionsunterrichts,35 Art. 12a GG bezüglich der Heranziehung zu den verschiedenen Dienstpflichten36 und Art. 33 Abs. 5 GG bezüglich des zweispurigen Dienstrechts.37 Wo der Wortlaut anderer Verfassungsbestimmungen dies nicht ebenso explizit macht, kommt eine Differenzierungserlaubnis zwar prinzipiell noch in Frage, wird aber seltener gegeben sein.38 Umstritten und fraglich ist das Bestehen einer Erlaubnis zur Geschlechtsdifferenzierung aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG.39 Gegenüber den einfachgesetzlichen Gleichheitssätzen lassen sich Bestimmungen wie 22 §§ 8 bis 10 AGG ebenfalls als Differenzierungserlaubnisse begreifen (soweit man darin eigene Normen und nicht nur negative Tatbestandsmerkmale des Gleichheitssatzes aus § 7 Abs. 1 AGG sieht40). Dagegen geben „die subjektiven Freiheitsrechte des ungleich Behandelnden“ nicht un23 mittelbar die Erlaubnis,41 denn diese Grundrechte entscheiden über die Gültigkeit des einfachgesetzlichen Gleichheitssatzes selbst; soweit dieser aber gültig ist, muss die Rechtfertigung irgendwo anders herkommen. Auch die Erlaubnisnormen der Gleichbehand20
34 Vgl. nur Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 78 f. – Bereits die Ungleichbehandlung ver-
neint, wenn „die Differenzierung durch [sc. gleichrangiges Recht] selbst geschieht oder geboten wird“, Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 101 m. w. N. 35 Heckel, Art. 3 III GG, in: FS Dürig, 1990, S. 241 (244). 36 BVerfGE 92, 91 (109) – Feuerwehrabgabe II (1995): „lex specialis zu Art. 3 Abs. 3 GG“. Einen Ausschluss der „Anwendbarkeit“ nimmt demgegenüber Nußberger (Fn. 29), Art. 3 Rn. 270 an. 37 Jarass, Folgerungen aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG für die Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 I GG, NJW 1997, S. 2545 (2549). 38 Ablehnend zu Art. 33 Abs. 5 GG BVerfGE 121, 241 (261) – Versorgungsabschlag (2008). Weitreichend der Vorschlag von Heckel, Gleichheit oder Privilegien?, 1993, S. 26: alle Gesetzesvorbehalte begründeten die Erlaubnis zur Differenzierung zwischen den Fällen erforderlichen und angemessenen Eingreifens und den sonstigen Fällen. 39 Vgl. m. N. Reimer, Gleichberechtigung von Männern und Frauen, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 2022, § 129 Rn. 79–87, im Erscheinen. 40 Vgl. Rn. 5 (A. I. 1.). 41 So aber Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 865: sogar „wichtigste[r] Rechtfertigungsgrund“. Philipp Reimer
B. Rechtfertigung über andere Normen
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lungsrichtlinien für „positive Maßnahmen“42 gehören nicht hierher, weil sie nicht den Gleichbehandlungsverpflichteten die Ungleichbehandlung, sondern den Mitgliedstaaten die Zulassung von Ausnahmen vom Ungleichbehandlungsverbot gestatten (welch letzteres, soweit es Private treffen soll, überhaupt erst durch die mitgliedstaatliche Gesetzgebung zu schaffen ist).43 2. Verpflichtung
Auch dort, wo eine Bestimmung nicht explizit das Wort „Erlaubnis“ oder „erlaubt“ ent- 24 hält, kann diese Rechtsfolge durchaus Ergebnis der Auslegung sein. Das gilt insbesondere für die Situation, dass die zur Rechtfertigung in Frage kommende andere Norm in erster Linie als Verpflichtungsnorm erscheint. Eine Verpflichtung wird man normalerweise zugleich als Erlaubnis zu verstehen haben.44 Erst dieser Erlaubnisgehalt dispensiert vom Ungleichbehandlungsverbot; ließe er sich der Bestimmung ausnahmsweise einmal nicht entnehmen, so wäre das Ergebnis eine unaufgelöste Pflichtenkollision. Die Verpflichtung zur Ungleichbehandlung beinhaltet insofern grundsätzlich einen Unterfall der Erlaubnis zur Ungleichbehandlung (und entfaltet nur dann rechtfertigende Kraft).45 Nicht überzeugend ist es dabei, die Erlaubniswirkung einer kollidierenden Verpflich- 25 tung noch von einer „strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung“ abhängig zu machen.46 Entweder besteht die Verpflichtung und gestattet – oder sie besteht eben nicht und gestattet dann auch nicht die Ungleichbehandlung. Genauen Hinsehens bedarf aber der Inhalt der Verpflichtung. 26 a) Pflicht zur Ungleichbehandlung
Die Erlaubnis zur Ungleichbehandlung wird man nur dort ohne Weiteres annehmen 27 können, wo auch eine echte Pflicht zur Ungleichbehandlung (Differenzierungspflicht) angeordnet ist, also dazu, U und V unterschiedlich zu behandeln (und nicht nur: V eine bestimmte Behandlung angedeihen zu lassen). So verpflichtet Art. 33 Abs. 2 GG zur Bevorzugung der Geeigneteren und Befähigteren.47 In gleichem Sinne wird man etwa Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. GG jeweils eine Pflicht zur ungleichen Behandlung von Abkömmlingen und Nicht-Abkömmlingen entnehmen – und damit zugleich eine Erlaubnis zur Anknüpfung an die Abstammung trotz Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.48 Soweit sich 42 Hierzu und zur einschlägigen EuGH-Rechtsprechung differenziert Burg, Positive Maßnahmen zwi-
schen Unternehmerfreiheit und Gleichbehandlung, 2009, besonders S. 80–128.
43 Siehe Art. 5 RL 2000/43/EG, Art. 7 RL 2000/78/EG, Art. 6 RL 2004/113/EG („hindert die Mitglied-
staaten nicht daran“), Art. 3 RL 2006/54/EG („können (…) beibehalten oder beschließen“).
44 So zu Art. 118 Satz 2 GG (mit Verpflichtungs-Indikativ) bereits BVerfGE 1, 14 (52) – Südweststaat
(1951). 45 Sie wird dieser freilich manchmal gleichgeordnet, etwa bei Jasper (Fn. 6), S. 130, 134. 46 So aber BVerfGE 151, 1 (26) – Betreutenwahlrecht (2019), zu Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. 47 Vgl. Reimer, Sonstige besondere Gleichheitssätze, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 2022, § 130 Rn. 97–104, im Erscheinen. 48 Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: November 2021, Art. 3 Rn. 225; Sacksofsky, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Bd. 1, 2002, Art. 3 II, III 1 Rn. 317. Im Umkehrschluss auch BVerfPhilipp Reimer
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
der Herkunft nach taugliche49 Pflichten zu Fördermaßnahmen („positiver Diskriminierung“) finden, gilt das Gleiche im Hinblick auf die jeweiligen anknüpfungsabhängigen50 Ungleichbehandlungsverbote. b) Pflicht nur zur Behandlung einer Seite
Schwieriger liegt es im Hinblick auf solche Normen, die eine Behandlungspflicht nur bezüglich einer Seite statuieren, also dazu verpflichten, V eine Behandlung angedeihen zu lassen, ohne zugleich zu verbieten, auch U so zu behandeln. Hier wird die gleiche Behandlung von U gerade nicht ausgeschlossen, und man könnte sie dementsprechend als von einem Gleichheitssatz geradezu geboten ansehen. So hat in Bezug auf Art. 3 Abs. 1 GG das Bundesverfassungsgericht die Schutzpflicht zugunsten der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 GG gelesen: Verheiratete müssen geschützt werden, aber wegen des Gleichheitssatzes andere dann eben auch.51 In dieser Konstellation ist eine genaue Auslegung der die Behandlungspflicht ausspre29 chenden Bestimmung daraufhin erforderlich, ob sie nicht vielleicht doch jeweils auch eine Differenzierungserlaubnis enthalten.52 So wird etwa die (Behandlungs-)Pflicht zur Fortgewährung der Staatsleistungen an bestimmte Religionsgemeinschaften aus Art. 138 Abs. 1 WRV als Differenzierungserlaubnis dahin verstanden, dass entsprechende Staatsleistungen nicht auch an andere Religionsgemeinschaften erbracht werden müssten.53 Art. 6 Abs. 4 GG kann als Differenzierungserlaubnis bezüglich der Mütterfürsorge verstanden werden.54 Soweit die Behandlungspflicht aus höherrangigem Recht stammt – namentlich aus un30 mittelbar anwendbarem Unionsrecht –, liegt die Annahme einer Differenzierungserlaubnis dagegen weniger nahe. Damit ist das Problem der „umgekehrten Diskriminierung“ angesprochen: wenn das Unionsrecht verbietet, V (grenzüberschreitender Fall) zu besteuern, verbietet Art. 3 Abs. 1 GG dann auch die Besteuerung von U (Inlandsfall)? Will man den 28
GE 84, 9 (19) – Mannesname (1991): keine Rechtfertigung der Geschlechtsdifferenzierung, „weil Art. 6 Abs. 1 GG den Gesetzgeber nicht verpflichtet, die Namenseinheit in der Familie zu wahren“. 49 Im Verhältnis zu den grundgesetzlichen Gleichheitssätzen taugt jedenfalls Völkerrecht nicht zur Rechtfertigung, siehe oben Rn. 9 (A. I. 2.) – das betrifft etwa Art. 4 CEDAW, Art. 1 Abs. 4, Art. 2 Abs. 2 ICERD, Art. 27 Abs. 1 lit. h CRPD. 50 Zum Begriff: Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 81 f. 51 Vgl. etwa BVerfGE 133, 59 – Sukzessivadoption (2013); kritisch dazu Reimer/Jestaedt, Anmerkung zu BVerfG, Urt. v. 19.2.2013, 1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09, JZ 2013, S. 468 (469). Für Differenzierungserlaubnis aus Art. 6 Abs. 1 GG auch Battis/Nebel, Auswirkungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes auf das öffentliche Dienstrecht, in: FS Adomeit, 2008, S. 1 (19). 52 So relativ weitgehend BVerfGE 14, 221 (239) – Fremdrenten/Unfallversicherung (1962): „Differenziert ein Gesetz in seinen Regelungen, um einem Verfassungsgebot zu entsprechen, so ist diese Differenzierung nicht willkürlich.“ 53 Schrooten (Fn. 16), S. 246. Ähnlich zur Feiertagsschutzpflicht nach Art. 139 WRV Heckel (Fn. 35), S. 251. 54 Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (673). Hier steht daneben das Argument im Raum, andere Personen seien ohnehin nicht betroffen, was jedoch z. B. für Geldleistungen nicht trägt; vgl. Rn. 64 ff. (C. I. 3. c)). Philipp Reimer
B. Rechtfertigung über andere Normen
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Gleichheitssatz insoweit nicht für unanwendbar halten55 und auch dem Unionsrecht nicht in unplausibler Weise zusinnen, dass es die Inländerdiskriminierung positiv gestatte (statt dass diese ihm nur gleichgültig sei56), dann genügt der Verweis auf die unionsrechtliche Behandlungspflicht nicht schon per se zur Rechtfertigung.57 3. Derogation
Das gleiche Ergebnis – kein Verbot – ließe sich außerdem erzielen mit einer Derogations- 31 norm, die den Gleichheitssatz also (zumindest teilweise) aufhöbe, ohne zugleich eine positive Erlaubnis auszusprechen. Strenggenommen ist dies allgemein die Funktionsweise der gleichheitssatzverdrängenden Rechtfertigung58. II. Tatbestandstypen
Während Normherkunft und Rechtsfolgeninhalt für den Rechtfertigungserfolg zwingend 32 sind, kommt es auf eine bestimmte Tatbestandsgestalt nicht an – es müssen nur, soweit es Tatbestandsvoraussetzungen gibt und die Rechtsfolge nicht kategorisch angeordnet ist, im konkreten Fall alle gegeben sein. Phänotypisch unterscheiden lassen sich auf dieser Grundlage Differenzierungserlaubnisse, die ohne Weiteres gelten, und solche, die für den Eintritt ihrer Erlaubniswirkung noch aufwändige Tatbestandsvoraussetzungen verlangen. Bei Letzteren, den material voraussetzungsvollen Differenzierungserlaubnissen, wird 33 man ähnlich vorgehen wie bei den Gleichheitssätzen, die von vornherein derartige (negative) Tatbestandsmerkmale enthalten59. Beispiele finden sich in §§ 8 bis 10, 20 AGG, wo etwa auf Verfolgung bestimmter Zwecke und auf Angemessenheit abgehoben wird. Dagegen finden sich auch nicht selten kategorische Differenzierungserlaubnisse, die 34 ungeachtet weiterer Voraussetzungen zur Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen taugen.60 So sind etwa Benachteiligungen wegen des Geschlechts abweichend von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG allgemein erlaubt durch Art. 12a GG, der ausdrücklich Wehr- und andere Dienstleistungen der „Männer“ und zivile Dienstleistungen der „Frauen“ vorsieht. Eine entsprechende kategorische Differenzierungserlaubnis soll auch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zugunsten von Menschen mit Behinderung enthalten.61 Selbst die – textlich insoweit nicht präzisierende – soziale Staatszielbestimmung nach Art. 20 Abs. 1 GG 55 Dafür Pietzcker (Fn. 21), Rn. 103. 56 Vgl. nur Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 18 AEUV Rn. 67; Valta/Gerbracht
(Fn. 29), S. 128. 57 Vgl. Epiney (Fn. 27), besonders S. 465–484; Boysen (Fn. 34), Art. 3 Rn. 98; Jarass (Fn. 17), Art. 3 Rn. 97 m. N. auch zu Fällen, wo „ausreichende Sachgründe“ angenommen wurden. 58 Oben Rn. 7 ff. (A. I. 2.). 59 Siehe unten Rn. 35 ff. (C.). 60 Vgl. für eine umfassende Bestandsaufnahme zu entsprechenden Differenzierungserlaubnissen und -pflichten wegen religiösen Bekenntnisses und wegen politischer Anschauungen Jasper (Fn. 6), S. 234–342 bzw. 356–494. 61 „Förderauftrag“ sagt jetzt BVerfGE 151, 1 (24 f.) – Betreutenwahlrecht (2019), im Anschluss an Baer/ Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 541. Philipp Reimer
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
wurde als Differenzierungserlaubnis für „eine sozial besonders schutzbedürftige Gruppe“ angesehen.62
C. Rechtfertigung über tragfähige Unterschiede Soweit die Rechtfertigung nicht über eine andere Norm erfolgt, die den betrachteten Gleichheitssatz verdrängt oder weichen lässt63, kommen Tatbestandsausnahmen in Betracht, worüber bestimmte Ungleichbehandlungen den Gleichheitssatz doch noch passieren dürfen. Eine Verallgemeinerung der kontingent-rechtsinhaltlichen Ausnahmevoraussetzungen, die auf den verschiedenen Gesetzgebungsebenen für die jeweiligen Gleichheitssätze vorgesehen worden sind, wird kaum gelingen. Bereits bezogen auf Art. 3 Abs. 2, 3 GG „haben sich in der Literatur recht unübersichtliche Fallgruppen hierzu gebildet“,64 über die hier nicht noch einmal Bestand aufgenommen werden soll.65 Stattdessen soll mit dem Unterschied zwischen den Vergleichsfällen, der als rechtfertigungs- oder trag fähig bewertet wird, der gemeinsame Kern der typischen Fälle herausgearbeitet werden. 36 Das Strukturelement „Rechtfertigung“, soweit es nicht unmittelbar durch den Verweis auf eine andere Norm ausgefüllt wird66, enthält abstrakt betrachtet zwei Voraussetzungen:67 dass zwischen den Vergleichsfällen U und V ein Unterschied bestehe (dazu I) und dass dieser von dem Gleichheitssatz als tragfähig bewertet werde (dazu II). Abschließend ist noch von der neueren, allerdings nur in Grenzen überzeugenden Rekonzeptionalisierung des Gleichbehandlungsrechts zu handeln, die die Rechtfertigungsfrage einer Zwecklogik unterwirft (dazu III). 37 Auf dieser Stufe sollen alle Gleichheitssätze gemeinsam betrachtet werden. Soweit etwa anknüpfungsabhängige Gleichheitssätze (Diskriminierungsverbote) strengere Rechtfertigungsanforderungen als anknüpfungsunabhängige (wie Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 20 GRCh) stellen, ist dies nicht sachlicher Notwendigkeit, sondern legislativer Auswahl aus dem Baukasten der Regelungsmöglichkeiten geschuldet. Immerhin kann ein etwaiges Anknüpfungsmerkmal grundsätzlich von vornherein aus dem Kreis möglicher Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen werden68. 35
BVerfGE 43, 213 (226) – Fremdrenten/Rentenversicherung (1977). Siehe oben Rn. 18 ff. (B.). Doukas, Verfassungsrechtliche Parameter positiver Diskriminierung, 2014, S. 113. Zur Rechtfertigung bezüglich Art. 3 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Merkmal 1 GG vgl. Reimer (Fn. 39), Rn. 45–61, bezüglich des übrigen Art. 3 Abs. 3 GG Reimer (Fn. 47), Rn. 66–68. 66 Oben Rn. 18 ff. (B.). 67 Der spezifisch verfassungsrechtlichen Frage, in welchen Fällen außerdem ein Vorbehalt des Gesetzes bestehe, soll in diesem generisch angelegten Beitrag nicht nachgegangen werden; dazu nur Jarass (Fn. 17), Art. 3 Rn. 116, 152, 169. 68 Siehe Rn. 80 ff. (C. II. 2. b)). 62 63 64 65
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C. Rechtfertigung über tragfähige Unterschiede
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I. Die Differenzlogik der Gleichheitssätze: Unterschiedlichkeit als Rechtfertigungsvoraussetzung
Im Ausgangspunkt muss insofern ein Unterschied zwischen den Vergleichsfällen gegeben 38 sein.69 Dabei kommt es nicht auf eine Vorstellung der Gleichbehandlungsverpflichteten an, sondern auf das wirkliche Bestehen des Unterschieds (erkenntnistheoretisch zurückhaltender: aus der Sicht der Beobachtenden, die Rechtslage Beurteilenden).70 Vom Bestehen irgendwelcher Unterschiede kann man ausgehen, denn andernfalls wären die Fälle identisch und läge dementsprechend gar keine Ungleichbehandlung vor.71 Keinesfalls aber genügt zur Rechtfertigung ein Zweck, der beide Vergleichsfälle gleichermaßen trifft (etwa: Einnahmenerzielung oder Ausgabenersparnis).72 Eine Argumentation mit der „Natur der Sache“73 deutet Unterschiedlichkeit nur an, ohne sie klar zu bezeichnen; sie kann aber auf den Unterschied hinweisen, dass die V zuteilgewordene Behandlung bereits aus tatsächlichen Gründen für U nicht in Frage kommt.74 Vor diesem Hintergrund benötigt die Gleichheitssatzdogmatik eine Theorie der Unter- 39 schiede, wofür einige Grundlinien hier skizziert werden sollen.75 1. Unterschied als Eigenschaftendifferenz
Jeder Unterschied besteht in Bezug auf etwas Bestimmtes; man unterscheidet sich nicht 40 schlechthin, sondern hinsichtlich gewisser Eigenschaften. Definieren kann man den Unterschied der Vergleichsfälle U und V somit darüber, dass eine Eigenschaft e bei U gegeben ist und bei V nicht.76 Der Begriff „Eigenschaft“ ist dabei weit zu verstehen und soll 69 Grundsätzlich ebenso zu Art. 3 Abs. 1 GG etwa Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG,
Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 1 Rn. 120 (allerdings beschränkt auf „Kontextwesentliche Unterschiedlichkeit“); Michael (Fn. 29), S. 226 f.; O’Hara, Konsistenz und Konsens, 2018, S. 145 f. Aus der Rechtsprechung deutlich noch BVerfGE 55, 72 (88) – Präklusion I (1980). Von „Verschiedenheiten der Regelungsgegenstände“ spricht Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes, JuS 1997, S. 124 (129). 70 Zu Art. 3 Abs. 1 GG deutlich BVerfGE 51, 1 (26 f.) – Ausländer-Renten (1979); Jarass (Fn. 37), S. 2548; allgemein Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 118. 71 So schon Weinberger, Gleichheitspostulate, ÖZöR 25 (1974), S. 23 (25 f.). 72 Siehe BVerfGE 75, 40 (72) – nichtkirchliche Ersatzschulen (1987); BVerfGE 121, 241 (257 f.) – Versorgungsabschlag (2008); Vogel, [Diskussionsbeitrag], VVDStRL 47 (1989), S. 64 (66 f.); Machado (Fn. 30), S. 139. Insofern müssten auch „externe, nicht unmittelbar an die Unterschiedlichkeit des Vergleichspaars anknüpfende, Zwecke“ an einen Unterschied zurückgebunden werden; anders möglicherweise O’Hara (Fn. 69), S. 198. Ausnahmsweise hält „auch finanzielle Erwägungen“ für tragfähig BVerfGE 19, 76 (84) – Wiederbeschäftigung Beamtinnen (1965). 73 Dazu kritisch bereits Schmidt, Natur der Sache und Gleichheitssatz, JZ 1967, S. 402; aus jüngerer Zeit Jasper (Fn. 6), S. 112 f. (m. w. N.); siehe aber etwa BVerfGE 39, 334 (368) – Rechtsreferendariat (1975). 74 Freundliche Deutung auch bei Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 181 Rn. 193. – An den Bezeichnungen U für die Person, die sich auf den Gleichheitssatz beruft, und V für die Vergleichsperson wird im Folgenden festgehalten. 75 Anschließbar an eine „Theorie des Vergleichens“ – siehe Davy/Grave/Hartner/Schneider/Rolfs, Grundbegriffe für eine Theorie des Vergleichens, Ein Zwischenbericht, SFB 1288, Working Paper 3, 2019, S. 24. 76 Der Unterschied kann insofern logisch als Tripel (U, V, e) rekonstruiert werden – ähnlich zur e-bezogenen Gleichheit Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, 1971, S. 30 f. Dies kann ohne Beschränkung der Allgemeinheit gesagt werden; der umgekehrte Fall, dass e Philipp Reimer
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
nicht nur U körperlich anhaftende Merkmale umfassen, sondern jede für U zu bejahende Aussage (Prädikation) – etwa betreffend Verhalten, Berufsqualifikationen oder Einkünfte, aber auch betreffend das Verhältnis zu einem Stichtag,77 die Beurteilung von dritter Seite oder das Ergebnis eines Loses.78 41 Soweit die semantisch identische Eigenschaft in verschiedene sprachliche Formen e1, …, en gebracht werden kann, namentlich unter Gebrauch von Syn- oder Antonymen,79 hat man konstruktiv die beiden Möglichkeiten, auf die gemeinsame Sinndeutung (und damit einen Unterschied) oder auf die divergierende Sprachfassung (und damit mehrere Unterschiede) abzustellen. Die Tragfähigkeitsbewertung kann man freilich kaum anders als an den Sinn knüpfen, und so wird man in der zweiten Konstruktion den mehreren Unterschieden zumindest denselben Rechtfertigungswert zuschreiben wollen; die Konstruktionsfrage muss deshalb nicht entschieden werden.80 Ein Unterschied kann sich auch über die Zeit verändern, indem U die betreffende Ei42 genschaft verliert oder V sie erlangt.81 Um für eine Rechtfertigung in Frage zu kommen, muss der Unterschied zur Zeit der Ungleichbehandlung bestanden haben; einen später eingetretenen oder bereits vorher weggefallenen Unterschied genügen zu lassen wäre kaum ein überzeugendes Auslegungsergebnis.82 Bei einer „Ungleichbehandlung mit Dauerwirkung“, wie sie durch generelle Regelungen normalerweise hervorgebracht wird, müsste ein tragfähiger Unterschied dementsprechend während deren gesamter Dauer bestehen. Prinzipiell spricht allerdings nichts dagegen, die Ungleichbehandlung in verschiedenen Zeitabschnitten mit je einem anderen Unterschied zu rechtfertigen. 43 Allgemein lassen sich diejenigen Unterschiede am besten erkennen und beschreiben, die eine Eigenschaft e für U bejahen und für V verneinen.83 Sie können insofern „binär“ genannt werden, als die fragliche Eigenschaft nur jeweils vorliegen oder nicht vorliegen kann. Das gilt beispielsweise für Eigenschaften wie „Wohnsitz im Gebiet der Gemeinde G“ oder „Antragstellung vor dem Stichtag t“. Dagegen kommen andere Unterschiede zunächst in Gestalt eines Mehr-oder-weniger in Bezug auf eine Messgröße g daher und verorten bei V gegeben ist und bei U nicht, lässt sich durch Übergang zur Eigenschaft ¬e (Nicht-e) unter dieselbe Formulierung bringen. (U, V, e) ist genau dann ein Unterschied, wenn auch (V, U, ¬e) einer ist. Vgl. auch Paasch/Siegwart, Begriff: III. analytisch, in: Kolmer/Wildfeuer (Hg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 1, 2011, S. 348 (359), die das Prädikat e als Unterschied ansprechen würden. 77 Bis hier Beispiele nach Kloepfer (Fn. 27), S. 61 (dort als Differenzierungskriterien rubriziert, dazu gleich Rn. 44 ff. (C. I. 2.)). 78 Vgl. Jarass (Fn. 17), Art. 3 Rn. 23; Kischel (Fn. 48), Art. 3 Rn. 67. 79 Zum Parallelproblem bei der Anknüpfung an Diskriminierungsmerkmale vgl. Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 93 f. 80 Eine Orientierung am gemeinsamen Sinn könnte dazu führen, die Tripel (U, V, e) zu Äquivalenzklassen zusammenzufügen (= je alle Tripel mit sinngleichem e) und den Begriff „Unterschied“ definitorisch auf diese zu beziehen. 81 Ausnahme: Eigenschaften, die selbst zeitindexiert sind („Antragstellung bis zum 1.6.“). Gegenausnahme: rechtlich geschaffene zeitindexierte Eigenschaften, da sie rückwirkend verlorengehen können („Eigentum am 1.6.“). 82 Der Umstand der Ungleichbehandlung als solcher (siehe Rn. 79 (C. II. 2. a))) wäre als Unterschied auch hierüber ausgeschlossen. 83 Oder umgekehrt – die Vorzeichen sind hier austauschbar, vgl. Fn. 76. Philipp Reimer
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die Vergleichsfälle insofern an verschiedenen Punkten einer Skala. Beispielsweise könnte der „Aufwand durch die fragliche Behandlung“ für U größer sein als für V, die „Leistungsfähigkeit“ von U höher als die von V oder auch die „Effektivität einer Maßnahme“ in Bezug auf U ausgeprägter als in Bezug auf V.84 Auch diese Fälle können allerdings in der binären Normalform abgebildet werden, indem man als Eigenschaft e entweder einen konkreten Skalenwert („Aufwand beträgt g(U)“) oder einen Skalenbereich („Aufwand ist mindestens g(U)“) betrachtet – diese Eigenschaft weist V dann nämlich jeweils nicht auf. Die binäre Normalform wird daher im Folgenden zugrunde gelegt. 2. Differenzierungskriterien als Unterschiede
Wenn die Ungleichbehandlung durch eine generelle Norm erfolgt, knüpft diese die Rechts- 44 folge an das Vorliegen eines gewissen Tatbestands. Wer den Tatbestand erfüllt, unterliegt der Rechtsfolge; wer nicht, nicht.85 Die notwendige Ungleichbehandlung jeder Person V, die mit der Rechtsfolge belegt wird, gegenüber einer Person U, die dies nicht wird,86 korrespondiert deshalb dem Unterschied, dass U den Tatbestand erfüllt und V nicht. Hierfür wird verbreitet der Begriff „Differenzierungskriterium“ gebraucht.87 Der Be- 45 griff insinuiert allerdings eine Zielgerichtetheit der Ungleichbehandlung, die außer bei generellen Regelungen angesichts der Tatbestandsbildung nicht stets unterstellt werden sollte: Die Verwaltung etwa mag durchaus den einen Fall anders als den anderen entscheiden, ohne dabei gezielt zu differenzieren.88 Von einem Differenzierungskriterium sollte deshalb nur mit Sorgfalt gesprochen werden; für die Rechtfertigungsfrage hat der Unterschied (zwischen den Vergleichsfällen) Vorrang vor der Ungleichbehandlungsmotivation (der Verpflichteten). Zwischen konkreten Vergleichsfällen U und V werden in aller Regel zahlreiche Unter- 46 schiede bestehen. Geht es aber um eine Ungleichbehandlung durch generelle Regelung, so wird zumindest der Fall, mit dem sich eine ungleichbehandelte Person vergleicht, abstrakt durch deren Tatbestand bestimmt und erscheint dann als „Vergleichsgruppe“, die V ver84 Hier steht insofern nur eine Aussage – die Ungleichung g(U) > g(V ) – statt zweier „und“-verknüpfter
Aussagen – e(U) ∧ ¬e(V ) – im Raum.
85 Diese Beschreibung unterstellt, dass die Rechtsfolge nicht auch noch durch eine andere Norm her-
beigeführt wird (z. B.: „§ 1. Evangelische schulden eine Steuer. § 2. Für andere gilt § 1 entsprechend.“). Freilich stellt sich hier nicht nur wieder die Frage nach der Normabgrenzung (vgl. bereits Fn. 6), sondern liegt trotz des materiell übereinstimmenden Ergebnisses möglicherweise in dem Umstand der separaten Regelung eine Ungleichbehandlung hinsichtlich des Regelungsstandorts, die bereits selbst als nachteilig gewertet werden könnte. 86 Heckel (Fn. 38), S. 24; siehe auch schon Stein, Lehrbuch des Staatsrechts, 1968, S. 204. – Auch hier können ohne Beschränkung der Allgemeinheit U und V vertauscht werden (durch Übergang zum kontradiktorischen Gegenteil wie oben Fn. 76). 87 Siehe etwa Kloepfer (Fn. 27), S. 61; Epiney (Fn. 27), S. 440; Wollenschläger (Fn. 69), Art. 3 Abs. 1 Rn. 122. Etwas weniger final sagt „Differenzierungsgrund“ Brüning (Fn. 54), S. 671. In der Analyse wie hier Kischel (Fn. 48), Art. 3 Rn. 34. 88 Das Postulat einer „Entscheidungsmaxime“ dürfte die Verwaltungsrealität strapazieren. Dafür aber Sachs (Fn. 1), S. 1510. Philipp Reimer
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tritt.89 Dabei wird es für gewöhnlich so sein, dass der Tatbestand aus mehreren Merkmalen t1, …, tn besteht. Während V per definitionem alle davon aufweist, kann es U – unterstellt: nicht von der Regelung erfasst – an jedem davon fehlen, so dass hier nicht nur ein „Differenzierungskriterium“ in Frage kommt,90 sondern n verschiedene.91 Beispiel: Gilt eine Regelung für katholische Volljährige, kann man sowohl wegen Jugendlichkeit als auch wegen Nichtkatholizität aus dem Tatbestand fallen. 47
Für die Rechtfertigung ist es erforderlich, aber auch genügend, dass irgendeiner der vorhandenen Unterschiede tragfähig ist. Beispiel: Gegenüber U1, 15, katholisch, mag die Altersdifferenz genügen; gegenüber U2, 40, muslimisch, die Konfessionsdifferenz verpöntes Merkmal nicht; gegenüber U3, 16, protestantisch, könnte ungeachtet der Konfessions- noch die Altersdifferenz zur Rechtfertigung genügen.
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Ein Unterschied muss aber, um für die Rechtfertigung in Frage zu kommen, nicht prinzipiell auch ein Tatbestandsmerkmal sein. Für Ungleichbehandlungen, die nicht durch generelle Regelung erfolgen, versteht sich dies ohnehin von selbst – mangels Tatbestands gäbe es hier schließlich gar keine Tatbestandsmerkmale, und sollte etwa die Verwaltung gar nicht gezielt differenziert haben, gäbe es auch kein Differenzierungskriterium. Doch sind auch bei genereller Regelung, wo V den abstrakten Fall des Tatbestands verkörpert, weitere Unterschiede als die bezüglich der Tatbestandsmerkmale t1, …, tn gegebenen vorstellbar: In Betracht kommt jede weitere Eigenschaft e, die man V aufgrund des Vorliegens von t1, …, tn zuschreiben kann. Die Crux liegt hier darin, dass es sich um einen zwingenden Zusammenhang handeln muss,92 ansonsten handelte es sich um eine Unterschiedsauswechslung93. Beispiel: Gilt eine Regelung für Volljährige und erfüllt V dieses Tatbestandsmerkmal, so weist V nach geltendem Recht grundsätzlich auch die weitere Eigenschaft der Geschäftsfähigkeit auf – es gibt aber wegen § 104 Nr. 2 BGB auch Fälle, in denen diese fehlt.94
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An Unterschiede jenseits des Differenzierungskriteriums ist überdies auf der Ebene des Regelungsvollzugs zu denken, wo angesichts der konkreten Fälle auch individuelle Unterschiede in den Blick geraten. Diese mögen eine Einzelfall-Ungleichbehandlung unter Umständen tragen, auch wenn das gesetzliche Differenzierungskriterium verworfen wird.95
89 Vgl. Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 56–58. 90 In diese Richtung liest man es aber häufig; siehe etwa Kloepfer (Fn. 27), S. 61: „das [!] gesetzliche Tat-
bestandsmerkmal, an dem eine Ungleichbehandlung ansetzt“.
91 Ebenso Stein, in: Denninger u. a. (Hrsg.), AK-GG, Bd. I, 3. Aufl. 2001, Art. 3 Abs. 1 Rn. 38; Stein
(Fn. 86), S. 204.
92 Das heißt: die Klasse der Personen mit den Eigenschaften t1, …, tn muss eine (unechte) Teilmenge der
Klasse der Personen mit der Eigenschaft e sein. 93 Siehe Rn. 84 ff. (C. II. 3.). 94 Insofern ist die Klasse der Volljährigen keine Teilmenge der Klasse der Geschäftsfähigen. 95 Vgl. Kempny, Mittelbare Rechtssatzverfassungsbeschwerde und unmittelbare Grundrechtsverletzung, Der Staat 53 (2014), S. 577 (624 f.). Philipp Reimer
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3. Typologie der Unterschiede
Die Vielfalt in Frage kommender Unterschiede ist nicht zu überschauen. An dieser Stelle 50 soll daher zunächst eine systematisierende Bresche geschlagen werden, woran dann im Rahmen der Unterschiedsbewertung angeschlossen werden kann. Die denkbaren Unterschiede unterscheiden sich voneinander nur in der Eigenschaft 51 e, die eine der verglichenen Personen aufweist und die andere nicht.96 Eine Unterschiedstypologie muss deshalb bei diesen Eigenschaften ansetzen und sich um deren Klassifikation bemühen. Um hierbei vollständig zu sein, wird im Folgenden eine Reihe je für sich abschließender, d. h. die Menge der Eigenschaften voll abdeckender Einteilungsmöglichkeiten vorgestellt; diese Reihe selbst kann hier jedoch keine Vollständigkeit erreichen.97 Jeder unterschiedskonstituierenden Eigenschaft lässt sich dann in jeder dieser Dimensionen eine Koordinate zuschreiben. a) Rechtliche/tatsächliche Eigenschaften
Die Eigenschaften kann man zunächst danach einteilen, ob sie von der Rechtsordnung ge- 52 schaffen wurden oder nicht – im letzteren Falle kann man von tatsächlichen Eigenschaften sprechen.98 aa) Rechtlich geschaffene Eigenschaften
Rechtlich geschaffene Eigenschaften lassen sich in Anlehnung an das Hohfeld-Schema als 53 Rechtspositionen beschreiben.99 Es kann sich um subjektive Rechte oder Pflichten handeln, die die Gleichbehandlungsverpflichteten vorfinden, abstrakter gesprochen um rechtliches Können (rechtliche Handlungsmöglichkeiten/Fähigkeiten) und rechtliches Dürfen (Kreis des nicht verbotenen Verhaltens).100 Zu den rechtlich geschaffenen Eigenschaften gehört aber auch das Einer-Rechtsmacht-Ausgesetztsein („liability“), praktisch vor allem: die unterschiedliche Zuständigkeitsbetroffenheit (V unterliegt der Zuständigkeit der ungleichbehandelnden Stelle, nicht aber U).101 Das betrifft Behördenzuständigkeit und Landesgesetzgebungskompetenz102 ebenso wie die Abgrenzung zu Auslandsfällen, lässt sich aber auch ins Privatrecht übertragen (V ist bei A eben angestellt und U nicht). Hinzuzu96 Im Tripel (U, V, e) – vgl. Fn. 76 – können auch die beiden ersten, personenbezogenen Stellen anders
besetzt werden; doch ist hier zumindest so lange keine Variation möglich, als an den gewählten Vergleichspersonen (U, V ) festgehalten werden soll. 97 Eine Erweiterung könnte etwa versuchen, die Einteilung intern/extern nach Huster (Fn. 28), besonders S. 165 f., 175, statt auf die problematischen Zwecke (siehe Rn. 122 ff. (C. III.)) eher auf Unterschiede zu beziehen und es als interne Eigenschaft ansehen, „mehr Schuld auf sich geladen“ zu haben, als externe dagegen, eine Straftat begangen zu haben, die „‚in Mode‘ zu kommen droht“ (Zitate: 165 f.). 98 Vgl. auch Kirchhof (Fn. 74), Rn. 197 zu „vorgefundenen tatsächlichen und rechtlichen Strukturen“. 99 Hohfeld, Some Fundamental Legal Concepts as Applied in Judicial Reasoning, Yale Law Journal 23 (1913), S. 16 (besonders 30); vgl. auch Reimer (Fn. 6), § 6. 100 Zum Begriffspaar Reimer, Können und Dürfen, Rechtstheorie 48 (2017), S. 417. 101 Vgl. Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 120 f. 102 Vgl. Kempny, Rechtfertigungslast für unterschiedliche (Versammlungs-)Gesetze der Länder?, NVwZ 2014, S. 191. Philipp Reimer
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setzen ist der rechtliche Status, an den sich erst mittelbar Rechte oder Pflichten knüpfen (V hat die deutsche Staatsangehörigkeit, hat Eigentum, ist verheiratet, gilt personenstandsrechtlich als Frau103). Nicht nur vorfindlich, sondern sogar unveränderlich sind solche rechtlichen Eigenschaften für die Gleichbehandlungsverpflichteten, wenn sie von höheren Normsetzungsebenen104 oder von fremden Rechtsordnungen105 herrühren. 54 Wo die Rechtfertigung über andere Normen begründet wird106, kann dies auch differenzlogisch als ein rechtlich geschaffener Unterschied rekonstruiert werden: nur U, nicht aber V, wird von der anderen Norm mit einer Rechtsfolge belegt; die Tragfähigkeit dieses Unterschieds wird dabei gewissermaßen „mitgeliefert“. Umgekehrt lässt sich die den Zuständigkeitsunterschied konstituierende Norm zugleich als Differenzierungserlaubnis verstehen. bb) Tatsächliche Eigenschaften 55 Bei den tatsächlichen Eigenschaften geht es um Körper-, Zeit- und Raumbezüge, aber auch
um Chancen107 und Bedürfnisse körperlicher108 wie seelischer109 Art. 56 Die körperliche Eigenschaft ist im Ausgangspunkt wohl der einfachste Fall, weil den Betroffenen unmittelbar anhaftend (etwa: Körpergröße, Leistungsfähigkeit, Klangbild der Stimme110). Allerdings wird hier häufig der durchaus problematische Versuch einer Unterschiedsauswechslung begegnen (etwa: Schluss vom Geschlecht auf solche körperlichen Eigenschaften111). 57 Eine besondere Rolle spielt hier der Zeitbezug. Dass die Gleichbehandlungsverpflichteten sich zur Fixierung eines Stichtags entschließen (in einer generellen Regelung oder bei Änderung der Verwaltungs- oder Unternehmensübung112), betrifft den Tatbestand der Ungleichbehandlung; eine Rechtfertigung wird hier meistens, aber auch höchstens über 103 Zur Verschiedenheit von personenstandsrechtlichen und tatsächlichen Geschlechtsaspekten Völz-
mann, Postgender im Recht?, JZ 2019, S. 381.
104 Gegenüber der (Bundes-)Gesetzgebung ist das nur Verfassungs- und Unionsrecht, gegenüber gesetz-
unterworfenen Behörden und Privaten dagegen jede gesetzliche Regelung, etwa der frühere § 64a BBergG (BGBl. 1994 I, S. 1170 (1178)). 105 Beispiele aus dem Arbeitsrecht: Nichtmuslime dürften nach saudischem Recht Mekka und Jeddah nicht aufsuchen, Nichtjuden könnten nach jüdischem religiösem Recht Speisen nicht koscher zubereiten; vgl. Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, 2. Aufl. 2013, Rn. 343; Hwang, Die Rechtfertigung von Benachteiligungen nach § 8 AGG, 2014, S. 54. – Aus rechtstheoretischer Sicht wären solche Eigenschaften unter Umständen als tatsächliche einzuordnen, weil und soweit zur Befolgung solcher Regeln nicht auch eine Pflicht aus der eigenen Rechtsordnung besteht. 106 Siehe Rn. 18 ff. (B.). 107 Etwa in BVerfGE 17, 38 (56 f.) – BVG-Witwerrente (1963): „Chance, eine Unterhaltseinbuße durch eigene, zumutbare Erwerbstätigkeit wettzumachen“. 108 Etwa in BVerfGE 17, 1 (17) – RVO-Witwerrente (1963): „Bedarf nach Ersatz der Unterhaltsleistungen“. 109 Etwa Schamgefühl in Bezug auf Begegnungen mit einem anderen Geschlecht, vgl. Völzmann (Fn. 103), S. 385 f.; Richter (Fn. 39), Rn. 63. 110 So im Falle des VG Berlin, Urt. v. 16.8.2019, 3 K 113.19. 111 Dazu Rn. 84 ff. (C. II. 3.). 112 Hierzu – anhand von Art. 102 UAbs. 2 lit. c AEUV – Grünberger (Fn. 41), S. 422: Unterschied Bestands- und Neukunden bei einer Preisanpassung. Philipp Reimer
C. Rechtfertigung über tragfähige Unterschiede
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die unterschiedliche zeitliche Position der Fälle von U und V im Verhältnis zu dem Stichtag gelingen. Auch Raumbezüge (Wohnorte, Aufenthaltsorte) kann man als tatsächliche Eigenschaft 58 betrachten, die dann neben die rechtliche Eigenschaft einer daran etwa anknüpfenden örtlichen Zuständigkeitsbetroffenheit113 tritt. Bei dieser Betrachtungsweise würde die zuständigkeitsbegründende Norm zugleich die Tragfähigkeit des räumlichen Unterschieds begründen. b) Verfügbare/unverfügbare Eigenschaften
Die Eigenschaften kann man sodann auch danach einteilen, ob sie für die verglichenen Per- 59 sonen verfügbar sind, also von ihnen beeinflusst werden können.114 Feiner differenzieren lässt sich dabei beispielsweise nach Eigenschaften des aktuellen Verhaltens („übt den Beruf b aus“, „wohnt in Gemeinde g“), des vergangenen Verhaltens („hat Beiträge zur deutschen Sozialversicherung geleistet“115), des künftig zu erwartenden Verhaltens („wird dauerhaft in Deutschland bleiben“116) oder des Zustands nach einem vergangenen oder künftig möglichen Verhalten („verfügt über die Allgemeine Hochschulreife“, „ist vorbestraft“). Wo die betroffene Person prinzipiell „ausweichen kann“, gilt die Ungleichbehandlung 60 meist als leichter zu rechtfertigen.117 Es handelt sich hier aber bereits um eine materiale Einteilung, die oft noch davon abhängig gemacht wird, ob das Ausweichen nicht nur theoretisch möglich, sondern auch „zumutbar“ ist118 – der Wechsel von Beruf oder Wohnsitz ist eben doch eine größere Sache, ebenso das Ablegen eines Kopftuchs, das aus religiösen Gründen getragen wird.119 Auf der anderen Seite stehen die unverfügbaren Eigenschaften als (nicht notwendig 61 unveränderliche120) Merkmale der Person, worauf diese keinen Einfluss hat. Unverfügbarkeit ist kennzeichnend für die Merkmalskataloge von Art. 3 Abs. 3 GG, § 1 AGG usf., die Kategorie erschöpft sich aber nicht darin.121 Hier geht es strukturell immer um die von außen erfolgende Zuschreibung, die die betroffene Person in der Sache nicht beeinflussen kann (sondern höchstens durch Vorspiegelung falscher Anknüpfungstatsachen unterlaufen, etwa: sich als älter, andersgeschlechtlich oder sexuell anders orientiert aus113 Siehe Rn. 53 (C. I. 3. a) aa)). 114 Daran knüpft die Verfassungsrechtsprechung ihre Rechtfertigungsanforderungen, siehe BVerfGE 55,
72 (89) – Präklusion I (1980); BVerfGE 88, 87 (96) – Transsexuellengesetz II (1993); BVerfGE 126, 400 (418) – ErbStG/Lebenspartnerschaft (2010). 115 So im Falle von BVerfG, Beschl. v. 4.4.1989, 1 BvR 262/88, juris-Rn. 4 (zum FRG). 116 Vgl. BVerfGE 132, 72 (83) – Ausländer-Elterngeld (2012). In diesem Fall war mit der Arbeitsmarktintegration allerdings kein geeignetes Surrogatmerkmal (siehe Rn. 84 ff. (C. II. 3.)) dafür gefunden. 117 Pöschl (Fn. 8), S. 528 f. (Zitat: 528); mit dem Hinweis, dass auch in diesen Fällen nicht stets die Rechtfertigung gelinge (ebd., S. 530). 118 Pöschl (Fn. 8), S. 528. 119 Vgl. Mangold/Payandeh, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit im Unionsrecht, EuR 2017, S. 700 (710 f.) m. w. N. 120 Darauf stellt im Rahmen der neuen Formel Jarass (Fn. 37), S. 2549, ab. 121 Das gilt nicht zuletzt dort, wo auch ein Merkmal „sonstiger Status“ konkretisiert werden muss, vgl. Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 85–88. Philipp Reimer
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
geben). An dieser Einseitigkeit ändert sich nichts dadurch, dass die Zuschreibung in einem (paternalistisch-)freundlichen oder unfreundlichen Sinne geschehen kann – etwa durch Kennzeichnung von V im Vergleich zu U als besonders gefährdet122 oder als besonders gefährlich. 62 Unverfügbar sind auch Haltungen und Reaktionen Dritter. Selbst wenn hierin insofern höhere Rationalität auf Seiten der Verpflichteten liegen mag, als diese ihre Zuschreibung an empirische Beobachtungen statt an eigene Wertungen knüpfen, liegt im Abstellen auf solche drittbezogenen Unterschiede eine Gefahr, Diskriminierungen durch die Hintertür gleichheitsrechtlich nicht gebundener Dritter wieder zuzulassen.123 Gleichwohl werden sie zumindest im Kontext des § 9 Abs. 1 AGG („berufliche Anforderungen“) unter den Schlagworten „Authentizität“ und „Kundenerwartungen“ grundsätzlich anerkannt.124 Umgekehrt wird von Geschlecht oder Rasse auch auf erwartbare Übergriffe Dritter geschlossen, was einen bevorzugenden Schutz vor Art. 3 Abs. 2, 3 GG rechtfertigen können soll.125 63 Unverfügbar sind schließlich auch gruppenhistorische Eigenschaften: die Person wird einer Gruppe zugeordnet, die eine bestimmte (namentlich Diskriminierungs-)Geschichte aufweist. Hier werden dann nicht Eigenschaften der Gruppenmitglieder unterstellt,126 sondern eine Eigenschaft der Gruppe selbst zur Rechtfertigung dafür herangezogen, deren Mitglieder ungleich zu behandeln.127 c) Die Behandlung irrelevant machende Eigenschaften 64
Eine bekannte Argumentationsfigur zu Gleichbehandlungsfragen, die sich ebenfalls als eine Klasse von Eigenschaften hier einordnen lässt und die im Rechtfertigungsdiskurs gelegentlich aufgenommen wird, ist die Behauptung, die V zuteilgewordene Behandlung komme für U „ohnehin nicht“ in Frage – und zwar nicht, weil eine Ebensobehandlung für die Gleichbehandlungsverpflichteten unmöglich wäre,128 sondern weil sie für U faktisch nichts ausrichten würde. U fehlt es an einer Eigenschaft, die die fragliche Behandlung als relevant erscheinen ließe. 122 Vgl. Völzmann (Fn. 103), S. 386 („Angehörige vulnerabler Gruppen“, „(sexuelle) Schutzbedürftig-
keit“), aber auch BVerfGE 85, 191 (209) – Nachtarbeitsverbot (1992) zu dem Argument, „daß Frauen auf ihrem nächtlichen Weg (…) besonderen Gefahren ausgesetzt seien“. 123 Vgl. Grünberger (Fn. 41), S. 693–695; Thüsing (Fn. 105), Rn. 331; zu Art. 3 Abs. 3 GG (auch wenn bei staatlichen Stellen dergleichen wohl ferner liegt) Baer/Markard (Fn. 61), Art. 3 Abs. 3 Rn. 436. 124 Vgl. Thüsing (Fn. 105), Rn. 324, 326–332; Block, Geschlechtergleichheit im Sport, 2014, S. 285–289 m. w. N. Grundsätzlich skeptisch zu den „Kundenerwartungen“ Hwang (Fn. 105), S. 59–113; offener (mit eigenem „Prüfungsraster“) Buhk, „Kundenpräferenzen“ als Rechtfertigungsgrund, 2016, S. 350–604. 125 Rüfner (Fn. 17), Art. 3 Rn. 588 f. 126 Was ein Fall der Unterschiedsauswechslung (Typisierung) wäre, dazu Rn. 84 ff. (C. II. 3.). 127 Vgl. zu Art. 3 Abs. 3 GG und der Verfolgungsgeschichte der jüdischen Religionsgemeinschaften Schrooten (Fn. 16), S. 268; zu Kompensationsüberlegungen zugunsten von Frauen angesichts historischer Diskriminierungen vgl. Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 124 f. m. N. 128 Dieser Fall kann dogmatisch mindestens ebenso befriedigend als Thema des gleichheitsrechtlichen Anspruchsinhalts eingeordnet werden, vgl. Reimer, „Keine Gleichheit im Unrecht“, RW 2017, S. 1 (besonders 9–16). Philipp Reimer
C. Rechtfertigung über tragfähige Unterschiede
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Zu denken ist beispielsweise an gesetzliche Ansprüche auf geschlechtsbezogene Ge- 65 sundheitsleistungen.129 Der Gesetzgebung wäre es ohne Weiteres möglich, Ansprüche auf geburtshilfliche Dienste ohne Differenzierung nach dem Geschlecht zuzusprechen;130 die nicht gebärfähigen Männer wären dann dem Grunde nach anspruchsberechtigt, aber hätten faktisch nichts davon, da „der zu ordnende Lebenstatbestand überhaupt nur in einem Geschlecht verwirklicht werden kann“;131 dann dürfte – folgt man dieser Tendenz – die Gesetzgebung Männer auch gleich ausschließen. Dieses Beispiel zeigt zugleich das Problem dieses Rechtfertigungsansatzes: Der Ausschluss bleibt im typischen Fall ohne Auswirkung, ist insoweit also überflüssig; sollte sich aber doch einmal ein gebärfähiger Mann finden, fällt das Argument weg, die Behandlung betreffe ihn ohnehin nicht, und wird die Rechtfertigung dementsprechend fragwürdig. Überdies handelt sich in diesen Fällen oftmals um nur „typische“ Merkmale, deren 66 Rechtfertigungseignung generell problematisch ist132. Die Annahme, eine Gruppe sei „ohnehin“ niemals betroffen, birgt die Gefahr, Unterstellung zu sein und abweichende Einzelfälle zu überdecken. Derlei Annahmen setzen insbesondere an zwei Stellen an: (1) Zunächst kann es eine körperliche Eigenschaft sein, bei deren Fehlen die Behand- 67 lung keinen Sinn hat. Diesen Topos gebraucht in Bezug auf geschlechtsbezogene Regelungen die Verfassungsrechtsprechung zu Art. 3 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Merkmal 1 GG, indem sie von „Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können“ spricht133 (soweit nicht bereits mit demselben Argument eine frühere Prüfungsstufe abgebrochen wurde134); Parallelen gibt es bei § 8 Abs. 1 AGG.135 Entsprechend wurde 1957 auch das Verbot homosexueller Betätigung von Männern vor Art. 3 Abs. 2 GG gerechtfertigt: Es beziehe sich nur auf diejenigen „körperlichen Begehungsformen“, die bei Frauen anatomisch nicht vorkommen könnten und für die allein 129 Die Formulierung ist bewusst eng gehalten. Zu weit geht der Ausschluss des „gesamten Gebiet[s] des
Mutterschutzes“ in BVerfGE 6, 389 (423) – § 175 StGB (1957); ähnlich Heckel (Fn. 38), S. 79 („schwangerschaftsbedingte Vergünstigungen“); vgl. zu entsprechenden Problemen des Mutterschutzrechts Sinder, Von der Unmöglichkeit der Mutter, homo faber zu sein, JZ 2017, S. 975 (besonders 978 f.). Dass § 1 MuSchG den Anwendungsbereich des Mutterschutzes auf „Frauen“ beschränkt und nicht auf „Mütter“ jedweden Geschlechts abstellt, erscheint fragwürdig – ohne Not schließt sie vormalige Frauen aus, deren Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht nach § 10 TSG rechtskräftig festgestellt wurde (die nach § 8 Abs. 1 Nr. 3 TSG geforderte Prognose ist seit BVerfGE 128, 109 – Lebenspartnerschaft Transsexueller (2011) unanwendbar, auch zuvor hätte sie sich aber nachträglich als unzutreffend erweisen können). 130 Beispiel nach Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 131. 131 BVerfGE 6, 389 (423) – § 175 StGB (1957). 132 Vgl. noch Rn. 84 ff. (C. II. 3.). 133 BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeitsverbot (1992); entsprechend formulieren BVerfGE 92, 91 (109) – Feuerwehrabgabe II (1995); BVerfGE 114, 357 (364) – Ausländerkinder (2005); BVerfGE 132, 72 (97 f.) – Ausländer-Elterngeld (2012). Siehe zur Schwangerschaft auch bereits BVerfGE 56, 363 – Sorge für nichteheliche Kinder (1981). 134 Namentlich, soweit jeweils angenommen, die Nachteiligkeit (weil die ausgeschlossene Gruppe ja keinen zusätzlichen Ausschluss erfährt) oder die Vergleichbarkeit (weil die ausgeschlossene Gruppe sich von der betroffenen wesentlich unterscheide, vgl. Rn. 12 ff. (A. II.)). Beides verneint BVerfGE 6, 389 (423) – § 175 StGB (1957); ähnlich BVerfGE 10, 59 (74) – Stichentscheid (1959). 135 Thüsing (Fn. 105), Rn. 324: „Fälle biologischer Notwendigkeit, für die beispielhaft die Amme steht“. Philipp Reimer
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
die (heute gewiss nicht mehr überzeugende) soziale Gefährlichkeitsbewertung getroffen wurde.136 68 Bis heute werden auf entsprechende Weise behinderungsbezogene Regelungen vor Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gerechtfertigt: Rechte sollen ausgeschlossen werden dürfen, wenn „einer Person gerade aufgrund ihrer Behinderung bestimmte geistige oder körperliche Fähigkeiten, die unerläßliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind“, fehlen.137 Bei anderen Anknüpfungsmerkmalen liegt eine entsprechende Rechtfertigung aber fern.138 69 (2) Sodann soll aber auch das Fehlen einer verhaltensbezogenen Eigenschaft die Behandlung irrelevant machen: wenn U die fragliche Tätigkeit zwar körperlich und geistig ausüben könnte, tatsächlich aber gar nicht ausübt, dann ist U auch von einer darauf bezogenen Begünstigung oder Belastung nicht betroffen. Diese Argumentform wurde in Bezug auf geschlechtsbezogene Regelungen für die sogenannten „funktionalen (arbeitsteiligen) Unterschiede“ verwendet:139 Eine Regelung dessen, was ohnehin nur entweder bei Frauen oder bei Männern vorkommt, könnte man zwar geschlechtsneutral fassen, das würde aber tatsächlich nichts ausrichten, weil die je andere Gruppe faktisch nie davon betroffen wäre.140 Noch heute steht das Argument des Nichtbetreffens im Raum beim Verbot exhibitionistischer Handlungen nach § 183 StGB, das ausdrücklich nur an Männer adressiert ist,141 und beim Verbot bestimmten Schmucks ausdrücklich nur gegenüber Männern.142 Es liegt auf der Hand, dass dies spätestens dann fragwürdig wird, wenn Personen sich tatsächlich abweichend verhalten – abgesehen davon, dass zumindest im Falle eines Verbots 136 BVerfGE 6, 389 (424) – § 175 StGB (1957); dazu auch Sachs (Fn. 14), S. 354, 378 f. 137 BVerfGE 99, 341 (357) – Stummentestament (1999); dem folgend BVerfGE 151, 1 (25 f.) – Betreu-
tenwahlrecht (2019), wonach für die Tragfähigkeit des Fähigkeitsunterschieds noch eine Kompensation „durch geeignete Assistenzsysteme“ ausgeschlossen werden muss; ähnlich Uerpmann-Wittzack (Fn. 47), Rn. 42. 138 Sachs (Fn. 15), S. 1760 f. 139 BVerfGE 3, 225 (242) – Gleichberechtigung (1953); BVerfGE 5, 9 (12) – Frauenarbeitszeit (1956); BVerfGE 6, 389 (422) – § 175 StGB (1957); BVerfGE 10, 59 (74) – Stichentscheid (1959); BVerfGE 15, 337 (343) – Höfeordnung (1963); BVerfGE 21, 329 (343) – Witwergeld (1967); BVerfGE 31, 1 (4) – Beitragserstattung an Witwer (1971); BVerfGE 63, 181 (194) – Güterrechtsstatut (1983). Offenlassend, „inwieweit funktionale (arbeitsteilige) Unterschiede noch herangezogen werden können“, BVerfGE 84, 9 (18) – Mannesname (1991); verneinend die heute wohl herrschende Meinung, siehe Langenfeld, in: Dürig/Herzog/ Scholz (Hrsg.), GG, Stand: Mai 2015, Art. 3 Abs. 2 Rn. 84; Nußberger (Fn. 29), Art. 3 Rn. 273; Sacksofsky (Fn. 48), Art. 3 II, III 1 Rn. 347. 140 Vgl. BVerfGE 3, 225 (242) – Gleichberechtigung (1953); siehe auch BVerfGE 10, 59 (75) – Stichentscheid (1959), wonach das BGB (nur) „anerkennt [!], daß die Ehefrau ihre Verpflichtung, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen, in der Regel durch die Führung des Haushalts erfüllt, während der Ehemann seiner Verpflichtung durch Erwerbstätigkeit nachkommt“. 141 So Hörnle, in: MüKo StGB, Bd. 3, 4. Aufl. 2021, § 183 Rn. 5: es betreffe Frauen „praktisch nicht“. Gebilligt von BVerfG, Beschl. v. 22.3.1999, 2 BvR 398/99; kritisch dagegen Wolters, Der kleine Unterschied und seine strafrechtlichen Folgen, GA 2014, S. 556 (562); Rüfner (Fn. 17), Art. 3 Rn. 671. 142 Wie in BVerfG, Beschl. v. 10.1.1991, 2 BvR 550/90, Rn. 8 für Ohrstecker bei einem uniformierten Zollbeamten; die Kammer argumentiert nur mit der „‚vergleichsweisen Unbeträchtlichkeit‘“, was nicht überzeugt, vgl. m. N. Reimer (Fn. 39), Rn. 31. Von einem Verbot gegenüber männlichen Busfahrern, Röcke zu tragen, berichtet Rüfner (Fn. 17), Art. 3 Rn. 584 Fn. 86. Philipp Reimer
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eine Belastung auch dann kaum zu verneinen ist, wenn die Adressierten gar nicht anders handeln wollten. d) Probabilistische Eigenschaften
Schließlich könnte man noch probabilistische Eigenschaften, die sich in einem bloßen Wahrscheinlichkeitsurteil erschöpfen, von definitiven Eigenschaften unterscheiden. Wenn bezüglich U wahrscheinlich ist (probabilistische Eigenschaft e),143 dass U etwa eine Straftat begangen hat, dies bezüglich V aber nicht gilt, dann ist dies zum einen etwas anderes als die wirkliche Strafbarkeit der beiden (definitive Eigenschaft f ) und liegt es zum anderen nahe, den Wahrscheinlichkeitsunterschied in Bezug auf einen Informationseingriff nur gegenüber U (womit e in ein sicheres f oder Nicht-f überführt werden soll) als tragfähig zu bewerten. Eine solche Argumentationsweise liegt allgemein nahe, wenn aus einem bisher nur teilweise bekannten Sachverhalt eine Prognose gestellt werden soll – insbesondere im Gefahrenabwehrrecht.144 Auch Maßnahmen einer Ziel-, Raster- oder Schleierfahndung werden sich nur gegen solche Personen richten, bei denen man eine gewisse Wahrscheinlichkeit eines Treffers annimmt. Die Rede von probabilistischen Eigenschaften ist freilich aus epistemologischen Gründen problematisch. Wurde hier bisher auf „objektive“ Unterschiede und Eigenschaften abgehoben145, kommt beim Wahrscheinlichkeitsurteil immer ein relevanter Wissensstandpunkt ins Spiel. Das könnte dafür sprechen, probabilistische Eigenschaften nicht selbst zum Bezugspunkt gleichheitsrechtlicher Unterschiede zu machen. Als eine „objektiver“ ansetzende Deutungsalternative drängt es sich dann auf, von den Indiztatsachen auszugehen, die das unterschiedliche Wahrscheinlichkeitsurteil auslösen – z. B. ein Kleidungsstück, ein Wohnort, ein auffälliges Verhalten146 –, und das Wahrscheinlichkeitsurteil erst in die Tragfähigkeitsbewertung einzubeziehen. Dass eine Indiztatsache nur bezüglich U gegeben ist, U also die (definitive) Indizeigenschaft aufweist und V nicht, begründet dann einen Unterschied, der ohne die genannten Erkenntnisschwierigkeiten feststellbar ist. Zwischen diesen zunächst rein technisch erscheinenden Deutungen kommt es zum Schwur, wenn die Indizeigenschaft zugleich Anknüpfungsmerkmal eines Diskriminierungsverbots ist – z. B. eine Geschlechts- oder Rassenzuschreibung – und dementsprechend grundsätzlich keinen tragfähigen Unterschied begründen kann147, die Wahrscheinlichkeitseigenschaft – z. B. ein bestimmtes Delikt begangen zu haben – dagegen sehr wohl. Wer ein (gender oder racial) profiling nach derartigen Merkmalen zulassen will, muss insofern entweder ausnahmsweise das Anknüpfungsmerkmal selbst oder aber den Unterschied 143 Genauer: ein gewisses Maß der Wahrscheinlichkeit dafür besteht. 144 Zu Typisierungspraxen etwa Rusteberg, Wissensgenerierung in der personenbezogenen Prävention,
in: Münkler (Hrsg.), Dimensionen des Wissens im Recht, 2019, S. 233 (252–254).
145 Siehe Rn. 38 (C. I.). 146 Praxisnahe Beispiele für Merkmale, die unerlaubte Einreise wahrscheinlich machen, bei Wagner, Al-
legorie des „racial profiling“, DÖV 2013, S. 113 (116).
147 Siehe Rn. 80 ff. (C. II. 2. b)).
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bezüglich einer nur probabilistischen Eigenschaft als tragfähig bewerten. Das betrifft sowohl eine Zielfahndung, die (wegen Augenzeugnissen oder auch DNA-Spuren148) nur Personen von bestimmtem Geschlecht oder bestimmter Haut- oder Haarfarbe betrachtete, als auch eine Schleierfahndung, die sich auf eine den Rassebegriff erfüllende Menschengruppe beschränkte149 und dies mit einer polizeilichen Erfahrung begründete, dass diese überproportional häufig keine deutschen Staatsangehörigen seien und damit in den Täterkreis der Aufenthaltsdelikte fielen.150 II. Bewertung des Unterschieds als tragfähig 74 Die zentrale Frage bei der Auslegung von Gleichheitssätzen im Hinblick auf ihr Tat-
bestandsmerkmal „Rechtfertigung“ ist sodann die Bewertung der zwischen den Vergleichsfällen auffindbaren (oben I) oder typisierend angenommenen (unten 3) Unterschiede. Gefragt wird dabei, ob zumindest einer davon aus Sicht des angewandten Gleichheitssatzes als „tragfähig“ im Hinblick auf die gegebene Ungleichbehandlung der konkreten Vergleichsfälle erscheint.151 Während die Unterschiede, als prinzipiell Vorfindliches, ohne Schwierigkeiten aus der Sicht einer generischen Dogmatik abstrakt betrachtet werden konnten, kommen bei ihrer Bewertung deutlich stärker die Entscheidungen des positiven Rechts zum Tragen, das mal mehr und mal weniger an Ungleichbehandlungen zulassen will. Dieses „Wertungsproblem“152 kann ihm die rechtswissenschaftliche Untersuchung nicht abnehmen, sie kann auch hier nur versuchen, typische Regelungszusammenhänge herauszuarbeiten und die positivierten Ausprägungen systematisch einzuordnen. 1. Gespaltene Bewertungsmaßstäbe
75 Bevor mögliche Bewertungen im Einzelnen betrachtet werden, sei vorab herausgestellt,
dass innerhalb desselben Gleichheitssatzes verschiedene Bewertungsmaßstäbe vorkom-
148 Vgl. § 81e Abs. 2 Satz 2 StPO i. d. F. d. Art. 1 Nr. 7 Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v.
10.12.2019 (BGBl. 2019 I, 2121).
149 Ob für die problematische Anknüpfung bereits das Abstellen auf Hautfarben genügt, bedarf in beiden
Fällen allerdings der näheren Betrachtung. Vgl. Reimer (Fn. 47), Rn. 48.
150 Das halten in Bezug auf Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG für unter Umständen zulässig OVG Münster, Urt. v.
7.8.2018, 5 A 294/16, Rn, 42 ff.; Kischel (Fn. 48), Art. 3 Rn. 223a–223 f.; kritisch dagegen Tischbirek/Wihl, Verfassungswidrigkeit des „Racial Profiling“, JZ 2013, S. 219; auch Drohla, Hautfarbe als Auswahlkriterium für verdachtsunabhängige Polizeikontrollen?, ZAR 2012, S. 411, die aber die Unterscheidung zwischen plausiblem Wahrscheinlichkeitsurteil und problematischer Bewertung betont (414). 151 Diesen Begriff verwendet auch die Verfassungsrechtsprechung, etwa in BVerf GE 138, 136 (184 f.) – Erbschaftsteuer (2014); BVerfGE 138, 296 (348 ff.) – Kopftuch II (2015); BVerfGE 147, 1 (30) – Geschlechtseintrag (2017). Von einer „Entsprechensprüfung“ bezüglich Unterschieden und Ungleichbehandlung spricht Sachs (Fn. 69), S. 129; ähnlich Huster, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, Stand: Juni 2016, Art. 3 Rn. 87 f.; von einer „kontextabhängigen Wesentlichkeit der Unterschiede“ Wollenschläger (Fn. 69), Art. 3 Abs. 1 Rn. 124; von einer Prüfung, „[o]b die Rechtfertigungskraft der Gründe ausreicht“, Albers (Fn. 29), S. 948. 152 So zu den Gleichheitsgrundrechten Alexy (Fn. 21), S. 370. Zu § 20 AGG entsprechend RegE AGG v. 8.6.2006, BT-Drs. 16/1780, S. 43: „Die Feststellung eines sachlichen Grundes bedarf einer wertenden Feststellung im Einzelfall nach den Grundsätzen von Treu und Glauben“. Philipp Reimer
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men können. Musterbeispiel dafür ist Art. 3 Abs. 1 GG in dem Verständnis, dass Ungleichbehandlungen der einen Art nicht verboten seien, sofern sich ein irgendwie sachlicher Grund findet, andere Ungleichbehandlungen dagegen nur unter strengeren Voraussetzungen153. Hier kann man von einem Gleichheitssatz mit gespaltenem Bewertungsmaßstab sprechen oder aber – konstruktiv gleichwertig – von mehreren Gleichheitssätzen mit distinkten Anwendungsbereichen und jeweils einheitlichem Bewertungsmaßstab, die nur in derselben Gesetzesbestimmung enthalten sind. Positivrechtlich lässt sich für das Phänomen eine Reihe weiterer Beispiele geben: 76 – Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG, soweit man hierunter auch mittelbare Diskriminierungen fasst154 und hierfür eine Rechtfertigung nicht erst durch zwingende, sondern bereits durch sachliche Gründe genügen lässt155; – Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, soweit man für verschiedene Anknüpfungsmerkmale verschiedene Rechtfertigungsanforderungen stellen will;156 – § 7 Abs. 1 AGG, da das Gesetz für unmittelbare (§§ 8 bis 10 AGG) und mittelbare Benachteiligungen (§ 3 Abs. 2 AGG) verschiedene Rechtfertigungsanforderungen stellt; – die unionalen Grundfreiheiten, soweit die Cassis-Rechtsprechung nur für mittelbare Benachteiligungen eine „duale Rechtfertigungsprüfung“ vorsieht.157 Die folgenden Strukturüberlegungen zu Unterschiedsausschlüssen und Unterschiedsaus- 77 wechslung beziehen sich jeweils auf einen Bewertungsmaßstab, der bei Wahl der ersten Konstruktion gegebenenfalls nur einer von mehreren desselben Gleichheitssatzes ist. 2. Generelle Unterschiedsausschlüsse
Nicht alle irgendwie bestehenden Unterschiede eignen sich für eine Rechtfertigung. Noch 78 im Vorfeld näherer Befassung mit der Unterschiedsbewertung lassen sich einige bereits a limine als ungeeignet aussondern. Erinnert sei gleichwohl daran, dass es sich hier um Deutungsangebote einer generischen Dogmatik handelt und von der Gesetzgebung ein Gleichheitssatz trotz allem einmal so ausgestaltet sein könnte. a) Unterschied der Behandlung selbst
Nahe liegt jedenfalls zunächst, dass der Umstand der Ungleichbehandlung als solcher – 79 die selbst den Unterschied begründet, U werde so behandelt und V anders – zur Rechtfertigung nicht in Frage kommen sollte. Die gegenteilige Annahme würde die Gleichbehandlungsverpflichteten, in deren Hand die Schaffung dieses Unterschieds ja liegt, dazu befähigen, sich von dem Gleichheitssatz selbst zu dispensieren. Verlangt man einen Unter153 Vgl. Rn. 109 ff. (C. II. 4. a) cc)). 154 Nach wie vor spricht viel dafür, das anders zu sehen, vgl. m. N. Reimer (Fn. 39), Rn. 39–43; Vrhovac,
Mittelbare Diskriminierung, 2021.
155 Siehe Rn. 103 (C. II. 4. a) aa)). 156 Vgl. Boysen (Fn. 34), Art. 3 Rn. 132; Sachs (Fn. 15), S. 1762. 157 Dazu kritisch etwa Kingreen (Fn. 3), Art. 36 AEUV Rn. 86 f. m. N.
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
schied, der bereits zur Zeit der Ungleichbehandlung vorliegt158, scheidet die Behandlung konsequenterweise aus. b) Unterschied des Anknüpfungsmerkmals 80 Nahe liegt ebenfalls, dass im Falle der anknüpfungsabhängigen Gleichheitssätze (Diskri-
minierungsverbote) der Unterschied in der Verwirklichung bzw. Nichtverwirklichung des Anknüpfungsmerkmals – sei es in der Vorstellung der Gleichbehandlungsverpflichteten159 oder gegebenenfalls tatsächlich160 – als solcher nicht zur Rechtfertigung taugt.161 Dieser Unterschied könnte prinzipiell bei der Rechtfertigungsfrage herangezogen werden, doch wird man die anknüpfungsabhängigen Gleichheitssätze wohl grundsätzlich so verstehen müssen, dass gerade dieser Unterschied als solcher eben nicht in Betracht gezogen werden soll:162 Wenn schon nicht daran angeknüpft werden darf, darf er auch nicht durch die Hintertür der Rechtfertigung wieder auftauchen (im Stile von: „verboten ist die Anknüpfung an die katholische Konfession der Klägerin; aber sie ist ja auch eine Katholikin“). 81 Von dem Ausschluss müssten Unterschiede, die mit dem Anknüpfungsmerkmal zwingend einhergehen, wohl miterfasst werden. Wo etwa nicht an das Geschlecht angeknüpft werden darf, können auch nicht die „verschiedene Färbung“ der Ausfüllung der Elternrollen durch Frauen und Männer (bei Ausgestaltung des Kindschaftsrechts)163 oder deren vergangene statistische Lohnunterschiede (bei Bemessung künftiger Sozialleistungen)164 zur Rechtfertigung genügen. 82 Eine gewisse Durchbrechung erfährt der Ausschluss freilich in Bezug auf die Anknüpfungskategorie „Alter“, soweit das Merkmal im Blick auf „sozialpolitische Interessen“ unmittelbar für tragfähig befunden wird.165 Zu relativieren wäre er auch insoweit, als man mit solchen Merkmalen – die etwa aus DNA-Spuren abgeleitet wurden – Informationseingriffe im Rahmen der Fahndung nach einer unbekannten Person zulassen möchte166. 158 Siehe Rn. 42 (C. I. 1.). 159 Relevant für Anknüpfungsmerkmale, denen eine objektive Realität nicht zugesprochen werden soll,
aber auch für den Fall des error in discriminatione, wo zumindest die Verpflichtetenvorstellung von der Realität abweicht; siehe § 7 Abs. 1 2. Hs. AGG und vgl. Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 95–97. 160 Zum „Dilemma der Differenz“, das in der Notwendigkeit der Beteiligung auch emanzipatorischen Rechts an der Merkmalskonstruktion liegt, vgl. nur Holzleithner, Emanzipation durch Recht?, KJ 2008, S. 250 (252 f.) m. w. N. 161 Entsprechend zu § 8 AGG Rothballer (Fn. 29), S. 84 f., 125; zu Art. 3 Abs. 3 GG anders Kischel (Fn. 48), Art. 3 Rn. 214.2; Wollenschläger (Fn. 69), Art. 3 Abs. 1 Rn. 122, 128. – Ein früher verbreitetes Verständnis von Art. 3 Abs. 3 GG beschränkte dessen Bedeutung darauf, gewisse Unterschiede als Rechtfertigungen gegenüber Art. 3 Abs. 1 GG auszuscheiden; in diesem Sinne etwa noch BVerfGE 23, 98 (106 f.) – Ausbürgerungen (1968); aus der jüngeren Literatur siehe Rüfner (Fn. 17), Art. 3 Rn. 544; Machado (Fn. 30), S. 137; offen Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1996, S. 267 f. 162 Ebenso Block (Fn. 124), S. 270; Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 133 f. 163 BVerfGE 37, 217 (250) – Staatsangehörigkeit nach dem Vater (1974). 164 BVerfGE 57, 335 (342–346) – pauschalierte Bruttoarbeitsentgelte (1981). Angesichts einer Sondersituation – nämlich der sozialversicherungsrechtlichen Eingliederung der Vertriebenen – kam zuvor zu einem anderen Ergebnis BVerfGE 43, 213 (besonders 228 f.) – Fremdrenten/Rentenversicherung (1977). 165 Das soll nach § 10 AGG möglich sein, siehe Rothballer (Fn. 29), S. 68 m. w. N. 166 Vgl. Rn. 73 (C. I. 3. d)). Philipp Reimer
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c) Positivrechtliche Ausschlüsse
A limine ausgeschlossen werden können einzelne Unterschiede natürlich auch ausdrück- 83 lich durch die jeweilige Gesetzgebung. Generische Dogmatik kann hierfür gewissermaßen einen Platzhalter setzen, den positivrechtlich dann Bestimmungen wie § 8 Abs. 2 AGG ausfüllen: Danach taugen „besondere Schutzvorschriften“ für bestimmte Beschäftigte – deren Einschlägigkeit diese also von anderen Beschäftigten unterscheidet – nicht zur Rechtfertigung vor dem Gleichheitssatz des § 7 Abs. 1 AGG (damit die Schutzvorschriften nicht faktisch eine diskriminierende Folgewirkung entfalten167). Auch hier wird man Umgehungen in Gestalt einhergehender Unterschiede (etwa: Mehrkosten infolge der Schutzvorschriften) grundsätzlich ausschließen wollen. 3. Typisierende Unterschiedsauswechslung a) Funktionsweise
Gerade bei einer generellen Regelung, insbesondere durch die Legislative, kann oft nur mit 84 Annahmen darüber gearbeitet werden, welche Eigenschaften die vom Tatbestand erfassten Fälle aufweisen dürften.168 Ein Tatbestand wird daher gelegentlich, wenn er eigentlich auf e′ abheben möchte, stattdessen ein leicht(er) feststellbares „Surrogatmerkmal“169 oder „Stellvertretermerkmal“170 e enthalten, bei dessen Vorliegen auch „das für die sachliche Wertung relevante Moment“ e′ (unwiderleglich oder auch widerleglich171) vermutet wird.172 Gleichheitsrechtlich kann der Unterschied bezüglich Eigenschaft e auch dann als tragfähig bewertet werden, wenn die Bewertung des anderen Unterschieds bezüglich Eigenschaft e′ positiv ausgeht und der Gleichheitssatz die Auswechslung von e durch e′ zulässt. Eine solche Auswechslung ist kein Problem, wenn e mit e′ identisch ist173 oder e′ zwingend 85 nach sich zieht (impliziert). Denn dann besteht zwischen den betrachteten Fällen auch bezüglich e′ ein Unterschied, der von vornherein statt e in den Blick genommen werden kann. Anders liegt es jedoch, wenn die beiden Eigenschaften nicht schlechthin, sondern nur 86 typischerweise zusammenfallen. Hier gibt es nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass bei Vorliegen von e auch die Eigenschaft e′ gegeben ist. In der hier interessierenden Konstellation geht es aber nicht um den Unterschied bezüglich der Wahrscheinlichkeit von e′ (der etwa einseitige Informationseingriffe zur Aufklärung des tatsächlichen Vorliegens 167 RegE AGG v. 8.6.2006, BT-Drucks. 16/1780, S. 35 begründet hier freilich nur mit dem Ziel „Entgelt-
gleichheit“; skeptisch zur Regelung Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. I, 9. Aufl. 2021, § 8 AGG Rn. 44 f.
168 Vom „Sachverhaltsklischee“ spricht Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 74. 169 Pöschl (Fn. 8), S. 238; Huster (Fn. 28), S. 247, im Anschluss an Heck, Gesetzesauslegung und Interes-
senjurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 1 (183) – Beispiel dort: „Der Privatbeamte erhält seinen Erholungsurlaub nicht nach seinem Bedürfnis, sondern nach Fristen, weil das Bedürfnis sich nicht messen läßt.“ 170 Britz (Fn. 29), S. 9; Block (Fn. 124), S. 290. 171 Ein Tatbestand kann durchaus den Gegenbeweis gestatten, dass e′ im konkreten Falle nicht gegeben sei. Das „entschärft“ die Unterschiedsauswechslung, vgl. BVerfGE 11, 105 (122) – Kindergeld I (1960). 172 Heck (Fn. 169), S. 183. 173 Sei es intensional (semantische Identität) oder extensional (Klasse der Personen mit e identisch mit Klasse der Personen mit e′). Vgl. auch Kischel (Fn. 48), Art. 3 Rn. 61–64.1 zur „Deckungsgleichheit“. Philipp Reimer
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von e′ tragen könnte174), sondern die Vergleichsfälle werden behandelt, als unterschieden sie sich tatsächlich bezüglich e′. 87 Die Unterschiedsauswechslung ist insofern Standort für einen Aspekt der gleichheitsrechtlichen Typisierung.175 Typisierung bezeichnet insofern nicht eine besondere Gruppe von Unterschieden,176 sondern einen Weg, die Tragfähigkeit von Unterschieden mit Statistik (oder Stereotypen) zu begründen.177 b) Würdigung 88 Typisierung bedeutet Entindividualisierung und damit potentiell immer auch Stereotypi-
sierung.178 Die Auswechslung gegen ein Surrogatmerkmal wird ein Gleichheitssatz deshalb nur dort zulassen wollen, wo das Einhergehen von e mit e′ auch tatsächlich plausibel vermutet werden kann. 89 Zu der Bewertung der Tragfähigkeit des Unterschieds bezüglich e′ tritt hier dann ein vorgelagerter Schritt der Rechtfertigungsprüfung hinzu, der das Verhältnis von e und e′ betrifft. Wenn diese Eigenschaften nicht identisch sind und die erste die zweite auch nicht impliziert, dann gibt es Fälle, in denen trotz Vorliegens von e nicht auch e′ gegeben ist, und diese erfahren (das Fehlen anderer tragfähiger Unterschiede unterstellt) eine Behandlung, die bei isolierter Betrachtung nicht als sachgerecht gelten würde.179 Je größer die Zahl dieser Fälle, desto weniger überzeugend wird die Vermutung. Gefragt sind hier statistische Daten zur Korrelation von e und e′.180 Die Anerkennung der Unterschiedsauswechslung verschärft die Abhängigkeit der 90 Gleichzubehandelnden von den Vorstellungen und Vorurteilen der Gleichbehandlungsverpflichteten.181 Diese haben hier zwar keine Möglichkeit zu umfänglicher Selbstdis174 Vgl. dazu oben Rn. 70 ff. (C. I. 3. d)). 175 Siehe auch Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 125–128, dort auch zur Gleichbehandlung (nämlich der e-Fälle
untereinander, trotz Varianz bezüglich e′) als Typisierungsergebnis.
176 Und damit auch nicht um einen besonderen Rechtfertigungsgrund, wie Rüfner (Fn. 17), Art. 3 Rn. 113
meint.
177 Ähnlich die Gegenüberstellung von „Direkt personengerichtete[n]“ und „Statistische[n] Gründen“
bei Britz (Fn. 29), S. 5–8. In Österreich spricht man von „Durchschnittsbetrachtung“, siehe m. N. Pöschl (Fn. 8), S. 240–248. 178 Gleichsinnig, unter dem Gesichtspunkt „impliziten Wissens“ (dass nämlich e mit e′ einhergehe): Tischbirek, Wissen als Diskriminierungsfrage, in: Münkler (Hrsg.), Dimensionen des Wissens im Recht, 2019, S. 67 (73). 179 Siehe bereits BVerfGE 13, 331 (341: „geringfügigere oder nur in besonders gelagerten Fällen auftretende Ungleichheiten in Kauf nehmen“) – personenbezogene Kapitalgesellschaft (1962); BVerfGE 18, 97 (109: „Diese seltenen Fälle können (…) außer Betracht bleiben.“) – Zusammenveranlagung (1964); von „damit verbundenen Härten“ spricht BVerfGE 100, 138 (174) – MfS-Sonderversorgung (1999). Vgl. auch Isensee (Fn. 168), S. 97 („Typisierung heißt notwendig Gleichbehandlung von Rechtsfällen, die an sich unterschiedlich gelöst werden müßten.“) und bereits Heck (Fn. 169), S. 183 („die konkrete Angemessenheit wird der sicheren Feststellbarkeit geopfert“). Huster (Fn. 151), Art. 3 Rn. 144, schließt hieraus auf den „Eingriffscharakter“ der Ungleichbehandlung bezüglich dieser Fälle. 180 So z. B. Block (Fn. 124), S. 290. Zum Problem der Datengewinnung Tischbirek (Fn. 178), S. 81–86. 181 Insoweit diagnostiziert eine gewachsene „Skepsis gegenüber dem Generalisierungsunrecht stereotypbedingter Gruppenunterscheidungen“ Britz (Fn. 29), S. 3. Philipp Reimer
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pensierung vom Gleichheitssatz,182 doch können ihre Konstruktionen von Gruppenidentitäten und -charakteren zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnungen beitragen, die vor den Gleichheitssätzen eigentlich gerade rechtfertigungsbedürftig wäre.183 Deutlich tritt dieser Zusammenhang hervor bei den „funktionalen“ Geschlechtsunterschieden (Auswechslung von e „weiblich“ gegen e′ „haushaltbesorgend“) der langjährigen Verfassungsrechtsprechung,184 die der Sache nach ein Fall einer bloß „herkömmlichen Vorstellung“ waren.185 c) Positivrechtliche Anerkennung
Dem positiven Recht gilt die Unterschiedsauswechslung gleichwohl nicht prinzipiell als 91 suspekt, sondern sie wird als Typisierung genereller Regelungen im Interesse ihres effizienteren Vollzugs anerkannt.186 Daraus ergibt sich die allgemein befürwortete Typisierungsbefugnis der Legislative in Bezug auf Art. 3 Abs. 1 GG,187 die erst dort ihre Grenze findet, wo für den Fall mit Surrogatmerkmal e das Vorliegen der gemeinten Eigenschaft e′ nicht (mehr) typisch ist.188 Selbst gegenüber Art. 3 Abs. 2, 3 GG wird die Typisierung in Grenzen zugelassen,189 ebenso gegenüber Art. 33 Abs. 2 GG.190 Auch für generelle Regelungen Privater werden vor § 7 Abs. 1, § 19 AGG entsprechende Typisierungen anerkannt, etwa bei der Ordnung des Sports mit dem Übergang von e „weiblich“ auf e′ „körperlich weniger leistungsfähig“191 oder bei der Tarifgestaltung mit dem Übergang von e „Schulbesuch“ auf e′ „kein Erwerbseinkommen“.192 Anders als bei selbstgeschaffenen rechtlichen Unterschieden, vgl. Rn. 79 (C. II. 2. a)). Deutlich BVerfGE 84, 9 (17, 18 f.) – Mannesname (1991). Vgl. Fn. 139. So deutlich BVerfGE 52, 369 (376) – Hausarbeitstag (1979). Vgl. auch Isensee (Fn. 168), S. 99; zur „Rationalität von Stereotypen“ auch Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 20 und öfter. 187 Siehe schon BVerfGE 9, 20 (31 f.) – eheähnliche Gemeinschaft (1958); BVerfGE 11, 245 (254) – Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz (1960); aus jüngerer Zeit etwa BVerfGE 100, 138 (174) – MfS-Sonderversorgung (1999): wenn Härten kaum vermeidbar, selten und „nicht sehr intensiv“. Zurückhaltender dagegen Boysen (Fn. 34), Art. 3 Rn. 111 f. 188 Ständige Rechtsprechung, namentlich zum Steuerrecht, siehe BVerfGE 112, 164 (180) – Sozialversicherungsbeiträge des Kindes (2005); BVerfGE 112, 268 (280 f.) – Kinderbetreuungskosten (2005); BVerfGE 116, 164 (183) – Tarifbegrenzung (2006); BVerfGE 117, 1 (31) – ErbStG/Bemessungsgrundlage (2006); BVerfGE 122, 210 (233) – Entfernungspauschale (2008); BVerfGE 126, 268 (279) – Arbeitszimmer (2010); BVerfGE 127, 224 (246, 257) – Pauschalierung eines Betriebsausgabenabzugsverbots (2010); BVerfGE 145, 106 (146) – Verlustabzug (2017); BVerfGE 151, 101 (146) – Stiefkindadoption (2019); siehe auch Huster (Fn. 28), S. 273–279 (m. N. aus der älteren Rechtsprechung) und O’Hara (Fn. 69), S. 182 f. 189 Auf der Linie von BVerfGE 10, 59 (78) – Stichentscheid (1959): „eine Grenzsituation, die um ihrer vergleichsweisen Unbeträchtlichkeit willen hinzunehmen wäre“; siehe etwa BVerfGE 26, 265 (275 f.) – Heimunterbringungskosten (1969). Von „Praktikabilitätsgrenzen“ spricht in ähnlichem Zusammenhang auch Völzmann (Fn. 103), S. 386 Fn. 70; ähnlich Heckel (Fn. 35), S. 246. Doch soll die Typisierung hier engeren Grenzen unterliegen, so etwa Rüfner (Fn. 17), Art. 3 Rn. 546; tendenziell noch strenger Kischel (Fn. 48), Art. 3 Rn. 195. 190 Vgl. BVerwGE 133, 143 (145) zum Surrogatmerkmal „Alter“. 191 Das hält in Bezug auf § 8 Abs. 1 AGG für zulässig Block (Fn. 124), S. 290. 192 RegE AGG v. 8.6.2006, BT-Drucks. 16/1780, S. 44. 182 183 184 185 186
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Anders gelagert ist die Frage nach einer Typisierung beim Regelungsvollzug:193 Darf etwa eine (Finanz-)Behörde dem an e′ anknüpfenden Gesetz alle Fälle mit e unterwerfen, ohne e′ jeweils selbst zu prüfen? Soweit sie die Regelung nur solcherart typisierend anwendet, entscheidet sie die atypischen Fälle (bei denen e einmal nicht mit e′ einhergeht) rechtswidrig, weil diese eben den Tatbestand nicht erfüllen. In einer Massenverwaltung mit ausgebauten Rechtsschutzmöglichkeiten mag das im Sinne einer „Normalfall-Legalität“ hingenommen werden.194 d) Fallgruppen der Unterschiedsauswechslung
Der statistik- oder vorurteilsbasierte Schluss von e auf e′ begegnet in einer Reihe von Fallgruppen, wobei der Übergang zwischen zwei tatsächlichen Eigenschaften im Vordergrund steht195. 94 (1) Oftmals wird an ein Surrogatmerkmal angeknüpft, wo körperliche und ähnliche unmittelbar der Person anhaftende Eigenschaften gemeint sind. 95 Surrogatmerkmal ist insoweit manchmal das Geschlecht. Die Gruppenbildung „Geschlechter“ geht davon aus, dass „Frauen“ und „Männer“ jeweils dieselben chromosomalen, gonadalen und anatomischen Charakteristika aufweisen. Angesichts der vielgestaltigen Intersexualitätsphänomene bilden diese aber ein Bündel nur typischer Eigenschaften, die mit einer Geschlechtszuordnung nicht in jedem Einzelfall einhergehen196 (was zugleich bereits die vorgelagerte Zuordnungsfrage umso problematischer macht197). Über diese fundamentale Ebene (im Wesentlichen binär vorgestellter Unterschiede: XX /XY, Ovarien/ Testes usf.) hinaus sind nur typisch erst recht die (eher als ein Mehr-oder-weniger erscheinenden) Unterschiede „ihres schwächeren Knochengerüstes sowie ihrer geringeren Muskelmasse und niedrigeren kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit“198 – jeweils eine Skala mit potentiell erheblichen Überschneidungsbereichen zwischen Frauen und Männern.199 96 Ebenfalls als Surrogatmerkmal für körperliche und ähnliche Eigenschaften dient das Alter (als binärer Unterschied formuliert: die Einhaltung einer Altersgrenze). Auch hier blendet das Abstellen auf höhere körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit die atypischen Fälle – fitte Senioren, reife Jugendliche, geschwächte Dreißigjährige – aus. Insbesondere bei gefahrgeneigten Tätigkeiten wird diese Unterschiedsauswechslung zugelassen, im Übrigen ist sie durchaus problematisch (etwa bezogen auf Urlaubsdauer wegen unterstellter Erholungsbedürftigkeit).200 93
Dazu grundlegend Isensee (Fn. 168), hier besonders S. 133–137, 155–159. Isensee (Fn. 168), S. 158; zu Möglichkeiten rechtlicher Einhegung ebd., S. 171–177. Siehe Rn. 55 ff. (C. I. 3. a) bb)). Vgl. Richter (Fn. 39), Rn. 51. Vgl. etwa Block (Fn. 124), S. 97; Wolters (Fn. 141), S. 562. Zitat: BVerfGE 92, 91 (110) – Feuerwehrabgabe II (1995). Hier wäre jeweils auf statistische Verteilung abzuheben. Vgl. in Bezug auf sportliche Leistungsfähigkeit Block (Fn. 124), S. 271–274 m. N. 200 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.1.2010, Rs. C-229/08, Wolf, Rn. 41; EuGH, Urt. v. 18.11.2009, Rs. C-447/09, Prigge, Rn. 67; Mager, Altersdiskriminierung, in: FS Säcker, 2011, S. 1075 (1086 f., 1089); Richter, Benachteiligung wegen des Alters im Erwerbsleben, 2011, S. 138 f. bzw. 169 f. m. w. N. 193 194 195 196 197 198 199
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Auf ethnische Herkunft oder gar die bloß rechtliche Staatsangehörigkeit wird dagegen 97 eher selten als Surrogatmerkmal für körperliche Eigenschaften abzustellen sein.201 Hier besteht eine gefährliche Nähe zum verpönten Merkmal „Rasse“. (2) Auch Verhaltensweisen und Lebenssituationen werden mitunter anhand eines Sur- 98 rogatmerkmals vermutet. Wiederum anhand des Geschlechts veranschaulicht, mag es – strukturell ähnlich wie bei den vermuteten körperlichen Merkmalen – statistisch deutliche Zusammenhänge zwischen zugeordnetem Geschlecht und Erwerbstätigkeit (ob überhaupt, in welchem zeitlichen Umfang, in welcher Branche usf.) geben. Die alte Lehre von den „funktionalen Unterschieden“ bedeutete, dass solche Unterschiedsauswechslungen prinzipiell zulässig wären;202 seit längerer Zeit ist man hier aber deutlich zurückhaltender.203 (3) Eine Unterschiedsauswechslung kann auch vorliegen, wenn wegen einer Eigen- 99 schaft der Person generell gewisse Haltungen und Reaktionen Dritter204 antizipiert werden, die im Einzelfall unter Umständen gar nicht auftreten würden. 4. Positivrechtliche Bewertungsmaßstäbe
Die Bewertungsmaßstäbe aller positivierten Gleichheitssätze zusammenzutragen ist schon 100 für die deutsche Rechtsordnung nicht zuletzt deshalb ein schwieriges Unterfangen, weil die einzelnen Bereichsdogmatiken mit verschiedener Diktion arbeiten und längst nicht alle konsequent die Frage nach der Bewertung von Unterschieden stellen. Unternommen wird hier daher der Versuch einer Gruppenbildung ähnlicher Bewertungsmaßstäbe, die für verschiedene Gleichheitssätze herausgearbeitet werden können. Einstweilen noch ausgeklammert bleibt an dieser Stelle der auch bei Gleichheitssätzen 101 zunehmend begegnende, insoweit aber grundlegend problematische Rechtfertigungsmaßstab der „Verhältnismäßigkeit“, weil er nicht an die Bewertung vorgefundener Unterschiede anknüpft205. a) „Sachliche Gründe“ aa) Befund
Für einige Gleichheitssätze des positiven Rechts – anknüpfungsunabhängige („allgemei- 102 ne“) ebenso wie -abhängige (Diskriminierungsverbote) – werden zur Rechtfertigung „sachliche Gründe“ gefordert. Wenngleich mit den „Gründen“ eine etwas andere Per201 Dafür aber Rüfner (Fn. 17), Art. 3 Rn. 585 im Hinblick auf „die Alkoholverträglichkeit bei Angehörigen bestimmter asiatischer Völker“. 202 Vgl. die Nachweise in Fn. 184. 203 Vgl. zur generellen Annahme einer „Doppelbelastung“ BVerfGE 52, 369 (375) – Hausarbeitstag (1979); BVerfGE 85, 191 (208 f.) – Nachtarbeitsverbot (1992); zur Annahme, „der Sohn fühle sich mit dem Hof mehr verbunden“, ablehnend bereits BVerfGE 15, 337 (345) – Höfeordnung (1963). Im Zuge der Frauenförderung werden gewisse Typisierungen aber durchaus zugelassen, vgl. BVerfGE 74, 163 (180) – Frauen-Altersruhegeld (1987); Burg (Fn. 42), S. 117. 204 Siehe Rn. 62 (C. I. 3. b)). 205 Dazu unten Rn. 122 ff. (C. III.).
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spektive eingenommen zu werden scheint als mit den „Unterschieden“ – nämlich auf die (objektivierte) Motivation der Verpflichteten statt auf das Verhältnis der Vergleichsfälle blickend206 –, geht es doch auch hier um die wertend zu bestimmende Tragfähigkeit wenigstens eines Unterschieds.207 103 Im Bereich des Verfassungsrechts wird das Kriterium der sachlichen Gründe als implizite Aussage von Art. 3 Abs. 1 GG208 in dessen schwächerer Ausprägung („Willkürverbot“) verstanden209 und wurde mit der seit 1980 gebräuchlichen Formulierung deutlich auf den Punkt gebracht („Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht (…), daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“210). Von „hinreichenden sachlichen Gründen“ ist auch im Kontext des Art. 3 Abs. 2 GG die Rede, soweit es um eine „faktische Benachteiligung“ geht.211 Ähnlich wird der wettbewerbsrechtliche Gleichheitssatz zu Gunsten von „Handelspartnern“ nach Art. 102 Abs. 2 lit. c AEUV verstanden.212 Im Ausgangspunkt gilt das auch für die gesellschaftsrechtlichen Gleichheitssätze etwa nach § 53a AktG.213 104 Das Kriterium der sachlichen Gründe ist im Gesetzesrecht teilweise positiviert, namentlich im Arbeits- und Dienstrecht (etwa in § 7 Abs. 1 i. V. m. § 3 Abs. 2 AGG, § 7 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 3 Abs. 2 SoldGG, § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 TzBfG, § 5 Abs. 4 PostPersRG) und im Wettbewerbsrecht (§ 19 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 GWB: „ohne sachlich gerechtfertigten Grund“214), aber auch im allgemeinen Zivilrecht (§ 20 Abs. 1 Satz 1 und § 3 Abs. 2 AGG). 206 Insoweit ähnlich der „Zwecklogik“, dazu unten Rn. 122 ff. (C. III.). Siehe auch etwa die Formulierung
in § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AGG („Zwecken (…) dient“).
207 Deutlich etwa BVerfGE 82, 126 (146–154) – Kündigungsfristen (1990), wo es zunächst „rechtfertigen-
der Grund“ heißt und dann acht mögliche Unterschiede kritisch in Betracht gezogen werden; siehe auch Jarass (Fn. 17), Art. 3 Rn. 19 (wo die „objektiv vorhandene[n] Gründe“ kaum anders als auf vorhandene Unterschiede verweisen können); Kirchhof (Fn. 74), Rn. 194 (der von „vorgefundenen Sachstrukturen“ spricht). Begrifflich anders aber etwa Epiney (Fn. 27), S. 469 f.: sachlicher Grund als Qualifikation des Verhältnisses von Differenzierungskriterium (Unterschied) und Differenzierungsziel; für Synonymie von Zielen und Gründen Osterloh, Der Gleichheitssatz zwischen Willkürverbot und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: FS Kloepfer, 2013, S. 139 (152). 208 Vgl. zur Rechtfertigung bei Art. 3 Abs. 1 GG im Zusammenhang Reimer, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 2022, § 128 Rn. 71–111, im Erscheinen. 209 So die Verfassungsrechtsprechung seit BVerfGE 1, 14 (52) – Südweststaat (1951); siehe etwa BVerfGE 27, 1 (10) – Mikrozensus (1969); BVerfGE 38, 1 (17) – richterliche Amtsbezeichnungen (1974); siehe auch Alexy (Fn. 21), S. 370, der von einem „zureichenden Grund“ spricht. 210 BVerfGE 55, 72 (88) – Präklusion I (1980). 211 BVerfGE 113, 1 (20) – Kindererziehungszeiten (2005); BVerfGE 126, 29 (54) – Hamburgischer Versorgungsfonds (2010); jeweils in expliziter Anlehnung an das Unionsrecht. Demgegenüber spricht der Zweite Senat für eine faktische Benachteiligung von einem „hinreichenden verfassungsrechtlichen Grund“: BVerfGE 121, 241 (255) – Versorgungsabschlag (2008) (Hervorhebung hinzugefügt) – dies allerdings in Bezug auf Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, der bloß faktische Benachteiligungen nicht umfasst; so überzeugend Boysen (Fn. 34), Art. 3 Rn. 144 f.; Sacksofsky (Fn. 39), S. 374; dagegen Uerpmann-Wittzack (Fn. 47), Rn. 14 f.; offen BVerfGE 132, 72 (97) – Ausländer-Elterngeld (2012). Strenger Jarass (Fn. 17), Art. 3 Rn. 122. 212 Grünberger (Fn. 41), S. 421 f. 213 Vgl. Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 252; Grünberger (Fn. 41), S. 378 f. 214 Entsprechend im öffentlichen Wettbewerbs-, vor allem im Regulierungsrecht; siehe z. B. § 70 Abs. 2 GewO, § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3 EnWG, § 42 Abs. 1 Satz 2 TKG. Philipp Reimer
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bb) Grundsätzlich: niedrige Hürde
Verbunden ist mit den „sachlichen Gründen“ die Erwartung, dass sich für die Ungleich- 105 behandlung ein sachlicher Anknüpfungspunkt im vorgefundenen Sachverhalt finde, der wiederum nur in einem Unterschied zwischen den Vergleichsfällen bestehen kann. Für dessen Tragfähigkeitsbewertung entscheidend ist dann das Kriterium der „Sachlichkeit“ der Anknüpfung, das grundsätzlich weit verstanden wird und damit tendenziell die jeweilige (privatautonome oder gewaltenteilige) Autonomiesphäre der Gleichbehandlungsverpflichteten schont.215 Vorausgesetzt wird dann nur, dass die Ungleichbehandlung zu dem Unterschied passt 106 (ein „innerer Zusammenhang“ besteht216) und nicht willkürlich, sondern „sachgerecht“ ist.217 So war es beispielsweise im Vertriebenenrecht sachlich begründet, nur bei rechtzeitigem „Bekenntnis zum deutschen Volkstum“ eine Begünstigung zu gewähren (= Ungleichbehandlung), „weil dem Vertreibungsdruck nur diejenigen ausgesetzt waren, die in ihrer Heimat als ‚Deutsche‘ erkennbar waren“ (= Unterschied)218 und die Unterstützung gerade dieser Personengruppe implizit als verfassungsrechtlich erlaubt bewertet wurde (= Tragfähigkeitsbewertung). Sachlich ist es auch, wenn ÖPNV-Fahrscheine an Schulbesuchende und Ältere zu unterschiedlichen Preisen abgegeben werden (= Ungleichbehandlung), weil das typische Nutzungsverhalten der Gruppen differiert (= Unterschied) und die darauf beruhende „betriebswirtschaftliche Erwägung (…) nicht zu beanstanden“ ist (= Tragfähigkeitsbewertung).219 Schließlich auch, wenn von manchen eine Abgabe erhoben wird (= Ungleichbehandlung), was als Ausgleichsabgabe für eine sonst bestehende Dienstpflicht möglich ist (= Tragfähigkeitsbewertung) – jedoch nur, wenn die Abgabepflichtigen sich von den Ausgenommenen gerade durch die Dienstpflicht unterscheiden (= Unterschied).220 Allerdings fällt die Konkretisierung nicht immer so leicht. Nicht zuletzt deshalb221 be- 107 müht sich die Gleichheitsgesetzgebung mitunter um eine nähere Bestimmung, wie etwa in § 20 AGG mit fünf positiven Fallgruppen (Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2) und einer negativen (Abs. 2 Satz 1) geschehen. Für tragfähig erklärt werden etwa Unterschiede der Gefährdet215 Vgl. insoweit auch Kischel (Fn. 48), Art. 3 Rn. 25. – Historisch wurde freilich schon der Sachlichkeits-
maßstab in beiden Fällen als invasiv empfunden, weil auch er bereits anderen Institutionen ein Hineinwirken eröffnet. Vgl. zu verfassungsrechtlichen Gleichheitssätzen Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 1925, S. 123–129, zum damaligen Hauptproblem der richterlichen Verwerfung von Gesetzen; zu einfachgesetzlich-antidiskriminierungsrechtlichen Gleichheitssätzen Lehner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz und Grundrechte, 2013, und etwa die Polemik von Adomeit, Political correctness – jetzt Rechtspflicht!, NJW 2006, S. 2169. 216 BVerfGE 42, 374 (388) – Pfandleihgewerbe (1976); BVerfGE 133, 1 (13 f.) – Geldbußenverzinsung (2012). 217 Ausdruck zu Art. 3 Abs. 1 GG etwa in BVerfGE 128, 138 (155 f.) – Erwerbsminderungsrente (2011); in ähnlichem Sinne sagt „sachlich vertretbar“ BVerfGE 90, 145 (196) – Cannabis (1994). Von „sachliche[r] Angemessenheit“ spricht Kloepfer (Fn. 27), S. 61. 218 BVerfGE 59, 128 (150 bzw. 151) – Bekenntnis zum deutschen Volkstum (1981). 219 AG Mannheim, Urt. v. 6.6.2008, 10 C 34/08, Rn. 26. 220 Das war bekanntlich nicht der Fall in BVerfGE 9, 291 (299 f.) – Feuerwehrabgabe I (1959). 221 Vgl. RegE AGG v. 8.6.2006, BT-Drucks. 16/1780, S. 43. Philipp Reimer
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
heit und Schutzbedürftigkeit (Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 2) oder des versicherungsmathematisch ermittelten Risikos (Abs. 2 Satz 2), für nicht tragfähig gewisse Unterschiede der Kostenauslösung (Abs. 2 Satz 1).222 Nicht mehr sachlich, sondern willkürlich ist dagegen die Verbindung der Behandlung 108 mit bloß unterschiedlicher Wertschätzung von Seiten der Gleichbehandlungsverpflichteten, wogegen die Gleichheitssätze gerade eine Vorkehrung sein sollen.223 cc) Verschärfungstendenzen
Im Falle des textlich insoweit unergiebigen Art. 3 Abs. 1 GG hat sich die Verfassungsrechtsprechung um eine Konkretisierung dadurch bemüht, dass sie je nach Art der Ungleichbehandlung ein unterschiedliches Maß an Sachlichkeit verlangt,224 das „vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen“ soll225 (neuerdings als „stufenloser (…) Prüfungsmaßstab“ bezeichnet226). Diese Skalierung hat die Rechtfertigungsprüfung um eine Vorstufe erweitert, auf der zunächst die zu stellenden Anforderungen ermittelt werden sollen. Insgesamt bedeutet dies eine Verschärfung der Gleichheitsprüfung. Auch für einfachrechtliche Gleichheitssätze, die im Ausgangspunkt nur sachliche 110 Gründe verlangen, wird diese Entwicklung der Verfassungsrechtsprechung teilweise adaptiert und kumulativ Verhältnismäßigkeit gefordert.227 Teilweise scheinen auch Richtlinienvorgaben ein solches Ergebnis zu fordern.228 Es wäre jedoch ein Missverständnis, ein Merkmal „Verhältnismäßigkeit“ in einen einfachrechtlichen Gleichheitssatz wegen Art. 3 GG hineinlesen müssen zu glauben,229 weil diese Verfassungsnorm nur staatliche Stellen verpflichtet.230 Wer in Verschärfung der „sachlichen Gründe“ eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nach 111 Freiheitsrechts-Vorbild einführt, stößt dabei auf strukturelle Probleme, die unten im Zusammenhang behandelt werden sollen231. 109
222 Auch die in § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AGG angesprochenen Fälle lassen sich in ähnlicher Weise rekon-
struieren – so die Beispiele aus RegE AGG v. 8.6.2006, BT-Drucks. 16/1780, S. 44: Unterschied bezüglich des Erwerbseinkommens, Unterschied des Nachfrageverhaltens. 223 In diesem Sinne zu § 20 Abs. 1 Satz 1 AGG LG Köln, Urt. v. 13.11.2015, 10 S 137/14, Rn. 14 zu „Sympathie“, Rn. 24 zu „Moral- und Anstandsempfinden“. 224 Kanonisch seit BVerfGE 55, 72 (88) – Präklusion I (1980). 225 So erstmals BVerfGE 88, 87 (96) – Transsexuellengesetz II (1993). 226 Seit BVerfGE 129, 49 (69) – Mediziner-BAföG (2011). 227 So etwa das Schrifttum zu den gesellschaftsrechtlichen Gleichheitssätzen, vgl. m. N. Verse (Fn. 213), S. 283–303; Grünberger (Fn. 41), S. 379 f.; Götze, in: MüKo AktG, 5. Aufl. 2019, § 53a Rn. 15. 228 So zu § 20 Abs. 1 AGG – allerdings nur in Bezug auf das Merkmal „Geschlecht“ – wegen Art. 4 Abs. 5 RL 2004/113/EG Grünberger (Fn. 41), S. 697. 229 So zu § 20 Abs. 1 AGG – außerhalb des Merkmals „Geschlecht“ – aber Grünberger (Fn. 41), S. 697. 230 Statt aller: Jestaedt, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL 64 (2005), S. 299 (330– 334). Art. 3 Abs. 1 GG begrenzt damit etwa die Auswahl der durch das AGG Verpflichteten durch die Gesetzgebung. Verhältnismäßig muss das AGG insofern sein, als es in deren Freiheitsrechte namentlich aus Art. 12 Abs. 1 GG eingreift (vgl. wiederum Jestaedt, ebd., S. 346–349). 231 Siehe Rn. 122 ff. (C. III.). Philipp Reimer
C. Rechtfertigung über tragfähige Unterschiede
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Eine daneben tretende Verschärfungstendenz bei Art. 3 Abs. 1 GG stellt die zwischen- 112 zeitlich prominente, nunmehr womöglich im Rückbau befindliche Anforderung der „Folgerichtigkeit“ dar.232 b) „Zwingende Gründe“ aa) Befund
Wo ein Gleichheitssatz strenger handzuhaben sein soll als ein bloßer Sachlichkeitsmaß- 113 stab,233 wird ihm manchmal ein Rechtfertigungsmaßstab der „zwingenden Gründe“ für die Ungleichbehandlung oder deren „zwingender Erforderlichkeit“ beigegeben – so namentlich in Bezug auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1234 und Art. 3 Abs. 3 GG;235 teilweise wird die Formulierung auch ausdrücklich im Gesetzesrecht gebraucht.236 Die Argumentform ist hier zunächst die gleiche wie bei den sachlichen Gründen:237 Vorausgesetzt wird ein Unterschied zwischen den Vergleichsfällen, an den hier nur zwingend angeknüpft werden muss – wobei auch insoweit durchaus Spielräume zugunsten der Gleichbehandlungsverpflichteten bestehen können. Für die anknüpfungsabhängigen Gleichheitssätze wie Art. 3 Abs. 3 GG handelt es sich 114 hierbei insofern um ein Erforderlichkeitskriterium,238 als man den Begriff „zwingend“ wohl so verstehen muss, dass nicht auf die Anknüpfung an das verpönte Merkmal verzichtet werden können darf,239 ohne das gewünschte Ergebnis zu verfehlen.240
232 Dazu m. N. Kischel (Fn. 48), Art. 3 Rn. 95–97.1, 153–156; Kempny, Steuerverfassungsrechtliche Son-
derdogmatik zwischen Verallgemeinerung und Zurückführung, JöR n. F. 64 (2016), S. 477 (484–491); Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit, AöR 136 (2011), S. 578. 233 Vgl. zu Art. 3 Abs. 3 GG Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 8, 3. Aufl. 2010, § 182 Rn. 62 m. N. 234 BVerfGE 82, 322 (338) – gesamtdeutsche Wahl (1990). 235 BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeitsverbot (1992); BVerfGE 99, 341 (357) – Stummentestament (1999); BVerfGE 114, 357 (364, 367 f.) – Ausländerkinder (2005); „sonstige Sachgründe (…) von erheblichem Gewicht“ zieht in Betracht BVerfGE 132, 72 (97 f.) – Ausländer-Elterngeld (2012); siehe auch Kischel (Fn. 48), Art. 3 Rn. 214 („besonders schwerwiegende Gründe“). – Aus der Struktur ausbrechend BVerfGE 104, 373 (393–395) – Familiendoppelnamen (2002); diese Entscheidung kann man aber vielleicht so lesen, dass hier bereits die Nachteiligkeit der Ungleichbehandlung verneint wird. 236 Nämlich in einigen speziellen Gleichheitssätzen des öffentlichen Dienstrechts („zwingende sachliche Gründe“), siehe z. B. § 25 Satz 2 BBG, § 19 Abs. 4, § 47 Abs. 2 Satz 2 BLV, § 48d 2. Hs. DRiG. Etwas schwächer gefasst („wichtige sachliche Gründe“) ist § 15 Abs. 1 Satz 2 SGleiG. 237 Beide Begriffe erscheinen wie austauschbar nebeneinander in BVerfG, Beschl. v. 10.3.2004, 2 BvR 577/01, Rn. 7 f. 238 Weitergehend Uerpmann-Wittzack (Fn. 47), Rn. 41, der „das Merkmal der zwingenden Erforderlichkeit mit einer besonders strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung“ in Verbindung bringt. 239 Weil dazu nur Ja oder Nein gesagt werden kann, stellt sich nicht das Problem, die relative Schwere von Ungleichbehandlungen zu bestimmen, das sonst den Verhältnismäßigkeitsmaßstäben im Wege steht; dazu Rn. 127 ff. (C. III. 2.). 240 Vgl. BVerfGE 92, 91 (110) – Feuerwehrabgabe II (1995): statt Anknüpfung an das Geschlecht und typisierende Annahme körperlicher Leistungsfähigkeit (siehe Rn. 95) wäre eine „auf die individuelle Konstitution abstellende Tauglichkeitsuntersuchung“ ebenso möglich gewesen. Philipp Reimer
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
Die „zwingenden Gründe“ treten – soweit anerkannt241 – neben eine mögliche Rechtfertigung über andere Normen.242 In Bezug auf die verfassungsrechtlichen Gleichheitssätze werden letztere hier meist als „kollidierendes Verfassungsrecht“ etikettiert.243 bb) Charakteristische tragfähige Unterschiede
Gegenüber den anknüpfungsabhängigen Gleichheitssätzen werden zwingende Gründe vor allem in solchen Unterschieden gefunden, von denen man annimmt, sie führten dazu, dass die fragliche Behandlung die Ausgeschlossenen ohnehin nicht betreffe244. Das gilt namentlich für die sogenannten „biologischen Unterschiede“ im Hinblick auf Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts und für „geistige oder körperliche Fähigkeiten, die unerläßliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind“, im Hinblick auf Ungleichbehandlungen wegen einer Behinderung.245 117 Nur gruppentypische Unterschiede (also eine typisierende Unterschiedsauswechslung246) werden hier dagegen meist als problematisch empfunden.247 Ausdrücklich zugelassen wird durch § 5 AGG aber der Ausgleich gruppentypischer Nachteile, was es etwa rechtfertigen soll, von Sportwettkämpfen für Frauen („statistisch weniger körperlich leistungsfähig“) alle Männer auszuschließen.248 Nachteilsausgleich „z. B. durch Wiedergutmachungsleistungen an rassisch Verfolgte“ wird auch in Bezug auf Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG für möglich gehalten.249 118 Geht es nicht um typische aktuelle Nachteile bei den von der Regelung Erfassten, sondern nur um solche von Personen, aus denen die entsprechende Gruppe zu einem früheren Zeitpunkt zusammengesetzt war,250 kann man von gruppenhistorischen Unterschieden sprechen251. Mit solchen sollen namentlich Staatszuwendungen 116
241 Ablehnend bezüglich Art. 3 Abs. 3 GG Baer/Markard (Fn. 61), Art. 3 Abs. 3 Rn. 432. 242 Siehe BVerfGE 85, 191 (207, 209) – Nachtarbeitsverbot (1992); BVerf GE 92, 91 (109) – Feuerwehr-
abgabe II (1995); BVerfGE 114, 367 (364) – Aufenthaltserlaubnis nach dem Vater (2005).
243 Vgl. zu „Geschlecht“ BVerfGE 10, 59 (80: „Wertentscheidungen, hinter denen das Prinzip der Gleich-
berechtigung der Frau in der Familie zurücktreten müßte“) – Stichentscheid (1959); BVerfGE 48, 327 (338 f.) – Frauenname (1978); BVerfGE 92, 91 (111) – Feuerwehrabgabe II (1995); BVerfGE 114, 357 (364) – Ausländerkinder (2005); zu „Behinderung“ BVerfGE 151, 1 (26) – Betreutenwahlrecht (2019); zu „Sprache“ BVerfG, Beschl. v. 7.10.2003, 2 BvR 2118/10, Rn. 20, 26; aus dem Schrifttum etwa Jarass (Fn. 17), Art. 3 Rn. 118, 152; vgl. auch oben Rn. 25 (B. I. 2.). 244 Siehe Rn. 64 ff. (C. I. 3. c)). 245 BVerfGE 99, 341 (357) – Stummentestament (1999); gleichsinnig BVerf GE 151, 1 (25 f.) – Betreutenwahlrecht (2019). 246 Siehe Rn. 84 ff. (C. II. 3.). 247 Vgl. etwa Richter (Fn. 39), Rn. 54. 248 Block (Fn. 124), S. 282. 249 Heckel (Fn. 35), S. 244 Fn. 6. Alternativ ließe sich den Fall über die Verneinung des Merkmals der Nachteiligkeit lösen, weil nur etwas ausgeglichen werde; auf dieser Linie Baer/Markard (Fn. 61), Art. 3 Abs. 3 Rn. 419, 423. 250 Skeptisch Sacksofsky (Fn. 39), S. 412: nicht „die Enkelinnen der Opfer gegenüber den Enkeln der Täter zu bevorzugen“. 251 Siehe Rn. 63 (C. II. 3. b)). Philipp Reimer
C. Rechtfertigung über tragfähige Unterschiede
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an jüdische Religionsgemeinschaften252 und sprachliche Minderheiten253 gerechtfertigt werden. Auch probabilistische Unterschiede254 können hier unter Umständen genügen. Ist etwa 119 von einer gesuchten Person das Geschlecht oder die Hautfarbe bekannt, liegt es nahe, andere Personen mit einer Identitätskontrolle gar nicht erst zu belasten, weil bei diesen die Wahrscheinlichkeit eines Treffers null beträgt. Als problematischer gilt es dagegen, wenn bei Personen eines Geschlechts oder einer Hautfarbe die Wahrscheinlichkeit eines (Schleier-)Fahndungstreffers – insbesondere wegen Aufenthaltsdelikten – nur als höher eingeschätzt wird als bei anderen Personen, jedoch bei keiner Gruppe null beträgt.255 c) „Berufliche Anforderungen“
Eine eigene Ausprägung des Bewertungsmaßstabs haben – in Umsetzung unionsrecht- 120 licher Vorgaben256 – einige Gleichheitssätze des einfachgesetzlichen Arbeits- und Dienstrechts gewählt, indem sie zur Rechtfertigung unmittelbarer Benachteiligungen wegen gewisser verpönter Merkmale verlangen, der fragliche Unterschied müsse eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ darstellen (so § 8 Abs. 1 AGG,257 §§ 8, 18 Abs. 1 Satz 2 SoldGG).258 Bereits damit ist deutlich gemacht, dass der Unterschied (gegebenenfalls nach typisierender Auswechslung259) eine Eigenschaft betreffen muss, die der beruflichen Sphäre angehört und nicht nur einer Idiosynkrasie der Verpflichteten entspricht, und dass nicht jeder solche Unterschied genügen soll, sondern nur ein solcher, bei dessen Fehlen die Position unbesetzt bliebe.260 Auch bloße Kundenerwartungen sollen hierfür aber ausreichen, zumindest, wenn sie „bestandswichtig“ sind.261 Eine besondere Identität der Verpflichteten soll ebenfalls eine Differenzierung nach verpönten Merkmalen tragen können.262 § 8 Abs. 1 AGG und § 8 SoldGG qualifizieren die Anforderung noch dadurch, dass „der 121 Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen“ sein müssten. Dies wird von der Gesetzgebung als Verweis auf den „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ verstanden,263 was Schrooten (Fn. 16), S. 268. Vgl. Uerpmann-Wittzack (Fn. 47), Rn. 46. Siehe Rn. 70 ff. (C. II. 3. d)). Vgl. die Nachweise in Fn. 150. Siehe Art. 4 RL 2000/43/EG, Art. 4 RL 2000/78/EG und (nunmehr) Art. 14 Abs. 2 RL 2006/54/EG. Hierzu vgl. Rothballer (Fn. 29), S. 76–125 m. w. N. § 9 Abs. 1 AGG in Bezug auf Religion ist etwas abweichend formuliert („gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt“), wird in der Rechtsprechung aber inzwischen entsprechend als „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“ verstanden, siehe BAG, Urt. v. 25.10.2018, 8 AZR 501/14 (Ls. 2). 259 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.1.2010, Rs. C-229/08, Wolf, Rn. 41; Thüsing (Fn. 105), Rn. 317. Siehe dazu auch Rn. 62 (C. II. 3. b)). 260 So Thüsing (Fn. 105), Rn. 322; strenger Rothballer (Fn. 29), S. 113 f. 261 So der Einschränkungsversuch von Hwang (Fn. 105), S. 112 f. m. w. N. 262 So RegE AGG v. 8.6.2006, BT-Drucks. 16/1780, S. 35, zu Organisationen nationaler Minderheiten. 263 RegE AGG v. 8.6.2006, BT-Drucks. 16/1780, S. 35. 252 253 254 255 256 257 258
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
freilich für Gleichheitssätze strukturell nicht richtig passt264 und deshalb letztlich doch als Bewertung der Sachgerechtigkeit behandelt wird.265 III. Zwecklogik statt Differenzlogik? 122
Neben den diversen Gleichheitssätzen, die eine Rechtfertigung durch tragfähige Unterschiede vorsehen, begegnen auch solche von zumindest vordergründig abweichender Struktur, die die Rechtfertigungsfrage aus einer anderen Perspektive stellt. Statt nach einem Unterschied zwischen den Vergleichsfällen fragt sie nach einem Zweck, den die Gleichbehandlungsverpflichteten mit der Ungleichbehandlung verfolgen (könnten), und wechselt so von der gleichheitsrechtstypischen Differenzlogik zu einer abwehrfreiheitsrechtstypischen Zwecklogik.266 Damit wird das Feld bereitet für eine Zweck-Mittel-Relationierung und insbesondere für den Gesichtspunkt der „Verhältnismäßigkeit“. Dieser Ansatz erscheint in doppelter Hinsicht problematisch, weil schon die Rede von einem Ungleichbehandlungszweck nur manchmal passt (dazu 1) und auch die weitere Verhältnismäßigkeitsprüfung Probleme bereitet (dazu 2). Gleichwohl findet sich diese Handhabung im positiven Recht immer öfter (dazu 3). 1. Das Zweckproblem
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Für die Gleichheitssätze passt eine Zwecklogik nicht grundsätzlich, weil mit der Ungleichbehandlung als solcher nicht stets ein Zweck verfolgt wird,267 wie man es bei den Eingriffen in Abwehrfreiheitsrechte unterstellen und dann zum Bezugspunkt einer Verhältnismäßigkeitsprüfung machen kann.268 Anders als der Eingriff ist die Ungleichbehandlung zweiteilig und umfasst stets sowohl ein Handeln gegenüber einer und ein Unterlassen gegenüber einer anderen Person.269 Der Handlungsseite der Ungleichbehandlung lässt sich dabei ein Zweck regelmäßig zuschreiben; dieser Zweck wird für die abwehrfreiheitsrechtliche Rechtfertigung auf der Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung relevant, soweit die Handlungsseite zugleich einen Eingriff darstellt. Dagegen führt es in die Irre, stets auch noch von der Ungleichbehandlung als solcher – also der Kombination aus Handlungs- und Unterlassungsseite – einen Zweck zu erwarten.270 264 Dazu sogleich Rn. 122 ff. (C. III.). 265 So bei Mager (Fn. 200), S. 1086 („Verhältnismäßigkeit […] eindeutig dann nicht der Fall, wenn […]
dieser Unterschied durch Sachgründe getragen wird“) und Hwang (Fn. 105), S. 53. Nur ein Lippenbekenntnis zur Verhältnismäßigkeit auch bei Block (Fn. 124), S. 316 („entspricht […] den Interessen aller Beteiligten und ist demnach verhältnismäßig“). 266 Deutlich dafür etwa Paehlke-Gärtner, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Bd. 1, 2002, Art. 3 I Rn. 133; grundsätzlich skeptisch etwa Stein (Fn. 91), Art. 3 Abs. 1 Rn. 36. 267 Ebenso etwa Berkemann, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, DVBl. 2018, S. 741 (746 f.); Brüning (Fn. 54), S. 671. 268 Die Verfreiheitsrechtlichung der Gleichheitssätze unterläuft aber auch sonst gelegentlich. Sogar von „Eingriffen“ hat man schon gesprochen, siehe BVerfGE 124, 300 (338) – Wunsiedel (2009) im Kontext des Konkurrenzverhältnisses von Art. 3 Abs. 3 zu Art. 5 Abs. 1 GG. 269 Vgl. Kempny/Reimer (Fn. 2), besonders S. 49, 54 f.; ähnlich Jarass (Fn. 37), S. 2549. 270 Ähnlich wie hier Pietzcker (Fn. 21), Rn. 37, und wohl auch Kirchhof, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Philipp Reimer
C. Rechtfertigung über tragfähige Unterschiede
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Dass gerade mit der Verbindung von Handeln und Unterlassen ein Zweck verfolgt wird, 124 ist möglich, aber nicht notwendig der Fall.271 Geeignet ist eine Ungleichbehandlung nämlich von vornherein nur für bestimmte Zwecktypen, im Wesentlichen zwei: – die Setzung eines Verhaltensanreizes, der gerade aus der Behandlungsdifferenz folgt;272 – die Veränderung eines Ungleichheitsmaßes (etwa: des Vermögens, Einkommens oder beruflichen Fortkommens), die nur durch relative Besser- oder Schlechterstellung gewisser Personen(gruppen) bewirkt werden kann (und die typischerweise auf Verringerung der Ungleichheit, also „Gleichstellung“, gerichtet ist273). Soweit keine Anreizsetzungs- oder Gleichstellungszwecke im Raume stehen, muss sich 125 die Ungleichbehandlung dagegen nur begründen lassen.274 Zwar werden die Zwecke auch bei Abwehrfreiheitsrechtseingriffen natürlich konstruiert und einem staatlichen Handeln unterlegt (was im Vorfeld geschehen kann, aber nicht selten im Nachhinein passieren wird, gerade durch ein Verfassungsgericht im Zusammenhang der Verhältnismäßigkeitsprüfung). Wiewohl dies auch bei den Ungleichbehandlungen konstruktiv möglich wäre, liegt es nicht ebenso nahe, dass jemand hiermit (und nicht nur mit ihrer Handlungsseite) wirklich jedes Mal einen Anreizsetzungs- oder Gleichstellungszweck verfolge. Ansonsten geht es aber doch nur darum, eine Begründung dafür zu finden, weshalb man U und V unterschiedlich behandelt. Diese wird vermutlich mindestens ebenso häufig im Nachhinein erst gesucht werden müssen wie bei der Zweckbestimmung (weil es oftmals gar nicht in den Sinn kommen wird, es anders zu machen). Ausgerechnet die – wissenschaftlich inzwischen mit Recht vielfach abgelehnte – Ver- 126 gleichbarkeitslehre275 unterstreicht diesen Zusammenhang, indem sie bestimmte Ungleichbehandlungen zulässt, ohne insoweit auf Zwecke zu rekurrieren. 2. Das Schwereproblem
Auch auf der Grundlage einer Zwecklogik passt doch die Anwendung der Verhältnis- 127 mäßigkeitsprüfung nach Freiheitsrechts-Vorbild nicht auf die Gleichheitssätze.276 Denn GG, Stand: September 2015, Art. 3 Abs. 1 Rn. 243. Anders aber viele, etwa Stern, Das Gebot zur Ungleichbehandlung, in: FS Dürig, 1990, S. 207 (213); Stein (Fn. 86), S. 205. Auch Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 (549), rechnet für „eine gestaltungsbedingte Ungleichbehandlung“ mit der „Verfolgung des Gestaltungsziels“; ähnlich auch Epiney (Fn. 27), S. 440: die Gesetzgebung verfolge „in aller Regel (…) mit der jeweiligen Differenzierung bestimmte Ziele“ – gegebenenfalls implizit (S. 441 mit Fn. 95, S. 452). 271 In diese Richtung auch Brüning (Fn. 54), S. 671; Heun (Fn. 28), Art. 3 Rn. 35.1–35.2; Machado (Fn. 30), S. 130 f. und öfter; Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz, JA 2000, S. 170 (172). Differenzierend Albers (Fn. 29), S. 947. 272 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 13.5.1986, Rs. 170/84, Weber von Hartz, Rn. 37: Anreiz gegen Teilzeitbeschäftigung; aus dem Schrifttum vgl. Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 143 f.; Kischel (Fn. 48), Art. 3 Rn. 35.2 (mit Beispiel). 273 Zum scheinbaren Paradox der Angleichung durch Ungleichbehandlung vgl. nur Reimer (Fn. 208), Rn. 2–4 m. w. N. 274 Ihr Zweck ist insofern höchstens, „gerecht zu sein“ – so formuliert Huster (Fn. 28), S. 170, in Bezug auf seine „internen Zwecke“; siehe auch Brüning (Fn. 54), S. 672. 275 Siehe oben Rn. 12 ff. (A. II.). 276 Ebenso – für den Bereich seiner „internen Zwecke“ – Huster (Fn. 28), S. 170 f. Philipp Reimer
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
beide charakteristischen Bestandteile der Verhältnismäßigkeit277 – Erforderlichkeit und Angemessenheit – setzen die Möglichkeit voraus, Ungleichbehandlungen als „schwerer“ oder „milder“ zu beurteilen, um sie dann miteinander vergleichen zu können.278 Dass die „Schwere“ über die Rechtfertigungsanforderungen entscheiden soll, ist als 128 dogmatische Figur aus dem Bereich der Freiheitsrechte bekannt.279 Im Gleichheitsbereich gibt es dafür jedoch – trotz gelegentlicher Bezugnahme280 – bisher keine wirklich überzeugenden dogmatischen Angebote,281 will man nicht inkonsequent zu einem Schwerevergleich der Handlungsseite der Ungleichbehandlung282 übergehen.283 a) Schwere der Anknüpfung 129
Eine Erforderlichkeitsprüfung ohne Schwereproblem erscheint immerhin dort möglich, wo kein skalarer Vergleich (der Ungleichbehandlung mit einer anderen Ungleichbehandlung), sondern nur ein binärer Vergleich (mit der Alternative des Verzichts auf die tatbestandsmäßige Ungleichbehandlung) durchgeführt werden muss. Insbesondere fällt für die anknüpfungsabhängigen Gleichheitssätze der Verzicht auf die Anknüpfung an das verpönte Merkmal hierunter, der aus Sicht dieser Gleichheitssätze stets insofern „milder“ ist, als er ja deren Tatbestand gar nicht mehr eröffnet.284 Aber auch bei nicht-anknüpfungsabhängigen Gleichheitssätzen kann es gerade die Anknüpfung an ein bestimmtes Differenzierungskriterium285 sein – etwa eine unverfügbare Eigenschaft der Person286 –, die problematisch erscheint und eine Verzichtsalternative nahelegt.287 277 Vgl. zur Struktur Reimer, Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.),
Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 60 (insb. 66 zum Enthaltensein der Geeignetheit in der Erforderlichkeit). Zum Problem der Geeignetheit von Ungleichbehandlungen siehe auch Albers (Fn. 29), S. 947; Nußberger (Fn. 29), Art. 3 Rn. 19 („geht im Ergebnis über ein Willkürverbot nicht hinaus“). 278 Das setzt etwa die Wendung „Grad der Ungleichbehandlung“ in BVerf GE 99, 165 (178) – BAföGElternanrechnung (1998); BVerfGE 102, 68 (87) – Krankenversicherung der Rentner (2000) oder bei Jarass (Fn. 17), Art. 3 Rn. 21 voraus. Ähnliche Formulierungen bei Odendahl (Fn. 271), S. 172; Martini (Fn. 161), S. 270; Kloepfer (Fn. 27), S. 63. 279 Siehe etwa zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung Gusy, Die „Schwere“ des Informationseingriffs, in: FS Schenke, 2011, S. 395 (399). 280 Von einer „vergleichsweisen Unbeträchtlichkeit“ spricht etwa BVerf GE 10, 59 (78) – Stichentscheid (1959); BVerfGE 19, 177 (183) – Ehenamensübertragung bei Adoption (1965); „weniger weit von den Anforderungen des Gleichheitssatzes entfernte“ Lösungen kennt Sachs (Fn. 15), S. 1569. 281 Zum Problem schon Vogel (Fn. 72), S. 66; Heun (Fn. 28), Art. 3 Rn. 31; Kempny/Reimer (Fn. 2), S. 141 f., 145 f. Auch die differenzierten Überlegungen zur Angemessenheit bei Britz (Fn. 29), S. 164–177, verhalten sich hierzu letztlich nicht. 282 Siehe Rn. 123. 283 In diese Richtung aber EuGH, Urt. v. 22.5.2014, Rs. C-356/12, Glatzel, Rn. 43 (in der französischen und englischen Fassung deutlicher als in der deutschen) m. w. N. 284 Ähnlich Block (Fn. 124), S. 297; Grünberger (Fn. 41), S. 689. Der Sache nach prüft dies auch BVerfGE 92, 91 (110) – Feuerwehrabgabe II (1995); ein weiteres Beispiel liefert Richter (Fn. 39), Rn. 53. 285 Siehe Rn. 44 ff. (C. I. 2.). 286 Im Gegensatz etwa zur Anknüpfung an ein Verhalten, Martini (Fn. 161), S. 271 f.; siehe auch Rn. 61 ff. (C. I. 3. b)). Das Kriterium gebraucht auch die Neue-Formel-Rechtsprechung, siehe schon BVerfGE 55, 72 (89) – Präklusion I (1980). 287 Von „einem gleichheitsneutralen Weg“ spricht insoweit Grünberger (Fn. 41), S. 379 (zu § 53a AktG; Philipp Reimer
C. Rechtfertigung über tragfähige Unterschiede
753
Dieser Zusammenhang nötigt aber nicht zum Gebrauch des Begriffs „Verhältnismäßig- 130 keit“, sondern fügt sich gut in die Unterschiedsbewertung im Sinne der „zwingenden Gründe“ ein288. b) Schwere der Ungleichbehandlung selbst
(1) In der Rechtsprechung wird unter „geringerer Benachteiligung der Betroffenen“ 131 gelegentlich eine geringere Zahl von Betroffenen verstanden.289 Das dürfte aus der Sicht der verbleibenden Benachteiligten allerdings ein schwacher Trost sein;290 deren Position wird womöglich sogar verschlechtert, wenn sie als kleinere Gruppe nach Abfischung der deutlichsten Härtefälle nur noch geringere Möglichkeiten zur Artikulation ihrer Interessen haben. Neben dieser Ambivalenz der „Milde“ einer Ungleichbehandlung, die nur eine geringe Zahl von Personen benachteiligt, werden die im Ausgangspunkt doch individualschützenden Gleichheitssätze hier kollektivistisch verfremdet.291 (2) Milder könnte man alternativ auch eine Ungleichbehandlung finden, bei der eine 132 geringere Diskrepanz zwischen Handlungsbetroffenheit und Unterlassungsbetroffenheit besteht.292 Um dies festzustellen, benötigt man ein skalierbares Maß, das nicht in allen Fällen zur Verfügung stehen wird. Immerhin bei monetären (Gewährung oder Auferlegung von Zahlungen)293 und zeitbezogenen Handlungen (Urlaubstage, Kündigungsfristen)294 könnte man aber eine betragsmäßig geringere Maßnahme zugleich auch im Verhältnis zum nicht betroffenen Vergleichsfall als eine weniger schwerwiegende Ungleichbehandlung ansehen. (3) Des Weiteren wäre es möglich, eine Ungleichbehandlung als milder anzusehen, 133 wenn sie eine geringere Ungleichheitsveränderung bewirkt.295 Auch dazu brauchte man ein skalierbares Maß, etwa die Veränderung des Einkommens- oder des Vermögensunterschieds zwischen den Vergleichsfällen durch die Ungleichbehandlung. es folgt dann aber auch noch eine komparative Wendung: „schonenderes gleichheitsfreundliches Mittel“); siehe auch Langeloh, Die Zulässigkeit von finanziellen Einheimischenprivilegierungen, 2016, S. 88. 288 Siehe Rn. 114 (C. II. 4. b)). 289 So BVerfGE 151, 101 (141) – Stiefkindadoption (2019); deutlich anders aber noch BVerfGE 23, 74 (83) – Vermögensteuerfreibeträge (1968). Aus dem Schrifttum Kloepfer (Fn. 27), S. 63. Zu den Gleichbehandlungsrichtlinien Burg (Fn. 42), S. 116. 290 Tendenziell kritisch auch Huster (Fn. 28), S. 277 f. (im Kontext der „Typisierungen“). 291 Eine andere Wertung der geringeren Anzahl ergibt sich, wenn man einen Gleichheitssatz wie Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG als „gruppenbezogenes Diskriminierungsverbot“ auffasst wie Sacksofsky (Fn. 39), S. 370; auch für andere Gleichheitssätze sei „gruppenbezogenes Denken“ angezeigt: ebd., S. 415. Den richtigen Zuschnitt des Betroffenenkreises macht zum Kriterium auch Stein (Fn. 91), Art. 3 Abs. 1 Rn. 42. 292 Martini (Fn. 161), S. 272; Jarass (Fn. 37), S. 2549; in diese Richtung auch Sacksofsky (Fn. 39), S. 370 („Ausmaß der Benachteiligung“); Brüning (Fn. 54), S. 672. 293 So etwa Huster (Fn. 28), S. 172 (für „eine weniger hohe Steuervergünstigung“); Grünberger (Fn. 41), S. 379 (für einen geringeren Nennbetrag neuer Aktien). 294 So in BVerfGE 82, 126 (146) – Kündigungsfristen (1990), wo die Ungleichbehandlung „beträchtlich“ genannt wird. 295 Hierher gehört die Frage nach betriebsinterner Umsetzung als Alternative zur Kündigung, vgl. EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, Achbita, Rn. 42 f. Philipp Reimer
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
3. Positivrechtliche Anwendungsfälle 134 Ungeachtet des Zweck- und des Schwereproblems wird ein Rechtfertigungsmaßstab der
verhältnismäßigen Zweckverfolgung inzwischen bei einer Reihe von Gleichheitssätzen praktiziert oder gar legislativ vorgeschrieben. Im letzteren Falle muss die Gleichheitssatzdogmatik mit dieser Vorgabe selbstverständlich arbeiten und sich bemühen, ihre abstrakt gewonnenen Erkenntnisse über notwendige Regelungsstrukturen für die positivrechtliche Lage fruchtbar zu machen; im ersteren Falle sollten die Annahmen der entsprechenden Praxis nach Möglichkeit dekonstruiert und vorzugswürdige Alternativen vorgeschlagen werden. 135 Die verhältnismäßige Zweckverfolgung tritt als Merkmal eines Gleichheitssatzes entweder (1) als alleinige Rechtfertigungsmöglichkeit – sei es (a) generell wie bei Art. 14 EMRK296 oder (b) in einem Ausschnitt seines Anwendungsbereichs wie teilweise zu Art. 3 Abs. 1 GG vertreten297 – oder (2) als alternative Rechtfertigungsmöglichkeit neben dem „tragfähigen Unterschied“ wie teilweise zu Art. 3 Abs. 3 GG vertreten298 in Erscheinung. Bei Art. 3 Abs. 1 GG wurde im Anschluss an missverständliche Äußerungen des Bun136 desverfassungsgerichts, das seit 1993 im Rahmen der Unterschiedsbewertung299 von einer möglichen „Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse“ spricht,300 im Schrifttum schon länger der gänzliche (= 1a) oder teilweise (= 1b) Übergang zu einer Rechtfertigung durch verhältnismäßige Zweckverfolgung nach Freiheitsrechts-Vorbild gefordert.301 In 296 Wo die Rechtsprechung „a legitimate aim“ und „a reasonable relationship of proportionality between
the means employed and the aim sought to be realised“ verlangt; Zitat: EGMR, Urt. v. 24.1.2017, Beschwerde-Nr. 60367/08 und 961/11, Khamtokhu und Aksenchik v. Russland, Rn. 64; vgl. nur Meyer-Ladewig/Lehner, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer (Hrsg.), EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 14 Rn. 9. – Auch zu Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG hält nur eine zwecklogische Rechtfertigung für möglich Sacksofsky (Fn. 39), S. 367–371. 297 Nämlich für die nach herrschender Meinung strenger zu beurteilenden Ungleichbehandlungen (vgl. Rn. 109), wenn man hier mit einigen Literaturstimmen und einzelnen Judikaten mit einer vierstufigen Verhältnismäßigkeitsprüfung ernst macht; siehe sogleich im Text und die Nachweise Fn. 301 und 302. 298 Wenn hier neben den zwingenden Gründen (vgl. Rn. 113 ff. (C. II. 4. b))) auch eine „Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht (…) auf der Grundlage einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung“ für möglich gehalten wird; Zitat: BVerfGE 151, 1 (26) – Betreutenwahlrecht (2019); siehe auch Jarass (Fn. 17), Art. 3 Rn. 117. Zum Problem des kollidierenden Verfassungsrechts bereits oben Rn. 25 (B. I. 2.). – Von einem „Ziel“ der Regelung spricht BVerfGE 15, 337 (343) – Höfeordnung (1963), jedoch nur als vermeintlich prägnante Zusammenfassung des Gesichtspunkts der „biologischen oder funktionalen Unterschiede“, also gerade im Rahmen der Differenzlogik (siehe Rn. 67, 69, 95, 98). 299 Siehe Rn. 74 ff. (C. II.). 300 So erstmals BVerfGE 88, 87 (96) – Transsexuellengesetz II (1993); siehe auch bereits Sondervotum Katzenstein, BVerfGE 74, 9, 28 (30) – Arbeitslosengeld für Studierende (1986). 301 Kloepfer (Fn. 27), S. 62 f.; Rüfner (Fn. 17), Art. 3 Rn. 97; Huster (Fn. 28), besonders S. 239–244; Huster (Fn. 270), S. 549; Epiney (Fn. 27), S. 455 f.; Martini (Fn. 161), besonders S. 266–272; Michael (Fn. 29), S. 263–267; Brüning (Fn. 54). In der Lehrbuchliteratur aufgenommen etwa von Hufen, Staatsrecht II, 9. Aufl. 2021, § 39 Rn. 16; Kingreen/Poscher, Grundrechte, 37. Aufl. 2021, Rn. 599, in der KommentarliteraPhilipp Reimer
D. Zusammenfassende Würdigung
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bisher vereinzelten Entscheidungen von 2005, 2014 und 2019 hat das Gericht dann die Unterschiedsbewertung jedenfalls äußerlich in eine vierstufige Verhältnismäßigkeitsprüfung umgeformt.302 Dies soll allerdings nicht im ganzen Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 1 GG gelten, vielmehr für den einfachen Sachlichkeitsmaßstab Raum bleiben303; die Abgrenzung geschieht seit 1993 „nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen“.304 Die Umformung in eine Verhältnismäßigkeitsprüfung begegnet insbesondere vor dem Hintergrund von Zweck- und Schwereproblem persistenter Kritik.305 Gegenüber dem Gleichheitssatz des § 7 Abs. 1 AGG stellen die zur Verfügung stehen- 137 den Rechtfertigungsgründe überwiegend auf verhältnismäßige Zweckverfolgung ab. Bei § 8 Abs. 1 („wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung (…), sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist“) und § 10 („objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt“) ebenso wie § 5 AGG („geeignete und angemessene Maßnahmen“)306 ist die Zwecklogik schon vom Wortlaut her deutlich als alleinige Rechtfertigungsmöglichkeit angelegt.307
D. Zusammenfassende Würdigung Die Prüfungsstufe der Rechtfertigung ist der zentrale Ort für wertende Entscheidungen im 138 Rahmen der Anwendung eines Gleichheitssatzes. Als dogmatische Konstruktion konkurriert sie um diese Zentralität mit der Idee der „Vergleichbarkeit“ oder „wesentlichen Gleichheit“ der betrachteten Fälle. Auch der Rechtfertigung geht es um das Verhältnis der Vergleichsfälle, nämlich deren (wirkliche oder zugeschriebene) Unterschiedlichkeit. Bewertet tur etwa von Jarass (Fn. 17), Art. 3 Rn. 21 f.; Paehlke-Gärtner (Fn. 266), Art. 3 I Rn. 133, 138. Dem folgend etwa Langeloh (Fn. 287), besonders S. 87–89. Siehe auch die Nachweise bei Wollenschläger (Fn. 69), Art. 3 Abs. 1 Rn. 108–114. Den Meinungsstand systematisiert Osterloh (Fn. 207), S. 143. 302 BVerfGE 113, 167 (231–262) – Risikostrukturausgleich (2005); BVerfGE 138, 136 Rn. 127 – Erbschaftsteuer (2014); BVerfGE 151, 101 Rn. 76–122 – Stiefkindadoption (2019). Von einer „Verhältnismäßigkeitsprüfung“ spricht zwar BVerfGE 132, 179 Rn. 33 – Grunderwerbsteuer (2012), ohne sie jedoch im freiheitsrechtlichen Sinne durchzuführen; ersichtlich ohne weitere Verhältnismäßigkeitsassoziationen spricht von „einem angemessenen Verhältnis“ BVerfGE 82, 126 (146) – Kündigungsfristen (1990). 303 Siehe Rn. 103, 109 (C. II. 4. a) aa) und cc)). 304 BVerfGE 88, 87 (96) – Transsexuellengesetz II (1993). 305 Siehe Sachs (Fn. 69), S. 129; Stein (Fn. 91), Art. 3 Abs. 1 Rn. 35–43; Heun (Fn. 28), Art. 3 Rn. 27–31; Kischel (Fn. 48), Art. 3 Rn. 34–36.1; Wollenschläger (Fn. 69), Art. 3 Abs. 1 Rn. 127–131 (m. w. N. Rn. 115– 117); Reimer, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 26.3.2019, 1 BvR 673/17, JZ 2019, S. 620 (622). Dass es zumindest um eine Prüfung „anderer Struktur“ geht, betont auch Odendahl (Fn. 271), S. 172. 306 § 5 AGG lässt sich freilich durch den Hinweis auf „bestehende Nachteile“ als Unterschied zwischen den Vergleichsfällen ohne Schwierigkeiten in der Differenzlogik abbilden. Das Erfordernis von Geeignetheit und Angemessenheit der Nachteilsverhinderungs- oder -ausgleichsmaßnahmen wäre dann Kriterium der Tragfähigkeitsbewertung bezüglich des Nachteilsunterschieds. 307 Anders liegt es prima facie bei der Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften nach § 9 Abs. 1 AGG („gerechtfertigte berufliche Anforderung“); siehe hierzu jetzt aber die richtlinienorientierte Interpretation durch BAG, Urt. v. 25.10.2018, 8 AZR 501/14. Philipp Reimer
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§ 17 Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
werden muss, ob diese Unterschiedlichkeit die Ungleichbehandlung tragen kann. Für die Gleichheitssätze drängt sich damit eine „Differenzlogik“ auf, die sich von der „Zwecklogik“ der Abwehrfreiheitsrechte und der dazugehörigen Verhältnismäßigkeitsdoktrin signifikant unterscheidet.
Philipp Reimer
Vierter Teil: Durchsetzung von Antidiskriminierungsrecht
§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung Emanuel V. Towfigh* Inhaltsübersicht Rn. A. Ziele des Einsatzes empirischer Methoden im Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . I. Empirie zur Feststellung von Diskriminierung anhand bestimmter Merkmale . . . . . . . . . . . II. Empirie zur Feststellung bestimmter Merkmale zur Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dilemma der Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Diskriminierung durch Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 9 13 15 20
B. Grundlagen empirischer Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Theorie, Modell und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die theoretisch-empirische Wissensspirale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Frequentistisch-probabilistische Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Theorien und Modelle in der juristischen Antidiskriminierungsforschung . . . . . . . . . . . . III. Operationalisierung der Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Experimentaldaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Felddaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Big Data“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Deskriptive Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mittelwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Streuungsmaße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Inferenz- und Bayesianische Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Stichproben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Testen von Zusammenhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Regressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Anforderungen an die Messung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reliabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Validität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27 27 34 34 37 38 40 44 45 47 50 52 56 60 64 68 73 77 78 82 93 94 98 99
* Für vielfältige Unterstützung und Hinweise bei der Erstellung dieses Manuskripts danke ich Christoph
Engel, Anna Katharina Mangold, Mehrdad Payandeh, Katharina Towfigh und Katharina Wommelsdorff sowie Jan Keesen und meinem Lehrstuhl-Team. Alle verbleibenden Unzulänglichkeiten und Fehler sind selbstverständlich allein mir zuzuschreiben. Emanuel V. Towfigh
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§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
a) Statistische Validität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Interne Validität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Externe Validität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Testing-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101 102 104 106
C. Fehlerquellen beim Einsatz empirischer Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verzerrung durch ausgelassene Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bayes-Theorem und Basisraten-Fehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kognitive Täuschungen bei Entscheider*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
114 115 116 123
D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Ziele des Einsatzes empirischer Methoden im Antidiskriminierungsrecht 1
Bei der rechtlichen Bewertung von Ungleichbehandlungen stellt sich unweigerlich die Frage des Nachweises von Diskriminierung – ganz gleich welcher Art die Diskriminierung sein mag (ob mittelbar oder unmittelbar), weswegen diskriminiert wird (sei es etwa wegen des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Religion oder Herkunft oder durch das intersektionale Zusammenwirken von Diskriminierungskategorien) oder wer diskriminiert (ob Private oder der Staat).1 Denn nicht jeder Ungleichbehandlung oder Benachteiligung liegt eine rechtlich relevante Diskriminierung zu Grunde, und nicht jede subjektiv empfundene Diskriminierung ist objektiv als solche einzustufen;2 umgekehrt können scheinbar harmlose Differenzierungen scharf diskriminieren, und gerade vage und deutungsoffene Konzepte bieten Raum für diskriminierende Unterscheidungen, die in der Folge glaubhaft bestritten werden können (plausible deniability).3 Neben Diskriminierungen, die sich unmittelbar in einem konkreten Einzelfall durch bewusstes oder unbewusstes Handeln von Individuen offenbaren, ist der Nachweis solcher Diskriminierungen von Bedeutung, die systemisch sind – Konstellationen also, in denen äußere Gegebenheiten und Umstände oder besondere Verfahren diskriminierendes Verhalten strukturell begünstigen und zu systematischer Benachteiligung führen können.4 Mit wachsender gesellschaftlicher Vielfalt treten solche diskriminierenden Strukturen stärker zu Tage, und es zeigt sich ein Bedarf an Werkzeugen, diese sichtbar zu machen. Nur wenn es gelingt, mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Methoden auch die diskriminierenden Mechanismen zu identifizieren, können Gesellschaft und Rechtsstaat in ihrem Verantwortungsbereich gegensteuern. 1 Makkonen, Measuring Discrimination, Data Collection and EU Equality Law, 2007, S. 28 ff.; → Muthorst, § 19. 2 Zu Begriff und Konzept der Diskriminierung → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 2 ff. 3 Siehe van Reenen, Maintaining Plausible Deniability, International Journal for Educational Sciences 13 (2016), S. 18 ff.; Liu/Mills, Modern Racism and Neoliberal Globalization, Journal of Community and Applied Social Psychology 16 (2006), S. 83 ff.; Foblets, Freedom of religion and belief in the European workplace, International Journal of Discrimination and the Law 13 (2013), S. 240 (250). 4 → Sacksofsky, § 14 Rn. 101 ff.
Emanuel V. Towfigh
A. Ziele des Einsatzes empirischer Methoden im Antidiskriminierungsrecht
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Hierzu bedarf es evidenzbasierter, intersubjektiv vermittelbarer – also methodischer – Maßstäbe und Werkzeuge, die es ermöglichen, Diskriminierung nachzuweisen oder zu widerlegen; die Empirik hält solche vor: Diskriminierungen lassen sich mit Hilfe statistischer Testverfahren nachweisen. Die Analyse einer Stichprobe erlaubt unter strengen Voraussetzungen den induktiven Schluss auf alle denkbaren Fälle (Population), wobei die statistischen Methoden Auskunft darüber geben, unter welchen Bedingungen und mit welcher Sicherheit wir diesen Schluss ziehen können.5 Dem Antidiskriminierungsrecht ist die Einbeziehung empirischer Methoden nicht fremd. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)6 beispielsweise ermöglicht einen Rückgriff auf statistische Analysen und Quotenvergleiche (also bspw. den Vergleich des Frauenanteils in Führungspositionen mit dem Anteil der im Unternehmen insgesamt beschäftigten Frauen),7 um Verstöße gegen das Benachteiligungsverbot nachzuweisen. Die Modifikationen der Beweislastregeln für Diskriminierungsfälle und die explizite Erwähnung von Testing-Verfahren zum Beweis einer Diskriminierung im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum AGG zeigen die Offenheit des Gesetzgebers für die Heranziehung empirischer Methoden bei der Gesetzesanwendung.8 Dabei ist die Anwendung empirischer Methoden in juristischen Kontexten nicht neu.9 Die Gesetzgebung etwa macht sich quantitative Methoden bereits im Rahmen der Gesetzesfolgenabschätzung und der Begründung verhaltenslenkender regulatorischer Maßnahmen zunutze; der Schritt hin zu einer Gesetzgebung, die mit Hilfe empirischer Einsichten faktische Diskriminierung bereits im Gesetzgebungsprozess antizipiert und aktiv gegensteuert, ist da nicht mehr weit. Empirische Forschung – und die durch sie eröffnete Möglichkeit eines Blicks auf die Mechanismen von Diskriminierung – kann darüber hinaus ein wichtiges Instrument zu ermessensfehlerfreier Kompetenzausübung in der Exekutive sein.10 Hier sei an die Debatte um Racial Profiling durch Polizeibehörden erinnert: Polizeibehörden (und Innenminister) weisen diskriminierendes polizeiliches Handeln mit den Mitteln des Racial Profiling weit von sich,11 während individuelle Erfahrungen von Bürger*innen mit Migrationshintergrund ein anderes Bild zeichnen und an der Einschätzung der Behörden zweifeln lassen. Eine nach allen Regeln der wissenschaftlichen Kunst durchgeführte empirische Studie könnte diese Debatte versachlichen und zur Befriedung des Diskurses beitragen. 5 Goerg/Petersen, in: Towfigh/Petersen, Ökonomische Methoden im Recht, 2. Aufl. 2017, § 7, Rn. 394. 6 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer
Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897.
7 BT-Drs. 16/1780, S. 47; Bayreuther, „Quotenbeweis“ im Diskriminierungsrecht?, NJW 2009, S. 806; kri-
tisch hierzu BAG, Urt. v. 22.7.2010, 8 AZR 1012/08.
8 Hierzu auch unten Rn. 106 ff. (B. VIII.). 9 Engel, Empirical Methods for the Law, Journal for Institutional and Theoretical Economics 174 (2018),
S. 5 (15).
10 Christensen, Statistik vor Gericht, ASta Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv 8 (2014), S. 81 (87);
Ihden, Die Relevanz statistischer Methoden in der Rechtsprechung und mögliche Implikationen für die juristische Ausbildung, 2018, S. 18 (32 ff.). 11 Deutsches Institut für Menschenrechte, Stellungnahme, Racial Profiling: Bund und Länder müssen polizeiliche Praxis überprüfen, Zum Verbot rassistischer Diskriminierung, Juli 2020; → Tischbirek, § 26. Emanuel V. Towfigh
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§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
Empirische Forschung kann schließlich der Rechtsprechung dienlich sein, wenn diese bei der Rechtsfindung auf statistische Befunde zurückgreifen kann, etwa wenn sie das Verhalten der Streitparteien bewertet oder die Ermessensausübung der Verwaltung kontrolliert.12 So hat etwa das Oberverwaltungsgericht Münster eine Identitätsfeststellung für rechtswidrig erklärt, bei der die Polizei den Gefahrenverdacht unter anderem mit der „Hautfarbe“ des kontrollierten Mannes begründet hatte.13 Die Behörde behauptete, am Ort der Kontrolle – einem Bahnhof – würden Straftaten überwiegend von Männern „nordafrikanischer“ oder „schwarzafrikanischer“ Herkunft begangen. 7 Aber auch die teleologische Auslegung, Verhältnismäßigkeitsprüfungen im Verfassungsrecht sowie die Normkonkretisierung durch Gerichte können von einem Rückgriff auf Empirie profitieren.14 Die Einschätzung der Schwere einer Grundrechtsbeeinträchtigung in einem konkreten Fall ist in der Regel eine Tatfrage, der Rückgriff auf empirische Einsichten also angebracht.15 Damit dieser Rückgriff gelingen kann, ist empirische Methodenkenntnis unabdingbar, um nicht Gefahr zu laufen, eine juristische Argumentation auf statistische Befunde zu stützen, die die Schlussfolgerung nicht umfassend tragen, wie dies etwa bei der Rauchverbot-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts der Fall war.16 8 Freilich wohnt allen empirischen Befunden die epistemische Unsicherheit inne, die jedes Wissen relativiert; auch Daten und statistische Analysen stellen keine objektive Wahrheit dar. Dennoch ist statistische Evidenz, sofern sie methodenstreng gewonnen wird, im Hinblick auf Diskriminierung zuverlässiger als intuitive Plausibilisierungen aufgrund individueller Erfahrungen (anekdotische Evidenz). Das Antidiskriminierungsrecht sollte daher die empirischen Methoden als wichtige Verbündete erkennen, mit deren Hilfe sich die Konturen dieses Rechtsgebiets schärfen und Ungleichbehandlungen methodenstreng nachweisen lassen. 6
I. Empirie zur Feststellung von Diskriminierung anhand bestimmter Merkmale 9 Um empirische Argumente führen oder widerlegen und um Diskriminierung mit ihrer
Hilfe nachweisen zu können, sind Grundkenntnisse der entsprechenden Methoden und Wachsamkeit im Umgang mit Fallstricken und Hürden für all jene unabdingbar, die sich mit Diskriminierung auseinandersetzen müssen. In diesem Zusammenhang ist es auch
12 BAG, Urt. v. 21.6.2012, 8 AZR 364/11; OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 47 ff., 70. 13 OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 47 ff., 71 ff. 14 Petersen, Braucht die Rechtswissenschaft eine empirische Wende?, Der Staat 49 (2010), S. 435 (446);
Gloeckner/Towfigh, Geschicktes Glücksspiel, JZ 2010, S. 1027 ff.; Towfigh, Empirical arguments in public law doctrine, International Journal of Constitutional Law 12 (2014), S. 670 (676 f.). 15 Vgl. BVerfGE 121, 317 (355 und 364) – Rauchverbot in Gaststätten (2008); Petersen (Fn. 14), S. 449 ff. 16 Petersen (Fn. 14), S. 451; siehe auch unten Rn. 93 ff. (B. VII.) – Die Vermittlung eines minimalen Grundverständnisses ist auch unentbehrlich, will man völlig absurde Äußerungen von Juristen wie jüngst jene des Trump-Lagers bei der Anfechtung der US-Präsidentschaftswahlen 2020 vermeiden, die einen ganzen Berufsstand in Misskredit zu bringen und das Vertrauen in die Rechtspflege zu stören geeignet sind, vgl. Motion for Leave to file a Bill of Complaint, State of Texas v. Commonwealth of Pennsylvania u. a., 7.12.2020, dort S. 8. Emanuel V. Towfigh
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für Jurist*innen notwendig, die Eignung empirischer Befunde für die Beantwortung einer Tat- oder Rechtsfrage einschätzen, statistische Ergebnisse richtig „lesen“ und interpretieren sowie methodische Grenzen oder Fehler erkennen zu können; erforderlich sind mithin spezifisch juristisch ausgeprägte empirische Fähigkeiten („Rechtsempirie“), die sich in Teilen etwa von der empirischen Sozialforschung unterscheiden. Das gilt nicht nur für Spezialist*innen im Bereich des Antidiskriminierungsrechts: Rechtsprechung, Verwaltung und Gesetzgebung sind immer wieder mit Diskriminierungsfällen oder Diskriminierungsprävention konfrontiert und sollten zumindest in der Lage sein, empirische Befunde kompetent zu rezipieren.17 Das Argument, das mithilfe empirischer Methoden geführt werden soll, hat dabei 10 folgende Grundstruktur: Man betrachtet eine zufällig gezogene Stichprobe und erzeugt anhand aller zu diesen Personen vorliegenden Merkmale und Kontrollvariablen gleichsam „statistische Zwillinge“, die sich am Ende aufgrund statistischer Kontrollen nur mehr hinsichtlich „diskriminierender“ Merkmale unterscheiden, so dass man abgesehen von den untersuchten Merkmalen Gleiches mit Gleichem vergleicht. Nun wird untersucht, ob ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen der zu erklärenden („abhängigen“) Variable (etwa Gehalt) und einer oder mehreren erklärenden („unabhängigen“) Variablen (etwa Geschlecht oder Umsatz) besteht – ob mit anderen Worten die „statistischen Zwillinge“, die sich nur hinsichtlich der unabhängigen Variablen unterscheiden, ungleiche Werte bei der abhängigen Variablen aufweisen. Beispielsweise könnte in einem Unternehmen die Variable „Gehalt“ bei Vorliegen des Merkmals „weiblich“ – ceteris paribus, also etwa bei statistischer Kontrolle für die Höhe des erwirtschafteten Umsatzes – signifikant niedriger sein, wenn die Stichprobe anhand der Variablen „Geschlecht“ geteilt wird. Wenn rechtsempirisch ein Unterschied gezeigt werden kann, für den es keine rechtlich zulässige Rechtfertigung gibt, dann ist eine Diskriminierung nachgewiesen.18 Ferner erlauben sogenannte Interaktionseffekte, auch intersektionale Diskriminierung 11 sichtbar zu machen:19 Von Interaktionseffekten spricht man, wenn das gemeinsame Auftreten zweier oder mehrerer erklärender Variablen einen Effekt auf die zu erklärende Variable hat oder die Kombination die Art und Größe des Effekts verändert. Das ist freilich begrifflich zunächst etwas anderes als die wichtige und im Antidiskriminierungsrecht vieldiskutierte Intersektionalität (etwa eine synergistische Wirkung zweier Diskriminierungsmerkmale);20 gleichwohl können statistische Interaktionseffekte ein sehr wirkungsvolles Instrument sein, um intersektionale Diskriminierung nachzuweisen. Um beim Beispiel des Zusammenhangs zwischen Gehalt und Geschlecht/Umsatz zu bleiben: Das gemeinsame Auftreten der erklärenden Variablen Geschlecht und Alter könnte einen Effekt im Hinblick auf die Höhe des Gehalts (als zu erklärende Variable) haben, der bei einer Betrachtung nur des Geschlechts oder nur des Alters der Mitarbeiter*innen nicht auftritt. 17 Petersen (Fn. 14), S. 447 f.; Towfigh (Fn. 14), S. 672. 18 Siehe unten Rn. 92 (B. VI. 3. b)). 19 Zu intersektionaler Diskriminierung → Holzleithner, § 13, und unten Rn. 92 (B. VI. 3. b)) zu Interakti-
onseffekten.
20 → Holzleithner, § 13 Rn. 37.
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§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
Die Diskussion darum, ob ein Diskriminierungs-Befund tatsächlich als nachgewiesen gelten kann, hat in der Regel zwei Stoßrichtungen: Einerseits kann hinterfragt werden, ob das Studiendesign die Regeln der Kunst beachtet. Andererseits können im Studiendesign nicht abgebildete „Alternativrechtfertigungen“ für die beobachtete Ungleichbehandlung plausibilisiert werden; dann ist der Nachweis der Diskriminierung nicht vollständig erbracht. Dabei verbleibt ein gewisses Risiko, dass trotz aller Bemühungen, dem idealen Studiendesign nahezukommen, nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass der beobachtete Effekt (auch) auf eine nicht berücksichtigte Variable zurückzuführen ist (sogenannte omitted variable), die rechtspolitisch weniger problematisch ist.21 II. Empirie zur Feststellung bestimmter Merkmale zur Diskriminierung
Wenn Empirie also ein Werkzeug ist, das genutzt werden kann, um Diskriminierung sichtbar zu machen oder nachzuweisen, so hat diese Macht doch auch eine dunkle Seite: Statistische Methoden lassen sich gleichsam in umgekehrter Richtung auch dazu nutzen, Merkmale zu identifizieren, anhand derer unterschieden oder diskriminiert werden „soll“. Das liegt etwa im Marketing auf der Hand: Unternehmen versuchen jene Merkmale zu identifizieren, die mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit auf ein Kaufinteresse der Merkmalsträger*innen schließen lassen: Im Kosmetik-Geschäft ist empirisch etabliert, dass Frauen für Hygieneprodukte eine deutlich höhere Zahlungsbereitschaft aufweisen als Männer. Und wenn die Demokratische Partei in den USA feststellt, dass unentschlossene Wähler*innen, die in einem 20-Meilen-Radius um eine Filiale der Bio-Supermarkt-Kette WholeFoods leben, sich besonders häufig für die Wahl demokratischer Präsidentschaftskandidat*innen gewinnen ließen, so kann auch dieses Wissen für den gezielten Einsatz von auf dieses Milieu zugeschnittener Wahlwerbung genutzt werden.22 14 Vor diesem Hintergrund ist wichtig zu sehen, dass empirische Methoden auch dazu beitragen können, Diskriminierung zu ermöglichen oder zu perpetuieren. Dies kann auf zweierlei Weise geschehen. 13
1. Dilemma der Differenz 15
Erstens tritt bei empirischer Forschung zu Diskriminierung ein Dilemma zu Tage, das in der feministischen Rechtswissenschaft und im Antidiskriminierungsrecht als „Dilemma der Differenz“ bekannt ist:23 Zur Untersuchung und Feststellung von Diskriminierungen ist gerade eine Differenzierung anhand jener Merkmale erforderlich, für die doch eine Differenzierung ausgeschlossen werden soll. Eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts 21 Das hängt damit zusammen, dass demographische Merkmale nicht zufällig „zugeteilt“ werden können,
was für ein über jeden Zweifel erhabenes Studiendesign erforderlich wäre.
22 Vgl. Wasserman, To Beat Trump, Democrats May Need to Break Out of the ‚W hole Foods‘ Bubble, The
New York Times v. 27.2.2020 mit weiteren Zahlen zu zahlreichen zusätzlichen Marken-Stores.
23 Holzleithner, Rechtskritik der Geschlechterverhältnisse, KJ 2008, S. 250 (252); Lembke/Liebscher, Post-
kategoriales Antidiskriminierungsrecht?, in: Philipp u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, S. 261 ff.; → Baer, § 5 Rn. 57 ff. Emanuel V. Towfigh
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lässt sich nicht feststellen, wenn die betrachteten Fälle nicht nach Geschlecht unterschieden werden; damit wird aber die Vorstellung, die Geschlechter unterschieden sich, gerade perpetuiert, die Differenz akzentuiert. Nicht zufällig sind in der Statistik insofern die Begriffe „diskriminierende Variable“ und „statistische Diskriminierung“ als termini technici gebräuchlich.24 Im Antidiskriminierungsrecht sind die Merkmale, hinsichtlich derer eine Anknüpfung 16 unterbunden werden soll, in der Regel die in § 1 AGG genannten: Rasse oder ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität. Schon dieser Katalog ist Gegenstand zahlreicher Diskussionen und wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet; das gilt umso mehr für die Operationalisierung dieser Merkmale, also die Übersetzung in empirisch erfassbare Konzepte und messbare Variablen,25 die gleichwohl unabdingbar ist, weil empirische Forschung der Einordnung von beobachtbaren sozialen Phänomenen in Kategorien und Gruppen bedarf. Das Dilemma besteht dabei darin, dass schon die Auswahl der erhobenen Daten (insbesondere persönlicher Merkmale) unter Umständen zur Entstehung und Festigung sozialer Konstrukte beitragen kann.26 Außerdem birgt die Fokussierung auf bestimmte Merkmale die Gefahr, essentialistischem Denken Vorschub zu leisten, also der Auffassung, dass Menschen sich anhand „natürlicher“ Merkmale unterscheiden und unterscheiden lassen, und dass eine auf diesen Merkmalen beruhende Ungleichbehandlung stets gerechtfertigt sei.27 Dies kann ferner dazu führen, dass der Blick von Diskriminierung und diskriminierenden Strukturen weggelenkt wird, sich auf die Diskriminierten und ihre Eigenschaften und Merkmale fokussiert und (allein) dort Grund und Ursache der Diskriminierung sucht. Ebenso problematisch ist die Tatsache, dass die Herausbildung der Merkmale unter 17 Umständen Fremdzuschreibungen enthält, die nicht nur für die mit dem Merkmal beschriebene Person unpassend sind, sondern unter Umständen auch eine Stigmatisierung beinhalten bzw. ihrerseits auf (z. B. rassistischen) Stereotypen beruhen können.28 Durch die vom methodischen Erfordernis abgrenzbarer und eindeutiger Kategorien getriebene Operationalisierung menschlicher Merkmale wird die Vorstellung einer klaren Trennung
24 Während „Diskriminierung“ allgemeinsprachlich einen moralischen Vorwurf der Intentionalität be-
inhaltet, beschreibt etwa der Begriff „diskriminierende Variable“ als terminus technicus in der empirischen Forschung lediglich nachweisbare Unterschiede ohne eine darüberhinausgehende Wertung. Vgl. Schauer, Statistical (and non-statistical) discrimination, in: Lippert-Rasmussen (Hrsg.), Routledge Handbook of the Ethics of Discrimination, 2018, S. 42 (43). 25 Siehe → §§ 5–13 Diskriminierungskategorien; insbesondere → § 7 Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien; Feldmann u. a., „Rasse“ und „ethnische Herkunft“ als Merkmale des AGG, RW 2018, S. 23 ff.; Beigang u. a., Diskriminierungserfahrungen in Deutschland, Ergebnisse einer Repräsentativ- und einer Betroffenenbefragung, 2017, S. 15. 26 Supik, Statistik und Diskriminierung, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 191 (196 f.); Lembke/Liebscher (Fn. 23), S. 261 ff.; Liebscher u. a., Wege aus der Essentialismusfalle, KJ 2012, S. 204 (206); Beigang u. a. (Fn. 25), S. 15 ff. 27 → Baer, § 5 Rn. 51 ff. 28 Nett u. a., Perceived biological and social characteristics of a representative set of German first names, Social Psychology 51 (2020), S. 17. Emanuel V. Towfigh
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§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
von und einer eindeutigen Zuordnung zu – z. B. „ethnischen“ – Gruppen geweckt und bestärkt, die jedenfalls in dieser Eindeutigkeit nicht besteht.29 18 So ist häufig die Diversität innerhalb einer Gruppe größer als zwischen den Gruppen, wie etwa in der Genetik beobachtet werden kann: Die meisten genetischen Unterschiede in der DNA-Sequenz des Menschen finden sich innerhalb einer geografischen Population. Die genetischen Unterschiede zwischen geografischen Populationen machen demgegenüber nur einen sehr geringen Teil aus.30 Gleichzeitig verschleiert die Kategorisierung regelmäßig intersektionale bzw. mehrdimensionale Diskriminierung, da sie eben nicht alle Dimensionen erfassen kann.31 Auflösen lässt sich dieser Konflikt in letzter Konsequenz nicht, empirische Forschung 19 ist jedenfalls mit den heute bekannten Methoden ohne Kategorienbildung nicht möglich und muss sie daher in Kauf nehmen. Das Bewusstsein für diesen Konflikt vermag aber dazu beizutragen, bei der Auswahl der Kategorien bzw. bei der Zuschreibung von Merkmalen umsichtig vorzugehen, Essentialisierungen zu vermeiden, Selbstzuschreibungen und Selbstkategorisierungen mit einzubeziehen und der Versuchung unbotmäßiger und zu Unterkomplexität führender Vereinfachung zu widerstehen. Gelingt dies, so bietet empirische Forschung die Chance, auch intersektionale bzw. mehrdimensionale Diskriminierung zu erfassen und sichtbar zu machen.32 2. Diskriminierung durch Statistik 20 Zweitens wird mit dem Begriff „statistischer Diskriminierung“ – neben der Diskriminie-
rung im statistischen Sinne, also der Differenzierung nach unterschiedlichen Merkmalen – etwas missverständlich und unpräzise häufig auch ein anderes Phänomen beschrieben, nämlich die Diskriminierung durch Statistik. Diskriminierung durch Statistik ist das Resultat einer aus Statistiken gewonnenen Über21 zeugung bzw. einer Zuschreibung von Merkmalen, die auf (tatsächlichen oder angenommenen) Durchschnittswerten einer Gruppe beruhen. Der Rückzug auf diese durchschnittlichen Gruppenmerkmale soll über Unsicherheiten bezüglich der Merkmalsausprägungen einer einzelnen Person hinweghelfen. Nach diesem Prinzip funktioniert beispielsweise die Schufa, wenn die Kreditwürdigkeit zum Teil unabhängig von der individuellen wirtschaftlichen Lage unter anderem vom Wohnort abhängig gemacht wird oder wenn jungen Mitarbeiterinnen ein höheres Ausfallrisiko aufgrund zu erwartender Schwangerschaften attribuiert wird. Hier wird jeweils ein Merkmal – Wohnort bzw. Geschlecht – als Indikator für etwas völlig anderes – Kreditwürdigkeit bzw. mögliche Ausfallzeiten der Mitarbeiterin – genutzt.33 29 Supik (Fn. 26), S. 201. 30 Kattmann, Reflections on „race“ and science and society in Germany, Journal of Anthropological Sci-
ences 95 (2017), S. 1 (6); Serre/Pääbo, Evidence for Gradients of Human Genetic Diversity Within and Among Continents, Genome Research 14 (2004), S. 1679 (1683). 31 → Holzleithner, § 13. 32 Lembke/Liebscher (Fn. 23), S. 261 (269); siehe unten Rn. 92 (B. VI. 3. b)). 33 Arrow, What has Economics to Say about Racial Discrimination?, The Journal of Economic Perspectives 12 (1998), S. 91 (96); Schauer (Fn. 24), S. 48. Emanuel V. Towfigh
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Ein weiteres Modell zur Erklärung von Diskriminierung ist die Theorie der taste- 22 based-discrimination.34 Sie erklärt Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt mit der Neigung von Arbeitgeber*innen, personelle Auswahlentscheidungen an ihren Vorurteilen und Abneigungen orientiert zu treffen – und in der Folge solche Arbeitnehmer*innen nicht auszuwählen, die einer ihnen fernstehenden Minderheit angehören, mit denen sie nicht interagieren möchten, selbst wenn von ihnen höhere Produktivität zu erwarten wäre. Hierdurch verfestigt sich der Eindruck, bestimmte Gruppen seien produktiver als andere; das Resultat ist auch hier Diskriminierung durch Statistik.35 Daten hierfür stehen inzwischen dank „Big Data“ in großer Zahl zur Verfügung und 23 können nun über die klassischen konsumorientierten Bereiche hinaus herangezogen und ausgewertet werden.36 Sie eröffnen damit auch ein neues Feld potentieller Diskriminierung durch Statistik: Die Diskriminierung durch Algorithmen.37 Sehr große und komplexe Datensätze („Big Data“38) werden heute typischerweise durch mit statistischen Methoden operierende Algorithmen ausgewertet, die oftmals ihre statistischen Vorhersagen anhand der aus den ausgewerteten Daten gewonnenen Einsichten immer weiter verfeinern (was dann gern als „künstliche Intelligenz“ bezeichnet wird).39 Solche Algorithmen sind damit aber abhängig von den ihnen zugrunde liegenden Daten und keineswegs neutral;40 die Zuverlässigkeit ihrer Ergebnisse ist abhängig von der Qualität der Daten, mit denen sie gespeist werden. Werden beispielsweise Personalauswahlentscheidungen (oder eine Vorselektion) an 24 Algorithmen delegiert, so werden diese auf der Grundlage der dem Algorithmus zur Verfügung stehenden Daten getroffen. Ein auf den Einstellungen und Ablehnungen der letzten zehn Jahre gründendes Recruiting Tool könnte z. B. die Lebensläufe von Bewerber*innen mit denen der bisher eingestellten Mitarbeiter*innen vergleichen und sie entsprechend bewerten. Sind in der Vergangenheit überwiegend Männer eingestellt worden, scheitern Bewerbungen von Frauen an den vom Algorithmus identifizierten Auswahlkriterien – selbst bei tatsächlich bestehender Qualifikation für die Stelle würden sie nicht als geeignet markiert. Der Algorithmus orientiert sich ausschließlich an in der Vergangenheit gültigen Kriterien und Einschätzungen; korrelierte hier das männliche Geschlecht mit Leis34 Becker, The Economics of Discrimination, 2. Aufl. 1971. 35 Neilson/ Ying, From taste-based to statistical discrimination, Journal of Economic Behavior & Organi-
zation 129 (2016), S. 116.
36 Dazu unten Rn. 50 f. (B. IV. 3.). 37 Dazu → v. Ungern-Sternberg, § 28. 38 Mit dem Attribut „Big Data“ werden Datensätze versehen, die nicht manuell oder mit Mitteln der
herkömmlichen Datenverarbeitung analysiert werden können. Dabei wird auf fünf „v“ abgestellt: volume (Datenmenge), velocity (Geschwindigkeit der Datengenerierung), variety (Vielfalt der Datentypen und der Datenquellen), veracity (Echtheit), validity (Qualität). Weil die Möglichkeiten der Datenverarbeitung sich stetig entwickeln, handelt es sich bei Big Data um einen dynamischen Begriff. 39 Knorre, Big Data im öffentlichen Diskurs, in: Knorre/Müller-Peters/Wagner, Die Big-Data-Debatte, 2020, S. 1 (6 f.). 40 Fröhlich/Spiecker genannt Döhmann, Können Algorithmen diskriminieren?, Verfassungsblog v. 26.12.2018; Altenburger/Ho, When Algorithms Import Private Bias into Public Enforcement, Journal of Institutional and Theoretical Economics 175 (2019), S. 98 ff. Emanuel V. Towfigh
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§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
tungsfähigkeit (und sei es aufgrund früherer Diskriminierung oder struktureller Benachteiligung), so ist der Algorithmus nicht in der Lage, tatsächliche Veränderungen bei der Auswahlentscheidung zu berücksichtigen.41 Das Problem der Zuschreibung von Gruppenzugehörigkeit kann sich also durch den Einsatz von Algorithmen verstärken: Ein Algorithmus, der Frauen mit Betreuungspflicht pauschal als auf dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbar qualifiziert, suggeriert zum einen, dass Frauen mit Betreuungspflicht eine homogene Gruppe darstellten und begründet zum anderen mit der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe pauschal eine Benachteiligung.42 25 Die tatsächliche oder nur zugeschriebene Zugehörigkeit zu einer statistischen Gruppe führt also zu Schlüssen über die Eigenschaften oder das Verhalten der Einzelnen. Auf dieser Logik beruht auch (diskriminierendes) racial profiling, welches dazu führt, dass verdachtsunabhängige Kontrollen der Polizei häufiger Menschen treffen, die aufgrund ihres „Phänotyps“ – etwa ihrer Haut- oder Haarfarbe – oder wegen eines sichtbar getragenen religiösen Symbols die Aufmerksamkeit der Polizei erregen.43 Die Diskriminierung wird mit empirischen Befunden gerechtfertigt, die beim racial profiling zum Ausgangspunkt polizeilichen Handelns werden.44 Eine andere Form der Diskriminierung durch Statistik zeigt sich in Rückkopplungs26 effekten, die dadurch entstehen können, dass eine Person, die sich einer diskriminierten Gruppe zugehörig fühlt, aus dieser Gruppenzugehörigkeit Schlüsse über die eigenen Fähigkeiten oder Chancen zieht („Andorra-Effekt“). Das statistische Wissen kann damit zum Hindernis werden und das Verhalten und/oder die Motivation dieser Person im Sinne einer self-fulfilling prophecy45 beeinflussen: Die Jurastudentin, die der Presse entnommen hat, dass Frauen in juristischen Staatsprüfungen schlechter abschneiden als Männer, kann die Diskriminierung antizipieren, ist möglicherweise in der eigenen Prüfung hierdurch verunsichert und daher weniger leistungsstark (stereotype threat46). Andersherum kann das Wissen um statistische Befunde auch entlastende Wirkung haben, wenn etwa die 41 Kleinberg u. a., Discrimination in The Age of Algorithms, Journal of Legal Analysis 10 (2018), S. 113
(162).
42 Fröhlich/Spiecker genannt Döhmann (Fn. 40) – Hier steckt natürlich ein normatives Problem: Der Ver-
wender*in des Algorithmus – bspw. Arbeitgeber*in – mag es vor allem darum gehen, falsch-negative Entscheidungen zu vermeiden, so dass sie solche Diskriminierungen in Kauf zu nehmen bereit sein könnte. Die Verfügbarkeit (relativ) präziser Vorhersagen macht solche Entscheidungen einfacher. Auch wenn sie diskriminierend und die zugrundeliegende Heuristik erwiesen falsch ist, kann der Einsatz des Algorithmus aus subjektiver Sicht konsistent sein. 43 Liebscher, „Racial Profiling“ im Lichte des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots, NJW 2016, S. 2779; → Barskanmaz, § 7 Rn. 14, 32; → Tischbirek, § 26 Rn. 19 ff. 44 Das ist jedenfalls in all jenen Fällen ohne Zweifel rechtswidrig, in denen die Empirie, auf die sich eine polizeiliche Auswahlentscheidung stützt, den Schluss objektiv nicht zulässt: OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16; siehe auch Behr, Diskriminierung durch Polizeibehörden, in: Scherr/El-Mafaalani/ Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 301 ff. 45 Merton, Die self-fulfilling prophecy, in: Merton, Soziologische Theorie und soziale Struktur, S. 399; Word/Zanna/Cooper, The nonverbal mediation of self-fulfilling prophecies in interracial interaction, Journal of Experimental Social Psychology 10 (1974), S. 109; Supik (Fn. 26), S. 204; Fröhlich/Spiecker genannt Döhmann (Fn. 40). 46 Spencer/Steele/Quinn, Stereotype Threat and Women’s Math Performance, Journal of Experimental Emanuel V. Towfigh
B. Grundlagen empirischer Methoden
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gleiche Jurastudentin ihr schwächeres Abschneiden in der Prüfung nicht ihren eigenen Schwächen zuschreibt, sondern einer sie benachteiligenden Prüfungssituation.
B. Grundlagen empirischer Methoden I. Forschungsfrage
Empirische Sozial- und Rechtsforschung kann einerseits als deskriptive Forschung so- 27 ziale Zustände beschreiben – beispielsweise ermitteln, dass das durchschnittliche Einkommen von Frauen etwa 21 Prozent geringer ist als das durchschnittliche Einkommen von Männern.47 Andererseits versucht sie, Korrelationen und Kausalzusammenhänge zu identifizieren, die diesen Befunden zu Grunde liegen, letztlich im Bestreben, den sozialen Mechanismus zu identifizieren, der die Befunde gleichsam „erzeugt“ – also die Frage zu beantworten, warum das durchschnittliche Einkommen von Frauen niedriger ist als das von Männern. Hierzu bedienen sich (Rechts-)Empiriker*innen der Methoden der Statistik.48 Korrelationsuntersuchungen sind dabei ein wichtiges Werkzeug, mit dessen Hilfe eine 28 Aussage darüber getroffen werden kann, ob Variablen in einem Zusammenhang stehen und wie stark dieser Zusammenhang ist.49 Dass zwei Variablen korreliert sind, bedeutet jedoch nicht, dass zwischen ihnen auch ein Kausalzusammenhang besteht.50 Der unmittelbare Schluss von einer Korrelation auf einen Kausalzusammenhang ist nur ausnahmsweise möglich, etwa wenn die Kausalität nur in eine Richtung verlaufen kann: So kann die Körpergröße der Eltern nicht von jener ihrer Kinder beeinflusst sein (gerichtete Korrelation: Kausalverlauf Eltern → Kind); und die Feststellung, dass mehr Männer als Frauen eine Führungsposition bekleiden, erlaubt die Hypothese, dass Männer leichter Führungspositionen erreichen, nicht aber die umgekehrte Schlussfolgerung, dass zu einem Mann wird, wer eine Führungsposition erlangt hat (gerichtete Korrelation: Kausalverlauf Mann → Führungsposition).51 Verschiedene Faktoren können aber auch miteinander korrelieren, ohne dass eine 29 Kausalität besteht. Dann handelt es sich entweder um eine zufällige Korrelation (Koinzidenz), oder es liegt eine sogenannte Scheinkorrelation vor. Im Falle einer Scheinkorrelation besteht zwar statistisch ein signifikanter Zusammenhang zwischen zwei Variablen, Ursache hierfür ist aber ein dritter Faktor, der nicht berücksichtigt wurde – und damit letztlich ein Fehler im empirischen Modell. Das paradigmatische Lehrbuchbeispiel hierfür Social Psychology 35 (1999), S. 4; Lusher/Campbell/Carrell, TAs like me, Journal of Public Economics 159 (2018), S. 203. 47 Siehe www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-1/gender-paygap.html. 48 Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 394; Handl/Kuhlenkasper, Einführung in die Statistik, 2018, S. 3 f. 49 Ausführlich dazu unten, Rn. 78 ff. (B. VI. 3. a)). 50 Kühnel/Dingelstedt, Kausalität, in: Baur/Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, 2. Aufl. 2019, S. 1401 ff. 51 Matthews, Storks Deliver Babies (p= 0.008), Teaching Statistics 22 (2000), S. 36 (37); Supik (Fn. 26), S. 203. Emanuel V. Towfigh
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§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
ist die Korrelation zwischen der Anzahl von Storchenpaaren und der Geburtenrate bei Menschen: Eine Auswertung der Daten mehrerer europäischer Länder zu Geburten und Storchenpopulation ergab eine positive Korrelation zwischen diesen Variablen: Je höher die Storchenpopulation desto höher die Geburtenrate.52 Bei diesem Beispiel ist auch ohne vertiefte statistische Kenntnisse offenkundig, dass es keinen tatsächlichen Zusammenhang zwischen der Storchenpopulation und der Geburtenrate gibt. Beide Variablen mögen zwar positiv korrelieren, stehen aber nicht in dem Zusammenhang, der insinuiert wird. Der Zusammenhang ergibt sich vielmehr erst durch eine hinzutretende dritte Variable als gemeinsamem Treiber beider Variablen, etwa die Fläche eines Landes oder den Grad der Industrialisierung des Landes.53 Ein anderes Beispiel ist die Korrelation von Körpergröße und Gehalt: Großgewachsene Männer verdienen mehr als ihre kleineren Geschlechtsgenossen.54 Allerdings besteht zwischen der Körpergröße und dem Gehalt gerade keine unmittelbare Kausalität, sondern es kommen zusätzliche Variablen ins Spiel, wie etwa die Gene oder der Lebensstandard der Eltern;55 auch ein Zusammenhang mit einem stärkeren Selbstbewusstsein oder weiteren Ursachen lässt sich nicht ausschließen. Bisweilen wird argumentiert, dass Scheinkorrelationen bewusst als effiziente „Abkür30 zung“ genutzt werden können, wenn die vermittelnde dritte Variable nur mit großem Aufwand oder besonderen Kosten zu beobachten ist; auch in der Koinzidenz könne eine Art Residual-Information stecken, mit deren Hilfe sich (grob) Wahrscheinlichkeiten bestimmen ließen. So könne es aus Gründen der Ressourcenökonomie etwa legitim sein, aus der Storchenpopulation plausible Schätzungen der Geburtenrate abzuleiten, wenn „Urbanisierung“ als die dritte, den Zusammenhang begründende Variable schwierig zu messen sei – im Bewusstsein, gerade nicht den „wahren“ Mechanismus, sondern eine Scheinkorrelation zu betrachten. Bereits aus epistemischen und wissenschaftskommunikativen Gründen scheint zweifelhaft, ob Effizienz hier als Rechtfertigung für die Verbreitung von Scheinkorrelationen herangezogen werden sollte. Rechtlich unzulässig sind solche „Abkürzungen“ jedenfalls bei den in Art. 3 Abs. 3 GG aufgeführten Anknüpfungsverboten, weil letztlich fiskalische Erwägungen eine Verletzung des besonderen Gleichheitssatzes nicht zu rechtfertigen vermögen. Insofern hat Art. 3 Abs. 3 GG also eine empirische Dimension – auch statistisch darf 31 an die Merkmale nicht angeknüpft werden. Das bedeutet konkret, dass beispielsweise von einem Migrationshintergrund oder von einem bestimmten Phänotypen nicht auf Kriminalitätswahrscheinlichkeit geschlossen werden darf, weil hier – wenn überhaupt – eine Scheinkorrelationen vorliegen kann: Denn es gibt keine plausible Begründung für eine Korrelation, die nicht essentialisierend wäre, die also keine stereotypen, diskriminierenden Zuschreibungen enthält. Vielmehr begründen weitere – in der Tat schwieriger zu ermittelnde – Faktoren den Zusammenhang. In unserer Verfassung ist die Entscheidung 52 Handl/Kuhlenkasper (Fn. 48), S. 172. 53 Matthews (Fn. 51), S. 37; Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 465. 54 Spanhel, Der Einfluss der Körpergröße auf Lohnhöhe und Berufswahl, Wirtschaft und Statistik 2
(2010), S. 170.
55 Case/Paxson, Stature and Status, Journal of Political Economy 116 (2008), S. 499.
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verbrieft und rechtlich sanktioniert, dass wir gerade auf solche Scheinkorrelationen nicht abstellen, nur weil die tatsächlichen Faktoren schwieriger oder gar nicht zu ermitteln sind: Sich auf eine (Schein-)Korrelation mit einem der in Art. 3 Abs. 3 GG aufgeführten verbotenen Anknüpfungsmerkmale (Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöse oder politische Anschauungen, Behinderung) zu stützen, steht also im Widerspruch zur normativen Grundentscheidung der Verfassung, die es untersagt, an solche Merkmale anzuknüpfen. Um das Risiko einer Scheinkorrelation zu reduzieren, ist einerseits das Forschungs- 32 design so zu gestalten, dass mögliche Alternativmechanismen (etwa der Grad der Industrialisierung oder die Herkunft eines Arbeitnehmers) durch die Untersuchung bereits ausgeschlossen werden, ferner muss im Rahmen statistischer Testverfahren für mögliche Störfaktoren kontrolliert werden.56 Sorgfalt beim Forschungsdesign ist auch deshalb erforderlich, da eine empirische Stu- 33 die nur solche Effekte sichtbar machen kann, die sich aus den in der Studie einbezogenen Faktoren (Variablen) ergeben. Nur eine Studie, die alle relevanten Faktoren berücksichtigt, kann zu fundierten Ergebnissen gelangen. Ist das nicht der Fall, kommt es zu einer Verzerrung der Ergebnisse durch ausgelassene Variablen (omitted variable bias). Eine Statistik, mit der Diskriminierung nachgewiesen werden soll, die aber wichtige Faktoren zur Unterscheidung nicht einbezieht, ist nicht geeignet, Diskriminierungen nachzuweisen. Wird bei einer Erhebung zur Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt nur der Geburtsort der Bewerber*innen um eine Wohnung erhoben, so wird sich höchstwahrscheinlich eine Diskriminierung von Wohnungssuchenden der zweiten Generation von Migrant*innen nicht identifizieren lassen. II. Theorie, Modell und Hypothesen 1. Die theoretisch-empirische Wissensspirale
Ausgangspunkt empirischer Forschung sollte grundsätzlich eine Theorie sein, die den 34 empirisch zu untersuchenden Zusammenhang erklärt.57 So gibt es etwa in der sozialpsychologischen Vorurteilsforschung eine Reihe von Theorien, die abstrakt Diskriminierung zugrundeliegende soziale Mechanismen zu beschreiben und zu erklären beanspruchen.58 Eine dieser Theorien ist die Theorie der sozialen Identität59, welche für das Verständnis der kollektiven Dimension von Diskriminierung herangezogen wird, da sie den Einflussfaktor „Gruppe“ in den Blick nimmt.60 Konkrete Fragestellungen beantwortet eine Theorie nicht. 56 Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 406. 57 Schäfer, Methodenlehre und Statistik, 2016, S. 9. 58 Zick, Sozialpsychologische Diskriminierungsforschung, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.),
Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 59 (60 ff.); Charles/Guryan, Studying Discrimination, Annual Review of Economics 3 (2011), S. 479 (494 ff.). 59 Tajfel/Turner, The social identity theory of intergroup behavior, in: Worchel/Austin (Hrsg.), Psychology of intergroup relations, 1986, S. 7 ff. 60 Für einen Überblick über die zentralen Theorien aus der Sozialpsychologie siehe Zick (Fn. 58), S. 67 ff.; Beigang u. a. (Fn. 25), S. 28 ff. Emanuel V. Towfigh
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§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
Empirische Forschung, die sich mit Fragen von Diskriminierung aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit befasst, wird sich aber der Annahmen dieser Theorie bedienen und den abstrakt beschriebenen Mechanismus in einem Modell operationalisieren, um sie empirisch überprüfen zu können. Eine Theorie schlägt also eine sorgfältig begründete, dennoch vorläufige Antwort auf die gestellte Forschungsfrage – ein Modell – vor und setzt damit den Rahmen, aus dem die Hypothese abgeleitet wird, die in der Folge anhand von Daten aus der „Wirklichkeit“ empirisch überprüft werden soll. Das Modell, das sich aus miteinander verbundenen Ideen, Annahmen und Hypothesen über einen Sachverhalt zusammensetzt, begrenzt die Freiheitsgrade bei der Erklärung der Daten, schränkt die Erklärungsansätze ein und führt damit zu Methodenstrenge. Empirische Forschung, die nicht theoriegeleitet ist, verleitet leicht zu ad-hoc- und ex-post-Erklärungen, die aufgrund der Suggestionskraft von Daten eine starke Plausibilität aufweisen können, ohne dass ihnen eine solche methodisch zukommt.61 Theorie, Modell, Hypothesen und Empirie bilden gemeinsam gewissermaßen eine 35 Wissensspirale: Aus der Theorie wird ein Modell entwickelt und aus diesem werden Hypothesen abgeleitet, die idealerweise in einem steten Kreislauf durch neue, auf ihnen gründende Empirie verbessert werden: Das Modell und die auf diesem gründenden Hypothesen werden empirisch überprüft; und die Ergebnisse der empirischen Überprüfung werden wiederum genutzt, um Theorie, Modell und Hypothesen zu verfeinern. Die solcherart modifizierte Theorie wird dann wiederum mit neuen Daten getestet. Existiert (noch) keine Theorie, so können wir in diese Wissensspirale indessen auch un36 mittelbar mit empirischer Forschung einsteigen: Man spricht dann von explorativer Empirie. In diesem Fall bilden zunächst (Feld-)Daten den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Betrachtung.62 Auf der Grundlage ihrer empirischen Analyse wird eine Theorie mit Modell und Hypothesen entwickelt, die diese Daten erklären könnte. Sodann wird diese Theorie mit neuen Daten getestet. Insbesondere in wenig erforschten Bereichen finden sich explorative Studien, die zur Theorienbildung beitragen sollen.63 Um die oben erwähnten Probleme einer ad-hoc- und ex-post-Plausibilisierung zu vermeiden, ist entscheidend, dass nach der Theoriebildung wiederum eine empirische Überprüfung erfolgt. Die oftmals fehlende, weitergehende empirische Überprüfung stellt insbesondere bei explorativen Studien, die sich auf „Big Data“ stützen, einen Mangel dar:64 Häufig ist bei solchen Studien die Darstellung des Problems – anders als beim deduktiven Ansatz der theoriengeleiteten Forschung – nicht Ausgangspunkt, sondern Ende des Prozesses. Die Daten werden analysiert, aus der Analyse wird eine zu den Daten passende ad-hoc-Theorie entwickelt und abschließend das Problem benannt, auf das die Untersuchung eine Antwort gefunden zu haben vorgibt.65 Darüberhinausgehende Theorienbildung ist hingegen nicht das Ziel. 61 Häder, Empirische Sozialforschung, 4. Aufl. 2019, S. 55. 62 Siehe unten Rn. 47 ff. (B. IV. 2.). 63 Döring/Bortz, Untersuchungsdesign, in: dies., Forschungsmethoden und Evaluation, 5. Aufl. 2016,
S. 181 (192); siehe etwa die qualitative Analyse bei Alidadi/Foblets, Framing Multicultural Challenges in Freedom of Religion Terms, Netherlands Quarterly of Human Rights 30 (2012), S. 388 (392). 64 Zu Big Data siehe unten Rn. 50 f. (B. IV. 3.). 65 Mahrt, Mit Big Data gegen das „Ende der Theorie“?, in: Maireder u. a. (Hrsg.), Digitale Methoden in Emanuel V. Towfigh
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2. Frequentistisch-probabilistische Aussagen
Deterministische Aussagen – also solche, die einen universalen kausalen Zusammenhang 37 beschreiben – sind für soziale Mechanismen und damit in der Sozialwissenschaft nur selten möglich, denn wir können in aller Regel nicht den Mechanismus selbst, sondern lediglich Signale beobachten, die Rückschlüsse auf den (angeblich deterministischen) Mechanismus erlauben. Daher werden sozialwissenschaftliche Hypothesen in der Regel frequentistisch-probabilistisch formuliert: Ihre Aussage trifft mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf eine Vielzahl von Fällen zu.66 So ist beispielsweise die Hypothese, (alle) Frauen würden in der juristischen Staatsprüfung gegenüber Männern (immer) benachteiligt, in ihrer Universalität nicht haltbar: Schon ein einziger Fall einer Bevorzugung einer Frau genügt, um diese Hypothese zu widerlegen. Daher wird die Hypothese probabilistisch formuliert: Die Wahrscheinlichkeit der Benachteiligung einer Frau in der juristischen Staatsprüfung ist höher als die Wahrscheinlichkeit der Benachteiligung eines Mannes.67 3. Theorien und Modelle in der juristischen Antidiskriminierungsforschung
Das menschliches Verhalten am umfassendsten erklärende Modell ist das des homo oecono- 38 micus (zutreffender als rational actor model bezeichnet),68 das in der rechtsökonomischen Forschung vielfach zu Grunde gelegt wird und das bei all seinen Vorzügen mittlerweile auch hinsichtlich seiner Schwächen und Begrenzungen gut erforscht ist (behavioral law and economics sowie Forschung zu biases).69 Mit Hilfe des rational actor models werden Anreize und Motive für typisiertes menschliches Verhalten erforscht und erklärt; es geht davon aus, dass menschliches Verhalten nicht vollkommen zufällig ist, sondern auf einen – im Einzelnen näher zu definierenden – Nutzen ausgerichtet ist. Das Modell kann damit auch dafür eingesetzt werden, um Diskriminierung zu erklären, wenn sie sich als Resultat von Rahmenbedingungen darstellt, die dazu führen, dass es für den Einzelnen „rational“ im Sinne des rational actor models ist, zu diskriminieren. Auch taste-based discrimination kann in diesem Sinne „rational“ sein, wenn die Präferenz zu diskriminieren bei den Akteur*innen hinreichend ausgeprägt ist.70 Für empirische Forschung zu Diskriminierung sind daneben vor allem psychologische 39 (Verhaltens-)Modelle hilfreich, die auf abgegrenzte Bereiche menschlichen Verhaltens beschränkt sind, damit weniger menschliches Verhalten insgesamt erklären (sollen), sondern der Kommunikationswissenschaft, 2015, S. 23 (24); Mayerl, Bedeutet Big Data das Ende der sozialwissenschaftlichen Methodenforschung?, Soziopolis v. 29.12.2015. 66 Engel (Fn. 9), S. 7. 67 Vgl. Towfigh/Traxler/Glöckner, Geschlechts- und Herkunftseffekte bei der Benotung juristischer Staatsprüfungen, ZDRW 2018, S. 115 ff. 68 Towfigh, in: Towfigh/Petersen, Ökonomische Methoden im Recht, 2. Aufl. 2017, § 2, Rn. 69 ff. 69 Englerth/Towfigh, in: Towfigh/Petersen, Ökonomische Methoden im Recht, 2. Aufl. 2017, § 8. Die Begriffe nicht-rational und biases dürfen dabei nicht in ihrer alltagssprachlichen Bedeutung verstanden werden, vielmehr bezeichnen sie als termini technici der Rechtsökonomik Abweichungen vom Rationalmodell; siehe dazu auch → Magen, § 3. 70 Siehe oben Rn. 22 ff. (A. II. 2.). Emanuel V. Towfigh
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vielmehr Erklärungen für spezielle und isolierte Verhaltenseffekte liefern; solche Befunde finden sich häufig etwa in der sozialpsychologischen Diskriminierungsforschung.71 III. Operationalisierung der Forschungsfrage
Die für die Beantwortung der Forschungsfrage erforderlichen Daten können jedenfalls in den Sozialwissenschaften in der Regel nicht unmittelbar in der Welt beobachtet werden; vielmehr sind die Konzepte, anhand derer Modelle erstellt und Hypothesen entwickelt werden, zu operationalisieren. Das bedeutet, dass Variablen konstruiert werden müssen, bevor sie gemessen und für die Falsifizierung einer Hypothese und letztlich für die Beantwortung der Forschungsfrage herangezogen werden können. Wenn etwa der Zusammenhang zwischen dem Bestehen eines Antidiskriminierungsrechts in einer Rechtsordnung, einem hohen Maß an Gleichberechtigung und Demokratie untersucht werden soll, muss zunächst festgelegt werden, was für Regelungen erlassen sein müssen, um das „Bestehen eines Antidiskriminierungsrechts“ annehmen zu können, welche Anforderungen an ein „hohes Maß an Gleichberechtigung“ zu stellen sind und welche Regeln eine Ordnung aufweisen muss, damit ihre Staatsform als „Demokratie“ zu qualifizieren ist.72 41 Ist die Operationalisierung plausibel, misst also der empirische Test das Merkmal, das er zu messen vorgibt, so spricht man von der Validität des Tests (nicht zu verwechseln mit der Validität der Schlussfolgerungen, die aus diesem Test gezogen werden;73 insofern ist die etablierte Begrifflichkeit leider missverständlich). Wenn also etwa ein Test zur Ermittlung der Sprachkompetenz von Kindern von Migrant*innen so ausgestaltet ist, dass keine Aussagen über eben diese Sprachkompetenz getroffen werden können, weil die Durchführung des Tests Kenntnisse einer Sprache voraussetzt, die nicht Muttersprache ist, so stellt der Test kein zur Beantwortung der Forschungsfrage valides Instrument dar, da mit ihm gerade nicht die Sprachkompetenz, sondern Sprachkenntnisse gemessen werden.74 Die Forschungsfrage ist nicht valide operationalisiert. Auf der Grundlage solcher nicht-valider Tests gezogene Konsequenzen etwa zur Förderung der getesteten Kinder sind im besten Fall wirkungslos, im schlimmsten Fall begründen sie eine Jahre anhaltende Benachteiligung aufgrund einer fehlerhaften Einschätzung etwa des Verhältnisses von Sprachkenntnissen und Intelligenz.75 Eine Messung der Einstellung zu Ausländern muss sicherstellen, dass auch (nur) diese Haltung und nicht andere, verwandte Einstellungen (etwa Nationalismus) getestet werden; insofern besteht eine Nähe zur internen Validität.76 40
71 Zick (Fn. 58), S. 67 ff. 72 Vgl. etwa Petersen, Antitrust Law and the Promotion of Democracy and Economic Growth, Journal of
Competition Law and Economics 9 (2013), S. 593 (604), der die Konzepte „Wettbewerbsrecht“, „Wachstum“ und „Demokratie“ operationalisiert. 73 Siehe unten Rn. 99 ff. (B. VII. 3.). 74 Hormel, Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem, in: Hormel/Scherr (Hrsg.), Diskriminierung, 2010, S. 173 (183). 75 Center for Intersectional Justice (Hrsg.), Intersektionalität in Deutschland, Chancen, Lücken und Herausforderungen, September 2019, S. 32 ff.; siehe auch LG Köln, Urt. v. 17.7.2018, 5 O 182/16. 76 Siehe unten Rn. 102 f. (B. VII. 3. b)). Emanuel V. Towfigh
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Bei der Operationalisierung der Forschungsfrage bestehen Freiheitsgrade, die für die 42 Beurteilung der Validität des Tests bedeutsam sind. So mag man etwa das Konzept „Demokratie“ entweder an der Verwirklichung des Mehrheitswillens festmachen (regelmäßige Wahlen, Geltung des Mehrheitsprinzips) oder zusätzlich auch Minderheitenrechte mit in den Blick nehmen (etwa die Durchsetzbarkeit von Grundrechten).77 Die Validität eines Tests kann unter anderem dadurch geprüft werden, dass nach Korre- 43 lationen78 zwischen dem zu messenden Merkmal und anderen, aus bereits validierten Tests gewonnenen Merkmalen geschaut wird.79 Das können zum Beispiel andere (neue) Tests für dieselben Variablen und Konzepte sein, die mit dem ursprünglichen Test korrelieren.80 IV. Datenerhebung
Sind die Forschungsfrage und die ihr zugrundeliegenden Konzepte operationalisiert, so 44 können Messungen vorgenommen werden; zu diesem Zwecke werden Daten erhoben und ausgewertet. Empirische Forschung gewinnt ihre Einsichten aus Daten, die idealtypisch entweder als (1) Experimental- oder als (2) Felddaten gewonnen werden; in jüngerer Zeit ist die Verwendung von (3) Big Data zunehmend in den Blick geraten.81 Methodisch gibt es hier eine große Vielfalt an Forschungsdesigns, die aus einer Kombination aus Feld- und Experimentaldaten bestehen oder zwischen diesen beiden Prototypen angesiedelt sind (beispielsweise Quasi-Experimente oder experimentelle Vignetten-Studien). 1. Experimentaldaten
Die Erhebung von Experimentaldaten erfolgt in der Regel im Labor: Die Teilnehmer*in- 45 nen werden in mindestens zwei Gruppen – Kontrollgruppe und Versuchsgruppe(n) – mit Aufgaben oder Entscheidungssituationen konfrontiert, wobei sich das Szenario jeder Versuchsgruppe in einem einzigen Punkt von jenem der Kontrollgruppe unterscheidet: Es wird also die unabhängige Variable variiert, um den Effekt auf die abhängige Variable zu messen.82 Lässt sich ein Effekt zeigen, so kann dieser kausal auf die Manipulation des Faktors in der Versuchsgruppe zurückgeführt werden. Da Störvariablen – also solche Merkmale einer Person oder der Situation, die mög- 46 licherweise die abhängige Variable beeinflussen können – weitgehend ausgeschlossen werden können,83 haben Experimente den entscheidenden Vorteil, dass (anders als bei der Analyse von Felddaten) ein gerichteter Zusammenhang zwischen Variablen hergestellt werden kann, dass mithin Kausalzusammenhänge identifiziert werden können. Petersen (Fn. 72), S. 593 (605). Siehe unten Rn. 78 ff. (B. VI. 3. a)). Glöckner/Towfigh, Messgenauigkeit und Fairness in Staatsprüfungen, AnwBl 2016, S. 706 (708). Krebs/Menjold, Gütekriterien quantitativer Sozialforschung, in: Baur/Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, 2. Aufl. 2019, S. 489 (497). 81 Zur Datenerhebung in der empirischen Sozialforschung ausführlich Kromrey, Empirische Sozialforschung, 13. Aufl. 2016, S. 309 ff.; Schäfer (Fn. 57), S. 33 ff. 82 Schäfer (Fn. 57), S. 38. 83 Döring/Bortz (Fn. 63), S. 206. 77 78 79 80
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2. Felddaten
Für Felddaten wird häufig auf bestehende Datensätze zurückgegriffen, die z. B. vom Statistischen Bundesamt84 oder dem Forschungsdatenzentrum der Statistischen Landesämter85, aber auch von Behörden zur Verfügung gestellt werden.86 Ferner stellen auch wissenschaftliche Institutionen Daten bereit, beispielsweise das Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften die Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) oder das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) das Sozio-oekonomische Panel (SOEP).87 Sind entsprechende Daten noch nicht verfügbar, so können diese auch eigens für die 48 geplante Untersuchung erhoben werden, etwa durch Fragebögen (auch Online-Befragungen) oder Interviews. Fragen werden als offene oder geschlossene Fragen formuliert. Offen gestellte Fragen, also solche, die keine Antwortmöglichkeiten vorgeben, sondern eine individuelle Antwort des Befragten fordern,88 werden im Nachhinein codiert, das heißt die Antworten werden zuvor aufgestellten Kategorien zugeordnet. Geschlossene Fragen geben Antwortmöglichkeiten vor, die Antworten sind somit unmittelbar vergleichbar und leichter statistisch auszuwerten. Eine Codierung ist auch dann angezeigt, wenn die Datenerhebung mittels Beobachtung sozialer Tatsachen erfolgt; diese Erhebungsart kann etwa gewählt werden, wenn ein Zusammenhang zwischen der Religionszugehörigkeit bzw. Weltanschauung und dem Abstimmungsverhalten von Parlamentsabgeordneten untersucht werden soll: Die Informationen für eine solche Untersuchung lassen sich aus öffentlich zugänglichen Quellen erheben und müssen dann für die Untersuchung entsprechend codiert werden. Felddaten können in der Regel nur Korrelationen (also ungerichtete Zusammenhänge) 49 aufzeigen, es sei denn, der Zusammenhang kann nur in eine Richtung verlaufen;89 auch bei exogenen random shocks und bei statistischen Analysen mit Hilfe von Instrumentenvariablen kann die Ökonometrie unter bestimmten Voraussetzungen kausale Zusammenhänge belegen.90 47
3. „Big Data“ 50
Mit dem Schlagwort „Big Data“ werden digitale Daten belegt, die aufgrund ihres Umfangs, ihrer Komplexität oder ihrer Struktur weder manuell noch mit herkömmlichen Mitteln der Datenverarbeitung analysiert werden können.91 Sie werden in der Regel entweder durch 84 Siehe www.destatis.de. 85 Siehe www.forschungsdatenzentrum.de. 86 Hartmann/Lengerer, Verwaltungsdaten und Daten der amtlichen Statistik, in: Baur/Blasius (Hrsg.),
Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, 2. Aufl. 2019, S. 1223 ff.
87 Zu den Herausforderungen der Erhebung von Diskriminierungsdaten vgl. Ahyoud u. a., Wer nicht
gezählt wird, zählt nicht, Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in der Einwanderungsgesellschaft – eine anwendungsorientierte Einführung, 2018; Supik (Fn. 26), S. 194 f. 88 Handl/Kuhlenkasper (Fn. 48), S. 6. 89 Siehe oben Rn. 28 (B. I.). 90 Engel, A random shock is not random assignment, Economics Letters 145 (2016), S. 45. 91 Zur Definition oben Rn. 23 (A. II. 2.) und Fn. 38. Emanuel V. Towfigh
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die Nutzung digitaler Dienste, in sozialen Netzwerken, durch Transaktionen wie Kreditkartenzahlungen oder im Rahmen automatisierter digitaler Prozesse generiert;92 es bedarf erheblicher Rechenkapazitäten, um diese Daten nutzbringend auswerten zu können. Big Data ist damit oftmals kommerziellen Ursprungs und daher für wissenschaftliche Zwecke nur eingeschränkt verfügbar; ferner ist die datenschutzkonforme und wissenschaftsethisch einwandfreie Erhebung bisweilen nicht gesichert feststellbar, so dass die Daten für wissenschaftliche Zwecke auch nur beschränkt nutzbar sind.93 Gleichwohl ist in diesem Bereich künftig eine ebenso erhebliche wie rasante Entwicklung zu erwarten, weil auch staatliche Stellen (etwa Finanzbehörden) Zugriff auf große eigene Datensätze haben, die sie zur effektiveren und effizienteren Erfüllung ihrer Aufgaben – unter anderem datenschutz- und antidiskriminierungsrechtskonform – einsetzen. Big Data wird in der Regel durch Algorithmen ausgewertet. Diese algorithmenbasierte 51 Analyse von Big Data ermöglicht eine schnelle Mustererkennung und erlaubt, die Daten insbesondere für kommerzielle Anwendungen gewinnbringend zu nutzen.94 Vor allem lassen sich auch kleine Effekte aufgrund der Datenmenge oft mit großer Zuverlässigkeit nachweisen. Big-Data-Datensätze unterscheiden sich von in Experimenten gewonnenen Daten und klassischen Felddaten vor allem darin, dass sie in der Regel nicht für einen bestimmten Forschungsgegenstand oder eine konkrete Fragestellung erhoben wurden und daher nicht theoriegeleitet, sondern explorativ genutzt werden.95 Häufig sind die für Kontrollvariablen erforderlichen Informationen nicht verfügbar, die bei der Generierung von Felddatensätzen in der Regel explizit mit erhoben werden.96 Vielfach ist auch die Stichprobe, die sich in den Daten niederschlägt, nicht zufällig gewählt, sondern folgt gewissen Mustern (selection bias), so dass die Repräsentativität der Daten für eine bestimmte Population nicht gesichert ist.97 Auf Big Data fußende Forschungsdesigns sind daher häufig besonders fehleranfällig. Damit erklärt sich, dass der Einsatz von Big Data bei kommerziellen Anwendungen – die keine besondere Methodenstrenge verlangen – sehr viel verbreiteter ist als in der Wissenschaft und bei der Beantwortung sozialer und politischer Fragestellungen. Das Potential von Big Data bei Rechtsstreitigkeiten um Diskriminierung sollte aber dennoch nicht unterschätzt werden: Lässt man statistische Beweismittel in solchen Prozessen zu, so könnte bereits ein mit ihrer Hilfe hinreichend plausibilisierter Verdacht einer Diskriminierung für eine Verurteilung ausreichen.98
92 Trübner/Mühlichen, Big Data, in: Baur/Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozial-
forschung, 2. Aufl. 2019, S. 143.
93 Trübner/Mühlichen (Fn. 92), S. 153; Friedrichs, Forschungsethik, in: Baur/Blasius (Hrsg.), Handbuch
Methoden der empirischen Sozialforschung, 2. Aufl. 2019, S. 67 ff.
94 Richter, Big Data, Statistik und die Datenschutz-Grundverordnung, Datenschutz und Datensicherheit
2016, S. 581. Mahrt (Fn. 65), S. 24; Trübner/Mühlichen (Fn. 92), S. 145; siehe oben Rn. 23 ff. (A. II. 2.). Mahrt (Fn. 65), S. 24. Dazu ausführlich unten Rn. 68 ff. (B. VI. 1.). Pundik, Rethinking the use of statistical evidence to prove causation in criminal cases, Law and Philosophy 40 (2020), S. 97.
95 96 97 98
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V. Deskriptive Statistik 52 Die deskriptive Statistik dient der Darstellung von Daten – etwa in Tabellen, Graphiken
oder Kennzahlen.99 Mit ihrer Hilfe werden Daten beschrieben, allerdings keine Schlussfolgerungen über Zusammenhänge gezogen.100 Es werden vielmehr jene Daten dargestellt, die auch tatsächlich erhoben wurden. Die Darstellung der Daten erlaubt in der Regel keine Verallgemeinerungen, sondern bildet lediglich die Verteilung der getesteten Merkmale auf die Merkmalsträger*innen ab.101 Damit ermöglicht deskriptive Statistik beispielsweise Aussagen über Anteile und Häufigkeiten von Merkmalen.102 Für die Rezeption und das Verständnis deskriptiver Statistik ist es wichtig, sich sorg53 fältig damit auseinanderzusetzen, was in einer Statistik abgebildet wird und was gerade nicht. Wie werden die Variablen konstruiert, welche Definitionen liegen den Merkmalen zu Grunde? Als Beispiel mag hier das Merkmal „Armut“ und die Definition der Armutsgrenze taugen: Für ein vollständiges Verständnis einer sich auf dieses Merkmal beziehenden Statistik ist es wichtig zu wissen, wie diese definiert wird, welche Parameter ausschlaggebend sind.103 Häufig werden aus deskriptiven Statistiken – etwa der polizeilichen Kriminalstatistik – 54 vermeintliche Einsichten (oder häufiger noch: „Meinungen“) abgeleitet, obwohl die Daten oftmals entweder gar nicht oder jedenfalls nicht so erhoben wurden, dass sie die jeweilige Aussage zu stützen geeignet wären. Dies gilt beispielsweise für die Frage, ob Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit in Deutschland häufiger straffällig werden als Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit: Bei Betrachtung einer entsprechenden deskriptiven Statistik ist zum einen darauf zu achten, ob die Darstellung die Tatsache berücksichtigt, dass beispielsweise Straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz von Deutschen überhaupt nicht begangen werden können;104 zum anderen sollte diese Tatsache gegebenenfalls bei der Bildung adäquater Vergleichsgruppen berücksichtigt werden. Auch gibt die polizeiliche Kriminalstatistik – weil sie eben von der Polizei und nicht von den Gerichten erstellt wird – den Erkenntnisstand bei Abschluss der polizeilichen Ermittlungen und im Moment der Abgabe des Falles an die Staatsanwaltschaft wieder. Sie verzeichnet daher lediglich Tatverdächtige, trifft indessen keine Aussagen darüber, ob es später auch zu einer Verurteilung gekommen ist. Sie kann darüber hinaus nur solche Fälle abbilden, die zur Anzeige gebracht wurden: Das Dunkelfeld der nicht zur Anzeige gebrachten Delikte lässt sich nur grob schätzen, ebenso bleiben Unterschiede in der Anzeigebereitschaft und im Anzeigeverhalten unberücksichtigt.105 Die Daten zu Delikten mit einer typischerweise geringen 99 Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 419; Handl/Kuhlenkasper (Fn. 48), S. 3; Schäfer (Fn. 57), S. 47 ff. 100 Schäfer (Fn. 57), S. 47. 101 Kromrey (Fn. 81), S. 408. 102 Schäfer (Fn. 57), S. 48. 103 www.statistikportal.de/sites/default/files/2020-01/Definition%20Median%20und%20Armutsgefähr
dungsschwelle_0.pdf.
104 Die polizeiliche Kriminalstatistik macht inzwischen diesen Unterschied: Bundeskriminalamt, PKS
Jahrbuch 2019, Bd. 3 Version 2.0, S. 22 f.
105 Bundeskriminalamt, PKS Jahrbuch 2019, Bd. 3 Version 2.0, S. 6.
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Anzeigebereitschaft (etwa Internetdelikte wie Phishing, Pharming oder Schadsoftware106 oder bei persönlicher Beziehung zum Täter107) werden in derlei Datensätzen also ebenfalls nur unvollständig verzeichnet. Bisweilen besteht ein Bedürfnis, auch deskriptive Daten statistisch zu beurteilen. Das 55 ist etwa der Fall, wenn abgeschätzt werden soll, wie stark eine betrachtete Stichprobe hinsichtlich leicht zu beobachtender oder gegebenenfalls besonders relevanter Faktoren von der Population abweicht, die sie repräsentieren soll, oder wenn bemessen werden soll, wie ähnlich sich Stichproben sind. Letzteres ist etwa dann von besonderem Interesse, wenn anhand von mit gewissem zeitlichem Abstand wiederholten Erhebungen bestimmt werden soll, ob eine Entwicklung stattgefunden hat. Zu den wichtigsten Kennzahlen, die dies beschreiben, gehören die Mittelwerte und die Streuungsmaße.108 1. Mittelwerte
Die Mittelwerte einer Verteilung zeigen, auf welchen Wert sich eine Verteilung konzen- 56 triert: Dieser Mittelwert kann als Modus, Median oder arithmetisches Mittel ausgedrückt werden. Der Modus (auch „Modalwert“) gibt den am häufigsten (typischen) vorkommenden Wert an („Mode“); der Median gibt jenen Wert an, für den gilt, dass sich die übrigen Werte gleichmäßig links und rechts von ihm verteilen (50 Prozent Trennmarke – die Hälfte der Werte liegt links, die andere Hälfte der Werte rechts vom Median) und der arithmetische Mittelwert (auch „Durchschnitt“) beschreibt die Summe aller Einzelwerte geteilt durch die Anzahl der Werte.109 Ein Beispiel mag verdeutlichen, wie sich die verschiedenen Mittelwerte unterscheiden: 57 In einer Straße stehen zwei Mehrfamilienhäuser, in denen jeweils 30 Parteien leben. In einem Haus leben 30 Parteien mit insgesamt 41 Kindern. Fünf Familien haben je drei Kinder, neun Familien haben je zwei Kinder, acht Familien haben je ein Kind und acht Familien keine Kinder. Betrachtet man die Mittelwerte für die Zahl der Kinder pro Mehrfamilienhaus ergeben sich folgende Werte: Der Modalwert dieser Verteilung ist 2, der Median liegt bei 1 und der arithmetische Mittelwert ist 1,13. Im zweiten Haus hat eine Familie 14 Kinder, vier Familien haben drei Kinder, neun Familien haben je zwei Kinder, acht Familien je ein Kind und acht Familien keine Kinder. Der Modalwert liegt auch bei dieser Verteilung bei 2 und der Median ist nach wie vor 1. Allerdings ändert sich das arithmetische Mittel und liegt nun bei 1,73. An diesem kleinen Beispiel zeigt sich, dass jeder Mittelwert Vor- und Nachteile hat. 58 Das arithmetische Mittel zeigt sich als nicht so robust gegenüber Ausreißern, da alle Werte gleichwertig in die Berechnung eingehen.110 Der Median hingehen ist robuster gegenüber 106 Bundeskriminalamt, Der Deutsche Viktimisierungssurvey 2017, Opfererfahrungen, kriminalitäts-
bezogene Einstellungen sowie die Wahrnehmung von Unsicherheit und Kriminalität in Deutschland, S. 40.
107 Kölbel, in: MüKo StPO, Bd. 2, 2016, § 158, Rn. 13 m. w. N. 108 Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 428; Hagen, Statistik für Juristen, 2005, S. 60; Schäfer (Fn. 57), S. 52. 109 Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 429 ff.; Hagen (Fn. 108), S. 60 ff.; Schäfer (Fn. 57), S. 52 ff.; Kosfeld/Eckey/
Türck, Deskriptive Statistik, 6. Aufl. 2016, S. 68.
110 Schäfer (Fn. 57), S. 57.
Emanuel V. Towfigh
780
§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
Ausreißern, der hohe Wert von 14 Kindern verändert ihn nicht.111 Unterscheiden sich Modalwert und Median, so bedeutet dies, dass die Verteilung nicht symmetrisch ist, in einem solchen Fall ist auch die Aussagekraft des arithmetischen Mittels reduziert. Die Daten lassen sich in zwei verbreiteten Darstellungsformen der deskriptiven Statis59 tik darstellen – als Tabelle und als Histogramm: Mehrfamilienhaus 1
Mehrfamilienhaus 2
kein Kind
8
8
ein Kind
8
8
zwei Kinder
9
9
drei Kinder
5
4
14 Kinder
0
1
Parteien
30
30
0 + 8 + 18 + 15 + 0 = 41
0 + 8 + 18 + 12 + 14 = 52
Summe Kinder
„durchschnittliche“ Zahl Kinder pro Wohnung Modus
2 Kinder
2 Kinder
Median
1 Kind
1 Kind
1,13 Kinder
1,73 Kinder
arithmetisches Mittel
Median
Modus
Ausreißer
111 Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 434.
Emanuel V. Towfigh
781
B. Grundlagen empirischer Methoden
2. Streuungsmaße
Die Streuungsmaße sind von Bedeutung, da je nach Verteilung der arithmetische Mittelwert zweier graphischer Darstellungen von Häufigkeitsverteilungen (Histogramme) sehr ähnlich sein kann, ein Blick auf die Verteilung aber zeigt, dass die Streuungen sehr unterschiedlich sind. Eine Beschränkung auf die Lagemaße ist nicht sinnvoll, da die Betrachtung des arithmetischen Mittelwerts ohne Berücksichtigung der Streuung wenig aussagekräftig ist.112 Zu den wichtigsten Streuungsmaßen gehören die Stichprobenvarianz und die Standardabweichung. Sie beziehen sich auf den arithmetischen Mittelwert und fragen danach, wie eng bzw. weit die Werte um den Mittelwert verteilt sind, geben also Auskunft darüber, wie zuverlässig ein Mittelwert die Verteilung repräsentiert. Je größer die Streuung der Stichprobe, desto größer ist auch die Stichprobenvarianz.113 Die Stichprobenvarianz gibt dabei die durchschnittliche quadratische Abweichung der Beobachtungswerte von ihrem Mittelwert an. Zu ihrer Berechnung wird von jedem einzelnen Wert in der Stichprobe der Mittelwert abgezogen und das Ergebnis der Differenz quadriert. Nach Addition dieser Quadrate wird die Summe durch die Anzahl der Beobachtungen (minus 1) dividiert.114 Das Ergebnis der Berechnung wird in quadrierter Form ausgegeben und ist daher nicht leicht zu interpretieren.115 Daher wird häufig auch die Standardabweichung angegeben, die mit der Stichprobenvarianz eng zusammenhängt: Sie ist definiert als die Quadratwurzel der Varianz und misst die durchschnittliche Abweichung vom arithmetischen Mittel. Aus dem obigen Beispiel (Kinder in Mehrfamilienhäusern) ergeben sich damit die in der folgenden Tabelle dargestellten Werte, die uns ein konkretes Maß dafür an die Hand geben, was wir intuitiv bereits erfasst haben: dass die Einzelwerte in Mehrfamilienhaus 2 eine deutlich höhere Streuung (Varianz) aufweisen als jene in Mehrfamilienhaus 1. Mehrfamilienhaus 1 arithmetisches Mittel
Mehrfamilienhaus 2
1,13 Anz.
1,73 Diff. (∆)
∆2
Summe Anz.
Diff. (∆)
∆2
Summe
kein Kind
8
–1,13
1,28
10,24
8
–1,73
2,99
23,92
ein Kind
8
–0,13
0,02
0,16
8
–0,73
0,53
4,24
6,84
zwei Kinder
9
0,87
0,76
drei Kinder
5
1,87
3,50
14 Kinder
0
12,87
165,64
Summe der Quadrate (SS)
9
0,27
0,07
0,63
17,5
4
1,27
1,61
6,44
0
1
12,27
150,55
34,74
Stichprobe (N)
30
30
Stichprobenvarianz
34,74 / (30–1) = 1,20
185,78 / (30–1) = 6,41
Standardabweichung (SD)
1,10
2,53
112 113 114 115
Schäfer (Fn. 57), S. 60, 66. Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 437. Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 438. Kosfeld/Eckey/Türck (Fn. 109), S. 120. Emanuel V. Towfigh
150,55 185,78
60
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63
782
§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
VI. Inferenz- und Bayesianische Statistik 64 Während mit Hilfe deskriptiver Statistik nur Aussagen über die Verteilung von Merkmalen
innerhalb der Stichprobe, aus der die Daten stammen, möglich sind, hat die Inferenzstatistik – auch induktive oder frequentistische Statistik genannt – den Vorteil, aus der Analyse einer Stichprobe Aussagen über die Verteilung von Merkmalen einer Population (Grundgesamtheit) treffen zu können – also ohne dass die Daten zu dieser Population vollständig vorliegen.116 65 Grundlage für diese Schlüsse sind Wahrscheinlichkeiten, die in der Inferenzstatistik als relative Häufigkeit in Zufallsexperimenten definiert sind.117 Wird ein fairer Würfel unzählige Male geworfen, so liegt die Wahrscheinlichkeit eine „6“ zu würfeln bei einem Sechstel; Gleiches gilt für die übrigen Zahlen des Würfels.118 Auf Schwierigkeiten stößt dieser Wahrscheinlichkeitsbegriff in solchen Fällen, in denen das Ereignis, dessen Wahrscheinlichkeit bestimmt werden soll, bereits stattgefunden hat und das Ergebnis feststeht, oder wenn es keine Vielzahl von Ereignissen gibt. In beiden Fällen liegt kein Zufallsexperiment vor, so dass die Wahrscheinlichkeit nicht mittels relativer Häufigkeiten erfasst werden kann. Einen anderen Wahrscheinlichkeitsbegriff, der für sich in Anspruch nimmt, auch sol66 che Wahrscheinlichkeiten erfassen zu können, bietet die Bayesianische Statistik, die bislang ihren Anwendungsbereich vor allem in den Technikwissenschaften und in der künstlichen Intelligenz findet, aber auch für Wahrscheinlichkeiten im Recht nutzbar gemacht werden kann, etwa im Rahmen einer Beweiswürdigung im Strafprozess.119 In der Bayesianischen Statistik wird Wahrscheinlichkeit subjektiv als Grad persönlicher Überzeugung definiert. Dieser Wahrscheinlichkeitsbegriff ist subjektiv, weil sogenannte a-priori-Wahrscheinlichkeiten (auch „priors“) in die Berechnung mit einbezogen werden. A-priori-Wahrscheinlichkeiten fußen auf bereits bekannten Befunden, die etwa aus vorangegangenen empirischen Studien gewonnen wurden, die aber auch aus Naturgesetzen, Erfahrungswissen, Expertenmeinungen oder Annahmen und Vermutungen herrühren können. Es werden also, anders als bei der Inferenzstatistik, zur Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten nicht nur solche Informationen berücksichtigt, die sich unmittelbar aus der Stichprobe ergeben – und die eine Aussage darüber erlauben, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Stichprobe zur Hypothese passt120 –, sondern das gesamte Wissen über den zu beurteilenden Fall; damit wird eine Aussage dazu möglich, wie wahrscheinlich es ist, dass die Hypothese stimmt.121 Der besondere Charme der Offenlegung dieser „priors“ liegt darin, dass die Annahmen der eine statistische Analyse durchführenden Wissenschaftler*innen transparent gemacht 116 Handl/Kuhlenkasper (Fn. 48), S. 223; Schäfer (Fn. 57), S. 109 f.; Hagen (Fn. 108), S. 135. 117 Finkelstein, Basic Concepts of Probability in Statistics and the Law, 2009, S. 1; Tschirk, Statistik: Klas-
sisch oder Bayes, 2014, S. 18.
118 Vgl. auch unten die Ausführungen zum Gesetz der Großen Zahl, Rn. 71 f. (B. VI. 1.). 119 Tschirk (Fn. 117), S. 3; Finkelstein (Fn. 117), S. 3; Janßen, Bayessche Netze in der Rechtsprechung,
2017, S. 9 ff.; Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, 2015, S. 168 ff.
120 Tschirk (Fn. 117), S. 2. 121 Tschirk, Bayes-Statistik für Human und Sozialwissenschaftler, 2019, S. 8; Döring/Bortz, Datenanalyse,
in: dies., Forschungsmethoden und Evaluation, 5. Aufl. 2016, S. 597 (615 ff.). Emanuel V. Towfigh
B. Grundlagen empirischer Methoden
783
werden und ihrerseits in Frage gestellt werden können; allerdings sind die anzustellenden Berechnungen ungleich komplexer. Verdeutlichen lässt sich die unterschiedliche Herangehensweise am Beispiel des Münz- 67 wurfs. Mit den Methoden der Inferenzstatistik liegt die Wahrscheinlichkeit, dass beim Münzwurf „Kopf “ obenauf ist, bei 50 Prozent. Allerdings zieht diese Berechnung nicht die Möglichkeit in Betracht, dass die Münze durch Abnutzung oder Beschädigung uneben oder gar manipuliert ist. In der Bayesianischen Statistik kann hingegen der Prior „unebene Münze“ Berücksichtigung finden. Damit ist sie nach Auffassung ihrer Befürworter besser geeignet, aussagekräftige Ergebnisse mit geringerer Fehleranfälligkeit hervorzubringen.122 Auch mit Blick auf das Antidiskriminierungsrecht ist die Bayesianische Statistik mit ihrer Berücksichtigung von a-priori-Wahrscheinlichkeiten (auch „priors“) ein interessanter und vielversprechender Ansatz. Da sie aber in der (rechts-) empirischen Forschung und Literatur bislang nur höchst selten eingesetzt wird, bleibt sie im Folgenden außen vor.123 1. Stichproben
Eine Stichprobe erlaubt nur dann einen zulässigen Schluss auf die Grundgesamtheit, wenn 68 sie repräsentativ ist. Die Personen, die in der Stichprobe herangezogen werden, müssen demnach „durchschnittlich“ jenen Personen entsprechen, die die Grundgesamtheit bilden. Die Ergebnisse einer Umfrage unter Grundschüler*innen lassen sich z. B. nicht auf Berufsschüler*innen verallgemeinern und übertragen. Es entstünde ein verzerrtes Bild der Grundgesamtheit Schüler*innen, da bestimmte Elemente der Grundgesamtheit in der Stichprobe nicht vertreten sind.124 In diesem Fall liegt ein Selektions-Bias125 vor, da Berufsschüler*innen bei der Auswahl der Stichprobe nicht berücksichtigt wurden. Häufig ist ein Selektions-Bias auch bei Online-Befragungen zu beobachten, weil selbst bei zufälliger Ziehung der Stichprobe nur eine bestimmte Gruppe – nämlich Menschen mit InternetZugang und entsprechender Digitalkompetenz – als Studien-Teilnehmer*innen gewonnen werden können. Dies gilt auch für Big Data: Hier ist die Grundgesamtheit in der Regel nicht definiert bzw. es gibt einen Selektions-Bias zugunsten von Nutzer*innen digitaler Dienste, Social-Media-Plattformen etc., die Stichprobe ist damit häufig nicht repräsentativ.126 Die Stichprobe kann aber auch dann verzerrt sein, wenn nicht alle befragten Personen 69 auch alle Fragen beantworten, oder wenn der Rücklauf verschickter Fragebögen gering ist (Nonresponse-Bias).127 Dies ist häufig der Fall bei Fragen, die von den Befragten als 122 Tschirk (Fn. 117), S. 2. 123 Zu den Gründen siehe Tschirk (Fn. 121), S. 9. Wir werden aber im Rahmen der Beschreibung mögli-
cher Fehlerquellen durch die Beurteilung von Wahrscheinlichkeiten durch Entscheider*innen noch einmal auf die Grundsätze der Bayesianischen Statistik zurückkommen; vgl. Rn. 120 ff. (C. II.). 124 Handl/Kuhlenkasper (Fn. 48), S. 307 ff. 125 Finkelstein (Fn. 117), S. 98. 126 Trübner/Mühlichen (Fn. 92), S. 147; Mahrt (Fn. 65), S. 27. 127 Proner, Ist keine Antwort auch eine Antwort?, 2011, S. 33; Handl/Kuhlenkasper (Fn. 48), S. 308; Finkelnstein (Fn. 117), S. 101. Emanuel V. Towfigh
784
§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
zu persönlich empfunden werden, wie zum Beispiel Fragen nach dem Haushaltseinkommen oder dem Vermögen; bei Online-Befragungen ist ein häufiges Problem, dass die Einstellungen von Soft- oder Hardware (etwa Browser oder Smartphone) die Aufzeichnung bestimmter Daten verhindern.128 Ebenso kann es sein, dass bei freiwilligen Befragungen nur solche Teilnehmer*innen antworten (bzw. manche Fragen nur von solchen Teilnehmer*innen beantwortet werden), die von der Frage in irgendeiner Weise betroffen sind.129 Bisweilen werden Umfragen ausdrücklich als „repräsentativ“ bezeichnet. Sofern die für 70 solche Umfragen herangezogene Stichprobe nicht zufällig aus der Grundgesamtheit gezogen wurde (was selten der Fall sein dürfte), sind sie allerdings tatsächlich lediglich hinsichtlich der beobachteten Merkmale (z. B. Geschlecht, Alter, Wohnort) repräsentativ. Die Repräsentativität von Stichproben für eine Gesamtpopulation kann allein und aus71 schließlich dadurch gewährleistet werden, dass die Stichproben zufällig aus der Population gezogen werden, wie aus dem Gesetz der großen Zahlen von Jacob Bernoulli (1654–1705) folgt.130 Danach nähert sich die relative Häufigkeit eines Zufallsereignisses der Wahrscheinlichkeit dieses Zufallsereignisses an, je häufiger es durchgeführt wird. Anders ausgedrückt: Durch häufige Durchführung einer zufälligen Ziehung können systematische Zusammenhänge oder Muster sichtbar gemacht werden. Das paradigmatische Beispiel ist der Wurf eines Würfels. Die Zahlen 1 bis 6 sind gleichmäßig auf diesem Würfel verteilt, jede Zahl sollte also gleich häufig geworfen werden. Wird der Würfel nun sechs Mal geworfen, so ist es nicht wahrscheinlich, dass jede Zahl auch einmal geworfen wird und die Würfe so die gleichmäßige Verteilung der Zahlen auf dem Würfel repräsentieren. Bei tausend oder zehntausend Würfen aber wird die beobachtete relative Häufigkeit jeder Augenzahl in etwa gleich sein, sofern es sich um einen fairen Würfel handelt; ist der Würfel manipuliert, lassen sich die tatsächlichen Wahrscheinlichkeiten für die jeweiligen Ausgänge eines Wurfes an der relativen Häufigkeit einer jeden Augenzahl in der gezogenen Stichprobe ablesen. Dies bedeutet, dass eine häufig und zufällig gezogene Stichprobe im Mittel hinsichtlich 72 aller Merkmale repräsentativ für die Population ist, da sie bei vielfacher zufälliger Ziehung dem Durchschnitt der Population entspricht. Ist die Stichprobe zu klein, so ist sie zwar hinsichtlich eines Merkmals repräsentativ, es besteht aber die Gefahr, dass sie hinsichtlich weiterer Merkmale untypisch ist und damit nicht der tatsächlichen Häufigkeit dieser Merkmale in der Population entspricht. Da Sinn und Zweck der Stichprobe aber gerade ist, mit Hilfe der beobachteten Werte die Werte in der Population (die sich in der Regel nicht vollständig erfassen bzw. erheben lässt) zu schätzen, ist eine möglichst exakte Abbildung der Population in der Stichprobe unabdingbar. Je größer also eine Stichprobe ist, umso zuverlässiger sind die aus ihr abgeleiteten Einsichten. 128 Trübner/Mühlichen (Fn. 92), S. 148. 129 Handl/Kuhlenkasper (Fn. 48), S. 308; Cleff, Angewandte Induktive Statistik und Statistische Testver-
fahren, 2019, S. 6 ff.
130 Bernoulli, Ars Conjectandi (The Art of Conjecturing, 1713), S. 225, zitiert in Stigler, The History of
Statistics, 1986, S. 65.
Emanuel V. Towfigh
785
B. Grundlagen empirischer Methoden
2. Hypothesen
Die aus der Theorie und dem Modell abgeleiteten Hypothesen, die entweder auf einen 73 Zusammenhang zwischen Merkmalen oder auf einen Unterschied zwischen bestimmten Gruppen gerichtet sind, werden im Rahmen eines Hypothesentests daraufhin untersucht, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Zusammenhang bzw. Unterschied besteht.131 Hierfür bedarf es zunächst einer sogenannten Nullhypothese (H0) und der Alternativ- 74 hypothese (H1). Die Nullhypothese geht dabei in der Regel davon aus, dass ein Unterschied oder Zusammenhang nicht besteht, während die Alternativhypothese (Forschungshypothese) vom Bestehen eines Unterschieds oder Zusammenhangs ausgeht.132 Sie beschreibt den erwarteten Effekt, den die unabhängige Variable (z. B. Geschlecht) auf die abhängige Variable (z. B. Gehalt) haben soll. Aus epistemischen Gründen können Hypothesen nur verworfen werden; deshalb sollten Nullhypothese und Alternativhypothese so formuliert sein, dass sie gemeinsam alle möglichen Erklärungen beinhalten und sich gleichzeitig gegenseitig ausschließen (MECE-Regel: mutually exclusive, collectively exhaustive), die Alternativhypothese also wirklich die eine Alternative zur Nullhypothese darstellt: Denn dann liegt in der Widerlegung der Nullhypothese automatisch die Bestätigung der Alternativhypothese. Ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass ein durch eine Hypothese behaupteter und in 75 den Daten beobachteter Unterschied zwischen Merkmalsträger*innen oder Zusammenhang zwischen Merkmalen auf einem Irrtum beruht oder durch den Zufall erzeugt wird (und eben nicht durch einen musterzeugenden Mechanismus133), so wird dieses Ergebnis als signifikant bezeichnet. Ein Irrtum kann entweder darin bestehen, dass ein Unterschied angenommen wird, obwohl er nicht existiert (Fehler 1. Art, type I error oder α-Fehler → „falsch positiv“); oder darin, dass ein tatsächlich bestehender Unterschied nicht erkannt wird (Fehler 2. Art, type II error oder β-Fehler → „falsch negativ“). Ein strengeres Signifikanzniveau birgt eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen Fehler 2. Art, also die fälschliche Ablehnung der Alternativhypothese.134 Nullhypothese (H0) ist wahr
falsch
Test weist H0 zurück
Fehler 1. Art (= falsch positiv) (Wahrscheinlichkeit = a)
Richtiges Ergebnis (wahr positiv) (Wahrscheinlichkeit = 1 – b)
Test weist H0 nicht zurück
Richtiges Ergebnis (wahr negativ) (Wahrscheinlichkeit = 1 – a)
Fehler 2. Art (= falsch negativ) (Wahrscheinlichkeit = b)
Mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Unterschied oder Zusammenhang signifikant ist, wird 76 durch das Signifikanzniveau (α) festgelegt. Die Konventionen für die Bestimmung des Sig131 Siehe oben Rn. 34 ff. (B. II.).; Schäfer (Fn. 57), S. 139. 132 Schäfer (Fn. 57), S. 158. 133 Ein mustererzeugender Mechanismus kann beispielsweise ein aus dem rational actor model abge-
leitetes Verhaltensmuster („as if “) sein, so dass sich dieser Ansatz besonders für sozialwissenschaftliche empirische Studien eignet. 134 Hagen (Fn. 108), S. 137. Emanuel V. Towfigh
786
§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
nifikanzniveaus sind je nach Disziplin unterschiedlich, die in der Rechtsempirie häufigste Konvention ist wohl 10 Prozent = marginal signifikant, 5 Prozent = signifikant; 1 Prozent = hoch signifikant;135 das bedeutet, dass ein Ergebnis dann als „statistisch signifikant“ (und damit als verlässlich) eingestuft wird, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass der Zusammenhang irrig angenommen wird, kleiner als 5 Prozent ist. Empirische Studien berichten häufig den p-Wert ihrer Tests, der Auskunft über die statistische Signifikanz des Ergebnisses gibt: Er bezeichnet die Wahrscheinlichkeit für einen Fehler der 1. Art; nur wenn er kleiner ist als das Signifikanzniveau, ist das Ergebnis statistisch signifikant.136 3. Testen von Zusammenhängen 77 Insbesondere zum Nachweis struktureller Diskriminierungen eignen sich statistische
Testverfahren, die Aussagen darüber treffen können, ob zwischen zwei sozialen Faktoren (Variablen) ein statistischer Zusammenhang besteht.137 Dabei bezeichnet man das soziale Phänomen, dessen Auftreten erklärt werden soll, als abhängige Variable und das Phänomen, das die Veränderungen in der abhängigen Variablen erklären soll, als unabhängige Variable.138
a) Korrelationen
Sollen die Zusammenhänge zwischen zwei gemessenen Variablen untersucht werden, so erfolgt dies mit Hilfe von Korrelationen.139 79 Nicht selten werden Zusammenhänge zwischen Variablen in grafischen Darstellungen wie zum Beispiel Streudiagrammen bereits sichtbar: Die Datenpunkte verlaufen ungefähr in einer Linie und auf X- und Y-Achse gleichermaßen ansteigend (positive Korrelation) oder absteigend (negative Korrelation). Sind die Daten nicht miteinander korreliert, so ist die Punktwolke eher kreisförmig, ein Zusammenhang nicht erkennbar. 78
Quelle: Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 459. 135 136 137 138 139
Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 444. Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 444. Hagen (Fn. 108), S. 89 ff. Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 459. Siehe oben Rn. 28 (B. I.). Emanuel V. Towfigh
B. Grundlagen empirischer Methoden
787
Um Aussagen darüber treffen zu können, wie stark dieser Zusammenhang ist, kann die 80 Korrelation berechnet werden.140 Der hierfür verwendete Wert ist der sogenannte Korrelationskoeffizient r (nach Pearson), der den (linearen) Zusammenhang zwischen den Variablen widerspiegelt, die sich einer linearen Funktion annähern. Der Wert des Korrelationskoeffizienten bewegt sich dabei zwischen 1 und -1, wobei bei einem Korrelationskoeffizienten von 0 die Variablen nicht korreliert sind, also in keinerlei Zusammenhang stehen. Ob ein Effekt nennenswert – relevant – ist, wird mit Hilfe von Maßen für die Effektstärke beurteilt, etwa mit Cohens d. In den Sozialwissenschaften wird ein Korrelationskoeffizient von r > 0,1 als schwach, von r > 0,3 als mittel und ab r > 0,8 als stark eingestuft; letztlich ist die Einstufung aber abhängig von den a priori Erwartungen des Modells. Würde sich in einem – fiktiven – Datensatz zeigen, dass die Abiturnote im Fach Deutsch 81 perfekt positiv mit der Staatsexamensnote korreliert ist (r = 1), dann würde ein Streudiagramm für jeden zusätzlichen Punkt der Abiturnote Deutsch eine Steigung von 1,2 Punkten im Staatsexamen zeigen. Als reales Beispiel mag hier eine 2011 veröffentlichten Studie dienen, die unter anderem das Ausmaß gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit untersuchte und einen Zusammenhang zwischen Fremden- und Islamfeindlichkeit zeigte; der Korrelationskoeffizient betrug r = 0.59. Auch Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus waren mit einem Korrelationskoeffizienten von r = 0.41 korreliert, es handelt sich also um Korrelationen mittlerer Stärke, die einen Zusammenhang zwischen den untersuchten Merkmalen nahelegen.141 b) Regressionen
Während die Korrelation Auskunft darüber gibt, ob zwischen zwei Variablen ein Zusam- 82 menhang besteht, kann mit Hilfe einer Regression genauer ermittelt werden, wie stark der Zusammenhang zwischen abhängiger (zu erklärender) und einer oder mehreren unabhängigen (erklärenden) Variablen ist.142 Die Regression ermöglicht auch die Vorhersage, ob die unabhängige Variable die abhängige beeinflusst (Ursachenanalyse), eine Veränderung der unabhängigen Variable die abhängige ebenfalls verändert (Wirkungsanalyse) oder wie sich die abhängige Variable mit der Zeit verändert (Zeitreihenanalyse).143 Hierfür nutzt sie die Korrelation von Variablen, um die Werte der einen Variable aus 83 den Werten der anderen Variablen vorherzusagen, so dass beispielsweise die Frage beantwortet werden kann, wie das Einkommen einer Arbeitnehmer*in von Bildung, Alter und Geschlecht abhängt oder wie sich Geschlecht und/oder Herkunft von Examenskandidat*innen auf ihre Examensergebnisse auswirken.144 140 Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 459; Schäfer (Fn. 57), S. 91. 141 Zick/Küpper/Hövermann, Die Abwertung der Anderen: eine europäische Zustandsbeschreibung zu
Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung, 2011, S. 79 ff.
142 Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 467. 143 Ausführlich zu Regressionen Goerg/Petersen (Fn. 5), Rn. 466 ff.; Schäfer (Fn. 57), S. 103; Kosfeld/
Eckey/Türck (Fn. 109), S. 225 ff.
144 Towfigh/Traxler/Glöckner (Fn. 67), S. 115 ff.
Emanuel V. Towfigh
788 84
§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
In einem Regressionsmodell wird die Funktion geschätzt, die die Punktwolke aus der Korrelation am besten beschreibt. Wird beispielsweise ein linearer Zusammenhang angenommen (wie er sich in den oben abgebildeten Punktwolken aufdrängt), so wird die aus der Oberstufenmathematik in ihrer Grundform bekannte Funktion y = f(𝑥) = α + b • 𝑥 + ε
„geschätzt“; bei quadratischen Zusammenhängen wird eine quadratische Funktion (𝑥2) geschätzt, ferner kann auch jede andere Art bekannter Zusammenhänge (etwa logarithmische) geschätzt werden. Der Anschaulichkeit halber wird die (hinreichend komplexe) Funktionsweise von Regressionen im Folgenden mit der – im Rahmen rechtsempirischer Forschung wohl am häufigsten eingesetzten – linearen Regression (ordinary least squares = OLS-Regression) dargestellt. 85 Die Steigung dieser Funktion wird mit dem Koeffizienten b bezeichnet. Sie spiegelt den Einfluss der unabhängigen Variablen auf die abhängige Variable wider. α bezeichnet die Konstante, also den Wert, an dem die Funktion die y-Achse schneidet (auch y-Achsenabschnitt genannt); und ε bezeichnet den Fehlerterm (error term, auch Störgröße oder Residuum), also den Abstand des jeweiligen konkreten Punkts in der Punktwolke von der Funktion. Dabei handelt es sich gleichsam um die Summe der nicht beobachteten Variablen, die nicht mit 𝑥 korreliert sein dürfen, folglich im Mittel alle Ziehungen der Stichprobe gleichermaßen betreffen – und damit als „weißes Rauschen“ betrachtet werden dürfen. Die OLS-Regression bestimmt die zu den Daten am besten „passende“ Funktion (das 86 heißt insbesondere die angemessenen Koeffizienten), indem sie die Abweichungen jedes einzelnen Punkts der Punktwolke quadriert, dieses Ergebnis addiert und aus den möglichen Funktionen jene auswählt, bei der die Summe der quadrierten Abweichungen am geringsten ist. 1.
2.
3.
Emanuel V. Towfigh
B. Grundlagen empirischer Methoden
789
Darüber hinaus kann auch der Einfluss mehrerer unabhängiger Variablen (z. B. Ge- 87 schlecht und Herkunft) auf die abhängige Variable (z. B. y = Note im juristischen Staatsexamen) geschätzt werden, etwa wie folgt: y𝑥 = α + β1 • Geschlecht𝑥 + β2 • Herkunft𝑥 + γ • Kontrollvariablen𝑥 + ε𝑥 Geschlecht und Herkunft beeinflussen mit ihren Koeffizienten β1 und β2 die Steigung der Funktion y. Je nachdem, ob sich die Variable „Herkunft“ auf Examenskandidat*innen mit oder ohne Migrationshintergrund bezieht oder ob die Examenskandidat*innen männlich oder weiblich sind, verändert sich die Funktion. Neben dem Koeffizienten b sind auch Gütemaße der Regression und die Signifikanzen der Regressionskoeffizienten von Bedeutung. Das Bestimmtheitsmaß (R2) und die F-Statistik stellen dabei gängige Gütemaße dar; sie geben Auskunft darüber, wie gut die geschätzte Regressionsfunktion die empirischen Daten abbildet. Das Bestimmtheitsmaß R2 kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen; je höher es ist, desto besser wird die in den Daten vorhandene Streuung145 durch die Regressionsgleichung erklärt. Um mit dem Koeffizienten b Vorhersagen über die Stichprobe hinaus treffen zu können, sollte R2 möglichst groß sein. Wäre R2 zu klein, bedeutete das für unser Beispiel, dass Herkunft bzw. Geschlecht keine geeigneten Faktoren wären, um Unterschiede im Examensergebnis zu erklären. Die F-Statistik gibt Auskunft darüber, ob das Ergebnis einer Regressionsrechnung von der Stichprobe auf die Population übertragen werden kann. Ist die F-Statistik signifikant, so bedeutet dies, dass generell ein statistisch robuster Zusammenhang zwischen mindestens einer unabhängigen und der abhängigen Variablen besteht. Da der F-Test aber keine Aussage darüber treffen kann, ob alle bzw. welche unabhängigen Variablen in einem signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variablen stehen, wird zusätzlich mittels der t-Statistik für jede einzelne unabhängige Variable geprüft, ob ein signifikanter Zusammenhang mit der abhängigen Variablen besteht. Mit der Regressionsanalyse ist es ferner möglich, Interaktionseffekte zu erkennen. Als Interaktionseffekt werden solche Einflüsse auf die abhängige Variable bezeichnet, die durch die gleichzeitige Berücksichtigung bzw. durch die Kombination mehrerer unabhängiger Variablen entstehen. Es kann also untersucht werden, welche Auswirkungen das gemeinsame Auftreten unabhängiger Variablen auf die abhängige Variable hat. Für die Antidiskriminierungsforschung ist diese Möglichkeit wertvoll, da mit ihr intersektionale Diskriminierung erforscht werden kann.146 Es ließe sich zum Beispiel zeigen, wie sich die abhängige Variable „Gehalt“ verändert, wenn neben dem Merkmal „Geschlecht“ auch noch das Merkmal „Herkunft“ oder „Kinderzahl“ in der Regressionsanalyse berücksichtigt wird.
145 Siehe oben Rn. 61 (B. V. 2.). 146 Rouhani, Intersectionality-informed Quantitative Research: A Primer, 2014; Bowleg, When Black +
Lesbian + Woman ≠ Black Lesbian Woman, Sex Roles 59 (2008), S. 312 ff. Emanuel V. Towfigh
88
89
90
91
92
790
§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
VII. Anforderungen an die Messung 93
Ganz gleich, welcher Art die zugrunde liegenden Daten und das angewendete Testverfahren sind, in jedem Falle ist wichtige Voraussetzung für seriöse Forschungsergebnisse, dass der Test objektiv (Objektivität), zuverlässig (Reliabilität) und gültig (Validität) ist.147 1. Objektivität
Durch die Objektivität eines Tests soll sichergestellt werden, dass die Ergebnisse vergleichbar bleiben, auch wenn unterschiedliche Personen den Test durchführen.148 Die Messung muss unabhängig von der Leiter*in des Tests sowie von den mit der Auswertung betrauten Personen sein. Durch einen hohen Grad an Standardisierung und durch multiple Beurteiler*innen kann erreicht werden, dass wenig Spielraum verbleibt, der einen Einfluss der durchführenden Personen auf die Art der Durchführung, der Auswertung und der Interpretation der Messungen zulässt.149 95 Objektivität ist besonders bei der Analyse von Big Data eine Herausforderung.150 Typischerweise sind diese Datensätze sehr umfangreich, die in ihnen enthaltenen Daten stehen oftmals nicht in einem inneren Zusammenhang. Auch ist häufig der zugrunde liegende Erhebungsmechanismus nicht klar, da die Erhebung nicht theoriegeleitet erfolgte,151 so dass die Gefahr besteht, bei der Operationalisierung etwas womöglich von der Analyst*in Erwünschtes in die Daten hineinzulesen. 96 Laborexperimente weisen dagegen typischerweise eine hohe Objektivität bei der Durchführung auf, da hier die Testbedingungen konstant sind und kaum eine Beeinflussung der Testpersonen etwa durch das Auftreten oder die Art und Weise der Fragestellung durch die den Test durchführende Person erfolgen kann. Gerade die Auswertung offener Fragen bedarf indessen klarer Vorgaben, wie mit unterschiedlichen Antworten umzugehen ist und wie diese gegebenenfalls zu gewichten sind.152 97 Mit Blick auf die Interpretation der Testwerte ist eine eindeutige und klare Standardisierung unerlässlich, damit die Schlussfolgerungen einheitlich und vergleichbar sind.153 In der Antidiskriminierungsforschung sind es häufig Interessenvertretungen – wie etwa die Antidiskriminierungsstelle des Bundes oder sich der Antidiskriminierungspolitik widmende Stiftungen154 –, die entsprechende Forschung initiieren und ihren Fokus darauf richten, 94
147 Glöckner/Towfigh (Fn. 79), S. 706; Cleff (Fn. 129), S. 5.; Kosfeld/Eckey/Türck (Fn. 109), S. 21; Krebs/
Menjold (Fn. 80), S. 489 ff.
148 Moosbrugger/Kelava, Qualitätsanforderungen an einen psychologischen Test, in: dies. (Hrsg.), Test-
theorie und Fragebogen-Konstruktion, 2. Aufl. 2012, S. 8. Glöckner/Towfigh (Fn. 79), S. 706; Moosbrugger/Kelava (Fn. 148), S. 8. Siehe oben Rn. 51 (B. IV. 3.). Siehe oben Rn. 36 (B. II. 1.). Krebs/Menjold (Fn. 80), S. 491 ff. Goldhammer/Hartig, Interpretation von Testresultaten und Testeichung, in: Moosbrugger/Kelava (Hrsg.), Testtheorie und Fragebogen-Konstruktion, 2. Aufl. 2012, S. 174; Döring/Bortz, Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Empirischen Sozialforschung, in: dies., Forschungsmethoden und Evaluation, 5. Aufl. 2016, S. 31 (70). 154 Lenhart/Roth, Anti-Diskriminierung als zivilgesellschaftliches Projekt, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 615 (626 ff.). 149 150 151 152 153
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B. Grundlagen empirischer Methoden
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Diskriminierungen nachzuweisen. Das Objektivitätserfordernis stellt nicht nur in diesen Fällen hohe Anforderungen an die Fähigkeit der Forschenden zur (Selbst-)Reflektion ihrer Subjektivität und Perspektivität.155 2. Reliabilität
Reliabilität bezeichnet die Messgenauigkeit eines Tests.156 Keine Messung ist fehlerfrei. 98 Messfehler, die dazu führen, dass der Messwert nicht mit der tatsächlichen Merkmalsausprägung übereinstimmt, können dabei in der Person, in der Situation oder in deren Zusammentreffen liegen. Reliabilität wird unter anderem dadurch hergestellt, dass die Ergebnisse von unabhängigen Teilen des Tests miteinander korreliert werden oder vergleichbare Tests wiederholt durchgeführt werden. Beispiele hierfür sind etwa das Test-Retest-Design (bei dem mit zeitlichem Abstand eine Messung wiederholt wird) oder die in den Sozialwissenschaften eher selten eingesetzten Paralleltests (bei denen zwei verschiedene Messinstrumente verwendet werden und eine Übereinstimmung der Werte ein Indiz für ihre Reliabilität ist).157 Auch die Reliabilität wird als Korrelationskoeffizient ausgedrückt, der für den Nachweis der Messgenauigkeit hoch sein muss.158 Sie wird etwa mit Cronbachs α angegeben. 3. Validität
Auf der Grundlage der in statistischen Testverfahren – wie z. B. der Regressionsanalyse – 99 ausgewerteten Daten werden schließlich die eigentlichen Schlussfolgerungen gezogen. Diese Schlussfolgerungen sind in ihrer Aussagekraft begrenzt und können aus den oben erwähnten epistemischen Gründen keinen sicheren Beweis darstellen. Sie sind aber in ihrer Begrenztheit verwertbar und aussagekräftig, solange sie valide sind. Validität bewertet und beurteilt in diesem Zusammenhang die Qualität einer Schlussfolgerung (vgl. im Unterschied hierzu die Ausführung zur Validität des Tests oben unter III.). Dabei müssen verschiedene Validitätskriterien erfüllt sein: (a) statistische Validität, (b) interne Validität und (c) externe Validität.159 Die Validität ist das wichtigste Kriterium zur Beurteilung der Qualität einer Messung, 100 Reliabilität und Objektivität allein vermögen einen nicht validen Test nicht zu retten.160 Die Messergebnisse einer falsch geeichten Waage hängen nicht von der die Messung durchführenden Person ab (sind also objektiv) und ändern sich auch bei wiederholter 155 Zur wissenschaftstheoretischen Dimension dieser Frage vgl. Döring/Bortz (Fn. 153), S. 61 ff. 156 Glöckner/Towfigh (Fn. 79), S. 707. 157 Häder (Fn. 61), S. 110 ff. auch zu weiteren Verfahren zur Überprüfung der Reliabilität und ihrer
Schwachpunkte.
158 Moosbrugger/Kelava (Fn. 148), S.11. 159 Shadish/Cook/Campbell, Experimental and Quasi-Experimental Designs for Generalized Causal In-
ference, 2002, S. 33 ff.
160 Hartig/Frey/Jude, Validität, in: Moosbrugger/Kelava (Hrsg.), Testtheorie und Fragebogen-Konstruk-
tion, 2. Aufl. 2012, S. 144 ff.; Döring/Bortz, Datenerhebung, in: dies., Forschungsmethoden und Evaluation, 5. Aufl. 2016, S. 321 (469 ff.). Emanuel V. Towfigh
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§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
Messung nicht (sind folglich auch reliabel), sie sind aber dennoch nicht valide, da eine korrekt geeichte Waage andere – richtige – Messergebnisse hervorbringen wird. a) Statistische Validität 101
Statistische Validität einer Schlussfolgerung wird dann bejaht, wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Beobachtung nicht zufällig war, sondern auf einer Gesetzmäßigkeit beruht. Ein Indiz hierfür ist die statistische Signifikanz eines Effekts.161 Aber auch das Gesetz der großen Zahlen wird zur Beurteilung der statistischen Validität herangezogen: Erst ab einer gewissen Zahl an Beobachtungen (Teststärke oder statistical power) kann eine Aussage darüber getroffen werden, ob eine Beobachtung bloß zufällig ist oder ob ihr eine Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt; so ist beispielsweise die statistische Validität einer Studie mit nur wenigen Beobachtungen gering. b) Interne Validität
Die interne Validität beurteilt, ob das Ergebnis kohärent ist. Sie soll verhindern, dass bestimmte Störfaktoren nicht ausgeschlossen wurden bzw. berücksichtigt blieben und damit das Ergebnis beeinflusst haben. Interne Validität wird sichergestellt durch ein gutes Forschungsdesign, welches sämtliche Faktoren identifiziert und berücksichtigt, die Einfluss auf die erklärenden oder zu erklärenden Variablen haben können. An interner Validität und Aussagekraft der Studienergebnisse kann es auch dann fehlen, wenn potentielle Störfaktoren nicht beobachtbar oder messbar sind. 103 Schließlich ergibt sich eine gewisse Nähe zur Operationalisierung der Forschungsfrage und der ihr zugrundeliegenden Konzepte: Misst der Test mehr oder andere Konzepte (also etwa Sprachkenntnis statt Sprachkompetenz oder neben der Einstellung zu Ausländer*innen auch den Nationalismus), so mangelt es der Messung auch an interner Validität.162 102
c) Externe Validität 104
Eine empirische Studie soll den induktiven Schluss von der Stichprobe auf die Population, mithin eine Verallgemeinerung, ermöglichen. Ein Schluss auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten geht damit nicht zwingend einher: Die Ergebnisse einer Studie, die mit Student*innen durchgeführt wurde, können zwar auf „alle Student*innen“ übertragen werden, aber nicht ohne Weiteres auch auf Rentner*innen. Hierzu müsste das Forschungsdesign entsprechend angepasst werden und auch Rentner*innen mit einbeziehen. Die externe Validität (Verallgemeinerbarkeit) ist also beschränkt: Sie genügt für die Annahme, dass die Ergebnisse der Stichprobe auf die Population der Student*innen im Allgemeinen übertragbar sind, reicht aber nicht so weit, dass angenommen werden darf, die Befunde gälten auch für andere Populationen.
161 Siehe oben Rn. 75 f. (B. VI. 2.). 162 Siehe oben Rn. 40 ff. (B. III.).
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B. Grundlagen empirischer Methoden
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Die externe Validität verlangt daher regelmäßig ein umfangreiches Forschungsprogramm 105 und die Berücksichtigung einer großen Zahl von Szenarien und Variablen. Damit kollidiert sie häufig mit den Anforderungen an die interne Validität, die gerade auf eine Begrenzung der zu untersuchenden Faktoren unter Ausschluss möglicher Störfaktoren setzt. Hier einen angemessenen Ausgleich zu finden, ist eine Herausforderung für empirische Studien. VIII. Testing-Verfahren
Den tatsächlichen Schwierigkeiten des Nachweises von Diskriminierung in einem gericht- 106 lichen Verfahren trägt das AGG mit einer Modifizierung der allgemeinen Regeln zur Darlegungs- und Beweislast Rechnung.163 Unter anderem sogenannte Testing-Verfahren sollen dabei helfen, die Vermutung einer 107 Diskriminierung mit entsprechenden Indizien zu untermauern.164 Im Rahmen von Testing-Verfahren wird das Verhalten z. B. von Arbeitgeber*innen, Wohnungseigentümer*innen oder Gastronom*innen gegenüber einer Person, welche eines der Merkmale des § 1 AGG trägt, verglichen mit dem Verhalten gegenüber einer Vergleichsperson, die dieses Merkmal nicht trägt. Zum Beispiel werden identische Bewerbungsunterlagen eingereicht, die sich lediglich im Merkmal „ethnische Herkunft“ unterscheiden, oder es werden in im Übrigen identischen Bewerbungsunterlagen unterschiedliche Bewerbungsfotos (männlich/weiblich, mit/ohne religiöses Kopftuch usw.) verwendet. Die Motivation für ein Testing-Verfahren liegt in der Regel darin, verdecktes, unmittelbar diskriminierendes Verhalten im Rahmen einer bewusst herbeigeführten Situation sichtbar zu machen, um in einem antidiskriminierungsrechtlichen Prozess den Nachweis einer Diskriminierung führen zu können.165 Testing-Verfahren ermöglichen also in erster Linie die Aufdeckung von Diskriminierung 108 in einem Einzelfall und stellen ein pragmatisches Mittel dar, in der Rechtsdurchsetzung den Nachweis von Diskriminierung zu erleichtern. Sie bieten die Möglichkeit, kontrafaktische Situationen aufzuzeigen: Wird die Bewerbung einer Bewerber*in mit Migrationshintergrund abgelehnt, eine erneute – bis auf das Merkmal des Migrationshintergrunds identische – Bewerbung auf dieselbe Stelle hingegen nicht, so sind für diesen konkreten Fall die Indizien stark, dass die Ablehnung der Bewerbung diskriminierend war. 163 Siehe → Muthorst, § 19 Rn. 33 ff. zum Beweisrecht; Krieger/Günther, Vorsicht Falle! Diskriminierungsnachweis durch Testing-Verfahren?, NZA 2015, S. 262; Schleusener, Diskriminierungsfreie Einstellung zwischen AGG und Frauenförderungsgesetz, NZA-Beilage 2016, S. 50; Grünberger/Reinelt, Konfliktlinien im Nichtdiskriminierungsrecht, 2020, S. 27. 164 BT-Drs. 16/1780, S. 47; Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 22 AGG, Rn. 14; Payandeh, Rechtlicher Schutz vor rassistischer Diskriminierung, JuS 2015, S. 695 (700); Krieger/Günther (Fn. 163), S. 262; LAG Schleswig-Holstein, Urt. v. 9.4.2014, 3 Sa 401/13; Franke/Schlenzka, Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft und rassistische Diskriminierung im Spiegel von Daten und Rechtsprechung, ZAR 2019, S. 179 (181); Arndt, Das Problem der Diskriminierung, 2023, § 5 A., im Erscheinen. 165 So etwa im Rahmen von Verfahren strategischer Prozessführung in Leipzig, siehe hierzu Kinsky, Mit Recht gegen Rassismus – Grenzen strategischer Prozessführung im Rahmen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) am Beispiel diskriminierender Einlasskontrollen vor Diskotheken, 2017, S. 70 ff.
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§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
Aus ökonometrischer bzw. statistischer Perspektive sind Testing-Verfahren jedoch kein zuverlässiges Mittel, um über einen Einzelfall hinaus Diskriminierung nachzuweisen, da sie in der Regel nicht geeignet sind, verallgemeinerbare Erkenntnisse zu Diskriminierung zu schaffen. Während die Inferenzstatistik aus der Betrachtung einer Stichprobe Aussagen für eine Population treffen kann,166 kann im Testing-Verfahren nur eine Aussage über den konkret „getesteten“ Fall getroffen werden. 110 Für die Durchführung von Testing-Verfahren gilt, dass ihre Tauglichkeit und ihr Wert ganz maßgeblich von der Qualität ihrer Ausführung abhängen. Um ausschließen zu können, dass eine Ablehnung nicht auf Unterschieden beruht, die nicht das Diskriminierungsmerkmal betreffen, müssen die Profile der Merkmalsträger*in und der Vergleichsperson tatsächlich völlig identisch sein, sie dürfen sich nur im Diskriminierungsmerkmal unterscheiden. Schon die unterschiedliche Gestaltung einer inhaltlich ansonsten identischen Bewerbung ist geeignet, Zweifel daran zu begründen, dass die Ablehnung der Bewerber*in (allein) auf das Diskriminierungsmerkmal zurückgeführt werden kann. 111 Ferner sind die Testing-Verfahren unter ethischen Gesichtspunkten nicht unproblematisch. Durch den verdeckten Charakter des Verfahrens befinden sich die „Tester*innen“ unter Umständen im Grenzbereich strafbarer Handlungen.167 Die Verwendung unrichtiger Bewerbungsunterlagen kann etwa eine Urkundenfälschung nach § 267 StGB darstellen (wobei es in der Regel wohl am subjektiven Tatbestand fehlen dürfte).168 Abseits von strafrechtlichen Implikationen ist es jedoch auch problematisch und steht im Widerspruch zu den Standards guter wissenschaftlicher Praxis, wenn Testpersonen über ihre Rolle als Testperson getäuscht werden, was beim Testing-Verfahren regelmäßig der Fall ist, da es für ein erfolgreiches Testing-Verfahren unabdingbar ist, dass „überprüfte“ Arbeitgeber*innen keinerlei Kenntnis von der Testing-Situation haben und über die Ernsthaftigkeit der Bewerbungen getäuscht werden.169 Das mag in einem kontradiktorischen Gerichtsverfahren eine akzeptable Beweislasterleichterung darstellen (denn hier gelten andere Standards als jene guter wissenschaftlicher Praxis), im Hinblick auf Methodenstrenge (im Sinne intersubjektiver Vermittelbarkeit) stellt die heimliche Datenerhebung indessen ein Problem dar. Die Gerichte in Deutschland tun sich (noch) schwer mit der Akzeptanz von in Testing112 Verfahren gewonnen Beweisen. Ihre tatsächliche Bedeutung ist in Gerichtsverfahren daher nach wie vor gering.170 In einem der wenigen Gerichtsverfahren wegen Diskriminierung, in denen Testing eine Rolle spielte, wurde daher gerade mit dem Argument, dass die Diskriminierung „provoziert“ worden war, die dem Kläger dem Grunde nach zustehende Entschädigung um die Hälfte gekürzt.171 Durch Testing-Verfahren gewonnenen Indizien hängt 109
166 Siehe oben Rn. 64 (B. VI.). 167 Klose/Kühn, Expertise: Die Anwendbarkeit von Testing-Verfahren im Rahmen der Beweislast, § 22
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2010, S. 23. 168 Krieger/Günther (Fn. 163), S. 264. 169 Vgl. zum forschungsethischen Problem der Täuschung von Versuchspersonen Döring/Bortz, Forschungs- und Wissenschaftsethik, in: dies., Forschungsmethoden und Evaluation, 5. Aufl. 2016, S. 121 (123 ff.); Friedrichs (Fn. 93), S. 67 ff. 170 Klose/Kühn (Fn. 167), S. 9; zu Testing-Verfahren in anderen europäischen Ländern vgl. ebd., S. 12 ff. 171 AG Oldenburg, Urt. v. 23.7.2008, E2 C 2126/07 (V ), Rn. 23. Emanuel V. Towfigh
C. Fehlerquellen beim Einsatz empirischer Methoden
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der Makel der Intentionalität an – was allerdings mit Blick auf die Regeln des Zivilprozesses und das Problem der „Waffengleichheit“ angesichts der besonderen Schwierigkeit des Nachweises versteckter Diskriminierung jedenfalls so lange nicht zu beanstanden ist, wie das Instrument nicht missbraucht wird („AGG-Hopping“). Die genannten Schwierigkeiten und die fehlende Verallgemeinerbarkeit der in Testing- 113 Verfahren gewonnenen Aussagen könnten ein Grund für das vergleichsweise geringe Interesse der Wissenschaft an Testing-Verfahren sein, deren Bedeutung also eher rechtspraktisch, bei der Lösung konkreter beweisrechtlicher Fragen anzusiedeln ist.172
C. Fehlerquellen beim Einsatz empirischer Methoden Bei der Rezeption empirischer Studien sind Sorgfalt und Aufmerksamkeit erforderlich; 114 Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen, die sich für ihre Arbeit mit empirischen Studien zu Diskriminierung befassen (müssen), sollten im besten Fall in der Lage sein, Schwachstellen einer Studie zu erkennen. Es gilt, Fehler – wie z. B. die angesprochenen Scheinkorrelationen173 – zu vermeiden bzw. sie bei der Rezeption einer Studie zu erkennen. Jurist*innen sind in der Mehrzahl hierfür nur unzureichend ausgebildet und – Achtung: Vorurteil! – scheuen häufig die ihnen unsympathische Befassung mit „Zahlen“. Dabei können potentielle Schwachstellen empirischer Studien von aufmerksamen Rezipient*innen häufig auch ohne ein vertieftes Verständnis der mathematischen Zusammenhänge erkannt werden, wenn sie typischerweise auftretende Fehler und Verzerrungen kennen. I. Verzerrung durch ausgelassene Variablen
Nur wenn möglichst alle relevanten Variablen mit einbezogen werden, kann ein umfassen- 115 des Bild entstehen und unter Umständen sogar ein der Diskriminierung zu Grunde liegendes Vorurteil sichtbar gemacht werden. Anderenfalls droht eine Verzerrung der Ergebnisse durch ausgelassene Variablen (omitted variable bias).174 Ausgelassene Variablen verzerren die Schätzung des Regressionskoeffizienten.175 Dieser gibt dann unter Umständen nicht mehr die kausale Wirkung der unabhängigen Variablen auf die abhängige Variable an. II. Bayes-Theorem und Basisraten-Fehler
Der Nachweis einer Diskriminierung wird häufig im Rahmen eines gerichtlichen Verfah- 116 rens zu führen sein, er ist daher untrennbar mit dem Beweisrecht verbunden.176 Gerichtliche Entscheidungen sind dabei in einem gewissen Maß immer Entscheidungen unter 172 173 174 175 176
Hierzu ausführlich → Muthorst, § 19 Rn. 24 ff. Siehe oben Rn. 29 (B. I.). Siehe oben Rn. 33 (B. I.). Siehe oben Rn. 89 ff. (B. VI. 3. b)). Vgl. hierzu ausführlich → Muthorst, § 19. Emanuel V. Towfigh
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§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
Unsicherheit.177 Diesem Umstand trägt das Recht mit Beweislastregeln, Rechtsvermutungen und Fiktionen Rechnung, um Entscheidungen zu ermöglichen, die mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit zutreffend sind.178 So müssen selbst Strafrichter*innen für eine Verurteilung von einem Sachverhalt nicht vollkommen überzeugt sein, „zwingende“ Gewissheit ist nicht erforderlich. Der BGH hält vielmehr ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt, für ausreichend.179 Auch für den Zivilprozess hat der BGH ausgeführt, dass das Gesetz eine von allen Zweifeln freie Überzeugung nicht voraussetzt: „Auf die eigene Überzeugung des entscheidenden Richters kommt es an, auch wenn andere zweifeln oder eine andere Auffassung erlangt haben würden. Der Richter darf und muss sich aber in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.“180
Ob sich die richterliche Überzeugung dabei auf die Wahrheit der Tatsachenbehauptungen oder auf ihre Wahrscheinlichkeit bezieht, ist eine Frage überwiegend theoretischer Natur.181 In der Rechtspraxis sind die Auswirkungen gering, da der Begriff der Wahrscheinlichkeit in der Regel nicht in seiner mathematischen Bedeutung verstanden, sondern als eine Heuristik gebraucht wird, um unsicheres Wissen zu umschreiben.182 118 Gleichwohl haben wir es mit unterschiedlichen Konzepten und Maßstäben zu tun, die nicht verwechselt oder vorschnell gleichgesetzt bzw. miteinander verbunden werden sollten. Dem normativen Konzept der „überwiegenden Wahrscheinlichkeit“ aus dem Recht lässt sich per se kein statistisches Äquivalent zuordnen; allerdings kann eine normative Entscheidung getroffen werden, die eine bestimmte statistische Wahrscheinlichkeit zum Zwecke der Beweisführung in einem Gerichtsverfahren ausreichen lässt. Ferner ist zu beachten, dass die Empirie in der Regel Aussagen über die Wahrscheinlichkeit abstrakter Fälle trifft, während das Gericht in einem konkreten Fall zu seiner Überzeugung gelangen muss. Die Heranziehung von Empirie entbindet daher nicht von der Interpretation solcher Einsichten für den konkreten Fall, was wiederum die Fähigkeit der Richter*innen voraussetzt, mit Daten entsprechend umzugehen.183 Empirische Befunde können etwa zeigen, dass eine Ungleichbehandlung im konkreten Fall wahrscheinlich ist: So könnte eine Studie beispielsweise nachweisen, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass männliche Kandidaten mit ausländisch klingenden Namen im Schnitt eine schlechtere Examensbewertung bekommen; unter Berücksichtigung der sozialen Mechanismen und durch den Ausschluss 117
177 Engel, Uncertain Judges, Journal of Institutional and Theoretical Economics 176 (2020), S. 44 (46);
Engel/Timme/Glöckner, Coherence-Based Reasoning and Order Effects in Legal Judgments, Psychology, Public Policy, and Law 26 (2020), S. 333 ff.; Engel/Güth, Modeling a satisficing Judge, Rationality and Society 30 (2018), S. 220 ff. 178 Hagen (Fn. 108), S. 9. 179 BGH, Urt. v. 30.3.2004, 1 StR 354/03. 180 BGH, Urt. v. 17.2.1970, III ZR 139/67. 181 Prütting, in: MüKo ZPO, Bd. 1, 6. Aufl. 2020, § 286 ZPO Rn. 33; Engel, Preponderance of the Evidence versus Intime Conviction, Vermont Law Review 33 (2009), S. 435 (441). 182 Ihden (Fn. 10), S. 22 m. w. N. 183 Engel (Fn. 181), S. 451. Emanuel V. Towfigh
C. Fehlerquellen beim Einsatz empirischer Methoden
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von Alternativerklärungen durch Kontrollvariablen kann dann gegebenenfalls gefolgert werden, dass das Verfahren insofern abstrakt diskriminierend wirkt. Aussagen zu konkreten Einzelbewertungen können aber nicht getroffen werden: Es ist nicht auszuschließen, dass die individuelle Examensnote eines konkreten männlichen Kandidaten mit ausländisch klingendem Namen sogar das Ergebnis einer besonders wohlwollenden Benotung ist. Der Umgang mit und das Denken in Wahrscheinlichkeiten hält nicht nur in Beweissi- 119 tuationen Fehlerquellen bereit, die bekannt sein sollten, um Fehlurteile zu vermeiden.184 Häufig widerspricht die menschliche Intuition auch dem zutreffenden Verständnis statistischer Wahrscheinlichkeiten, Schlüsse der Wahrscheinlichkeitstheorie werden häufig als kontraintuitiv erfahren.185 Ein Grund für das Auseinanderfallen von menschlicher Intuition und statistischer 120 Wahrscheinlichkeit kann in der Verletzung des in der Bayesianischen Statistik186 gründenden Bayes-Theorems liegen, wonach sich durch die Einbeziehung zusätzlicher Informationen ihr Einfluss auf die „tatsächliche“ Wahrscheinlichkeit verändert, bei der Schätzung von Wahrscheinlichkeiten also die a-priori-Wahrscheinlichkeiten zu berücksichtigen sind.187 Ein in der Literatur bekanntes Beispiel – das „Taxi-Beispiel“ – kann dies verdeutlichen: 121 In einer Stadt gibt es zwei Taxi-Anbieter, die Taxen des einen Anbieters sind grün, die des anderen Anbieters blau. Firma Grün gehören 85 Prozent der Taxen in der Stadt, Firma Blau 15 Prozent. Ein Taxi ist in einen nächtlichen Unfall mit Fahrerflucht verwickelt und ein Zeuge sagt aus, es habe sich um ein blaues Taxi gehandelt. Dieser Zeuge ist in der Lage, in 80 Prozent der Fälle die Fahrzeugfarbe zutreffend zu identifizieren, in 20 Prozent der Fälle gelingt ihm dies nicht. Wie hoch ist nun die Wahrscheinlichkeit, dass das Unfallfahrzeug tatsächlich blau war? Die intuitive Antwort ist, dass die Aussage des Zeugen mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit korrekt ist. Tatsächlich liegt die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Aussage aber nur bei etwa 41 Prozent:188 Die Fehleinschätzung der Wahrscheinlichkeit hat ihre Ursachen darin, dass die Information unberücksichtigt blieb, dass 85 Prozent der Taxen in der Stadt grün und 15 Prozent blau sind (base rate neglect oder Basisratenfehler).189 184 Vgl. z. B. England and Wales Court of Appeal (Criminal Division), R v Clark, [2003] EWCA Crim
1020, 11.4.2003 – die Angeklagte Sally Clark wurde zunächst wegen Mordes an ihren zwei Säuglingen verurteilt, die beide am plötzlichen Kindstod verstarben, da der Gutachter die Wahrscheinlichkeit, zwei Kinder durch den plötzlichen Kindstod zu verlieren, falsch berechnet hatte. 185 Schweizer, Kognitive Täuschungen vor Gericht, 2005, S. 124; Cleff (Fn. 129), S. 34. 186 Siehe oben Rn. 66 (B. VI.). 187 Ihden (Fn. 10), S. 149 (S. 153 ff. ausführlich zur Diskussion um die Anwendbarkeit des Bayes-Theorems in Gerichtsverfahren); Schweizer (Fn. 185), S. 124; Effer-Uhe/Mohnert, Psychologie für Juristen, 2019, S. 42 ff.; Janßen (Fn. 119), S. 9; Bunzel/Marcoul, Can racially unbiased police perpetuate long-run discrimination?, Journal of Economic Behavior & Organization 68 (2008), S. 36 (37); siehe oben Rn. 66 (B. VI.). 188 Zur genauen mathematischen Herleitung vgl. Handl/Kuhlenkasper (Fn. 48), S. 217; Janßen (Fn. 119), S. 9 ff. 189 Glöckner/Dickert, Base-Rate Respect by Intuition, Preprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods, 2008, S. 49. Emanuel V. Towfigh
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§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
Im Entscheidungsfindungsprozess eines Gerichts oder in Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften kann der Basisratenfehler etwa Auswirkungen auf die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit einer Tatbegehung durch eine*n Beschuldigte*n haben. Deuten Indizien beispielsweise auf eine Tatbegehung durch einen männlichen Täter mit Migrationshintergrund hin, so darf bei der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung durch den männlichen Beschuldigten mit Migrationshintergrund nicht nur die Verteilung des Merkmals „Migrationshintergrund“ in der Gruppe der männlichen Beschuldigten bzw. Angeklagten, mit denen Richter*innen und Staatsanwält*innen in ihrer täglichen Praxis typischerweise zu tun haben, in den Blick genommen werden. Es muss vielmehr auch berücksichtigt werden, dass in der männlichen Bevölkerung das Verhältnis zwischen Männern mit und ohne Migrationshintergrund ein anderes ist. Richter*innen und Staatsanwält*innen mag also bei Vorliegen entsprechender Indizien die Strafbarkeit einer Person mit Migrationshintergrund fälschlicherweise in höherem Maße wahrscheinlich erscheinen, als es der Fall sein würde, wenn richtigerweise auf die gesamte männliche Bevölkerung abgestellt würde. III. Kognitive Täuschungen bei Entscheider*innen
123 Neben den soeben ausgeführten Herausforderungen, die sich bei der Rezeption empiri-
scher Studien und dem Umgang mit Wahrscheinlichkeiten in Entscheidungssituationen ergeben und die sich weitgehend durch Methodenkenntnis und ein Verständnis für die Zusammenhänge bewältigen lassen, sind Entscheider*innen – und damit eben auch Jurist*innen – regelmäßig einer Reihe von kognitiven Täuschungen ausgesetzt, die ihre Urteilsbildung und Entscheidungsprozesse unbewusst beeinflussen können. Zwar hat das Wissen um diese Effekte zunächst keine Auswirkungen auf die Entscheidung im Einzelfall, die Verhaltenseffekte schwächen sich (anders als es beispielsweise beim Basisratenfehler der Fall ist) nicht allein dadurch ab, dass sie bekannt sind. Auch Richter*innen als geübte und unabhängige Entscheider*innen unterliegen ihnen in vergleichbarem Maße wie Nicht-Richter*innen.190 Dennoch sollten wir sie kennen und uns bewusst machen sowie, soweit möglich, Strategien einsetzen, die die Gefahr dieser kognitiven Fehlleistungen reduzieren.191 124 Die Urteilsbildung kann beeinflusst werden durch den Rückschaufehler (hindsight bias)192 und durch überzogenen Optimismus (overconfidence).193 Sie bilden oftmals die Kehrseite von Heuristiken, derer wir uns bedienen, um in komplexen Situationen mit Hilfe einer „kognitiven Daumenregel“ handlungsfähig zu sein, die aber das Risiko von Verzerrung und Fehlurteil bergen.194 Der Rückschaufehler führt dazu, dass die Vorher190 Guthrie/Rachlinsky/Wistrich, Inside the Judicial Mind, Cornell Law Review 86 (2001), S. 777 (782 ff.); Dickert u. a., The More the Better?, Applied Cognitive Psychology 26 (2012), S. 223 ff. 191 Ausführlich zu Behavioral Economics im Antidiskriminierungskontext, → Magen, § 3. 192 Schweizer (Fn. 185), S. 209; Beck, Behavioral Economics, 2014, S. 69. 193 Schweizer (Fn. 185), S. 261; Beck (Fn. 192), S. 58; Effer-Uhe/Mohnert (Fn. 187), S. 49 ff. 194 Englerth/Towfigh (Fn. 69), Rn. 507; Beck (Fn. 192), S. 25 ff.
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C. Fehlerquellen beim Einsatz empirischer Methoden
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sehbarkeit eines Ereignisses retrospektiv systematisch (deutlich) überschätzt wird. Menschen neigen dazu, in der Rückschau solche Ereignisse für wahrscheinlicher zu halten, die bereits eingetreten sind, als alternative Szenarien, deren Ausgang zwar im konkreten Fall hypothetisch, aber möglicherweise tatsächlich wahrscheinlicher ist.195 Die Gefahr des Rückschaufehlers besteht also insbesondere dann, wenn ein Sachverhalt ex post betrachtet wird, jedoch ex ante zu beurteilen ist, etwa im Polizeirecht (Anscheinsgefahr) oder im Schadensrecht (Fahrlässigkeitsmaßstab).196 Die nachträgliche Betrachtung einer polizeilichen Maßnahme und die Einschätzung, ob sie rassistisch diskriminierend war, kann also ebenso vom Rückschaufehler beeinflusst sein wie die Frage, ob in Fahrlässigkeitsfällen, in denen der Schaden bereits eingetreten ist, die erforderliche Sorgfalt eingehalten wurde. Empirisch nachgewiesen wurde der Rückschaufehler z. B. bei Jurist*innen, die ihre Fähigkeit überschätzten, beurteilen zu können, ob eine Gerichtsentscheidung berufungs- bzw. revisionsfest sei.197 Überzogener Optimismus führt dazu, dass wir uns selbst und unsere Fähigkeiten sys- 125 tematisch überschätzen.198 Die Überschätzung kann sich z. B. in der falschen Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten äußern. So geben Heiratswillige trotz einer tatsächlichen Scheidungsrate in Deutschland von rund 30 Prozent typischerweise die Wahrscheinlichkeit, dass die eigene Ehe scheitern werde, mit null Prozent an;199 auch dürfte sich die weit überwiegende Zahl von Pkw-Fahrer*innen „überdurchschnittliche“ Fahrfähigkeiten attestieren. Ein anderes, mit überzogenem Optimismus verwandtes Phänomen ist der self-serving 126 bias.200 Der self-serving bias führt dazu, dass wir Erfolge unseren eigenen Fähigkeiten zuschreiben, während Misserfolge als zufällig oder diskriminierend eingeordnet werden. Ein*e Bewerber*in wird typischerweise bei einem erfolgreichen Bewerbungsgespräch den Erfolg auf den guten und sicheren Auftritt im Gespräch zurückführen, bei einem erfolglosen hingegen die unfairen Fragen der Auswahlkommission hierfür verantwortlich machen. Gleichzeitig wird Diskriminierung gegenüber Gruppen, denen man sich selbst zugehörig fühlt, typischerweise überschätzt, während Diskriminierung gegenüber Gruppen, denen man sich nicht zugehörig fühlt, als nicht stark ausgeprägt empfunden.201 So ist etwa eine Mehrheit der Afro-Amerikaner*innen der Auffassung, durch Polizei, vor Gerichten, in öffentlichen Schulen und im Gesundheitswesen schlechter behandelt zu werden als weiße Bürger*innen, die wiederum dieser Auffassung nur in weit geringerer Zahl zustimmen.202 195 Englerth/Towfigh (Fn. 69), Rn. 512 ff.; Mohnert/Effer-Uhe, Der Rückschaufehler, Das Problem der Ex-
ante-Perspektive bei der Fahrlässigkeitsbeurteilung ex post, RECHTS|EMPIRIE v. 28.6.2019.
196 Mohnert/Effer-Uhe (Fn. 195). 197 Guthrie/Rachlinsky/Wistrich (Fn. 190), S. 802; Engel (Fn. 177), S. 46; Schweizer (Fn. 185), S. 214 ff.
mit weiteren Beispielen zu Studien. Englerth/Towfigh (Fn. 69), Rn. 514. Englerth/Towfigh (Fn. 69), Rn. 514. Beck (Fn. 192), S. 58. Heidhues/Kőszegi/Strack, Overconfidence and prejudice, 2019, S. 2, Preprint, arXiv:1909.08497v1. Horowitz/Brown/Cox, Race in America 2019, Public has negative views of the country’s racial progress; more than half say Trump has made race relations worse, Pew Research Center v. 9.4.2019.
198 199 200 201 202
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§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
Dieser bias birgt das Risiko, dass Diskriminierungen von Verwaltung und Justiz nicht als solche erkannt und geahndet werden, insbesondere wenn Richter*innen, Staatsanwält*innen und Verwaltungsbeamt*innen nicht Teil der (potentiell) diskriminierten Gruppe sind. Zu den Effekten, die unsere Entscheidungen beeinflussen, gehören ferner der Anker127 effekt und das Framing. Der Ankereffekt beschreibt das Phänomen, dass in einem Entscheidungs- oder Einschätzungsprozess Informationen die Entscheidung beeinflussen, die uninformativ (das heißt für die Entscheidung nicht unbedingt relevant) oder auch völlig willkürlich gesetzt sind.203 Wir richten uns dann in Situationen, in denen wir uns für einen Zahlenwert entscheiden müssen, unbewusst an einem Zahlenwert aus, der bereits im Raume steht, und zwar unabhängig davon, ob ein Zusammenhang mit der Entscheidungssituation besteht oder nicht. Der Ankereffekt spielt also überall da eine Rolle, wo es um Preisverhandlungen geht, aber auch das Strafmaß oder die Höhe eines Schmerzensgeldanspruchs sind Situationen, in denen der Ankereffekt das Ergebnis beeinflussen wird.204 Die Höhe der Schmerzensgeldforderung einer Anwält*in in einem Prozess hat für Gerichte also ebenso die Wirkung eines Ankers wie die Höhe eines in vergleichbaren vorangegangenen Prozessen zugesprochenen Schmerzensgeldes – die unabhängig vom Ankereffekt freilich auch aus normativen Gründen (wie etwa der Rechtsanwendungsgleichheit und der Rechtssicherheit) ein Orientierungspunkt ist.205 Nachgewiesen wurde dieser Effekt zum Beispiel anhand eines Experiments, bei dem zunächst für die Versuchspersonen ein Glücksrad mit Zahlen zwischen 0 und 100 gedreht wurde. Anschließend sollten sie schätzen, ob mehr oder weniger Prozent der afrikanischen Staaten Mitglied der Vereinten Nationen seien als die vom Glücksrad angezeigte Zahl. Sodann sollte die tatsächliche Zahl der Mitgliedsländer geschätzt werden.206 Es zeigte sich, dass die Schätzungen der Versuchspersonen an der zufällig durch das Glücksrad angezeigten Zahl orientiert waren.207 Der als Framing bekannte Effekt wird auch Darstellungseffekt genannt und bezeichnet 128 den Umstand, dass Entscheidungen von Menschen in identischen Situationen anders ausfallen, je nachdem, ob sich ihnen die Situation als Verlust oder Gewinn darstellt.208 Wird eine Situation derart beschrieben, dass sich die Entscheider*innen zwischen zwei Optionen entscheiden müssen, die jeweils Verluste beschreiben, so wird überzufällig häufiger die risikoreichere Variante gewählt. Haben sie jedoch die Wahl zwischen zwei (mit den im Verlust-Frame beschriebenen identischen) Alternativen, die als Gewinn formuliert sind, so entscheiden sie sich überzufällig häufiger für die risikoärmere Variante. Nachgewiesen 203 Kahneman/Tversky, Judgment under Uncertainty, Science 185 (1974), S. 1124 (1128); Nickolaus, An-
kereffekte im Strafprozess, 2019, S. 25 ff.; Glöckner/Englich, When Relevance Matters, Social Psychology 46 (2015), S. 4 ff.; ausführlich zum Ankereffekt, Beck (Fn. 192), S. 145 ff. 204 Nickolaus (Fn. 203), S. 47 ff.; Ihden (Fn. 10), S. 57; Chapman/Bornstein, The More You Ask For, the More You Get, Applied Cognitive Psychology 10 (1996), S. 519 ff. 205 Arndt (Fn. 164), S. 430. 206 Kahneman/Tversky (Fn. 203), S. 1128. 207 Vgl. ferner ausführlich mit weiteren Beispielen zum Ankereffekt Jacowitz/Kahneman, Measures of Anchoring in Estimation Tasks, Personality and Social Psychology Bulletin 21 (1995), S. 1161. 208 Kahneman/Tversky, Rational Choice and the Framing of Decisions, The Journal of Business 59 (1986), S. 251. Emanuel V. Towfigh
D. Fazit
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wurde dies im Asian-Disease-Experiment209, bei dem die in zwei Gruppen aufgeteilten Versuchspersonen jeweils mit zwei Szenarien konfrontiert wurden, die Pläne zur Rettung der Bevölkerung im Falle einer das Leben von 600 Menschen bedrohenden Seuche enthielten. Im Ergebnis waren die Szenarien identisch, sie unterschieden sich aber in der Darstellung. Die eine Gruppe hatte die Wahl zwischen Plan A, wonach mit Sicherheit 200 Menschen gerettet würden, und Plan B, wonach mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/3 alle 600 bedrohten Personen, mit der Restwahrscheinlichkeit aber niemand gerettet würde. Die zweite Gruppe sollte zwischen Plan C, dessen Folge der sichere Tod von 400 Menschen war, und Plan D, wonach eine 1/3 Chance bestand, dass niemand stirbt, während mit einer 2/3 Wahrscheinlichkeit alle 600 Menschen sterben würden, wählen. Der Unterschied bestand also darin, dass sich in der einen Gruppe die Szenarien als Ge- 129 winnoptionen darstellten (Plan A und B) und in der anderen Gruppe als Verlustszenarien (Plan C und D). Die Versuchspersonen, die mit dem negativen Frame konfrontiert waren, entschieden sich für die riskantere Variante, während die mit dem „Gewinn-Frame“ konfrontierten Versuchspersonen die risikoärmere Variante wählten.210 Im Kontext eines gerichtlichen Verfahrens führt der Framing-Effekt dazu, dass sich Klä- 130 ger*innen, weil sie sich in einem Gewinn-Frame befinden, eher für den risikoärmeren Vergleich entscheiden, während die Beklagten eine Fortführung des Verfahrens bevorzugen, auch wenn dies für sie riskanter ist.211
D. Fazit Das Antidiskriminierungsrecht wird immer dann besonders herausgefordert, wenn es um 131 den Nachweis einer Diskriminierung geht. Gleichzeitig ist es aber darauf angewiesen, Diskriminierung aus dem Bereich der individuellen Betroffenheit herauszuholen und zum Gegenstand von Gerichtsverfahren, Gesetzgebungsvorhaben und Verwaltungshandeln zu machen. Häufig wird eine erlebte Diskriminierung als besondere Empfindlichkeit der diskriminierten Person oder als Einzelfall abgetan. Vor allem mittelbare Diskriminierungen lassen sich nur schwer erfassen und nachweisen. Von diskriminierenden Strukturen (auch unbewusst) profitierende Akteur*innen sehen häufig keinen Handlungsbedarf, während sich auf Seiten der Diskriminierten oft großer Leidensdruck aufgebaut hat. Die Debatten, die sich um Diskriminierungsfragen drehen sind daher häufig kontrovers und werden zuweilen hitzig geführt. Mit der empirischen Forschung gewinnt das Antidiskriminierungsrecht ein mächtiges 132 Werkzeug, das richtig genutzt einen essentiellen Beitrag zu diesen Diskursen leisten kann. Mit ihrem Fokus auf statistische Evidenz kann lege artis durchgeführte empirische Forschung wesentlich zu einer Objektivierung und Versachlichung der Debatte beitragen. Die 209 Kahneman/Tversky (Fn. 208), S. 260. 210 Englerth/Towfigh (Fn. 69), § 8 Rn. 535. 211 Schweizer (Fn. 185), S. 90; Rachlinsky, Gains, Losses, and the Psychology of Litigation, Southern Ca-
lifornia Law Review 70 (1996), S. 113.
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§ 18 Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung
Mechanismen struktureller Diskriminierung können identifiziert und Ausgangspunkt für gezielte Maßnahmen werden, diese Zustände zu verändern und Chancengleichheit herzustellen.
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§ 19 Beweisrecht Olaf Muthorst Inhaltsübersicht Rn. A. Allgemeine Grundlagen des Beweisrechts im Zivilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verhandlungsgrundsatz und Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beweiswürdigung und Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Behauptungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Glaubhaftmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 4 7 14 20
B. Beweisführung im Antidiskriminierungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verhandlungsgrundsatz und Strengbeweis im Antidiskriminierungsprozess . . . . . . . . . . . . . II. Beweismaß und Beweislast im Antidiskriminierungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unionsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Tatbestand des § 22 AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Indizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine Benachteiligungsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kein Indizienbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beweis der Indizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verteidigung der gegnerischen Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Rechtsfolge des § 22 AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. (Kein) Auskunftsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anspruchsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Indizwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wo Antidiskriminierungsrecht in rechtsförmlichen Verfahren streitentscheidend wird, ist 1 oft nicht zuletzt die verfahrensrechtliche Situation des Nachweises von Diskriminierung angesprochen. Als Folge der Bindung des Gerichts an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) sind auch für die Frage, ob eine Diskriminierung nachgewiesen ist, rechtliche Regeln maßgebend. Paradigmatisch und deshalb Gegenstand dieses dem Beweisrecht gewidmeten Kapitels ist dabei der Nachweis der Diskriminierung im Kontext eines Rechtsstreits vor den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit oder der Arbeitsgerichtsbarkeit.1 1 Darüber hinaus kann der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sein, soweit etwa das AGG auch für öffentlich-
rechtliche Dienstverhältnisse gilt, Benecke, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: März 2021, Olaf Muthorst
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§ 19 Beweisrecht
Im Folgenden werden zunächst die beweisrechtlichen Grundbegriffe aus dem Recht des Erkenntnisverfahrens vorgestellt (A.), deren Anwendung im Antidiskriminierungsprozess dann der Hauptteil gewidmet ist, wobei § 22 AGG eine zentrale Rolle spielt (B.). Diese Regelung wird zunächst in der beweisrechtlichen Systematik verortet (B. II.), bevor ihre unionsrechtlichen Grundlagen in Erinnerung gerufen (B. III.) und dann Tatbestand und Rechtsfolge (B. IV. und V.) analysiert werden. Abschließend wird noch die Frage des Auskunftsanspruchs in den Blick genommen (C.).
A. Allgemeine Grundlagen des Beweisrechts im Zivilverfahren 3 Leitendes und maßgebendes Prinzip dieser Regeln ist – als prozessuale Ausprägung der
das Zivilrecht beherrschenden Privatautonomie – der Verhandlungsgrundsatz (Beibringungsgrundsatz).
I. Verhandlungsgrundsatz und Beweis 4 Der Verhandlungsgrundsatz besagt, dass das Gericht seiner Entscheidung grundsätzlich
nur den von den Parteien in den Prozess eingeführten Prozessstoff zugrunde legt.2 Die Parteien bestimmen mit bindender Wirkung für das Gericht darüber, welche Tatsachen im Prozess vorgebracht werden und damit der Entscheidung zugrunde gelegt werden dürfen.3 Tragen die Parteien keine Tatsachen vor, ermittelt das Gericht den Sachverhalt nicht von Amts wegen. Das Gericht hat nicht die Aufgabe, die maßgeblichen Tatsachen zusammenzutragen.4 Die Parteien haben damit die Verantwortung für eine vollständige und wahrheitsgemäße Sachverhaltsdarstellung.5 Tragen die Parteien einen Sachverhalt übereinstimmend vor, hat der Verhandlungsgrundsatz zur Folge, dass das Gericht die Wahrheit oder Unwahrheit dieser Tatsachenbehauptungen grundsätzlich nicht zu untersuchen hat (Grundsatz der formellen Wahrheit).6 Tatsächliche Behauptungen, die vom Gegner zugestanden (§ 288 ZPO) oder nicht bestritten werden (§ 138 Abs. 3 ZPO), sind vom Gericht ohne weitere Nachprüfung dem Urteil zugrunde zu legen.7 Voraussetzung der Beweiserhebung ist damit ein schlüssiger Vortrag des Klägers sowie ein erhebliches Bestreiten durch den Beklagten.8 § 22 Rn. 7; Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2022, § 22 AGG Rn. 5. Darauf sind die folgenden Ausführungen nur teilweise übertragbar. 2 Jacoby, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2020, Rn. 97; Pohlmann, Zivilprozessrecht, 4. Aufl. 2018, Rn. 66. 3 BGH, NJW 1994, S. 3295 (3296); BGH, NJW 1998, S. 156 (159); Rauscher, in: MüKo ZPO, Bd. 1, 6. Aufl. 2020, Einleitung Rn. 353, 357; Musielak, in: ders./Voit (Hrsg.), ZPO, 18. Aufl. 2021, Einleitung Rn. 37. 4 Rauscher (Fn. 3), Einleitung Rn. 357. 5 Rauscher (Fn. 3), Einleitung Rn. 353; Pohlmann (Fn. 2), Rn. 68. 6 Pohlmann (Fn. 2), Rn. 69. 7 Jacoby (Fn. 2), Rn. 101. 8 BVerfG, NJW 1994, S. 1210 (1211) – Aktenbeiziehung im Zivilprozess; Rauscher (Fn. 3), Einleitung Rn. 361. Olaf Muthorst
A. Allgemeine Grundlagen des Beweisrechts im Zivilverfahren
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Bereits dann, wenn es um die jeder Tatsachenfeststellung vorgelagerte Frage geht, wel- 5 che Tatsachen überhaupt einer Feststellung bedürfen, trägt damit jede Partei die Verantwortung für eine ihr günstige Weichenstellung. Das Gesetz geht dabei einerseits davon aus, dass die Parteien im Stande sind, diese Verantwortung sachgerecht wahrzunehmen, so dass die Verlagerung der Verantwortung auf die Parteien zu Ergebnissen führt, die jenen, die im Fall einer Amtsermittlung erzielt werden könnten, mindestens nicht nachstehen. Die Parteien sollten am besten wissen, auf welchen Tatsachenstoff es bei ihrem Streit ankommt.9 Andererseits beruht die gesetzliche Konzeption auf der Annahme, dass jede Partei die Verantwortung so sachgerecht wie die andere wahrzunehmen imstande ist, so dass die gerichtliche Zurückhaltung keine der Parteien gegenüber der anderen bevorteilt. Damit werden Wertungsgrundlagen einer „freiheitlichen und effizienten Prozesskultur“10 erkennbar, die für das materielle Recht in den Begriffen der Privatautonomie und des subjektiven Rechts zusammengefasst werden11: Der Einzelne ist befähigt, seine privaten Angelegenheiten selbst, d. h. ohne staatliche Vorgaben, zu regeln.12 Dabei ist „befähigt“ sowohl im Sinne einer psychisch-kognitiven Begabung als auch im Sinne der rechtlichen Zuständigkeit gemeint. Der Einzelne soll seine Rechtsverhältnisse in Selbstbestimmung und Selbstverantwortung gestalten können.13 Das eigennützige Streben des Einzelnen und das freie Spiel der Kräfte des Wettbewerbs kommen allen zugute.14 Dabei war schon bei Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Zivilprozess- 6 ordnung als Teil der Reichsjustizgesetze am Ende des 19. Jahrhunderts klar, dass weder der „liberalistische und individualistische“15 Grundsatz der Privatautonomie noch der Verhandlungsgrundsatz einschränkungslos gelten können. Das Bürgerliche Recht strebt nicht absolute, sondern größtmögliche Freiheit an.16 Es enthält Vorkehrungen zur Sicherung der freien willentlichen Selbstbestimmung und zum Schutz des wirtschaftlich Schwächeren17 und konstituiert distributive Mindeststandards.18 Die dafür notwendigen Instrumente sind in der Weiterentwicklung des Privatrechts, nicht zuletzt unter dem Einfluss des Sozialstaatsprinzips, immer weiter ausdifferenziert worden19 und finden ihre Entsprechungen auch auf der prozessrechtlichen Seite: Auch der Verhandlungsgrundsatz gilt von vornherein nicht einschränkungslos. Anerkannte Einschränkungen ergeben sich ins9 Rauscher (Fn. 3), Einleitung Rn. 355. 10 Stürner, Parteiherrschaft versus Richtermacht, ZZP 123 (2010), S. 147 (152); Rauscher (Fn. 3), Ein-
leitung Rn. 354. BVerfG, NJW 1979, S. 1925 (1927) – Arzthaftungsprozess; Rauscher (Fn. 3), Einleitung Rn. 354. Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 3. Aufl. 2011, Rn. 101. Köhler, BGB Allgemeiner Teil, 44. Aufl. 2020, § 5 Rn. 1. Brox/Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 44. Aufl. 2020, § 2 Rn. 5. Bork (Fn. 12), Rn. 101; Brox/Walker (Fn. 14), § 2 Rn. 5. Bork (Fn. 12), Rn. 102. Köhler (Fn. 13), § 5 Rn. 2. Neuner, Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, JZ 2003, S. 57 (57 f.). Kritisch aber etwa Picker, Antidiskriminierungsgesetz – Der Anfang vom Ende der Privatautonomie?, JZ 2002, S. 880. Die dem AGG vorausgehende rechtsdogmatische Diskussion war bereits zum 10jährigen Bestehen des Gesetzes verklungen, vgl. Horcher, in: Hau/Poseck (Hrsg.), BeckOGK BGB, Stand: August 2021, § 1 AGG Rn. 1. 19 Bork (Fn. 12), Rn. 104 f.
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§ 19 Beweisrecht
besondere aus der Wahrheitspflicht (§ 138 Abs. 1 ZPO)20, der richterlichen Hinweis- und Aufklärungspflicht und Prozessleitung (§ 139 ZPO)21 sowie der Prozessförderungspflicht samt dem der Verfahrenskonzentration dienenden Instrumentarium (§§ 282, 296 ZPO).22 Dabei handelt es sich um Einschränkungen in dem Sinne, dass das Vorbringen der Parteien das Gericht nur in diesen Grenzen bindet. Gleichzeitig sind diese Institute Folgerungen aus dem Verhandlungsgrundsatz bzw. gewährleisten, dass eine grundsätzliche Ausrichtung am Verhandlungsgrundsatz überhaupt normativ möglich ist.23 II. Beweiswürdigung und Beweismaß 7 Kommt es für die Entscheidung demnach auf die Wahrheit oder Unwahrheit einer Tatsa-
chenbehauptung an (Hauptbeweis), entscheidet das Gericht – vom Ausnahmefall offenkundiger Tatsachen abgesehen (§ 291 ZPO) – nach Beweiserhebung in einem förmlichen Verfahren mit den fünf Beweismitteln: Augenschein, Zeugen, Sachverständige, Urkunden oder Parteivernehmung (§§ 284, 355 ff. ZPO; Strengbeweis). 8 Unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Beweisergebnisses hat das Gericht danach zu entscheiden, ob die Behauptung für wahr oder unwahr zu erachten ist (§ 286 Abs. 1 S. 1 ZPO) und ist dabei grundsätzlich24 nicht an Beweisregeln gebunden (§ 286 Abs. 2 ZPO), d. h. das Gericht ist frei darin, welchen Beweiswert es einem Beweismittel zuerkennt (Grundsatz der freien Beweiswürdigung). 9 Von der Frage des Beweiswertes zu trennen ist die Frage des Beweismaßes. Es bestimmt generell-abstrakt den kognitiven Schwellenwert, auf dem sich das Wissen des Gerichts mindestens befinden muss, damit das Gericht eine bestimmte Tatsachenbehauptung als bewiesen ansehen darf. Dieser Schwellenwert ist keine Frage des Einzelfalls, wie es die zu Recht nur vereinzelt vertretene sogenannte relative Beweismaßtheorie annimmt25, sondern eine Auslegung des Prozessrechts, die aus Gründen des Willkürverbots nur mit Geltungsanspruch für jeden Entscheidungsfall erfolgen kann.26 Das schließt es selbstverständlich nicht aus, dass das rechtssatzmäßig feststehende Regelbeweismaß im Rückgriff 20 Rauscher (Fn. 3), Einleitung Rn. 356; Pohlmann (Fn. 2), Rn. 69, 78 ff. 21 Jacoby (Fn. 2), Rn. 106 ff. („Modifikation“); Rauscher (Fn. 3), Einleitung Rn. 356 („Einschränkung“);
Pohlmann (Fn. 2), Rn. 70 ff. („Ergänzung“); Reischl, Der Umfang der richterlichen Instruktionstätigkeit – ein Beitrag zu § 139 I ZPO, ZZP 116 (2003), S. 81 (102). 22 Rauscher (Fn. 3), Einleitung Rn. 356. 23 Diese Deutung ist besonders einleuchtend für die Wahrheitspflicht der Parteien: Der Verhandlungsgrundsatz macht es erst erforderlich, der Partei wahrheitsgemäßen Vortrag aufzuerlegen (in diese Richtung Jacoby (Fn. 2), Rn. 113 ff.), während sich dieses Bedürfnis nicht in Verfahrensordnungen ergibt, in denen der Untersuchungsgrundsatz gilt. Zum Ganzen Reischl (Fn. 21), S. 104. 24 Von diesem Grundsatz gelten nur wenige Ausnahmen; zu nennen ist etwa die Beweiskraft des Protokolls über die mündliche Verhandlung (§ 165 ZPO) sowie die Regelungen zur Beweiskraft von Urkunden (§§ 415 ff. ZPO); dazu Krafka, in: Vorwerk/Wolf (Hrsg.), BeckOK ZPO, Stand: September 2021, § 415 Rn. 8. 25 Vgl. Rüßmann, Alternativkommentar ZPO, 1987, § 286 Rn. 20; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 18. Aufl. 2018, § 114 Rn. 15. 26 Ablehnend statt vieler Prütting, in: MüKo ZPO, Bd. 1, 6. Aufl. 2020, § 286 Rn. 35, 38. Olaf Muthorst
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auf das allgemeine methodische Instrumentarium fallgruppenspezifisch modifiziert werden muss. Nach ganz überwiegender Ansicht ist der Beweis geführt, wenn das Gericht von der Wahrheit (oder Unwahrheit) der Tatsache überzeugt ist, also eine Gewissheit gewonnen hat, die Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.27 Man spricht in diesem Fall vom Vollbeweis. Diese Formel grenzt sich zunächst von Positionen ab, die entweder die richterliche Überzeugung rein subjektiv verstehen wollen oder als Gegenstand der gerichtlichen Überzeugung nicht die Wahrheit verlangen, sondern ein bestimmtes Maß der Wahrscheinlichkeit ausreichen lassen wollen. Solange die subjektive Überzeugung auf Sachgründe rückbezogen28 bzw. das notwendige Maß der Wahrscheinlichkeit hinreichend hoch angesetzt wird, ergeben sich daraus keine bedeutsamen Unterschiede: Auch wenn die Überzeugung von der Wahrheit gefordert wird, handelt es sich dabei nicht um ein wissenschaftstheoretisch abgesichertes Konzept, sondern eine persönliche Zweifelsüberwindung („Gewissheit“).29 Teilweise wird allerdings angenommen, das Gericht habe bereits von der überwiegenden Wahrscheinlichkeit auszugehen.30 Die überwiegende Ansicht folgt dem zu Recht nicht. Das Gesetz verlangt die Entscheidung, ob die tatsächliche Behauptung „für wahr zu erachten“ sei (§ 286 Abs. 1 S. 1 ZPO). Das ist etwas anderes, als eine tatsächliche Behauptung als überwiegend wahrscheinlich einzuschätzen. Auch die zahlreichen gesetzlichen Abweichungen vom Regelbeweismaß verdeutlichen, dass das Gesetz für den Regelfall eine überwiegende Wahrscheinlichkeit nicht genügen lässt.31 Schon gar nicht kann bei gleicher Wahrscheinlichkeit von der geltend gemachten Tatsachenbehauptung ausgegangen werden.32 Auch mit der gesetzlichen Systematik der Beweislastverteilung – dazu sogleich – wäre ein Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit unvereinbar.33 Es wäre schließlich ein Verstoß gegen das Willkürverbot, einer Partei, der der jeweilige Leistungsanspruch nur überwiegend wahrscheinlich zusteht, den gesamten Streitgegenstand zuzusprechen (und nicht nur den der Wahrscheinlichkeit entsprechenden Anteil).34 Da der Hauptbeweis erst und nur dann geführt ist, wenn das Gericht von der Wahrheit (oder Unwahrheit) der Tatsache überzeugt ist, genügt es zur Vereitelung eines Hauptbeweises, dem Gericht diese Überzeugung (wieder) zu nehmen. Wird dazu Beweis an27 BGH, NJW 1970, S. 946 (948); BGH, NJW 2014, S. 71 (72 Rn. 7 f.); BGH, NJW 2016, 942 (946 Rn. 40); BGH, NJW 2017, S. 1093 (1099 Rn. 60); BGH, NJW 2018, S. 150 (151 Rn. 14); aus der Literatur vgl. nur Jacoby (Fn. 2), Rn. 549; Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 32 ff.; Pohlmann (Fn.2), Rn. 357. 28 Vgl. dazu eindrücklich BGH, NJW 2018, S. 150 (151 Rn. 14): „Daher darf sich ein Richter dadurch, dass sich ein Gutachter nur auf Wahrscheinlichkeitsgrade festlegt, nicht von der Bildung einer persönlichen Überzeugung zum Grad einer praktischen Wahrscheinlichkeit abhalten lassen [Nw.].“ 29 Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 34. 30 Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, 2015, S. 482 ff. 31 Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 36 ff. 32 So aber Motsch, Vom Prozeß als Beweis zum Überwiegensprinzip, in: GS Rödig, 1978, S. 334 ff. 33 Jacoby (Fn. 2), Rn. 549; Katzenmeier, Beweismaßreduzierung und problematische Proportionalhaftung, ZZP 117 (2004), S. 187 (207 ff.); Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 38, 40. 34 Vgl. Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 40; Katzenmeier (Fn. 33), S. 203 ff.
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getreten, spricht man vom Gegenbeweis.35 Von der Wahrheit (oder Unwahrheit) des Gegenteils der fraglichen Tatsachenbehauptung muss das Gericht nicht überzeugt sein; der Gegenbeweis hat sein Ziel bereits erreicht, wenn das Gericht von der mit dem Hauptbeweis zu beweisenden Tatsache nicht (mehr) überzeugt ist. Der Gegenbeweis hat also ein qualitativ ganz anderes Beweisziel als der Hauptbeweis und unterliegt daher einem ganz anderen Beweismaß. Das unterscheidet den Gegenbeweis vom Beweis des Gegenteils: Er dient insbesondere der Widerlegung einer gesetzlichen Vermutung (§ 292 S. 1 ZPO) und ist daher erst geführt, wenn die volle richterliche Überzeugung vom Gegenteil der vermuteten Tatsache erreicht ist. Der Beweis des Gegenteils ist daher Hauptbeweis.36 III. Behauptungs- und Beweislast 14
Hat der Beweis zu keiner Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit oder Unwahrheit der beweisbedürftigen Tatsache geführt, muss der Rechtsstreit gleichwohl entschieden werden. Zur Anwendung kommen dann die Regeln über die Beweislast. Ihr Ausgangspunkt ist eine dem materiellen Recht innewohnende Verteilung des Risikos, durch die Nichtanwendung einer Rechtsnorm belastet zu sein (objektive, materielle Beweislast, Feststellungslast).37 Grundsätzlich trägt jede Partei, die den Eintritt einer Rechtsfolge geltend macht, die Beweislast für die rechtsbegründenden Tatsachen, während die Partei, die sich auf Nichteintritt, Hemmung oder Untergang eines Rechts beruft, die Beweislast für die rechtshindernden, rechtsvernichtenden und rechtshemmenden Tatsachen trägt.38 Die zumindest gewohnheitsrechtliche Geltung dieser Grundregel ist allgemein anerkannt und schien schon bei Abfassung des BGB derart selbstverständlich, dass eine entsprechende Formulierung verworfen wurde und nur die Abweichungen von der Grundregel Eingang in die Kodifikation fanden.39 Die darin begründete Risikoverteilung kann auf den Schutz des Besitzstandes im weitesten Sinn und auf die Bevorzugung der rechtlichen Freiheit vor der rechtlichen Gebundenheit zurückgeführt werden40 und ist damit wiederum Konsequenz einer Ausrichtung der Privatrechtsordnung an den Begriffen der Privatautonomie und des subjektiven Rechts.41 35 BGH, NJW 1983, S. 1740; Jacoby (Fn. 2), Rn. 523; Foerste, in: Musielak/Voit (Hrsg.), ZPO, 18. Aufl.
2021, § 284 Rn. 6.; Thole, in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 284 Rn. 6.
36 Jacoby (Fn. 2), Rn. 523; Prütting (Fn. 26), § 284 Rn. 22; Thole (Fn. 35), § 284 Rn. 5. 37 Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 96; Thole (Fn. 35), § 286 Rn. 93 ff. 38 Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 114; Foerste (Fn. 35), § 286 Rn. 35; Thole (Fn. 35), § 286 Rn. 106. Ständige
Rechtsprechung, vgl. BGH, NJW 1991, S. 1052 (1053); BGH, NJW 1993, S. 2168 (2170); BGH, NJW 1999, S. 352 (353). 39 Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 115; Thole (Fn. 35), § 286 Rn. 105, beide m. w. N. 40 Vgl. Thole (Fn. 35), § 286 Rn. 110. Weitere Sachgründe sind letztlich auf diese Wertungen zurückführbar, etwa Beweisnähe, sozialer Schutz, Rechtsfrieden, Verkehrsschutz, zu diesen Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 120 f. 41 Entsprechend verträgt sich die Deutung als Wahrscheinlichkeitserwägung (in diese Richtung vor allem Riehm, Abwägungsentscheidungen in der praktischen Rechtsanwendung, 2006, S. 132 ff.) nicht mit den Wertungsgrundlagen eines liberalen Privatrechts. Kritisch insoweit auch Thole (Fn. 35), § 286 Rn. 110, Fn. 242. Olaf Muthorst
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Ebenso wie der Grundsatz der Privatautonomie kann auch diese Risikoverteilung nicht ausnahmslos maßgebend sein. Das Gesetz sieht daher Ausnahmen vor allem dort vor, wo es solche rechtsbegründenden Tatsachen als rechtshindernde Tatsachen behandelt, die es als besondere, die regelmäßige Wirkung ausschließende Tatsachen ansieht („es sei denn, dass“, „sofern nicht“).42 Allgemein kehrt sich die Beweislast um, wenn jemand den ausnahmsweisen Nichteintritt der regelmäßigen Wirkung behauptet, da dann er für die Voraussetzungen des Ausnahmefalls die Beweislast trägt.43 Unter nicht ganz klar konturierten Voraussetzungen ist ferner eine richterrechtliche Umkehr der Beweislast anzunehmen, die dem Gebot prozessualer Waffengleichheit zur Geltung verhelfen will.44 Eine solche Umkehr der Beweislast ist etwa im Bereich der Produzentenhaftung anerkannt für das Verschulden des Warenherstellers45, ferner im Bereich der Arzthaftung für die Kausalität bei einem groben Behandlungsfehler.46 Von der materiellen Beweislast ist, obwohl ihr in der Verteilung entsprechend, terminologisch die abstrakte Beweisführungslast (subjektive, formelle Beweislast) zu unterscheiden. Dabei handelt es sich um die den Parteien obliegende Last, durch eigenes Tätigwerden den Beweis der streitigen Tatsache zu führen.47 Wird der Beweisführungslast zuwider kein Beweis angeboten, so darf auch ein vom Gegner angetretener Gegenbeweis nicht erhoben werden.48 Allerdings verlangt nur der Zeugenbeweis einen förmlichen Beweisantritt durch die Partei (§§ 273 Abs. 2 Nr. 4, 373 ZPO), alle anderen Beweismittel können vom Gericht auch von Amts wegen erhoben werden (§§ 144 Abs. 1, 142, 143, 273 Abs. 2 Nr. 2, 448 ZPO). Die abstrakte Beweisführungslast folgt der materiellen Beweislast.49 Die Frage, welche Partei für eine beweisbedürftige Behauptung die abstrakte Beweisführungslast trägt, ändert allerdings nichts daran, dass es zum Nachteil des Gegners ausgeht, wenn er in einer konkreten Prozesssituation, in der die Partei den Hauptbeweis geführt hat, keinen Gegenbeweis anbietet, und umgekehrt. Diese konkrete Beweisführungslast ist keine Folgerung aus der materiellen Beweislast, sondern kann im Verlauf eines Prozesses mehrfach zwischen den Parteien hin und her wechseln.50 Entsprechend der materiellen Beweislast ist ferner die objektive Behauptungslast (Darlegungslast) verteilt, d. h. jede Partei erleidet Nachteile, wenn sie nicht die Tatsachen in den Rechtsstreit einführt, die die abstrakten Voraussetzungen der ihr günstigen Normen ergeben.51 Trägt also der Kläger nicht die Tatsachen vor, die die Anwendung der vom Kläger begehrten Rechtsfolge rechtfertigen, ist die Klage bereits unschlüssig. Ebenso ist eine Foerste (Fn. 35), § 286 Rn. 36. Vgl. BGH, NJW-RR 1990, S. 886 (888 f.). BVerfG, NJW 1979, S. 1925 – Arzthaftungsprozess. Grundlegend BGH, NJW 1969, S. 269. Grundlegend BGH, NJW 1983, S. 333; siehe auch BGH, NJW 2005, S. 427 (428). Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 101; ebenso Foerste (Fn. 35), § 286 Rn. 33; Thole (Fn. 35), § 286 Rn. 99. Foerste (Fn. 35), § 286 Rn. 33. Thole (Fn. 35), § 286 Rn. 100; Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 102 („zwingend“); einschränkend demgegenüber Foerste (Fn. 35), § 286 Rn. 33 („grundsätzlich“). 50 Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 106; Thole (Fn. 35), § 286 Rn. 100. 51 Foerste (Fn. 35), § 286 Rn. 33; Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 106; Thole (Fn. 35), § 286 Rn. 98, 101. 42 43 44 45 46 47 48 49
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Verteidigung unerheblich, wenn der Beklagte nicht solche Tatsachen vorträgt, die die Anwendung der vom Kläger begehrten Rechtsfolge ausschließen. Der grundsätzlichen Verteilung der objektiven Behauptungslast wirken allerdings im 19 Verlauf des Prozesses stets zwei gegenläufige Kräfte entgegen. So kann erstens das Gericht gezwungen sein, Hinweise gemäß § 139 ZPO zu erteilen, bevor es eine Klage als unschlüssig abweist bzw. eine Verteidigung als unerheblich ansieht. Zweitens hängt es vom Kenntnisstand der Parteien und von den Einlassungen des Gegners ab, wie substanziiert das Vorbringen jeweils sein muss. Den Gegner trifft eine sekundäre Behauptungslast, wenn ihm nähere Angaben über ein Geschehen zumutbar sind, während die an sich beweislastete Partei darüber keine Kenntnis haben kann.52 Erst dann, wenn der Gegner seiner sekundären Behauptungslast genügt, ist es Sache des Anspruchstellers, für seine Behauptung entsprechende Umstände darzulegen und zu beweisen.53 IV. Glaubhaftmachung
Diese beweisrechtlichen Grundsätze werden in mehrfacher Hinsicht modifiziert, wenn das Gesetz vorsieht, dass für eine Tatsache (zumindest vorerst) die Glaubhaftmachung verlangt wird oder genügt. So findet dann keine Beweiserhebung von Amts wegen statt, sondern es werden nur die von der beweispflichtigen Partei beigebrachten Beweismittel erhoben.54 Über die üblichen Beweismittel des Strengbeweises hinaus kommen dafür auch alle sonstigen Beweismittel in Betracht, auch die Versicherung der Partei an Eides statt (§ 294 Abs. 1 ZPO). Angetreten werden kann der Beweis aber nur mit in der mündlichen Verhandlung präsenten Beweismitteln (§ 294 Abs. 2 ZPO). Schließlich ist allgemein anerkannt, dass die Glaubhaftmachung auch ein besonderes 21 Beweismaß bedingt, das gegenüber dem des Vollbeweises abgesenkt ist: Eine Tatsache ist bereits dann glaubhaft gemacht, wenn die gerichtliche Überzeugung von der überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Behauptung besteht.55 Das folgt daraus, dass die Sondervorschrift des § 294 ZPO gegenüber § 286 Abs. 1 ZPO ohne Sinn wäre, wenn auch im Fall der Glaubhaftmachung eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit zu fordern wäre, dass andererseits aber dann, wenn das Gericht das Gegenteil der behaupteten Tatsache für wahrscheinlicher hält als die Behauptung, die behauptete Tatsache gerade nicht als glaubhaft angesehen wird.56 22 Wann Glaubhaftmachung erforderlich oder ausreichend ist, unterliegt keinem streng durchgeführten Regelungsprinzip. Erkennbar ist allerdings eine Tendenz, die Glaubhaft20
Prütting (Fn. 26), § 286 Rn. 106; Thole (Fn. 35), § 286 Rn. 101. Ständige Rechtsprechung, BGH, NJW 2018, S. 2412 (2414 Rn. 30) m. w. N. BGH, NJW 2003, S. 3558; Thole (Fn. 35), § 294 Rn. 1. BGH, NJW 1994, S. 2898; BGH, NJW 1996, S. 1682; BGH, NJW 2003, S. 3558; Thole (Fn. 35), § 294 Rn. 1. Ernst zu nehmen ist allerdings der Hinweis, dass für eine überwiegende Wahrscheinlichkeit nicht jedes Quäntchen, das mehr für als gegen die Richtigkeit der Behauptung spricht, genügt, sondern das geforderte Maß der Glaubhaftigkeit muss den daran geknüpften Konsequenzen angepasst sein; Greger, in: Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 294 Rn. 6. 56 Prütting (Fn. 26), § 294 Rn. 2. 52 53 54 55
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machung dann vorzusehen, wenn das Verfahren aus Gründen besonderer Eilbedürftigkeit zunächst einseitig ausgestaltet ist oder wenn rein prozessuale Fragen zu entscheiden sind.57 Ist Glaubhaftmachung zugelassen, gilt das auch für den Gegenbeweis, durch den verhindert werden soll, dass das Gericht die Tatsache als glaubhaft gemacht ansieht.58
B. Beweisführung im Antidiskriminierungsprozess Diese allgemeinen Grundsätze gelten auch im Antidiskriminierungsprozess.59 Dieser 23 Grundentscheidung für ein allgemein geltendes Prozess- (und damit auch: Beweis-) Recht entspricht es, dass den besonderen Interessenlagen und Handlungsspielräumen der Parteien, die sich entlang der materiell-rechtlichen Regelungsstrukturen rekonstruieren lassen, punktuell und differenziert innerhalb des allgemeinen Prinzipien- und Regelungsgefüges Rechnung getragen wird. I. Verhandlungsgrundsatz und Strengbeweis im Antidiskriminierungsprozess
Diese Weichenstellung, die eine grundsätzliche Geltung des Verhandlungsgrundsatzes und 24 der Grundsätze des Strengbeweisverfahrens im Antidiskriminierungsprozess zur Folge hat, ist nur auf den ersten Blick überraschend. Denn die im Verhandlungsgrundsatz zum Ausdruck kommende Grundkonzeption, wonach die Parteien beide gleichermaßen im Stande sind, ihre Verantwortung für die Sachverhaltsgrundlage der gerichtlichen Entscheidung gerecht zu werden, steht zwar in einem Spannungsfeld zu typischen Prozesssituationen, wie sie im Antidiskriminierungsprozess zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern oder allgemein zwischen Schutzadressaten und Normverpflichteten bestehen können, zwischen denen es große Unterschiede hinsichtlich des Zugangs zu relevanten Informationen und des prozessualen Geschicks, diese in den Rechtsstreit einzuführen, geben mag. Ein ähnliches Spannungsfeld kann auch zu dem im Strengbeweisverfahren geltenden Beweismaß des Vollbeweises (die Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit der behaupteten Tatsache) sowie zur materiellen Beweislast für den Nachweis einer verbotenen Ungleichbehandlung wahrgenommen werden. Ein solches Spannungsfeld ist aber keineswegs eine Besonderheit des Antidiskrimi- 25 nierungsprozesses, sondern ebenso kennzeichnend für Rechtsstreitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmern, Patienten- und Behandlungsseite, Wohnungsmietern und Vermietern, Darlehensnehmer und Kreditinstitut etc. Ein Ungleichgewicht zwischen den Parteien ist geradezu der Regelfall im Bürgerlichen Rechtsstreit. Es besteht daher zu Recht die Erwartung an die den Verhandlungsgrundsatz sowie die das allgemeinen Beweisrecht flankierenden Regelungen und Prinzipien, den unterschiedlichen Zugang zu Informatio57 Prütting (Fn. 26), § 294 Rn. 4; Thole (Fn. 35), § 294 Rn. 2. 58 Huber, in: Musielak/Voit (Hrsg.), ZPO, 18. Aufl. 2021, § 294 Rn. 2 a. E. 59 Vgl. nur Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 26.
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nen und Ressourcen sowie unterschiedliche geschäftliche Gewandtheit der Parteien angemessen in Rechnung zu stellen. II. Beweismaß und Beweislast im Antidiskriminierungsprozess 26 Dabei ist zunächst an eine die konkreten Verhältnisse der Parteien angemessen berücksich-
tigende Handhabung der allgemeinen prozessualen Instrumente zu denken (insbesondere: die richterliche Hinweis- und Aufklärungspflicht sowie die Prozessförderungspflicht). Auf der Ebene von Beweismaß und Beweislast für den Nachweis der Diskriminierung bedarf es hingegen aufgrund der aufgewiesenen Regelstruktur von Beweismaß und Beweislast einer rechtssatzmäßigen Verarbeitung der typischen Ungleichgewichtslage. 27 Hier setzt § 22 AGG an. Nach dieser Norm trägt dann, wenn eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung (Belästigung; Anweisung zur Benachteiligung) wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. Die Deutung dieser Regelung ist umstritten. Teilweise wird angenommen, es handele sich um „eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast“ für den Kausalzusammenhang zwischen der Benachteiligung und dem Grund i. S. v. § 1 AGG.60 Nach anderer Ansicht bleibt die Darlegungslast unberührt, § 22 AGG betreffe nur die Beweislast61, oder die Norm erleichtere umgekehrt für den Kausalzusammenhang die Darlegungslast und senke das Beweismaß62, während darin keine Beweislastumkehr liege.63 Insofern handele es sich um eine Beweiserleichterung.64 Schließlich wird vertreten, § 22 AGG lasse die Verteilung der Beweislast zunächst unberührt, während nur das Beweismaß „auf den Beweis von Indizien abgesenkt“ werde und sich erst im zweiten Schritt die Beweislast auf den Anspruchsgegner verlagere.65 28 Von Umkehr oder Verlagerung der Beweislast ist indessen mit Vorsicht zu sprechen. Auch im Antidiskriminierungsprozess muss die Partei, die die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes geltend macht, die Voraussetzungen der dies begründenden Tatbestandsmerkmale darlegen und gegebenenfalls beweisen,66 während die gegnerische Partei die Voraussetzungen von Rechtsnormen darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen 60 BAG, NZA 2018, S. 33 (38 Rn. 46); BAG, NJW 2018, S. 1118 (1120 Rn. 20). 61 Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 4; im Ergebnis ebenso Wendtland, in: Hau/Poseck (Hrsg.), BeckOK
BGB, Stand: August 2021, § 22 AGG Rn. 1.
62 BVerwG, NJW 2011, S. 2452 (2454 Rn. 26); Bruns, Der Beweis der Diskriminierung im Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetz – eine geglückte Innovation?, in: FS Leipold, 2009, S. 1043 (1049 ff.); Grüneberg, in: Grüneberg (Hrsg.), BGB, 81. Aufl. 2022, § 22 AGG Rn. 2. 63 Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, § 22 AGG Rn. 1. 64 Schlachter (Fn. 63), § 22 AGG Rn. 1; ebenso Ebert, in: Schulze/Dörner/ders. (Hrsg.), HK-BGB, 10. Aufl. 2019, § 22 AGG Rn. 1. 65 Benecke (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 12 f.; Stein, Die Beweislast in Diskriminierungsprozessen – ein unbekanntes Wesen?, NZA 2016, S. 849. 66 Vgl. BT-Drs. 16/2022, S. 13; Roloff, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK Arbeitsrecht, Stand: März 2021, § 22 AGG Rn. 3; Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 6. Olaf Muthorst
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hat, nach denen die Benachteiligung ausnahmsweise gerechtfertigt ist.67 Ferner steht die gegnerische Partei vor der Aufgabe, die Beweisführung der eine Diskriminierung geltend machenden Partei durch Gegenbeweis zu erschüttern. Wie auch immer § 22 AGG im Einzelnen zu verstehen ist, wird doch bereits hier deutlich, dass die Norm der gegnerischen Partei nicht eine Beweislast auferlegt, die sie nach allgemeinen Vorschriften nicht treffen würde – wie es für eine Beweislastumkehr typisch wäre68 –, sondern § 22 AGG bewirkt eine Vorverlegung dieser Beweislast: Rechtfertigungsgründe darzulegen und zu beweisen, wird von der gegnerischen Partei bereits dann verlangt, wenn der Kausalzusammenhang zwischen der Benachteiligung und dem in § 1 AGG genannten Grund überwiegend wahrscheinlich ist, nicht erst dann, wenn der sichere Schluss auf den Kausalzusammenhang möglich ist. Darin liegt eine Absenkung des Beweismaßes für den Kausalzusammenhang und zugleich eine Erleichterung der Darlegungslast. Kehrseite einer Absenkung des Beweismaßes ist, dass gegenbeweislicher Vortrag nur 29 bis zum abgesenkten Beweismaß relevant ist; kann gegenbeweislich die überwiegende Wahrscheinlichkeit nicht in Zweifel gezogen werden, muss der Beweis des Gegenteils erbracht werden. Dies ist aber keine Folge eines normativen Vermutungstatbestandes, der eine Beweislastumkehr nach sich ziehen würde, sondern resultiert nur aus der Koinzidenz von abgesenktem Beweismaß und (Gegen-)Beweisnot, die den Beweis des Gegenteils zur ultima ratio werden lässt. Besser als mit Umkehr oder Verlagerung der Beweislast ist § 22 AGG daher als Beweiserleichterung hinsichtlich des Kausalzusammenhanges beschrieben. III. Unionsrechtliche Grundlagen
Mit § 22 AGG setzt der Gesetzgeber europäische Richtlinien um, die ihrerseits Rechtspre- 30 chung des EuGH aufgreifen. Als deren Ausgangspunkt wird die Danfoss-Entscheidung angesehen, in der der EuGH ausgesprochen hatte, dass der Effektivitätsgrundsatz eine Richtlinienauslegung dahingehend erfordern könne, dass sie Änderungen der nationalen Beweislastregeln in Sonderfällen impliziere, in denen solche Änderungen für die wirksame Durchführung des Gleichheitsgrundsatzes unerlässlich sei.69 Auf diesen Gedanken stützte der EuGH bei einem intransparenten Zulagensystem die Beweislast eines Arbeitgebers dafür, dass seine Lohnpolitik in Wahrheit nicht diskriminierend sei.70 Der Arbeitgeber müsse zum Beweis dafür, dass seine Lohnpolitik die weiblichen Arbeitnehmer nicht 67 Mörsdorf, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: März 2021, § 20 AGG Rn. 2. 68 Pohlmann (Fn. 2), Rn. 354. 69 EuGH, Urt. v. 17.10.1989, Rs. 109/88 – Danfoss, Rn. 14. Der Gedanke, Wertungen des materiellen
Rechts dürften nicht in Situationen struktureller Beweisnot einer Partei ins Leere gehen, war auch zuvor schon auf der Ebene des nationalen Verfahrensrechts präsent gewesen, vgl. etwa BGH, NJW 1981, S. 1673: einer Partei darf nicht die Beweislast für die Zulässigkeit des Einspruchs auferlegt sein, soweit es gerichtsinterne Vorgänge betrifft; BGH, NJW 1978, S. 2337: Beweislasterleichterung für einen stationär aufgenommenen Patienten bei Unzulänglichkeit und Unrichtigkeit der ärztliche Dokumentation; BGH, NJW 1962, S. 959: Beweislast eines Schwimmmeisters bei grober Verletzung der Berufspflicht. 70 EuGH, Urt. v. 17.10.1989, Rs. 109/88 – Danfoss, Rn. 13. Olaf Muthorst
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systematisch benachteiligt, angeben, wie er die Zulagenkriterien angewandt hat, und werde auf diese Weise dazu veranlasst, sein Entlohnungssystem durchschaubar zu machen.71 Auch im Kontext des Art. 119 EWG-Vertrag zur Entgeltgleichheit von Männern und 31 Frauen (heute: Art. 157 AEUV ) urteilte der EuGH, bei scheinbar neutralen Regelungen müsse der Arbeitgeber, wenn feststehe, dass von ihnen deutlich mehr Frauen als Männer betroffen sind, „darlegen“ bzw. „nachweisen“, dass die Maßnahme auf Faktoren beruht, die objektiv gerechtfertigt sind und nichts mit einer verbotenen Diskriminierung zu tun haben.72 Unter Einbeziehung der Danfoss-Entscheidung konkretisierte der EuGH diesen Ansatz zu dem Grundsatz, dass der Arbeitgeber dann, wenn der erste Anschein für eine Diskriminierung spricht, nachzuweisen hat, dass es sachliche Gründe für den festgestellten Unterschied beim Entgelt gibt.73 32 Diese Rechtsprechung aufgreifend sah die RL 97/80/EG74 in Art. 4 Maßnahmen vor, nach denen dann, wenn Personen Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer (un)mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat. Diesem Regelungsmodell folgten später auch Art. 8 AntidiskriminierungsRL (RL 2000/43/EG)75, Art. 10 BeschäftigungsRL (2000/78/EG)76, Art. 9 GleichbehandlungsRL (2004/113/EG)77 und Art. 19 ArbeitnehmerGleichbehandlungsRL (2006/54/EG)78. IV. Tatbestand des § 22 AGG 1. Anwendungsbereich 33
§ 22 AGG gilt bereits aufgrund des systematischen Standorts im Abschnitt 4 („Rechtsschutz“) sowohl für den arbeitsrechtlichen (Abschnitt 2) wie für den allgemein-zivilrechtlichen Teil des AGG79 (Abschnitt 3).80 Die Regelung gilt „im Streitfall“. Damit umfasst sie 71 EuGH, Urt v. 17.10.1989, Rs. 109/88 – Danfoss, Rn. 15. 72 EuGH, Urt. v. 13.5.1986, Rs. 170/84 – Bilka, Rn. 31; EuGH, Urt. v. 27.6.1990, Rs. C-33/89 – Kowalska,
Rn. 16; EuGH, Urt. v. 7.2.1991, Rs. C-184/89 – Nimz, Rn. 15.
73 EuGH, Urt. v. 27.10.1993, Rs. C-127/92 – Enderby, Rn. 14, 18; EuGH, Urt. v. 31.5.1995, Rs. C-400/93 –
Royal Copenhagen, Rn. 24.
74 Richtlinie 97/80/EG des Rates über die Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts v.
15.12.1997, ABl. 1998 L 14/6.
75 Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unter-
schied der Rasse oder der ethnischen Herkunft v. 29.6.2000, ABl. 2000 L 180/22.
76 Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung
der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303/16.
77 Richtlinie 2004/113/EG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von
Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen v. 13.12.2004, ABl. 2004 L 373/37. 78 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen v. 5.7.2006, ABl. 2006 L 204/23. 79 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. 80 Insofern ist die Beobachtung, dass die Regelung sich nicht im arbeitsrechtlichen Teil befindet (Benecke Olaf Muthorst
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jeden Nachweis der Diskriminierung (in jeder Form: unmittelbar oder mittelbar, auch in Gestalt der Belästigung oder sexuellen Belästigung81) im Kontext eines Rechtsstreits, in dem Rechtsfolgen aus dem AGG geltend gemacht werden (§§ 12 Abs. 1, 15, 21 AGG) oder in dem der Verstoß gegen ein Benachteiligungsverbot (§§ 7, 19 AGG) selbst Streitgegenstand ist.82 Für darüber hinausgehende Rechtsfolgen, die sich aus dem fraglichen Verhalten nach anderen Rechtsnormen ergeben können (§§ 1004, 823 Abs. 1 BGB; vgl. §§ 15 Abs. 5, § 21 Abs. 3 AGG), besagt § 22 AGG hingegen nichts.83 Die in der von § 22 AGG angeordneten Rechtsfolge liegende Risikoverteilung darf nicht unbesehen aus dem normativen Kontext, in dem der Gesetzgeber sie angeordnet hat, herausgelöst und in andere Regelungszusammenhänge übertragen werden. Das muss mit Blick auf die unterschiedliche Reichweite der Rechtsfolgen auch dann gelten, wenn in anderen Regelungskontexten die Zulässigkeit unterschiedlicher Behandlung am Maßstab des AGG gemessen werden soll.84 Ebenfalls nicht anwendbar ist § 22 AGG, wenn der Verstoß gegen ein Benachteiligungsverbot Gegenstand eines Strafverfahrens ist.85 Entsprechend anwendbar ist § 22 AGG, wenn der Verstoß gegen das Maßregelungsver- 34 bot in Rede steht (§ 16 Abs. 3 AGG). Beweist also eine Partei – etwa im Rechtsstreit um die Wirksamkeit einer Kündigung oder Abmahnung, um Schadensersatz- oder Unterlassungsansprüche86 – Indizien, die eine Benachteiligung i. S. v. § 16 Abs. 1 AGG oder einen Verstoß gegen § 16 Abs. 2 AGG vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen das Maßregelungsverbot vorgelegen hat. Auf Kündigungen im Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes87 ist § 22 35 AGG ebenso wenig anwendbar wie die sonstigen Vorschriften des AGG88: Für diese Kündigungen gelten gemäß § 2 Abs. 4 AGG ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen (Fn. 1), § 22 Rn. 4), zwar zutreffend, aber wenig weiterführend, denn die Regelung befindet sich ebensowenig im allgemein-zivilrechtlichen Teil. 81 Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 6. 82 Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 4; Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 1; Schlachter (Fn. 63), § 22 AGG Rn. 13; Grobys, Die Beweislast im Anti-Diskriminierungsprozess, NZA 2006, S. 898 (899); Windel, Der Beweis diskriminierender Benachteiligungen, RdA 2007, S. 1 (8). 83 BAG, NZA 2012, S. 910 (915, 919 Rn. 48, 77 ff.); BAG, NZA 2017, S. 1530 (1540 Rn. 91); OLG München, Urt. v. 12.3.2014, 15 U 2395/13; Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 5; Schlachter (Fn. 63), § 22 AGG Rn. 13; Ebert (Fn. 64), § 22 AGG Rn. 1; Bauer/Krieger/Günther, AGG, 5. Aufl. 2018, § 22 AGG Rn. 5; Adomeit/ Mohr, AGG, 2. Aufl. 2011, § 22 Rn. 17; Grobys (Fn. 82), S. 899; zweifelnd auch Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 1. – A. A. Beck, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 22 Rn. 29; Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 5; Stein, in: Wendeling-Schröder/Stein (Hrsg.), AGG, 2008, § 22 Rn. 9; Wörl, Die Beweislast nach dem AGG, 2009, S. 22 ff. – Ebenfalls nicht anwendbar ist § 22 AGG, wenn der Arbeitgeber im Rückgriffsprozess vorgeht, Stein (diese Fn.), § 22 Rn. 8; anders eventuell Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 8, was zweifelhaft erscheint, wenn sich der Rückgriffsanspruch nicht selbst aus dem AGG ergibt. 84 Bauer/Krieger/Günther (Fn. 83), § 22 AGG Rn. 5; Grobys (Fn. 82), S. 899; Ebert (Fn. 64), § 22 AGG Rn. 1; Grüneberg (Fn. 62), § 22 AGG Rn. 1 („abschließende Sonderregelung“); Windel (Fn. 82), S. 1 (8); – anders Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 2 für § 75 Abs. 1 BetrVG; noch weitergehend Schlachter (Fn. 63), § 22 AGG Rn. 13 (für §§ 134, 280, 823 Abs. 2 BGB) und Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 5. 85 Benecke (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 7; Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 5. 86 Vgl. Benecke (Fn. 1), § 16 AGG Rn. 29; Wörl (Fn. 83), S. 25 f. 87 Kündigungsschutzgesetz v. 25.8.1969, BGBl. 1969 I S. 1317, zuletzt geändert durch BGBl. 2021 I S. 1762. 88 A. A. Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 4; Stein (Fn. 83), § 2 Rn. 61. Olaf Muthorst
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und besonderen Kündigungsschutz, in deren Rahmen freilich die Diskriminierungsverbote des AGG und die darin vorgesehenen Rechtfertigungen für unterschiedliche Behandlungen als Konkretisierungen der Sozialwidrigkeit zu beachten sind.89 Hingegen bleibt das AGG als Konkretisierung zivilrechtlicher Generalklauseln anwendbar, wenn eine Kündigung nicht in den Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes fällt.90 36 Angenommen wird, in Ermangelung einer § 16 Abs. 3 AGG entsprechenden Regelung sei § 22 AGG nicht auf das Leistungsverweigerungsrecht in § 14 AGG anwendbar.91 Das greift indessen zu kurz: Gemäß § 14 AGG besteht ein Leistungsverweigerungsrecht, wenn der Arbeitgeber keine oder offensichtlich ungeeignete Maßnahmen ergreift, um eine (sexuelle) Belästigung am Arbeitsplatz zu unterbinden. Dabei versteht das AGG unter Belästigung bzw. sexueller Belästigung einen Spezialfall der Benachteiligung (§ 3 Abs. 3 und 4 AGG). In dieser Hinsicht ist der Streit um das Leistungsverweigerungsrecht daher durchaus ein Streitfall über das Vorliegen einer Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes. Folglich ist die Regelung des § 22 AGG auch dann unmittelbar einschlägig, wenn ein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung im Kontext des § 14 AGG zur Debatte steht, ohne dass sich das erst aus einer § 16 Abs. 3 AGG entsprechenden Regelung in § 14 AGG ergeben würde. Umgekehrt ergibt sich die Notwendigkeit der Regelung des § 16 Abs. 3 AGG daraus, dass ein Streit über die Verletzung des Maßregelungsverbotes kein solcher Streitfall i. S. d. § 22 AGG wäre, soweit der Kausalzusammenhang zwischen der Inanspruchnahme von Rechten und der Maßnahme des Arbeitgebers aufzuweisen wäre. 37 Auch soweit im Zusammenhang mit Klagebefugnissen des Betriebsrates oder der Gewerkschaft aus § 17 Abs. 2 AGG, § 23 Abs. 3 BetrVG ein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung fraglich ist, ist § 22 AGG anwendbar, ohne dass es eines § 16 Abs. 3 AGG entsprechenden Verweises bedürfte.92 Da das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren aber vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht wird (§ 83 ArbGG)93, wirkt sich die Anwendung von § 22 AGG im Kontext des § 17 Abs. 2 AGG, § 23 Abs. 3 BetrVG allerdings nur auf das Beweismaß für den Kausalzusammenhang aus. 2. Indizien 38
§ 22 AGG setzt voraus, dass eine Partei „Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen“. Diese Formulierung wirft in mehrfacher Hinsicht Fragen auf. 89 BAG, NZA 2009, S. 361 (363 Rn. 28 ff.); BAG, NZA 2014, S. 208 (211 Rn. 36); BAG, NZA 2014, S. 372 (374 Rn. 16); BAG, NZA 2010, S. 280 (281 Rn. 15). 90 BAG, NZA 2014, S. 372 (374 Rn. 22). 91 Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 5, vgl. aber Rn. 6 a. E. 92 Buschmann, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 17 Rn. 59; Kocher, in: Schiek (Hrsg.), AGG, 2007, § 17 Rn. 32; a. A. Bauer/Krieger/Günther (Fn. 83), § 17 AGG Rn. 28; Benecke (Fn. 1), § 17 Rn. 25; Besgen/Roloff, Grobe Verstöße des Arbeitgebers gegen das AGG – Rechte des Betriebsrats und der Gewerkschaften, NZA 2007, S. 670 (673); zweifelnd Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 1. 93 Vgl. Benecke (Fn. 1), § 17 Rn. 25; Koch, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, § 83 ArbGG Rn. 5.
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a) Keine Benachteiligungsvermutung
Sie lässt sich einerseits so verstehen, dass eine Benachteiligung (im Sinne einer weniger 39 günstigen Behandlung94) festgestellt sein muss, bevor Indizien einen ursächlichen Zusammenhang zu einem der in § 1 AGG genannten Gründe vermuten lassen können. Andererseits könnte auch die nachteilige Behandlung selbst Gegenstand der Vermutung sein. Richtigerweise wird § 22 AGG ganz überwiegend im erstgenannten Sinn verstanden.95 Die Norm kommt nach der gesetzgeberischen Konzeption erst zur Anwendung, wenn die Partei den Vollbeweis geführt hat, dass sie gegenüber anderen Personen ungünstig behandelt worden ist.96 Dies entspricht dem Sinn und Zweck des AGG und des ihm zugrunde liegenden Richtlinienrechts, gezielte Differenzierungsverbote für bestimmte Motive („Gründe“, § 1 AGG) auszusprechen.97 Für eine Rechtfertigungslast gegenüber vermuteten Ungleichbehandlungen – auf eine solche liefe die weite Auslegung des § 22 AGG hinaus – gibt es auch deshalb keinen Anlass, weil hinsichtlich der Ungleichbehandlung keine typische Beweisnot der benachteiligten Partei besteht.98 Einer im Einzelfall bestehenden Beweisnot kann unter den Voraussetzungen der allgemeinen Regeln mit Anscheins- und Indizienbeweis abgeholfen werden, so dass sich die praktischen Konsequenzen ohnehin relativieren.99 Soweit demgegenüber darauf verwiesen wird, das Richtlinienrecht verpflichte die Mit- 40 gliedstaaten auch in Bezug auf die weniger günstige Behandlung zu beweisrechtlichen Modifikationen100, beruht das auf einer Ineinssetzung von Ungleichbehandlung und Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes, die aber als Schlussfolgerung das verbotene Motiv sowie das Fehlen von Rechtfertigungsgründen voraussetzt. Nur in Bezug auf die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist die beweisrechtliche Modifikation geboten. Dass die andere Partei für das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen ohnehin beweisbelastet ist, ist kein Argument für eine weite Auslegung des § 22 AGG101, der auch bezogen auf den Kausalzusammenhang zwischen verbotenem Merkmal und Ungleichbehandlung einen sinnvollen Anwendungsbereich hat. Daher ändert § 22 AGG nichts daran, dass die § 22 AGG in Anspruch nehmende Partei 41 darzulegen und erforderlichenfalls zu beweisen hat, gegenüber anderen Personen ungünstiger behandelt worden zu sein. Entsprechend wird die Modifikation des § 22 AGG auf 94 Vgl. § 3 Abs. 1 AGG im Unterschied zu Abs. 2 bis 5. 95 BVerwG, NJW 2011, S. 2452 (2453 Rn. 17); OLG Karlsruhe, Urt. v. 27.5.2010, 9 U 156/09, Rn. 35; Roloff
(Fn. 66), § 22 AGG Rn. 3; Wendtland (Fn. 61), § 22 AGG Rn. 2 f.; Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 14 ff.; Schlachter (Fn. 63), § 22 AGG Rn. 2; Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 6. – A. A. offenbar Beck (Fn. 83), § 22 Rn. 17 ff., die Schlussfolgerung, Indizienbeweis sei für alle Tatbestandsmerkmale möglich, ist aber keine Abkehr von der herrschenden Meinung. Anders ferner Wörl (Fn. 83), S. 88 ff. 96 BR-Drs. 329/06, S. 51. 97 Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 15. 98 Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 15; Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 6. 99 Vgl. etwa für die Auswahlentscheidung im öffentlich-rechtlichen Konkurrentenstreit BGH, NJW 1995, S. 2344 (2345). 100 Windel (Fn. 82), S. 2; Windel, Aktuelle Beweisfragen im Antidiskriminierungsprozess, RdA 2011, S. 193 (196); zu § 611a Abs. 1 S. 3 BGB Röthel, Beweislast und Geschlechterdiskriminierung, Zur Umsetzung der Richtlinie 97/80/EG, NJW 1999, S. 611 (614). 101 So aber Windel (Fn. 82), S. 2. Olaf Muthorst
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den Zusammenhang zwischen nachteiliger Behandlung und einem in § 1 AGG genannten Grund beschränkt.102 Folglich kommt es auf die Anwendung von § 22 AGG nicht an, wenn die gegnerische Partei die Benachteiligung aus einem der in § 1 AGG genannten Gründe selbst vorträgt.103 42 Im Unterschied zur nachteiligen Behandlung, die sich als unmittelbare oder mittelbare Benachteiligung erweist, wenn sie in einem Zusammenhang mit einem in § 1 AGG genannten Merkmal steht, ist es schon materiell-rechtlich nicht geboten, dass dieses Merkmal überhaupt vorliegt. Für das arbeitsrechtliche Benachteiligungsverbot ergibt sich das unmittelbar aus § 7 Abs. 1, 2. Hs. AGG, für § 19 AGG wird entsprechendes angenommen.104 Folglich trifft auch die Partei von vornherein nur in dem Sinne die Beweislast für das Vorliegen eines Benachteiligungsmerkmals, dass der (vermutete) Grund der nachteiligen Behandlung einer der in § 1 AGG genannten Gründe sein muss.105 Auch im Kontext des Maßregelungsverbots gemäß § 16 AGG führt die entsprechen43 de Anwendung des § 22 AGG nicht dazu, dass die nachteilige Behandlung selbst Gegenstand einer Beweiserleichterung würde.106 Eine weitergehende gesetzgeberische Absicht lässt sich nicht feststellen.107 Der pauschale Hinweis auf Beweisprobleme ist kein Grund, aus dem die Benachteiligung an sich hier – abweichend vom unmittelbaren Anwendungsbereich des § 22 AGG – in die Vermutungswirkung einbezogen sein müsste.108 Schließlich sind auch die sonstigen Anwendungsvoraussetzungen nicht vom Anwen44 dungsbereich des § 22 AGG umfasst.109 b) Kein Indizienbeweis 45 Sodann führt der Begriff der „Indizien“ zu Unklarheiten. Unter Indizien versteht man Tat-
sachen (Anzeichen), von denen es nicht selbst abhängt, ob der Tatbestand der Rechtsnorm als gegeben anzusehen ist oder nicht (Haupttatsache des Beweises), sondern von denen auf Grund richterlicher Erfahrungssätze auf das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals geschlossen werden kann.110 Indizien sind also tatbestandsfremde Tatsachen (Hilfstatsache). Die
102 So auch BAG, NZA 2010, S. 1412 (1415 Rn. 55); BAG, NZA 2011, S. 737 (739 Rn. 29); BAG, NZA 2013, S. 498 (501 Rn. 39); vgl. bereits zu § 611a BGB BAG, NJW 2004, S. 2112 (2114 f.); Adomeit/Mohr (Fn. 83), § 22 AGG Rn. 20; Bauer/Krieger/Günther (Fn. 83), § 22 AGG Rn. 6; Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 15; Schlachter (Fn. 63), § 22 AGG Rn. 2; Grobys (Fn. 82), S. 900. 103 BAG, NZA 2020, S. 707 (711 Rn. 32). 104 Vgl. nur Mörsdorf (Fn. 67), § 19 AGG Rn. 22; Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2022, § 19 AGG Rn. 143 f. 105 Vgl. Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 9. 106 Bauer/Krieger/Günther (Fn. 83), § 22 AGG Rn. 22; Roloff (Fn. 66), § 16 AGG Rn. 7; Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 7. Aufl. 2015 [in Folgeauflagen nicht mehr kommentiert], § 16 AGG Rn. 14. 107 BR-Drs. 329/06, S. 41: „Die Regelung der Beweislastverteilung findet auch im Fall eines Verstoßes des Arbeitgebers gegen das Maßregelungsverbot des § 16 Anwendung.“ Anders Horcher (Fn. 18), § 16 AGG Rn. 15. 108 So aber Benecke (Fn. 1), § 16 AGG Rn. 30; Benecke, Umfang und Grenzen des Maßregelungsverbots und des Verbots der „Viktimisierung“, NZA 2011, S. 481 (485 f.); Schlachter (Fn. 63), § 16 AGG Rn. 3; Deinert, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 16 Rn. 46. 109 BGH, NJW 2021, S. 2514 für die Frage des Massengeschäfts i. S. v. § 19 Abs. 1 Nr. 1, 1. Fall AGG. 110 Jacoby (Fn. 2), Rn. 519, 522; Pohlmann (Fn. 2), Rn. 365. Nicht gefolgt werden kann der These, vor
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Indizien für die Haupttatsache müssen in ihrer Gesamtschau und Gesamtwürdigung so stark sein, dass sie die volle richterliche Überzeugung von der Haupttatsache tragen, weil andere Schlüsse aus den Indizien ersichtlich nicht in Betracht kommen.111 Beispielsweise kann eine Partei, die hinsichtlich innerer Tatsachen bei einer bestimmten Person die Beweislast trägt, andere Personen, denen gegenüber sich die betreffende Person geäußert hat, als Zeugen benennen.112 Ein Indizienbeweis liegt ebenfalls vor, wenn ein Zeuge Angaben zu äußeren Umständen macht, die einen Rückschluss auf einen zu beweisenden inneren Vorgang bei einer anderen Person zulassen.113 Indiztatsache für die ortsübliche Vergleichsmiete kann etwa ein einfacher Mietspiegel sein.114 Im Unterschied zu diesem herkömmlichen Verständnis setzt § 22 AGG indessen In- 46 dizien voraus, die etwas „vermuten lassen.“ Dies hat nicht zur Folge, dass jede Tatsache die Rechtsfolge des § 22 AGG auslösen kann, die eine Kausalität als möglich erscheinen lässt115, aber indizielle Bedeutung haben bereits Tatsachen, die „aus objektiver Sicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen“, dass die Benachteiligung aus einem der in § 1 AGG genannten Gründe erfolgt.116 Das verlangt eine Wahrscheinlichkeit von über 50 %.117 Damit ist der sichere Schluss auf die Kausalität, wie er den Indizienbeweis außerhalb des § 22 AGG kennzeichnet – andere Schlüsse aus der als Indiz in Anspruch genommenen Tatsache dürfen ernstlich nicht in Betracht kommen118 –, nicht erforderlich.119 Schon gar nicht wäre der zwingende Schluss auf die Kausalität zu fordern.120 Erforderlich sind aber konkrete Anhaltspunkte, die den Schluss auf die Kausalität nahelegen.121 Die Benachteiligung im Vergleich zu einer Person, die das in § 1 AGG genannte Merk- 47 mal nicht (oder in anderer Ausprägung) aufweist, genügt dafür allein meist nicht.122 Auch bloße Mutmaßungen „ins Blaue hinein“ genügen nicht.123 Schließlich kommt es nicht daEinführung des § 22 AGG sei der Begriff dem deutschen Beweisrecht im Zivilprozess fremd gewesen, so aber Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 19; vgl. demgegenüber nur BGH, NJW 1970, S. 946 (949 f.). 111 BGH, NJW 1970, S. 946 (949 f.); BGH, NJW 1993, S. 935 (938). 112 BGH, NJW 1992, S. 1899 (1900); BGH, NJW 1992, S. 2489 (2489 f.). 113 BGH, NJW 2012, S. 2427 (2431 Rn. 44). 114 BGH, NJW 2013, S. 2963 (2964 Rn. 23). 115 BAG, NZA 2017, S. 854 (857 Rn. 30). 116 BAG, NZA 2010, S. 1006 (1007 Rn. 16) unter Verweis auf die frühere Rechtsprechung zu § 611a I 3 BGB a. F. (siehe etwa BAG, NJW 2004, S. 2112 (2114)) und § 81 II 2 Nr. 1 S. 2 SGB IX; BAG, NZA 2012, S. 1345 (1348 Rn. 33); BAG, NJOZ 2013, S. 1699 (1702 Rn. 37); Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 6. 117 Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 12, 23; Weigert, Die Kausalitätswahrscheinlichkeit – Das „vergessene“ Tatbestandsmerkmal des § 22 AGG, NZA 2018, S. 1166 (1167 f.). 118 BGH, NJW 1970, S. 946 (950); BGH, NJW 1993, S. 935 (938). 119 Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 6; Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 22; Wörl (Fn. 83), S. 60 ff. Deshalb, und da der Tatbestand keine Typizität des Geschehensablaufs voraussetzt, handelt es sich nicht um einen Anscheinsbeweis, so im Ergebnis auch Bruns (Fn. 62), S. 1043 (1046 f.), und Wörl (Fn. 83), S. 66 ff. 120 BAG, NZA 2010, S. 1006 (1007 Rn. 16); BAG, NZA 2012, S. 1345 (1348 Rn. 33). 121 Wendtland (Fn. 61), § 22 AGG Rn. 2. 122 Vgl. Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 6. 123 BAG, NJOZ 2013, S. 1699 (1702 Rn. 37); Wendtland (Fn. 61), § 22 AGG Rn. 2; Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 24; Diller, AGG-Hopping durch Schwerbehinderte, NZA 2007, S. 1321 (1324). Olaf Muthorst
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rauf an, aus welchen Tatsachen die Partei nach ihrem eigenen Vorbringen auf die Kausalität des Merkmals für die Benachteiligung schließt.124 Diese Absenkung des Beweismaßes auf eine an überwiegende Wahrscheinlichkeit ge48 knüpfte Vermutung von Kausalität125 entspricht der Vorstellung des Gesetzgebers126 und der Regelungskonzeption der europäischen Richtlinien („glaubhaft gemacht“) und greift die frühere zu § 611a Abs. 1 S. 3 BGB a. F. ergangene Rechtsprechung auf.127 Die Verwendung des Begriffs „Indizien“ erklärt sich nur daraus, dass der Gesetzgeber terminologischen Abstand zur Glaubhaftmachung i. S. v. § 294 ZPO herstellen wollte.128 c) Beweiswürdigung
Wenn auch die von § 22 AGG vorausgesetzten Tatsachen nicht einen derart sicheren Schluss tragen müssen, wie es außerhalb von § 22 AGG von Indizien zu verlangen ist129 muss gleichwohl auch im Rahmen von § 22 AGG so verfahren werden, dass die als Kausalitätsanzeichen in Anspruch genommenen Tatsachen, von denen keine für sich den Schluss auf die Kausalität trägt, in ihrer Gesamtheit gewürdigt werden.130 Dabei gilt, da es sich bei § 22 AGG nicht um eine gesetzliche Beweisregel handelt,131 50 der Grundsatz der freien Beweiswürdigung132, so dass weder einzelne Indizien mit einem bestimmten Beweiswert versehen sind, noch sich abstrakt beschreiben ließe, welche Tatsachen (insbesondere in der Gesamtschau mit anderen Tatsachen) als Indiz in Betracht kämen.133 Mit diesem Vorbehalt können nachfolgend einige Tatsachen aufgezählt werden, die in der zu § 22 AGG ergangenen Rechtsprechung herausgehobene Bedeutung haben: 51 – Die Ausschreibung einer Stelle für „junge“ Bewerber/innen kann eine Benachteiligung wegen des Alters vermuten lassen, wenn ein deutlich jüngerer Bewerber eingestellt worden ist134, ebenso die Ausschreibung für „Berufsanfänger“135, „Young Professionals“136 oder „mit 0–2 Jahren Berufserfahrung“137, „Berufserfahrung von 1–3 Jahren“138, „kürzere 49
124 Aus diesem Grund (keine tatbestandlich konkretisierte Vermutungsbasis) kann § 22 AGG nicht als
gesetzliche Vermutung eingeordnet werden, Bruns (Fn. 62), S. 1043 (1047 f.) – a. A. Wörl (Fn. 83), S. 75 ff., der einen sehr viel weiteren Vermutungsbegriff in Anschlag bringt. 125 BAG, NZA 2012, S. 1345 (1349 Rn. 48); Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 22; Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 5. 126 BR-Drs. 329/06, S. 51. 127 Zu § 611a I 3 BGB a. F. BAG, NJW 2004, S. 2112 (2114). 128 Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 3, 21. 129 Kritisch zur Begriffsverwendung daher Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 5. 130 BGH, NJW 1970, S. 946 (949); vgl. BAG, NZA 2012, S. 1345 (1348 Rn. 33); BAG, NZA 2018, S. 33 (38 Rn. 47); Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 6. 131 Bruns (Fn. 62), S. 1045 f. 132 BAG, NZA 2008, S. 1351 (1353 Rn. 26 f.); BAG, NZA 2010, S. 383 (385 Rn. 20); BAG, NZA 2011, S. 93 (98 Rn. 66); Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 25. 133 Eingehend in Bezug auf einzelne Merkmale Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 11 ff.; Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 12 ff.; zu Gegenindizien Weigert (Fn. 117), S. 1169 ff. 134 BAG, NZA 2010, S. 1412 (1415 f. Rn. 57 ff.). 135 BAG, BeckRS 2016, 74826 Rn. 74 f. 136 BAG, NZA 2013, S. 498 (501 f. Rn. 41 ff.). 137 BAG, NZA 2016, S. 1394 (1403 Rn. 72 f.). 138 BAG, BeckRS 2016, 74826 Rn. 74 f. Olaf Muthorst
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Berufserfahrung“139, auch – eventuell zu weitgehend – eine „Perspektive in einem jungen und dynamischen Team“140, während die Formulierung „Die S-GmbH ist ein junges, dynamisches Unternehmen“ keine Benachteiligung vermuten lässt141. Das gilt auch, wenn erste „einschlägige“ Berufserfahrung verlangt wird.142 Die nicht-obligatorisch auszufüllende Frage nach dem Geburtsdatum in einem Online-Bewerbungsformular lässt nicht vermuten, der Arbeitgeber benachteilige wegen des Alters.143 Eine geschlechtsspezifische Stellenausschreibung kann eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten lassen.144 Eine Stellenanzeige „Entwickler (w/m)“ oder „Hotelfachfrau (Hotelfachmann/-frau)“ ist kein ausreichendes Indiz145, auch nicht für den Ausschluss eines anderen Geschlechts.146 Eine Ausschreibung als Vollzeitstelle lässt keine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten.147 Auch eine verspätete oder nicht erteilte Auskunft i. S. d. § 10 EntgTranspG lässt keine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten.148 Eine benachteiligende Stellenausschreibung kann dem Arbeitgeber auch zurechenbar sein, wenn sie nicht seine eigene ist.149 – Frühere öffentliche Äußerungen des Arbeitgebers, er werde keine Arbeitnehmer einer 52 bestimmten ethnischen Herkunft oder Rasse einstellen, lassen eine Benachteiligung von Bewerbern aus diesen Gründen vermuten.150 Solche oder ähnliche Äußerungen müssen nicht vom Arbeitgeber selbst stammen, wenn sie ihm aus anderen Gründen zurechenbar sind.151 Eine Gremienentscheidung lässt bereits dann eine Benachteiligung aus einem in § 1 AGG genannten Grund vermuten, wenn der Vorsitzende des Gremiums derartige Gründe unwidersprochen vor der Presse wiedergibt; solche Indizien müssen sich nicht auf die für die Beschlussfassung erforderliche Mehrheit der Mitglieder beziehen.152 – Die Frage des Arbeitgebers im Vorstellungsgespräch nach einer psychiatrischen Be- 53 handlung und Äußerungen des Arbeitgebers153 zu einem vermuteten Leiden des BewerBAG, BeckRS 2016, 74827 Rn. 69 ff. BAG, NZA 2016, S. 1394 (1403 Rn. 74 f.). BAG, NZA 2018, S. 584 (587 Rn. 32 ff.). BAG, NZA-RR 2017, S. 342 (344 Rn. 30 ff.). BAG, BeckRS 2016, 119064 Rn. 34. BAG, NZA 2004, S. 540 (543 f.); ebenso bereits BR-Drs. 329/06, S. 51. BAG, BeckRS 2016, 119064 Rn. 30; BAG, NZA 2018, S. 584 (587 Rn. 29); LAG Hamm, Urt. v. 24.4.2008, 11 Sa 95/08. 146 Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 14; kritisch insoweit Bettinghausen, Die geschlechtsneutrale Stellenausschreibung unter Berücksichtigung des dritten Geschlechts, BB 2018, S. 372; Körlings, Das dritte Geschlecht und die diskriminierungsfreie Einstellung, NZA 2018, S. 282. 147 BAG, NZA 2018, S. 584 (587 Rn. 30). 148 Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 14. 149 BAG, NZA 2004, S. 540 (543 f.); kritisch Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 16; Adomeit/Mohr, Verantwortung von Unternehmen für diskriminierende Stellenanzeigen durch Dritte, NJW 2007, S. 2522. 150 EuGH, Urt. v. 10.7.2008, Rs. C-54/07 – Feryn, Rn. 34. 151 EuGH, Urt. v. 25.4.2013, Rs. C-81/12 – Asociaţia Accept, Rn. 40 ff.; näher Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 13. 152 BGH, NZA 2012, S. 797 (800 Rn. 35 f.); ablehnend Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 15; Thüsing/Stiebert, Altersgrenzen bei Organmitgliedern, NZG 2011, S. 641. 153 So allgemein Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 6. 139 140 141 142 143 144 145
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bers können eine Benachteiligung wegen einer Behinderung vermuten lassen.154 Dem ausdrücklichen Verlangen eines Lichtbildes in einer Ausschreibung kann zusammen mit anderen Indizien Indizwirkung zukommen.155 Die in einem Online-Bewerbungsformular vorgesehene Auswahl zwischen „Frau“ und „Herr“ ist kein Indiz für eine Benachteiligung wegen des Geschlechts, die Frage nach den Deutschkenntnissen kein Indiz für eine Benachteiligung wegen der ethnischen Herkunft156, die Frage nach einer Schwerbehinderung kein Indiz für eine Benachteiligung wegen einer Behinderung.157 54 – Das Einholen einer Schufa-Auskunft lässt keine Diskriminierung vermuten.158 55 – Mit dem Zeugnis Dritter über Äußerungen des Arbeitgebers, die dem Zeugen gegenüber verlautbart worden sind, kann über § 22 AGG hinaus der volle Beweis der Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes geführt werden.159 Die Kündigung wegen einer In-vitro-Fertilisation lässt eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten.160 Die bloße Kenntnis des Arbeitgebers von einer Schwangerschaft zum Zeitpunkt einer Beförderungsentscheidung lässt keine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten.161 Ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen einer benachteiligenden Maßnahme des Arbeitgebers und einer Anzeige der Schwerbehinderung oder Schwangerschaft kann eine Benachteiligung wegen einer Behinderung bzw. wegen des Geschlechts vermuten lassen162, ebenso für einen Verstoß gegen das Maßregelungsverbot des § 16 AGG.163 Gleiches gilt, wenn das befristete Arbeitsverhältnis einer schwangeren Arbeitnehmerin nach Mitteilung der Schwangerschaft nicht verlängert wurde, während die befristeten Arbeitsverhältnisse aller vergleichbaren Arbeitnehmer verlängert worden sind.164 56 – Unterlässt der Arbeitgeber die nach § 164 Abs. 1 S. 2 SGB IX (§ 81 Abs. 1 S. 2 SGB IX a. F.) geforderte Einschaltung der Bundesagentur für Arbeit, die nach § 165 S. 3 SGB IX (§ 82 S. 2 SGB IX a. F.) erforderliche Einladung des schwerbehinderten Bewerbers zu einem Vorstellungsgespräch oder die nach § 164 Abs. 1 S. 4 und 6 SGB IX (§ 81 Abs. 1 S. 4 und 6 SGB IX a. F.) erforderliche Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung, lässt das die Benachteiligung wegen einer Behinderung vermuten.165 Das gilt in Bezug auf die Ver154 BAG, NZA 2010, S. 383 (385 Rn. 24 ff.). 155 Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 14; Gruber, Zwei problematische Punkte des AGG: Die Anforderung
eines Passfotos und die Suche nach dem „muttersprachlichen Mitarbeiter (m/w)“, NZA 2009, S. 1247 (1248). 156 BAG, BeckRS 2016, 119064 Rn. 35 ff. 157 BAG, NZA 2012, S. 34 (37 Rn. 43). 158 Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 19. Vgl. AG Potsdam, Urt. v. 10.7.2008, 22 C 25/08, Rn. 23. 159 ArbG Mainz, Urt. v. 2.9.2008, 3 Ca 1133/08. 160 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.2.2008, Rs. C-506/06 – Mayr/Flöckner, Rn. 46 f. 161 BAG, NZA 2008, S. 1351 (1353 Rn. 30). 162 BAG, NZA 2015, S. 734 (737 Rn. 43); noch offengelassen von BAG, NZA 2008, S. 1351 (1353 f. Rn. 37); verneint für den Streitfall von BAG, NZA 2012, S. 34 (37 Rn. 38 f.). 163 Benecke (Fn. 1), § 16 Rn. 19, 30; Schlachter (Fn. 63), § 16 AGG Rn. 2 (jeweils unter Verweis auf die Handhabung des Anscheinsbeweises bei § 612a BGB a. F.). Ebenso Horcher (Fn. 18), § 16 AGG Rn. 15. 164 LAG Köln, Beschl. v. 6.4.2009, 5 Ta 89/09. 165 BAG, NZA 2007, S. 507 (510 Rn. 22 ff.); BAG, NZA 2011, S. 153 (156 Rn. 35 ff.); BAG, NZA 2016, S. 681 (685 Rn. 31 ff.); BAG, NZA 2020, S. 851 (854 Rn. 37 ff.); BVerwG, NJW 2011, S. 2452 (2454 f. Rn. 27). Im Einzelnen zu den Anforderungen Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 11 f. Olaf Muthorst
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letzung von Pflichten hinsichtlich des Besetzungsverfahrens auch dann, wenn der Arbeitgeber (noch) keine Kenntnis von der Bewerbung schwerbehinderter Menschen hatte.166 Die Pflicht in Bezug auf einen konkreten Bewerber kann der Arbeitgeber hingegen nur erfüllen, wenn ihm die Schwerbehinderung des Bewerbers bekannt gewesen ist oder er sich aufgrund der Bewerbungsunterlagen die Kenntnis jedenfalls hätte verschaffen müssen.167 Die Nichterfüllung der Beschäftigungspflichtquote nach § 154 SGB IX (§ 71 Abs. 1 SGB IX a. F.) ist kein Indiz für eine Benachteiligung wegen einer Schwerbehinderung, sondern kann Gründe haben, die sich dem Einfluss des Arbeitgebers entziehen.168 Auch der Verstoß gegen die Pflicht zur Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements ist kein Indiz für die Benachteiligung wegen einer Behinderung.169 Hingegen ist das Unterlassen einer nach Art. 4 Abs. 1 der RL 92/85 erforderlichen Risikobeurteilung ein Indiz, das eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten lässt.170 Ganz allgemein kann die Missachtung (nicht: die bloße Nichtbeachtung) von Normen, die die Benachteiligung aus in § 1 AGG genannten Gründen verhindern sollen, indizielle Bedeutung haben.171 – Quoten oder Statistiken können Indizien für eine Diskriminierung ergeben, wenn sie 57 sich auf den betreffenden Arbeitgeber beziehen und aussagekräftig sind, was sein regelhaftes Verhalten gegenüber der Merkmalsträgergruppe anbelangt.172 Auch für Benachteiligungen im allgemeinen Zivilrechtsverkehr können sich statistische Indizien ergeben.173 Die Aussagekraft einer Statistik schließt Diskriminierungen in der Vergangenheit ein, beschränkt sich aber nicht auf sie.174 Diese Sichtweise entspricht sowohl Erwägungsgrund 15 der RL 2000/43/EG als auch den Vorstellungen des Gesetzgebers bei Einführung des AGG.175 Zu beachten ist allerdings, dass einer Praxis, die vor Inkrafttreten des AGG erlaubt war, keine Indizwirkung zukommt.176 Hingegen lässt für sich genommen weder die bloße Unterrepräsentation einer Gruppe noch die Tatsache, dass in einem Betriebsteil keine Arbeitnehmer nichtdeutscher Herkunft beschäftigt sind, während unternehmensweit ArBAG, NZA 2011, S. 153 (156 f. Rn. 41 ff.). BAG, BeckRS 2012, 65090 Rn. 38. BAG, NZA 2019, S. 1419 (1423 Rn. 46). BAG, NZA 2011, S. 2458 (2461 Rn. 42); BAG, NZA 2015, S. 931 (937 Rn. 62). EuGH, Urt. v. 19.10.2017, Rs. C-531/15 – Ramos/INSS, Rn. 70 ff.; entsprechend gem. § 10 MuSchG, vgl. Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 14. 171 Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 14. 172 EuGH, Urt. v. 27.10.1993, Rs. C-127/92 – Enderby, Rn. 14, ff.; BAG, NZA 2012, S. 1345 (1348 Rn. 36); BAG, NZA 2011, S. 93 (99 Rn. 68); BAG, NZA 2011, S. 689 (691 f. Rn. 29 ff.). Ferner Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 9; Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 28. Zustimmend für Benachteiligung wegen des Geschlechts und wegen einer Schwerbehinderung, im Übrigen ablehnend: Bayreuther, „Quotenbeweis“ im Diskriminierungsrecht?, NJW 2009, S. 806. Zurückhaltend Bauer/Krieger, 10 Jahre AGG – Tops und Flops, NZA 2016, S. 1041 (1042 f.). 173 Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 19. 174 BAG, NZA 2011, S. 93 (99 Rn. 68); vgl. Bayreuther (Fn. 172); Grobys (Fn. 82), S. 902; Windel (Fn. 82), S. 4 f.; Stein (Fn. 83), § 22 Rn. 25; Bauer/Krieger/Günther (Fn. 83), § 22 AGG Rn. 11 – Statistikbeweis. 175 BR-Drs. 329/06, Vorblatt S. 5. 176 Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 14. 166 167 168 169 170
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beitnehmer aus 13 Nationen beschäftigt sind, vermuten, dass Bewerber wegen ihrer ethnischen Herkunft benachteiligt werden.177 – Die Ergebnisse von Testing-Verfahren, bei denen eine Vergleichsperson eingesetzt wird, um zu überprüfen, ob ein Verhalten gegenüber einer Person, bei der eines der in § 1 AGG genannten Merkmale vorliegt, gleichermaßen auch gegenüber der Vergleichsperson erfolgt, bei der dieses Merkmal nicht vorliegt, können die Benachteiligung wegen des jeweiligen Merkmals vermuten lassen.178 – Keine indizielle Bedeutung hat es, wenn die Kündigung einer Arbeitnehmerin während der Probezeit am Weltfrauentag ausgesprochen wird.179 Keine indizielle Bedeutung hat auch das Einstellen oder Befördern eines Bewerbers ohne ein bestimmtes Merkmal180; hingegen kann es eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten lassen, wenn der Arbeitgeber bei einem Stellenbesetzungsverfahren eine Bewerberin, deren Qualifikation unstreitig den Anforderungen in der Stellenanzeige entspricht, weder zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen noch Gründe dafür genannt hat.181 Ebenfalls kann es eine Benachteiligung wegen des Geschlechts und der sexuellen Identität vermuten lassen, wenn eine transsexuelle Person in ihrer geschlechtlichen Identität angezweifelt wird.182 – Keine indizielle Bedeutung hat hingegen eine unsubstantiierte Rechtsverteidigung der gegnerischen Partei.183 Als Indiz wirken kann aber eine wechselnde oder zum sonstigen Verhalten in Widerspruch stehende Begründung der gegnerischen Partei.184 Das Nachschieben von Auswahlkriterien erfordert eine besondere Rechtfertigung, weil dem Arbeitgeber sonst in jedem Fall eine Entlastung möglich wäre durch Angabe eines beliebigen von ihm bevorzugten Merkmals als „sachlichen Grund“.185 An diese Rechtfertigung dürfen allerdings keine zu hohen Anforderungen gestellt werden, denn das Nachschieben von Gründen im Rechtsstreit ist materiell-rechtlich gerade nicht verboten.186 Wie jede Beweiswürdigung ist auch die Würdigung der indiziellen Kraft der Tatsachen revisionsrechtlich nur darauf überprüfbar, ob sie möglich und in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Denkgesetze, Erfahrungssätze oder andere Rechtssätze verstößt.187 Ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt unter anderem dann vor, wenn Indiztatsachen, die sich zwanglos mit dem gegensätzlichen Vortrag beider Parteien vereinbaren lassen, nur mit BAG, NZA 2012, S. 1345 (1348 f. Rn. 35 ff.). BR-Drs. 329/06, S. 51; Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 29; Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 14. ArbG Hamburg, Urt. v. 28.8.2007, 21 Ca 125/07 Rn. 53. BAG, NZA 2008, S. 1351 Orientierungssatz 1. Vgl. EuGH, Urt. v. 19.4.2012, Rs. C-415/10 – Meister/Speech Design, Rn. 42 ff. BAG, NZA 2016, S. 888 (891 Rn. 34); kritisch, aber einen Teil des vom BAG gewürdigten Sachverhalts außer Acht lassend, Bauer, Anmerkung zu BAG, Urt. v. 17.12.2015, 8 AZR 421/14, NJW 2016, S. 2443 (2446). 183 BAG, NZA 2012, S. 1345 (1349 Rn. 48). 184 BAG, NZA 2012, S. 1345 (1349 f., Rn. 49 f.). 185 BVerfG, NJW 1994, S. 647 (648) – Gleichberechtigung bei Einstellung; vgl. auch BVerwG, NJW 2011, S. 2452 (2454 f. Rn. 27). 186 Vgl. BAG, NZA 2011, S. 153 (157 Rn. 46). 187 BGH, NJW 1993, S. 935 (938); BAG, NZA 2012, S. 1345 (1348 Rn. 34); BAG, NJOZ 2013, S. 1699 (1703, Rn. 42 f.). 177 178 179 180 181 182
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dem Vortrag einer Partei für vereinbar gehalten werden, also deren Ambivalenz nicht erkannt oder ihnen Indizwirkungen beigemessen wird, die sie nicht haben können.188 3. Beweis der Indizien
Tatbestandliche Voraussetzung des § 22 AGG ist, dass die besagten Indizien „bewiesen“ 62 sind. Diese Formulierung hat der Gesetzgeber gewählt, um im sprachlichen Gegensatz zu § 611a Abs. 1 S. 3 BGB a. F. und zum ursprünglichen Entwurf („Wenn im Streitfall die eine Partei Tatsachen glaubhaft macht“189) die tatbestandlichen Voraussetzungen prozessual vom Begriff der Glaubhaftmachung i. S. v. § 294 ZPO abzugrenzen.190 Damit ist klar, dass der von § 22 AGG tatbestandlich geforderte Beweis nicht durch eidesstattliche Versicherung erbracht werden kann191 und nicht auf präsente Beweismittel beschränkt ist.192 Außer Streit stehen dürfte ferner, dass der bloße Vortrag von Indiztatsachen nicht ge- 63 nügt. Insbesondere für bloße Mutmaßungen „ins Blaue hinein“ wird das auch ausgesprochen.193 Unterhalb dieser Schwelle gilt nichts anderes, auch wenn in der Rechtsprechung formuliert wird, eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, genüge ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist194, und daran die Aussage angeschlossen wird, dann, wenn die Vermutung einer Benachteiligung besteht, trägt die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist.195 Damit ist indessen nicht gesagt, dass das bloße Vortragen hinreichender Indiztatsachen hinreichende Bedingung für die Beweislast der anderen Partei als Rechtsfolge des § 22 AGG wäre. Voraussetzung ist vielmehr, dass die vorgetragenen Indiztatsachen auch als „bewiesen“ behandelt werden können.196 188 BGH, NJW 1991, S. 1894 (1895); BGH, NJW 1993, S. 935 (938). Eingehend in Bezug auf § 22 AGG
Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 20 ff. BR-Drs. 329/06, S. 7, § 22. BT-Drs. 16/2022, S. 13. BT-Drs. 16/2022, S. 13. Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 1; Grobys (Fn. 82), S. 901. BAG, NZA 2010, S. 1006 (1007 Rn. 15 ff.); BAG, NJOZ 2013, S. 1699 (1702 Rn. 37); Wendtland (Fn. 61), § 22 AGG Rn. 2; Benecke (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 24; Diller (Fn. 123), S. 1324; Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 11. 194 So etwa BAG, NZA 2016, S. 1394 (1401 Rn. 54) unter Verweis auf BAG, NZA 2012, S. 1345 (1348 Rn. 33) und BAG, NZA 2012, S. 910 (918 Rn. 65). 195 Wiederum BAG, NZA 2016, S. 1394 (1401 Rn. 54) unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 25.4.2013, Rs. C-81/12 – Asociaţia Accept, Rn. 55; EuGH, Urt. v. 10.7.2008, Rs. C-54/07 – Feryn, Rn. 32; BAG, NZA 2014, S. 258 (261 Rn. 27). 196 BAG, NZA 2010, S. 383 (385 Rn. 19) („[…] genügt es, dass der Anspruchsteller Indizien vorträgt und im Streitfalle beweist […]“); BAG, NZA 2012, S. 910 (917 Rn. 65) („Ausreichend ist es, dass Tatsachen dargelegt und gegebenenfalls bewiesen werden, die eine Benachteiligung wegen eines Merkmals nach § 1 AGG vermuten lassen.“); ferner BAG, NZA 2012, S. 1345 (1348 Rn. 34) („Die Würdigung der Tatsachengerichte, ob die von einem Bewerber vorgetragenen oder unstreitigen Tatsachen …“); BAG, NJOZ 2015, S. 1065 (1068 Rn. 39) („im Rahmen des Nachweises von Tatsachen, die das Vorliegen einer Diskriminierung vermuten lassen“); BAG, NZA 2016, S. 681 (684 Rn. 28) („Sowohl die Würdigung der Tatsachengerichte, 189 190 191 192 193
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Nicht geklärt ist aber, welches Beweismaß das Gesetz vorschreibt. Der Formulierung „Indizien beweist, die [Kausalität] vermuten lassen“ kann man, angelehnt an u. a. die deutsche Sprachfassung von Art. 8 RL 2000/43/EG, den Gehalt entnehmen, es müssten Tatsachen vorgetragen werden, die überwiegend wahrscheinlich der Wahrheit entsprechen und mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf einen Kausalzusammenhang hindeuten. Das Beweismaß für vorgetragene Tatsachen und daraus geschlossener Kausalität wäre dann das der Glaubhaftmachung i. S. v. § 294 ZPO. Man kann den Begriff des Vermutenlassens aber auch allein auf den Kausalzusammenhang beziehen und die Tatsachenbehauptungen, sofern sie beweisbedürftig werden, dem Regelbeweismaß des Vollbeweises unterstellen. 65 Höchstrichterlich ist diese Frage bislang nicht ausdrücklich beantwortet worden.197 In der Rechtsprechung des BAG finden sich nur Aussagen zur Darlegungslast, an die sich zuweilen der Satz anschließt, Indizien müssten vorgetragen und im Streitfall bewiesen werden.198 In der Instanzrechtsprechung199 und im Schrifttum200 werden beide Ansichten vertreten, allerdings ohne, dass substantielle Argumente ausgetauscht würden. Der Wortlaut des § 22 AGG lässt beide Auffassungen zu, da auch der eine Tatsache „beweist“, der sie glaubhaft macht. Die Glaubhaftmachung ist ein Unterfall des Beweises. Gleichwohl ist festzuhalten, dass der Begriff des Beweises gegenüber dem notwendigen Beweismaß nicht indifferent ist, sondern nach dem oben Dargestellten ein Regelbeweismaß der vollen ge64
ob die von einem Bewerber/einer Bewerberin vorgetragenen und unstreitigen oder bewiesenen Hauptund/oder Hilfstatsachen eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen …“), ebenso BAG, NZA 2017, S. 854 (857 Rn. 29); ferner EuGH, Urt. v. 19.4.2012, Rs. C-415/10 – Meister/Speech Design, Rn. 42 („ob es genügend Indizien gibt, um die Tatsachen, die das Vorliegen einer solchen Diskriminierung vermuten lassen, als nachgewiesen ansehen zu können“). 197 Insbesondere lässt sich BAG, NZA 2010, S. 383 keine Aussage zum Beweismaß entnehmen, so aber offenbar Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 16, Fn. 22 bzw. Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 10, Fn. 28 – mit jeweils umgekehrtem Vorzeichen. 198 Siehe die Nachweise in Fn. 196. 199 Für Vollbeweis LAG Hessen, Urt. v. 28.10.2008, 13 Sa 810/08; für Glaubhaftmachung ArbG Berlin, Urt. v. 12.11.2007, 86 Ca 4035/07, Rn. 55 f.; ausdrücklich offen gelassen von OLG Karlsruhe, Urt. v. 27.5.2010, 9 U 156/09, Rn. 35 („Aber auch wenn insoweit ein geringeres Beweismaß angelegt wird, wonach es ausreicht, wenn die Tatsachen, die eine Kausalität zwischen Benachteiligung und verbotenem Merkmal für wahrscheinlich erachten lassen, überwiegend wahrscheinlich sind, haben die Kläger im Streitfall diesen Beweis nicht geführt.“). 200 Für Vollbeweis: Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 16 und 24; Ebert (Fn. 64), § 22 AGG Rn. 2 („Indizien nachweisen“); Grobys (Fn. 82), S. 900 („Ist die Aussagekraft der Hilfstatsachen erschüttert und kann der Arbeitnehmer ihre Richtigkeit nicht beweisen, geht dies zu seinen Lasten.“); Stein (Fn. 65), S. 851 f. (jedenfalls „am Rande einer Auslegung contra legem“); wohl auch Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 7 („wonach das Gericht vom Vorliegen bestimmter Tatsachen überzeugt sein muss, während es die Benachteiligung wegen des unzulässigen Kriteriums lediglich für überwiegend wahrscheinlich halten muss.“); Bauer/Krieger/Günther (Fn. 83), § 22 AGG Rn. 3, 6; Wörl (Fn. 83), S. 54 ff., 97 ff. – Für Glaubhaftmachung: Wendtland (Fn. 61), § 22 AGG Rn. 3.1 und 4; Schlachter (Fn. 63), § 22 AGG Rn. 1 und 3 Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 3 und 10; ebenso in Bauer/Thüsing/Schunder, Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz – Alter Wein in neuen Schläuchen?, NZA 2006, S. 774; Weigert (Fn. 117), S. 1166 (1167); Windel (Fn. 82), S. 193 (196 f.) – Nicht eindeutig Grüneberg (Fn. 62), § 22 AGG Rn. 2. – Ausdrücklich offenlassend Richardi, Neues und Altes – Ein Ariadnefaden durch das Labyrinth des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, NZA 2006, S. 881 (886). Nicht eindeutig Beck (Fn. 83), § 22 Rn. 49. Olaf Muthorst
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richtlichen Überzeugung impliziert, während das abgesenkte Beweismaß der Glaubhaftmachung die Ausnahme darstellt. Auch für die gesetzgeberischen Regelungsabsichten gibt es Anzeichen in beide Rich- 66 tungen. Wenn der Gesetzgeber nur den Begriff der Glaubhaftmachung vermeiden, das Beweismaß der Glaubhaftmachung aber zur Anwendung bringen wollte, hätte es nahegelegen, die Formulierung „Tatsachen glaubhaft macht“ nicht durch „Indizien beweist“, sondern durch „zur Überzeugung des Gerichts überwiegend wahrscheinliche Indizien geltend macht“ zu ersetzen. Andererseits wird in den Gesetzgebungsmaterialien davon ausgegangen, ein Indiz für eine vermutete Benachteiligung (!) sei bewiesen, wenn ergänzend zum Beweis der Ungleichbehandlung Vermutungstatsachen vorgetragen werden würden (!), aus denen sich schließen lasse, dass die unterschiedliche Behandlung auf einem nach § 1 AGG unzulässigen Grund beruht.201 Dass dabei keine Rechtsänderung gegenüber § 611a Abs. 1 S. 3 BGB a. F. beabsichtigt 67 gewesen ist202, führt nicht weiter, weil auch zu § 611a Abs. 1 S. 3 BGB a. F. unterschiedliche Auffassungen vertreten wurden, ob sich die Glaubhaftmachung nur auf den Kausalzusammenhang beschränkt oder auch das Beweismaß für die vorgetragenen Indizien erfasst. Schon diese Frage war vom BAG nicht ausdrücklich entschieden worden. Ausdrücklich bezogen hat das BAG die überwiegende Wahrscheinlichkeit nur auf den Kausalzusammenhang zwischen Benachteiligung und Benachteiligungsgrund.203 Immerhin hat das BAG aber in Fällen, in denen die Instanzgerichte vorgetragene Tatsachen nicht für den Kausalzusammenhang gewürdigt haben, Schlussfolgerungen an das Vorliegen der Tatsachen geknüpft, nicht an deren bloße Wahrscheinlichkeit.204 Es ist dabei also davon ausgegangen, dass die geltend gemachten Tatsachen zur vollen Überzeugung des Gerichts unter Beweis gestellt werden müssen, während es für den von ihnen indizierten Kausalzusammenhang ausreicht, dass er überwiegend wahrscheinlich ist.205 Auch eine richtlinienorientierte Auslegung führt zu keinem klaren Ergebnis. Zwar wird 68 teilweise vertreten, die Richtlinien würden vorschreiben, es dürfe nur das Beweismaß der
201 BT-Drs. 16/2022, S. 13; BR-Drs. 329/06, S. 51. 202 BT-Drs. 16/2022, S. 13. 203 BAG, NZA 2004, S. 540 (545). Entgegen dem von BR-Drs. 329/06, S. 51, vermittelten Eindruck lässt
sich dieser Entscheidung gerade nicht entnehmen, es genüge, wenn das Gericht die tatsächlichen Anhaltspunkte für überwiegend wahrscheinlich halte. Vgl. ferner BAG, NZA 2011, S. 689 (691 Rn. 26). 204 BAG, NZA 2008, S. 1351 (1354 Rn. 42) („Sollte eine solche Äußerung gefallen sein, …“) und Rn. 43 („Ob dieser Sachvortrag zutrifft und ob auf Grund desselben eine geschlechtsspezifische Benachteiligung der Kl. nach § 611a I 3 BGB a. F. zu vermuten ist, hätte das LAG prüfen müssen.“). Ebenso für § 81 SGB IX a. F.: BAG, NZA 2005, S. 870 (872 f.) („Ob der Personalrat als zwischengeschalteter Bote des Arbeitgebers die Mitteilung über die eingegangene Bewerbung so rechtzeitig an die gewählte Vertrauensperson der Schwerbehinderten weitergeleitet hat, dass die Anforderung ‚unmittelbar nach Eingang‘ noch erfüllt ist, bedarf keiner Aufklärung.“). 205 Ebenso BAG, NZA 2004, S. 540 (545) („dass er Hilfstatsachen darlegt und ordnungsgemäß unter Beweis stellt, die eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten lassen. Hierzu genügt die Überzeugung des Gerichts von der überwiegenden Wahrscheinlichkeit für die Kausalität zwischen Geschlechtszugehörigkeit und Nachteil.“). Olaf Muthorst
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§ 19 Beweisrecht
Glaubhaftmachung i. S. v. § 294 ZPO verlangt werden.206 Dem Wortlaut der Richtlinien (Art. 8 RL 2000/43/EG, Art. 10 RL 2000/78/EG, Art. 9 RL 2004/113/EG, Art. 19 2006/54/ EG) lässt sich das aber nicht unmittelbar entnehmen. Auch beim Vergleich des deutschen Wortlauts („Tatsachen glaubhaft machen, die […] vermuten lassen“) mit den Formulierungen in anderen Sprachfassungen („establish […] facts from which it may be presumed that“; „établie … des faits qui permettent de présumer“) ist nicht ersichtlich, weshalb gerade das deutsche Verständnis der Glaubhaftmachung dem Richtliniengeber vor Augen gestanden haben sollte. Auch das Entstehungsmaterial deutet eher in eine andere Richtung.207 Wenn es in anderen Ländern im Hinblick auf arbeitnehmerseitige Ansprüche allgemein ausreicht, dass anspruchsbegründende Tatsachen überwiegend wahrscheinlich sind208, spricht das dafür, dass der Richtliniengeber es der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten überlässt, das Beweismaß für die Glaubhaftmachung von Tatsachen festzulegen.209 Eine richtlinienorientierte Auslegung zwingt daher nicht zu dem Ergebnis, es genüge, Tatsachen vorzutragen, die nicht mehr als überwiegend wahrscheinlich der Wahrheit entsprechen müssen, um die Rechtsfolge des § 22 AGG auszulösen, wenn diese Tatsachen indizielle Bedeutung für einen Kausalzusammenhang haben. Ein deutlicher Hinweis für die Auslegung des § 22 AGG lässt sich indessen der ihm und 69 den ihm zugrundeliegenden Richtlinienrecht innewohnenden Zwecksetzung entnehmen: Der benachteiligten Partei soll ein strenger Nachweis von Tatsachen erspart werden, die in der Sphäre der gegnerischen Partei liegen und der Partei somit nicht genügend bekannt sind.210 Das betrifft vor allem die innere Tatsache der Motivation des Benachteiligenden.211 Aus diesem Grund verlagert § 22 AGG das Beweisthema vom Kausalzusammenhang, zu dem die benachteiligte Partei nicht unmittelbar vortragen muss, hin zu Indizien, die den Kausalzusammenhang vermuten lassen und von der benachteiligten Partei vorgetragen werden müssen. Sind Indizien, die die Vermutung des Kausalzusammenhangs tragen, substantiiert bestritten, sollte die Entscheidung des Rechtsstreits nur dann von der Beweislage der gegnerischen Partei abhängen, wenn das Gericht die Tatsachenbehauptungen über die Indizien für wahr hält. Gelingt diese Feststellung zur Überzeugung des Gerichts nicht, verwirklicht sich im Prozessverlust nicht die von § 22 AGG und dem zugrunde liegenden Richtlinienrecht adressierte Beweisnot über (innere) Tatsachen in der Sphäre der gegne206 Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 2 f.; Stein (Fn. 65), S. 850 f.; ihm folgend Weigert (Fn. 117), S. 1169. 207 Vgl. etwa Begründung zum Kommissionsvorschlag zur Richtlinie 2000/43/EG: KOM(1999) 566
endg., S. 10: „Die Kommission schlägt vor, dass die Beweislast bei Beklagten liegt, sobald der Kläger durch Fakten nachgewiesen hat, dass ihm durch offenkundige Diskriminierung eine ungünstigere Behandlung zuteil wurde.“ Entsprechend formuliert der EuGH, Urt. v. 19.4.2012, Rs. C-415/10 – Meister/Speech Design, Rn. 42 („ob es genügend Indizien gibt, um die Tatsachen, die das Vorliegen einer solchen Diskriminierung vermuten lassen, als nachgewiesen ansehen zu können“); EuGH, Urt. v. 25.4.2013, Rs. C-81/12 – Asociaţia Accept, Rn. 42 („Sind solche Tatsachen nachgewiesen …“). 208 Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 2. 209 In diese Richtung Erwägungsgrund 15 RL 2000/43/EG und 2000/78/EG, Erwägungsgrund 30 RL 2006/54/EG, ferner EuGH, Urt. v. 19.4.2012, Rs. C-415/10 – Meister/Speech Design, Rn. 43. 210 Wendtland (Fn. 61), § 22 AGG Rn. 1; Schlachter (Fn. 63), § 22 AGG Rn. 1. 211 Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 6. Olaf Muthorst
B. Beweisführung im Antidiskriminierungsprozess
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rischen Partei, sondern das Unvermögen der benachteiligten Partei, das Gericht vom Vorhandensein von Indizien zu überzeugen, die einen Kausalzusammenhang vermuten lassen. Die Rechtsfolge des § 22 AGG tritt daher nicht ein, wenn das Gericht nicht von der 70 Wahrheit der indiziell aufgestellten Tatsachenbehauptungen überzeugt ist. Auch hier relativieren sich die praktischen Konsequenzen allerdings deshalb, weil einer im Einzelfall bestehenden Beweisnot unter den Voraussetzungen der allgemeinen Regeln mit Anscheinsund Indizienbeweis abgeholfen werden kann. 4. Verteidigung der gegnerischen Partei
Die Rechtsfolge des § 22 AGG, wonach die gegnerische Partei die Beweislast dafür trägt, 71 dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat, tritt nur ein, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm vorliegen. Will die gegnerische Partei die Rechtsfolge des § 22 AGG abwehren, muss sie folglich darauf hinarbeiten, dass das Gericht das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen verneint. Dazu gibt es nach dem eben Dargestellten zwei Möglichkeiten: (1) Hat die Partei, die die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes geltend macht, 72 Tatsachen dargelegt, die aus ihrer Sicht eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, kann die gegnerische Partei vortragen, weshalb aus ihrer Sicht die vorgetragenen Tatsachen – gegebenenfalls in der Gesamtschau mit anderen Tatsachen, die die gegnerische Partei vortragen kann und die sie gegebenenfalls zu beweisen hat212 – keine (ausreichende) indizielle Kraft haben.213 Denn die Frage, ob Tatsachen den für § 22 AGG relevanten Kausalzusammenhang „vermuten lassen“, d. h. diesen Kausalzusammenhang überwiegend wahrscheinlich machen, ist einerseits eine Frage der Beweiswürdigung, zu der der gegnerischen Partei rechtliches Gehör zu gewähren ist (Art. 103 Abs. 1 GG), andererseits ist sie dem Gegenbeweis insofern zugänglich, als dass die gegnerische Partei ihrerseits Tatsachenstoff vortragen und erforderlichenfalls beweisen kann, der bei der Würdigung der als Indiz in Anspruch genommenen Tatsachen zu berücksichtigen ist und der Vermutung der Kausalität dabei die Grundlage entziehen kann.214 Materiell-rechtlich formuliert rechtfertigt nicht das Vorliegen von Indiztatsachen die Anwendung des § 22 AGG, sondern seine Rechtsfolge wird nur durch die bestehende Vermutung des Kausalzusammenhangs legitimiert. Entsprechend sind auch (für sich genommen geeignete) Indiztatsachen nicht hinreichend, wenn der Kausalzusammenhang letztlich nicht vermutet werden kann. Dies entspricht ferner den Erwägungsgründen der umgesetzten Richtlinien215,
212 Das Beweismaß der Glaubhaftmachung gilt für diese „Gegenindizien“ unstreitig nicht, Weigert
(Fn. 117), S. 1169.
213 Ebenso Stein (Fn. 65), S. 853; Weigert (Fn. 117), S. 1167 f. („dreistufiger Aufbau“). Vgl. BAG, NJOZ
2015, S. 1065 (1069 Rn. 48 ff.).
214 Weigert (Fn. 117), S. 1168. 215 Erwägungsgrund 21 RL 2000/43/EG; Erwägungsgrund 31 RL 2000/78/EG; Erwägungsgrund 22 RL
2004/113/EG; Erwägungsgrund 30 RL 2006/54/EG.
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nach denen nicht „Diskriminierungsindizien“ maßgebend sind, sondern der sich ergebende „Anschein“ einer Diskriminierung.216 73 (2) Dem vorgelagert ist die weitere Möglichkeit, dem Wahrscheinlichkeitsurteil hinsichtlich der Kausalität dadurch die Grundlage zu entziehen, dass die vorgetragenen Tatsachen substantiiert bestritten werden und gegenüber der dann erforderlich werdenden Beweisführung der vortragenden Partei der Gegenbeweis geführt wird. Gegenüber dem Beweis der Indizien steht der gegnerischen Partei der Gegenbeweis offen, d. h. es liegt an ihr, solche Beweismittel anzubieten, dass das Gericht vom Vorliegen der behaupteten Indiztatsache nicht mehr überzeugt ist. Ist das Gericht von der Tatsache nicht überzeugt, kann auch nicht länger auf ihrer Grundlage die Kausalität vermutet werden. V. Rechtsfolge des § 22 AGG 74 Unter den Voraussetzungen des § 22 AGG trägt die gegnerische Partei die Beweislast
dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. Das bedeutet zunächst, dass die gegnerische Partei die Behauptungslast für einen Sachverhalt trägt, in dem, obwohl eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes überwiegend wahrscheinlich ist, kein solcher Kausalzusammenhang vorliegt, weil es ausschließlich andere, sachliche Gründe waren, die zu der weniger günstigen Behandlung geführt haben; diesen Sachverhalt hätte die gegnerische Partei sodann gegebenenfalls unter Beweis zu stellen.217 Darzulegen und zu beweisen ist mithin die Nicht-Ursächlichkeit des in § 1 AGG genannten Grundes für die Benachteiligung. In diesem Sinne obliegt der gegnerischen Partei der Beweis des Gegenteils mit dem Beweismaß des Vollbeweises.218 Daher genügt es beispielsweise nicht, wenn der Arbeitgeber die Erfüllung der Beschäftigungspflichtquote nach § 154 SGB IX darlegt, da dies einen Kausalzusammenhang zwischen einer Benachteiligung und einem in § 1 AGG genannten Grund nicht ausschließt.219 Die die Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes behauptende 75 Partei kann im Wege des Gegenbeweises die Überzeugung des Gerichts von der NichtUrsächlichkeit wiederum erschüttern.220 Nicht ganz präzise ist hingegen die Formulierung, es genüge im Fall des § 22 AGG 76 nicht, dass die gegnerische Partei nur gegenbeweislich die Überzeugung des Gerichts 216 Weigert (Fn. 117), S. 1168. 217 EuGH, Urt. v. 17.7.2008, Rs. C-303/06 – Coleman, Rn. 55; EuGH, Urt. v. 25.4.2013, Rs. C-81/12 –
Asociaţia Accept, Rn. 56; EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14 – CHEZ Razpredelenie Bulgaria, Rn. 85; BAG, NZA 2012, S. 1345 (1349 Rn. 48); BAG, NZA 2010, S. 1412; Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 4 und 6; Weigert (Fn. 117), S. 1169. 218 BAG, NZA 2016, S. 1394 (1401 Rn. 54); BAG, NZA 2017, S. 715; BAG, NZA 2018, S. 33 (38 Rn. 48); OVG Münster, Urt. v. 31.8.2007, 6 A 2172/05; Wendtland (Fn. 61), § 22 AGG Rn. 4 ff.; Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 24; Windel (Fn. 82), S. 198. 219 BAG, NZA 2011, S. 153 (157 Rn. 50). 220 Nicht die Überzeugung von der Benachteiligung (so Wendtland (Fn. 61), § 22 AGG Rn. 9; für diese ist aber nach allgemeinen Regeln der Kläger darlegungs- und beweisbelastet). Olaf Muthorst
C. (Kein) Auskunftsanspruch
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von der zu beweisenden Tatsache, also dem Kausalzusammenhang, erschüttere.221 Diese Überzeugung liegt im Fall des § 22 AGG ohnehin nur ausnahmsweise vor, weil Tatsachen genügen, die die tatbestandliche Kausalität überwiegend wahrscheinlich machen. Trägt die gegnerische Partei einen Sachverhalt vor, der dieses Wahrscheinlichkeitsurteil zu Fall bringt, und beweist sie diesen Sachverhalt gegebenenfalls, ist die tatbestandliche Voraussetzung für die Anwendung des § 22 AGG entfallen, auch wenn die Nicht-Ursächlichkeit nicht bewiesen ist.222 Dass § 22 AGG diesen Gegenbeweis nicht ausschließt, macht die Norm keineswegs bedeutungslos, denn nach allgemeinen Regeln wäre dieser Gegenbeweis erst erforderlich, wenn der Kläger Indizien dargelegt und bewiesen hätte, aufgrund derer das Gericht vom Bestehen eines Kausalzusammenhanges überzeugt wäre. Zu ihrer Verteidigung kann die gegnerische Partei ferner einen Sachverhalt darlegen 77 und beweisen, in dem zwar der Schluss auf eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes nicht in Frage gestellt ist, trotz dieser Benachteiligung aber kein Verstoß gegen ein Benachteiligungsverbot gegeben ist, weil die Benachteiligung etwa deshalb gerechtfertigt ist, weil die Voraussetzungen der §§ 5, 9, 10, 20 AGG vorliegen.223 Diese Option ist Konsequenz der Regel-Ausnahme-Struktur des materiellen Rechts und wird durch § 22 AGG nicht eingeschränkt, was in der Formulierung der Rechtsfolge auch noch besonders zum Ausdruck kommt. Wiederum besteht die Bedeutung des § 22 AGG darin, dass auch dieser Entlastungsbeweis nach allgemeinen Regeln erst erforderlich wäre, wenn der Kläger Indizien dargelegt und bewiesen hätte, aufgrund derer das Gericht vom Bestehen eines Kausalzusammenhanges überzeugt wäre. Keine Konsequenzen hat § 22 AGG für den Beweis von haftungsausfüllender Kausa- 78 lität und Schaden, der nach allgemeinen Regeln dem Anspruchsteller obliegt, so dass der diskriminierte Bewerber etwa hinsichtlich der Höhe entgangenen Arbeitsentgelts beweisbelastet bleibt.224 Auch hier kommen aber Beweiserleichterungen in Betracht, und zwar durch Indizien- und Anscheinsbeweise unter den allgemeinen Voraussetzungen.225
C. (Kein) Auskunftsanspruch Die von § 22 AGG angeordnete Beweiserleichterung adressiert indirekt zugleich die der 79 Beweisführung im Antidiskriminierungsprozess vorgelagerte Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen der Partei, die eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes 221 Wendtland (Fn. 61), § 22 AGG Rn. 5; ähnlich Bruns (Fn. 62), S. 1047 f., 1050 f. Zu weitgehend Benecke (Fn. 1), § 22 Rn. 13, 18, und Weigert (Fn. 117), S. 1167 ff., die in jeder Hinsicht den „Gegenbeweis“ für ausreichend halten, was aber wohl ein terminologisches Missverständnis ist. 222 In diesem Sinne spricht Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 15 von gegenbeweislichem Vortrag. 223 Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 4 und 6, 18 f. 224 BAG, NZA 2010, S. 1412 (1417 Rn. 79); BAG, NZA 2014, S. 21 (25 Rn. 53); BAG, NZA 2017, S. 854 (859 Rn. 48); Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 1; Windel (Fn. 82), S. 195. 225 BGH, NZA 2012, S. 797 (802 Rn. 64); BAG, NZA 2017, S. 854 (859 Rn. 48); vgl. allgemein BGH, NJW 1983, S. 2241 (2242).
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§ 19 Beweisrecht
geltend macht, ein materiell-rechtlicher Auskunftsanspruch gegen die gegnerische Partei zusteht. I. Anspruchsgrundlagen 80 Ein solcher Auskunftsanspruch ergibt sich punktuell aus § 242 BGB, wenn die zwischen
den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen es mit sich bringen, dass der Berechtigte in entschuldbarer Weise über Bestehen und Umfang seines Rechts im Ungewissen ist und der Verpflichtete die zur Beseitigung der Ungewissheit erforderliche Auskunft unschwer geben kann.226 Einen Auskunftsanspruch enthalten ferner §§ 10 ff. EntgTranspG sowie § 164 Abs. 1 S. 9 SGB IX (§ 81 Abs. 1 S. 9 SGB IX a. F.). Ein allgemeiner Auskunftsanspruch lässt sich indessen weder § 242 BGB227 noch dem AGG228 oder den europäischen Richtlinien229 entnehmen. Auch prozessual gibt es keinen Grundsatz, wonach diejenige Partei die Behauptungs81 und Beweislast trägt, die über die maßgeblichen Informationen verfügt.230 Gleichzeitig ist aber sicherzustellen, dass die Beweisnot der Partei, die die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes geltend macht, nicht die Verwirklichung des materiellen Rechts bedroht. Das gilt in besonderem Maße in Folge des Effektivitätsgrundsatzes, soweit das materielle Recht europäische Richtlinien umsetzt. Dazu hat der EuGH ausgesprochen, eine Auskunftsverweigerung der gegnerischen Partei dürfe im Rahmen des Nachweises von Indiztatsachen nicht die Verwirklichung der mit den Richtlinien verfolgten Ziele beeinträchtigen.231 Aber auch dem autonomen materiellen Recht wohnt ein Geltungsanspruch inne, der die prinzipielle Durchsetzbarkeit des materiellen Rechts fordert.232 II. Durchsetzung 82 Während die Durchsetzung eines bürgerlich-rechtlichen Auskunftsanspruchs aus § 242
BGB, so er denn besteht, den allgemeinen Regeln (Verzugshaftung, Leistungsklage, Zwangsvollstreckung als nicht vertretbare Handlung) folgt, hat das materielle Recht den Auskunftsanspruch aus §§ 10 ff. EntgTranspG mit der Sonderregelung des § 15 Abs. 5 EntgTranspG flankiert. Nach dieser Norm trägt der Arbeitgeber im Streitfall die Beweislast
226 RGZ 158, S. 377 (379); BGH, NJW 1954, S. 70 (71); BGH, NJW 1971, S. 656; BGH, NJW 2003, S. 3624
(3625); Kähler, in: Gsell u. a. (Hrsg.), BeckOGK, Stand: April 2021, § 242 BGB Rn. 624; Schulze (Fn. 64), 242 Rn. 19. 227 BGH, NJW 2003, S. 3624 (3625); Kähler (Fn. 226), § 242 BGB Rn. 621; Röver, in: Gsell u. a. (Hrsg.), BeckOGK, Stand: August 2021, § 260 BGB Rn. 49. 228 Goly, Informationsrecht abgelehnter Bewerber, NZA 2013, S. 360 (361 f.). 229 EuGH, Urt. v. 19.4.2012, Rs. C-415/10 – Meister/Speech Design, Rn. 46; BAG, NZA 2010, S. 1006 (1008 f. Rn. 25, 29 f.); BAG, NJOZ 2013, S. 1699 (1704 Rn. 56). 230 BAG, NZA 2010, S. 1006 (1008 Rn. 19); vgl. ferner Stein (Fn. 65), S. 853 f. 231 EuGH, Urt. v. 19.4.2012, Rs. C-415/10 – Meister/Speech Design, Rn. 40; EuGH. Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14 – CHEZ Razpredelenie Bulgaria, Rn. 78. 232 Vgl. etwa grundlegend BGH, NJW 1969, S. 269 (274 f.); Prütting (Fn. 26), § 286 ZPO Rn. 126. Olaf Muthorst
C. (Kein) Auskunftsanspruch
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dafür, dass kein Verstoß gegen das Entgeltgleichheitsgebot im Sinne des EntgTranspG233 vorliegt, wenn der Arbeitgeber die Erfüllung seiner Auskunftspflicht unterlässt oder der Betriebsrat aus Gründen, die der Arbeitgeber zu vertreten hat, die Auskunft nicht erteilen konnte. Die sprachlichen Verweise auf § 22 AGG sind kein Zufall, der Gesetzgeber wollte mit 83 § 15 Abs. 5 EntgTranspG eine an § 22 AGG angelehnte Regelung schaffen.234 Ob ihm dies gelungen ist, muss allerdings bezweifelt werden, denn die Regelungsstrukturen beider Normen weisen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten auf. Während sich § 22 AGG als Beweiserleichterung für den Kausalzusammenhang zwi- 84 schen der Benachteiligung und dem in § 1 AGG genannten Grund erweist (durch Absenkung des Beweismaßes für den Kausalzusammenhang und zugleich Erleichterung der Darlegungslast, denn Rechtfertigungsgründe darzulegen und zu beweisen, wird von der gegnerischen Partei bereits dann verlangt, wenn der Kausalzusammenhang zwischen der Benachteiligung und dem in § 1 AGG genannten Grund überwiegend wahrscheinlich ist, nicht erst dann, wenn der sichere Schluss auf den Kausalzusammenhang möglich ist), enthält § 15 Abs. 5 EntgTranspG eine echte Beweislastumkehr. Unter den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 5 EntgTranspG muss nicht der Arbeitnehmer darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass eine (unmittelbare oder mittelbare) Benachteiligung wegen des Geschlechts bezogen auf sämtliche Entgeltbedingungen und -bestandteile vorliegt, sondern der Arbeitgeber muss darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass keine solche Benachteiligung vorliegt.235 Diese Norm ist keine Beweiserleichterung, sondern eine Beweislastumkehr, die mit Sanktionscharakter an das Unterlassen der Erfüllung der Auskunftspflicht geknüpft ist.236 Mit dieser Rechtsfolge geht § 15 Abs. 5 EntgTranspG auch über indizielle Folgerungen hinaus, die aus dem Unterlassen gewonnen werden, aber bereits durch einen Gegenbeweis zu Fall gebracht werden könnten. Dass das Verhalten des Arbeitgebers als Indiz für eine Benachteiligung beim Entgelt wegen des Geschlechts gewertet wird237 bzw. Zweifel an der Rechtstreue des Arbeitgebers in Bezug auf die Entgeltgleichheit weckt238, trägt die Rechtsfolge also nicht. Tatbestandlich ist in § 22 AGG das Einsetzen der gegenbeweislichen Darlegungs- und 85 Beweislast sowie die Darlegungs- und Beweislast für den Beweis des Gegenteils an die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhanges zwischen Benachteiligung und dem in § 1 AGG genannten Grund geknüpft, wofür wiederum Indizien unter Vollbeweis zu stellen sind. Gelingt der gegnerischen Partei der Beweis des Gegenteils ebenso wenig wie der Gegenbeweis, wird der Kausalzusammenhang der Entscheidung zugrunde gelegt und der Rechtsstreit damit entsprechend der überwiegenden Wahrscheinlichkeit 233 Gesetz zur Förderung der Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern v. 30.6.2017, BGBl. 2017
I, S. 2152 (Entgelttransparenzgesetz). BT-Drs. 18/11133, S. 66: „orientiert sich dabei an § 22 AGG.“ Schlachter (Fn. 63), § 15 EntgTranspG Rn. 10. Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 30. Roloff (Fn. 66), § 10 EntgTranspG Rn. 41. BT-Drs. 18/11133, S. 66.
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§ 19 Beweisrecht
entschieden. Demgegenüber lässt sich aus dem Unterlassen der Erfüllung der Auskunftspflicht kein Wahrscheinlichkeitsurteil dafür gewinnen, dass der Arbeitgeber gegen das Entgeltgleichheitsgebot im Sinne des EntgTranspG verstoßen hat. Nicht das Unterlassen der Erfüllung der Auskunftspflicht, sondern allenfalls der Umstand des höheren Entgelts für das andere Geschlecht bei gleichwertiger Tätigkeit begründet einen ersten Anschein einer Diskriminierung.239 Während also § 22 AGG eingreift, wenn eine Benachteiligung feststeht, kehrt § 15 Abs. 5 EntgTranspG die Beweislast im Hinblick auf einen Verstoß gegen das Entgeltgleichheitsgebot um, ohne dass eine Benachteiligung feststehen würde.240 86 Steht eine Benachteiligung fest, richtet sich die Beweislast im Hinblick auf etwaige Rechtfertigungsgründe allerdings nicht nach § 15 Abs. 5 EntgTranspG, sondern nach den allgemeinen Vorschriften. Soweit aus dem Verstoß gegen das Entgeltgleichheitsgebot also Rechtsfolgen nach dem AGG hergeleitet werden, welches durch das EntgTranspG unberührt bleibt (§ 2 Abs. 2 EntgTranspG), gilt § 22 AGG.241 III. Indizwirkung 87 Auch über den Anwendungsbereich des EntgTranspG hinaus gilt ferner im Hinblick auf
Rechtsfolgen, die aus einer Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes gemäß den Vorschriften des AGG folgen, dass die Nichterfüllung eines Auskunftsanspruchs ein Indiz sein kann, das eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lässt und damit die Beweiserleichterung des § 22 AGG rechtfertigt. 88 Vor allem kann indizielle Bedeutung i. S. v. § 22 AGG der Verweigerung einer Auskunft auch dort zukommen, wo gerade kein Auskunftsanspruch besteht, die eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes geltend machende Partei aber zur Geltendmachung ihrer Ansprüche auf eine entsprechende Auskunft durch die gegnerische Partei angewiesen war.242 Die Möglichkeit, unter anderem an die Auskunftsverweigerung eine Beweiserleichterung zu knüpfen, rechtfertigt erst den Verzicht auf entsprechende durchsetzbare Auskunftsansprüche. Umgekehrt liegt kein Wertungswiderspruch darin, einerseits einen Auskunftsanspruch zu verneinen, andererseits an die Verweigerung der Auskunft nachteilige Rechtsfolgen für die gegnerische Partei zu knüpfen.243 Es ist ein Gemeinplatz, dass rechtmäßiges Verhalten zu prozessualen Nachteilen führen kann.244
239 EuGH, Urt. v. 26.6.2001, Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Rn. 60; Roloff (Fn. 66), § 10 EntgTranspG Rn. 36.
Zur Aussagekraft des statischen Medians kritisch Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 29.
240 Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 30; Franzen, Anwendungsfragen des Auskunftsanspruchs nach dem
EntgTranspG, NZA 2017, S. 814 (819).
241 Franzen (Fn. 240), 815. 242 EuGH, Urt. v. 19.4.2012, Rs. C-415/10 – Meister/Speech Design, Rn. 44, 47; BAG, NJOZ 2013, S. 1699
(1705 Rn. 58 f.); BAG, BeckRS 2016, 119064 Rn. 48; Roloff (Fn. 66), § 22 AGG Rn. 10; Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 8. 243 So aber Forst, Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 19.4.2021, Rs. C-415/10 – Meister, EWiR 2012, S. 265 (266). 244 Ebenso Thüsing (Fn. 1), § 22 AGG Rn. 8. Olaf Muthorst
§ 20 Rechtsfolgen von Diskriminierungen Michael Grünberger/André Reinelt* Inhaltsübersicht Rn. A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsdurchsetzung als eigenständige Analysekategorie im Nichtdiskriminierungsrecht . . II. Aufgabenstellung und methodischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ein umweltsensibler Zugang zum Nichtdiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 3 3 4
B. Privatrechtliches Nichtdiskriminierungsrecht im europäischen Mehrebenensystem . . . . . . . I. Maßstabswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mehrdimensionalität des unionsrechtlichen Rechtsfolgenregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Präventive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reaktive Maßnahmen (Sanktionen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Effektiver Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Primäre Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sekundäre Rechtsfolgen: Wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beweiserleichterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6 6 8 10 11 11 12 12 13
C. Konfliktlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Arbeitgeber*in als „Strukturbrecher“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnismäßigkeit als Strukturprinzip des Rechtsfolgenregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konsequenzen für das Rechtsfolgenregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhältnismäßige Primäransprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Reaktionspflichten: Verhältnismäßigkeit in multipolaren Rechtsbeziehungen . . . . . . . b) Inhalt des Beseitigungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Alternativstruktur des Verpflichtungsinhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Problemstellung und Entscheidungsoptionen („Anpassung nach oben/unten“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) „Anpassung nach oben“ als (privatrechtlicher) Regelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Generalisierung: Wiederherstellung von Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Respezifizierung: Kontrahierungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 17 18 18 23 23 23 24 25 25 27 27 27 30 32 35
* Das Kapitel ist eine erheblich gekürzte und leicht aktualisierte Version von Grünberger/Reinelt, Konflikt-
linien im Nichtdiskriminierungsrecht, 2020.
Michael Grünberger/André Reinelt
836
§ 20 Rechtsfolgen von Diskriminierungen
3. Verhältnismäßige Sekundäransprüche: Kompensation, Satisfaktion und Sanktion . . . . . a) Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertretenmüssen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Schadensumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Anspruchsschuldner*in . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) „Prävention durch Kompensation“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entschädigungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Respezifizierung: Staatshaftungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Prozeduralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prozeduralisierungsansätze im AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschwerderecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Viktimisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Maßregelverbot als spezielles Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wer trägt das Einschätzungsrisiko? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Benachteiligung und Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Expansion auf Nicht-Merkmalsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36 36 37 39 42 44 45 51 53 53 54 54 57 59 59 62 62 64 65 67 68
A. Einleitung I. Rechtsdurchsetzung als eigenständige Analysekategorie im Nichtdiskriminierungsrecht 1
Das Nichtdiskriminierungsrecht sichert als spezielles Gleichbehandlungsrecht1 das Recht jeder Person, nicht aufgrund bestimmter Diskriminierungskategorien ohne ausreichende Rechtfertigung ungleich behandelt zu werden. Instrument zur Durchsetzung dieses Primäranspruchs auf Gleichbehandlung ist ein Verbotsrecht. Das zeigt der Normbestand im primären2 und sekundären3 Unionsrecht, im deutschen Verfassungsrecht4 und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)5. Verletzt der (jeweilige) Adressat des (jeweils anwendbaren) Diskriminierungsverbots dieses Primärrecht, stellt sich die Frage, wie dieser Rechtsverstoß zu sanktionieren ist: Welche Rechtsfolgen und Ansprüche stellt 1 Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 541 ff.; ausführlich ders., Selbstverantwortung versus Solida-
rität, in: Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht (Hrsg.), Selbstverantwortung versus Solidarität im Wirtschaftsrecht, 2014, S. 79 (88 ff.). 2 Art. 21 Abs. 1 und Abs. 2 GRCh, Art. 18 und Art. 157 Abs. 1 AEUV. 3 Art. 2 Abs. 1 RL 2000/43/EG, Art. 2 Abs. 1 RL 2000/78/EG, Art. 4 Abs. 1 RL 2004/113/EG, Art. 14 RL 2006/56/EG, Art. 4 Abs. 1 RL 2010/41/EU. 4 Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. 5 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897, §§ 7 Abs. 1, 19 Abs. 1 und 2 AGG. Michael Grünberger/André Reinelt
A. Einleitung
837
das Nichtdiskriminierungsrecht als Reaktion auf eine verbotene Ungleichbehandlung bereit? Um diese Frage zu beantworten, werden wir zwischen der, mit dem (Verbots-)Recht 2 (right) erfolgten, Rechtszuweisung einerseits und der Rechtsdurchsetzung (remedy) andererseits unterscheiden:6 Das Primärrecht ist das Recht auf Nichtdiskriminierung. Auf der Rechtsdurchsetzungsebene differenzieren wir zwischen den Primäransprüchen gerichtet auf die Beseitigung des gleichheitswidrigen Zustandes ex nunc einerseits und den Sekundäransprüchen gerichtet auf Ausgleich der (materiellen und immateriellen) Folgen der Ungleichbehandlung andererseits.7 Das erlaubt es uns im geltenden Recht das Primärrecht auf gleiche Behandlung bei fehlender Rechtfertigung einer Unterscheidung (Verbotsrecht) von den verschiedenen Rechtsbehelfen, mit denen dieses Primärrecht durchgesetzt wird, zu unterscheiden. Exemplarisch dafür ist das – unionsrechtlich determinierte – AGG. Es normiert in § 7 Abs. 1 das beschäftigungsrechtliche und in § 19 Abs. 1 und Abs. 2 das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot. Hinsichtlich dessen (reaktiver) Durchsetzung differenziert es weiter zwischen den auf Abhilfe angelegten primären Rechtsbehelfen (Nichtigkeit,8 Beseitigung und Unterlassung9) einerseits und den sekundären Schadensersatzansprüchen10 andererseits. In grundrechtlichen11 oder grundrechtsähnlichen Konstellationen12 enthalten die Normen häufig nur das Verbotsrecht, ohne die Rechtsfolgen seiner Verletzung anzuordnen.13 In diesen Fällen ist es Aufgabe der Rechtsprechung, ein adäquates Rechtsfolgenregime zu entwickeln.14
6 Methodisch grundlegend zuletzt Hofmann, Der Unterlassungsanspruch als Rechtsbehelf, 2017, S. 250 f. 7 Kempny/Reimer, Die Gleichheitssätze, 2012, S. 153 ff. und Reimer, „Keine Gleichheit im Unrecht“, RW
2017, S. 1 verwenden die Begriffe anders: Sie stellen der „primären Unterlassungspflicht“ eine „sekundäre Beseitigungsverpflichtung“ gegenüber. Nach unserer Begrifflichkeit ist auch die Beseitigungspflicht ein Primäranspruch, weil wir nicht zwischen der Abwehr der drohenden und der Beseitigung der bereits verwirklichten Rechtsbeeinträchtigung differenzieren, sondern zwischen der Wiederherstellung der Gleichheit (Nichtigkeit/Unterlassung/Beseitigung) und der Restitution/Kompensation (Schadensersatz/Entschädigung) der Folgen der gestörten Gleichheit. 8 §§ 7 Abs. 2, 21 Abs. 4 AGG. 9 §§ 13, 14, 16, 21 Abs. 1 AGG. 10 §§ 15, 21 Abs. 2 AGG. 11 Exemplarisch dafür sind Art. 21 Abs. 1 GRCh und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. 12 Beispiel dafür ist der – seit EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75, Defrenne II mit unmittelbarer Horizontalwirkung ausgestattete – Art. 157 Abs. 1 AEUV. 13 Eine Ausnahme dazu ist das Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) Berlin v. 11.6.2020, GVBl. Berlin 2020, S. 532. § 2 LADG enthält das Diskriminierungsverbot (Primärrecht) und § 8 LADG sieht sekundärrechtliche Schadensersatzansprüche bei der Verletzung des Verbots vor. 14 Zu Art. 157 AEUV siehe EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Rn. 15. Zum verfassungsrechtlichen Kontext siehe unten Rn. 34 (C. II. 2. b) bb)). Michael Grünberger/André Reinelt
838
§ 20 Rechtsfolgen von Diskriminierungen
II. Aufgabenstellung und methodischer Ansatz 1. Ausgangspunkt 3
Ausgangspunkt unserer Untersuchung sind die im speziellen Nichtdiskriminierungsrecht des Europäischen Mehrebenensystems15 vorgegebenen und im AGG weitgehend normierten privatrechtlichen Rechtsfolgen. Grund dafür ist die „Mehrdimensionalität des Rechtsfolgenregimes“16, mit der die gestörte Gleichheit wiederhergestellt, die Folgen der eingetretenen Diskriminierung umfassend beseitigt und zukünftige Diskriminierungen effektiv verhindert werden sollen. Darin sehen wir die Grundlage für die Konzeption eines einheitlichen Rechtsfolgenregimes. Wir werden die dafür relevanten Säulen kurz skizzieren (B.). Daraus werden wir im Hauptteil (C.) insgesamt vier17 Konfliktlinien innerhalb des Rechtsfolgenregimes destillieren. Dieser Katalog ist nicht abschließend. Wir vermuten, dass sich weitere Konfliktlinien identifizieren lassen und andere wegfallen, weil sich die gelebte Realität oder unser Wissen in bestimmten Kontexten des Gleichbehandlungsrechts verändern wird. Unsere These ist, dass in den freigelegten Konfliktlinien und den dazu vorgestellten Lösungsansätzen Topoi eines übergreifenden Rechtsfolgenregimes für das gesamte Nichtdiskriminierungsrecht sichtbar werden. Diese lassen sich in einem weiteren Schritt unter Berücksichtigung der jeweils vorhandenen Eigenrationalitäten in anderen gleichbehandlungsrechtlichen Kontexten – also in den gesellschaftlichen Teilsystemen (Arbeit, Bildung, Wirtschaft etc.), in denen Gleichheitsfragen relevant werden, und in den unterschiedlichen Teilrechtsgebieten – re-spezifizieren.18 Diese Re-Spezifizierung ist Aufgabe der weiteren Forschung. Wir möchten an ausgewählten Beispielen zeigen, wie die Konfliktlinien dafür fruchtbar gemacht werden. 2. Ein umweltsensibler Zugang zum Nichtdiskriminierungsrecht
4
Unser Ansatz basiert auf der plausiblen Annahme der soziologischen Differenzierungstheorie, wonach Diskriminierungen in der Gesellschaft uneinheitlich auftreten. Geht man von einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen aus, liegt es nahe, dass Diskriminierungen als Exklusionsmechanismen von den einzelnen Funktionssystemen (oder von Organisationen und anderen Personenmehrheiten) auftreten.19 Dabei ist die jeweilige Rechtslage immer nur eine Momentaufnahme20 eines breiten gesellschaftlichen Diskurses über Dis15 Insbesondere Art. 157 AEUV; die Richtlinien 2000/43/EG; 2000/78/EG; 2004/113/EG und 2006/54/
EG; §§ 7, 12–16, 21 AGG.
16 Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018, S. 386. 17 Als fünfte Konfliktlinie identifizieren wir die – in diesem Beitrag ausgeblendete – Rechtsdurchsetzung,
Grünberger/Reinelt, Konfliktlinien im Nichtdiskriminierungsrecht, 2020, S. 89 ff.
18 Zum Konzept der Generalisierung und Re-Spezifizierung vgl. Teubner, Verfassungsfragmente, 2012,
S. 200 f. (am Beispiel der Horizontalwirkung der Grundrechte in transnationalen Kontexten).
19 Näher dazu Scherr, Diskriminierung und soziale Ungleichheiten, in: Hormel/Scherr (Hrsg.), Diskrimi-
nierung, 2010, S. 35 (42). Zu den unterschiedlichen sozialen Kontexten des Nichtdiskriminierungsrechts siehe → §§ 22–28. 20 Zu den gesellschaftshistorischen Kontexten und Entwicklungsschritten Bielefeldt, Das Diskriminierungsverbot als Menschenrechtsprinzip, in: Hormel/Scherr (Hrsg.), Diskriminierung, 2010, S. 21 (26 ff.). Michael Grünberger/André Reinelt
II. Aufgabenstellung und methodischer Ansatz
839
kriminierung und Gleichbehandlung.21 Mit Hilfe von verallgemeinerbaren „Konfliktlinien“ innerhalb der Rechtsfolgen kann die Rechtswissenschaft besser die „gesellschaftliche[n] Lern- und Sensibilisierungsprozesse“22 in der Umwelt des Rechts registrieren. Das gilt insbesondere, wenn sich diese Prozesse im Recht selbst niederschlagen: Würden Gerichte in Zukunft beispielsweise die spezifischen Herausforderungen intersektioneller Diskriminierung23 erkennen oder entwickelte sich das Rechtsgebiet zu einem postkategorialen Nichtdiskriminierungsrecht24 fort, erlauben es die herausgearbeiteten „Konfliktlinien“, die Rechtsfolgen auch dieser dogmatischen Figuren zu analysieren. Zudem ermöglicht die Methode von Generalisierung und Re-Spezifizierung ein besseres Verständnis für die jeweiligen sozialen Kontexte rechtlicher Regulierung, da diese für die rechtliche Re-Konstruktion erst erschlossen werden müssen. Das moderne Gleichbehandlungsrecht basiert im Kern auf einem materiellen Gleichheitsverständnis.25 Daher muss es sich in die Lage versetzen, die ungleiche Verteilung von Freiheiten entlang von Diskriminierungskategorien in den Lebensumwelten des Rechts zu registrieren und rechtlich abzubilden. Nur dann kann es sein politisches Ziel erreichen, genau diese sozialen Kontexte zu verändern und damit das Versprechen des modernen (Privat-) Rechts von gleicher Freiheit einlösen.26 Das Nichtdiskriminierungsrecht ist ein exemplarischer Anwendungsfall für eine umweltsensible, responsive Rechtswissenschaft.27 Darauf aufbauend wollen wir das Rechtsfolgenregime im Nichtdiskriminierungs- 5 recht aus dem Blickwinkel einer wissenschaftlichen Rechtsdogmatik angehen. Das ist eine Rechtsdogmatik, die „erkenntnis-, nicht anwendungsorientiert“ arbeitet, die ihre Aufgabe darin sieht, „innovative Forschungsfragen aufzuwerfen und zu beantworten“ und die „nicht Einzelfälle oder Auslegungskontroversen entscheiden, sondern der Praxis Panoramen von Konstruktions- und Denkmöglichkeiten und damit von Entscheidungsoptionen zur Verfügung stellen“ will.28 Zugleich – und darin liegt die große Herausforderung dieses Projekts – muss die rechtswissenschaftliche Methode mit der rechtsanwendungsbezogenen Methodik strukturell gekoppelt werden, damit diese von den gelieferten „Konstruktionsmöglichkeiten und Entscheidungsoptionen“ produktiv irritiert werden kann. Diesen Vorgang nennen wir responsive Rechtsdogmatik.29 Vgl. Scherr (Fn. 19), S. 50 f. Bielefeldt (Fn. 20), S. 26. Dazu → Holzleithner, § 13. Dazu → Baer, § 5. Zu diesem Zusammenhang näher Mangold, Von Homogenität zu Vielfalt, in: Duve/Ruppert (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Berliner Republik, 2018, S. 461 (469). 26 Vertiefend dazu Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 29 ff., 1039 ff. 27 Grundlegend zum Begriff Nonet/Selznick, Law & Society in Transition, 1978, S. 73 ff.; Teubner, Rechtswissenschaft und -praxis im Kontext der Sozialtheorie, in: Grundmann/Thiessen (Hrsg.), Recht und Sozialtheorie im Rechtsvergleich, 2015, S. 145 (159 ff.). 28 Näher Jansen, Recht und gesellschaftliche Differenzierung, 2019, S. 321 ff. (Zitate auf S. 323 und 325 f.); ders., Der Gegenstand der Rechtswissenschaft, JZ 2020, S. 213 (220). 29 Zum Begriff Grünberger, Verträge über digitale Güter, AcP 218 (2018), S. 213 (243 ff.); ders., Responsive Rechtsdogmatik, AcP 219 (2019), S. 924; ders., Rechtstheorie statt Methodenlehre!?, in: Hähnchen (Hrsg.), 21 22 23 24 25
Michael Grünberger/André Reinelt
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§ 20 Rechtsfolgen von Diskriminierungen
B. Privatrechtliches Nichtdiskriminierungsrecht im europäischen Mehrebenensystem I. Maßstabswahl 6 Mit der Ausrichtung unserer Konfliktlinien am Rechtsfolgenregime des speziellen privat-
rechtlichen Nichtdiskriminierungsrechts im Europäischen Mehrebenensystem haben wir uns gegen das verfassungsrechtliche Rechtsfolgenregime als mögliche Alternative entschieden. Dafür gibt es gute Gründe. Die in Deutschland anhand der traditionellen Fächerzuordnung erfolgte „Revieraufteilung“ und Zuweisung des Verfassungsrechts an das Öffentliche Recht zählt nicht dazu. Die „Emanzipation des Verfassungsrechts, mindestens der Grundrechte, aus der Domäne der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht und eine Behandlung entsprechender Fragen gemeinsam mit der Privatrechtswissenschaft“ ist nicht etwas, was erst zukünftig zu erwarten ist.30 Sie ist schon heute Realität: „Konstitutionalisierung ist nicht länger eine Einbahnstraße.“31 Wir haben uns aber dennoch gegen das verfassungsrechtliche Nichtdiskriminierungsrecht als Maßstab entschieden, weil es – und damit auch sein Rechtsfolgenregime – unterentwickelt32 und das Rechtsgebiet im Vergleich zum Unionsprivatrecht erstaunlich unterkomplex ist.33 In der deutschen Verfassungsrechtstradition ist es üblich, den sozialen Konflikt einer Ungleichbehandlung regelmäßig ausschließlich entlang der Freiheitsgrundrechte dogmatisch zu rekonstruieren. Dadurch entstehen blinde Flecken.34 Das zeigt sich etwa bei der mittelbaren Diskriminierung35 und den Rechtfertigungsmöglichkeiten36 einer Ungleichbehandlung. Diese allgemeine Beobachtung verschärft sich bei den Rechtsfolgen einer Diskriminierung.37 Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG enthält nach überwiegender Lesart keine spezifischen Rechtsfolgen. Das bewirkt, dass die Rechtfertigungsanforderungen von Ungleichbehandlungen von jedem sachlichen Grund bis hin zu einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung intensiviert werden.38 Damit wird der Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG primär mit Hilfe der allgemeinen öffentlich-rechtlichen Institute und den speziell zu Art. 3 Abs. 1 GG entEine Methodenlehre oder viele Methoden?, 2020, S. 79. Näher zum Methodenprogramm Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 5 ff. 30 So Krüper, Kategoriale Unterscheidung von Öffentlichem Recht und Privatrecht?, VVDStRL, 79 (2020), S. 43 (98 f.). 31 Zutreffend Krüper (Fn. 30), S. 98 f. 32 Vgl. auch Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 410. 33 Kempny/Reimer (Fn. 7), S. 153 ff. (Zu den Rechtsfolgen allgemeiner Gleichheitssätze). 34 Baer/Markard (Fn. 32), Art. 3 Abs. 3 Rn. 554. 35 Exemplarisch Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: November 2021, Art. 3 Rn. 215, der diese Figur – als eine Stimme der Minderheit – noch immer nicht anerkennen möchte; zur Bedeutung jetzt näher Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 241 ff. 36 Vgl. die sehr knappen Ausführungen in der sonst modernen Kommentierung von Baer/Markard (Fn. 32), Art. 3 Abs. 3 Rn. 437 ff. 37 Beispielhaft dafür ist Kingreen, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand: Februar 2020, Art. 3 Rn. 700–709, wo die Rechtsfolgen eines Gleichbehandlungsverstoßes auf 6 von 488 Seiten abgehandelt werden. 38 Baer/Markard (Fn. 32), Art. 3 Abs. 3 Rn. 404. Michael Grünberger/André Reinelt
B. Privatrechtliches Nichtdiskriminierungsrecht im europäischen Mehrebenensystem
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wickelten Rechtsinstituten sanktioniert. Für sekundäre Ansprüche muss – sofern es keine Spezialregelungen wie § 8 LADG Berlin gibt – auf das Staatshaftungsrecht zurückgegriffen werden.39 Verglichen damit ist das unionsrechtliche Rechtsfolgenregime deutlich weiter.40 Hin- 7 sichtlich der Rechtsfolgen bietet das Unionsrecht mehr Anknüpfungspunkte für übergreifende Lösungen. Das liegt auch daran, dass es besser auf die Eigenheiten reagiert, die der soziale Konflikt, der einer Diskriminierung zugrunde liegt, mit sich bringt. Wir möchten zeigen, dass die Antworten des unionsrechtlichen Rechtsfolgenregimes verallgemeinert werden können und dieses Wissen auch für das nationale (verfassungsrechtliche) Nichtdiskriminierungsrecht fruchtbar gemacht werden kann. II. Mehrdimensionalität des unionsrechtlichen Rechtsfolgenregimes
„Die Rechtsfolgen“ des speziellen Nichtdiskriminierungsrechts im Europäischen Mehr- 8 ebenensystem sind die Prinzipien, die sich aus der Anwendung und dem Zusammenspiel von Art. 21 Abs. 1 GRC, Art. 157 AEUV, den Richtlinien 2000/43/EG41, 2000/78/EG42, 2004/113/EG43 und 2006/54/EG44 sowie deren Umsetzung in §§ 7, 12–16, 21 AGG ergeben. Die unten (C.) herausgearbeiteten „Konfliktlinien“ basieren methodisch auf dem Versuch, aus den jeweiligen Einzeldogmatiken dieser Bereiche ein übergreifendes Narrativ „der“ Rechtsfolgen im speziellen privatrechtlichen Nichtdiskriminierungsrecht zu schaffen. Dafür müssen wir im ersten Schritt den vom Unionsrecht gesetzten Rahmen vermessen. Das spezielle unionsrechtliche Nichtdiskriminierungsrecht legt die Rechtsfolgen eines 9 Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung nicht im Einzelnen fest. Zu den hier berücksichtigten Gleichbehandlungsgeboten im EU-Primärrecht, insbesondere zu Art. 21 GRC45 und zu Art. 157 AEUV46, liegt umfangreiche Rechtsprechung des EuGH 39 Aus praktischer Perspektive vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.), Handbuch „Recht-
licher Diskriminierungsschutz“, 2017, S. 170 ff.
40 Zum ausdifferenzierten Rechtfertigungssystem Mörsdorf (Fn. 16), S. 293 ff.; Buhk, „Kundenpräferen-
zen“ als Rechtfertigungsgrund, 2016, S. 248 ff.
41 Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unter-
schied der Rasse oder der ethnischen Herkunft v. 29.6.2000, ABl. 2000 L 180/22.
42 Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung
der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303/16.
43 Richtlinie 2004/113/EG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von
Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen v. 13.12.2004, ABl. 2004 L 373/37. 44 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung) v. 5.7.2006, ABl. 2006 L 204/23. 45 Zur Wirkung von Art. 21 Abs. 1 GRC auch im Horizontalverhältnis siehe EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco Investigation GmbH v. Markus Achatzi, Rn. 76 f.; EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Vera Egenberger v. Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V., Rn. 75 ff. (m. w. N.). Näher zur Horizontalwirkung Grünberger/Husemann, Gleichbehandlung, in: Preis/Sagan (Hrsg.), Europäisches Michael Grünberger/André Reinelt
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§ 20 Rechtsfolgen von Diskriminierungen
vor.47 Im Anwendungsbereich der Richtlinien fällt die Entwicklung eines Rechtsfolgenregimes grundsätzlich in die Kompetenz der Mitgliedstaaten („Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten“48). Diese haben sich für vielfältige und im Detail auch unterschiedliche Regelungen entschieden.49 Allerdings engt das Unionsrecht die Umsetzungsspielräume mehrfach ein:50 Erstens enthalten die Richtlinien entweder ausdrückliche Vorgaben51 oder der EuGH hat solche aus der (ehemaligen) Geschlechtergleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG abgeleitet.52 Zweitens wird die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten primärrechtlich über die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität zusätzlich beschränkt.53 1. Präventive Maßnahmen 10
Das Unionsrecht basiert auf einer Unterscheidung von proaktivem und reaktivem Nichtdiskriminierungsrecht.54 Es statuiert positive Handlungspflichten, um strukturelle Diskriminierung aufgrund gemeinsamer positiver Maßnahmen aller involvierten Beteiligten zu beseitigen und zu verhindern.55 Zu den präventiven Maßnahmen zählen „Maßnahmen zur Förderung des sozialen Dialogs zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“56 bzw. den Sozialpartnern57 im beschäftigungsrechtlichen Bereich. Allgemein haben die Mitgliedstaaten die Pflicht, den sozialen Dialog mit Nichtregierungsorganisationen zu fördern.58 Konkreter gefasst ist die Pflicht zur Unterrichtung der Betroffenen am Arbeitsplatz59 und die Pflicht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bzw. Sozialpartnern, Nichtdiskriminierungsvereinbarungen zu treffen.60 Dazu führt Art. 21 Abs. 3 der RL 2006/54/EG aus, dass Kollektivvertragsparteien und Arbeitgeber verpflichtet werden, die Gleichbehandlung Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2019, Rn. 5.11 ff., 5.246 ff.; Zoppel, Europäische Diskriminierungsverbote und Privatrecht, 2015, S. 85 ff.; Kingreen (Fn. 37), Art. 3 Rn. 963 f. 46 Dazu Ebers, Rechte, Rechtsbehelfe und Sanktionen im Unionsprivatrecht, 2016, S. 698 ff.; Langenfeld, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Stand: Januar 2015, Art. 157 AEUV Rn. 73 ff. 47 Im Überblick Grünberger/Husemann (Fn. 45), Rn. 5.246 ff. 48 Vertiefend Ebers (Fn. 46), S. 195 ff. 49 Überblick bei Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz, 2010, S. 12 ff. 50 Vertiefend Mörsdorf (Fn. 16), S. 373 ff.; Zoppel (Fn. 45), S. 126 ff.; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht, 2017, S. 16 ff., 508 ff. 51 Vertiefend Sponholz, Die unionsrechtlichen Vorgaben zu den Rechtsfolgen von Diskriminierungen im Privatrechtsverkehr, 2017, S. 146 ff. 52 Ein knapper Überblick bei Tobler, Remedies and Sanctions in EC non-discrimination law, 2005, S. 7 ff. 53 Die folgenden Abschnitte adaptieren Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 713 ff. und Grünberger/Husemann (Fn. 45), Rn. 5.253, 5.257. 54 Dazu Mangold (Fn. 35), S. 230 f. Sie verwendet für die proaktiven Maßnahmen allerdings den Begriff „Gleichstellungsrecht“ (siehe S. 290 ff.), der im privatrechtlichen Diskurs (vgl. Fastrich, Gleichbehandlung und Gleichstellung, RdA 2000, S. 65) besonders problembeladen ist, näher Grünberger ([2014] Fn. 1), S. 95 ff. 55 Vertiefend Fredman, Discrimination Law, 2. Aufl. 2011, S. 299 ff. 56 Art. 11 Abs. 1 RL 2000/43/EG, 13 Abs. 1 RL 2000/78/EG. 57 Art. 21 RL 2006/54/EG. 58 Art. 12 RL 2000/43/EG, Art. 14 RL 2000/78/EG, Art. 22 RL 2006/54/EG. 59 Art. 10 RL 2000/43/EG, Art. 12 RL 2000/78/EG, Art. 30 RL 2006/54/EG. 60 Art. 11 Abs. 2 RL 2000/78/EG, Art. 13 Abs. 2 RL 2000/78/EG, Art. 21 Abs. 2 RL 2006/54/EG. Michael Grünberger/André Reinelt
B. Privatrechtliches Nichtdiskriminierungsrecht im europäischen Mehrebenensystem
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beim Berufszugang und -aufstieg „in geplanter und systematischer Weise zu fördern“. Zu den präventiven Maßnahmen zählt auch die Pflicht der Mitgliedstaaten, eine unabhängige Gleichstellungsinstitution zu benennen.61 Ihr Zweck besteht darin, die mit der Diskriminierung verbundenen Probleme zu analysieren, Lösungen zu prüfen und den potentiell Verletzten konkrete Hilfe anzubieten.62 Dadurch soll der Diskriminierungsschutz effektiviert werden.63 2. Reaktive Maßnahmen (Sanktionen) a) Effektiver Rechtsschutz
Die Richtlinien sehen vor, dass die von einer Diskriminierung Betroffenen ihre Ansprüche 11 auf dem Gerichts- und/oder Verwaltungsweg geltend machen können.64 Es gehört zu den Grundpfeilern des Unionsrechts, sicherzustellen, dass die Unionsbürger*innen die Beachtung der unionsrechtlichen Vorgaben gerichtlich durchsetzen können.65 Insoweit konkretisieren die Richtlinien das Grundrecht aus Art. 47 Abs. 1 GRC und die in Art. 19 Abs. 1 AEUV enthaltene Pflicht der Mitgliedstaaten.66 „[W]irkliche Chancengleichheit kann nicht ohne eine geeignete Sanktionsregelung erreicht werden“ und das setzt „voraus, dass diese Sanktion geeignet ist, einen tatsächlichen und wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten“.67 Die Mitgliedstaaten müssen einen wirksamen gerichtlichen Schutz des Rechts auf Gleichbehandlung vorsehen.68 Die von einer Diskriminierung betroffene Person muss alle prozessualen Möglichkeiten haben, die diskriminierende Wirkung einer Maßnahme zum Verfahrensgegenstand zu machen.69 Damit etabliert das Unionsrecht das elementare Recht der einzelnen Person „auf einen privatrechtlichen Rechtsbehelf als Folge der Verletzung subjektiver Rechte durch Private“.70
61 Art. 13 RL 2000/43/EG, Art. 20 RL 2006/54/EG. Zu den Voraussetzungen siehe Laskowski, in: Schiek
(Hrsg.), AGG, 2007, Vorbemerkung zu §§ 25 Rn. 1 ff.
62 Vgl. Erwägungsgrund 24 RL 2000/43/EG. 63 Näher Monen, Das Verbot der Diskriminierung, 2008, S. 256 ff. 64 Art. 7 Abs. 1 RL 2000/43/EG, Art. 9 Abs. 1 RL 2000/78/EG, Art. 8 Abs. 1 RL 2004/113/ EG, Art. 17
Abs. 1 RL 2006/54/EG.
65 Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 184 ff.; Poelzig, Normdurchsetzung durch Privatrecht,
2012, S. 255 ff.
66 EuGH, Urt. v. 8.5.2019, Rs. C-396/17, Leitner v. Landespolizeidirektion Tirol, Rn. 59 ff.; EuGH, Urt. v.
20.6.2019, Rs. C-404/18, Hakelbracht, Rn. 31 f.
67 EuGH, Urt. v. 10.4.1984, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Rn. 22 f. 68 EuGH, Urt. v. 8.5.2019, Rs. C-396/17, Leitner v. Landespolizeidirektion Tirol, Rn. 62. 69 So EuGH, Urt. v. 8.5.2019, Rs. C-396/17, Leitner v. Landespolizeidirektion Tirol, Rn. 63 ff. zu Beschrän-
kungen der gerichtlichen Prüfdichte im österreichischen Recht.
70 Mörsdorf (Fn. 16), S. 383.
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§ 20 Rechtsfolgen von Diskriminierungen
b) Primäre Rechtsfolgen aa) Nichtigkeit 12
Soweit die Adressat*innen des Diskriminierungsverbots unmittelbar an das Unionsrecht gebunden sind, führt der Verstoß zur Unanwendbarkeit der rechtlichen Maßnahme.71 Handelt es sich um ausschließlich private Akteure*innen, verpflichten die Richtlinien die Mitgliedstaaten, alle mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht zu vereinbarenden rechtlichen Vereinbarungen für nichtig zu erklären.72 §§ 7 Abs. 2 und 21 Abs. 4 AGG setzen das im deutschen Privatrecht um.73 Unwirksam ist das jeweilige Rechtsgeschäft, das gegen das Benachteiligungsverbot verstößt. Der Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot führt grundsätzlich nicht zur Gesamtnichtigkeit und damit gänzlichen Unanwendbarkeit der kollektiven Regelung (Beispiel: Tarifvertrag), sondern nur zur Unwirksamkeit der verbotswidrigen Bestimmung.74 Für einseitige Rechtsgeschäfte, beispielsweise eine diskriminierende Vertragsbeendigung, enthält das Unionsrecht überraschenderweise keine ausdrückliche Anordnung.75 Die Nichtigkeit folgt im deutschen Recht aus § 134 BGB.76 Handelt es sich bei der diskriminierenden Maßnahme um ein Gesetz, das die Rechtsbeziehungen Privater regelt und kann dieses Gesetz nicht richtlinienkonform interpretiert werden, folgt aus Art. 21 Abs. 1 GRC, dass das nationale Gericht die dem Diskriminierungsverbot entgegenstehenden nationalen Vorschriften nicht anwenden darf.77 Art. 21 GRC hat, sofern der sachliche Anwendungsbereich der Richtlinien den Zugang dazu eröffnet, unmittelbare Horizontalwirkung.78 bb) Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch
13
Das Unionsrecht sagt nicht, wie ein tatsächliches diskriminierendes Verhalten zu sanktionieren ist.79 Diese Aufgabe übernimmt im allgemeinen Zivilrechtsverkehr § 21 Abs. 1 AGG.80 Die benachteiligte Person kann bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungs71 Vgl. EuGH, Urt. v. 13.9.2011, Rs. C-447/09, Prigge u. a. v. Deutsche Lufthansa AG, Rn. 76. Die entspre-
chenden Richtlinienbestimmungen sind hinreichend klar formuliert, siehe Sponholz (Fn. 51), S. 155 ff.
72 Art. 14 lit. b RL 2000/43/EG, Art. 16 lit. b RL 2000/78/EG, Art. 13 lit. b RL 2004/113/ EG, Art. 23 lit. b
RL 2006/54/EG.
73 Zur alternativen Konstruktion über § 134 BGB siehe Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 7
AGG Rn. 11, § 21 AGG Rn. 82. 74 BAG, Urt. v. 18.2.2016, 6 AZR 700/14, Rn. 29. 75 Vgl. Mörsdorf (Fn. 16), S. 400. 76 Grundlegend BAG, Urt. v. 19.12.2013, 6 AZR 190/12, Rn. 13. 77 Grundlegend EuGH, Urt. v. 22.11.2005, Rs. C-144/04, Werner Mangold v. Rüdiger Helm, Rn. 74 ff. Zuletzt EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco Investigation GmbH v. Markus Achatzi, Rn. 76 f.; EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Vera Egenberger v. Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V., Rn. 75 ff. (m. w. N.). Zum Ganzen Starke, EU-Grundrechte und Vertragsrecht, 2016, S. 197 f.; Kainer, Rückkehr der unmittelbar-horizontalen Grundrechtswirkung aus Luxemburg, NZA 2018, S. 894 (898). 78 Kingreen (Fn. 37), Art. 3 Rn. 694; kritisch Ruffert, Privatrechtswirkung der Grundrechte, JuS 2020, S. 1 (5 ff.). 79 Mörsdorf (Fn. 16), S. 399 ff.; Sponholz (Fn. 51), S. 178 ff. plädiert für eine analoge Anwendung der entsprechenden Richtlinien-Vorschriften. 80 Dieser Absatz übernimmt Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 726 f. Michael Grünberger/André Reinelt
B. Privatrechtliches Nichtdiskriminierungsrecht im europäischen Mehrebenensystem
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verbot (§ 19 Abs. 1 und Abs. 2 AGG) die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen (§ 21 Abs. 1 Satz 1 AGG). Sind solche Beeinträchtigungen erstmals zu besorgen (Erstbegehungsgefahr) oder sind nach bereits erfolgter Verletzung weitere zu besorgen (Wiederholungsgefahr), hat sie einen Anspruch auf Unterlassung (§ 21 Abs. 1 Satz 2 AGG). Der Beseitigungsanspruch sanktioniert als primärer Rechtsfolgenanspruch die fortdauernde Störung des Primärrechts auf Gleichbehandlung.81 Er ist – anders als der Schadensersatzanspruch – kein Restitutionsanspruch.82 Im beschäftigungsrechtlichen Anwendungsbereich fehlt eine entsprechende Regelung. Manche stützen den Beseitigungsanspruch auf eine ergänzende Auslegung des teilnichtigen Vertrags,83 andere auf § 21 Abs. 1 Satz 1 AGG analog als spezialgesetzliche Regelung84 des quasi-negatorischen Beseitigungsanspruchs.85 Dogmatisch überzeugend ist es, die anspruchsbegründende Rechtsfolge unmittelbar aus der Verletzung des Gleichbehandlungsanspruchs abzuleiten.86 Ziel dieses primären Rechtsfolgenanspruchs ist es, die mit der Benachteiligung (§ 3 14 AGG) eingetretene Beeinträchtigung des Rechts auf Gleichbehandlung wieder zu beseitigen. Die Beseitigung der Beeinträchtigung bedeutet zwangsläufig Beseitigung der fortwirkenden Benachteiligungshandlung. Der verschuldensunabhängige87 Beseitigungsanspruch ist daher nichts anderes als die Durchsetzung des primären Rechts auf Nichtdiskriminierung: Die fortwirkende Ungleichbehandlung soll insgesamt „aufgehoben“ werden.88 Der Beseitigungsanspruch zielt auf die Abstellung des benachteiligenden Zustands, ist aber nicht auf die Beseitigung aller Folgen der Ungleichbehandlung gerichtet.89 Wird dagegen die „Beseitigung“ der materiellen oder immateriellen Folgen der abgeschlossenen Benachteiligung begehrt, ist der Schadensersatzanspruch einschlägig. Die Voraussetzungen des Beseitigungsanspruchs sind nur gegeben, solange die benachteiligende Person mit einem actus contrarius die fortbestehende Benachteiligung tatsächlich noch beseitigen kann. c) Sekundäre Rechtsfolgen: Wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen
Die Mitgliedstaaten müssen im nationalen Recht geeignete Sanktionen festlegen und 15 deren Durchsetzung gewährleisten.90 Ohne geeignete Sanktionsregelung kann der Grund81 Zur Begrifflichkeit siehe oben Rn. 1 f. (A. I.); nicht präzise genug insoweit noch Grünberger ([2013]
Fn. 1), S. 726.
82 Hartmann, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 6. Aufl.
2018, S. 97 (Rn. 70). Benecke, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: September 2021, § 7 Rn. 42. Bader, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz als Privatrecht, 2012, S. 385 ff. Vgl. Hartmann (Fn. 82), Rn. 50 m. w. N. Grundlegend EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75, Defrenne II, wonach die unmittelbare Anwendung des Art. 157 AEUV Grundlage des Anspruchs auf Zahlung des rückständigen Arbeitsentgelts ist; ähnlich LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 10.11.2017, 11 Ca 951/17, Rn. 38. 87 Kossak, Rechtsfolgen des Verstoßes gegen Benachteiligungen im allgemein Zivilrechtsverkehr, 2009, S. 121 f. 88 Wiedemann, Tarifvertrag und Diskriminierungsschutz, NZA 2007, S. 950 (953). 89 Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 21 Rn. 15. 90 Art. 15 RL 2000/43/EG, Art. 17 RL 2000/78/EG, Art. 14 RL 2004/113/EG, Art. 25 RL 2006/54/EG. 83 84 85 86
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§ 20 Rechtsfolgen von Diskriminierungen
satz der Gleichbehandlung nicht effektiv verwirklicht werden.91 Die vom EuGH dafür entwickelten Maßstäbe hat der Unionsgesetzgeber mittlerweile im speziellen Sekundärrecht verankert.92 Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.93 Der entstandene Schaden muss danach „tatsächlich und wirksam ausgeglichen oder ersetzt (werden), wobei dies auf eine abschreckende und dem erlittenen Schaden angemessene Art und Weise geschehen muss“.94 Das Unionsrecht schreibt keine konkreten Rechte oder Ansprüche vor, sondern überlässt dem Mitgliedstaat die Auswahl unter den zur Wiederherstellung der verletzten Gleichheit geeigneten95 Mittel.96 Die Palette reicht vom Kontrahierungszwang97 über eine finanzielle Entschädigung bis hin zu Bußgeldern.98 Eine genaue Analyse der Rechtsprechung zeigt aber, dass nur Maßnahmen zur (Wieder-) Herstellung (Beseitigungsanspruch) oder Entschädigung (Schadensersatzanspruch) gleichwertige Alternativen sind.99 Daher ist eine ausschließliche Sanktionierung über Straf- oder Bußgeldvorschriften nicht unionsrechtskonform.100 Insgesamt muss das nationale Rechtsfolgenregime „einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz der (…) Rechte gewährleisten“ und die „Härte der Sanktionen muss der Schwere der mit ihnen geahndeten Verstöße entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren“.101 Entscheidet sich das nationale Recht für eine „finanzielle Wiedergutmachung“, um das Ziel der Wiederherstellung tatsächlicher Chancengleichheit zu erreichen, „so muss diese angemessen in dem Sinne sein, dass sie es erlaubt, die durch die diskriminierende 91 EuGH, Urt. v. 10.4.1984, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Rn. 22. 92 Vgl. dazu Kamanabrou, Rechtsfolgen unzulässiger Benachteiligung im Antidiskriminierungsrecht, ZfA
2006, S. 327; Kossak (Fn. 87), S. 20 ff.; Ebers (Fn. 46), S. 705 ff.; allgemein Hellgardt (Fn. 65), S. 200 ff.; Heinze (Fn. 50), S. 508 ff. Umstritten ist, ob die beiden Geschlechtergleichbehandlungsrichtlinien 2004/113/EG und 2006/54/EG die Wahlfreiheit beschränken. Dazu (wohl) verneinend EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-407/14, Arjona Camacho v. Securitas Seguridad España, Rn. 39 (Art. 18 RL 2006/54/EG schreibe eine Entschädigung oder einen Ausgleich für den dem Geschädigten entstandenen Schaden vor) und Rn. 36 ff. (die Richtlinie ändere nichts an der Wahlfreiheit des Mitgliedstaats); näher zum Problem Ebers (Fn. 46), S. 709 ff. 93 EuGH, Urt. v. 10.4.1984, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Rn. 23; EuGH, Urt. v. 10.4.1984, Rs. 79/83, Harz v. Deutsche Tradax GmbH, Rn. 23; EuGH, Urt. v. 8.11.1990, Rs. 177/88, Dekker v. Stichting Vormingscentrum voor Jong Volwassenen Plus, Rn. 23; EuGH, Urt. v. 2.8.1993, Rs. C-271/91, Marshall v. Southampton & South West Hampshire Area Health Authority, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draehmpaehl v. Urania Immobilienservice OHG, Rn. 24; aus jüngerer Zeit EuGH, Urt. v. 24.4.2013, Rs. C-81/12, Asociaţia Accept, Rn. 61; EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-407/14, Arjona Camacho v. Securitas Seguridad España, Rn. 31; vertiefend Sponholz (Fn. 51), S. 202 ff. 94 Art. 8 Abs. 2 Satz 1 RL 2004/113/EG, Art. 18 Satz 1 RL 2006/54/EG. 95 EuGH, Urt. v. 2.8.1993, Rs. C-271/91, Marshall v. Southampton & South West Hampshire Area Health Authority, Rn. 24. 96 Grundlegend EuGH, Urt. v. 10.4.1984, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Rn. 18; aus jüngerer Zeit EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-407/14, Arjona Camacho v. Securitas Seguridad España, Rn. 30. 97 Dazu unten Rn. 35 (C. II. 2. b) cc)). 98 EuGH, Urt. v. 10.4.1984, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Rn. 18. 99 Ausdrücklich EuGH, Urt. v. 2.8.1993, Rs. C-271/91, Marshall v. Southampton & South West Hampshire Area Health Authority, Rn. 25; Heinze (Fn. 50), S. 509 f.; Mörsdorf (Fn. 16), S. 386 ff. 100 Kossak (Fn. 87), S. 25 f.; vertiefend Mörsdorf (Fn. 16), S. 373 ff. 101 EuGH, Urt. v. 24.4.2013, Rs. C-81/12, Asociaţia Accept, Rn. 63. Michael Grünberger/André Reinelt
B. Privatrechtliches Nichtdiskriminierungsrecht im europäischen Mehrebenensystem
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Entlassung tatsächlich entstandenen Schäden nach den anwendbaren staatlichen Regeln in vollem Umfang auszugleichen“.102 Das schadensersatzrechtliche Element muss vier näher bestimmten Anforderungen 16 genügen: (1.) Der Schadensersatz muss in angemessenem Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen.103 Eine symbolische Entschädigung genügt nicht.104 (2.) Jeder Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot muss für sich genommen ausreichen, die volle Haftung der Normadressat*in zu begründen.105 Sie hat alle materiellen Schäden der betroffenen Person zu ersetzen.106 Die Mitgliedstaaten müssen daneben auch einen Anspruch für den Ersatz immaterieller Schäden vorsehen.107 (3.) Hinsichtlich des Schadensumfangs darf der Mitgliedstaat im allgemeinen Zivilrecht Höchstgrenzen festlegen.108 Im beschäftigungsrechtlichen Anwendungsbereich gilt das nur für den immateriellen Schaden109 von Bewerber*innen, die eine Stelle auch bei diskriminierungsfreier Auswahl nicht erhalten hätten, weil die genommene Bewerber*in besser qualifiziert war.110 Bewerber*innen, die bei diskriminierungsfreier Auswahl die Stelle bekommen hätten, erleiden dagegen einen materiellen Schaden aufgrund der nicht erfolgten Einstellung und haben deshalb Anspruch auf Ersatz des vollen Nichteinstellungsschadens.111 (4.) Auf ein Verschulden des Diskriminierenden kommt es nicht an.112 3. Beweiserleichterung
Die Richtlinien sehen übereinstimmend eine Beweiserleichterung vor, indem sie die Be- 17 weislast teilweise auf die Beklagte überwälzen:113 Danach müssen die Personen, die eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes behaupten, „Tatsachen glaubhaft machen, 102 EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-407/14, Arjona Camacho v. Securitas Seguridad España, Rn. 33. 103 EuGH, Urt. v. 10.4.1984, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Rn. 23; EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs.
C-180/95, Draehmpaehl v. Urania Immobilienservice OHG, Rn. 25 ff.
104 EuGH, Urt. v. 10.4.1984, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 24.4.2013, Rs.
C-81/12, Asociaţia Accept, Rn. 64.
105 EuGH, Urt. v. 8.11.1990, Rs 177/88, Dekker v. Stichting Vormingscentrum voor Jong Volwassenen Plus,
Rn. 25.
106 EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-407/14, Arjona Camacho v. Securitas Seguridad España, Rn. 33 („die
durch die diskriminierende Entlassung tatsächlich entstandenen Schäden nach den anwendbaren staatlichen Regeln in vollem Umfang auszugleichen“). 107 Vgl. EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draehmpaehl v. Urania Immobilienservice OHG, Rn. 33 ff.; Mörsdorf (Fn. 16), S. 417 ff.; Heinze (Fn. 50), S. 595 ff. 108 Art. 8 Abs. 2 Satz 2 RL 2004/113/EG. 109 Heinze (Fn. 50), S. 597; Schubert, Die Wiedergutmachung immaterieller Schäden im Privatrecht, 2013, S. 457 ff. 110 EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draehmpaehl v. Urania Immobilienservice OHG, Rn. 35 f. (auch zur Beweislast der Arbeitgeber*in). 111 Vgl. EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draehmpaehl v. Urania Immobilienservice OHG, Rn. 31 ff.; näher Mörsdorf (Fn. 16), S. 421 ff. 112 EuGH, Urt. v. 8.11.1990, Rs. 177/88, Dekker v. Stichting Vormingscentrum voor Jong Volwassenen Plus, Rn. 22, 24; EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draehmpaehl v. Urania Immobilienservice OHG, Rn. 17, 21 f.; ausführlich Mörsdorf (Fn. 16), S. 412 ff. 113 Eingehend Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatecht?, 2004, S. 154 ff.; Mörsdorf (Fn. 16), S. 461 ff. Michael Grünberger/André Reinelt
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die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen“. Dann obliegt es dem beklagten Normadressaten „zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat“.114 § 22 AGG setzt diese Vorgaben – sprachlich nicht ganz glücklich – um.115 Diese partielle Beweislastumkehr ist ein zentraler Baustein des Rechtsfolgenregimes.116
C. Konfliktlinien I. Arbeitgeber*in als „Strukturbrecher“ 18
Das individualschützend ausgestaltete Rechtsfolgenregime des AGG bricht ein komplexes gesamtgesellschaftliches Phänomen von (strukturellen) Diskriminierungen auf das bilaterale Verhältnis zwischen Arbeitnehmer*in und Arbeitgeber*in und damit zwischen Anspruchsteller*in und Anspruchsgegner*in herunter.117 Dabei sanktioniert das Nichtdiskriminierungsrecht nicht nur präferenzbedingte Diskriminierungen, sondern auch (instrumentale) Benachteiligungen, die aus Sicht der Arbeitgeber*in völlig rational sind.118 Sein Ziel ist, bestehende soziale Verhältnisse zu ändern und diskriminierende Strukturen aufzubrechen.119 Kennzeichnend für diese Strukturen sind systemische Nachteile für Angehörige bestimmter (geschützter) Gruppen. In den Funktionssystemen der Gesellschaft gibt es Arrangements, Praktiken, Institutionen und soziale Strukturen, die Muster von dauerhaften Nachteilen erzeugen.120 Empirische Auswertungen belegen diese strukturelle Komponente von Diskriminierung: Danach machen „bestimmte gesellschaftliche Teilgruppen deutlich häufiger sowohl aufgrund spezifischer Merkmale als auch insgesamt Diskriminierungserfahrungen (…) als andere.“121 Wenig überraschend ist, dass diese Diskriminierungserfahrungen ungleich verteilt sind: Personen, die zu bestimmten sozio-demografischen Gruppen gehören, haben danach ein signifikant höheres Diskriminierungsrisiko.122 Diese Muster von dauerhaften Nachteilen bewirken eine soziale Exklusion, die zu überwinden eine Aufgabe des Nichtdiskriminierungsrechts ist („soziale Inklusion“123). Diese Zielsetzung lässt sich in der EuGH-Rechtsprechung nachweisen.124 Dass das NichtArt. 8 RL 2000/43/EG, Art. 10 RL 2000/78/EG, Art. 9 RL 2004/113/EG, Art.19 RL 2006/54/EG. Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 722. Siehe dazu → Muthorst, § 19 Rn. 27 ff.; Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 27 ff. Zur Zurechnung der Handlungen anderer Personen siehe unten Rn. 42 f. (C. II. 3. a) cc)). Zur Begrifflichkeit Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 631 ff., 641 ff. Näher Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 530 ff. Collins, Discrimination, Equality and Social Inclusion, Modern Law Review 66 (2003), S. 16 (26); Mangold (Fn. 35), S. 181 ff.; grundlegend zum Begriff der institutionellen Diskriminierung Gomolla, Institutionelle Diskriminierung, in: Hormel/Scherr (Hrsg.), Diskriminierung, 2010, S. 61 ff. (77). 121 Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Erhebung von subjektiven Diskriminierungserfahrungen, 2019, S. 26. 122 Beigang/Fetz/Kalkum/Otto, Diskriminierungserfahrungen in Deutschland, 2017, S. 98 ff. 123 Collins (Fn. 120), S. 21 ff., wobei Collins dem sozialen Inklusionsbegriff ein tendenziell eher politisches denn verteilungsgerechtes Konzept zugrunde legt. 124 Näher Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 93 ff. 114 115 116 117 118 119 120
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diskriminierungsrecht diese strukturelle Dimension aufweist, wird auch in der Anerkennung der mittelbaren Diskriminierung deutlich.125 Damit „werden Ungleichheitseffekte – ohne von unmittelbar diskriminierenden Absichten und Einstellungen der Akteure auszugehen – mit institutionellen Handlungskontexten als Problemursache in Beziehung gesetzt.“126 Diese bilaterale rechtliche Re-Konstruktion eines multilateral-strukturellen sozialen 19 Konflikts ist problematisch. Das Recht zwingt die Arbeitgeber*in als Adressat*in des Diskriminierungsverbots in die Rolle der Schuldner*in der primären und sekundären Ansprüche, obwohl sie selbst der Eigenlogik des Markts und den bestehenden Kundenpräferenzen ausgesetzt ist und daher – wirtschaftlich betrachtet – nicht sanktionslos agieren kann. Neben diesen wirtschaftlich bedingten Rationalitäten ist ein Arbeitsbetrieb auch eine komplexe soziale Organisation, in der die Arbeitnehmer*innen nicht nur in einen Produktionsoder Dienstleistungsprozess eingebunden sind. Die daran beteiligten Personen bilden eine eigene soziale Gruppe mit einer eigenen Betriebskultur und Gewohnheiten.127 Um die internen sozialen Interaktionen besser koordinieren zu können, basieren Arbeitgeber*innen ihre Personalauswahl auch auf dem Selektionskalkül „sozialer Passung“.128 „Sowohl eine Diskriminierung infolge bedeutsamer betrieblicher Sozialbeziehungen für einen gelingenden Produktionsprozess als auch aus Kundenpräferenzen erwachsende Benachteiligungen bei der Stellenvergabe gehen über ein Verständnis hinaus, welches Diskriminierung primär als verzerrte Wahrnehmung individueller Produktivität versteht. Diskriminierung ist nun nicht mehr die Folge eines Wahrnehmungs- bzw. Messproblems von Kompetenz, sondern sie ist in betrieblichen Selektionskalkülen jenseits einer meritokratischen Leistungsnorm begründet.“129 Diese Zusammenhänge muss ein responsives Rechtsfolgenregime im Nichtdiskriminie- 20 rungsrecht adressieren. Die Rechtsfolgen des AGG weisen – juristisch gesehen – einer privaten Akteur*in ein Sonderopfer zu.130 Das betrifft die Zuweisung von Verantwortung an die Arbeitgeber*in als Legitimationsquelle für die konkreten Rechtsfolgen, die ihr am Ende eines rechtlichen Verfahrens auferlegt werden. Sie ist aus klassisch-liberaler Privatrechtstradition brüchig, weil die Arbeitgeber*in nicht persönlich-individuell für die Teilhabedefizite bestimmter Gruppen in den Funktionssystemen der Gesellschaft verantwortlich ist. Das Recht nimmt die darauf reagierende und insoweit diskriminierende Arbeitgeber*in dennoch für institutionelle/strukturelle Diskriminierungen in die Verantwortung, weil sie als unmittelbar und zuletzt handelnde Akteur*in mit ihrem rationalen Verhalten zur Per125 Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 657 ff.; Baumgärtner, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand:
Dezember 2021, § 3 Rn. 64 ff.; Mangold (Fn. 25), S. 477.
126 Gomolla (Fn. 120), S. 62. 127 Imdorf, Die Diskriminierung „ausländischer“ Jugendlicher bei der Lehrlingsauswahl, in: Hormel/
Scherr (Hrsg.), Diskriminierung, 2010, S. 197 (205 ff.).
128 Imdorf (Fn. 127), S. 206 f. 129 Imdorf (Fn. 127), S. 201. 130 Siehe Lobinger, Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote, in: Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit
und Diskriminierung, 2007, S. 99 (156 ff.); Hartmann, Diskriminierung durch Antidiskriminierungsrecht?, EuZA 2019, S. 24 (38 f.). Michael Grünberger/André Reinelt
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petuierung genau des strukturell benachteiligenden Zustands beiträgt, der aufgrund des rechtlichen Verbots geändert werden soll.131 Darin realisiert sich das transformative Potential des modernen Nichtdiskriminierungsrechts.132 Die Zuweisung der Aufgabe als „Strukturbrecher“ lässt sich auch machtsoziologisch 21 erklären. Im Ausgangspunkt verfügen in einem Arbeitsverhältnis bzw. innerhalb einer Arbeitsorganisation nicht nur die Arbeitgeber*in, sondern auch die Arbeitnehmer*innen über spezifische Machtquellen.133 Aus Sicht des (Nichtdiskriminierungs-)Rechts sind aber zwei Machtquellen der Arbeitgeber*in von entscheidender Bedeutung: (1.) Faktisch „reguliert“ die Arbeitgeber*in den Zugang zum Arbeitsmarkt.134 Der Arbeitsvertrag, bei dem sie zwingend mitwirken muss, ist für die Arbeitnehmer*in der Schlüssel – das Inklusionsinstrument – zum System der Erwerbstätigkeit. (2.) Die (Arbeits-)Organisation ist für die Arbeitgeber*in eine besondere Machtquelle,135 die ihr (noch)136 viele Gestaltungsoptionen und somit Möglichkeiten der Veränderungen bietet. Diese Perspektive rundet das Bild von der „Arbeitgeber*in als Strukturbrecher“ ab: Ihr wird die Verantwortung für die Perpetuierung des status quo gerade deshalb zugewiesen, weil sie über zwei entscheidende Machtquellen verfügt, mit denen sie über die Instrumente disponieren kann, um die vorhandenen sozialen Strukturen aufzubrechen. Das Nichtdiskriminierungsrecht mutet der Arbeitgeber*in auch zu, die Strukturen dis22 kriminierender Kundenpräferenzen aufzubrechen.137 Aus Sicht der Arbeitgeber*in ist das erneut ein ihr auferlegtes Sonderopfer. Das lässt sich rechtsökonomisch erklären. Diskriminierende Präferenzen von Verbraucher*innen sind überwiegend Angstpräferenzen.138 Ohne das Eingreifen des Nichtdiskriminierungsrechts würden die (sozialen) Kosten dafür den davon betroffenen Arbeitnehmer*innen zugewiesen. Würde man sie auf die Konsument*innen verlagern, dürfte sich wenig am diskriminierenden Zustand ändern: Der Verzicht auf die Angstpräferenz ist für die Verbraucher*innen mit erheblichen Opportunitätskosten verbunden. Abgesehen davon hat eine gegen einzelne Abnehmer*innen gerichtete Rechtsdurchsetzung erhebliche Defizite. Das Verständnis der Arbeitgeber*in als cheapest cost avoider erlaubt eine effiziente Rechtsdurchsetzung und damit einen Ausweg aus dem Dilemma. Die Arbeitgeber*in treffende Schadensersatzansprüche sind danach 131 Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 661. 132 Näher dazu Mangold (Fn. 35), S. 218 f. 133 Mechanic, Sources of Power of Lower Participants in Complex Organizations, Administrative Science
Quarterly 7 (1962), S. 349.
134 Ähnlich Kocher, Private Macht im Arbeitsrecht, in: Möslein (Hrsg.), Private Macht, 2016, S. 241
(244 f.).
135 Kocher (Fn. 134), S. 247. 136 Zu den Auswirkungen der Veränderungen in der Umwelt des Betriebs siehe Kurt, Der Schutzzweck
des Arbeitsrechts in der digitalen und globalen Welt, in: Benecke (Hrsg.), Unternehmen 4.0, 2018, S. 115 ff.
137 Kritisch dazu und mit einer – hier abgelehnten – persönlichkeitsrechtlichen Rekonstruktion Lobinger,
Fehlende Diskriminierungsopfer, klagende Verbände und fragwürdige Kundenerwartungen, EuZA 2009, S. 365 (371 ff.); siehe auch Buhk (Fn. 40), S. 350 ff.; Schlachter, Kopftuchverbote auf „Kundenwunsch“?, EuZA 2018, S. 173. 138 Siehe dazu exemplarisch den Sachverhalt im Feryn-Urteil des EuGH, geschildert von EuGH, Schlussanträge des GA Poiares Maduro v. 12.3.2008, Rs. C-54/07, Feryn, Rn. 1–4. Michael Grünberger/André Reinelt
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(negative) Anreize, ihre betriebliche Praxis zu verändern. Indem das Nichtdiskriminierungsrecht solche Anreize setzt, sichert es zugleich ein level playing field im Wettbewerb. Es mag sein, dass die mit einer diskriminierenden Nachfrageseite einhergehende Marktsegmentierung ökonomisch rational ist. Daraus lässt sich kein normativer Schluss ableiten, wonach die Rechtsordnung dem Unternehmen nicht verwehren dürfe, auch solche Marktsegmente zu bedienen.139 Diese Argumentation gibt der Eigenrationalität des Funktionssystems „Wirtschaft“ normativen Vorrang gegenüber dem auf Gleichheit eingestellten Recht, der aber in einer modernen, differenzierten Gesellschaft nicht mehr begründbar ist.140 Die zweigeteilte Legitimation aus (politischer, nicht persönlicher!) Verantwortung und ökonomischem Anreiz kann die Zuweisung der primären und sekundären Rechtsfolgen an die „Arbeitgeber*in als Strukturbrecher“ legitimieren. Sie verletzt nicht das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Schranke effektiver Rechtsdurchsetzung. II. Verhältnismäßigkeit als Strukturprinzip des Rechtsfolgenregimes 1. Grundlagen a) Ausgangspunkt
Das Unionsrecht bindet die Durchsetzung seiner subjektiven Rechte im Horizontalver- 23 hältnis durchweg an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.141 Die Richtlinien im speziellen Nichtdiskriminierungsrecht sehen vor, dass die Sanktionen „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein [müssen]“.142 Dem entspricht die Entscheidungspraxis des EuGH.143 Auch im deutschen Privatrechtsdiskurs wird unter dem Stichwort „Verhältnismäßigkeit“ verstärkt ein kontrollierendes – und damit begrenzendes – Element in Rechtsfolgenregimen diskutiert.144 Im Kontext der Durchsetzung (unionaler) Primärrechte
139 So aber Lieske, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit, 2011, S. 232 ff., 242. 140 Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 998 ff. 141 Allgemein Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 5 EUV Rn. 44; Kischel,
Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 380 (381 ff.). Speziell zu den europäischen Grundrechten Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2021, Art. 52 Rn. 34; Starke (Fn. 77), S. 236 ff. 142 Art. 15 Satz 2 RL 2000/43/EG, Art. 17 Satz 2 RL 2000/78/EG, Art. 14 Satz 2 RL 2004/113/EG, Art. 25 Satz 2 RL 2006/54/EG (Hervorhebung nur hier). 143 EuGH, Urt. v. 10.4.1984, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Rn. 23; EuGH, Urt. v. 10.4.1984, Rs. 79/83, Harz v. Deutsche Tradax GmbH, Rn. 23; EuGH, Urt. v. 8.11.1990, Rs. 177/88, Dekker v. Stichting Vormingscentrum voor Jong Volwassenen Plus, Rn. 23; EuGH, Urt. v. 2.8.1993, Rs. C-271/91, Marshall v. Southampton & South West Hampshire Area Health Authority, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draehmpaehl v. Urania Immobilienservice OHG, Rn. 24; aus jüngerer Zeit EuGH, Urt. v. 24.4.2013, Rs. C-81/12, Asociaţia Accept, Rn. 61; vertiefend Sponholz (Fn. 51), S. 202 ff. 144 Vgl. Hanau, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke privater Gestaltungsmacht, 2004; Stürner, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Schuldvertragsrecht, 2010; zurückhaltend Bieder, Das ungeschriebene Verhältnismäßigkeitsprinzip als Schranke privater Rechtsausübung, 2007; kritisch zu den de-kontextualisierenden Ansätzen der Privatrechtsdogmatik Derleder, Die uneingelöste Grundrechtsbindung des Privatrechts, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 234 (238 ff.). Michael Grünberger/André Reinelt
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ermöglicht die Verhältnismäßigkeit eine Flexibilisierung der Rechtsfolgen.145 Sie sensibilisiert die Rechtsanwender*in dafür, dass aus der Verletzung des Primärrechts nicht mehr automatisch ein inhaltlich festgelegter Anspruch folgt.146 Damit kann das Recht die Rechtsfolgen jeweils bereichs- und kontextspezifisch ausgestalten. Aufgabe einer responsiven Rechtsdogmatik ist es, die von der Rezeption des Rechts in seiner Umwelt ausgelösten Folgen zu beobachten und proaktiv die Auswirkungen dieser Veränderungen zu antizipieren und bei der dogmatischen Produktion von Lösungen zu berücksichtigen.147 Damit leistet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einen Beitrag, die expansiven Tendenzen des Nichtdiskriminierungsrechts zu kontrollieren. Insoweit reagiert es auf die – zugegeben – diffuse Befürchtung eines backlash, also einer größeren Nichtakzeptanz des Nichtdiskriminierungsrechts in der Umwelt des Rechts.148 b) Konsequenzen für das Rechtsfolgenregime 24
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird im Nichtdiskriminierungsrecht auf vier Stufen relevant: (1.) bei der Konturierung des Anwendungsbereichs, (2.) im Tatbestand der mittelbaren Diskriminierung, (3.) bei den Rechtfertigungsgründen und (4.) bei den Rechtsfolgen.149 Die Rechtsfolgen sind also nicht der einzige Ort, an dem im Nichtdiskriminierungsrecht Verhältnismäßigkeit relevant wird. Grundrechtsdogmatisch ist das AGG ein Beispiel dafür, wie ein auf der Ebene des einfachen Rechts mediatisiertes, mehrpoliges Verfassungsrechtsverhältnis zu konfligierenden Positionen zweier Grundrechtsträger*innen führt, die vom Staat auszugleichen sind.150 Diese grundrechtsdogmatische Verankerung eines Konflikts ermöglicht die Rezeption der verfassungsdogmatischen Rechtfertigungsmöglichkeiten auch im Horizontalverhältnis. Dazu zählt insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Er bildet die Schnittstelle zwischen konventionsrechtlichem, unionsrechtlichem, verfassungsrechtlichem und einfachrechtlichem Diskriminierungsverbot.151 Seine Anwendung im AGG kann im Vergleich zur Geltung im Vertikalverhältnis nur eine modifizierte sein, weil die Normadressat*in ebenfalls Grundrechtsberechtigte ist. Deshalb stellt sich in horizontalen Verhältnissen auch nicht das im Vertikalverhältnis zentrale 145 Verkannt von Kähler, Raum für Maßlosigkeit, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit,
2015, S. 210.
146 Hofmann (Fn. 6), S. 105 ff., 138. 147 Siehe dazu oben Rn. 4 f. (A. II. 2.). 148 Dazu Eyer, That’s Not Discrimination, Minnesota Law Review 96 (2012), S. 1275; Grünberger, Nicht-
diskriminierungsrecht zwischen Inklusion und Integration, in: Buchholtz/Croon-Gestefeld/Kerkemeyer (Hrsg.), Integratives Recht, 2021, S. 97. 149 Ausführlich Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 39 ff. Entlang des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes können auch Ausschlussfristen und Beweiserleichterungen im Wechselspiel auf der Ebene der Rechtsdurchsetzung rekonstruiert werden, dazu Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 70 ff. 150 Zum Begriff Calliess, Die grundrechtliche Schutzpflicht im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis, JZ 2006, S. 321 (325 ff.). 151 Vgl. BVerfG, Urt. v. 7.7.2009, 1 BvR 1164/07, Rn. 88 – Lebenspartnerschaft; dazu Grünberger, Die Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Zusammenspiel von Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht, FPR 2010, S. 203. Michael Grünberger/André Reinelt
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Problem,152 ob der Gleichheitssatz überhaupt einer verhältnismäßigen Rechtfertigung zugänglich ist: Im Horizontalverhältnis ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung das notwendige Instrument, um die Relevanz und das Gewicht der Freiheitsbeschränkungen in die Rechtfertigungsstruktur von Ungleichbehandlungen einzubauen.153 Die vier Ausprägungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Nichtdiskriminierungsrecht strukturieren als Kollisionsregeln die Abwägung,154 mit der die Rechtsanwenderin (im Horizontalverhältnis) die Kollision der abstrakt konfligierenden Prinzipien (stark verkürzt: Gleichheit vs. Freiheit) jeweils bereichsspezifisch und kontextsensitiv aufzulösen hat. Die vierfache Verankerung hat methodische Folgen für die Relevanz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf Rechtsfolgenebene: Wurde die spezifische Kollision – etwa zwischen der negativen Vertragsfreiheit der Normadressat*in und dem Zugangsanspruch der diskriminierten Person – bereits auf den Stufen (1) bis (3) berücksichtigt, darf derselbe Konflikt nicht noch einmal auf Stufe (4) abgewogen werden.155 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bewirkt von Stufe (1) bis Stufe (4) eine zunehmende Individualisierung und Punktualisierung und damit eine spezifische Engführung des sozialen Konflikts. Deshalb können die bereits auf einer vorherigen Stufe berücksichtigten Güter nicht erneut in gleicher Weise auf nachfolgenden Stufen in den Diskurs eingeführt werden. Sie sind methodisch „verbraucht“. 2. Verhältnismäßige Primäransprüche a) Reaktionspflichten: Verhältnismäßigkeit in multipolaren Rechtsbeziehungen
Werden Beschäftigte (§ 6 Abs. 1 AGG) von anderen Beschäftigten oder von Dritten bei 25 Ausübung ihrer Tätigkeit benachteiligt, ist die Arbeitgeber*in verpflichtet, erforderliche und angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um das Verhalten der anderen Beschäftigten zu unterbinden (§ 12 Abs. 3 AGG) oder um die Beschäftigten vor dem Verhalten Dritter zu schützen (§ 12 Abs. 4 AGG). Diese Schutzpflichten in mehrpoligen Rechtsverhältnissen erklären sich aus der dem AGG zugrunde liegenden Konzeption: Aus § 7 Abs. 1 AGG folgt, dass Normadressat*innen des Benachteiligungsverbots nicht nur die Arbeitgeber*in, sondern auch die anderen Beschäftigten und Dritte sind.156 Verletzen sie das Benachteiligungsverbot, hat der betroffene Beschäftigte Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche.157 Diese sind in der Praxis nicht durchsetzbar. Verletzte und verletzende Person sind aber in das Kommunikationssystem „Unternehmen“ eingebunden. Diese Kommunikationsbeziehungen werden von der Unternehmensträger*in hergestellt. Verstöße gegen 152 Siehe dazu Lepsius, Die Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: Jestaedt/
ders. (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 1 (29 f.); Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 1 Rn. 115; vertiefend Huster, Was bedeutet „Verhältnismäßigkeit der Ungleichbehandlung“, in: Kempny/Reimer (Hrsg.), Gleichheitssatzdogmatik heute, 2017, S. 91. 153 Weiterführend Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 835 ff. 154 Vgl. Lepsius (Fn. 152), S. 24. 155 Ansatzweise Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 731. 156 Serr, in: Staudinger, AGG, Neubearbeitung 2018, § 7 Rn. 5 ff.; vertiefend Schäfer, Die Verantwortlichkeit des Arbeitgebers für diskriminierendes Verhalten Dritter, 2013. 157 Siehe dazu oben Rn. 13 f. (B. II. 2. b) bb)). Michael Grünberger/André Reinelt
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das Benachteiligungsverbot stören diese Kommunikationsbeziehung. Sanktionierte man diese Störung in den bilateralen Verhältnissen und damit der Umwelt des Unternehmens, löst das erhebliche Irritationen innerhalb dieses Mikrosystems aus. Diese vermeidet das AGG, indem es bei der Person ansetzt, die die Kommunikationsbeziehungen zwischen den Beteiligten am besten steuern kann: der Arbeitgeber*in. Daher instrumentalisiert sie das Recht zur Agent*in der Durchsetzung des Benachteiligungsverbots. § 12 Abs. 3 AGG regelt den Fall, dass eine andere bei der Arbeitgeber*in beschäftigte 26 Person gegen das Benachteiligungsverbot verstößt, etwa indem sie die betroffene Person sexuell belästigt (§ 3 Abs. 4 AGG). Das BAG leitet aus § 12 Abs. 3 AGG einen primären Beseitigungsanspruch der benachteiligten Person ab, von der Arbeitgeber*in die zur Beseitigung der Störung erforderlichen Maßnahmen zu verlangen.158 Welche das sind, kann die Arbeitgeber*in entscheiden. Ihr Ermessensspielraum wird von § 12 Abs. 3 AGG beschränkt. Die Maßnahme muss im Einzelfall geeignet, erforderlich und angemessen sein, um die eingetretene Benachteiligung für die Zukunft wirksam zu unterbinden. Die Norm inkorporiert damit den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz159 in seiner klassischen Form: Geeignet sind nur solche „Maßnahmen, von denen der Arbeitgeber annehmen darf, dass sie die Benachteiligung für die Zukunft abstellen, d. h. eine Wiederholung ausschließen.“160 Geeignet können zudem nur arbeitsrechtlich zulässige Maßnahmen sein.161 Von diesen ist nur die jeweils mildere Maßnahme erforderlich. So stehen die vom Gesetz beispielhaft genannten Rechtsfolgen – Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung – in einem Stufenverhältnis.162 Im Rahmen der Angemessenheit hat die Arbeitgeber*in die effektive Durchsetzung des Gleichbehandlungsanspruchs der betroffenen Person mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem Bestandsinteresse der benachteiligenden Person abzuwägen. Auf Seiten der Arbeitgeber*in sind hier nur ihre Fürsorge- und Schutzpflichten gegenüber dem Benachteiligenden anzusetzen.163 Ihre wirtschaftlichen Interessen spielen dabei keine Rolle. § 12 Abs. 4 AGG greift dieses Regelungskonzept für den etwas anders gelagerten Fall auf, dass die Benachteiligung der beschäftigten Person von einem Dritten ausgeht. Der sozial anders gelagerte Kontext wirkt sich auch auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung aus. Das Interesse der Arbeitgeber*in an der weitgehend störungsfreien Fortsetzung der wirtschaftlichen Beziehungen ist hier als abwägungsrelevanter Belang einzustellen.164 Die Arbeitgeber*in muss hier auch lediglich Maßnahmen „zum Schutz der Beschäftigten ergreifen“. Diese können von einer Neuorganisation der 158 BAG, Urt. v. 25.10.2007, 8 AZR 593/06, Rn. 68; kritisch Gehlhaar, § 12 III AGG und der Anspruch des belästigten Arbeitnehmers auf Ergreifung (bestimmter?) Schutzmaßnahmen, NZA 2009, S. 825. 159 BAG, Urt. v. 9.6.2011, 2 AZR 323/10, Rn. 28. 160 BAG, Urt. v. 9.6.2011, 2 AZR 323/10, Rn. 28. 161 Zur Frage, ob der Diskriminierungsverstoß die Anforderungen an diese Maßnahmen verringert, siehe Benecke, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: September 2021, § 12 Rn. 37 f. 162 Vgl. BAG, Urt. v. 20.11.2014, 2 AZR 651/13, Rn. 23 ff.: Abmahnung ist geeignet und weniger einschneidend als außerordentliche Kündigung, wenn bei einer Handlung der sexuellen Belästigung eine positive Verhaltensprognose vorliegt. 163 Benecke (Fn. 161), § 12 Rn. 35. 164 Göpfert/Siegrist, Diskriminierungsverdacht, ZIP 2006, S. 1710 (1714); Serr (Fn. 156), § 12 Rn. 56.
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betriebsinternen Zuständigkeit über ein Hausverbot bis hin zur Beendigung der Vertragsbeziehung reichen. b) Inhalt des Beseitigungsanspruchs aa) Alternativstruktur des Verpflichtungsinhalts (1) Problemstellung und Entscheidungsoptionen („Anpassung nach oben/unten“)
Ist eine diskriminierende Verteilungsregelung teilnichtig,165 stellt sich das Problem, wie 27 der Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot zu beseitigen ist. Dazu gibt es im speziellen Nichtdiskriminierungsrecht keine ausdrückliche Regelung. Im Kern geht es darum, ob die betroffene Person einen Primäranspruch gerichtet auf die Leistung hat, die sie bei diskriminierungsfreier Behandlung erhalten hätte („Anpassung nach oben“).166 Eine „Anpassung nach oben“ kann die Normadressat*innen – den Staat,167 die Parteien kollektiver Regelungen,168 die einzelne Arbeitgeber*in – hart treffen. Das trifft insbesondere dann zu, wenn die Normadressat*in eine Regel anwendet, die lediglich eine kleinere Personengruppe im Unternehmen privilegiert. Diskriminiert diese zugleich eine zahlenmäßig signifikante Personengruppe, führt die „Anpassung nach oben“ dazu, dass die Leistungen anstatt – wie geplant – nur einem Bruchteil der Gesamtbelegschaft, plötzlich einer signifikant höheren Anzahl von Personen zu gewähren sind. Das sprengt nicht selten den dafür vorgesehenen Finanzrahmen und stellt die Arbeitgeber*in vor erhebliche wirtschaftliche und organisatorische Probleme. Diese Rechtsfolge könnte die wirtschaftliche Stabilität des gesamten Unternehmens gefährden. Dagegen könnte man den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Anspruchsschranke mobilisieren: Eine „Anpassung nach oben“ scheide aus, wenn die gleichheitswidrige Begünstigung nur einen kleinen Bruchteil der Belegschaft betreffe169 oder wenn sie sonst für das Unternehmen mit unverhältnismäßigen wirtschaftlichen oder organisatorischen Belastungen verbunden sei.170 Man könnte auch überlegen, die Mehrbelastung der Arbeitgeber*in mit einer finanziellen Belastungsgrenze in prozentualer Abhängigkeit der ihr zur Verfügung stehenden Finanzmittel zu deckeln.171 Andererseits birgt 165 Zur Nichtigkeit als Regelfolge siehe oben Rn. 12 (B. II. 2. b) aa)). 166 Vertiefend Thieken, Der primärrechtliche europäische Gleichbehandlungsgrundsatz und seine Aus-
wirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht, 2018, S. 186 ff. 167 Siehe zu altersdiskriminierenden Beamtenbesoldungssystemen EuGH, Urt. v. 19.6.2014, Rs. C-501/12, Specht v. Land Berlin; EuGH Urt. v. 8.5.2019, Rs. C-396/17, Leitner v. Landespolizeidirektion Tirol. 168 Siehe BAG, Urt. v. 10.11.2011, 6 AZR 148/09 zu den Vergütungsgruppen nach Lebensaltersstufen im Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT); BAG, Urt. v. 14.5.2013, 1 AZR 44/12 zu einer altersdiskriminierenden Betriebsvereinbarung. 169 Vgl. BAG Urt. v. 14.6.2006, 5 AZR 584/05, Rn. 22: 5 Prozent der Belegschaft – allerdings nur beim unionsrechtlich nicht determinierten allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsanspruch. 170 Siehe BAG, Urt. v. 14.5.2013, 1 AZR 44/12, Rn. 25 f.: Die jüngeren Flugbegleiter*innen der Lufthansa haben keinen Anspruch auf „Anpassung nach oben“, weil die Lufthansa AG dann ihren Flugbetrieb nicht mehr aufrechterhalten könnte. 171 Vgl. BAG, Urt. v. 13.2.2002, 5 AZR 713/00, wonach der vorgesehene Dotierungsrahmen den Inhalt der Ansprüche bei einer Verletzung des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsanspruchs wegen der „unverhältnismäßig hohen weiteren finanziellen Belastungen des Arbeitgebers“ begrenzt. Michael Grünberger/André Reinelt
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jede rechtsfolgenbegrenzende Wirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Gefahr, dass die Sanktionen nicht mehr den (unionsrechtlichen) Anforderungen genügen, den Gleichheitsverstoß effektiv zu beseitigen.172 Es gibt vier Lösungsmodelle dieses Konflikts:173 (1.) Die Normadressat*in ist grund28 sätzlich zur „Anpassung nach oben“ verpflichtet und muss deshalb der ungerechtfertigt ausgeschlossenen Personengruppen auch für die Vergangenheit dieselben Vorteile gewähren, die sie der privilegierten Gruppe gewährt hat. (2.) Führt das zu unverhältnismäßigen Belastungen, hat die „Anpassung nach oben“ keine Rückwirkung, sondern gilt nur für die Zukunft. (3.) Die Normadressat*in nimmt eine „Anpassung nach unten“ vor, mit der Folge, dass der bislang gewährte Vorteil den Begünstigten für die Zukunft genommen wird. (4.) Die „Anpassung nach unten“ erfolgt rückwirkend, mit der Folge, dass der in der Vergangenheit gewährte Vorteil zurückgefordert wird. 29 Die Rechtsprechung hat sich für eine Kombination der verschiedenen Ansätze entschieden. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die zum nationalen Verfassungsrecht anerkannte Prämisse, dass die Normadressat*in bei Verstößen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz regelmäßig verschiedene Möglichkeiten hat, den Gleichheitsverstoß zu beseitigen.174 Dasselbe folgt aus dem privatrechtlichen Störungsbeseitigungsanspruch.175 Die Richtlinien verpflichten die Mitgliedstaaten dementsprechend nur zur Aufhebung diskriminierender Rechtsvorschriften, ohne ihnen verbindlich eine Anpassung nach oben vorzuschreiben. Der EuGH geht deshalb im Grundsatz davon aus, dass die Mitgliedstaaten „nach Maßgabe der unterschiedlichen denkbaren Sachverhalte die Freiheit der Wahl unter den verschiedenen Lösungen“ zur Verwirklichung des Gleichbehandlungsziels haben.176 Die Normadressat*in trifft hinsichtlich des „Wie“ der Beseitigungspflicht eine „Wahlschuld“.177 (2) „Anpassung nach oben“ als (privatrechtlicher) Regelfall 30
Im Grundsatz haben die von einer Regelung bislang Benachteiligten keinen automatischen Anspruch darauf, immer und ohne weiteres (!) rückwirkend gleich wie die bislang Begünstigten behandelt zu werden.178 Die Normadressat*in kann die Diskriminierung nämlich auch dadurch beseitigen, dass sie rückwirkend (!) eine neue, diskriminierungsfreie Regelung schafft. Dabei kann sie sowohl „nach oben“ als auch „nach unten“ anpassen.179 Sie 172 Vgl. Temming, Für einen Paradigmenwechsel in der Sozialplanrechtsprechung, RdA 2008, S. 205 (218)
zu Höchstgrenzen. Siehe auch BAG, Urt. v. 13.2.2002, 5 AZR 713/00, wonach bei unionsrechtlichen Differenzierungsverboten keine Begrenzung der Ansprüche auf den Dotierungsrahmen zulässig ist. 173 Schöne Auflistung bei BAG, Urt. v. 18.2.2016, 6 AZR 700/14, Rn. 30 ff. 174 Wollenschläger (Fn. 152), Art. 3 Abs. 1 Rn. 317; Kempny/Reimer (Fn. 7), S. 158 f. und 163 ff. m. w. N. 175 Hartmann (Fn. 82), Rn. 50. 176 EuGH, Urt. v. 28.1.2015, Rs. C-417/13, ÖBB Personenverkehr AG v. Gotthard Starjakob, Rn. 44; EuGH Urt. v. 8.5.2019, Rs. C-396/17, Leitner, Rn. 77 f. 177 Kempny/Reimer (Fn. 7), S. 163 f. 178 EuGH, Urt. v. 14.3.2018, Rs. C-482/16, Stollwitzer v. ÖBB, Rn. 30. 179 EuGH, Urt. v. 28.9.1994, Rs. C-408/92, Constance Smith u. a. v. Avdel Systems Ltd, Rn. 21 (zu Art. 157 AEUV ); EuGH, Urt. v. 14.3.2018, Rs. C-482/16, Stollwitzer v. ÖBB, Rn. 30 f.; BAG, Urt. v. 18.2.2016, 6 AZR 700/14, Rn. 34 (beide zur Richtlinie 2000/78/EG). Michael Grünberger/André Reinelt
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muss aber eine Maßnahme zu der Wiederherstellung der Gleichheit implementieren.180 Deshalb muss der Verstoß auch mit Wirkung für die Vergangenheit beseitigt werden. Entscheidet sich die Normadressat*in für die „Anpassung nach unten“, muss sie die bislang einer Gruppe gewährten Vorteile auch tatsächlich entziehen. Mit Wirkung für die Vergangenheit steht ihr diese Wahlmöglichkeit nur dann offen, wenn sie den Entzug auch rückwirkend für alle rechtswirksam implementieren kann.181 Das ist ausgeschlossen, wenn es einen gesetzlichen oder vertraglichen Vertrauensschutz der bislang Begünstigten gibt.182 Greift also ein „Begünstigungsaufhebungsverbot“, reduziert sich die Wahlfreiheit der Normadressat*in erheblich.183 In diesem Fall, „[kann] die Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes nur dadurch sichergestellt werden, dass den Angehörigen der benachteiligten Gruppe dieselben Vorteile gewährt werden wie den Angehörigen der begünstigten Gruppe. Die benachteiligten Personen müssen also in die gleiche Lage versetzt werden wie die Personen, denen der betreffende Vorteil zugutekommt.“184 Die Normadressat*in muss dann mit Wirkung für die Vergangenheit „den Angehörigen der benachteiligten Gruppe dieselben Vorteile [gewähren] wie die, die den Angehörigen der privilegierten Gruppe zugutekommen“185. Für die Vergangenheit muss es zur „Anpassung nach oben“ kommen. In einer solchen Konstellation sind nicht nur die Entscheidungskompetenzen der Arbeitgeber*in oder der Sozialpartner*innen beschränkt, sondern auch die des nationalen Gesetzgebers: Das nationale Gericht hat „eine diskriminierende nationale Bestimmung außer Anwendung zu lassen, ohne dass es ihre vorherige Beseitigung durch den Gesetzgeber beantragen oder abwarten müsste, und auf die Mitglieder der benachteiligten Gruppe eben die Regelung anzuwenden, die für die Mitglieder der anderen Gruppe gilt.“186 Das hat unmittelbare Folgen für die private Arbeitgeber*in, weil diese den bislang benachteiligten Arbeitnehmer*innen den Vorteil gewähren muss, den sie aufgrund der bisherigen gesetzlichen Regelung nur einer kleinen Gruppe von Arbeitnehmer*innen zugestehen musste.187 Die „Anpassung nach oben“ setzt voraus, dass es einen Referenzpunkt dafür – in der 31 Terminologie des EuGH: ein „gültiges Bezugssystem“ – gibt.188 Die Rechtsanwender*in 180 Ständige Rechtsprechung, zuletzt EuGH Urt. v. 8.5.2019, Rs. C-396/17, Leitner v. Landespolizeidirektion
Tirol, Rn. 77 f.; EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco Investigation GmbH v. Markus Achatzi, Rn. 80. So auch Hartmann (Fn. 82), Rn. 50. BAG, Urt. v. 18.2.2016, 6 AZR 700/14, Rn. 32. Allgemein Kempny/Reimer (Fn. 7), S. 166 (Begriff auf S. 170). Ständige Rechtsprechung, zuletzt EuGH Urt. v. 8.5.2019, Rs. C-396/17, Leitner v. Landespolizeidirektion Tirol, Rn. 70; EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco Investigation GmbH v. Markus Achatzi, Rn. 79; EuGH Urt. v. 9.3.2017, Rs. C-406/15, Petya Milkova, Rn. 66 (m. w. N.). 185 EuGH, Urt. v. 28.1.2015, Rs. C-417/13, ÖBB Personenverkehr AG v. Gotthard Starjakob, Rn. 46; vgl. auch EuGH, Urt. v. 8.5.2019, Rs. C-396/17, Leitner v. Landespolizeidirektion Tirol, Rn. 75 f. 186 EuGH, Urt. v. 8.5.2019, Rs. C-396/17, Leitner v. Landespolizeidirektion Tirol, Rn. 71; EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco Investigation GmbH v. Markus Achatzi, Rn. 80; EuGH, Urt. v. 9.3.2017, Rs. C-406/15, Petya Milkova, Rn. 67 (m. w. N.). 187 EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco Investigation GmbH v. Markus Achatzi, Rn. 83 (zur Ausdehnung der österreichischen Sonderurlaubsregelung für Angehörige der evangelischen Kirchen, der Altkatholischen Kirche und der Evangelisch-methodistischen Kirche am Karfreitag auf alle Arbeitnehmer*innen). 188 EuGH, Urt. v. 8.5.2019, Rs. C-396/17, Leitner v. Landespolizeidirektion Tirol, Rn. 72; EuGH, Urt. v. 181 182 183 184
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kann die Rechtsposition der bislang Benachteiligten nur dann „nach oben“ angleichen, wenn sie weiß, wo „oben“ ist.189 Das bisherige Bezugssystem ist der von der Normadressat*in bislang zugrunde gelegte Verteilungsmaßstab. Dieser lässt sich im Regelfall einfach identifizieren, weil es sich in der Regel um jeweils recht homogene Gruppen von diskriminierten bzw. begünstigten Personen handelt.190 Zweifelhaft sind nur die Fälle, in denen man keine Kategorie tatsächlich bevorzugter Personen benennen kann, etwa weil alle Eingruppierungen altersdiskriminierend erfolgt sind.191 Hier kann man mit der hypothetischen Vergleichsperson (§ 3 Abs. 1 AGG) arbeiten und nach der Behandlung einer materiell-vergleichbaren Person fragen.192 Scheitert der Anspruch auf „Anpassung nach oben“ an dieser Voraussetzung, bleibt der betroffenen Person immer noch ein Anspruch auf Schadensersatz oder Entschädigung als sekundärer Rechtsbehelf.193 bb) Generalisierung: Wiederherstellung von Gleichheit 32 Diese Rechtsprechungslinie lässt sich generalisieren: Eine Ungleichbehandlung zwingt
immer dann zur „Anpassung nach oben“, solange die Normadressat*in keine geeigneten Maßnahmen zur Wiederherstellung ergriffen hat.194 Keine geeignete Maßnahme ist es, wenn sie eine neue diskriminierungsfreie Verteilungsregel nur für die Zukunft, und nicht auch mit Wirkung für die Vergangenheit implementiert. Dann unterbliebe die effektive Sanktionierung des Gleichbehandlungsverstoßes. Das gilt auch, wenn der Rückforderung oder Beseitigung der unter Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot gewährten Rechtsposition Dritter ein gesetzlicher oder vertraglicher Vertrauensschutz entgegensteht („Begünstigungsaufhebungsverbot“). Die Beseitigung einer erlittenen Diskriminierung mittels rückwirkender Gleichstellung mit den Begünstigten ist hier das einzige Mittel, die rechtswidrige Begünstigung zu beenden.195 Die „Anpassung nach oben“ scheidet erst dann aus, wenn die Normadressat*in eine diskriminierungsfreie Neuregelung auch mit Wirkung für die Vergangenheit implementiert hat. 33 Der daraus folgende Leistungsanspruch der benachteiligten Personen ist auf „Wiederherstellung der Gleichbehandlung“ gerichtet. Der Gleichbehandlungsgrundsatz hat insoweit anspruchserzeugende Wirkung.196 Dieser Anspruch wird vom Beseitigungsanspruch 9.3.2017, Rs. C-406/15, Petya Milkova, Rn. 67; EuGH, Urt. v. 19.6.2014, Rs. C-501/12, Specht v. Land Berlin, Rn. 96. 189 Siehe Thieken (Fn. 166), S. 192. 190 EuGH, Schlussanträge des GA Bot v. 28.11.2013, Rs. C-501/12, Specht v. Land Berlin, Rn. 103. 191 EuGH, Urt. v. 19.6.2014, Rs. C-501/12, Specht v. Land Berlin, Rn. 96; BVerwG, Urt. v. 30.10.2014, 2 C 6/13, Rn. 19 ff. (jeweils zur altersdiskriminierenden besoldungsrechtlichen Einstufung von Beamten). 192 EuGH, Schlussanträge des GA Bot v. 28.11.2013, Rs. C-501/12, Specht v. Land Berlin, Rn. 106 f. 193 BVerwG, Urt. v. 30.10.2014, 2 C 6/13, Rn. 31 ff.; Thieken (Fn. 166), S. 192 ff. 194 Ausdrücklich klargestellt von EuGH, Urt. v. 8.5.2019, Rs. C-396/17, Leitner v. Landespolizeidirektion Tirol, Rn. 77 f. 195 BAG, Urt. v. 18.2.2016, 6 AZR 700/14, Rn. 33. 196 Vgl. zum vergleichbaren Problem beim allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz Wiedemann, Gerechtigkeit durch Gleichbehandlung, in: FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 265 (276); allgemein zum Anspruchscharakter bei Verstößen gegen öffentlich-rechtliche Gleichheitssätze siehe Kempny/Reimer (Fn. 7), S. 176 ff. Michael Grünberger/André Reinelt
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in § 21 Abs. 1 Satz 1 AGG lediglich konkretisiert. Es handelt sich nicht um einen Anspruch auf Schadensersatz.197 Die ungleich behandelte Person begehrt Schutz vor einer gleichheitswidrigen Schlechterstellung durch die Normadressat*in. Wer aufgrund des Gebots der Gleichbehandlung verlangen kann, so behandelt zu werden, als sei er Angehöriger einer begünstigten Gruppe, hat einen Anspruch auf die Rechtspositionen, die der begünstigten Gruppe gewährt werden. Auf andere Weise lässt sich die Gleichbehandlung nicht wiederherstellen. Das gilt für alle Fälle, in denen der Normadressat*in das maßgebliche Anspruchsziel: Wiederherstellung der Gleichheit verbindlich vorgegeben wird. Anders verhält es sich, wenn diese Vorgabe als Folge der Grundsätze von Gewaltentei- 34 lung und -verschränkung nicht gemacht werden kann. Das betrifft die Ebene des nationalen Verfassungsrechts und – mit erheblichen Einschränkungen198 – das Kompetenzgefüge auf Unionsebene. Das Bundesverfassungsgericht hat den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum, der sich aus den verschiedenen Möglichkeiten einer gleichheitskonformen Neuregelung ergibt, zu wahren.199 Die primären Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz oder die speziellen Diskriminierungsverbote erlangen für die legislative Staatsgewalt – womit wir hier vereinfachend auch die exekutive Normsetzung erfassen wollen – besondere Bedeutung.200 Das BVerfG hat ein Regel-Ausnahme-Verhältnis von Unvereinbarkeits- und Nichtigkeitserklärung etabliert.201 Regelfolge einer Unvereinbarkeitserklärung202 einer Norm mit den Gleichheitssätzen ist die Verpflichtung an den Gesetzgeber, die Rechtslage verfassungsmäßig umzugestalten.203 In besonderen Situationen kann das BVerfG auch die Weitergeltung der gleichheitswidrigen Norm anordnen, sodass der gleichheitswidrige Zustand bis zu einer Neuentscheidung weitergilt.204 In vereinzelt gebliebenen Entscheidungen hat auch das BVerfG selbst eine Ausdehnung der gesetzlichen Begünstigung – also eine „Anpassung nach oben“ – vorgenommen.205 Das Besondere an 197 Benecke (Fn. 83), § 7 AGG Rn. 43. Die Rechtsprechung sieht darin einen vertraglichen Erfüllungs-
anspruch, vgl. BAG, Urt. v. 30.11.2010, 3 AZR 754/08, Rn. 23.
198 Vgl. EuGH, Urt. v. 1.3.2011, Rs. C-236/09, Association belge des Consommateurs Test-Achats ASBL,
Rn. 32 f., wo der EuGH aus dem Verstoß gegen Art. 21 Abs. 1 GRC die Nichtigkeit einer Ausnahmeregelung in der RL 2004/113/EG ableitet und aus Gründen des Vertrauensschutzes der Privatrechtsakteure*innen die Weitergeltung für einen Übergangszeitraum anordnet. 199 Wollenschläger (Fn. 152), Art. 3 Abs. 1 Rn. 317; Kingreen (Fn. 37), Art. 3 Rn. 700 f. 200 Zur theoretischen Grundlage des Ganzen siehe Kempny/Reimer (Fn. 7), S. 153 ff. 201 Erstmals angedeutet in BVerfGE 8, 28 (31) – Besoldungsrecht (1958), dann ausdrücklich in BVerfGE 37, 217 (261) – Kinderstaatsangehörigkeit (1974), seitdem ständige Rechtsprechung – vgl. nur aus jüngerer Zeit BVerfGE 147, 1 (30) – Geschlechtsidentität (2017) und BVerfGE 138, 136 (248) – Erbschaftssteuer (2014) mit Verweis auf seine Rechtsprechungslinie. Näher zur „Erfindung“ des BVerfG Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 395 ff., zu den prozessualen Folgen siehe Dresen, Was folgt prozessual aus dem Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) durch Gesetze?, in: Kempny/Reimer (Hrsg.), Gleichheitssatzdogmatik heute, 2017, S. 133. 202 Ausführlich Wollenschläger (Fn. 152), Art. 3 Abs. 1 Rn. 316 ff.; Kischel (Fn. 35), Art. 3 Rn. 73 ff.; Schlaich/Korioth (Fn. 201), Rn. 413 ff. 203 Wollenschläger (Fn. 152), Art. 3 Abs. 1 Rn. 322. 204 Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 33; Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 113 f. 205 Vgl. Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 133. Sie verweist auch darauf, dass in Michael Grünberger/André Reinelt
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diesen Konstellationen war jeweils, dass der Legislative keine andere rechtliche oder tatsächliche Möglichkeit blieb, als die Begünstigung für die bislang davon Ausgeschlossenen auch auf die Vergangenheit zu erstrecken.206 In diesen Fällen verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Begünstigung jedenfalls für die Übergangszeit bis zur Neuregelung auf die bislang ausgeschlossene Personengruppe erstreckt wird.207 cc) Respezifizierung: Kontrahierungszwang 35 Der Beseitigungsanspruch ist nach freilich umstrittener Auffassung208 auch die Grund-
lage für einen privatrechtlichen Kontrahierungszwang.209 Mit dem Vertragsschluss erfolgt der actus contrarius zu der die Störung auslösenden Vertragsverweigerung.210 Diese Diskussion wird hier bewusst nicht noch einmal ausgebreitet, weil dazu aus dogmatischer Sicht schon fast alles erschöpfend gesagt wurde. Wichtig ist uns darauf hinzuweisen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz differenziert herangezogen werden muss: Wie die Regelung in § 15 Abs. 6 AGG zeigt, geht es beim Ausschluss des Kontrahierungszwangs nicht primär um die verhältnismäßige Berücksichtigung der Interessen der Normadressat*in des Diskriminierungsverbots,211 sondern um die Einspeisung des Bestandsschutzinteresses der bevorzugten Drittpartei. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wirkt daher rechtsfolgenbegrenzend nur in multilateralen Rechtsbeziehungen, in denen das von der Normadressat*in zu verteilende Gut (Arbeitsplatz, Wohnung) einer dritten Partei gewährt wurde, während er den Beseitigungsanspruch im bilateralen Verhältnis zwischen Normadressat*in und diskriminierter Person außerhalb dieser Konstellationen nicht beschränkt.212 3. Verhältnismäßige Sekundäransprüche: Kompensation, Satisfaktion und Sanktion a) Schadensersatz
36 Liegt ein Verstoß gegen das beschäftigungsrechtliche (§ 7 Abs. 1 AGG) oder gegen das zivil-
rechtliche (§ 19 Abs. 1 und Abs. 2 AGG) Benachteiligungsverbot vor, hat die diskriminierte Person Anspruch auf Schadensersatz (§§ 15 Abs. 1 Satz 1, 21 Abs. 2 Satz 1 AGG).
aa) Vertretenmüssen? 37 Der Arbeitgeber bzw. der Benachteiligende haftet nicht, wenn er „die Pflichtverletzung“ –
also den Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot213 – „nicht zu vertreten hat“ (§§ 15
BVerfGE 115, 81 (93) – Rechtsschutz gegen Verordnungen (2016) am Grundsatz festgehalten wurde, mit der Besonderheit, dass es um eine exekutive Normsetzung ging. 206 BVerfGE 55, 100 (112) – Kinderzuschuss für Enkel (1980). 207 BVerfGE 121, 108 (132) – Wählervereinigungen (2018). 208 Zum Streitstand Groß, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: September 2020, § 21 Rn. 30 ff.; Zoppel (Fn. 45), S. 170 f. 209 Vertiefend Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 726 ff. 210 Vgl. dazu allgemein Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 230 ff. 211 So aber die traditionelle Deutung, statt vieler Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 15 Rn. 42. 212 Ausführlich Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 49 ff. 213 Deinert, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 15 Rn. 25, § 21 Rn. 38; Bauer/Krieger/GünMichael Grünberger/André Reinelt
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Abs. 1 Satz 2, 21 Abs. 2 Satz 2 AGG). Damit überträgt der Gesetzgeber das Konzept des § 280 Abs. 1 BGB auf das AGG.214 Danach hat die Anspruchsschuldner*in Vorsatz und Fahrlässigkeit (§ 276 BGB) sowie das Verschulden ihrer Erfüllungsgehilfen (§ 278 BGB) zu vertreten. Beides wird vermutet.215 Der Schadensersatzanspruch ist also verschuldensabhängig ausgestaltet. Das führt zu Spannungen mit den unionsrechtlichen Vorgaben. Deshalb wird seit langem darüber gestritten, ob die verschuldensabhängige Ausgestaltung richtlinienkonform ist.216 Die Intensität, mit der diese Diskussion geführt wird, zeigt, dass das Verschuldens- 38 erfordernis im deutschen Recht zum Fetisch geworden ist. Dabei vergisst man, dass es nicht naturrechtlich vorgegeben ist, sondern auf einer kontingenten Entscheidung beruht, die mit Blick auf die spezifischen historischen Umstände des 19. Jahrhunderts getroffen wurde.217 Notwendig ist ein Perspektivenwechsel. Dieser wird vom Unionsrecht vorgegeben.218 Die entscheidende Frage ist: Gewährleistet das Verschuldenserfordernis – genauer: die Exkulpationsmöglichkeit der Anspruchsschuldner*in – „einen tatsächlichen und wirksamen Rechtsschutz (…) und [hat es] eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber“?219 Die wenig überraschende Antwort darauf ist: nein. Das Verschuldenserfordernis ist geeignet, die effektive Rechtsdurchsetzung empfindlich zu stören.220 Deshalb ist § 15 Abs. 1 Satz 2 AGG insgesamt und § 21 Abs. 2 Satz 2 AGG für die unionsrechtlich harmonisierten Kategorien „Geschlecht“ sowie „Rasse und ethnische Herkunft“ richtlinienwidrig. Weil der Gesetzgeber irrig davon ausging, eine unionsrechtskonforme Lösung gewählt zu haben, dürfte nach den bisherigen Grundsätzen221 eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung dieser Vorschriften möglich und damit unionsrechtlich auch verpflichtend sein. Begründet man mit Wortlaut und der Entstehungsgeschichte insoweit eine contra legem-Grenze, sind die deutschen Gerichte wegen des zugleich vorliegenden Verstoßes gegen Art. 21 Abs. 1 GRC unionsrechtlich verpflichtet, das Verschuldenserfordernis nicht anzuwenden.222 ther, AGG, 5. Aufl. 2018, § 15 AGG Rn. 14, § 21 AGG Rn. 5; Plum, in: Schleusener/Suckow/ders. (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2019, § 15 Rn. 29. 214 BT-Drs. 16/1780, S. 38, 46. 215 BT-Drs. 16/1780, S. 46. 216 Zum Streitstand siehe Mörsdorf (Fn. 16), S. 437 ff. und Deinert (Fn. 213), § 15 Rn. 31 f., § 21 Rn. 44 f. 217 Ausführlich dazu Schermaier, in: Schmoeckel/Rückert/Zimmermann (Hrsg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 2.1, 2007, Vor § 276 Rn. 5 ff. und §§ 276–278 Rn. 1 ff., 76 ff. 218 Siehe oben Rn. 17 (B. II. 3.). 219 So die Anforderung in EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-407/14, Arjona Camacho v. Securitas Seguridad España, Rn. 31. 220 Zu den Gründen Mörsdorf (Fn. 16), S. 414 ff.; Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 55. 221 BGH, Urt. v. 26.11.2008, VIII ZR 200/05; BGH, Urt. v. 21.12.2011, VIII ZR 70/08; BGH, Urt. v. 17.12.2012, VIII ZR 226/11. Zur methodischen Einordnung Roth/Jopen, Die richtlinienkonforme Auslegung, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 4. Aufl. 2021, § 13 Rn. 35 ff.; kritisch Lorenz, Aus- und Wiedereinbaukosten bei der kaufrechtlichen Nacherfüllung zwischen Unternehmern, NJW 2013, S. 207 ff. 222 Ständige Rechtsprechung des EuGH, zuletzt EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco Investigation GmbH v. Markus Achatzi, Rn. 75 ff.; EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Vera Egenberger v. Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V., Rn. 70 ff. Michael Grünberger/André Reinelt
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bb) Schadensumfang 39 Das Unionsrecht gibt vor, alle aufgrund der diskriminierenden Maßnahme tatsächlich ent-
standenen Schäden in vollem Umfang auszugleichen.223 Der Schadensersatzanspruch ist vor allem für die vom Beseitigungsanspruch nicht mehr erfassten Folgeschäden praktisch wichtig. „Der Benachteiligte“ (§ 21 Abs. 1 Satz 1 AGG) kann neben der Wiederherstellung (§ 249 Abs. 1 BGB) auch den erforderlichen Geldbetrag verlangen (§ 249 Abs. 2 BGB analog). Macht er davon Gebrauch oder ist die Wiederherstellung nach § 251 Abs. 1 BGB unmöglich, hat der Benachteiligte einen Schadensersatzanspruch in Geld. Die Höhe ermittelt man anhand der Differenzhypothese. Geschuldet wird der Ersatz des Erfüllungsinteresses und nicht lediglich des Vertrauensschadens.224 Das wirft bei § 21 Abs. 2 Satz 1 AGG keine besonderen Probleme auf.225 Relevant wird der Unterschied beim Schadensersatzanspruch wegen Nichteinstellung. Erfasst man nur den Ersatz des negativen Interesses, limitiert man den Ersatzanspruch auf den Ersatz der mit der Bewerbung verbundenen Aufwendungen.226 Wer dagegen für den Ersatz des positiven Interesses plädiert, gewährt nach § 252 BGB auch Ersatz des Arbeitslohns, der der Bewerber*in aufgrund ihrer Benachteiligung entgangen ist.227 40 Dabei lassen sich zwei Fallgruppen unterscheiden: (1.) Bewerber*innen, die die zu besetzende Position wegen der besseren Qualifikation der eingestellten Bewerber*in auch bei diskriminierungsfreier Auswahl nicht erhalten hätten und (2.) Bewerber*innen, die bei diskriminierungsfreier Auswahl die zu besetzende Position erhalten hätten.228 Die Bewerber*innen der ersten Fallgruppe machen einen Nichtberücksichtigungsschaden, die der zweiten Fallgruppe einen Nichteinstellungsschaden geltend.229 Nach herkömmlicher Auffassung wird der Nichtberücksichtigungsschaden ausschließlich über § 15 Abs. 2 AGG erstattet.230 Anspruch auf den Nichteinstellungsschaden hat danach nur die bestqualifizierte Bewerber*in.231 Man operiert hier mit der tatsächlichen Vermutung, dass eine Bewerber*in als objektiv bestqualifizierte die Stelle bei benachteiligungsfreier Auswahl erhalten hätte. Das ist eine Mutmaßung auf unsicherer Tatsachengrundlage, weil man nicht wissen kann, wie die Entscheidung bei benachteiligungsfreier Auswahl tatsächlich ausgefallen wäre.232 Nach traditioneller Auffassung hat die Bewerber*in diesen Kausalzusammenhang darzule223 EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-407/14, Arjona Camacho v. Securitas Seguridad España, Rn. 33. 224 Stoffels, Grundprobleme der Schadensersatzverpflichtung nach § 15 Abs. 1 AGG, RdA 2009, S. 204
(211 f.); ausführlich Mörsdorf (Fn. 16), S. 443 ff.; a. A. Bauer/Evers, Schadensersatz und Entschädigung bei Diskriminierung, NZA 2006, S. 893 (894); Hartmann (Fn. 82), Rn. 40; ausführlich Bader (Fn. 84), S. 195 ff. 225 Näher zur Schadensberechnung Thüsing (Fn. 89), § 21 Rn. 49 ff.; Kossak (Fn. 87), S. 197 ff. 226 Zu eng daher Plum (Fn. 213), § 15 Rn. 17 f. 227 Zur unionsrechtlich vorgegebenen Ersatzfähigkeit siehe Mörsdorf (Fn. 16), S. 419 ff. 228 Siehe EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draehmpaehl v. Urania Immobilienservice OHG, Rn. 31. 229 Wagner/Potsch, Haftung für Diskriminierungsschäden nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, JZ 2006, S. 1085 (1099). 230 Mörsdorf (Fn. 16), S. 423 ff.; kritisch Wagner/Potsch (Fn. 229), S. 1095. 231 Statt vieler Stoffels (Fn. 224), S. 212 m. w. N. 232 Wagner/Potsch (Fn. 229), S. 1095 mit dem Alternativvorschlag eines (zu) komplizierten Berechnungsmodells. Michael Grünberger/André Reinelt
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gen und zu beweisen; sie könne sich weder auf die Beweiserleichterung des § 22 AGG noch auf § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG analog stützen.233 Damit frustriert man die unionsrechtliche Vorgabe einer effektiven Rechtsdurchsetzung mit voller Kompensation. Aus der EuGHRechtsprechung folgt deshalb eine Beweislastumkehr zugunsten der Bewerber*in.234 Nicht die betroffene Bewerber*in muss beweisen, dass sie bei diskriminierungsfreier Auswahl eingestellt worden wäre, sondern die Arbeitgeber*in muss beweisen, warum das nicht der Fall gewesen wäre.235 Diese Verteilung der Beweislast überzeugt, weil die Arbeitgeber*in „über sämtliche eingereichten Bewerbungsunterlagen verfügt“.236 Diese Beweislastregelung gilt für jede Form des Schadensersatzes.237 Das Unionsrecht differenziert insoweit nämlich nicht zwischen materiellen und immateriellen Schäden.238 Intensiv diskutiert wird, ob und wie der Nichteinstellungsschaden summenmäßig zu 41 begrenzen ist. Das Unionsrecht erlaubt eine Höchstgrenze im Anwendungsbereich des beschäftigungsrechtlichen Diskriminierungsverbots nur für den Nichtberücksichtigungsschaden;239 beim zivilrechtlichen Diskriminierungsverbot sind Höchstgrenzen für die Kategorie „Geschlechterdiskriminierung“, nicht aber für die Diskriminierung aufgrund „Rasse und ethnischer Herkunft“ möglich.240 Die übrigen Kategorien in § 19 Abs. 1 AGG sind unionsrechtlich nicht harmonisiert. Jenseits dieser Vorgaben sind pauschale Haftungshöchstgrenzen im beschäftigungsrechtlichen Anwendungsbereich ausgeschlossen. Die Debatte wird daher im Gewand der traditionellen schadensersatzrechtlichen Dogmatik geführt: Geht man von einer unbefristeten Einstellung unter Anrechnung eines tatsächlich erfolgten oder pflichtwidrig unterlassenen (§ 254 Abs. 2 Satz 1 BGB) anderweitigen Erwerbs aus, stellt sich das Problem hypothetischer Kausalverläufe: Der Schaden wird auf Grundlage einer hypothetischen Entwicklung dieses Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt der Schadensermittlung ermittelt, obwohl noch völlig unsicher ist, wie er sich tatsächlich entwickelt hätte. Darauf aufbauend wird der Nichteinstellungsschaden fast durchweg zeitlich begrenzt.241 Der juristischen Kreativität scheinen dabei kaum Grenzen gesetzt.242 Besonders viel Zuspruch hat der Vorschlag, auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem die Anspruchsschuldner*in das Arbeitsverhältnis erstmalig kündigen könnte.243 Dass eine hypothetische sofortige Kündigung im Anschluss an eine vom Diskriminierungs233 BAG, Urt. v. 19.8.2010, 8 AZR 530/09, Rn. 76 ff.; Stoffels (Fn. 224), S. 212. 234 EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draehmpaehl v. Urania Immobilienservice OHG, Rn. 31, 34. 235 Mörsdorf (Fn. 16), S. 425 ff.; Roetteken, Unionsrechtliche Aspekte des Schadensersatzes und der Ent-
schädigung bei Diskriminierungen, NZA-RR 2013, S. 332 (343 f.).
236 EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draehmpaehl v. Urania Immobilienservice OHG, Rn. 36. 237 Verkannt von BAG, Urt. v. 19.8.2010, 8 AZR 530/09, Rn. 78. 238 Vgl. Heinze (Fn. 50), S. 585 ff.; Ebers (Fn. 46), S. 713 ff.; Wagner, Prävention und Verhaltenssteuerung
durch Privatrecht, AcP 206 (2006), S. 352 (394 ff.).
239 Art. 18 Satz 2 RL 2006/54/EG; EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draehmpaehl v. Urania Im-
mobilienservice OHG, Rn. 33 ff.
240 Art. 8 Abs. 2. Satz 2 RL 2004/113/EG. 241 Anders Kocher, in: Schiek (Hrsg.), AGG, 2007, § 15 Rn. 9 ff. 242 Vgl. die Übersicht bei Benecke, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: September 2021,
§ 15 Rn. 41.
243 Ausführlich Bauer/Evers (Fn. 224), S. 894 f.; Willemsen/Schweibert, Schutz der Beschäftigten im All-
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verbot erzwungene – und wegen § 15 Abs. 6 AGG – nur hypothetische Einstellung selbst am Diskriminierungsverbot scheitern würde,244 wird dabei häufig übersehen.245 Daher bleibt es bezüglich des Nichteinstellungsschadens bei der Anwendung der allgemeinen, aus §§ 249 ff. BGB folgenden materiell-rechtlichen Grundsätze unter Berücksichtigung von § 287 ZPO.246 „Zugrundezulegen [sic] ist deshalb die durchschnittliche Beschäftigungsdauer in dem betroffenen Beruf und dem jeweiligen Unternehmen“247 – also Daten, über die die Anspruchsschuldner*in unproblematisch verfügt. Nachfolgende Ereignisse, darunter auch eine hypothetisch wirksame und benachteiligungsfreie Kündigung, sind mit der Abänderungsklage gem. § 323 ZPO zu verfolgen, wirken sich aber nicht auf den Ersatzanspruch aus.248 cc) Anspruchsschuldner*in 42 Passivlegitimiert sind die Arbeitgeber*in (§ 15 Abs. 1 Satz 1 AGG) bzw. die Benachtei-
ligende (§ 21 Abs. 2 Satz 1 AGG). Beide Regelungen klingen ähnlich, basieren aber auf unterschiedlichen Konzeptionen: § 15 Abs. 1 AGG bündelt die Schadensersatzansprüche bei der Arbeitgeber*in.249 Obwohl diese nicht die einzige Normadressat*in des beschäftigungsrechtlichen Diskriminierungsverbots ist,250 ist nur sie Anspruchsverpflichtete des (sekundären) Schadensersatzanspruchs.251 Für das Verhalten anderer Beschäftigter und Dritter haftet sie nur, wenn es ihr gem. § 278 BGB zugerechnet werden kann.252 Praktische Probleme bereitet die Abgrenzung der Personen, deren sich die Arbeitgeber*in zur Erfüllung dieser Pflichten bedient. Geklärt ist, dass die Auslagerung von Stellenanzeigen und Bewerbungsverfahren auf Dritte und dort erfolgte Verstöße gegen §§ 7, 11 AGG der Arbeitgeber*in immer zuzurechnen sind.253 Damit wird verhindert, dass die Arbeitgeber*in die ihr auferlegte Verantwortung für ein diskriminierungsneutrales Verhalten bei Ausschreibungen auf Dritte abwälzt.254 Der Erfüllungsgehilfe ist nicht passivlegitimiert.255 Das gilt auch für Personalberatungsunternehmen, wenn sie die endgültige Auswahl in alleiniger Verantwortung durchführen.256 Diese Arbeitsteilung erschwert es für die betroffene Pergemeinen Gleichbehandlungsgesetz, NJW 2006, S. 2583 (2589); Deinert (Fn. 213), § 15 Rn. 39 ff.; Stoffels (Fn. 224), S. 212 f. 244 Wagner (Fn. 238), S. 396; Kocher (Fn. 241), § 15 Rn. 17; Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 20. Aufl. 2020, § 15 AGG Rn. 4. 245 Zutreffend Mörsdorf (Fn. 16), S. 448: unzulässige Unterstellung. 246 BGH, Urt. v. 24.5.2007, III ZR 176/06, Rn. 22; Deinert (Fn. 213), § 15 Rn. 45; Roloff, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK Arbeitsrecht, Stand: Dezember 2021, § 15 AGG Rn. 4. 247 Wagner (Fn. 238), S. 396; ausführlich Mörsdorf (Fn. 16), S. 447 ff. 248 Vgl. BGH, Urt. v. 24.5.2007, III ZR 176/06, Rn. 22. 249 Dazu Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 49 f. 250 Näher Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 616 ff. 251 BAG, Urt. v. 23.1.2014, 8 AZR 118/13. 252 Eingehend dazu Stoffels (Fn. 224), S. 207 ff.; Bader (Fn. 84), S. 283 ff. 253 BAG, Urt. v. 5.2.2004, 8 AZR 112/03, Rn. 66. 254 BVerfG, Beschl. v. 21.9.2006, 1 BvR 308/03, Rn. 20. 255 Näher Diller, Einstellungsdiskriminierung durch Dritte, NZA 2007, S. 649 (650). 256 Plum (Fn. 213), § 15 Rn. 28. Michael Grünberger/André Reinelt
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son, die von § 22 AGG verlangten Tatsachen zur Glaubhaftmachung darlegen zu können.257 Problematisch sind auch die von anderen Beschäftigten ausgehenden Benachteiligungen. Nach traditioneller Auffassung sollen diese, sofern sie keine Arbeitgeberfunktionen ausüben, nicht Erfüllungsgehilfen sein.258 Damit entsteht eine Haftungslücke. Die Arbeitgeber*in haftet nicht nach § 15 Abs. 1 AGG und die Betroffene kann allenfalls Ansprüche aus der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (§ 823 Abs. 1 BGB i. V. m. § 15 Abs. 6 AGG) geltend machen. Damit ist kein „wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender“ Schutz vor Diskriminierung gewährleistet.259 Bei § 21 Abs. 2 Satz 1 AGG haftet der „Benachteiligende“ auf Schadensersatz beim Ver- 43 stoß gegen das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot. Umstritten ist, ob das jede Person ist, die gegen § 19 AGG verstößt,260 oder nur die Anbieter*in bzw. (potentielle) Vertragspartner*in des (angestrebten) zivilrechtlichen Schuldverhältnisses, der dann das Verhalten der Dritten u. U. nach § 278 BGB zuzurechnen ist.261 Mit der Sanktionierung muss ein verhaltenssteuernder Anreiz gesetzt werden. Anders als beim beschäftigungsrechtlichen Diskriminierungsverbot irritiert eine bilaterale Sanktionierung aller involvierten Akteure nicht das Subsystem „Unternehmen“.262 Deren eigenständige Passivlegitimation schützt vielmehr die Beteiligten von Markttransaktionen vor jeder Diskriminierung. Dabei muss eine responsive Rechtsdogmatik an die jeweiligen Marktstrukturen anknüpfen. So ist im Wohnungsmietmarkt die Vermietung über Wohnungsverwaltungsgesellschaften im eigenen oder im fremden Namen üblich. Dasselbe gilt für die Vermittlung über Makler*innen. Beide treten als die für den Zugang relevanten Akteure am Markt auf und sie sind das Nadelöhr, das die Mietinteressent*in passieren muss. Nach der Konzeption der Richtlinien sind sie deshalb Adressat*innen des Primärrechts auf Gleichbehandlung. Verstoßen sie dagegen, haften sie jeweils nach § 21 Abs. 2 Satz 1 AGG.263 Die rechtliche Anbieter*in bzw. potentielle Vertragspartner*in haftet daneben gesamtschuldnerisch, wenn ihr das Verhalten der von ihr eingeschalteten Mittelspersonen über § 278 BGB zuzurechnen ist.264 Grundlage dafür ist das aus § 19 Abs. 1 und 2 AGG folgende gesetzliche Schuldverhältnis, das sie zu nichtdiskriminierendem Verhalten verpflichtet. dd) „Prävention durch Kompensation“?
Die Forderung des EuGH, der Schadensersatz müsse „eine wirklich abschreckende 44 Wirkung“ haben,265 hat die deutsche Privatrechtsdogmatik in der Vergangenheit irriBerghahn/Klapp/Tischbirek, Evaluation des AGG, 2016, S. 112. Stoffels (Fn. 224), S. 208 f. Kritisch daher Berghahn/Klapp/Tischbirek (Fn. 257), S. 110 f., 113. Groß (Fn. 208), § 21 Rn. 71 ff. Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 19 Rn. 127 ff. Dazu oben Rn. 25 (C. II. 2.). Näher Derleder, Vertragsanbahnung und Vertragsabschluss über Mietwohnungen und die Diskriminierungsverbote des AGG, NZM 2007, S. 625 (630); ders., Gleichbehandlung im Abseits des Wohnungsmarkts, NZM 2009, S. 310 (311). 264 Derleder (Fn. 263), S. 630. 265 EuGH, Urt. v. 10.4.1984, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Rn. 23. 257 258 259 260 261 262 263
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tiert.266 Mittlerweile hat der EuGH das Selbstverständliche klargestellt und entschieden, dass aus den Richtlinien keine Pflicht des nationalen Rechts folge, denjenigen, von dem eine Diskriminierung ausgeht, zu einem „Strafschadensersatz“ zu verurteilen.267 Die Mitgliedstaaten können diese Rechtsfolge im Instrumentenmix des Rechtsfolgenregimes vorsehen; müssen es aber nicht.268 Damit dürfte die Luft aus der künstlichen Aufregung raus sein. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass die volle Kompensation der wirtschaftlichen Folgen für sich genommen ausreichend abschreckend ist.269 Das Unionsrecht verlangt, dass der gesamte Schaden „tatsächlich und wirksam ausgeglichen oder ersetzt wird, wobei dies auf eine abschreckende und dem erlittenen Schaden angemessene Art und Weise geschehen muss“.270 Das setzt zwar „keinen Strafschadensersatz, wohl aber die vollständige Kompensation sämtlicher Nachteile, aller Vermögens- und Nichtvermögensschäden, ohne Rücksicht auf die Beschränkungen einer auf das Vermögen bezogenen Differenzhypothese“271 voraus. „Prävention durch Schadensausgleich“272 bedeutet mehr als „Prävention durch Kompensation des wirtschaftlichen Schadens“.273 Die vollständige Kompensation des (materiellen) Schadens kann eine abschreckende Wirkung entfalten. Erfüllt die Kompensation in Einzelfällen diese Funktion jedoch nicht, muss über Instrumente nachgedacht werden, die dies leisten können. Diese Funktion kommt – trotz seiner Deckelung bei Bewerbungen – insbesondere dem Entschädigungsanspruch zu. b) Entschädigungsanspruch 45 Die häufig anzutreffende Engführung des Problems auf den Ersatz des materiellen Scha-
dens beruht auf einer Fehlkonzeption des Nichtdiskriminierungsrechts. Der soziale Konflikt einer Diskriminierung wird danach primär im Wirtschaftssystem verortet. Dann ist es folgerichtig, wenn der immaterielle Schaden als nebensächlich klassifiziert und mit einer, nur ausnahmsweise vorliegenden, Persönlichkeitsrechtsverletzung gleichgesetzt wird.274 Mit diesem Fokus verkennt man die Inklusionsfunktion des Rechtsinstituts.275 Zwar geht es um die Inklusion in das soziale Subsystem der Erwerbstätigkeit, aber der individuelle materielle Schaden aufgrund der Zugangsverweigerung zu dem einen punktuellen Vertrag drückt nicht den gesamten Schaden aus, den eine Person erleidet, wenn sie in einer modernen Gesellschaft aus einem Funktionssystem exkludiert wird.
Nachweise bei Wagner (Fn. 238), S. 392 f. EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-407/14, Arjona Camacho v. Securitas Seguridad España, Rn. 43. EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-407/14, Arjona Camacho v. Securitas Seguridad España, Rn. 40. So aber Mörsdorf (Fn. 16), S. 432 f. Art. 8 Abs. 2 Satz 1 RL 2004/113/EG, Art. 18 Satz 1 RL 2006/54/EG. Wagner (Fn. 238), S. 402. Wagner/Potsch (Fn. 229), S. 1088. Verkannt von Mörsdorf (Fn. 16), S. 431 ff. Exemplarisch Mörsdorf (Fn. 16), S. 428, 450 ff.; Walker, Der Entschädigungsanspruch nach § 15 II AGG, NZA 2009, S. 5 (9). 275 Dazu oben Rn. 18 (C. I.). 266 267 268 269 270 271 272 273 274
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Die diskriminierte Person kann von der passivlegitimierten Partei276 für den Schaden, 46 der nicht Vermögensschaden ist, eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen (§§ 15 Abs. 2 Satz 1, 21 Abs. 2 Satz 3 AGG). Damit setzt das deutsche Recht die unionsrechtlichen Vorgaben um.277 Der Entschädigungsanspruch ist verschuldensunabhängig. Das ist bei § 15 Abs. 2 AGG weitgehend anerkannt,278 für § 21 Abs. 2 Satz 3 AGG aber (noch) umstritten.279 Unionsrechtlich wäre ein Vertretenmüssen jedenfalls für die Kategorien „Geschlecht“, „Rasse und ethnische Herkunft“ unvereinbar mit den Vorgaben der EuGH-Rechtsprechung.280 Für die Effektivität dieser Sanktion kommt es entscheidend darauf an, in welcher Höhe die Gerichte Entschädigungen zusprechen. Eine responsive Privatrechtsdogmatik muss die ausschließlich gleichheitsrechtliche 47 Zielsetzung281 des Entschädigungsanspruchs verarbeiten und den Inhalt des Entschädigungsanspruchs daher genuin gleichheitsrechtlich gestalten. Damit tun sich manche schwer: Wer im ersten Schritt noch für eine gleichheitsrechtliche Ausrichtung plädiert, glaubt im zweiten Schritt doch wieder die Verletzung eines anderen Rechtsguts verlangen zu müssen, weil ein zu restituierender Schaden zwingend an ein verletztes Rechtsgut anknüpfen müsse.282 Hier zieht sich die klassische Privatrechtsdogmatik unelegant aus der Affäre: Anstatt Kriterien für eine genuine Kompensation eines Gleichheitsverstoßes zu ermitteln, stellt sie auf das bekannte und bewährte Kriterium der Persönlichkeitsrechtsverletzung ab – und verfehlt damit die ihr vom Unionsprivatrecht gestellte Aufgabe. Der Gesetzgeber hat den Gerichten ausdrücklich Spielräume für die Konkretisierung 48 des Entschädigungsanspruchs eingeräumt, um den Besonderheiten jedes einzelnen Falls gerecht werden zu können.283 Das erlaubt es, den Entschädigungsanspruch mit den unionsrechtlich gebotenen Funktionen aufzuladen.284 Diese ergänzen die traditionelle Aufgabe des Schadensausgleichs. Der Anspruch hat danach sowohl eine Restitutions- als auch285 eine verhaltenssteuernde Sanktionskomponente.286 Beide Komponenten verfolgen jeweils drei Funktionen: Kompensation der immateriellen Folgen der Ungleichbehandlung, Genugtuung der diskriminierten Person und Anreize zur Prävention zukünftiger Ex276 Dazu oben Rn. 42 ff. (C. II. 3. a) cc)). 277 Dazu oben Rn. 17 (B. II. 3.). 278 Zu § 15 AGG grundlegend BAG, Urt. v. 22.1.2009, 8 AZR 906/07, Rn. 61 m. w. N.; zu Unrecht kritisch
Schweipert, Implizite Vorurteile im Entscheidungsprozess, 2018, S. 236 ff.; a. A. auch Hartmann (Fn. 82), Rn. 44. 279 Dazu Mörsdorf (Fn. 16), S. 437 ff.; Deinert (Fn. 213), § 21 Rn. 65. 280 Thüsing (Fn. 89), § 21 Rn. 39 ff. 281 Vertiefend zur Kritik einer persönlichkeitsrechtlichen Konzeption Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 731 ff.; Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 63 ff. 282 So Benecke (Fn. 242), § 15 Rn. 50; im Ergebnis auch Walker (Fn. 274), S. 8. 283 BT-Drs. 16/1780, S. 38. 284 Zu den Funktionen näher Poelzig (Fn. 65), S. 433 ff. 285 Die traditionelle Auffassung – beispielhaft: Walker (Fn. 274), S. 8; Mörsdorf (Fn. 16), S. 455 – ist sehr zurückhaltend gegenüber der Präventionsfunktion des Ersatzes immaterieller Schäden. 286 Dazu Schweipert (Fn. 278), S. 204 ff. (allerdings aufgrund einer verfehlten persönlichkeitsrechtlichen Konzeption). Michael Grünberger/André Reinelt
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klusionen (Teilhabesicherung).287 Zudem ermöglichen die bestehenden Spielräume, auf die unterschiedlichen sozialen Kontexte, in denen die Kategorisierungen in unterschiedlich starkem Maße relevant werden, angemessen zu reagieren. Das prozentuale Verhältnis von Restitutions- und Sanktionskomponente hängt von der tatsächlichen Schadenshöhe ab: „Ein immaterieller Schaden wird in seiner vollen Höhe restituiert. Wenn dies aber nicht ausreichen sollte, um eine abschreckende Wirkung im europarechtlichen Sinne zu entfalten, wird der Anspruch über den vorliegenden Schaden hinaus aufgestockt.“288 Damit können zwei Bezugspunkte für die Höhe der zu leistenden Entschädigung genannt werden: (1.) der konkrete, gem. § 287 ZPO zu schätzende, immaterielle Schaden und (2.) die Sanktionswürdigkeit des Verhaltens der Normadressat*in.289 An dieser Stelle kann man das Vertretenmüssen anspruchserhöhend berücksichtigen, weil es nicht um die Anspruchsvoraussetzung, sondern um die angemessene Sanktionshöhe geht.290 Man kann damit einerseits zu hohe Entschädigungszahlungen vermeiden, die mittelfristig zu einer geringeren Akzeptanz des Nichtdiskriminierungsrechts beitragen würden, und andererseits kann die Rechtsanwender*in mit Hilfe dieses Instruments das notwendige Sorgfaltsniveau festlegen. Indem die §§ 15 Abs. 2, 21 Abs. 2 Satz 3 AGG Sanktionselemente enthalten, verwirk49 lichen sie zugleich die Teilhabefunktion des Gleichbehandlungsanspruchs.291 Eine mit Sanktionselementen ausgestattete Entschädigungsregel ist funktional ein Instrument indirekter Inhaltskontrolle, um die Maßnahmen der Normadressat*in zu prüfen. Die der Arbeitgeber*in drohenden Nachteile im (praktisch wichtigen) Fall der diskriminierenden Nichteinstellung sind Anreize dafür, bestimmten benachteiligten Gruppenangehörigen Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewähren. Das ist Integration über Vertragsermöglichung.292 Die Teilhabefunktion realisiert sich in der Sanktionierung und verstärkt diese. Erst mit dieser Teilhabedimension erklärt sich – und hier schließt sich der Kreis zur Verantwortungszuweisung als Strukturbrecher293 – die grundsätzliche Sanktionierung der Arbeitgeber*in: Ihre fehlende Bereitschaft, an der von der Rechtsordnung verlangten Integration benachteiligter Gruppen mitzuwirken,294 legitimiert ihre Haftung. Hinsichtlich der konkreten Höhe kann die tatrichterliche Festsetzung einer angemesse50 nen Entschädigung plastisch als „Korridor“ gesehen werden: Nach oben hin darf die Entschädigung für die Arbeitgeber*in nicht existenzgefährdend sein; nach unten hin fordert das Unionsrecht eine Entschädigung, die wirksam, verhältnismäßig und abschreckend ist und nicht nur symbolisch wirken darf.295 Dieser Korridor wird für den Nichtberücksich287 Schweipert (Fn. 278), S. 204 ff., 218 ff., 225 ff.; Benecke (Fn. 242), § 15 Rn. 57 ff. 288 Schweipert (Fn. 278), S. 225; ablehnend Mörsdorf (Fn. 16), S. 456 ff., der immer einen tatsächlichen
Schaden verlangt und daher auf die Persönlichkeitsrechtsverletzung abstellen muss. Schweipert (Fn. 278), S. 235 f. Benecke (Fn. 242), § 15 Rn. 56. Schweipert (Fn. 278), S. 225 ff. Schweipert (Fn. 278), S. 231. Dazu oben Rn. 18 ff. (C. I.). Schweipert (Fn. 278), S. 235. Dazu oben Rn. 15 (B. II. 2. c)).
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tigungsschaden296 zusätzlich begrenzt: § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG sieht eine unionsrechtskonforme Höchstgrenze in Höhe von drei Monatsgehältern vor. Diese Pauschalisierung – nicht das „Ob“, sondern das „Wie“ – ist mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) problematisch. Die Entschädigung wird mit dem wirtschaftlichen Wert der Stelle gekoppelt, für die man nicht berücksichtigt wurde. Das bedeutet, dass gerade im Niedriglohnsektor, wo Diskriminierungen empirisch häufiger auftreten,297 der „Wert“ der Exklusion entsprechend niedrig angesetzt wird.298 Deshalb sollte man diese Höchstgrenze nicht auf andere Fallkonstellationen des § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG übertragen.299 c) Respezifizierung: Staatshaftungsanspruch
Unser Anliegen, übergreifende Prinzipien für ein umfassendes Rechtsfolgenregime zu ent- 51 wickeln, hat dogmatische Brisanz, weil die Umsetzung der Richtlinien im AGG in wichtigen Bereichen des öffentlichen Rechts unzulänglich ist.300 Das gilt insbesondere für den praktisch wichtigen Bildungssektor. Dieser liegt im sachlichen Anwendungsbereich des speziellen Nichtdiskriminierungsrechts (§ 2 Abs. 1 Nr. 7 AGG), gleichwohl fehlt für Bildungseinrichtungen öffentlicher Träger eine ausdrückliche Regelung, mit der die unionsrechtlichen Vorgaben umgesetzt werden. § 2 Abs. 1 AGG eröffnet also einen relativ weiten Anwendungsbereich und § 24 AGG löst dieses Versprechen gegenüber öffentlich-rechtlich regulierten Normadressat*innen nur unzulänglich ein. Damit kommt es zur „Inkongruenz zwischen dem Anwendungsbereich des AGG nach § 2 und seinen materiellen Regelungen“301. Das hat innerstaatlich damit zu tun, dass der Bundesgesetzgeber keine Gesetzgebungskompetenz hat.302 Auf Landesebene findet sich jetzt mit dem LADG Berlin eine Regelung, die mit dem Schadensersatz- und Entschädigungsanspruch (§ 8 LADG) erstmals eigenständige Sekundärrechte nach dem hier analysierten Muster bei einem Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot einführt. Was das in den Richtlinien vorgesehene subjektive Primärrecht auf Gleichbehandlung 52 betrifft, wird die fehlende Umsetzung mit der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinien im hier vorliegenden Vertikalverhältnis ausreichend kompensiert.303 Alternativ kann man das unionsrechtliche Primärrecht auf Nichtdiskriminierung auch kraft richtlinienkonformer Auslegung des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG bzw. – für die dort nicht, im Unionsrecht aber vorgesehenen Kategorien – über Art. 3 Abs. 1 GG zur Wirksamkeit bringen. Probleme 296 Dazu oben Rn. 40 (C. II. 3. a) bb)). 297 Vgl. Speidel, Diskriminierung in der prekären Arbeitsgesellschaft, in: Beelmann/Jonas (Hrsg.), Dis-
kriminierung und Toleranz, 2009, S. 379 ff.
298 Kritisch daher Berghahn/Klapp/Tischbirek (Fn. 257), S. 151 f. 299 BAG, Urt. v. 22.1.2009, 8 AZR 906/07, Rn. 86 (mit anderer Begründung); a. A. Benecke (Fn. 242), § 15
Rn. 65; weitergehend Walker (Fn. 274), S. 9.
300 Zutreffend Rudolf, in: dies./Mahlmann (Hrsg.), Gleichbehandlungsrecht, 2007, S. 255 f. 301 Rudolf (Fn. 300), S. 187 f. 302 Vgl. Tischbirek, Antidiskriminierungsgesetzgebung der Länder im Mehrebenensystem, ZG 2017,
S. 165. 303 Zur unmittelbaren Anwendbarkeit siehe Haltern, Europarecht, Bd. 2, 3. Aufl. 2017, S. 288 ff. Michael Grünberger/André Reinelt
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bereiten aber die nicht ausreichend umgesetzten Rechtsfolgen.304 Art. 3 GG ist diesbezüglich nicht unbedingt eine vorbildliche Konkretisierung.305 Ob man die Richtlinienvorgaben im Vertikalverhältnis unmittelbar anwenden kann, ist zweifelhaft. Das Rechtsfolgenregime in den Richtlinien ist – bis auf die Nichtigkeit306 – nicht inhaltlich unbedingt und hinreichend genau, um ohne Umsetzungsakt unmittelbar anwendbar zu sein.307 Daher kann der Unionsbürger aus der Richtlinie keine Rechtsfolgen unmittelbar ableiten. Die mangelhafte Umsetzung führt zwar nicht zum unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch.308 Vorrangig309 kommt es darauf an, ob das nationale Verfassungsrecht und das klassische öffentlich-rechtliche Sanktionsinstrumentarium – dazu zählt auch das nationale Staatshaftungsrecht – in richtlinienkonformer Interpretation die bestehenden Lücken schließen kann.310 III. Prozeduralisierung 1. Begriff 53 „Prozeduralisierung“ ist ein schillernder Begriff.311 Er beschreibt Prozesse, die typologisch
die „Verschiebung des Regelungsschwerpunktes vom materiellen in das formelle Recht“312 behandeln. Prozeduralisierung im Recht verstehen wir hier als eine Möglichkeit, „den immer komplexer werdenden gesellschaftlichen Herausforderungen und damit verbundenen Regelungs- und Entscheidungsproblemen durch Verfahren und nicht (jedenfalls nicht primär) durch Zunahme an vorweggenommenen materiellen Determinierungen Rechnung zu tragen.“313 Im Nichtdiskriminierungsrecht314 nehmen die prozessualen Durchsetzungsfragen unmittelbaren Bezug zur sozialen Wirklichkeit und die Instrumente der vor- und außergerichtlichen Rechtsdurchsetzung tragen selbst zu materiell interessengerechten Ergebnissen bei. Der Blickwinkel „Prozeduralisierung“ erlaubt es uns, die vielen Orte und Akteure zu sehen, die an der präventiven oder reaktiven Bewältigung der im Fokus des Nicht-
Tischbirek (Fn. 302), S. 168 f. Vgl. aber Kempny/Reimer (Fn. 7), S. 153 ff. Dazu oben Rn. 11 (B. II. 2. a)). Zu diesen Voraussetzungen siehe Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 288 AEUV Rn. 52 f. 308 Anders Rudolf (Fn. 300), S. 187 f. 309 So die ständige Rechtsprechung des EuGH, siehe EuGH, Urt. v. 14.7.1994, Rs. C-91/92, Faccini Dori, Rn. 27; EuGH, Urt. v. 7.3.1996, Rs. C-192/94, Corte Inglés, Rn. 22. Von einer Konzeption der Haftung als „letztes Mittel“ sprechen Jacob/Kottmann, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Stand: Mai 2021, Art. 340 AEUV Rn. 134. 310 Vgl. Tischbirek (Fn. 302), S. 168 f. Zu verschiedenen Konstruktionsmöglichkeiten Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 67 ff. 311 Siehe Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, in: dies. (Hrsg.), Prozeduralisierung des Rechts, 2018, S. 1. Zu den hier nicht angesprochenen Dimensionen vgl. Calliess, Prozedurales Recht, 1999, S. 177; Hirschberger, Prozeduralisierung im europäischen Binnenmarktrecht, 2010, S. 51. 312 Hirschberger (Fn. 311), S. 26. 313 Sheplyakova (Fn. 311), S. 2. 314 Zur Re-Spezifizierung im allgemeinen Gleichbehandlungsrecht siehe Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 80 f. 304 305 306 307
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diskriminierungsrechts gebündelten sozialen Konflikte mitwirken. Damit vermeiden wir die Engführung auf den Gerichtssaal und den ausschließlich juristisch geprägten Diskurs. 2. Prozeduralisierungsansätze im AGG a) Prävention
Das moderne Nichtdiskriminierungsrecht beschränkt sich nicht mehr auf reaktive Maß- 54 nahmen zur „Wiederherstellung“ des verletzten subjektiven Rechts. Zusätzlich schreibt es der Normadressat*in eine Reihe von präventiv wirkenden Maßnahmen vor. Damit verfolgt das Unionsrecht ein Konzept positiver Handlungspflichten, um strukturelle Diskriminierung aufgrund gemeinsamer Maßnahmen aller involvierten Beteiligten zu beseitigen und zu verhindern.315 Das ist ein Baustein des Nichtdiskriminierungsrechts, um dem Problem der individualistisch konzipierten reaktiven Rechtsdurchsetzung zu begegnen: Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen werden durch die bilaterale Struktur des gerichtlichen Verfahrens in gegenüberstehende Lager getrieben. Dadurch wird der Grundsatz der Nichtdiskriminierung einseitig als Beschäftigtenforderung wahrgenommen und nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen.316 Das AGG hat das Konzept präventiver Maßnahmen für das beschäftigungsrechtliche 55 Benachteiligungsverbot in § 12 Abs. 1, 2 und 5 sowie in § 17 Abs. 1 AGG umgesetzt. § 12 Abs. 5 AGG verwirklicht Prävention durch Minimalaufklärung über die Rechte und Pflichten aus dem AGG. § 12 Abs. 1 AGG verpflichtet die Arbeitgeber*in, ihre Beschäftigten vor konkreten Benachteiligungen ausgehend von Arbeitskolleg*innen oder Dritten zu schützen. Die Norm konkretisiert einerseits die im Arbeitsverhältnis wurzelnden Schutzpflichten der Arbeitgeber*in.317 Sie geht aber darüber hinaus, weil sie eine Organisationspflicht zur Verhinderung (Prävention) aller Benachteiligungen und Beseitigung (Wiederherstellung) schafft, auch solcher, die von Personen (Beschäftigten oder Dritten) ausgehen, deren Verhalten der Arbeitgeber*in nicht zurechenbar ist.318 Die Arbeitgeber*in treffen zwei grundsätzliche Pflichten:319 (1.) Vorbeugende Maßnahmen sollen sicherstellen, dass es nicht zu einer Verletzung kommt (§ 12 Abs. 1, 2 und 5 AGG). (2.) Reaktive Maßnahmen sind notwendig, sobald es zu einer Benachteiligung gekommen ist (§ 12 Abs. 3 und 4 AGG).320 Die von der Arbeitgeber*in gewählten vorbeugenden Maßnahmen müssen objektiv321 56 geeignet und erforderlich sein, begrenzt durch die der Arbeitgeber*in rechtlich und tatsächlich zumutbaren Maßnahmen.322 Das ist Ausdruck des auch hier anwendbaren Verhältnismäßigkeitsprinzips.323 In der Praxis übernehmen häufig Compliance- und Ethikrichtlinien 315 316 317 318 319 320 321 322 323
Dazu bereits oben Rn. 10 (B. II. 1.). Benecke/Kern, Sanktionen im Antidiskriminierungsrecht, EuZW 2005, S. 360 (364). Näher Preis/Temming, Arbeitsrecht, 6. Aufl. 2019, S. 388 ff. Serr (Fn. 156), § 12 Rn. 1. Göpfert/Siegrist (Fn. 164), S. 1711. Dazu bereits oben Rn. 25 (C. II. 2.). BT-Drs. 16/1780, S. 37. BT-Drs. 16/1780, S. 37. Näher Serr (Fn. 156), § 12 Rn. 10 ff. Michael Grünberger/André Reinelt
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diese Aufgabe.324 Damit kann die Arbeitgeber*in ihrer allgemeinen Hinweispflicht genügen. Das Gesetz verlangt von ihr zwar aktive Präventionsmaßnahmen, verzichtet aber darauf, konkrete Maßnahmen vorzuschreiben. Sie soll aber im Regelfall Aus- und Fortbildungsmaßnahmen durchführen.325 Das basiert auf der Vermutung, dass die Ziele des AGG besser erreicht werden können, wenn alle Beschäftigten über ihre Pflicht zur Nichtdiskriminierung (vgl. § 7 Abs. 3 AGG) nachhaltig aufgeklärt werden. Eine besondere Rolle im Maßnahmenkatalog haben Schulungen. Ist die Schulung tatsächlich geeignet, den Schutz vor Benachteiligungen im Betrieb zu verbessern, fingiert § 12 Abs. 2 Satz 3 AGG, dass die Arbeitgeber*in damit (zunächst) ihre Schutz- und Organisationspflichten aus § 12 Abs. 1 AGG erfüllt hat. Unklar ist, ob sich die Arbeitgeber*in mit solchen Schulungen auch gegen eine Inanspruchnahme aus § 15 Abs. 1 bzw. Abs. 2 AGG absichern kann.326 Die Arbeitgeber*in mag zwar ihre Pflicht nicht (sorgfaltswidrig) verletzt haben, ihr kann aber das Verhalten Dritter zugerechnet werden.327 Gerade weil § 15 AGG alle Schadensersatzansprüche bei der Arbeitgeber*in konzentriert, wäre andernfalls eine effektive Sanktionierung des Verstoßes nicht möglich. b) Beschwerderecht
Im sachlichen Anwendungsbereich des beschäftigungsrechtlichen Diskriminierungsverbots begründen die Richtlinien implizit eine unternehmensinterne Beschwerdemöglichkeit der von Diskriminierung betroffenen Personen.328 Daher sieht das AGG zur Effektivierung der Rechtsdurchsetzung ein Beschwerderecht zugunsten der Benachteiligten vor (§ 13 Abs. 1 AGG).329 Hier zeigt sich paradigmatisch, wie Prozeduralisierung die Interaktion der verschiedenen am sozialen Vorgang der Diskriminierung beteiligten Gruppen und Individuen koordinieren kann. Die Beschwerdeführer*in hat im Vorfeld eines gerichtlichen Rechtsschutzes drei aus 58 § 13 AGG folgende subjektive Rechte: (1.) das Recht, eine konkrete Beschwerde über eine sie treffende330 (Ausschluss der Popularbeschwerde331) Benachteiligung einzulegen, (2.) das Recht, dass sich eine dafür vorzusehende Stelle mit ihrer Beschwerde befasst und (3.), dass diese Stelle eine begründete332 Entscheidung fällt und ihr mitteilt (§ 13 Abs. 1 Satz 2 AGG).333 Damit muss in jedem Unternehmen bzw. in jeder Dienststelle eine Beschwer57
324 Schneider/Sittard, Ethikrichtlinien als Präventivmaßnahmen i. S. des § 12 AGG?, NZA 2007, S. 654. 325 Umstritten ist, wie intensiv diese Bindung ist, vgl. Roloff, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK Arbeitsrecht,
Stand: Dezember 2021, § 12 Rn. 5 mit Serr (Fn. 156), § 12 Rn. 16. Dafür Serr (Fn. 156), § 12 Rn. 24; Benecke (Fn. 161), § 12 Rn. 19; dagegen Roloff (Fn. 325), § 12 Rn. 11. Dazu oben Rn. 42 (C. II. 3. a) cc)). Art. 9 RL 2000/43/EG, Art. 11 RL 2000/78/EG; Art. 10 RL 2004/113/EG, Art. 24 RL 2006/54/EG. Vertiefend Liebscher/Kobes, Beschwerdestelle und Beschwerdeverfahren nach § 13 AGG, 2010; Maus, Das Beschwerderecht nach dem Seearbeitsgesetz, 2019, S. 125 ff. 330 Zu der Frage, ob eine anonyme Beschwerde zulässig ist, siehe Hartwart, in: Herberger u. a. (Hrsg.), jurisPK-BGB, 9. Aufl., Stand: Februar 2020, § 13 AGG Rn. 17 m. w. N. 331 Allgemeine Auffassung, Schlachter (Fn. 244), § 13 Rn. 1. 332 Das ist umstritten; dafür Hartwart (Fn. 330), § 13 Rn. 24; dagegen Serr (Fn. 156), § 13 Rn. 12. 333 Ausführlich Oetker, Ausgewählte Probleme zum Beschwerderecht des Beschäftigten nach § 13 AGG, NZA 2008, S. 264 ff. 326 327 328 329
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destelle vorhanden sein, die den Sachverhalt umfassend aufklärt und allen betroffenen Personen rechtliches Gehör gewährt.334 Die Arbeitgeber*in entscheidet darüber, wo sie diese einrichtet, ob sie eine schon bestehende Einrichtung zusätzlich mit dieser Kompetenz betraut und wie sie sie ausstattet.335 Die bisherige Praxis zeigt, dass dieses Organisationsermessen zu weit geht: Es gibt kaum ausdrücklich benannte und den Beschäftigten ausreichend bekannte Beschwerdestellen.336 Für die effektive Durchsetzung des Beschwerderechts müsste im Betrieb oder Unternehmen eine eigenständige und unabhängige Beschwerdestelle errichtet werden, damit die betroffenen Beschäftigten ausreichend Vertrauen in die angemessene Wahrung ihrer Belange haben und die Stelle deshalb auch tatsächlich in Anspruch nehmen.337 IV. Viktimisierung 1. Begriff und Funktion
Unter dem Begriff der „Viktimisierung“ verpflichten die Richtlinien die Mitgliedstaaten 59 dazu, „den einzelnen vor Benachteiligungen zu schützen, die als Reaktion auf eine Beschwerde oder auf die Einleitung eines Verfahrens zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes erfolgen“.338 Damit wird eine weitere Eskalationsstufe im sozialen Konflikt der Diskriminierung geschützt: die Reaktion der von der Benachteiligung betroffenen Person oder einer Dritten, die sich gegen die Benachteiligung wehren.339 Dazu zählt im beschäftigungsrechtlichen Anwendungsbereich jede Benachteiligung der Arbeitgeber*in, von der Weigerung, ein Zeugnis auszustellen, bis hin zur Entlassung.340 Der Viktimisierungsschutz soll sicherstellen, dass die von einer Diskriminierung betroffenen Personen nicht davon abgeschreckt werden, ihre Rechte zu verfolgen.341 Vorbild dafür sind die antiretaliation provisions im U. S.-amerikanischen Nichtdiskrimi- 60 nierungsrecht. Das U. S.-Recht trennt konzeptionell zwischen dem Diskriminierungsverbot und dem retaliation-Verbot.342 Daran knüpft das europäische Nichtdiskriminierungsrecht an. Aus unionsrechtlicher Perspektive ist der Schutz vor Viktimisierung ebenfalls Bestandteil des Nichtdiskriminierungsgrundsatzes und dient der effektiven Rechtsdurchsetzung gegen Benachteiligungen.343 Der Wortlaut der Viktimisierungsregeln setzt keine Kocher (Fn 242), § 13 Rn. 19; Hartwart (Fn. 330), § 13 Rn. 23. Näher Hartwart (Fn. 330), § 13 Rn. 2 ff. Berghahn/Klapp/Tischbirek (Fn. 257), S. 130. Berghahn/Klapp/Tischbirek (Fn. 257), S. 131 ff.; vertiefend zu den Folgen eines prozeduralisierenden Zugangs Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 79. 338 Art. 9 RL 2000/43/EG, Art. 11 RL 2000/78/EG, Art. 10 RL 2004/113/EG, Art. 24 RL 2006/54/EG. 339 Benecke, Umfang und Grenzen des Maßregelungsverbots und des Verbots der „Viktimisierung“, NZA 2011, S. 481 (484). 340 EuGH, Urt. v. 22.9.1998, Rs. C-185/97, Coote v. Granada Hospitality Ltd, Rn. 27. 341 EuGH, Urt. v. 22.9.1998, Rs. C-185/97, Coote v. Granada Hospitality Ltd, Rn. 27. 342 US Supreme Court, Burlington Northern and Santa Fe Ry. Co. v. White, 548 U. S. 53, 63 (2006); US Supreme Court, University of Texas Southwestern Medical Center v. Nassar, 570 U. S. 338, 345 (2013). 343 EuGH, Urt. v. 22.9.1998, Rs. C-185/97, Coote v. Granada Hospitality Ltd, Rn. 26; EuGH, Urt. v. 20.6.2019, Rs. C-404/18, Hakelbracht, Rn. 34. 334 335 336 337
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Identität zwischen Merkmalsträger*in und Viktimisierungsopfer voraus. Aus dem Normzweck folgt vielmehr, dass gerade die Beschäftigten, „die sich in einer idealen Position befinden, die diskriminierte Beschäftigte zu unterstützen“ vom Viktimisierungsverbot erfasst sein müssen.344 In zwei Punkten geht das Nichtdiskriminierungsrecht im Europäischen Mehrebenensystem über das U. S.-amerikanische Vorbild hinaus: (1.) Es beschränkt den Tatbestand der Diskriminierung wegen eines Merkmals nicht auf die Merkmalsträger*in selbst.345 (2.) Abweichend vom U. S.-Recht346 gilt die Beweiserleichterung aus § 22 AGG auch für das Maßregelverbot (§ 16 Abs. 3 AGG, § 7 LADG Berlin). 61 Personen, die von ihrem Recht auf Nichtdiskriminierung Gebrauch machen, destabilisieren soziale Hierarchisierungen in der Gesellschaft und ihren Teilsystemen.347 Wer sich auf seinen Anspruch auf Gleichbehandlung beruft, übertritt die ihm aufgrund zugeschriebener Merkmale zugewiesenen sozialen Grenzen; wer als Dritte diesen Anspruch unterstützt, verstößt gegen bislang bestehende soziale Praktiken. Diese Grenzüberschreitung zwingt die Akteure, die diese Praktiken stabilisieren, zum Handeln, wenn der diskriminierende status quo erhalten bleiben soll: Das System „schlägt zurück“ und bringt den Störenfried zum Verstummen. Damit entstehen neue soziale Kosten für die Opfer von Diskriminierungen: Nicht nur, dass sie auf erster Stufe ihre eigenen psychologischen Hemmnisse überwinden müssen, sich als „Opfer“ einer Diskriminierung zu sehen. Sie müssen auf zweiter Stufe auch noch damit rechnen, dass ihre Rechtsausübung gravierende soziale Nachteile mit sich bringt.348 Diesen Kreislauf muss ein effektiv wirkendes Nichtdiskriminierungsrecht unterbrechen.349 2. Maßregelverbot als spezielles Diskriminierungsverbot a) Zielsetzung 62
Das AGG setzt die unionsrechtlichen Vorgaben mit dem Maßregelungsverbot (§ 16 Abs. 1 AGG) um. Das Recht schützt die Freiheit der Beschäftigten, selbstständig und ohne Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen entscheiden zu können, ob und wie sie ihre Rechte aus dem AGG ausüben.350 Das Maßregelungsverbot ist ein spezielles Diskriminierungsverbot auf zweiter Stufe: Es verbietet der Arbeitgeber*in, an die Rechtsausübung anzuknüpfen.351 Daher ist zwischen dem (ersten) Tatbestand: Verletzung des Diskriminierungsverbots (§ 7 AGG) und dem (zweiten) Tatbestand: Verletzung des Maßregelungsverbots zu unterschei344 EuGH, Urt. v. 20.6.2019, Rs. C-404/18, Hakelbracht, Rn. 34 f. 345 EuGH, Urt. v. 17.7.2008, Rs. C-303/06, Coleman v. Attridge Law, Rn. 38. 346 Grundlegend US Supreme Court, University of Texas Southwestern Medical Center v. Nassar, 570
U. S. 338 (2013), wonach die retaliation vom Anspruchsteller anhand des klassischen deliktsrechtlichen Kausalitätsnachweises zu erbringen ist. 347 Grünberger ([2013] Fn. 1), S. 530 ff. 348 Ausführlich Brake, Retaliation, Minnesota Law Review 90 (2005), S. 18 (25–42). 349 Instruktiv der Sachverhalt in US Supreme Court, Burlington Northern and Santa Fe Ry. Co. v. White, 548 U. S. 53 (2006). 350 Vgl. BAG, Urt. v. 15.2.2005, 9 AZR 116/04, Rn. 51. (zur ratio des § 612a BGB). 351 Vgl. BAG, Urt. v. 15.2.2005, 9 AZR 116/04, Rn. 48 ff. (zu § 612a BGB). Michael Grünberger/André Reinelt
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den. Während das Diskriminierungsverbot jede ungerechtfertigte Benachteiligung wegen einer in § 1 AGG erfassten Diskriminierungskategorie untersagt, richtet sich das Maßregelungsverbot speziell gegen das Differenzierungsmerkmal „Inanspruchnahme von Rechten“. Der Wortlaut von § 6 Abs. 1 LADG Berlin bringt diesen Zusammenhang klar zum Ausdruck, weil dort „Benachteiligungen wegen der Inanspruchnahme von Rechten dieses Gesetzes“ geschützt werden. Im Rechtsdurchsetzungsregime des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots fehlt ein Maßregelverbot.352 Das verstößt für die Merkmale „Geschlecht“ sowie „Rasse und ethnische Herkunft“ gegen das Unionsrecht.353 Dieses Umsetzungsdefizit ist mit der unproblematisch möglichen analogen Anwendung des § 16 AGG zu schließen. Die Konfliktlinien der Viktimisierung liegen in den Anspruchsvoraussetzungen und 63 den Rechtsfolgen. Dem liegt die Ausgangsfrage zugrunde, woran sich die Auslegung der Viktimisierungsvorschriften orientieren soll. Die bisherige Rezeption in Deutschland knüpft nahtlos an die Dogmatik zu § 612a BGB an.354 Das ist überraschend, weil das Vorbild der unionsrechtlichen Vorgaben des § 16 AGG die antiretaliation provisions im U. S.amerikanischen Nichtdiskriminierungsrecht, insbesondere § 704(a) Civil Rights Act von 1964, sind. Vor dem Hintergrund der U. S.-Praxis355 wird deutlich, dass die vorgeschlagenen Lösungen auf den Unzulänglichkeiten eines klassisch „deutschen“ Verständnisses beruhen. Unionsrechtlich ist eine gleichheitsrechtliche Konzeption des Maßregelungsverbots geboten. b) Wer trägt das Einschätzungsrisiko?
§ 16 Abs. 1 S. 1 AGG greift ein, wenn die davon geschützte Person entweder eine objektiv 64 rechtswidrige und daher gem. §§ 7 Abs. 1, 3 Abs. 5 AGG i. V. m. § 134 BGB nichtige Anweisung nicht befolgt356 oder wenn sie ihre Rechte ausübt: Dazu zählt die Geltendmachung des primären Rechts auf Gleichbehandlung, die Durchsetzung der primären Rechtsfolgen (Nichtigkeit, Beseitigungsanspruch), der sekundären Ansprüche auf Schadensersatz und Entschädigung (§ 15 AGG), der reaktiven Maßnahmen aus § 12 Abs. 3 und Abs. 4, der präventiven Maßnahmen aus § 12 Abs. 1 und Abs. 2, die Einlegung einer Beschwerde (§ 13) und die Leistungsverweigerung (§ 14). Nach traditionellem Verständnis müssen die materiellen Entstehungsvoraussetzungen tatsächlich vorliegen. Weil es bei den meisten Durchsetzungsinstrumenten – anderes gilt für die Beschwerde („benachteiligt fühlen“) und die Klageerhebung357 – auf die objektive Rechtslage ankommt, trägt die Beschäftigte das Einschätzungsrisiko.358 Damit baut man – auch wenn das selten offengelegt wird – das Kritisch Berghahn/Klapp/Tischbirek (Fn. 257), S. 141. Art. 9 RL 2000/43/EG, Art. 10 RL 2004/113/EG. Ausdrücklich Deinert, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 16 Rn. 7. Zur Zurückhaltung der jüngeren Rechtsprechung siehe aber Long, Retaliation Backlash, Washington Law Review 93 (2018), S. 715. 356 Näher Benecke (Fn. 339), S. 485. 357 Suckow, in: Schleusener/Suckow/Plum (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2019, § 16 Rn. 9. 358 Allgemeine Auffassung, Roloff, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK Arbeitsrecht, Stand: Dezember 2021, § 16 Rn. 2. 352 353 354 355
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Rechtsmissbrauchsverbot in den Tatbestand des Maßregelverbots ein.359 Das ist aber nicht erforderlich – und damit unverhältnismäßig – um ein legitimes Ziel zu erreichen.360 Maßgeblich ist vielmehr, ob eine verständige Person in der Lage der Handelnden ex ante an das Vorliegen einer Benachteiligung berechtigterweise glauben durfte.361 Ist diese Frage zu bejahen und stellt sich später heraus, dass die Benachteiligung gerechtfertigt war oder bereits der objektive Tatbestand nicht gegeben war, darf die Arbeitgeber*in die Beschäftigte nicht aufgrund ihrer fehlerhaften Rechtseinschätzung sanktionieren. Deshalb kommt es bei § 16 Abs. 1 Satz 1 AGG nicht darauf an, ob das behauptete Recht tatsächlich besteht. Trüge die Beschäftigte stets das Irrtumsrisiko, ist die effektive Rechtsdurchsetzung nicht mehr gewährleistet.362 Die negativen Folgen eines Irrtums könnte sie dann nur vermeiden, wenn sie die Beschwerde nach § 13 AGG einlegt oder die Rechtsfolgen einklagt. Wenn man aber für die beiden wichtigsten Fälle des Maßregelungsverbots auf den objektiven Rechtsverstoß verzichtet, sollte man das auch für die nicht ausdrücklich geregelten Möglichkeiten, sich gegen (vermeintliche) Diskriminierungen zu wehren, so handhaben. Damit genügt man den unionsrechtlichen Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz. Sollte im Einzelfall tatsächlich ein missbräuchliches Verhalten der gemaßregelten Person vorliegen, kann § 16 AGG mit dem allgemeinen Instrument des Rechtsmissbrauchs begrenzt werden. Daran sind im Interesse der effektiven Durchsetzung dann strenge Anforderungen zu stellen.363 c) Benachteiligung und Kausalität 65 § 16 Abs. 1 S. 1 AGG verbietet der Arbeitgeber*in jede an die Inanspruchnahme von Rech-
ten anknüpfende „Benachteiligung“. Die Arbeitgeber*in „benachteiligt“, wenn sich die bisherige Rechtsposition der Arbeitnehmer*in irgendwie verschlechtert und ihre Rechte oder Begünstigungen verkürzt werden.364 Das der Arbeitgeber*in zur Verfügung stehende Arsenal ist groß, es reicht von der Kündigung über eine neue Aufgabenzuweisung, die Veränderung der Arbeitszeiten oder den Ausschluss von bestimmten gemeinsamen Veranstaltungen.365 Man darf daher unter einer „Benachteiligung“ nicht nur wirtschaftliche Sachverhalte mit finanziellen Folgen sehen. Die Ausschlusshandlungen können viel subtilere Formen annehmen: „Context matters“.366 66 Zwischen der Benachteiligung und der Inanspruchnahme der Rechte muss ein Zusammenhang bestehen. Nach traditioneller Auffassung muss die zulässige Rechtsausübung „der tragende Grund, d. h. das wesentliche Motiv für die benachteiligende Maßnahme ge-
359 Vgl. Deinert (Fn. 354), § 16 Rn. 22; Bücker, in: Rust/Falke (Hrsg.), AGG, 2007, § 16 Rn. 7; Bauer/Krie-
ger/Günther (Fn. 213), § 16 Rn. 2.
360 Näher mit Verweis auf das U. S.-Recht Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 83 f. 361 Vgl. Kocher (Fn. 241), § 16 Rn. 8 f. 362 Zutreffend Stein, in: Wendeling-Schröder/ders., AGG, 2008, § 16 Rn. 4; näher Berghahn/Klapp/Tisch-
birek (Fn. 257), S. 139 ff. Vgl. Hartwart (Fn. 330), § 16 Rn. 6. BAG, Urt. v. 15.2.2005, 9 AZR 116/04, Rn. 48 ff. (zu § 612a BGB). Vgl. US Supreme Court, Burlington Northern and Santa Fe Ry. Co. v. White, 548 U. S. 53, 69–70 (2006). US Supreme Court, Burlington Northern and Santa Fe Ry. Co. v. White, 548 U. S. 53, 69 (2006).
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wesen sein.“367 Das überzeugt nicht. § 16 AGG ist ein besonderes Diskriminierungsverbot. Wie bei den sonstigen Diskriminierungsverboten im AGG ist ein Kausalzusammenhang zwischen der benachteiligenden Behandlung und der Diskriminierungskategorie bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung an diese (objektiv) anknüpft oder durch diese (subjektiv) motiviert ist. Dabei ist es nicht erforderlich, dass der betreffende Grund das ausschließliche Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist. Ausreichend ist vielmehr, dass der verpönte Anknüpfungsgrund Bestandteil eines Motivbündels ist, welches die Entscheidung beeinflusst hat.368 Die Übertragung dieser allgemeinen Grundsätze wird von § 16 Abs. 3 AGG bestätigt, wonach das System der Beweiserleichterungen ausdrücklich369 auch für das Maßregelverbot gilt.370 Spricht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Anknüpfung der Benachteiligung an die Rechtsdurchsetzung, dann muss die Arbeitgeber*in beweisen, dass ein anderer Grund dafür ausschlaggebend war.371 Damit reagiert das Gesetz auf die enge Verzahnung zwischen der ursprünglichen Diskriminierung und der Maßregelung.372 d) Rechtsfolgen
Ist die rechtswidrige Benachteiligung ein Rechtsgeschäft (Beispiel: Kündigung), ist es gem. 67 § 134 BGB nichtig; rechtsgeschäftsähnliche oder tatsächliche Handlungen (Beispiel: Abmahnung oder Lohnvorenthaltung) sind mit einem actus contrarius zu beseitigen.373 Die traditionelle Auffassung lehnt sekundäre Ansprüche aus dem AGG ab, weil die Maßregelung zwar eine gem. § 280 Abs. 1 BGB zu sanktionierende Pflichtverletzung des Arbeitsvertrags, aber keine Benachteiligung i. S. v. § 3 AGG sei.374 Auch das überzeugt nicht. Im Kontext von Diskriminierungen ist die Wechselwirkung von (primärer) Diskriminierung und (sekundärer) Viktimisierung vielschichtiger als in den übrigen arbeitsrechtlichen Kontexten. Konstruiert man Diskriminierungen als Ausdruck spezifischer Exklusionsregeln und Hierarchisierungen, ist die Person, die sich dagegen wehrt, eine „Aufwieglerin“.375 Mit der Maßregelung setzt die Normadressat*in ihre ursprüngliche Hierarchisierung fort und verstärkt sie. Darauf reagiert eine responsive Rechtsdogmatik, indem sie den Verstoß gegen § 16 AGG als eigenständige Benachteiligung i. S. v. § 15 AGG konzipiert. § 8 Abs. 1 LADG Berlin hat diesen Zusammenhang richtig erkannt. Der Weg über § 15 Abs. 1 AGG ist prak367 BAG, Urt. v. 19. 4. 2012, 2 AZR 233/11, Rn. 47 (zu § 612a BGB). 368 Ständige Rechtsprechung zu § 3 AGG, vgl. BAG, Urt. v. 26.9.2013, 8 AZR 650/12, Rn. 25. 369 Darin unterscheidet sich das deutsche Recht vom U. S.-Recht, weil die federal statutes dort die Beweis-
erleichterungen nur für die primäre Diskriminierung vorsehen, näher US Supreme Court, University of Texas Southwestern Medical Center v. Nassar, 570 U. S. 338, 345 (2013). 370 Siehe Benecke (Fn. 339), S. 485 f. 371 Zu den Problemen dazu im U. S.-Kontext siehe Jain, Realizing the Potential of the Joint Harassment/ Retaliation Claim, Yale Law Journal 117 (2007) S. 120 (162). 372 United Kingdom House of Lords Swiggs u. a. v. Nagarajan, [1999] UKHL 36 (per Lord Nicholls). 373 Näher Hartwart (Fn. 330), § 16 Rn. 14 f. 374 Suckow (Fn. 357), § 16 Rn. 24; Deinert (Fn. 354), § 16 Rn. 43. 375 Dazu oben Rn. 62 (C. IV. 2. a)). Michael Grünberger/André Reinelt
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§ 20 Rechtsfolgen von Diskriminierungen
tisch wichtig, weil dieser Anspruch verschuldensunabhängig376 ist und die Beschäftige insoweit die Beweiserleichterungen des § 22 AGG nutzen kann. 3. Expansion auf Nicht-Merkmalsträger
Das spezielle Diskriminierungsverbot schützt auch die Personen, die die verletzte Person unterstützen (§§ 16 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 AGG, § 6 Abs. 1 Satz 2 LADG Berlin). Damit wird der geschützte Personenkreis ausgeweitet: Jede Person wird vor einer Reaktion der Arbeitgeber*in geschützt, auch und gerade dann, wenn sie selbst nicht Merkmalsträger*in ist, aber eine vom primären Diskriminierungsverbot geschützte Person verteidigt.377 §§ 16 AGG, 6 LADG Berlin sind nicht akzessorisch. Die dritte Person ist nicht nur dann geschützt, wenn sich die diskriminierte Person zur Erhebung einer Beschwerde oder zur Geltendmachung von Ansprüchen entschließt.378 Eine solche Beschränkung ist unionsrechtswidrig.379 Der Schutz käme dann nur den Unterstützern „offensiver“ Diskriminierungsopfer zugute. Wir wissen aber, dass mit der Geltendmachung von Diskriminierungsvorwürfen und der damit verbundenen Rechtsverfolgung erhebliche soziale Kosten verbunden sind, die einer „offensiven“ Durchsetzung häufig entgegenstehen.380 Es genügt jede Form von Unterstützung. Damit schützt das Recht auch das frühe Stadium eines Nichtdiskriminierungsfalles, wo es ganz besonders auf die Hilfe anderer Beschäftigter ankommt, um überhaupt die Rechte in Anspruch zu nehmen.381 69 Nach überwiegender Meinung muss die unterstützende Person selbst Beschäftigte (§ 6 Abs. 1 AGG) sein.382 Das überzeugt nicht. Der Text von § 16 Abs. 1 Satz 2 AGG spricht lediglich von „Personen“. Aus § 12 Abs. 4 AGG folgt, dass die Arbeitgeber*in auch gegen nichtbeschäftigte Dritte tätig werden muss. Dann leuchtet es nicht ein, dass ein solcher Dritter – wenn er die diskriminierte Person unterstützt – von der Arbeitgeber*in dafür sanktioniert werden kann. Das zeigt ein Fall aus der Praxis:383 Der Personalberater P hat eine nicht eingestellte Bewerberin F bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche aus § 15 AGG gegen seine Vertragspartnerin A unterstützt, die die F allein deshalb nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen hatte, weil sie eine Frau ist. Daraufhin wurde P von A, seiner vormaligen Vertragspartnerin, aus § 280 Abs. 1 BGB auf Ersatz der Kosten verklagt, die diese an die F leisten musste. Das OLG hat der Klage teilweise stattgegeben, der Klägerin aber – immerhin – den Anspruch wegen ihres Mitverschuldens um 2/3 gekürzt! Die Ent68
Dazu oben Rn. 38 (C. II. 3. a) aa)). Vgl. Erwägungsgrund 32 RL 2006/54/EG. Zum Problem siehe Benecke (Fn. 339), S. 485. EuGH, Urt. v. 20.6.2019, Rs. C-404/18, Hakelbracht, Rn. 34 ff. Dazu Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 90 ff. Vgl. Brake (Fn. 348), S. 77 f. Adomeit/Mohr, AGG, 2. Aufl. 2011, § 16 Rn. 24; Benecke, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: September 2021, § 16 Rn. 10; Hartwart (Fn. 330), § 16 Rn. 8; Serr (Fn. 156), § 16 Rn. 4; Roloff (Fn. 358), § 16 Rn. 4. 383 OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 8.5.2014, 16 U 175/13. 376 377 378 379 380 381 382
Michael Grünberger/André Reinelt
C. Konfliktlinien
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scheidung und ihre Begründung sind falsch.384 Es ist offensichtlich, dass die Rechtsdurchsetzung der diskriminierten Frau – nicht zuletzt aufgrund der restriktiven Rechtsprechung zum Auskunftsanspruch abgelehnter Bewerber*innen385 – ohne die konkreten Informationen des Personalberaters nicht erfolgreich gewesen wäre: Es hätte keine Anhaltspunkte für die Beweislastumkehr des § 22 AGG gegeben. Der Dritte ist in solchen Konstellationen – als Nichtmerkmalsträger – „the only effective adversary“386 der diskriminierenden Praxis. Dann ist es Aufgabe einer responsiven Rechtsdogmatik, sicherzustellen, dass dieser Agent des Gleichbehandlungsgrundsatzes vor dem „Zurückschlagen“ der diskriminierenden Person geschützt wird. Dafür muss man § 16 Abs. 1 Satz 2 AGG fruchtbar machen: Der Wortlaut setzt keine Identität zwischen Merkmalsträger und Viktimisierungsopfer voraus. Ebenfalls nicht notwendig ist die Identität des auf erster Stufe Benachteiligten (der F) mit dem auf zweiter Stufe Gemaßregelten (dem P). Unser Fall passt: P stand als Dritter der F – diese ist als Bewerberin Beschäftigte nach § 6 Abs. 2 Satz 2 AGG – bei und unterstützte sie maßgeblich. Deshalb kann A die der F geleistete Entschädigung nicht gem. § 280 Abs. 1 BGB von P zurückfordern.
384 Eingehende Kritik bei Grünberger, Bürgerliches Recht und Gleichheit, in: Klippel/Löhnig/Walter
(Hrsg.), Grundlagen und Grundfragen des Bürgerlichen Rechts, 2016, S. 101 (104 ff.).
385 EuGH, Urt. v. 19.4.2012, Rs. C-415/10, Galina Meister v. Speech Design Carrier Systems GmbH, Rn. 46;
BAG, Urt. v. 25.4.2013, 8 AZR 287/08, Rn. 56. Vertiefend zum Problem Grünberger/Reinelt (Fn. 17), S. 73 f.
386 US Supreme Court, Sullivan v. Little Hunting Park, Inc, 396 U. S. 229, 237 (1969); US Supreme Court,
CBOCS West, Inc. v. Humphries, 553 U. S. 442, 447 (2008); vertiefend dazu Grünberger, The Principle of Equal Treatment in Triangular Relationships, Working Paper, 2009, https://papers.ssrn.com/sol3/papers. cfm?abstract_id=3422336. Michael Grünberger/André Reinelt
§ 21 Strafrechtlicher Schutz vor Diskriminierungen und Hasskriminalität Anja Schmidt* Inhaltsübersicht Rn. A.Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Diskriminierungskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Straftat mit diskriminierendem Vorurteilsmotiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Spezifische Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Indizien für das Vorliegen eines Hassdelikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hasskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorurteilskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Diskriminierungskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6 6 7 11 12 14 15 18 21
C. Diskriminierungsschutz als Aufgabe des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Strafwürdigkeit von Diskriminierungskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutz der Grundlagen gleicher Freiheit als Aufgabe des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorgaben im internationalen und europäischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zu berücksichtigende Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grund- und menschenrechtliche Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschränkung auf marginalisierte Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sozialdarwinistische Motive/sozialer Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antipluralistische Motive/politische und weltanschauliche Einstellung . . . . . . . . . . . . . e) (Bipolarhetero-) sexistische Motive/Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f ) Intersektionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einwand der überflüssigen Sonderdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einwände der Uferlosigkeit und des politisch motivierten Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einwand des Gesinnungsstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22 23 25 26 31 34 36 38 41 43 46 52 53 53 55 57
D. Erfassung von Diskriminierungskriminalität im materiellen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. § 46 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. 2. Hs. StGB als allgemeine Strafzumessungsregel . . . . . . . . . . . . . . . . II. Cyber Harassment, einschließlich Hate Speech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59 60 65
* Mein herzlicher Dank gilt Inga Schuchmann, Anna Katharina Mangold, Mehrdad Payandeh, Leonie
Steinl und Joachim Renzikowski für konstruktives Feedback und klärende Diskussionen sowie Katharina Wommelsdorff für die sorgfältige Textredaktion. Anja Schmidt
882
§ 21 Strafrechtlicher Schutz vor Diskriminierungen und Hasskriminalität
1. Erscheinungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. In Betracht kommende Straftatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Insbesondere: Volksverhetzung gem. § 130 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Netzwerkdurchsetzungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gewaltdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. In Betracht kommende Straftatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Diskriminierendes Vorurteilsmotiv als sonst niedriger Beweggrund gem. § 211 Abs. 2 5. Alt. StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66 68 73 78 79 79 81
E. Strafjustizielle Bewältigung von Diskriminierungskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Pflichten zur Ermittlung diskriminierender Tatmotive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Statistische Erfassung als Politisch motivierte Kriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erkennen und Verarbeiten von Diskriminierungskriminalität im Verfahrensverlauf . . . . . .
84 85 87 89
F. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
A. Einleitung Der Gedanke, dass das Strafrecht ein Mittel zum Schutz gegen Diskriminierung sein könnte, mag im deutschen Rechtsraum befremden. Diskriminierend können aber nicht nur dem Staat zuzurechnende Verhaltensweisen gegenüber den Rechtsunterworfenen oder Verhaltensweisen zwischen privaten Rechtsunterworfenen zivilrechtlicher Natur sein. Diskriminierendes Verhalten kann auch strafbares Unrecht darstellen, beispielsweise wenn eine Person beleidigt oder geschlagen wird, weil sie homosexuell ist. Die Frage ist dann, inwieweit der Aspekt der Diskriminierung für die strafrechtliche Würdigung des Verhaltens relevant ist bzw. sein sollte. 2 Aufgrund eines vermehrten Aufkommens rechtsextremer und rassistischer Gewalt beschäftigte sich die deutsche, vor allem kriminologische, Forschung seit den 1990er Jahren mit dem Phänomen, der Konzeptualisierung und justiziellen Verarbeitung von Hasskriminalität und erarbeitete teils Vorschläge zur Änderung des Strafrechts.1 Sie knüpfte dabei an das in den USA entwickelte Hate-Crime-Konzept an.2 Seit dem Jahr 2000 wurden von 1
1 Vgl. insbesondere Kugelmann, Möglichkeiten effektiver Strafverfolgung bei Hasskriminalität, Rechts-
gutachten für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2015; Lang, Vorurteilskriminalität, 2014; Glet, Sozialkonstruktion und strafrechtliche Verfolgung von Hasskriminalität in Deutschland, 2011; Krupna, Das Konzept der „Hate Crimes“ in Deutschland, 2009; Schneider, Hass- und Vorurteilskriminalität, in: Schneider (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie, Bd. 2, 2009, S. 297 ff.; Coester, Hate Crimes, 2008; Aydin, Die strafrechtliche Bekämpfung von Hassdelikten in Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika, 2006; Deutsches Forum Kriminalprävention (DFK), Arbeitsgruppe: Primäre Prävention von Gewalt gegen Gruppenangehörige, insbesondere: junge Menschen, Endbericht, 2003; Schneider, Hasskriminalität, JZ 2003, S. 497 ff.; Seehafer, Strafrechtliche Reaktionen auf rechtsextremistisch/fremdenfeindlich motivierte Gewalttaten, 2003; Tolmein, Strafrechtliche Reaktionsmöglichkeiten auf rassistisch motivierte Gewaltdelikte, ZRP 2001, S. 315 ff. 2 Einen Überblick über die US-amerikanische Entwicklung geben Coester (Fn. 1); Aydin (Fn. 1); Glet (Fn. 1), S. 9 ff. Zur wissenschaftlichen Diskussion vgl. unter anderem Citron, Hate Crimes in Cyber Space, 2014; Gerstenfeld, Hate Crimes, 2011; Perry u. a., Hate Crimes, Vol. 1 bis 5, 2009; Woods, Taking the Hate out of Hate Crimes, UCLA Law Review 56 (2008), S. 489; Hurd/Moore, Punishing Hatred and Prejudice, Anja Schmidt
A. Einleitung
883
einzelnen Bundesländern Gesetzesanträge zur effektiveren Bekämpfung von Hasskriminalität eingebracht, blieben jedoch erfolglos.3 Erst die Aufdeckung der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU)“ im Jahr 2011, die sich vor allem gegen beliebige Personen aus Einwander:innenfamilien richtete4 und deshalb als Hasskriminalität verstanden werden kann, führte im Jahr 2015 letztlich doch zu einer rechtlichen Reform. Insbesondere wurde § 46 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. 2. Hs. StGB dahingehend ergänzt, dass bei der Strafzumessung „besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ Beweggründe und Ziele der Täter:innen zu berücksichtigen sind.5 Auch gegenwärtig kommt es vermehrt zu rechtsextremer, rassistischer und antisemi- 3 tischer Gewalt. Große öffentliche Aufmerksamkeit galt dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2.6.2019, wegen dessen kritischer Äußerungen zu migrationsfeindlichen Haltungen,6 dem antisemitisch motivierten Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) am 9.10.2019,7 sowie dem rassistisch motivierten Anschlag auf zwei ShishaBars in Hanau am 19.2.2020, bei dem, neben dem Täter und seiner Mutter, neun Menschen aus Einwander:innenfamilien starben. Auch Phänomene wie Cyber Harassment und Hate Speech werden vermehrt diskutiert. Das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität vom 30.3.20218 nimmt diese Phänomene in den Blick. Unter anderem wurde in § 46 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. 2. Hs. StGB der Begriff „antisemitisch“ ergänzt.9 Zudem wurden mit § 126a StGB das gefährdende Verbreiten personenbezogener Daten und mit § 192a StGB die verhetzende Beleidigung unter Strafe gestellt.10 Im Folgenden werden wichtige Aspekte der kriminologischen und das Strafrecht be- 4 treffenden Debatte zu Hasskriminalität nachvollzogen und um eigene Überlegungen zur Konzeptualisierung und Strafwürdigkeit von Hasskriminalität als DiskriminierungskrimiStanford Law Review 56 (2004), S. 1081; Perry, In the Name of Hate, 2001; Harel/Parchomovsky, On Hate and Equality, Yale Law Journal 109 (1999), S. 507; Lawrence, Punishing Hate, 1999; Jacobs/Potter, Hate Crimes, 1998; Jacobs/Potter, Hate Crimes, Crime and Justice 22 (1997), S. 1; Lawrence, The Punishment of Hate, Michigan Law Review 93 (1995) S. 320. 3 Vgl. Baden-Württemberg, BR-Drs. 564/00; Brandenburg, BR-Drs. 577/00; Mecklenburg-Vorpommern, BR-Drs. 759/00; Brandenburg/Sachsen-Anhalt, BR-Drs. 572/07; Bundesrat 458/08 (B); MecklenburgVorpommern/Sachsen-Anhalt, BR-Drs. 71/10; umfassend hierzu Lang (Fn. 1), S. 162 ff.; Krupna (Fn. 1), S. 59 ff. 4 Umfassend hierzu → Geneuss, § 27. 5 Seit dem 1.8.2015 aufgrund des Gesetzes zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages vom 12.6.2015, BGBl. 2015 I, S. 925. Näher zu § 46 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. 2. Hs. StGB unter Rn. 60 ff. (D. I.). 6 Vgl. dazu OLG Frankfurt, Urt. v. 28.1.2021, 5–2 StE 1/20–5a–3/20. 7 Vgl. dazu OLG Naumburg, Urt. v. 21.12.2020, 1 St 1/20. 8 BGBl. 2021 I, S. 441. 9 Vgl. dazu Bundesregierung, BR-Drs. 87/20, S. 9, 15 f.; BT-Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 19/17741, S. 6, 17 f. 10 Durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes gegen sogenannte Feindeslisten, Strafbarkeit der Verbreitung und des Besitzes von Anleitungen zu sexuellem Missbrauch von Kindern und Verbesserung der Bekämpfung verhetzender Inhalte sowie Bekämpfung von Propagandamitteln und Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen v. 14.9.2021, BGBl. 2021 I, S. 4250. Anja Schmidt
884
§ 21 Strafrechtlicher Schutz vor Diskriminierungen und Hasskriminalität
nalität ergänzt. Zunächst wird das Phänomen der Hasskriminalität nebst den dafür etablierten Begriffen erläutert. Dabei wird der Begriff der Diskriminierungskriminalität eingeführt (B.). Dem folgen Überlegungen zu deren besonderen Strafwürdigkeit; dies schließt die Auseinandersetzung mit Einwänden hiergegen ein (C.). Anschließend wird erläutert, inwiefern das materielle Strafrecht Diskriminierungskriminalität erfasst, insbesondere im Hinblick auf Strafzumessung, Cyber Harassment, einschließlich Hate Speech, und Gewaltdelikte. Dabei wird vorgeschlagen, die Volksverhetzung gem. § 130 StGB konsequent als Tatbestand gegen Diskriminierung auszulegen (D.). Abschließend wird kurz erläutert, dass Diskriminierungskriminalität noch nicht ausreichend von der Strafjustiz erfasst und bearbeitet wird (E.). 5 Der Beitrag beschränkt sich auf Überlegungen zu strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen, die diskriminieren, um die Frage zu beantworten, ob und wie Strafrecht vor Diskriminierung schützen kann und sollte. Hier soll nur kurz darauf hingewiesen werden, dass auch strafrechtliche Rechtssetzung und die Praxis der Strafjustiz grund- und menschenrechtswidrig diskriminieren können. Ein inzwischen historisches Beispiel für diskriminierende Rechtssetzung waren die besonderen Verbote männlich-homosexueller Handlungen in § 175 f. StGB.11 Derzeit diskutiert wird, ob das Verbot allein des männlichen Exhibitionismus durch § 183 StGB einen grundrechtswidrigen Gleichheitsverstoß darstellt.12 Hinsichtlich diskriminierender Rechtsanwendung wird zum Beispiel aufgezeigt, wie die Strafjustiz selbst rassistisch agiert.13
B. Diskriminierungskriminalität I. Phänomen 6 Mit der kriminologisch genauen Beschreibung des Phänomens der Hass- oder Vorurteils-
kriminalität soll dessen „wahrer Unrechtsgehalt“ erfasst und seine bessere Vorbeugung und Kontrolle ermöglicht werden.14
11 Vgl. hierzu Kappe, Die Fabrikation des Abnormen, KJ 1991, S. 205; Lautmann, Wie man Außenseiter
draußen hält, KJ 1979, S. 1.
12 Vgl. hierzu Reformkommission zum Sexualstrafrecht, Abschlussbericht, 2017, S. 229 ff., S. 370; Wol-
ters, Wertungswidersprüche bei den Schutzaltersgrenzen im dreizehnten Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs (?), in: Reformkommission zum Sexualstrafrecht, Abschlussbericht, 2017, S. 1370 (1376 f.); Weigend, Tatbestände zum Schutz der Sexualmoral, ZStW 129 (2017), S. 513 (520 f.); Wolters, Der kleine Unterschied und seine strafrechtlichen Folgen, GA 2014, S. 556 (558 ff.); BVerfG, Beschluss v. 22.3.1999, 2 BvR 398/99, Rn. 2; Sick, Zweierlei Recht für zweierlei Geschlecht, ZStW 103 (1991), S. 43 (83 ff.). 13 Vgl. zum Diskriminierungsschutz in der Rechtspflege → Geneuss, § 27; Louw, Erfahrungen von Opfern rassistischer Taten mit der Justiz, in: DIMR (Hrsg.), Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln, Ein Reader für die Strafjustiz, 2018, S. 64 ff. 14 Vgl. Schneider, Hass- und Vorurteilskriminalität, in: Schneider (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie, Bd. 2, 2009, S. 297 (298). Anja Schmidt
B. Diskriminierungskriminalität
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1. Straftat mit diskriminierendem Vorurteilsmotiv
Hass- oder Vorurteilsdelikte sind Delikte, die von den Täter:innen gegen die Opfer auf- 7 grund deren (angenommener) Zugehörigkeit zu einer marginalisierten Gruppe begangen werden. Das Opfer wird aufgrund eines diskriminierenden Vorurteils ausgewählt, also nicht, wie bei allgemeiner Kriminalität, zufällig unabhängig von seinem Status (z. B. bei einem Raub) oder aus bestimmten persönlichen Gründen (z. B. aufgrund eines schwelenden persönlichen Konflikts).15 Im „Guidelines Manual“ der United States Sentencing Commission der USA werden als Hassdelikte Straftaten verstanden, bei denen der:die Täter:in das Opfer aufgrund der tatsächlichen oder angenommenen Rasse, Hautfarbe, Religion, Nationalität, ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Geschlechtsidentität, Behinderung oder sexuellen Orientierung ausgesucht hat.16 Im Leitfaden der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) zu „Gesetzen gegen ‚Hate Crime‘“ werden als Hasskriminalität Delikte definiert, die durch ein Vorurteilsmotiv gekennzeichnet sind, und zwar unabhängig von der Art des Delikts.17 Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) zählt als Beispiele für Hasskriminalität „Gewalt und Straftaten“ auf, „die durch Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, religiöse Intoleranz oder durch Vorurteile gegenüber der Behinderung, der sexuellen Ausrichtung oder Geschlechtsidentität einer Person motiviert sind“.18 Im deutschen Recht ist der Begriff nicht gesetzlich definiert. In der Begründung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG)19 wird davon ausgegangen, dass „Hasskriminalität und andere strafbare Inhalte, die nicht effektiv bekämpft und verfolgt werden können, (…) eine große Gefahr für das friedliche Zusammenleben einer freien, offenen und demokratischen Gesellschaft [bergen]“. Näher wird erläutert, dass durch Hasskriminalität und andere strafbare Inhalte „jede und jeder aufgrund der Meinung, Hautfarbe oder Herkunft, der Religion, des Geschlechts oder der Sexualität diffamiert werden [kann]“.20 Teils wird davon ausgegangen, dass Hassdelikte folgende Besonderheiten aufweisen: 8 das Opfer soll nicht als individuelle Person, sondern als Mitglied einer Gruppe getroffen werden (Austauschbarkeit), das diskriminierende Opfermerkmal wird als unveränderlich betrachtet (Unveränderbarkeit) und das Opfer ist leicht verwundbar (Opfer-Verwundbarkeit).21 Dies sollte jedoch nicht als abschließender Merkmalskatalog verstanden werden, 15 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 50; Glet (Fn. 1), S. 11 f.; Coester (Fn. 1), S. 19 ff., insb. S. 25 ff.; Lawrence, The Pu-
nishment of Hate, Michigan Law Review 93 (1995) S. 320 (343); Lawrence, Punishing Hate, 1999, S. 9.
16 Vgl. United States Sentencing Commission, 2021 Guidelines Manual, § 3A1.1. (a). 17 Vgl. OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR), Gesetze gegen „Hate
Crimes“, Ein praktischer Leitfaden, 2011, S. 16.
18 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (European Union Agency for Fundamental Rights,
FRA), https://fra.europa.eu/de/theme/hasskriminalitat.
19 Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungs-
gesetz, NetzDG) v. 1.9.2017, BGBl. 2017 I, S. 3352.
20 BT-Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 18/12356, S. 1, gleichlautend Bundesregierung, BT-
Drs. 18/727, S. 1. Zum NetzDG vgl. unter Rn. 78 (D. II. 4.).
21 Vgl. Schneider (Fn. 14), S. 297 (300).
Anja Schmidt
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§ 21 Strafrechtlicher Schutz vor Diskriminierungen und Hasskriminalität
vielmehr dürften diese Besonderheiten typische Erscheinungsweisen von Hasskriminalität beschreiben.22 Kritisiert wird dabei das Merkmal der „Austauschbarkeit“. Zwar ist es typisch für Hasskriminalität, dass das Opfer anhand des diskriminierenden Merkmals ausgewählt wird, allerdings kann auch bei einer sozialen Nahtat, also bei der Auswahl eines persönlich bekannten, individuellen Tatopfers, oder bei der Auswahl eines individuellen prominenten Tatopfers eine Rolle spielen, dass der:die Täter:in es einer marginalisierten Gruppe zuordnet.23 Ob und inwiefern auch hier eine spezifische Form von Hasskriminalität vorliegt und wie sich dies auf die Strafbarkeit des:der Täter:in auswirken sollte, wird in diesem Beitrag exemplarisch für geschlechtsdiskriminierende Gewalt erörtert.24 9 Hasskriminalität ist also durch zwei Elemente gekennzeichnet: ein (1) ohnehin strafbares Verhalten, das (2) aus einem Vorurteilsmotiv heraus begangen wurde. Der:die Täter:in hat das Opfer der Straftat aufgrund einer diskriminierenden Zuschreibung ausgesucht. Auf diese Weise kann jedes strafbare Verhalten aufgrund der besonderen Motivation des:der Täter:in ein Hassdelikt sein.25 Es gibt aber auch Delikte wie die Volksverhetzung gem. § 130 StGB (vgl. auch Art. 1 (a), (b) RB 2008/913/JI), bei denen ein Verhalten unter Strafe gestellt ist, weil es sich unmittelbar gegen eine bestimmte Gruppe von Personen richtet.26 10 Die marginalisierte Gruppe kann zum Beispiel durch die Zuschreibung zu einer Rasse, Religion, Nationalität, Ethnie, sexuellen Orientierung, einem Geschlecht, einer Geschlechtsidentität oder zu einer geistigen oder körperlichen Beeinträchtigung definiert werden.27 Die Mordserie des rechtsextremen NSU war beispielsweise hinsichtlich der neun ermordeten Menschen aus Einwander:innenfamilien rassistisch motiviert. Wenn ein Mann im öffentlichen Raum körperlich angegriffen wird, weil er eine Kippa trägt, liegt ein antisemitisches Vorurteil als Tatmotiv vor, wenn zwei Männer, die sich im öffentlichen Raum küssen, beleidigt werden, ein homophobes. Die Frau, die auf der Straße spontan durch eine Einzelperson bespuckt und beleidigt wird, weil sie das muslimische Kopftuch trägt, wird sexistisch, antimuslimisch28 und rassistisch29 motiviert angegriffen. 22 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 460 f.; Schellenberg, Hasskriminalität und rassistische Gewalt, in: Ellebrecht/Kauf-
mann/Zoche (Hrsg.), (Un-)Sicherheiten im Wandel, 2019, S. 43 (48 f.).
23 Vgl. Steinl, Hasskriminalität und geschlechtsbezogene Gewalt gegen Frauen, Zeitschrift für Rechts-
soziologie 38 (2018), S. 179 (185 f.); Lawrence, Punishing Hate, 1999, S. 16. 24 Vgl. unten unter Rn. 46 (C. II. 3. e)). 25 BDIMR (Fn. 17), S. 16; Steinl (Fn. 23), S. 184 f.; Lawrence, The Punishment of Hate, Michigan Law Review 93 (1995) S. 320 (363). 26 Näher zu § 130 StGB unter Rn. 73 ff. (D. II. 3.). 27 Vgl. Schneider (Fn. 14), S. 297 (300); FBI, Hate Crime Data Collection Guidelines and Training Manual, 2015, S. 4. 28 Vgl. Holzleithner, Bekleidungsvorschriften und Genderperformance, Gutachten für die Gleichbehandlungsanwaltschaft v. 21.10.2015, S. 48 ff. 29 Das ist umstritten, vgl. Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 267 ff., 88 ff. Ihm zufolge geht es um die Abgrenzung einer homogenen deutschen Identität gegenüber dem Islam bzw. einer muslimischen Kultur. Zur Verwendung des Begriffs Rassismus statt Fremdenfeindlichkeit vgl. ebd., S. 122 f. Zum Ganzen auch → Barskanmaz, § 7 Rn. 17. Anja Schmidt
B. Diskriminierungskriminalität
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2. Spezifische Auswirkungen 11 Hasskriminalität weist gegenüber allgemeiner Kriminalität vier Besonderheiten auf:30 (1) Das individuelle Opfer wird ausgewählt, weil es einer marginalisierten Gruppe zugeschrieben wird. Es wird durch die Tat selbst diskriminiert und entindividualisiert,31 indem es in seinen konkreten Freiheitsrechten verletzt wird, weil es „als Exemplar“ einer Gruppe mit einem (vorgeblich) unveränderbaren Wesenszug herabgesetzt werden soll.32 (2) Neben dem Tatopfer sind alle anderen Angehörigen der marginalisierten Gruppe betroffen, weil das konkrete Opfer aufgrund der Zuschreibung zu dieser Gruppe ausgewählt wurde, also auch die Gruppe getroffen werden soll. Die „Botschaft“ der Tat wirkt über das individuelle Opfer hinaus gegenüber anderen Gruppenangehörigen und ähnlich diskriminierten Gruppen. Hassdelikte werden deshalb auch als „Botschaftsverbrechen“ bezeichnet.33 Plastisch wird das am Terror des NSU, bei dem wahllos Opfer ausgesucht wurden, weil man sie für Migranten hielt. Hiermit sollte Angst und Schrecken unter den Menschen aus Einwandererfamilien in Deutschland ausgelöst werden.34 (3) Hassverbrechen sind aufgrund ihres diskriminierenden Tatmotivs auch auf besondere Weise gemeinschaftsschädigend. Sie greifen die Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens in einer Gesellschaft an, in der die gleiche Würde aller Menschen auch spezifisch in dem Anspruch, nicht diskriminiert zu werden, ein grundlegender Gemeinschaftswert ist.35 (4) Als weiterer Aspekt der Gemeinschaftsschädigung werden der „fatale Aufforderungscharakter an Gleichgesinnte“36 und die Gefahr der gesellschaftlichen Zersplitterung benannt, die zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen führen kann.37
3. Indizien für das Vorliegen eines Hassdelikts
Ob tatsächlich ein Hass- oder Vorurteilsdelikt vorliegt, kann nur anhand der Umstände 12 des Einzelfalls ermittelt werden. Konkret identifizierbar sind Hass- und Vorurteilsverbrechen anhand unterschiedlicher Indikatoren, die etwas mit den äußeren Umständen der Viktimisierung und dem zugeschriebenen Opferstatus zu tun haben. Zu den äußeren Umständen der Viktimisierung gehören etwa charakteristische Tatorte und -zeiten, Äußerungen, die auf ein Vorurteilsmotiv deuten, z. B. schriftliche oder mündliche Kommentare der Täter:innen bzw. Gesten oder Gebärden, die deren Tun begleiten oder sogar BekenAusführlich zum Forschungsstand Glet (Fn. 1), S. 45. Vgl. Lawrence (Fn. 25), S. 344 f.; Perry (Fn. 2), S. 46, 55. Dazu → Baer, § 5 Rn. 51 ff. Vgl. Schneider (Fn. 14), S. 300; BDIMR (Fn. 17), S. 20 f.; Lang (Fn. 1), S. 50, 461; Lawrence (Fn. 25), S. 345 f. 34 Vgl. → Geneuss, § 27 Rn. 1 ff. und 15 ff. 35 Vgl. Schneider, Opfer von Hassverbrechen junger Menschen, MSchKrim 84 (2001), S. 357 (368); Lawrence (Fn. 25), S. 347; Lawrence (Fn. 23), S. 167 f.; vgl. auch BDIMR (Fn. 17), S. 19 f.; DFK (Fn. 1), S. 8 f., allerdings ist hier nur von der Unantastbarkeit der Menschenwürde als Gemeinschaftswert die Rede. Zur Verknüpfung von Menschenwürde und Gleichheit ausführlich unten Rn. 26 f. (C. II. 1.); → Hong, § 2 Rn. 10. 36 DFK (Fn. 1), S. 9. 37 Vgl. BDIMR (Fn. 17), S. 21. 30 31 32 33
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nerschreiben. Auch die anscheinende Motivlosigkeit eines Verbrechens an einem Mitglied einer marginalisierten Gruppe kann ein Indiz sein. Außerdem kann auf ein Hass- oder Vorurteilsverbrechen deuten, dass der:die Täter:in früher schon einmal derartige Delikte begangen hat.38 Es wird auch darauf verwiesen, dass Hassdelikte oft besonders brutal sind, dass sich Täter:in und Opfer häufig nicht kennen und Täter:innen oft spontan agieren.39 Der Prozess der Ermittlung der Motive im einzelnen Fall ist dabei nicht nur den 13 Schwierigkeiten ausgesetzt, die beim Nachweis von Tatmotiven generell bestehen. Er ist auch abhängig von der Sensibilität für und den subjektiven Wertungen und Einstellungen der ermittelnden Personen zu Diskriminierung und steht in engem Zusammenhang mit der medialen Aufbereitung einer Tat.40 Obwohl Hass- und Vorurteilsdelikte im Namen einer bestimmten als dominierend angenommenen oder gewünschten Bevölkerungsgruppe verübt werden, müssen diese Delikte nicht von strukturierten Gruppierungen geplant und ausgeführt werden. Sie können auch von Einzeltäter:innen begangen werden, die eine bestimmte Gruppenideologie vertreten,41 wie die Anschläge auf die Synagoge in Halle (Saale) am 9.10.2019 und die Shisha-Bars in Hanau am 19.2.2020 zeigen. II. Begriffe 14
Zur Kategorisierung von Straftaten, die sich gegen eine Person aufgrund deren Zuschreibung zu einer marginalisierten Gruppe richten, werden unterschiedliche Begriffe diskutiert. Dazu gehören hate crimes/Hasskriminalität, rechte Gewalt, neonazistische Gewalt, bias crimes/Vorurteilskriminalität, gruppenfeindliche Gewalttaten, menschenfeindliche Gewalt und Diskriminierungsgewalt.42 Hier wird vorgeschlagen, den Begriff Diskriminierungskriminalität zu verwenden. Er wird im Folgenden in Abgrenzung zu den zwei etablierten Begriffen – Hasskriminalität und Vorurteilskriminalität – erläutert. 1. Hasskriminalität
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Herkömmlich wird der Begriff Hasskriminalität/hate crimes verwendet. Er steht in einer angloamerikanischen Tradition.43 In den USA wurde der rechtliche Umgang mit hate crimes bereits in den 1980er Jahren diskutiert. Es ging dabei vor allem um Delikte, die auf Vorurteilen gegen die Rasse, Religion, sexuelle Orientierung oder ethnische Herkunft beruhten.44 1995 trat der „Hate Crimes Sentencing Enhancement Act“ in Kraft. Die United States Sentencing Commission wies mit diesen verbindliche Strafzumessungsrichtlinien die Bundesgerichte an, die Strafe bei einer Tat mit einem Motiv, das an Rasse, Hautfar38 Vgl. Schneider (Fn. 14), S. 301; vgl. auch FBI (Fn. 27), S. 5 f. 39 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 461. 40 Vgl. Glet (Fn. 1), S. 32 ff.; Lang (Fn. 1), S. 232 ff.; → Geneuss, § 27, sowie unten unter Rn. 87 ff. (E. II. und
III.). 41 Vgl. Schneider (Fn. 14), S. 307. 42 Kritisch mit Nachweisen erläutert bei Lang (Fn. 1), S. 36 ff. 43 Vgl. Coester (Fn. 1), S. 19 ff.; Aydin (Fn. 1), S. 9 ff. 44 Vgl. Glet (Fn 1), S. 9 ff.; Jacobs/Potter, Hate Crimes, 1998, S. 4 ff., 29 ff. Anja Schmidt
B. Diskriminierungskriminalität
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be, Religion, Nationalität, ethnische Herkunft, Geschlecht, Behinderung oder die sexuelle Orientierung einer Person anknüpft, um drei Strafstufen zu schärfen.45 Mit dem „Matthew Shepard and James Byrd, Jr., Hate Crimes Prevention Act of 2009, 18 U. S. C. § 249“ wurde in den USA erstmals eine bundesweit geltende Norm geschaffen, die diskriminierend motivierte Gewaltdelikte erfasst.46 Auch außerhalb der USA wird der Begriff verwendet. Beispielsweise beschlossen die 16 Teilnehmerstaaten der OSZE im Jahr 2003, Maßnahmen zur Bekämpfung von Hasskriminalität zu ergreifen. Im Jahr 2004 verpflichteten sie sich dazu zu erwägen, in bestimmten Hinsichten diskriminierend motivierte Hassdelikte zu verbieten.47 Die FRA sieht es als Aufgabe der EU und ihrer Mitgliedstaaten an, die Sichtbarkeit von Hasskriminalität zu erhöhen und die Täter:innen zur Verantwortung zu ziehen. Sie dokumentiert vor allem die Datenerhebung der Mitgliedstaaten zu Hasskriminalität.48 Die Begründung des NetzDG nimmt auf den Begriff der Hasskriminalität Bezug.49 Das am 3. Juli 2020 im Bundestag beschlossene Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität führen den Begriff im Titel. Der Begriff Hasskriminalität ist grundlegender Kritik ausgesetzt.50 Der Wortbestand- 17 teil „Hass“ legt nahe, dass es letztlich nur um ein problematisches affektives, persönlichemotionales Handeln geht. Ein solches Handeln als Form von Kriminalität zu begreifen, ist zwar kriminologisch sinnvoll, um Täter:innenmotivationen zu verstehen und Konzepte zur Bekämpfung dieser Kriminalitätsformen zu entwickeln. Hasskriminalität würde dann aber nur als psychologisches Problem behandelt, das auf einer rein kommunikativen Ebene, unabhängig vom Strafrecht, als pathologische Interaktionsstörung bearbeitet werden müsste.51 Das Verkürzen auf die individuelle Ebene der Täter:innenmotivation verfehlt zudem die gesellschaftlich-strukturelle Dimension von Rassismus, Sexismus, Behindertenfeindlichkeit usw. Außerdem wird die besondere Betroffenheit der Opfer von Hasskriminalität und der Gruppen, denen das Opfer angehört und die im Sinne der über die Tat hinausweisenden „Botschaft“ mitgemeint sind, verkannt.52 Eine Tat aus Hass muss zudem nicht immer eine Tat sein, die auf Vorurteilen gegenüber bestimmten Gruppen beruht, sie kann sich auch unmittelbar gegen individuelle Personen ohne ein diskriminierendes Vorurteilsmotiv richten.53 45 Vgl. United States Sentencing Commission, 1995 Guidelines Manual, § 3 A1.1. (a). 46 Vgl. Matthew Shepard and James Byrd, Jr. Hate Crimes Prevention Act of 2009, 18 U. S. C. § 249, Public
Law No. 111–84 v. 28.10.2009; dazu Glet (Fn. 1), S. 10 f.
47 Vgl. BDIMR (Fn. 17), S. 7 f.; OSCE Permanent Council, Decision No. 621, Tolerance and the Fight
against Racism, Xenophobia and Discrimination v. 29.7.2004, PC.DEC/621.
48 FRA (Fn. 17) sowie FRA, Hate Crime, https://fra.europa.eu/en/theme/hate-crime/projects. 49 Vgl. BT-Fraktionen der CDU/CSU und SPD BT-Drs. 18/12356, S. 1, gleichlautend Bundesregierung
BT-Drs. 18/727, S. 1.
50 Umfassender Lang (Fn. 1), S. 37 ff. 51 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 38. 52 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 37 ff.; DFK (Fn. 1), S. 9; Steinl (Fn. 23), S. 185; Keiser, Unerlässliches zur Verteidi-
gung der Rechtsordnung gegen sogenannte Hasskriminalität, ZRP 2010, S. 46.
53 Vgl. Lawrence (Fn. 23), S. 9; Krupna (Fn. 1), S. 13; vgl. auch Keiser (Fn. 51), S. 46.
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2. Vorurteilskriminalität
Da Hassdelikte aus gruppenbezogenen Vorurteilen heraus begangen werden, wird zunehmend der Begriff bias crimes/Vorurteilskriminalität verwendet.54 Ein Vorurteil ist eine ablehnende Haltung gegenüber einer fremden Gruppe und deren Mitgliedern, wobei die Fremdheit über gesellschaftliche Definitionsprozesse mittels (vermeintlichem) Wissen, Stereotypen und negativen Bewertungen über die „Anderen“ konstruiert wird.55 Die Straftat muss aufgrund eines solchen Vorurteils begangen worden sein. 19 Der Begriff des Vorurteils ist hinsichtlich der Motivation des:r Täter:in deutlich präziser als der des Hasses. Denn es wird nicht auf eine individuelle emotional-affektive Haltung abgestellt, sondern auf eine Denkweise, die die gesellschaftliche Dimension von Vorurteilskriminalität miterfassen kann. Obwohl damit eine begriffliche Präzisierung gelungen ist, ist auch der Begriff der Vorurteilskriminalität umstritten. Denn dem Begriff des Vorurteils wohnt die „Tendenz der Individualisierung eines gesellschaftlichen Phänomens“ inne.56 Zudem kann ein Vorurteil nach dem allgemeinen Wortverständnis auch ein voreiliges Urteil über eine individuelle Person sein.57 Diesem Einwand wird begegnet, indem der Begriff des Vorurteils strafrechtsspezifisch auf Vorurteile gegenüber Gruppen konkretisiert wird.58 Das Deutsche Forum für Kriminalprävention (DFK) fasst Vorurteilskriminalität zum Beispiel als „Gewaltstraftaten gegen Personen oder Sachen, die der Täter vor dem Hintergrund eines eigenen Gruppenzugehörigkeitsgefühls gegen ein Mitglied einer anderen Gruppe aufgrund deren Eigenschaft – wie Rasse, Nationalität, Religion, sexueller Orientierung oder sonstiger Lebensstile – ausführt und damit beabsichtigt, alle Fremdgruppenmitglieder einzuschüchtern und die Eigengruppe zu entsprechenden Taten aufzufordern“.59 In einem solchen Begriff des Vorurteils gegenüber Gruppen wird zudem deutlich, dass es in einem gesellschaftlichen Identifikations- und Zuschreibungsprozess gebildet wird, an dem der:die Täter:in teilhat und über den sich auch die über die individuelle Dimension der Tat hinausgehende „Botschaft“ der radikalen Ablehnung einer Fremdgruppe fassen lässt. Bemängelt wird aber, dass der Begriff zu weit und unbestimmt ist, soweit er sich generell auf die Ablehnung einer Gruppe bezieht. K. Lang merkt an, dass so die hinter der Diskriminierung stehende Ideologie der Ungleichwertigkeit, also gesellschaftliche Machtverhältnisse, die zur Marginalisierung bestimmter Gruppen und zur Bevorzugung anderer Gruppen führen, nicht berücksichtigt wird.60 20 Die zitierte Definition des DFK beschränkt den Begriff der Vorurteilskriminalität auf Gewaltstraftaten, d. h. es sollen nur Delikte erfasst werden, mit denen versucht wird, dem 18
54 BDIMR (Fn. 17), S. 18 f.; DFK (Fn. 1), S. 8; Coester (Fn. 1), S. 20 ff.; Lang (Fn. 1), S. 48 f.; Jacobs/Potter,
Hate Crimes, Crime and Justice 22 (1997), S. 1 (2); Lawrence (Fn. 25), S. 320 f.; Jacobs/Potter (Fn. 44), S. 11; Lawrence (Fn. 23), S. 9. 55 Vgl. DFK (Fn. 1), S. 10; Lang (Fn. 1), S. 43. 56 Lang (Fn. 1), S. 43. 57 Ausführlich zur Unbestimmtheit des Begriffs Jacobs/Potter (Fn. 44), S. 11 ff. 58 Vgl. Lawrence (Fn. 23), S. 11 f. 59 Vgl. DFK (Fn. 1), S. 12. 60 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 44. Anja Schmidt
C. Diskriminierungsschutz als Aufgabe des Strafrechts
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Tatopfer körperlichen Schaden oder psychischen Schmerz zuzufügen, sei es durch Einwirkung auf eine Sache.61 Diese Beschränkung irritiert, weil der Begriff Gewalt im strafrechtlichen Zusammenhang anders als im sozialwissenschaftlichen gebraucht wird. Zudem ist der strafrechtliche Gewaltbegriff unscharf und umstritten.62 Phänomene wie Cyber Harassment und Hate Speech werden vom strafrechtlichen Gewaltbegriff aufgrund des fehlenden körperlichen Bezuges nicht erfasst, obwohl auch Beeinträchtigungen psychischer Art erheblich und mit körperlicher Gewalt vergleichbar sein können, worauf der Begriff der „digitalen Gewalt“ verweist.63 Der Streit um den strafrechtlichen Gewaltbegriff und die damit verbundenen Abgrenzungsprobleme können hier nicht entschieden werden.64 Wichtig ist, festzuhalten, dass das Tatopfer als Person, die einer marginalisierten Gruppe zugeordnet wird, unmittelbar getroffen werden soll. 3. Diskriminierungskriminalität
Die treffende Bezeichnung müsste verdeutlichen, dass der:die Täter:in die Tat begeht, weil 21 er:sie das Opfer einer marginalisierten Gruppe zuschreibt und als solches herabsetzen will. Wenn jemand aufgrund der Zuschreibung zu einer Gruppe herabgesetzt wird, wird er:sie diskriminiert.65 Der:die Täter:in diskriminiert also das Opfer mit der Tat. Deshalb sollte der Begriff Diskriminierungskriminalität verwendet werden.66 Begriffe wie „gruppenfeindliche Gewalttat“ oder „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ verdeutlichen zwar auch den Aspekt des Gruppenbezuges, allerdings zeigen sie nicht an, dass es um marginalisierte Gruppen geht.
C. Diskriminierungsschutz als Aufgabe des Strafrechts Zu erläutern ist nun, ob und inwiefern diskriminierende Vorurteilsmotive bei der Bekämp- 22 fung von Kriminalität besonders berücksichtigt werden müssen. I. Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts
Heute wird üblicherweise davon ausgegangen, dass es Aufgabe des Strafrechts ist, Rechts- 23 güter zu schützen. Damit sollen Grund, Zweck und Grenzen staatlichen Strafens markiert werden. Ein Eingriff in die Grundrechte der Bürger:innen durch Strafrecht, unter anderem Vgl. DFK (Fn. 1), S. 11 f. Vgl. nur Sinn, in: MüKo StGB, Bd. 4, 4. Aufl. 2021, § 240 Rn. 31 ff. Näher hierzu unter Rn. 66 f. (D. II. 1.). Hier sei nur kurz darauf hingewiesen, dass der Gewaltbegriff der Istanbul-Konvention auch psychische Gewalt bzw. psychische Schäden umfasst, vgl. Art. 3 lit. a, b; Art. 33 IK. 65 Vgl. Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 5; → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 3, 63, 83. 66 Näher zur Beschränkung auf marginalisierte Gruppen unter Rn. 38 ff. (C. II. 3. b)). In der Sache ebenso Perry (Fn. 2), S. 3: „… hate crime is a mechanism of power intended to sustain somewhat precarious hierarchies (…). It is generally directed toward those whom our society has traditionally stigmatized and marginalized.“ 61 62 63 64
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in die Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG und bei Freiheitsstrafen in die Freiheit der Person gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 GG, ist demnach nur möglich, wenn hierdurch ein legitimer Zweck in verhältnismäßiger Weise verfolgt wird. Strafrecht soll ultima ratio, also mildestes notwendiges Mittel staatlichen Handelns sein, das sozialschädliches Verhalten verhindert.67 Die überwiegende Auffassung geht auf dieser Basis davon aus, dass die strafrechtliche Sanktionierung eines Verhaltens nur legitim ist, wenn Rechtsgüter gefährdet oder verletzt werden.68 Das BVerfG hat formuliert, dass der strafende Eingriff in die Grundrechte der Bürger:innen nur möglich ist, um „die Gesellschaft vor sozialschädlichem Verhalten zu bewahren und die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen“.69 Abgesehen von der Zirkularität dieser Formulierung bleibt unbestimmt, was ein Rechtsgut, sozialschädliches Verhalten oder elementare Gemeinschaftsgüter sind, was also das ist, das so schützenswert ist, dass es strafrechtliche Eingriffe in die Grundrechte der Bürger:innen rechtfertigt.70 24 Dies zu begründen gelingt über den Gedanken der staatlichen Schutzpflicht unter Rückgriff auf die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates. Der Staat ist demnach als Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols verpflichtet, die Rechte der Bürger:innen durch Strafrecht zu schützen. Die zu schützenden Rechte der Bürger:innen werden nicht als beliebig betrachtet, es geht um die Sicherung der Freiheit als Rechtszustand.71 Der Staat greift mit dem Strafrecht also in freiheitsschützende Grundrechte ein, um freiheitsschützende Grundrechte der Bürger:innen gegen grundlegende Verletzungen durch andere Bürger:innen zu schützen (mittelbare Drittwirkung der Grundrechte). Die Strafrechtspflege ist insofern zweifach an die Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien gebunden, genauer gegenüber den Bürger:innen, deren Freiheitsrechte gegen Verletzungen durch Strafrecht geschützt werden, und beim Strafen selbst gegenüber den Bürger:innen, die mittels des Strafrechts belangt werden.
67 Vgl. Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK StGB, Bd. 1, 5. Aufl. 2017,
vor § 1 Rn. 108 f.; Renzikowksi, in: Matt/ders. (Hrsg.), StGB, 2. Aufl. 2020, Einl. Rn. 1 f.; BVerfGE 21, 391 (403) – Disziplinarstrafe (1967); BVerfGE 45, 187 (254) – Lebenslange Freiheitsstrafe (1977); BVerfGE 88, 203 (258) – Schwangerschaftsabbruch II (1993); BVerfGE 90, 145 (172) – Cannabis (1994); BVerfGE 96, 245 (249) – Besonders schwerer Nachteil (1997); BVerfGE 120, 224 (239) – Geschwisterbeischlaf (2008). 68 Vgl. Hassemer/Neumann (Fn. 67), vor § 1 Rn. 109, 111. 69 BVerfGE 45, 187 (254) – Lebenslange Freiheitsstrafe (1977); vgl. auch BVerfGE 27, 18 (29) – Ordnungswidrigkeitenrecht 1969; relativierend hinsichtlich des gesetzgeberischen Ermessensspielraumes BVerfGE 120, 224 (240) – Geschwisterbeischlaf (2008). 70 Vgl. hierzu und zu weiteren Kritikpunkten m. w. N. Hassemer/Neumann (Fn. 67), vor § 1 Rn. 116 ff., insb. 118; Wohlers in: (Hrsg.), Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 281 ff. 71 Vgl. unter anderem Renzikowksi (Fn. 67), Einl. Rn. 1; Greco, Was lässt das Bundesverfassungsgericht von der Rechtsgutslehre übrig?, ZIS 2008, S. 234 (237); Gierhake, Der Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Recht, 2013, S. 178 f., 449 ff. m. w. N. Mit dem Kriterium des Freiheits- oder Autonomieschutzes lässt sich der Begriff des schutzwürdigen Rechtsguts konkretisieren, die Rechtsgutslehre aber auch ablehnen. Vorliegend kommt es nur darauf an, dass das Kriterium des Freiheitsschutzes relevant ist. Anja Schmidt
C. Diskriminierungsschutz als Aufgabe des Strafrechts
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II. Strafwürdigkeit von Diskriminierungskriminalität
Der Gedanke des staatlichen Freiheitsschutzes durch Strafrecht ist um den Aspekt des 25 Schutzes gleicher Freiheit zu ergänzen. 1. Schutz der Grundlagen gleicher Freiheit als Aufgabe des Strafrechts
Zuzustimmen ist der Überlegung, dass Strafrecht gegen grundlegende Freiheitsverletzun- 26 gen der Bürger:innen schützt. Denn der Schutz der Freiheit der Bürger:innen ist legitimierender Zweck staatlicher Gewalt. Deshalb ist die Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes verankert und der Staat gem. Art. 1 Abs. 3 GG an die freiheitssichernden Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden. Aufgabe des Strafrechts ist es, grundlegende, existentielle Verletzungen der Freiheit der Einzelnen zu unterbinden und zu ahnden.72 Freiheit wird dabei als Wesensmerkmal aller Menschen gedacht. Sie kann nur im Miteinander wechselseitiger Anerkennung als Freie entstehen und ermöglicht wechselseitige Anerkennung als gleichermaßen Freie. Freiheit ist damit immer notwendig und von vornherein mit Gleichheit verwoben. Wir sind als Freie auf nichthierarchische Weise gleich, also auch reziprok in gleicher Freiheit anzuerkennen.73 Auch das Grundgesetz geht in der Auslegung des BVerfG von der „Idee der gleichen Selbstbestimmung aller“ aus.74 Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit sind insofern als nichthierarchische, gleichwertige Eckpunkte eines Dreiecks zu denken.75 Ein menschenwürdiges Dasein ist demnach eines in gleicher Anerkennung als freie Per- 27 son. Dies bedeutet nicht, dass wir in allem gleich sind und dass Recht nicht differenzieren dürfte. Vielmehr ist gerade die abstrakte gleiche Freiheit mit Vielfalt verbunden, die zwangsläufig zu Konflikten und Ungleichheiten führt. Welche Differenzierungen im wechselseitigen Miteinander legitim sind und damit auch die Frage, welche Differenzierungen der Staat bei der Regulierung des Zusammenlebens vornehmen darf, ist (ebenso wie das Primat gleicher Freiheit im zwischenmenschlichen Verhältnis) Gegenstand historischer, 72 Vgl. Schmidt, Strafe und Versöhnung, 2012, S. 110 ff.; Wolff, Das neuere Verständnis von Generalprä-
vention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität, ZStW 97 (1985), S. 786 (819).
73 Vgl. unter anderem Wapler, Gleichheit angesichts von Vielfalt als Gegenstand des philosophischen
und juristischen Diskurses, VVDStRL 78 (2019), S. 53 (58 f.); Mahlmann, Die Ethik des Gleichbehandlungsrechts, in: Mahlmann/Rudolf (Hrsg.), Gleichbehandlungsrecht, 2007, § 1 Rn. 10 f.; vgl. als Autoren, die oft eher freiheitsorientiert gelesen werden, aber auch die Reziprozität der Freiheit betonen Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, 1987, S. 137 (175, 178 ff.); Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797/98), Bd. 8 der Werkausgabe, hrsg. v. Weischedel, 3. Aufl. 1997, A 166 f., B 196 f.; Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785/86), hrsg. v. Weischedel, Die Kritiken, 3. Aufl. 1997, BA 100 f.; Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (1690), übersetzt von Hoffmann, herausgegeben von Euchner, 7. Aufl. 1998, II. § 54. 74 Vgl. BVerfGE 44, 125 (142) – Öffentlichkeitsarbeit (1977); vgl. auch BVerfGE 144, 20 (207 f., Rn. 541) – NPD-Verbotsverfahren (2017); vgl. zu den Menschenrechten unter anderem die erste Zeile der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte „… die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte …“. 75 Vgl. Baer, Dignity, Liberty, Equality, University of Toronto Law Journal 59 (2009), S. 417 (418 ff.); konkretisiert in Bezug auf die Meinungsfreiheit bei Hassrede durch Bredler/Markard, Grundrechtsdogmatik der Beleidigungsdelikte im öffentlichen Raum, JZ 2021, S. 864 (868 ff.) → Hong, § 2. Anja Schmidt
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auch mit rechtlichen Mitteln geführter Aushandlungsprozesse. Für die Bundesrepublik Deutschland stellt Art. 3 Abs. 2, 3 GG klar, dass Ungleichbehandlungen grundsätzlich nicht an das Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöse oder politische Anschauungen oder Behinderung geknüpft werden dürfen.76 28 Bezogen auf den legitimen Sinn des Strafrechts bedeutet dies, dass Strafrecht grundlegende, existentielle Verletzungen einer anderen Person, nicht nur als freie Person, sondern auch als gleich anzuerkennende Person, zu verhindern und gegebenenfalls zu ahnden hat. Damit ist zunächst gemeint, dass eine (individuelle Rechtsgüter verletzende) Straftat die betroffene Person nicht nur in ihrer Freiheit, sondern zugleich immer auch in ihrem Anspruch auf gleiche Anerkennung verletzt. Darüber hinaus können strafrechtlich aber auch spezifische Gleichheitsverletzungen erfasst werden. Eine solche spezifische Gleichheitsverletzung liegt vor, wenn jemand durch die Straftat nicht nur in seinem Leib, Leben oder Eigentum betroffen ist, sondern auch betroffen ist, weil er:sie als Mitglied einer marginalisierten Gruppe getroffen werden soll, obwohl diese Gruppe rechtlich als gleichwertig anzuerkennen ist.77 29 Damit ist umrissen, warum Diskriminierungskriminalität gegenüber allgemeiner Kriminalität in besonderer Weise strafwürdig ist, sodass eine Strafschärfung geboten ist:78 Die davon betroffene Person wird nicht nur in ihren Freiheitsrechten als gleich anzuerkennende Person missachtet, sie wird auch spezifisch als jemand missachtet, der:die durch die Tat zugleich als einer marginalisierten Gruppe zugehörig abgewertet wird. Die Tat enthält selbst ein marginalisierendes Unwerturteil über das Opfer, es wird damit entindividualisiert.79 Über die Person des Opfers hinaus betrifft das marginalisierende Unwerturteil des:der Täter:in die marginalisierte Gruppe, der das Opfer zugeschrieben wird, insgesamt.80 Diskriminierungskriminalität stellt auf diese Weise eine grundlegende Missachtung der Notwendigkeit der Anerkennung in gleicher Freiheit aufgrund grund- und menschenrechtswidriger Ungleichwertigkeitsideologien dar. Damit werden zugleich die Grundlagen eines freiheitlichen pluralen Rechtsstaates angegriffen.81 Indem die Strafe als staatliche Reaktion auf die diskriminierende Tat gegenüber anderer Kriminalität erhöht wird, drückt diese die besondere Missbilligung diskriminierender Taten aus und bestä76 Vgl. Wapler (Fn. 72), S. 59 f., 61 ff.; vgl. auch Mangold (Fn. 65), S. 306 ff. 77 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 316; vgl. auch den Gesetzesantrag Mecklenburg-Vorpommerns BR-Drs. 759/00,
S. 2. Zur staatlichen Schutzpflicht aus verfassungsrechtlicher Perspektive vgl. Magen, Kontexte der Demokratie: Parteien – Medien – Sozialstrukturen, in: VVDStRL 77 (2017), S. 67 (89 f.). 78 Vgl. auch Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung, 2017, S. 575 f.; BDIMR (Fn. 17), S. 23; Lang (Fn. 1), S. 311 ff.; eine Unrechts- und Schuldsteigerung bejaht auch Seehafer (Fn. 1), S. 69 f.; Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht, 2007, S. 489 f.; vgl. zudem Schneider (Fn. 14), S. 315: Schutz gesellschaftlicher Vielfalt als Ziel der Vorbeugung gegen Hassverbrechen. Zu den spezifischen Auswirkungen der Tat vgl. oben Rn. 11 (B. I. 2.). 79 Vgl. Tolmein (Fn. 1), S. 316; Lawrence (Fn. 25), S. 344 f.; Perry (Fn. 2), S. 46, 55. 80 Vgl. Schneider (Fn. 14), S. 300; BDIMR (Fn. 17), S. 20 f.; Lang (Fn. 1), S. 50, 461; Lawrence (Fn. 25), S. 345 f. 81 Vgl. Schneider (Fn. 14), S. 368; Lawrence (Fn. 25), S. 347; vgl. auch BDIMR (Fn. 17), S. 19 f.; DFK (Fn. 1), S. 8 f.; Lawrence (Fn. 23), S. 167 f. Anja Schmidt
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tigt den grundlegenden Anspruch der marginalisierten Gruppe auf Gleichbehandlung als grundlegenden gesellschaftlichen Wert.82 Die besondere Strafwürdigkeit von diskriminierender Kriminalität wird auch damit be- 30 gründet, dass die Täter:innen häufig besonders brutal vorgehen und dadurch schwerwiegende Schäden verursachen.83 Diese Aspekte sind auch relevant für die Strafzumessung, allerdings sind sie konkret für jede Straftat zu bewerten, wie bei anderen Straftaten auch.84 Die besondere Strafwürdigkeit von diskriminierender Kriminalität als solcher ergibt sich aus der spezifischen Herabwürdigung des Tatopfers in der Zuschreibung zu einer marginalisierten Gruppe und der damit verbundenen Infragestellung der Grundlagen des freiheitlich-pluralen Rechtsstaates. 2. Vorgaben im internationalen und europäischen Recht
Das internationale Recht enthält konkretere Vorgaben für die strafrechtliche Sanktionie- 31 rung und Verfolgung von Diskriminierungskriminalität. Art. 4 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung (ICERD)85 enthält konkrete Pflichten, bestimmte Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen. Hierzu gehören das Verbreiten rassistischer Ideen, das Aufreizen zur Rassendiskriminierung oder zu rassistischen Gewalttätigkeiten, rassistische Gewalttätigkeiten und die Unterstützung rassenkämpferischer Betätigung. Der Rahmenbeschluss RB 2008/913/JI vom 28.11.2008 zur strafrechtlichen Bekämp- 32 fung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit86 bezieht sich auf Straftaten, die aufgrund der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder der nationalen oder ethnischen Herkunft des Opfers begangen wurden. Der Verweis auf die Religion soll zumindest insofern erfasst sein, als er zum Vorwand genommen wird, rassistische oder fremdenfeindliche Handlungen zu begehen (Art. 1 Abs. 3 RB 2008/913/ JI). Zum Beispiel haben die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die öffentliche Aufstachelung zu Gewalt oder Hass oder das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen, die sich gegen eine so definierte Personengruppe oder eines ihrer Mitglieder richten, unter Strafe zu stellen, auch in Form der Strafbarkeit von Anstiftung und Beihilfe zu diesen Taten (Art. 1 Abs. 1, 2 RB 2008/913/JI). Die strafrechtlichen Sanktionen müssen wirksam, angemessen und abschreckend sein (Art. 3 RB 2008/913/JI). Außerdem haben die Mitgliedstaaten Maßnahmen zu treffen, dass auch bei anderen als den eben umrissenen Straftaten rassistische und fremdenfeindliche Beweggründe als erschwerender Umstand in die Strafzumessung einfließen (Art. 4 RB 2008/913/JI). Wesentlicher ErwäVgl. Lawrence (Fn. 23), S. 167 f. Vgl. Lang (Fn. 1), S. 313 f. Vgl. Grosse-Wilde (Fn. 78), S. 572 ff. Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung v. 7.3.1966, BGBl. 1969 II, S. 961. 86 Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit v. 28.11.2008, ABl. 2008 L 328/55.
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gungsgrund für diese Vorgaben ist, dass „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (…) unmittelbare Verstöße gegen die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit dar[stellen]“ (Erwägungsgrund (1) RB 2008/913/JI).87 33 Das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention, IK)88 versteht Gewalt gegen Frauen als eine Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung der Frau (Art. 3 lit. a IK). Es enthält die Verpflichtung, verschiedene Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen (Art. 33 bis 43 IK), unter anderem psychische Nachstellung als wiederholte Bedrohung einer anderen Person, körperliche Gewalt, nicht einverständliche sexuell bestimmte Handlungen, Zwangsheirat und die Verstümmelung weiblicher Genitalien, einschließlich der Anstiftung und Beihilfe hierzu.89 Außerdem enthält das internationale und europäische Recht Vorgaben zur strafrechtlichen Verfolgung von diskriminierenden Straftaten aus rassistischen Motiven und für Taten, die wegen der Religionszugehörigkeit und der politischen Überzeugung des Opfers begangen wurden.90 3. Zu berücksichtigende Gruppen
Die diskriminierten Gruppen, auf die sich der Begriff der Hasskriminalität bezieht, sind historisch im jeweiligen kulturellen Kontext gewachsen.91 Beispielsweise bezieht sich der Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates lediglich auf die strafrechtliche Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Dies schließt nicht aus, dass nach den nationalstaatlichen Regelungen auch andere Vorurteilsmotive strafrechtlich relevant sein können. § 46 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. 2. Hs. StGB beispielsweise erwähnt ausdrücklich neben rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven auch sonstige menschenverachtende Beweggründe und Ziele als für die Strafzumessung relevant. 35 Dies wirft die Frage auf, welche Gruppenzuschreibungen vom Konzept der Diskriminierungskriminalität erfasst sein sollten. Wie wichtig diese Debatte ist, zeigen die amerikanischen Hate-Crime-Gesetze, die nicht nur Vorurteile bezüglich Rasse, Religion, ethnischer/nationaler Herkunft, sexueller Orientierung und Behinderung erfassen, sondern beispielsweise auch Vorurteile wegen des Alters, ehelichen Status, persönlichen Erscheinungsbildes/Stils, familiärer Verantwortung, höherer Bildung/Reife.92 Auch Begriffe wie „Deutschenfeindlichkeit“ oder „Rassismus gegen Weiße“ tauchen auf und suggerieren, dass es Diskriminierungskriminalität gegen privilegierte Gruppen geben kann.93 34
87 Zum Ganzen → Barskanmaz, § 7. 88 Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häus-
licher Gewalt v. 11.5.2011, ETS Nr. 210, BGBl. 2017 II, S. 1026.
89 Dazu Henn, International Human Rights Law and Structural Discrimination, 2019. 90 Näher → Geneuss, § 27, und kurz unten Rn. 86 (E. I.). 91 Näher zur Entwicklung in den USA und Deutschland Glet (Fn. 1), S. 9 ff.; → Mangold/Payandeh, § 1
Rn. 3, 77.
92 Vgl. Coester (Fn. 1), S. 337 f.; vgl. zu möglichen Kategorien auch BDIMR (Fn. 17), S. 39 ff. 93 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 342 ff.; Krupna (Fn. 1), S. 20 ff.; zur dahinterstehenden Frage der Symmetrie oder
Asymmetrie des Diskriminierungsrechts → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 9, 56. Anja Schmidt
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a) Grund- und menschenrechtliche Diskriminierungsverbote
Wichtiger Anhaltspunkt für das Vorliegen eines rechtlich relevanten diskriminierenden 36 Vorurteilsmotivs sind die in den Grund- und Menschenrechtskatalogen verbürgten Rechte auf Nichtdiskriminierung. Hierzu gehören etwa Art. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR/IPbpR)94 und Art. 14 EMRK, wonach die Vertragsstaaten die in diesen Verträgen anerkannten Rechte allen Personen zukommen zu lassen haben, unabhängig insbesondere von ihrer Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen und sonstigen Anschauungen, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status. Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) ergänzt den Kriterienkatalog um Alter und sexuelle Ausrichtung. Art. 2 des ICERD verpflichtet die Vertragsstaaten, jede Form der Rassendiskriminierung zu verurteilen und mit allen geeigneten Mitteln gegen sie vorzugehen. Die gleiche Verpflichtung enthalten Art. 2 des Übereinkommens zur Diskriminierung der Frau (CEDAW)95 und Art. 4 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD/UN-BRK)96 zur Bekämpfung der Diskriminierung von Frauen und behinderten Menschen. Im deutschen Recht verbietet Art. 3 Abs. 3 GG die Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und Herkunft, des Glaubens, der religiösen oder politischen Anschauung oder der Behinderung. Das BVerfG hat zudem die Differenzierung wegen der sexuellen Orientierung faktisch für unzulässig erklärt.97 Regelungen wie der Rahmenbeschluss RB 2008/913/JI enthalten konkrete Vorgaben 37 für die strafrechtliche Regulierung und Verfolgung von Straftaten, die aufgrund der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder der nationalen oder ethnischen Herkunft des Opfers begangen wurden.98 Darüber hinaus sind die weiteren ausdrücklichen grund- und menschenrechtlich gesicherten Diskriminierungsverbote als positivrechtlich anerkannte Anknüpfungsverbote zu beachten. Doch auch abgesehen davon ist es möglich, weitere Zuschreibungen einzubeziehen, wenn sich für diese ein grund- und menschenrechtlicher Schutz gegen Diskriminierung in der jeweiligen Rechtsordnung in einem bestimmten sozialen und historischen Kontext begründen lässt.99 Dabei kann die Anerkennung weiterer diskriminierender Zuschreibungen zuhöchst umstritten sein.
94 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1533. 95 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau v. 18.12.1979, BGBl. 1985
II, S. 1234.
96 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen v. 13.12.2006, BGBl. 2008 II,
S. 1419.
97 Vgl. → Markard, § 6 Rn. 36. 98 Vgl. oben Rn. 32 (C. II. 2.). 99 Ausführlich zum historischen Kontext in Deutschland Lang (Fn. 1), S. 348 ff.
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b) Beschränkung auf marginalisierte Gruppen 38 Diskriminierung wird hier als herabsetzende Ungleichbehandlung aufgrund der Zuschrei-
bung zu einer Gruppe verstanden.100 Gruppenzuschreibungen, die an bestimmte Merkmale anknüpfen, können dabei eine privilegierte oder eine marginalisierte Gruppe betreffen. Ob beides als Diskriminierung zu verstehen ist, ist umstritten.101 Für die Berücksichtigung allein der Zuschreibung zu einer marginalisierten Gruppe spricht, dass diese eines besonderen Schutzes bedarf. Zwar sind auch privilegierte Gruppen rechtlich vor ungerechtfertigter Ungleichbehandlung zu schützen, allerdings bedarf es des besonderen Schutzes von marginalisierten Gruppen. Denn diese sind historisch gewachsenen strukturell bedingten Benachteiligungen ausgesetzt und deshalb besonders verletzlich. Sie werden nicht nur einer Gruppe zugeschrieben und dadurch entindividualisiert, sondern einer Gruppe zugeschrieben, die durch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse benachteiligt wird.102 Eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung verletzt sie nicht nur als gleich zu achtende Person, sondern würdigt sie mit der Zuschreibung zu einer marginalisierten Gruppe spezifisch herab. Das Konzept der Diskriminierungskriminalität nimmt neben der individuellen Ebene einer Straftat (die jedes individuelle Opfer einer Straftat betrifft) auch die gesellschaftliche Dimension des Schutzes marginalisierter Gruppen in den Blick und vermag auf diese Weise die spezifischen Wirkungen und spezifische Strafwürdigkeit einer diskriminierenden Tat genau zu fassen.103 Neben der individuellen Verletzung des Opfers kommt es aufgrund der Gruppenzuschreibung zu einer entindividualisierenden Wirkung, die im Falle der Zuschreibung zu einer marginalisierten Gruppe die Marginalisierung des Opfers und der Gruppe bestätigt. Die Zuschreibung zu einer privilegierten Gruppe kann keine auf diese Weise herabsetzende Wirkung entfalten. Es ist aber möglich, dass solche Delikte andere spezifische Merkmale aufweisen, die auch zu einer Unrechts- bzw. Schulderhöhung führen können. Dies erfordert dann aber eine andere Begründung. 39 Wenn sich beispielsweise eine Gruppe von Frauen entschlösse, wahllos Männer als gesellschaftlich privilegierte Gruppe anzugreifen, um das Patriarchat zu bekämpfen, läge keine Diskriminierungskriminalität vor, weil nicht die Marginalisierung einer Gruppe bestätigt wird. Es wäre jedoch unrechts- und schulderhöhend zu berücksichtigen, dass die Männer durch die Zuschreibung zu einer Gruppe entindividualisiert werden und ihnen deshalb das Recht abgesprochen wird zu leben. Islamfeindlich diskriminierend ist ein Angriff auf Muslime wegen ihrer Religion. Eine islamistische oder „deutschenfeindliche“ Tat oder sogenannter „Rassismus gegen Weiße“ sind in Deutschland jedoch grundsätzlich kein 100 Vgl. Mangold (Fn. 65), S. 5; → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 3, 63, 83. 101 Vgl. Paerli, Rechtswissenschaftliche Diskriminierungsforschung, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel
(Hrsg.), Handbuch Diskriminierungen, 2017, S. 101 (106 f.); → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 9 f. Einen asymmetrischen, auf marginalisierte Gruppen beschränkten Diskriminierungsbegriff vertreten Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 312 ff.; Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, S. 48 f., 236 ff. Einen symmetrischen Diskriminierungsbegriff vertritt Schoenbaum, The Case for Symmetry in Antidiscrimination Law, GW Legal Studies Research Paper No. 2016–56. 102 Vgl. Sacksofsky (Fn. 101), S. 312 ff.; Baer (Fn. 101), S. 237. 103 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 339, 461 f.; Perry (Fn. 2), S. 2 f.; vgl. auch BDIMR (Fn. 17), S. 47 ff.; anderer Ansicht Krupna (Fn. 1), S. 85. Näher dazu oben Rn. 11 (B. I. 2.) und Rn. 28 f. (C. II. 1.). Anja Schmidt
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Diskriminierungsphänomen, sie richten sich nicht gegen marginalisierte Bevölkerungsgruppen.104 Wenn eine obdachlose Person gewalttätig angegriffen wird, weil ihr Leben als lebensunwerte Existenz betrachtet wird, liegt ein an den sozialen Status anknüpfendes, sozialdarwinistisch diskriminierendes Motiv vor. Wenn hochwertige Kraftfahrzeuge angezündet werden, kann zwar ein Vorurteilsmotiv vorliegen, das sich auf den sozialen Status des Opfers bezieht, allerdings ist dieser nicht durch gesellschaftliche Marginalisierung gekennzeichnet, sodass keine Diskriminierungskriminalität, sondern nur eine Form allgemeiner Kriminalität vorliegt.105 Der Aspekt der Marginalisierung lässt sich sprachlich, auch in Gesetzestexten, durch 40 Begriffe verdeutlichen, die auf die diskriminierende Zuschreibung verweisen. Zum Beispiel können diskriminierende Tatmotive als antisemitisch, antimuslimisch, rassistisch, heterosexistisch, behindertenfeindlich und sozialdarwinistisch benannt werden.106 Im Folgenden soll beispielhaft näher auf sozialdarwinistische, antipluralistische und sexistische Vorurteilsmotive eingegangen werden. c) Sozialdarwinistische Motive/sozialer Status
K. Lang schlägt vor, auch sozialdarwinistische Motive als diskriminierende Vorurteils- 41 motive zu berücksichtigen. Genauer fasst sie darunter Angriffe gegen Obdachlose, HIVpositive Personen, behinderte Menschen, aber auch Angriffe gegen Täter:innen sexuellen Missbrauchs, wenn die Taten gegen Angehörige dieser Personengruppen davon motiviert sind, „lebensunwerte“, „parasitäre“ oder „unproduktive“ Lebensweisen zu beseitigen.107 Zwar bestehen anerkannte Diskriminierungsverbote in Bezug auf eine Behinderung, zum Beispiel verankert im Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Art. 21 Abs. 1 GRCh, Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.108 Nicht in Art. 3 GG und Art. 21 Abs. 1 GRCh erwähnt ist aber ein Verbot der Ungleichbehandlung wegen des sozialen Status. Zwar nehmen die Diskriminierungsverbote in Art. 14 EMRK und Art. 2 Abs. 2 des Internationalen Pakts über wirtschaftlich, soziale und kulturelle Rechte auf den „sonstigen Status“ Bezug, allerdings ist dies eine sehr offene Formulierung unter die letztlich jede Zuschreibung zu einer Gruppe fallen kann. Beide Normen erwähnen spezifischer für den sozialen Status soziale Herkunft, Vermögen und Geburt als Diskriminierungskategorien.109 Darunter sollen auch Obdachlosigkeit und Armut fallen, die die Zuordnung zu bestimmten, marginalisierten sozialen Klassen bewirken.110
104 Ausführlich Lang (Fn. 1), S. 342 ff. 105 Anders aber die Erfassung im KPMD PMK; ausführlich hierzu Lang (Fn. 1), S. 339 f., 366 ff. 106 Vgl. zu diesen Formulierungsvorschlägen allgemein → Baer § 5; → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 95 ff.;
Liebscher/Naguib/Plümecke/Remus, Wege aus der Essentialismusfalle, KJ 2012, S. 204 (212 ff.); skeptisch Mangold (Fn. 65), S. 335 ff. 107 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 364 ff. 108 Dazu → Zinsmeister, § 13. 109 Dazu → Röhner, § 11 Rn. 22. 110 Vgl. FRA, Handbuch zum europäischen Antidiskriminierungsrecht, 2018, S. 253. Anja Schmidt
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Die rechtliche Anerkennung der Zuschreibung zu einer sozialen Klasse als diskriminierend steckt noch in den Anfängen und wird im Detail für unterschiedliche Fallgruppen auszudiskutieren sein. Leitend sollte dafür sein, ob eine marginalisierte Gruppe betroffen ist. Bei Obdachlosen spricht beispielsweise für die Marginalisierung, dass sie trotz unterschiedlicher Unterstützungsmaßnahmen ein Leben am Rande der Gesellschaft unter teils unwürdigen Lebensbedingungen führen. Dem Anzünden einer obdachlosen Person, weil deren Lebensform als minderwertig angesehen wird, liegt demnach ein diskriminierendes Motiv zugrunde, das die Marginalisierung dieser Personengruppe aufrecht erhält und bestätigt.111 Täter:innen sexuellen Missbrauchs hingegen können nicht als marginalisiert gelten, insofern sie wegen einer rechtswidrig und schuldhaft begangenen Missbrauchstat verurteilt und bestraft werden. Denn die Strafe stellt hier eine angemessene rechtstaatliche Reaktion auf schuldhaft begangenes Unrecht dar. Wenn solche Personen an Leib oder Leben verletzt werden, weil ihnen das Recht auf Leben oder körperliche Unversehrtheit grundlegend abgesprochen wird, ist die Motivation des:der Täter:in dennoch (sozialdarwinistisch) davon geprägt, über den Lebens- und Gesellschaftswert einer anderen Person zu entscheiden, was ebenfalls eine Strafschärfung rechtfertigt. d) Antipluralistische Motive/politische und weltanschauliche Einstellung
43 K. Lang plädiert zudem dafür, antipluralistische Motive als strafschärfende Vorurteilsmoti-
ve zu verstehen. Ein Tatmotiv ist ihr zufolge antipluralistisch, wenn sich die Tat gegen das Tatopfer richtet, weil es sich für Demokratie und eine diskriminierungsfreie Gesellschaft engagiert. Zudem zählt sie rechtsextrem motivierte Taten darunter, mit denen alternative Subkulturen, wie zum Beispiel Punks oder Gothics, als gesellschaftsschädlich eliminiert werden sollen.112 Lang setzt vor allem an der rechtsextremen Gesinnung der Täter:innen an und beschreibt näher, welche Vorurteilsmotive damit typischerweise verbunden sind. Aus antidiskriminierungsrechtlicher Sicht sollte jedoch bei der herabsetzenden Zuschreibung des Tatopfers zu einer marginalisierten Gruppe angeknüpft werden. Diese kann aus einer rechtsextremen Gesinnung heraus erfolgen, kann aber auch andere Hintergründe haben. Im Zusammenhang mit Antipluralismus kommt vor allem die Zuschreibung zu einer 44 wegen ihrer politischen Einstellung oder Weltanschauung marginalisierten Gruppe in Betracht. Taten, die durch die politische Einstellung des Opfers motiviert sind, sind aber unabhängig davon in besonderer Weise strafwürdig, ob sie eine politisch marginalisierte Position betreffen oder nicht. Denn sie greifen die Grundlagen des liberalen demokratischen Rechtsstaates an, der gleiche Rechte ungeachtet der politischen Anschauung und der Weltanschauung garantiert und insofern ein pluraler Staat ist. Dies bedeutet nicht, Rechtsextremismus als gesellschaftliches Problem zu leugnen, das nicht nur organisierte Täter:innengruppen, sondern auch radikalisierte Einzeltäter:innen und Teile der Mehr111 Vgl. auch Bundesregierung, BT-Drs. 18/3007, S. 15; BT-Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drs.
19/17741, S. 19.
112 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 373 ff.
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heitsbevölkerung betrifft. Kriminalpolitisch und kriminologisch ist die Erfassung dieser Täter:innengruppe sowie die Prävention der Verbreitung ihrer Ideologie und die Bekämpfung rechtsmotivierter Taten ein wichtiges Anliegen. Hinsichtlich des spezifischen Unrechts- und Schuldgehaltes rechtsmotivierter Taten und von Diskriminierungskriminalität sollte jedoch analytisch unterschieden werden. Eine rechtsmotivierte Tat ist nicht immer diskriminierend und eine diskriminierende Tat entspringt nicht immer rechtsextremer Gesinnung. Rechtsextrem motivierte Taten dürften aber häufig gegen die Grundsätze der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verstoßen. Wenn Personen wegen ihrer politischen Einstellung oder Weltanschauung als Opfer 45 einer Straftat ausgewählt werden, liegt eine politisch motivierte Tat vor, die besonders strafwürdig ist, weil sie die Grundlagen des demokratischen Gemeinwesens angreift. Dazu zählen auch Taten gegen politische Repräsentant:innen. Die Tötung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke war ein Mord aus politischen Motiven, weil er sich gegen die politischen Auffassungen eines staatlichen Repräsentanten richtete. Diese Tat kann nicht als Diskriminierungsdelikt verstanden werden, weil sie eine Person in einer politischen und insofern nicht marginalisierten Position wegen ihrer politischen Haltung betraf.113 e) (Bipolarhetero-) sexistische Motive/Geschlecht
Obwohl viele Diskriminierungsverbote ausdrücklich auf das Geschlecht Bezug nehmen, 46 ist umstritten, ob die Anknüpfung an Geschlecht ein diskriminierendes Vorurteilsmotiv sein kann. Begründet wird dies oft damit, dass Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen oft eine Nähebeziehung zwischen Täter und Opfer zugrunde liege und häufig andere Motive, wie die Befriedigung des Sexualtriebes, eine Rolle spielten. Geschlechtsbezogene, insbesondere sexualisierte Gewalt, sei zudem rechtlich hinreichend erfasst.114 Die Dominanz männlicher gegenüber weiblichen Lebensweisen in unterschiedlichen 47 Lebensbereichen ist ein allgegenwärtiges Problem verschiedener Staaten. Geschlecht ist als Diskriminierungskategorie auch rechtlich anerkannt. Es ist Ziel verschiedener internationaler und nationaler Antidiskriminierungsregulierungen, Diskriminierung wegen des Geschlechts zu bekämpfen. Hierzu zählen Art. 3 Abs. 3 GG, § 1 AGG, Art. 14 EMRK, die das Geschlecht ausdrücklich bei der Aufzählung von Diskriminierungskriterien berücksichtigen. Mit CEDAW widmet sich ein ganzer Menschenrechtspakt der Beseitigung der Diskriminierung der Frau. Hinzu kommt die Istanbul-Konvention, die Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung und als Form der Diskriminierung versteht (Art. 3 lit. a IK). Auch Art. 7 Abs. 1 lit. g), Art 8 Abs. 2 lit. b) xxii) des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes115 und § 7 Abs. 1 Nr. 3, 6, 10, § 8 Abs. 1 Nr. 4 VStGB erfassen geschlechtsspezifische Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw. als Kriegsverbrechen. Wenn Straftaten von einem geschlechtsbezogenen diskriminierenden Vorurteilsmotiv geleitet sind, sollten sie als Diskriminierungskriminalität eingeordnet werden. 113 Vgl. dazu OLG Frankfurt, Urt. v. 28.1.2021, 5–2 StE 1/20–5a–3/20. 114 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 379 f.; vgl. zur US-amerikanischen Debatte Lawrence (Fn. 23), S. 13 ff. m. w. N. 115 Hierzu Schwarz, Das völkerrechtliche Sexualstrafrecht, 2019.
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Die Anerkennung geschlechtsbezogener diskriminierender Kriminalität ist auch wichtig, um diese nicht nur als persönlich-privates, sondern als auf gesellschaftliche Ideologien gestütztes und strukturelles Diskriminierungsproblem, das aus der Mitte der Gesellschaft heraus kommt, zu verstehen und sichtbar zu machen.116 Beispielsweise gingen gezielte diskriminierende Kommentare und Hassattacken gegenüber Frauen im Netz von der französischen Facebook-Gruppe „Ligue du LOL“ aus, einem „digitalen Boy Club“, in dem sich Frankreichs Digitalpioniere versammelten. Sie wurden als keineswegs „abgehängte digitale Trolle“, sondern als „junge, gebildete, eher linksgerichtete Intellektuelle“ eingeschätzt, die Frankreichs Digital- und Medienlandschaft bis heute prägen, und für die diese Formen der Belästigung normal waren.117 49 Geschlechtsbezogene Diskriminierungskriminalität liegt vor, wenn eine oder mehrere Personen verletzt werden, weil sie einem bestimmten Geschlecht angehören oder weil sie den mit der Norm der bipolaren heterosexuellen Geschlechterordnung verbundenen Geschlechterstereotypen nicht entsprechen. Davon erfasst sind Verletzungen, weil jemand als weiblich, trans- oder intergeschlechtlich oder homosexuell betrachtet wird. Darunter kann aber auch die Verletzung einer männlichen Person fallen, weil sie nicht dem männlichen Geschlechterstereotyp entspricht, zum Beispiel weil sie männlich und homosexuell ist.118 50 Typische Formen von Diskriminierungskriminalität liegen in Fällen vor, in denen keine Nähebeziehung zwischen Täter und Opfer vorliegt und die Tat dazu dient, Frauen oder andere geschlechtlich marginalisierte Lebensweisen geschlechterstereotyp herabzusetzen.119 Dies gilt etwa für sexistische Hassrede gegen Frauen, die sich in sozialen Netzwerken äußern.120 Auch gewalttätige Angriffe auf den Täter:innen unbekannte Frauen, nur weil sie Frauen sind, zählen hierzu, denn dann werden konkrete Frauen stellvertretend für die Gruppe der Frauen angegriffen.121 Der eigentliche Kernpunkt des Streites dürfte sein, ob Gewalt gegen Frauen und Mädchen auch dann als Diskriminierungskriminalität verstanden werden kann, wenn eine Nähebeziehung zwischen Täter und Opfer vorliegt, das Opfer also insofern nicht „austauschbar“122 ist. Das Vorliegen einer Nähebeziehung spricht nicht generell gegen ein diskriminierendes Motiv. Denn Gewalt in einer Nähebeziehung kann stattfinden, weil der:die Täter:in davon ausgeht, dass er:sie gegenüber dem Tatopfer gewalttätig sein kann, weil es geschlechtsbezogen (oder auf andere Weise) marginalisiert ist.123 Hier kommt es auf die Prüfung der Täter:innenmotivation im Einzelfall an. Es ist genau zu prüfen, ob das Tatmotiv vor allem in der persönlichen Beziehung gründet oder 48
116 Vgl. Steinl (Fn. 23), S. 194; vgl. insoweit auch Lang (Fn. 1), S. 380. 117 Vgl. Peteranderl, Das Doppelleben der Macho-Trolle von „Ligue du LOL“, Spiegel v. 13.2.2019. 118 Zur Notwendigkeit eines geschlechtsbezogenen Gewaltbegriffs, der sich auf die Konstruktion des Ge-
schlechts in einer Ordnung heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit bezieht, bereits Elsuni, Geschlechtsbezogene Gewalt und Menschenrechte, 2011, S. 30 ff. 119 So auch Steinl (Fn. 23), S. 194. 120 Näher hierzu unten unter Rn. 67 (D. II.). 121 Vgl. hierzu Steinl (Fn. 23), S. 195 f.; Lawrence (Fn. 23), S. 15 f. 122 Vgl. zu diesem Kriterium oben Rn. 8 (B. I. 1.). 123 Vgl. Steinl (Fn. 23), S. 194. Anja Schmidt
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ob auch die Herabsetzung des Tatopfers aufgrund eines gruppenbezogenen Vorurteils wesentlich für die Tatmotivation war.124 Die besondere Erfassung von geschlechtsspezifischer Gewalt wie in § 226a StGB, Ver- 51 stümmelung weiblicher Genitalien oder deren Erfassung durch allgemeine Tatbestände wie die Sexualdelikte oder den Mord gem. § 211 StGB spricht nicht gegen die Zuordnung zum Phänomen der Diskriminierungskriminalität. Hier handelt es sich um Tatbestände, die geschlechtsspezifisch diskriminierende Delikte bzw. Delikte, die geschlechtsspezifisch diskriminieren können, bereits tatbestandlich erfassen. Dabei ist jeweils zu prüfen, ob das diskriminierende Vorurteilsmotiv bereits zur Annahme des Tatbestandes führt, wie bei § 226a StGB oder beim sonst niedrigen Beweggrund des Mordes gem. § 211 Abs. 2 5. Alt. StGB, oder ob es bei der Strafzumessung gem. § 46 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. StGB zu berücksichtigen ist.125 f) Intersektionalität
Um Diskriminierungsmotive für einzelne Straftaten genau abbilden und in ihrer Spezifik 52 fassen zu können, ist auch das Zusammentreffen von marginalisierenden Zuschreibungen (Intersektionalität)126 zu beachten. Zu intersektional diskriminierender Kriminalität zählt beispielsweise das Beleidigen, Bespucken, Schlagen von Frauen, weil sie als Muslima Kopftuch tragen. Hier liegen nicht nur eine islamfeindliche Motivation, sondern auch sexistische und rassistische Beweggründe vor. Das Opfer ist konkret als muslimische Kopftuch tragende Frau betroffen, die einem anderen Kulturkreis zugeordnet wird. Ein weiteres Beispiel ist sexualisierte Gewalt gegen behinderte Frauen. Diese werden häufig Opfer, weil sie weiblich und behindert sind.127 III. Einwände 1. Einwand der überflüssigen Sonderdogmatik
Gegen das Konzept der Diskriminierungskriminalität wird eingewendet, dass es sich um 53 eine unzulässige und überflüssige Sonderdogmatik handele.128 Das geltende Strafrecht biete ausreichend Möglichkeiten, um strafschärfende Umstände wie eine besondere Brutalität der Tat zu berücksichtigen.129 Das Vertrauen der Gruppenangehörigen des Opfers in den Rechtsfrieden könne kein eigenständiges Rechtsgut darstellen, sodass die über die 124 Ausführlicher Steinl (Fn. 23), S. 197 f.; Lawrence (Fn. 23), S. 16; zur Problematik des Prüfens der Tatmotivation ausführlich Lang (Fn. 1), S. 383 ff. 125 Vgl. unten Rn. 60 ff. (D. I.) und Rn. 81 ff. (D. III. 2.). 126 Umfassend hierzu → Holzleithner, § 13. 127 Ausführlicher hierzu Steinl (Fn. 23), S. 201 f. 128 Vgl. Timm, Gesinnung und Straftat, 2012, S. 211; vgl. auch Kubink, Fremdenfeindliche Straftaten – ein neuer Versuch der polizeilichen Registrierung und kriminalpolitischen Problembewältigung, MschKrim 85 (2002), S. 325 (338). 129 Vgl. Timm (Fn. 128), S. 212.
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einzelne Tat hinausweisende Botschaft nicht strafschärfend wirken könne.130 Zudem sei zu erwarten, dass die marginalisierte Gruppe bei einer besonderen Berücksichtigung im Strafrecht weiter stigmatisiert werde, dies stehe der unbedingt erstrebenswerten Integration von Randgruppen in die gesellschaftliche Mitte entgegen.131 54 Mit dem Konzept der Diskriminierungskriminalität wird nicht nur kriminologisch ein Deliktstypus erfasst, mit ihm wird auch versucht, präzise zu begründen, warum ein diskriminierendes Tatmotiv den Unwert der Tat erhöht und damit strafschärfend wirken sollte. Damit ist viel für die Auslegung strafrechtlicher Normen, wie die in § 46 Abs. 2 Satz 2 benannte Strafzumessungstatsache der Beweggründe und Ziele des:r Täters:in oder der sonst niedrigen Beweggründe beim Mord gemäß § 211 Abs. 2 4. Alt. StGB gewonnen.132 Für die ausdrückliche gesetzliche Regelung der Strafschärfung bei diskriminierendem Tatmotiv spricht neben der gesetzlichen Bestimmtheit, dass derartige Tatmotive bei der justiziellen Bearbeitung von Straftaten häufig übersehen werden, wie an den Ermittlungen zu den Mordtaten des NSU erschreckend deutlich wurde.133 Mit dem Konzept der Diskriminierungskriminalität lässt sich das spezifisch Verletzende bei einer Straftat mit diskriminierendem Tatmotiv herausarbeiten, und zwar dass das Opfer nicht nur als freie und gleiche Person, sondern auch im Hinblick auf seine Marginalisierung innerhalb der Gesellschaft angegriffen wird. Der:die Täterin stellt damit den Anspruch auf gleiche Anerkennung in besonderer Weise bezogen auf eine marginalisierte Gruppe und damit die Grundlagen des Zusammenlebens in einem pluralen freiheitlichen Staat in Frage. Wenn dies bei der strafrechtlichen Sanktionierung gewürdigt wird, trägt der Staat zur Integration der marginalisierten Gruppe bei, indem er diskriminierende Taten als besonders unerwünscht markiert. 2. Einwände der Uferlosigkeit und des politisch motivierten Strafrechts 55 Wie dargestellt, ist umstritten, welche Gruppenzuschreibungen dem Phänomen der Dis-
kriminierungskriminalität zugerechnet werden sollen. Hintergrund dieser Diskussion sind die Befürchtungen, dass zum einen der Begriff der Diskriminierungskriminalität uferlos ausgeweitet wird und dass zum anderen missliebige Vorurteile davon erfasst und positiv bewertete Vorurteile davon ausgeschlossen werden, je nach politischer Position und der Stärke, die eine soziale Bewegung entfalten kann, um bestimmte Interessen geltend zu machen.134 Deshalb wird zum Beispiel gefordert, dass nur Vorurteile bezüglich bestimmter, eng begrenzter Gruppen erfasst werden sollten.135 Es wird aber auch generell gegen das Konzept der Diskriminierungskriminalität vorgebracht, dass es politischer Opportunität 130 Vgl. Timm (Fn. 128), S. 211, die dann aber doch betont, dass es sich um besonders abscheuliche Taten
handele, denen eine besondere Signalwirkung gegenüber den Mitgliedern der angegriffenen Gruppe zukomme (S. 213). 131 Vgl. Timm (Fn. 128), S. 212. 132 Hierzu näher unter Rn. 60 ff. (D. I.) und Rn. 81 ff. (D. III. 2.). 133 Ausführlich → Geneuss, § 27 Rn. 2 und passim; kurz unten unter Rn. 89 ff. (E. III.). 134 Vgl. Jacobs/Potter (Fn. 54), S. 1 (2 ff.); Jacobs/Potter (Fn. 44), S. 11 ff.; zur US-amerikanischen Debatte vgl. Coester (Fn. 1), S. 333 ff.; Seehafer (Fn. 1), S. 51 f., 56 f., 110; Kubink (Fn. 127), S. 339. 135 Vgl. Jacobs/Potter (Fn. 44), S. 146; vgl. auch Lang (Fn. 1), S. 338 f. Anja Schmidt
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und stets wechselnden gesellschaftlichen Mehrheits- und Minderheitsverhältnissen unterliege, in Bezug auf welche Gruppen Delikte von der Kategorie Hate Crimes erfasst werden.136 Zwar trifft es zu, dass sich die grund- und menschenrechtlich anerkannten Diskriminie- 56 rungsverbote in politischen und rechtlichen Kämpfen durchgesetzt haben. Dies gilt aber für jede Rechtsnorm als Ergebnis rechtspolitischer Auseinandersetzung, also auch für das Strafrecht überhaupt. Die gesetzgeberische Entscheidung, welches Verhalten strafbar ist, ist notwendigerweise eine politische. Es handelt sich zudem gerade um grund- und menschenrechtlich anerkannte Diskriminierungsverbote, die den Maßstab für das einfache Recht und damit auch für die Begründung des Vorliegens eines diskriminierenden Vorurteilsmotivs bilden. Sie unterliegen damit nicht mehr beliebiger politischer Wertung etwa der Richter:innen bei der Rechtsanwendung. Die grund- und menschenrechtlichen Verbürgungen gegen Diskriminierung legitimieren nicht nur die besondere Berücksichtigung diskriminierender Vorurteilsmotive im Strafrecht, sondern setzen diese menschenrechtlichen Standards auch um, indem sie den erhöhten Unwert von Diskriminierungskriminalität berücksichtigen.137 Hinzu kommt, dass durch die Beschränkung auf marginalisierte Gruppen der Gefahr entgegengewirkt wird, dass das Konzept der Diskriminierungskriminalität beliebige Gruppenzuschreibungen erfasst.138 3. Einwand des Gesinnungsstrafrechts
Eingewendet wird zudem, dass die besondere Bestrafung von Diskriminierungskriminali- 57 tät bloßes Gesinnungsstrafrecht sei und damit vom Tatstrafrecht abgerückt werde.139 Der Einwand des bloßen Gesinnungsstrafrechts wird üblicherweise erhoben, wenn eine bloße Meinung oder unliebsame politische Haltungen unter Strafe gestellt werden, obwohl keine Rechtsgüter (im Äußeren) verletzt oder gefährdet werden,140 oder wenn ein äußerlich neutrales (also nicht strafbares, sozialadäquates) Verhalten aufgrund bestimmter Absichten unter Strafe gestellt wird.141 Bei Diskriminierungskriminalität wird – abgesehen vom Vorurteilsmotiv – kein neutrales, sozialadäquates Verhalten besonders bestraft. Vorausgesetzt wird das Begehen einer Straftat, also ein Verhalten, das unabhängig vom Vorurteilsmotiv eine Straftat verwirklicht, etwa eine Körperverletzung oder eine Beleidigung, wobei die Straftat im konkreten Fall mit einem bestimmten Vorurteilsmotiv begangen wird.142 Es ist nicht bei einer bloßen Gesinnungsäußerung geblieben, vielmehr drückt sich die diskriminierend vorurteilsbehaftete Gesinnung des:der Täter:in in einer strafbaVgl. Seehafer (Fn. 1), S. 51 f., 56 f., 110; Kubink (Fn. 127), S. 339; vgl. auch Timm (Fn. 128), S. 212. Vgl. Lang (Fn. 1), S. 316. Vgl. Lang (Fn. 1), S. 338 f. Vgl. Seehafer (Fn. 1), S. 79 f.; Timm, Tatmotive und Gesinnungen als Strafschärfungsgrund am Beispiel der Hassdelikte, JR 2014, S. 141 (145); Timm (Fn. 128), S. 211. 140 Vgl. hierzu Bittmann, Hatecrime: Gesinnungsstrafrecht oder notwendige Verteidigung der Rechtsordnung? DriZ 2007, S. 323 ff.; Kelker (Fn. 77), S. 404 f., 523; Backes, Die Strafjustiz im Dilemma, in: Heitmeyer (Hrsg.), Das Gewalt-Dilemma, 1994, S. 366 (370). 141 Vgl. etwa Puschke, Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 6.4.2017, 3 StR 326/16, NJW 2017, S. 2932 (2932). 142 Vgl. BDIMR (Fn. 17), S. 16; Tolmein (Fn. 1), S. 319; Lang (Fn. 1), S. 320. 136 137 138 139
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ren Rechtsverletzung aus, die gerade kein neutrales, sozialadäquates Verhalten darstellt. Es entspricht dem Grundsatz schuldangemessenen Strafens, wenn sich die konkrete Schwere des Unrechts und das individuelle Maß der Schuld auch angemessen in der Bestrafung ausdrücken. Diskriminierungskriminalität ist durch eine diskriminierende Gesinnung gekennzeichnet, die das Zusammenleben als Freie und Gleiche in besonderer Weise in Frage stellt. Sie formt den konkreten Unwertgehalt der Tat mit und ist deshalb strafschärfend zu berücksichtigen.143 Letztlich geht es um eine Schärfung bzw. Spezifizierung der Argumentation für die Strafzumessung bzw. besondere straferhöhende Umstände; es wird keine Gesinnung als solche für strafwürdig erklärt.144 58 Diese Argumentation scheint nicht zu tragen für den Tatbestand der Volksverhetzung gem. § 130 StGB und die Ehrdelikte nach §§ 187 ff. StGB, die bestimmte Äußerungen unter Strafe stellen, die auch diskriminierende Hassrede sein können.145 Allerdings wird auch hier nicht eine bloße Gesinnung unter Strafe gestellt, sondern eine Äußerung, die Rechte, genauer das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Verbindung mit dem Anspruch auf Nichtdiskriminierung gem. Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 2, 3 GG, auf schwerwiegende Weise verletzt. Eine Strafbarkeit ist dann legitim, wenn die Wahrung dieses Rechts auf Achtung als gleich anzuerkennende Person das Recht auf freie Meinungsäußerung überwiegt bzw. der Schutzbereich des Rechtes auf freie Meinungsfreiheit nicht eröffnet ist, weil keine schutzwürdige Äußerung, zum Beispiel im Falle der reinen Schmähkritik, vorliegt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Zuschreibung des Opfers zu einer marginalisierten Gruppe dieses auf besondere Weise herabwürdigt.146
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Mit dem Konzept der Diskriminierungskriminalität wird zum einen kriminologisch ein Deliktstypus erfasst, zum anderen wird damit begründet, warum ein diskriminierendes Tatmotiv den Unwert der Tat erhöht und damit strafschärfend wirken sollte. Der Begriff Diskriminierungskriminalität bezeichnet keine Deliktskategorie oder einen Tatbestand des materiellen Strafrechts, auch wenn § 130 StGB, der Straftatbestand der Volksverhetzung, als Delikt gegen Diskriminierung verstanden werden kann. Diskriminierungskriminalität ist also nur dann strafbar, wenn das diskriminierende kriminelle Verhalten einen strafgesetzlich vertypten Straftatbestand verwirklicht. Ist dies der Fall, ist das diskrimiVgl. oben Rn. 29 (C. II. 1.). Vgl. Lang (Fn. 1), S. 321. Näher hierzu unten unter Rn. 65 ff. (D. II.). Vgl. Lembke, Ein antidiskriminierungsrechtlicher Ansatz für Maßnahmen gegen Cyber Harassment, KJ 2016, S. 385 (391 f.). Zum Erfordernis der Abwägung vgl. Koreng, Hate-Speech im Internet, KriPoZ 2017, S. 151 (152 ff.); Glaser, Grundrechtlicher Schutz der Ehre im Internetzeitalter, NVwZ 2012, S. 1432 (1432 ff.); Christou, Die Hassrede in der verfassungsrechtlichen Diskussion, 2007, S. 101; Zum Europaund Völkerrecht sowie der anderslautenden Rechtslage in den USA und daraus resultierenden Kollisionen Mensching, Hassrede im Internet, 2014. 143 144 145 146
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nierende Tatmotiv bei der Strafzumessung gem. § 46 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. 2. Hs. StGB besonders zu berücksichtigen, wenn die besondere Tatmotivation nicht bereits zur Annahme des Tatbestandes geführt hat (Doppelverwertungsverbot gem. § 46 Abs. 3 StGB), wie beispielsweise bei § 130 StGB oder die Berücksichtigung als sonst niedriger Beweggrund beim Mord gem. § 211 Abs. 2 5. Alt. StGB. I. § 46 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. 2. Hs. StGB als allgemeine Strafzumessungsregel
Bei der Strafzumessung waren gemäß § 46 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. 2. Hs. StGB a. F. schon immer 60 die Beweggründe und Ziele des:r Täters:in zu berücksichtigen.147 Mit dem Gesetz zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages vom 12.6.2015148 wurde die Norm dahingehend ergänzt, dass „besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonst menschenverachtende“ Täter:innenmotive zu berücksichtigen sind. Die Bundesregierung ging in ihrem Gesetzentwurf zwar davon aus, dass schon nach der bisherigen Fassung des § 46 Abs. 2 Satz 2 1. Alt 2. Hs. StGB die fraglichen Beweggründe zu prüfen und einzubeziehen waren. Die ausdrückliche Aufnahme dieser Beweggründe sollte jedoch ihre Bedeutung für die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und die gerichtliche Strafzumessung hervorheben.149 In den beiden vorhergehenden Wahlperioden waren gleichlautende Gesetzesentwürfe des Bundesrates und der Bundestagsfraktion der SPD gescheitert.150 Die ausdrückliche Benennung von Beweggründen entspricht im Hinblick auf rassistische und fremdenfeindliche Motive auch Art. 4 des RB 2008/913/JI des Rates vom 28.11.2008.151 Art. 4 ICERD fordert, dass rassistische Gewalttätigkeiten besonders zu bestrafen sind. Durch das Gesetz zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität vom 3. Juli 2020 wurden ausdrücklich antisemitische Beweggründe in § 46 II 2 1. Alt. 2. Hs. aufgenommen.152 Kritisiert wird an dieser ausdrücklichen Hervorhebung unter anderem, dass sie nicht 61 nötig gewesen wäre, weil menschenverachtende Motive und Beweggründe auch nach der ursprünglichen Fassung des § 46 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. 2. Hs. StGB zu berücksichtigen waren.153 Dies ist zwar richtig, dennoch sind derartige Motive nicht hinreichend bei der Er147 Umfassend zu Berücksichtigungsmöglichkeiten der besonderen Tatumstände von Diskriminierungs-
kriminalität bei der Strafzumessung Sotiriadis, Brauchen wir sanktionsrechtliche Normen, damit Hate Crimes von der Strafjustiz angemessen beurteilt werden?, KJ 2014, S. 261 (267 ff.). 148 Vgl. Fn. 5. 149 Vgl. Bundesregierung, BT-Drs. 18/3007, S. 7. 150 Vgl. Bundesrat, BT-Drs. 16/10123, S. 7 (erledigt durch Ablauf der Wahlperiode); Bundesrat, BTDrs. 17/9345, S. 5 und BT-Fraktion der SPD, BT-Drs. 17/8131, S. 3 (beide abgelehnt, BT-Plenarprotokoll 17/198, S. 23954 D-23955 B). Umfassend zu Versuchen, das Strafzumessungsrecht in Bezug auf vorurteilsmotivierte Taten zu ändern, Lang (Fn. 1), S. 30 f., 172 ff.; vgl. auch Krupna (Fn. 1), S. 63 ff. 151 Vgl. Rahmenbeschluss des Rates zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit v. 28.11.2008, ABl. 2008 L 328/55. 152 Vgl. Fn. 7; vgl. dazu BT-Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 19/17741, S. 6, 17 f. 153 Vgl. Jungbluth, Irrungen und Wirrungen der „Hasskriminalität“, StV 2015, S. 579 (581); Timm (Fn. 139), S. 143 f.; vgl. auch Dessecker, Vorurteilsbezogene Kriminalität und das begrenzte Interventionspotential des Strafrechts, in: FS Rössner, 2015, S. 59 (68 ff.); Seehafer (Fn. 1), S. 111. Anja Schmidt
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mittlung und Strafzumessung berücksichtigt worden, sodass eine gesetzliche Klarstellung angemessen war.154 § 46 Abs. 2 Satz 2 1. Alt 2. Hs. StGB erfasst Diskriminierungskriminalität und ist als all62 gemeine Strafzumessungsregelung auf alle Straftatbestände anzuwenden. Allerdings wäre eine gesonderte Regelung in einem eigenen Paragraphen, die zudem klarstellt, dass diskriminierende Motive strafschärfend zu berücksichtigen sind, wünschenswert gewesen. Denn Diskriminierungskriminalität ist eine spezifische Kriminalitätsform, die die Opfer in besonderer Weise in ihrem Anspruch auf gleiche Achtung verletzt, die marginalisierte Gruppen überhaupt herabwürdigt und damit auch die Grundlagen des Zusammenlebens im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat in Frage stellt. Zudem hätten aus Gründen der Klarstellung und Bestimmtheit neben den ausdrücklich genannten rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven auch die Anknüpfung an das Geschlecht, die geschlechtliche Identität, sexuelle Orientierung oder Religion des Opfers benannt werden sollen.155 Der Begriff der Menschenverachtung wird unterschiedlich definiert. Einige zählen be63 stimmte Motive auf. Maier geht etwa davon aus, dass insbesondere auf antisemitische, gegen eine bestimmte religiöse Orientierung, gegen eine Behinderung, gegen den gesellschaftlichen Status oder gegen die sexuelle Orientierung gerichtete Beweggründe abgestellt werde und bezeichnet diese Deliktsgruppe als Hassdelikte.156 Fischer hingegen definiert allgemeiner, dass Motive menschenverachtend sind, die einzelne Gruppen von Menschen, z. B. Frauen, Ausländer:innen, behinderte Menschen oder Menschen im Allgemeinen als minderwertig oder verächtlich ansehen.157 In der Begründung des Entwurfs des Gesetzes zur Umsetzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses wird es allgemein als menschenverachtend betrachtet, wenn die „vermeintliche Andersartigkeit einer Personengruppe als Rechtfertigung für die Negierung der Menschenrechte und die Verletzung der Menschenwürde der Opfer missbraucht“ wird.158 In den Entwürfen der Bundesregierung und der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und SPD für ein Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität wird klargestellt, dass andere, nicht ausdrücklich genannte menschenverachtende Tatmotive erfasst sein sollen. Beispielhaft werden unter anderem Tatmotive genannt, die sich „gegen die sexuelle Orientierung oder Identität, gegen eine Behinderung oder den gesellschaftlichen Status (etwa bei Obdachlosen) richten“. Ebenso erfasst seien islamfeindliche, christenfeindliche, antiziganistische Beweggründe oder das Geschlecht als Beweggrund für eine Tat.159 Durch eine offene Formulierung besteht die Gefahr, dass einerseits Tatmotive einbezo64 gen werden, die nicht diskriminieren, und andererseits diskriminierte Opfergruppen nicht als solche erkannt und berücksichtigt werden.160 Allerdings ist es sinnvoll, den Begriff 154 Vgl. → Geneuss, § 27, und unten Rn. 89 ff. (E. III.). 155 Vgl. auch Lang (Fn. 1), S. 396 ff., insb. 402 ff., wobei Lang die Anknüpfung an das Geschlecht nicht,
dafür aber antipluralistische Beweggründe einbeziehen möchte. Vgl. Maier, in: MüKo StGB, Bd. 2, 4. Aufl. 2020, § 46 Rn. 210. Vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 46 Rn. 26c. Vgl. Bundesregierung, BT-Drs. 18/3007, S. 15. BT-Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 19/17741, S. 18. Vgl. Lang (Fn. 1), S. 377 f.
156 157 158 159 160
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der Menschenverachtung nicht nur auf Straftaten zu beziehen, mit denen marginalisierte Gruppen und ihnen zugeschriebene Personen herabgesetzt werden sollen. Mit ihm lassen sich auch Fälle umschreiben, in denen Täter:innen sich über Menschenleben hinwegsetzen, weil sie das Opfer überhaupt einer Gruppe zuschreiben. Der Begriff erfasst damit zwar auch diskriminierende Vorurteilsmotive, aber auch andere gruppenbezogene Beweggründe. II. Cyber Harassment, einschließlich Hate Speech
Eine typische Form von Diskriminierungskriminalität ist Cyber Harassment (Belästigung 65 im Internet, digitale Belästigung, Online-Harassment). Hierzu zählt auch Hate Speech (Hassrede). 1. Erscheinungsformen
Cyber Harassment ist kein rechtlicher Begriff. Er bezeichnet die gezielte Bloßstellung, Be- 66 leidigung, Belästigung oder Ausgrenzung einer Person mittels Informations- und Kommunikationstechnologien. Cyber Harassment umfasst unter anderem Hassrede, die Weitergabe und Veröffentlichung privater Daten, einschließlich intimer Bilder („Revenge Porn“), das Vortäuschen einer fremden Identität, Stalking und Datendiebstahl.161 Die Nutzung digitaler Technologien führt dazu, dass einmal veröffentlichte Inhalte kaum zu löschen sind, schnell viral gehen können und die Zahl der Angriffe ins Unermessliche steigen kann. Die Hemmschwelle für Cyber Harassment ist deutlich geringer als bei einer persönlichen Begegnung, weil sich Täter:innen und Opfer nicht unmittelbar gegenüberstehen. Auf schlichte Meinungsäußerungen wird beispielsweise mit verletzenden Aussagen wie Vergewaltigungs- und Mordfantasien oder -drohungen reagiert, wie sie im persönlichen Kontakt in der Regel nicht getätigt werden. Die Folgen für das Opfer können erheblich sein. Neben einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts, als Angriff auf die Ehre, einem Eingriff in die Privatsphäre oder einer Verletzung des Rechts am eigenen Bild kann die Lebensgestaltung aufgrund der Dauerhaftigkeit der Belastung (weil ein Post digital fortlebt oder die Angriffe andauern) oder der erheblichen Zahl der Angriffe (zum Beispiel unzählige Kommentare auf einen Twitter-Post) erheblich beeinträchtigt werden. Es kann dazu kommen, dass erhebliche Ressourcen aufgewendet werden müssen, um mit alltäglichem Cyber Harassment umzugehen, dass Äußerungen aus Angst vor einem digitalem „Shitstorm“ unterlassen werden oder dass sich eine Person vollkommen aus den sozialen Netzwerken zurückzieht (sogenannter silencing effect). Cyber Harassment führt dann zum Aus161 Vgl. dazu die Materialien der EU-Initiative klicksafe, in Deutschland umgesetzt von der Landeszen-
trale für Medien und Kommunikation (LMK) Rheinland-Pfalz, etwa: LMK, Cyber-Mobbing – was ist das?; Projekte cyberhelp.eu, Begriffsdefinitionen, http://cyberhelp.eu/de/introduction/begriffe; Doerbeck, Cybermobbing, Phänomenologische Betrachtung und strafrechtliche Analyse, 2019, S. 131, die aber unter Online-Harassment nur wiederkehrende belästigende Handlungen versteht; Cornelius, Plädoyer für einen Cybermobbing-Straftatbestand, ZRP 2014, S. 164; Lembke (Fn. 146), S. 385 f. Anja Schmidt
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schluss aus dem digitalen Kommunikationsraum.162 Die Beeinträchtigungen durch Cyber Harassment können so schwerwiegend sein, dass auch von „digitaler Gewalt“ gesprochen wird.163 Auch Hassrede ist kein rechtlicher Begriff, sondern bezeichnet ein Phänomen. Unter 67 Hassrede werden Äußerungen verstanden, mit denen marginalisierte Gruppen oder einzelne Personen diskriminierend abgewertet werden, zum Beispiel auf rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische, antimuslimische, sexistische, heterosexistische oder behindertenfeindliche Weise.164 Auch Hassrede führt zur Verdrängung aus dem digitalen Kommunikationsraum und erschwert oder verhindert damit die Möglichkeiten, sich öffentlich zu äußern. Damit wird eine der Grundlagen des demokratischen Gemeinwesens angegriffen.165 Eine repräsentative Befragung deutscher Internetnutzer:innen im Jahr 2019 ergab, dass sich 54 Prozent der Befragten aufgrund von selbst erfahrenen oder befürchteten Hasskommentaren seltener mit politischen Kommentaren in Diskussionen im Netz einbringen und 47 Prozent der Befragten sich wegen Hassrede seltener an Diskussionen im Netz beteiligen.166 Bei Hassrede scheint sexistischen und rassistischen Kommentaren eine besondere Bedeutung zuzukommen. Beispielsweise wird auf Posts von Frauen, die allgemeine politische Fragen betreffen, häufig mit Vergewaltigungsdrohungen reagiert. Frauen werden also zu Sexual- und Gewaltobjekten reduziert, weil sie überhaupt eine Meinungsäußerung getätigt haben. Meinungsäußerungen von Personen nicht deutscher Abstammung werden mit Todesdrohungen, teils mit Anspielungen auf die menschenverachtende nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie kommentiert, ihnen also der Achtungsanspruch als Mensch verwehrt, weil sie nicht deutscher Herkunft sind. Die ZDF-Reporterin Nicole Diekmann, die am 1.1.2019 auf ihrem privaten Twitter-Account die Worte „Nazis raus“ gepostet hatte, erhielt innerhalb weniger Tage Kommentare von Männern, die ihr wünschten, vergewaltigt, verstümmelt oder erschossen zu werden, oder bemerkten, sie sei Abfall, der entsorgt werden müsse.167 Nach Recherchen des ARD-Ma162 Ausführlich Bundesministerium für Familie, Senioren und Frauen, Dritter Gleichstellungsbericht, Di-
gitalisierung geschlechtergerecht gestalten, 2021, S. 197 ff.; Völzmann, Freiheit und Grenzen digitaler Kommunikation, MMR 2021, S. 619 (620 f.); Geschke/Klaßen/Quent/Richter, Hass im Netz, Der schleichende Angriff auf unsere Demokratie, Eine bundesweite repräsentative Untersuchung, 2019, S. 26 ff.; LMK Rheinland-Pfalz (Fn. 161); Gümüşay, Digitale Gewalt gegen Frauen, djbZ 4/2019, S. 202 f.; Cornelius (Fn. 161), S. 164 f.; Lembke (Fn. 146), S. 385 ff. Bei einer repräsentativen Online-Befragung der Forschungsgruppe g/d/p im Auftrag von Hoven, waren 42 Prozent der Befragten aufgrund von Hassrede vorsichtiger bei eigenen Beiträgen im Internet, vgl. Hate Speech, Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, 2020, Folien 7, 20. 163 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren und Frauen (Fn. 161); Völzmann (Fn. 162) S. 619 (620 f.); Gümüşay (Fn. 161), S. 202 f.; Stelkens, Digitale Gewalt und Persönlichkeitsrechtsverletzungen, STREIT 2016, S. 147 (149); Lembke, Kollektive Rechtsmobilisierung gegen digitale Gewalt, 2017. 164 Vgl. Amadeu Antonio Stiftung, Was ist Hate Speech?, https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/ digitale-zivilgesellschaft/was-ist-hate-speech/; vgl. auch Bredler/Markard (Fn. 75), S. 864 (865); No-HateSpeech-Movement Deutschland, https://no-hate-speech.de/de/wissen/; Council of Europe, Recommendation No. R 97 (20) of the Committee of Ministers to Member States on „Hate Speech“ v. 30.10.1997. 165 Vgl. Bredler/Markard (Fn. 75), S. 864 (865, 867 f.); Völzmann (Fn. 162) S. 619 (621). 166 Vgl. Geschke/Klaßen/Quent/Richter (Fn. 162), S. 5, 28 f. 167 Vgl. Leber, Hass im Internet, Ein „Nazi Raus“ und seine Folgen, Der Tagesspiegel v. 7.1.2019. Anja Schmidt
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gazins „report München“ gaben 87 Prozent der weiblichen Bundestagsabgeordneten an, bereits Opfer von Hass und Bedrohung im Netz geworden zu sein, einige fast täglich. 57 Prozent der Befragten berichteten von sexistischen Beleidigungen und Bedrohungen.168 Die Beiträge des Spiegel-Journalisten Hasnain Kassim, einem Deutschen indisch-pakistanischer Abstammung, werden mit Kommentaren wie man wolle ihn „am liebsten tot sehen“ oder „in den Gasofen schicken“ kommentiert.169 2. In Betracht kommende Straftatbestände
Es gibt keine Norm im deutschen Strafrecht, die Cyber Harassment und Hassrede als sol- 68 che verbietet. Ein Sonderfall ist die Volksverhetzung gem. § 130 StGB, die im nächsten Abschnitt behandelt wird. Cyber Harassment und Hassrede können jedoch von bestehenden Straftatbeständen erfasst sein, die grundsätzlich unabhängig davon greifen, ob die Delikte im persönlichen Kontakt oder via Telekommunikationstechnologien begangen wurden.170 Einschlägig können unter anderem folgende Straftatbestände sein: Das Verbreiten von 69 Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen, das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§§ 86, 86a StGB), die öffentliche Aufforderung zu Straftaten (§ 111 StGB), die Störung des öffentlichen Friedens durch die Androhung von Straftaten (§ 126 StGB), die Volksverhetzung (§ 130 StGB), die Belohnung und Billigung von Straftaten (§ 140 StGB), die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (§ 166 StGB), Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung (§§ 185 ff. StGB), die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes und des höchstpersönlichen Lebensbereiches durch Bildaufnahmen (§§ 201, 201a StGB), das Ausspähen und Abfangen von Daten, deren Vorbereitung und Datenhehlerei (§§ 202a ff. StGB), Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 StGB), Nachstellung (§ 238 StGB), Nötigung (§ 240 StGB), sowie Bedrohung gem. § 241 StGB, das Verbot der öffentlichen Zur-Schau-Stellung von Bildnissen gem. §§ 22, 23, 33 Kunsturhebergesetz.171 Auch die Verbreitung gewalt- und tierpornographischer Schriften gem. § 184a StGB kann vorliegen, wenn eine Vergewaltigungsvorstellung verbreitet wird.172 Ebenso ist an die Gewaltdarstellung gem. § 131 StGB zu denken. Ob der Straftatbestand der Körperverletzung gem. § 223 StGB bei erheblichen psychischen Beeinträchtigungen, die sich körperlich niederschlagen, greift, ist umstritten.173 Am 22.9.2021 traten § 126a StGB, der das gefährdende Verbreiten personenbezo168 Vgl. https://www.tagesschau.de/investigativ/report-muenchen/hass-politikerinnen-101.html. 169 Vgl. Kazim, Post von Karl-Heinz, 2018, S. 29. 170 Einen umfassenden Überblick über die strafrechtliche Erfassung von Cyber Mobbing als fortgesetzte
Herabsetzung von Schwächeren mittels Informations- und Kommunikationstechnologien gibt Doerbeck (Fn. 161), S. 138 ff. 171 Ausführlicher Wiacek, Strafbarkeit rechts motivierter Cyberkriminalität in sozialen Netzwerken, 2019, S. 99 ff.; Koreng (Fn. 146), S. 152 ff.; Cornelius (Fn. 161), S. 165 f.; Krupna (Fn. 1), S. 94 ff.; Rössner, Vorurteilskriminalität im Strafgesetzbuch, Bestandsaufnahme und Reformüberlegungen, in: DFK (Fn. 1), S. 131 ff. 172 Vgl. AG Bielefeld, Urt. v. 9.11.2015, 36 Ds, 216 Js 160/12, 257/15. 173 Vgl. zum Streitstand Hardtung, in: MüKo StGB, Bd. 4, 4. Aufl. 2021, § 223 Rn. 41 ff. Anja Schmidt
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gener Daten zur Bekämpfung sogenannter Feindeslisten unter Strafe stellt, und der Straftatbestand der verhetzenden Beleidigung nach § 192a StGB in Kraft.174 § 192a StGB zählt abschließend Gruppen auf, auf die sich eine verhetzende Beleidigung beziehen kann, und zwar Gruppen, die bestimmt werden „durch ihre nationale, rassische, religiöse oder ethnische Herkunft, ihre Weltanschauung, ihre Behinderung oder ihre sexuelle Orientierung“. Das unter anderem in Art. 3 Abs. 2 und 3 S. 1 GG anerkannte Diskriminierungsmerkmal des Geschlechts fehlt.175 70 Das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität sieht einige Erweiterungen und Schärfungen von Straftatbeständen vor, die bei Cyber Harassment in Betracht kommen.176 Unter anderem ist eine Androhung von Straftaten gem. § 126 Abs. 1 Nr. 2 StGB nunmehr auch dann strafbar, wenn mit einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung gedroht wird. Eine Beleidigung gem. § 185 StGB wird schärfer bestraft, wenn die ehrverletzende Äußerung öffentlich, in einer Versammlung oder durch das Verbreiten von Schriften erfolgt. Damit soll darauf reagiert werden, dass viele ehrverletzende Äußerungen durch die Nutzung sozialer Medien mit den entsprechenden Verbreitungsmöglichkeiten erfolgen.177 Der Bundesrat mahnte allerdings eine umfassende Reform der Ehrdelikte an, um strafrechtlich angemessen auf Phänomene wie Hassrede und Cyber Mobbing in ihrem besonderen Unwertgehalt zu reagieren.178 Zudem wurde § 140 StGB so geändert, dass das Belohnen und Billigen der dort aufgeführten Taten strafbar ist und nicht erst dann bestraft wird, wenn sie nach ihrer Begehung bzw. dem Versuch ihrer Begehung belohnt oder gebilligt wurden. Strafbar ist dann auch das Gutheißen einer Tat, ohne dass diese bereits begangen worden sein muss oder konkret angedroht werden muss.179 Die Bedrohung mit einer Straftat gem. § 241 StGB ist nun nicht erst strafbar, wenn mit einem Verbrechen gedroht wird, sondern schon dann, wenn mit einer rechtswidrigen Tat gegen die sexuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder Sachen von bedeutendem Wert gedroht wird.180 71 Bredler/Markard schlagen vor, bei der Anwendung der Ehrdelikte in die Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit der äußernden Person und den Rechten der angegriffenen Person, den Anspruch auf Nichtdiskriminierung nach Art. 3 Abs. 2 und 3 GG einzubeziehen: „Das Gewicht der Meinungsfreiheit“ soll demnach „umso geringer“ sein, „je größer der Bezug der Äußerung zu einem Diskriminierungsmerkmal aus Art. 3 Abs. 3 GG ist, insbesondere wenn die Äußerung geeignet ist, abschreckende Effekte auch auf Dritte und somit auf den demokratischen Diskurs insgesamt zu entfalten“.181 Dieser Vorschlag wird der Bedeutung der Gleichheit für die Inanspruchnahme von Freiheit durch die von 174 Vgl. Fn. 10; vgl. zur Begründung Bundesregierung, BT-Drs. 19/28678, S. 10 ff. und Ausschuss für Recht
und Verbraucherschutz, Ausschussdrucksache 19(6)246, S. 8 ff. Vgl. dazu oben Rn. 46 ff. (C. II. 3. e)). Fn. 8. Vgl. dazu BT-Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 19/17741, S. 6, 33 f. Vgl. Bundesrat, BR-Drs. 87/20 (B), S. 6. Vgl. dazu BT-Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 19/17741, S. 6, 32 f. Vgl. dazu BT-Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 19/17741, S. 7, 35. Bredler/Markard (Fn. 75), S. 864 (871); vgl. auch Völzmann (Fn. 162) S. 619 (622 f.).
175 176 177 178 179 180 181
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Hassrede betroffenen Personen gerecht.182 Auf diese Weise können die spezifischen Auswirkungen von Hassrede auf marginalisierte Gruppen und der sogenannte silencing effect bei der Anwendung der Ehrdelikte berücksichtigt werden. Kritisiert wird, dass die spezifischen Erscheinungsformen von Cyber Harassment vom 72 bestehenden Strafrecht nur unzureichend erfasst werden. Denn Cyber Harassment geht weit über eine bloße „Ehrverletzung“ oder einen Eingriff in die Privatsphäre hinaus, wenn sich die Angriffe häufen oder viral gehen, sodass die Lebensgestaltung des Opfers erheblich beeinträchtigt wird. Zwar erfasst die Nachstellung gem. § 238 Abs. 1 Nr. 2 StGB diesen Taterfolg, wenn er mittels Telekommunikationsmitteln oder sonstigen Mitteln der Kommunikation herbeigeführt wird. Allerdings muss dieser Kontakt beharrlich durch eine:n einzelne:n Täter:in hergestellt werden. Eine der typischen Dynamiken von Cyber Harassment, bei der eine Vielzahl zunächst Außenstehender „auf den fahrenden Zug aufspringen“ und sich einem Cyberangriff anschließen, ist von § 238 StGB nicht erfasst.183 Cornelius und Lembke fordern deshalb, einen Cyber Mobbing-Tatbestand einzuführen, der sich am Taterfolg der Nachstellung gem. § 238 StGB und an der von § 231 StGB und den §§ 121, 124, 125 StGB erfassten Tatdynamik des Vorgehens mit vereinten Kräften orientieren könnte.184 3. Insbesondere: Volksverhetzung gem. § 130 StGB
Bei Hassrede wird regelmäßig der Tatbestand der Beleidigung gem. § 185 StGB gegeben 73 sein, da die betroffene Person über die Zuschreibung zu einer marginalisierten Gruppe in ihrem Anspruch auf gleiche Achtung missachtet, also als Person abgewertet wird. Allerdings erfasst dies die Schwere von Hassrede nicht gänzlich, denn es geht nicht nur um die Kundgabe der Miss- oder Nichtachtung einer eigentlich als gleich zu achtenden Person, wie § 185 StGB implizit voraussetzt.185 Es geht vielmehr darum, dass der betroffenen Person der Anspruch auf gleiche Achtung auf diskriminierende Weise abgesprochen wird, weil sie einer Gruppe zugeschrieben wird, die abgewertet wird, obwohl auch sie gleich zu achten ist. Ein Tatbestand, der dies erfassen könnte, ist die Volksverhetzung gem. § 130 StGB, 74 wobei im begrenzten Rahmen dieses Beitrages exemplarisch nur auf § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB eingegangen werden soll. Gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist es strafbar, in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch anzugreifen, dass er:sie eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre Herkunft bestimmte Gruppe, Teile der Bevölkerung oder Einzelne wegen der Zugehörigkeit zu den vorbenannten Personengruppen beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet. Ein Beschimpfen ist eine besonders herabsetzende Form der Missachtung; böswillig Verächtlichmachen ist die aus verwerflichen Beweggründen erfolgende Darstellung als ver182 Vgl. hierzu Rn. 26 ff. (C. II. 1.); vgl. zur Bedeutung der Gleichheit bei der Abwägung auch BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 18 – Affenlaute. 183 Vgl. Cornelius (Fn. 161), S. 165 f. 184 Cornelius (Fn. 161), S. 166 f.; Lembke (Fn. 146), S. 399 f.; gegen die Einführung eines besonderen Tatbestandes aber Doerbeck (Fn. 161), S. 327 f.; Reum, Cybermobbing, 2014, S. 233. 185 Vgl. Zaczyk, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK StGB, 5. Aufl. 2017, § 185 Rn. 2, 7.
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achtenswert, minderwertig oder unwürdig; verleumdet wird durch wissentlich unwahre Tatsachenbehauptungen, die das Ansehen des Bevölkerungsteiles herabsetzen.186 Eine dieser Tatvarianten wird bei Hassrede insbesondere aufgrund ihres diskriminierenden Charakters in der Regel gegeben sein. Denn die Abwertung mittels der Zuschreibung zu einer marginalisierten Gruppe stellt eine schwerwiegende Verletzung des Anspruchs auf gleiche Anerkennung dar. Aufgrund dessen ist Hassrede auch regelmäßig geeignet, die Menschenwürde der betroffenen Person anzugreifen. Problematisch werden vor allem zwei Aspekte bei der Anwendung des Tatbestandes sein: Die Bevölkerungsgruppe, die abgewertet wird, muss vom Tatbestand erfasst sein und die Hassrede muss geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören. 75 Bei rassistischer, nationalistischer und antireligiöser Hassrede liegt es aufgrund der ausdrücklichen Erwähnung in § 130 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. Nr. 1 StGB nahe, dass die über Herkunft, ethnische Zugehörigkeit oder Religion bestimmte Bevölkerungsgruppe vom Tatbestand erfasst ist. Dementsprechend gelten zum Beispiel Katholik:innen, Jüd:innen, Protestant:innen, Schwarze187 Menschen, Sinti:zze und Rom:nia, Schwäb:innen und Bayer:innen als vom Tatbestand erfasst.188 Ein Bevölkerungsteil im Übrigen soll vorliegen, wenn eine Gruppe aufgrund äußerer oder innerer Merkmale als unterscheidbarer Teil der Gesamtbevölkerung abgrenzbar ist, es sei denn, dass diese Gruppe so groß und unüberschaubar ist, dass sie so unterschiedliche Personen hinsichtlich Einstellungen und politischer Richtung erfasst, dass sie von der Gesamtbevölkerung nicht mehr hinreichend abgrenzbar ist.189 Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen, Richter:innen, Staatsanwält:innen und Mitglieder der Bundeswehr sollen ein Bevölkerungsteil im Sinne der Norm sein, während „Rote“, „Linke“, die „Antifa-Brut“ oder die Fangemeinde eines bestimmten Fußballvereins nicht vom Tatbestand erfasst sein sollen.190 Diese Kasuistik ist teils schwer nachvollziehbar. Denn „die Linke“, die vom Tatbestand nicht erfasst sein soll, ist politisch sicher eine geschlossenere Gruppe als die Katholik:innen, Protestant:innen, Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen, Richter:innen, Staatsanwält:innen und Mitglieder der Bundeswehr, die auch abgesehen von ihren politischen Einstellungen sehr vielfältige Gruppen sein dürften. Zudem ist die Gleichstellung von Schwäb:innen und Bayer:innen mit Sinti:zze und Rom:nia als geschützte Personengruppen seltsam, weil Schwäb:innen und Bayer:innen in Deutschland nicht marginalisiert sind, Sinti:zze und Rom:nia hingegen schon. 76 Diesen Abgrenzungsschwierigkeiten kann begegnet werden, indem § 130 StGB als Norm gegen diskriminierende Äußerungen verstanden wird.191 Als geschützte Grup186 Vgl. Fischer (Fn. 157), § 130 Rn. 11. 187 Der Begriff wird hier für von Rassismus aus der weißen Mehrheitsbevölkerung betroffene Menschen
verwendet.
188 Vgl. m. w. N. Schäfer/Anstötz, in: MüKo StGB, Bd. 3, 4. Aufl. 2021, § 130 Rn. 34. 189 Vgl. Schäfer/Anstötz (Fn. 188), § 130 Rn. 30; BGH, Beschl. v. 14.4.2015, 3 StR 602/14, Rn. 10; BGH,
Urt. v. 3.4.2008, 3 StR 394/07, Rn. 8, 10.
190 Vgl. Schäfer/Anstötz (Fn. 188), § 130 Rn. 34 f. m. w. N. 191 Vgl. auch Magen (Fn. 77), S. 93 f., der allerdings anders als hier alle „identitätsgeprägten Gruppen“ ein-
bezieht. Auch eine Neuregelung kommt in Betracht, etwa in Anlehnung an Art. 261bis des schweizerischen Anja Schmidt
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pen wären dann nur solche erfasst, die marginalisiert sind.192 Hierzu gehören dann in der Regel Sinti:zze und Rom:nia, Jüd:innen, Muslime, Frauen, Homosexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen, Schwarze Menschen und Menschen aus Einwander:innenfamilien, behinderte Personen usw., nicht aber Protestant:innen, Katholik:innen, Schwäb:innen und Bayer:innen, Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen, Richter:innen, Staatsanwält:innen und Mitglieder der Bundeswehr. Hierfür spricht, dass diese Personengruppen als marginalisierte Gruppen von schwerwiegenden Herabwürdigungen besonders betroffen sind und dass die inkriminierten Verhaltensweisen die Grundlagen des demokratischen, pluralen Gemeinwesens auf besondere Weise angreifen. Hierin begründet liegt auch deren Strafwürdigkeit. Für eine Auslegung als Norm gegen schwerwiegende diskriminierende Äußerungen spricht auch deren Entstehungsgeschichte. § 130 StGB wurde 1960 neu gefasst,193 um antisemitische und nazistische Vorfälle, also typische Formen von Diskriminierung, zu bekämpfen.194 Das OLG Köln hat in einem Urteil vom 9. Juni 2020 entschieden, dass sich auch diskriminierende Äußerungen gegen Homosexuelle, Transgender und Frauen unter § 130 StGB subsumieren lassen. Es bezog sich dabei ausdrücklich auf die Entwicklung des § 130 StGB zu einem umfassenden Antidiskriminierungstatbestand.195 Bei einer solchen teleologischen Reduktion des Tatbestandes ließe sich auch dessen 77 Schutzgut konkretisieren. Was Schutzgut des § 130 StGB ist, ist umstritten. Für § 130 Abs. 1 Nr. 2 werden vor allem der öffentliche Frieden, die öffentliche Sicherheit und der Schutz von Individualrechtsgütern, genauer die Würde der einzelnen Gruppenmitglieder, als Schutzgüter diskutiert.196 Der öffentliche Friede und die öffentliche Sicherheit werden verstanden als Zustand allgemeiner Rechtssicherheit. Insbesondere der öffentliche Friede gilt dabei als das Bewusstsein oder Gefühl im Frieden zu leben.197 Der Begriff wird wegen seiner Unschärfe, seines Bezuges zu subjektiven Gefühlen und seiner Inhaltsleere grundlegend in StGB Diskriminierung und Aufruf zum Hass (und gleichlautend Art. 171c des schweizerischen Militärstrafgesetzes). Diese Strafnorm stellt unter anderem unter Strafe, öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion oder sexuellen Orientierung zu Hass oder Diskriminierung aufzurufen oder öffentlich Ideologien zu verbreiten, die auf die systematische Herabsetzung oder Verleumdung dieser Personen oder Personengruppen gerichtet sind. Fraglich ist allerdings, ob es auch strafwürdig ist, wenn jemand einer der genannten Personen oder Personengruppen eine allgemein angebotene Leistung verweigert, wie dies die Norm ebenfalls vorsieht. 192 Vgl. auch Lembke (Fn. 163), S. 6 ff.; Ostendorf, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK StGB, 5. Aufl. 2017, § 130 Rn. 1; Aydin (Fn. 1), S. 481 ff.; vgl. auch die Begründung des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) v. 28.10.1994, BGBl. 1994 I, S. 3186, in der § 130 StGB in der damals neuen Fassung als „allgemeiner Antidiskriminierungstatbestand“ bezeichnet wurde (BT-Fraktionen CDU/CSU und FDP, BT-Drs. 12/6853, S. 24). 193 Durch das Sechste Strafrechtsänderungsgesetz v. 30.6.1960, BGBl. 1960 I, S. 478. 194 Vgl. Schäfer/Anstötz (Fn. 188), § 130 Rn. 14. 195 Vgl. OLG Köln, Urt. v. 9.6.2020, 1 RVs 77/20, Rn. 70, vgl. dazu Steinl, Volksverhetzung gegen Frauen, Verfassungsblog v. 30.6.2020. 196 Vgl. Schäfer/Anstötz (Fn. 188), § 130 Rn. 1 ff. 197 Vgl. Schäfer/Anstötz (Fn. 188), § 130 Rn. 2; Fischer (Fn. 157), § 130 Rn. 2a; ausführlicher SternbergLieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 130 Rn. 1a; Ostendorf (Fn. 192), § 130 Rn. 5. Anja Schmidt
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Frage gestellt.198 Wie oben ausgeführt stellen schwerwiegende Diskriminierungen, wie sie durch Hassrede erfolgen, eine Verletzung des Rechts auf gleiche Anerkennung und Nichtdiskriminierung als marginalisierte Person gem. Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, 2, 3 GG und gegebenenfalls weiterer Grundrechte dar. Hierin liegt nicht nur eine Verletzung individueller Rechte, sondern auch ein schwerwiegender Angriff auf die Grundlagen des Zusammenlebens im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Dies kann als Störung des öffentlichen Friedens betrachtet werden. § 130 StGB wäre dann so zu lesen, dass bei einem dort bezeichneten Angriff auf eine marginalisierte Gruppe oder deren Angehörige immer eine Störung des öffentlichen Friedens vorliegt. Würde § 130 StGB konsequent so interpretiert oder sogar neu gefasst, wäre eine Erwähnung der Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören, zirkulär und entbehrlich.199 4. Netzwerkdurchsetzungsgesetz 78 Die herkömmlichen (straf )rechtlichen Sanktionen kommen bei Hassrede in digitalen
Netzwerken allerdings zu spät, um deren Präsenz und schnelle Verbreitung zu verhindern. Die Politik hat hierauf mit dem NetzDG reagiert, das am 1.10.2017 in Kraft getreten ist. Es regelt den Umgang der Netzwerkanbieter:innen mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte. Gem. § 3 NetzDG müssen die Anbieter:innen ein wirksames, transparentes, leicht erkennbares, unmittelbar erreichbares und ständig verfügbares Verfahren für Beschwerden über rechtswidrige Inhalte vorhalten. Unter anderem sind grundsätzlich offensichtlich rechtswidrige Inhalte innerhalb von 24 Stunden und rechtswidrige Inhalte innerhalb von 7 Tagen zu entfernen oder der Zugang zu ihnen zu sperren. Für den Grundrechtsschutz der von rechtswidrigen Inhalten betroffenen Nutzer:innen ist dies ein immenser Fortschritt. Allerdings werden Bedenken wegen des Eingriffs in die Grundrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit, derjenigen diskutiert, deren Einträge, möglicherweise zu Unrecht, ohne gerichtliche Prüfung gelöscht werden. Als Lösungsvorschlag wird die Einführung eines Put-Back-Verfahrens diskutiert, das von der Löschung betroffene Nutzer:innen in Gang setzen können.200 Mit dem Gesetz zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, das am 28.6.2021, in Kraft getreten ist, wurde ein Gegenvorstellungsverfahren eingeführt.201 Das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität beinhaltet zudem, dass Anbieter:innen sozialer Netzwerke künftig bestimmte strafbare Inhalte, die ihnen über eine Beschwerde zur Kenntnis gelangt sind, direkt an das BKA melden müssen. Dazu sollen unter anderem Inhalte gehören, bei denen konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Tatbestände der Volksverhetzung gem. § 130 StGB und § 241 StGB in Form 198 Vgl. unter anderem Fischer, Öffentlicher Friede und Gedankenäußerung, 1986, S. 630 ff.; Fischer, Die
Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören, NStZ 1988, S. 159 (162 ff.); vgl. auch BVerfGE 124, 300 (341 Rn. 93 f.) – Wunsiedel (2009). 199 Vgl. Magen (Fn. 76), S. 93 f.; Fischer (Fn. 198), S. 164; anderer Ansicht Krupna (Fn. 1), S. 111 f. 200 Umfassend zum NetzDG Lang, Netzwerkdurchsetzungsgesetz und Meinungsfreiheit, AöR 143 (2018), S. 220. 201 BGBl. 2021 I, S. 1436; vgl. zur Begründung Bundesregierung, BT-Drs. 19/18792, S. 9 f., 47 f. Anja Schmidt
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der Bedrohung mit einem Verbrechen gegen das Leben, die sexuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit oder die persönliche Freiheit erfüllt sind.202 III. Gewaltdelikte 1. In Betracht kommende Straftatbestände
Auch andere Straftaten können aus einem Vorurteilsmotiv heraus begangen werden, zum 79 Beispiel die Tötung (§§ 211 ff. StGB) oder Körperverletzung (§§ 223 ff. StGB) einer Person, weil sie homosexuell oder nicht weiß ist oder weil sie als muslimische Frau bestimmten Ehrvorstellungen widerspricht. Der Brandanschlag auf ein Flüchtlingswohnheim wird in der Regel fremdenfeindlich motiviert sein (§§ 306 ff. StGB). Auch Eigentumsdelikte (§§ 242 ff. 249 ff., 263 ff. StGB), Sexualdelikte (§§ 174 ff. StGB), Delikte gegen die persönliche Freiheit (§§ 232 ff. StGB) und Delikte, die vor gruppendynamischen Gewaltabläufen schützen, wie der schwere Hausfriedens- und der Landfriedensbruch (§ 124 ff. StGB) oder die Beteiligung an einer Schlägerei (§ 231 StGB), können aus diskriminierenden Vorurteilsmotiven heraus begangen werden.203 Grundsätzlich können derartige Motive über die Strafzumessungsklausel des § 46 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. 2. Hs. StGB erfasst werden. Allerdings können diskriminierende Vorurteilsmotive auch tatbestandlich gefasst sein, zum Beispiel als sonst niedrige Beweggründe beim Mord gem. § 211 Abs. 2 5. Alt. StGB. Das Land Brandenburg brachte im Jahr 2000 einen Gesetzesantrag in den Bundesrat 80 ein, wonach ein Qualifikationstatbestand der Körperverletzung aus niedrigen Beweggründen § 224a StGB-E in das StGB eingefügt werden sollte.204 Grundsätzlich wurde an diesem Vorschlag kritisiert, dass sich die besondere Berücksichtigung von Vorurteilsmotiven bei Einführung eines § 224a StGB auf Körperverletzungsdelikte beschränke. Zwar machten diese einen großen Teil der Vorurteilskriminalität aus, aber andere vorurteilsmotivierte Delikte, etwa rassistisch motivierte Brandstiftungen, würden nicht erfasst. Das spreche für eine Berücksichtigung der Vorurteilsmotivation über Regelungen des allgemeinen Teils, etwa eine besondere Strafzumessungsregelung.205 2. Diskriminierendes Vorurteilsmotiv als sonst niedriger Beweggrund gem. § 211 Abs. 2 5. Alt. StGB
Zur Erfassung von Vorurteilsmotiven kommt bei einer vorsätzlichen Tötung die Bestra- 81 fung als Mord „sonst aus niedrigen Beweggründen“ gem. § 211 Abs. 2 5. Alt. StGB in Betracht. Aus sonst niedrigen Beweggründen handelt die Person, deren Motiv für die Tötung „nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist“.206 Ihr Vorliegen ist in einer Gesamtwürdigung zu bestimmen, bei der 202 203 204 205 206
§ 3a NetzDG n. F.; vgl. dazu BT-Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 19/17741, S. 42 f. Einen detaillierteren Überblick geben Rössner (Fn. 171), S. 128 ff.; Krupna (Fn. 1), S. 80 ff. Brandenburg, BR-Drs. 577/00. Ausführlich hierzu Tolmein (Fn. 1), S. 316 ff.; Lang (Fn. 1), S. 163 ff. Vgl. Lang (Fn. 1), S. 170 f., 400. BGH, Urt. v. 28.11.2018, 5 StR 379/18, Rn. 16; BGHSt 56, 11 (18); vgl. auch BGHSt 50, 1 (8). Anja Schmidt
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dem:der Tatrichter:in ein revisionsgerichtlich nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht.207 Diskriminierende Vorurteilsmotive können als sonst niedrige Beweggründe eingeordnet werden. Rassenhass, Ausländerfeindlichkeit und der Zweck der ethnischen Säuberung sind bereits als sonst niedrige Beweggründe bewertet worden.208 Auch wenn eine obdachlose Person allein deshalb getötet wird, weil der:die Täter:in eine solche Lebensweise missbilligt, das Opfer also als „lebensunwert“ tötet, liegt ein Mord aus niedrigen Beweggründen vor.209 Eine Tötung aus Gründen der „Ehre“ wird als Mord aus niedrigen Beweggründen betrachtet, wenn der Täter die Werte der deutschen Rechtsgemeinschaft nachvollziehen konnte.210 Problematisiert wird, dass das Mordmerkmal der sonst niedrigen Beweggründe mit 82 Sittlichkeitsbegriffen definiert wird. Eine Ausrichtung auf Sittlichkeitsmaßstäbe entspricht aber weder der Freiheitssicherung als Ziel der Rechtsordnung noch den Anforderungen an die Bestimmtheit des Rechts, insbesondere von Strafgesetzen. Maßstab der Rechtsanwendung sollten nicht diffuse Sittlichkeitsmaßstäbe oder (persönliche) moralische Wertungen der Richter:innen sein, sondern rechtliche Maßstäbe, genauer die Sicherung der gleichen Würde der Rechtsunterworfenen und der vom Recht geschützten Personen.211 Bei Diskriminierungstötungen sollte die Annahme der sonst niedrigen Beweggründe damit begründet werden, dass einem Menschen das Lebensrecht abgesprochen wird, weil er als gleich zu achtende Person aufgrund der Zuordnung zu einer marginalisierten Gruppe negiert wird. Die Botschaft der Tat reicht über das einzelne Opfer hinaus auf die ganze Gruppe. Sie stellt zudem grundlegende demokratische und rechtsstaatliche Werte in Frage.212 Die Annahme sonst niedriger Beweggründe gründet dann auf der Verletzung fundamentaler Rechte und Rechtsgrundsätze und kann damit nicht als bloß besonders sittenwidrige oder moralisierende Rechtsanwendung betrachtet werden. 83 Zudem sollten die diskriminierenden Motive einer Tötung, die diese straferschwerend zum Mord qualifizieren, konkret in Rechtsbegriffen umschrieben werden, um dem Gebot gesetzlicher Bestimmtheit gem. Art. 103 Abs. 2 GG zu genügen. Einige Reformvorschläge zu § 211 StGB enthalten entsprechende Formulierungen. Beispielsweise sah der 2008 veröffentlichte Alternativentwurf die Mordstrafbarkeit mit Bezug auf die entsprechenden Wertentscheidungen des Grundgesetzes in Art. 3 Abs. 2, 3 GG vor, wenn der:die Täter:in „einen Menschen wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens oder seiner religiösen und po207 Vgl. Fischer (Fn. 157), § 211 Rn. 15.; BGHSt 56, 11 (18 f.). 208 Vgl. Fischer (Fn. 157), § 211 Rn. 27, 30 m. w. N.; Fahlbusch, Über die Unhaltbarkeit des Zustandes der
Mordmerkmale, 2008, S. 155 ff.
209 Vgl. BGH, Urt. v. 14.10.1992, 3 StR 320/92, Rn. 4. 210 Vgl. generell BGH, Urt. v. 11.10.2005,1 StR 195/05, Rn. 2 f.; vgl. zum misogynen Ehrenmord LG Det-
mold, Urt. v. 4.2.2013, 4 Ks31 Js 184/12 56/12; umfassender Überblick m. w. N. bei Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 211 Rn. 19a. 211 Vgl. nur Lang (Fn. 1), S. 140; Seehafer (Fn. 1), S. 75 ff.; Fahlbusch (Fn. 208), S. 129 ff.; Kühl, Der Umgang des Strafrechts mit Moral und Sitten, JA 2009, S. 833 (836 f.) und oben unter Rn. 54 (C. III. 1.). 212 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 143 ff.; zur Tötung aus rassistischen Gründen vgl. Fahlbusch (Fn. 208), S. 319 und oben unter Rn. 54 (C. III. 1.). Anja Schmidt
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litischen Anschauung tötet“.213 Ein Nachteil dieser Formulierung ist, dass sie sich nicht nur auf marginalisierte Gruppen bezieht und nur bestimmte Vorurteilsmotive erfasst. Die Tötung eines:r Obdachlosen als lebensunwertes Leben etwa wäre nach diesem Vorschlag kein Mord. Die vom BMJV eingesetzte Expert:innenkommission zur Reform der Tötungsdelikte, die im Jahr 2015 ihren Bericht vorlegte, empfahl, die „Motivgeneralklausel“ beizubehalten und weitere spezifische Beweggründe ausdrücklich zu normieren. Zu diesen gehörten das Geschlecht, die ethnische oder sonstige Herkunft, der Glaube oder die religiöse Anschauung und die rassistischen Beweggründe.214 K. Lang schlägt vor, § 211 StGB ausdrücklich dahingehend zu ergänzen, dass Mörder ist, wer „aus rassistischen, antisemitischen, sozialdarwinistischen oder antipluralistischen Beweggründen oder wegen der tatsächlichen oder vermuteten Religion, Behinderung, Obdachlosigkeit, sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität des Opfers“ tötet.215 Das Motiv des Geschlechts sollte hier allgemeiner gefasst werden, um Sexismus insgesamt zu erfassen.
E. Strafjustizielle Bewältigung von Diskriminierungskriminalität Bei der strafjustiziellen Bekämpfung von Hasskriminalität hat sich vor allem seit der Auf- 84 deckung des NSU einiges getan, allerdings ist davon auszugehen, dass Diskriminierungskriminalität noch nicht ausreichend erkannt, erfasst und bei Verurteilungen berücksichtigt wird. Im Rahmen dieses Beitrages soll nur kurz umrissen werden, warum diskriminierende Vorurteilsmotive ermittelt werden müssen sowie warum und inwiefern die Rechtspraxis dem bislang nur ungenügend entspricht. Ausführlich wird dieses Problemfeld von Geneuss in diesem Band behandelt.216 I. Pflichten zur Ermittlung diskriminierender Tatmotive
Kriminolog:innen empfehlen zur wirksamen Bekämpfung von Diskriminierungskrimi- 85 nalität neben effektiver Vorurteils- und Kriminalitätsprävention eine wirksame Verfolgung der Taten, um generalpräventiv und gegenüber potentiellen und tatsächlichen Opfern klar zu verdeutlichen, dass solche Taten nicht gewollt sind und der Staat ihnen entschieden entgegentritt.217 Der Grundsatz der schuldangemessenen Strafe erfordert, dass alle für die Tatschuld relevanten Tatsachen ermittelt werden.218 Die Richtlinien für das Strafverfahren 213 Arbeitskreis Alternativentwürfe, Alternativ-Entwurf Leben, GA 2008, S. 193 (200, 229 f.). 214 Vgl. Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte (§§ 211–213, 57a StGB), Abschlussbericht, 2015,
S. 36, 38 f. 215 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 409. 216 → Geneuss, § 27. 217 Umfassend hierzu Schneider, Hasskriminalität, JZ 2003, S. 497 (498 ff., 502 ff.); vgl. auch Schneider (Fn. 14), S. 326 f.; DFK, Arbeitsgruppe: Primäre Prävention von Gewalt gegen Gruppenangehörige, insbesondere: junge Menschen, Einführung und Empfehlungen, Langfassung, 2003, S. 29 f. 218 Vgl. Trüg/Habetha, in: MüKo StPO, Bd. 2, 1. Aufl. 2016, § 244 Rn. 4, 53. Anja Schmidt
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und Bußgeldverfahren (RiStBV )219 sehen inzwischen vor, dass sich die Ermittlungen auf rassistische, fremdenfeindliche oder sonst menschenverachtende Beweggründe zu erstrecken haben (Nr. 15 Abs. 5 RiStBV ) und dass bei derartigen Beweggründen im Regelfall das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu bejahen ist, so dass keine Verfahrenseinstellung und Verweisung auf den Privatklageweg erfolgt (Nr. 86 Abs. 2 RiStBV ). Bei Körperverletzungen wird bei derartigen Motiven das öffentliche Interesse an der Tat zu bejahen sein, so dass es eines Strafantrages nicht bedarf (Nr. 234 Abs. 1 RiStBV ).220 86 Nach Art. 4 des Rahmenbeschlusses RB 2008/913/JI vom 28.11.2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass bei Straftaten rassistische und fremdenfeindliche Beweggründe als erschwerender Umstand bei der Festlegung des Strafmaßes berücksichtigt werden können. Nach Art. 8 des Rahmenbeschlusses dürfen zumindest in den schwerwiegendsten Fällen die Ermittlungen nicht von einer Anzeigeerstattung oder Klageerhebung des Opfers abhängig gemacht werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verlangt auf der Basis einzelner Garantien der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (EMRK)221, z. B. des Rechts auf Leben und des Folterverbotes gem. Art. 2 und 3 EMRK, in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK, dass bei strafrechtlichen Ermittlungen gegen Gewaltakte alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen sind, um rassistische Motive einer Straftat aufzudecken. Diese Rechtsprechung betraf Fälle von Polizeigewalt bzw. Behördenwillkür222, aber auch die Strafverfolgung gegen Privatpersonen223. Dasselbe gilt für Taten, die aufgrund der Religionszugehörigkeit des Opfers begangen wurden.224 II. Statistische Erfassung als Politisch motivierte Kriminalität 87 Seit dem Jahr 2001 wird Diskriminierungskriminalität bundesweit einheitlich durch den
„Kriminalpolizeilichen Meldedienst Politisch motivierte Kriminalität“ (KPMD-PMK) unter dem Oberbegriff „Politisch motivierte Kriminalität“ (PMK) statistisch erfasst.225 Politisch motivierter Kriminalität werden neben politisch motivierten Straftaten Diskriminierungsdelikte zugeordnet, also Taten, die gegen eine Person „wegen ihrer/ihres 219 Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV ) v. 1.1.1977, geändert mit Wir-
kung v. 1.12.2018 durch Bekanntmachung v. 26.11.2018, BAnz AT 30.11.2018 B3.
220 Vgl. zu darüber hinaus gehenden Vorschlägen Lang (Fn. 1), S. 454 ff. 221 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.1950, BGBl. 1952 II, S. 686,
in der Fassung der Bekanntmachung v. 22.10.2010, BGBl. 2010 II, S. 1198; zuletzt geändert durch Protokoll Nr. 15 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 24.6.2013, BGBl. 2014 II, S. 1034. 222 Vgl. EGMR, Urt. v. 6.7.2005, Beschwerde-Nr. 43577/98, 43579/98, Nachova v. Bulgarien, Rn. 158 f.; EGMR, Urt. v. 13.12.2005, Beschwerde-Nr. 15250/02, Bekos u. Koutropoulos v. Griechenland, Rn. 69. 223 Vgl. EGMR, Urt. v. 31.5.2007, Beschwerde-Nr. 40116/02, Šečić v. Kroatien, Rn. 66. 224 Vgl. EGMR, Urt. v. 14.12.2010, Beschwerde-Nr. 44614/07, Milanović v. Serbien, Rn. 96 f. 225 Vgl. BMI/BKA, Politisch Motivierte Kriminalität im Jahr 2020, Bundesweite Fallzahlen, Stand 4.5.2018, S. 2. Anja Schmidt
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[sic] zugeschriebenen oder tatsächlichen politischen Haltung, Einstellung und/oder Engagements, Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, sozialen Status[,] physischen und/oder psychischen Behinderung oder Beeinträchtigung, sexuellen Orientierung und/oder sexuellen Identität oder äußeren Erscheinungsbildes, gerichtet sind und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht bzw. sich in diesem Zusammenhang gegen eine Institution/Sache oder ein Objekt richtet“.226 Zwischenzeitlich wurde das Merkmal „sexuelle Identität“ in „Geschlecht/sexuelle Identität“ geändert.227 Die Zuordnung erfolgt durch Polizeibeamte bei der Aufnahme des Ermittlungsverfahrens. Dabei werden vorurteilsmotivierte Taten zunächst den einzelnen Phänomenbereichen Politisch motivierter Kriminalität, PMK -links und -rechts, PMK -ausländische Ideologie und PMK -religiöse Ideologie, zugeordnet. Erst wenn diese Zuordnung erfolgt ist, kann ein Delikt im Themenfeld Hasskriminalität als eine von vier weiteren unabhängigen Erfassungsebenen aufgenommen werden.228 Dass Hasskriminalität bzw. Diskriminierungskriminalität als Untergruppe Politisch 88 motivierter Kriminalität erfasst wird, dürfte ein struktureller Grund dafür sein, dass sie häufig nicht durch die Ermittlungsbehörden erkannt wird. Zwar hat diskriminierende Kriminalität eine politische Dimension, weil sie die Grundlagen des Zusammenlebens im pluralen freiheitlichen Rechtsstaat angreift.229 Allerdings liegt ihr nicht zwingend eine extremistische, auf Systemüberwindung gerichtete Ideologie zugrunde, die aber auf der ersten Erfassungsebene der Phänomenbereiche in der PMK relevant ist. Hassdelikte haben nicht vorrangig den Staat und seine Repräsentant:innen als Angriffsziel, sondern Minderheiten und die demokratisch-egalitäre Verfasstheit der Gesellschaft.230 Mit dem Fokus auf Extremismus wird zudem verdeckt, dass Vorurteile gegenüber marginalisierten Bevölkerungsgruppen kein Problem am Rand der Gesellschaft, sondern auch eines der Mehrheitsbevölkerung sind, auch wenn sich dies nicht immer in Straftaten äußert. Der Begriff verfehlt insofern die grundlegenden gesellschaftlichen Strukturen, die zu Auffassungen von Ungleichwertigkeit führen.231 III. Erkennen und Verarbeiten von Diskriminierungskriminalität im Verfahrensverlauf
Auch im weiteren Verfahrensverlauf dürften im Hellfeld der Kriminalität liegende Delikte 89 nicht als Diskriminierungsdelikte erkannt werden. K. Lang analysierte die Akten, die zu den vom Landeskriminalamt Sachsen im Jahr 2006/07 als PMK -rechts erfassten Fällen 226 Vgl. BKA, Definitionssystem Politisch motivierte Kriminalität, 2016, S. 5. 227 BKA, https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/PMK/pmk_node.html. 228 Vgl. BMI, Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2017, S. 2 ff. Insgesamt zur PMK vgl. Schellenberg
(Fn. 22), S. 43 (44 f.); Habermann/Singelnstein, Praxis und Probleme bei der Erfassung politisch rechtsmotivierter Kriminalität durch die Polizei, in: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hrsg.), Gewalt gegen Minderheiten, 2018, S. 20 ff.; Glet (Fn. 1), S. 79 ff., Lang (Fn. 1), S. 52 ff. Zur Kritik der Phänomenbereiche vgl. ebd., S. 74 ff. 229 Hierzu oben Rn. 26 ff. (C. II. 1.). 230 Vgl. Schellenberg (Fn. 22), S. 43, 46 f.; Lang (Fn. 1), S. 62 ff., 464; Coester (Fn. 1), S. 357. 231 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 41 f., 60 ff.; Krupna (Fn. 1), S. 19 f.; Glet (Fn. 1), S. 90 ff. Anja Schmidt
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geführt wurden, im Verlauf des Strafprozesses.232 Sie kam zu dem Schluss, dass es an einer gefestigten Anwendungspraxis der Justiz zur Feststellung der Tatmotivation und ihrer Einbeziehung in die Strafzumessung fehlt und ging von einer rapiden Abnahme der Feststellung der Vorurteilsmotivation im Verlauf des Prozesses der Strafverfolgung aus.233 Glet untersuchte „die Fallkonstitution und den Prozess der Sachverhaltsrekonstruktion sowie den Verlauf polizeilich definierter Hasskriminalität im Strafjustizsystem“ vor allem anhand einer Analyse der Akten, die in Strafverfahren in Baden-Württemberg von 2004 bis 2008 geführt wurden.234 Sie stellte eine stark selektive Problemwahrnehmung, fokussiert auf rechtsextreme Täter:innen235 und Opfer aus Einwander:innenfamilien, fest. Dadurch habe sich möglicherweise die Erfassung rechtsextremer Taten verbessert, von der mehrdimensionalen Erfassung eines breiten Spektrums vorurteilsmotivierter Übergriffe könne jedoch keine Rede sein.236 Krupna kam aufgrund einer Befragung von Richter:innen und Staatsanwält:innen in Hessen und Thüringen, die offenbar zwischen 2007 und 2009 stattfand, zu dem Ergebnis, dass die Justizpraxis für den „Kriminalitätsbereich [der Diskriminierungskriminalität] sensibilisiert ist, die die Tätermotive in ihrer Unrechtsschwere einheitlich bewertet und nach ihrer Auffassung vorurteilsbedingte Hasstaten nach der gegenwärtigen Gesetzeslage ausreichend erfasst und sanktioniert werden können“.237 Angesichts der zuvor aufgeführten Untersuchungen ist allerdings fraglich, wie aussagekräftig dieses Ergebnis ist, denn es beruht ausschließlich auf der Selbstwahrnehmung der befragten Richter:innen und Staatsanwält:innen. 90 Seit dem Erstellen dieser Studien hat sich bei den Staatsanwaltschaften einiges getan. Beispielsweise gibt es seit 2012 bei der Staatsanwaltschaft Berlin zwei Ansprechpersonen für homo- und transphobe Kriminalität.238 Bei der Staatsanwaltschaft München I entsteht in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) ein Pilotprojekt zur Verfolgung von Hasskriminalität im Internet. An den Staatsanwaltschaften München, Nürnberg und Bamberg wurden Antisemitismusbeauftragte bestellt.239 In der seit 2016 bestehenden Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC) beschäftigen sich seit 2018 zwei Staatsanwält:innen ausschließlich mit der Verfolgung von Hetze/Hassrede im Netz.240 In Hamburg wurde im Februar 2019 die KoorVgl. Lang (Fn. 1), S. 221. Vgl. Lang (Fn. 1), S. 464, 467. Vgl. Glet (Fn. 1), S. 255 f. Zu 96 Prozent männliche Täter, vgl. Glet (Fn. 1), S. 260. Vgl. Glet (Fn. 1), S. 268. Krupna (Fn. 1), S. 235; die Befragung wurde offenbar zwischen August 2007 (vgl. S. 184) und dem Jahr 2009 (dem Erscheinen der Dissertation Krupnas) durchgeführt. 238 Vgl. Berlin, Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung, Ansprechpersonen für LSBTI, https://www.berlin.de/sen/justva/ueber-uns/beauftragte/ansprechpartnerinhomophobe-hasskriminalitaet/. 239 Vgl. Kohnen, StK: Bayerns Justiz geht konsequent gegen antisemitische Straftaten vor, Pilotprojekt zur Verfolgung von Hasskriminalität im Internet, Bayrischer Justiz- und Verwaltungsreport, 7.5.2019. 240 Vgl. Burger, Staatsanwälte gegen Hetzer, FAZ.net v. 10.7.2019; Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime (ZAC NRW), https://www.justiz.nrw.de/ JM/schwerpunkte/zac/index.php. 232 233 234 235 236 237
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dinierungsstelle „OHNe Hass“ („Offensive gegen Hass im Internet“) eingerichtet, um das Anzeigeverhalten bezüglich Hasstaten im Internet zu verbessern und die Strafverfolgungen zu effektivieren.241 Die Staatsanwaltschaft Göttingen wurde mit Wirkung zum 1. Juli 2020 Niedersachsens Schwerpunktstaatsanwaltschaft zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet.242 In Brandenburg nahm im Juli 2021 eine Zentralstelle für Hasskriminalität und politisch motivierte Straftaten mit zwei Staatsanwält:innen ihre Arbeit auf.243 Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Maßnahmen nicht genügen, um Diskri- 91 minierungskriminalität umfassend zu erfassen. Entsprechende Sonderzuständigkeiten müssten bei allen Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden eingerichtet sein.244 Zudem müssten vorurteilsmotivierte Delikte im gesamten Verfahrensverlauf der Strafverfolgung erfasst werden.245 Auch die FRA mahnt an, dass die Methoden zur Messung von Hass verbessert werden 92 müssen, denn die Erhebungen zur Viktimisierung spiegelten sich in den Erhebungen zu Hasskriminalität nicht wider.246 In diesem Zusammenhang wird bemängelt, dass es an validen Opferdaten fehlt und von einem erheblichen Dunkelfeld nicht angezeigter Diskriminierungsdelikte auszugehen ist.247 Eine besondere Rolle zur Erfassung des Problems von Diskriminierungskriminalität kommt Nichtregierungsorganisationen als unabhängigen Anlaufstellen für Opfer zu, die nicht in die herkömmlichen Justizstrukturen eingebunden sind. Deren Daten weichen erheblich von den staatlich gesammelten Daten ab.248 Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) empfiehlt zudem in seinem Parallelbericht an den UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung Konsequenzen im Bereich der Aus- und Fortbildung. Von Rechtsänderungen allein sei nicht zu erwarten, dass die bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten bestehenden Defizite in der adäquaten Erfassung und Behandlung rassistisch motivierter Taten behoben würden. Insbesondere reichten die bisherigen, häufig isolierten Qualifikationsangebote dafür nicht aus.249 241 Vgl. Freie und Hansestadt Hamburg, Justizbehörde, https://www.hamburg.de/justizbehoerde/ohne-
hass/.
242 Vgl. Staatsanwaltschaft Göttingen, https://staatsanwaltschaft-goettingen.niedersachsen.de/startseite/
aktuelles/presseinformationen/staatsanwaltschaft-gottingen-wird-schwerpunktstaatsanwaltschaftzur-bekampfung-von-hasskriminalitat-im-internet-durchsuchungen-in-niedersachsen-am-heutigentage-189012.html. 243 dpa-infocom, dpa:210701–99–213290/3. 244 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 474. 245 Vgl. Schellenberg (Fn. 22), S. 56 f.; Lang (Fn. 1), S. 473 f.; vgl. auch Glet (Fn. 1), S. 283. 246 Vgl. FRA, Hate crime recording and data collection practice across the EU, 2018, S. 94, 99. Erste Dunkelfeldstudien in Deutschland sind: LKA Niedersachsen, Dunkelfeldstudie, Dritte Befragung zu Sicherheit und Kriminalität in Niedersachsen, 2017; Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, Dunkelfeldstudie des LKA Schleswig-Holstein 2017; vgl. hierzu insb. Dreißigacker, Erfahrung und Folgen von Vorurteilskriminalität, 2018; Groß/Dreißigacker/Riesner, Viktimisierung durch Hasskriminalität, 2018; Geschke/Dieckmann, Hasskriminalität, Auswirkungen der Gewalt gegen Minderheiten; LAG Queeres Netzwerk Sachsen, Hasskriminalität gegen LSBTTIQ*; Loeffler, Recherche: Wie häufig finden Übergriffe gegen LGBT* in Deutschland statt?, Buzzfeed.News v. 27.5.2018. 247 Vgl. Lang (Fn. 1), S. 100 ff.; 473. 248 Vgl. Schellenberg (Fn. 22), S. 53 ff. 249 DIMR (Hrsg.), Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln, Ein Reader für die Strafjustiz, Anja Schmidt
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§ 21 Strafrechtlicher Schutz vor Diskriminierungen und Hasskriminalität
Das DIMR hat Materialien für die Strafjustiz zum Erkennen und Verhandeln rassistischer Straftaten herausgegeben.250
F. Fazit 93
Diskriminierende Kriminalität ist ein schwerwiegendes Problem. Dies zeigen nicht nur die Morde des NSU, sondern auch die Morde von Hanau und der Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale). Auch das für einige alltäglich gewordene Cyber Harassment via soziale Medien, das bislang nur unzureichend strafrechtlich verfolgt wird, zeugt davon. Diskriminierende Kriminalität verletzt nicht nur die konkreten Opfer der Tat und die marginalisierte Gruppe, der es zugeschrieben wurde, auf spezifische Weise, sie stellt auch die Grundlagen des liberal-pluralen Rechtsstaates in Frage. Sie sollte deshalb in Rechtsnormen anerkannt sowie durch die Justiz als solche erkannt und geahndet werden.
2018; DIMR (Hrsg.), Rassismus und Menschenrechte, Materialien für die Fortbildung in der Strafjustiz, 2018; für eine Verbesserung der Fortbildungen auch Dessecker (Fn. 153), S. 73 f.; Habermann/Singelnstein (Fn. 228), S. 28 f.; Schellenberg (Fn. 22), S. 61. 250 DIMR (Hrsg.), Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln, Ein Reader für die Strafjustiz, 2018. Anja Schmidt
Fünfter Teil: Kontexte des Antidiskriminierungsrechts
§ 22 Diskriminierungsschutz im Zivilrechtsverkehr Florian Rödl/Andreas Leidinger Inhaltsübersicht Rn. A. Allgemeines Gleichbehandlungsrecht als Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Diskriminierung als Delikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Besonderes Persönlichkeitsrecht (§ 21 Abs. 1 und 2 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Absolutes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Integrität der Person und Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die betroffene Sphäre der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Versagte Wahrnehmung von Individualität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Manifestation historischer Benachteiligungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zur symmetrischen Ausrichtung (§ 1 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verletzungshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Spezifikation durch Anwendungsbereich (§§ 2 Abs. 1 Nr. 8, 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG) . . . . . . . 2. Insbesondere: im Zuge öffentlichen Angebots oder Massengeschäfts . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verantwortlichkeit (§ 21 Abs. 2 S. 2 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kraft Gefährdung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kraft Vorsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Offene und verdeckte Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Widerrechtlichkeit (§ 20 Abs. 1 S. 2 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kraft Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konstellationen fahrlässiger Verletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gehalt des Fahrlässigkeitsvorwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewusste Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Unbewusste Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Begründete mittelbare Ungleichbehandlung (§ 3 Abs. 2 AGG a. E.) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schuldlose Rechtsverletzung (§ 21 Abs. 1 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8 10 11 14 18 19 26 31 35 36 42 46 48 51 55 61 66 67 71 75 81 84 88
C. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Allgemeines Gleichbehandlungsrecht als Zivilrecht Dieser Beitrag entfaltet die Diskriminierungsverbote der §§ 19–21 AGG aus der Logik des 1 Zivilrechts. Er zeigt, dass sich Diskriminierung als Delikt begreifen lässt. Es sei knapp dargestellt, warum das interessant ist.
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§ 22 Diskriminierungsschutz im Zivilrechtsverkehr
Der Beitrag positioniert sich in einer rechtsphilosophischen Grundsatzkontroverse, die die theoretischen und dogmatischen Auseinandersetzungen in vielen rechtlichen Feldern prägt.1 Diese Kontroverse betrifft die Frage, ob das Zivilrecht ein Instrument des Staates ist, um damit an sich beliebig gesetzte Zwecke zu verfolgen, oder, so die Gegenposition des Idealismus, ob jedenfalls das moderne Recht eine ganz bestimmte Idee von Gerechtigkeit zum Ausdruck bringt, die in einer Eigenlogik des Zivilrechts als Ordnung gleicher rechtlicher Freiheit erscheint und die zunächst von staatlich gesetzten Zwecken unabhängig ist. Aus beiden Positionen lassen sich Grundverständnisse der Diskriminierungsverbote entwickeln. 3 Dem instrumentellen Ansatz zufolge weist die Rechtsordnung bestimmte Handlungen als verbotene Diskriminierung aus, um damit bestimmte Zwecke zu verfolgen. Bei diesen Zwecken kann es sich zum Beispiel um volkswirtschaftliche Effizienz2, die Milderung distributiver Ungerechtigkeit3 oder die Ermöglichung perfektionistisch verstandener Freiheit4 handeln, letztere verschieden ausbuchstabiert, etwa im Sinne einer Überwindung sozialer Stigmata5 oder eines Abbaus gesellschaftlicher Hierarchien6. Wer Diskriminierungsverbote in diesem Rahmen begründet, muss die jeweils anvisierten Zwecke als richtig auszeichnen, und er muss begründen, dass ihre Verfolgung ausgerechnet auf jene rechtliche Weise dringend oder gar zwingend geboten ist. Die Einwände, denen sich eine instrumentelle Begründung stellen muss, betreffen die Frage, ob die Zwecksetzung an sich überzeugt, ob sich der Zweck besser auf andere Weise verfolgen lässt und ob die Weise seiner Verfolgung die Verwirklichung anderer, ebenfalls wichtiger Zwecke über Gebühr einschränkt. Der Instrumentalismus endet also notwendig in Interessenabwägungen. 4 Demgegenüber geht der idealistische Ansatz von der klassischen Konzeption des Zivilrechts als Ordnung gleicher rechtlicher Freiheit aus. Das Zivilrecht konstituiert die Menschen als Freie und Gleiche, indem es wirksame Handlungsgrenzen errichtet, die andere nicht überschreiten dürfen. Es errichtet genau diejenigen Handlungsgrenzen, die die Idee der gleichen Freiheit fordert. Handlungsgrenzen werden also nicht errichtet, um Freiheit 2
1 Im Deliktsrecht etwa Weinrib, The Idea of Private Law, 1995, versus Calabresi/Melamed, Property Rules,
Liability Rules, and Inalienability: One View of the Cathedral, Harvard Law Review 85 (1972), S. 1089; im Vertragsrecht Benson, Justice in Transactions, 2019, versus Murphy, The Artificial Morality of Private Law, University of Toronto Law Journal 70 (2020), S. 453; für das Eigentum Waldron, The Right to Private Property, 1988, versus Merrill/Smith, Optimal Standardization in the Law of Property, Yale Law Journal 110 (2000), S. 1; für das geistige Eigentum Schroeder, Unnatural Rights: Hegel and Intellectual Property, University of Miami Law Review 60 (2005), S. 453, versus Gordon, Fair Use as Market Failure, Columbia Law Review 82 (1982), S. 1600; für die normativen Grundlagen der Rechtsordnung insgesamt Ripstein, Force and Freedom, 2009, versus Raz, The Morality of Freedom, 1986. 2 Der Mainstream der ökonomischen Analyse beurteilt die Möglichkeiten der Wohlfahrtssteigerung durch rechtlichen Diskriminierungsschutz traditionell skeptisch, siehe nur Posner, An Economic Analysis of Sex Discrimination Laws, University of Chicago Law Review 56 (1989), S. 1311. 3 Gardner, Discrimination as Injustice, Oxford Journal of Legal Studies 16 (1996), S. 353; als Grundlage einer Kritik der sozialpolitischen Ineffektivität des Antidiskriminierungsrechts Somek, Neoliberale Gerechtigkeit, DZPhil 51 (2003), S. 45; ders., Engineering Equality, 2011, S. 131 ff. 4 Khaitan, A Theory of Discrimination Law, 2015. 5 Solanke, Discrimination as Stigma, 2017. 6 Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995. Florian Rödl/Andreas Leidinger
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im Sinne möglichst vieler Handlungsoptionen zu ermöglichen. Vielmehr bedeutet Freiheit, dass wirksame Handlungsgrenzen für andere bestehen. So entsteht ein Raum, in dem jede selbst das eigene Handeln bestimmen kann.7 Am Beispiel des Deliktsrechts wird das deutlich: Indem das Deliktsrecht (mit § 823 Abs. 1 BGB) jede Einwirkung auf einen fremden Körper als Rechtsverletzung vorstellt, werden alle Menschen konstituiert als Personen, die über ihren Körper im Verhältnis zu allen anderen frei verfügen können. Dieses nicht-instrumentelle Verständnis des Zivilrechts liegt den folgenden Überlegungen zugrunde. Die Diskriminierungsverbote aus dieser Eigenlogik des Zivilrechts zu erklären und als Delikt zu rekonstruieren, heißt danach, sie als eine Handlungsgrenze auszuweisen, die aus der Idee gleicher rechtlicher Freiheit folgt. Als Teil dieser Idee stehen die Diskriminierungsverbote nicht im Feld komplexer Interessenabwägungen, die für oder wider ihre rechtliche Aufstellung ausfallen können.8 Ihre Begründung ist unbedingt und damit auch ihre Geltung. Viele halten das hier zugrunde gelegte Verständnis des Zivilrechts ganz grundsätzlich 5 für überholt. Speziell im Antidiskriminierungsrecht steht es zudem im Verdacht, gegen die Sache des Diskriminierungsschutzes zu arbeiten. Tatsächlich wurde dem Antidiskriminierungsrecht in der Zivilrechtswissenschaft zunächst vorgeworfen, der Eigenlogik des Zivilrechts gerade nicht zu entsprechen, sondern ihr zu widerstreiten.9 In Abhebung von diesem Verdikt sind schon von anderen Autoren Ansätze entwickelt worden, die den deliktischen Charakter der Diskriminierungsverbote entfalten und sie so in die zivilrechtliche Logik hineinholen.10 Diese Ansätze konstruieren den Gehalt der Diskriminierungsverbote jedoch eher eng. Dadurch musste bislang der Eindruck entstehen, eine Rekonstruktion als Delikt resultiere in einer beträchtlichen Restriktion des Diskriminierungsschutzes.11 Im folgenden Beitrag wird gezeigt, dass das nicht stimmt. Die zivilrechtliche Rekon- 6 struktion kann den geltenden Diskriminierungsverboten weitergehend gerecht werden, als es bisher den Anschein hat. Eine zivilrechtliche Rekonstruktion kann insbesondere reflektieren, dass das Antidiskriminierungsrecht auch eine Antwort auf merkmalsbezogene Hierarchien und unbewusste Benachteiligungen liefert.12 7 Ripstein (Fn. 1), Kapitel 2. 8 Vgl. Britz, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL 64 (2004), S. 355 (360 ff.): „Indiffe-
renz“ des Verfassungsrechts hinsichtlich der Existenz umfassender privatrechtlicher Diskriminierungsverbote. Gegen die Indifferenzthese verfassungstheoretisch Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021. 9 Siehe nur Säcker, „Vernunft statt Freiheit!“ – Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner, ZRP 2002, S. 286; Repgen, Antidiskriminierung – die Totenglocke des Privatrechts läutet, in: Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, S. 11. 10 Lobinger, Fehlende Diskriminierungsopfer, klagende Verbände und fragwürdige Kundenerwartungen, EuZA 2009, S. 365; Lobinger, Perspektiven der Privatrechtsdogmatik am Beispiel des allgemeinen Gleichbehandlungsrechts, AcP 216 (2016), S. 28; Hartmann, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, in: Auer u. a. (Hrsg.), Staudinger Eckpfeiler des Zivilrechts, 6. Aufl. 2018, S. 97; Bader, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz als Privatrecht, 2012. 11 Das gilt namentlich für die Reichweite des Verbots mittelbarer Diskriminierung, vgl. Lobinger (Fn. 10), S. 94 ff. 12 Dies manifestiert sich in der im Folgenden zu entfaltenden asymmetrischen Ausrichtung des deliktisch Florian Rödl/Andreas Leidinger
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Für Anhänger eines effektiven Diskriminierungsschutzes, die sich die Idee einer Eigenlogik des Zivilrechts ungeachtet ihres kritischen Potenzials13 nicht zu eigen machen, ist damit die Palette denkbarer Fundamente eines starken Antidiskriminierungsrechts immerhin um eine in sich stimmige Begründung erweitert.14 Wer indessen der Idee vom Zivilrecht als Ordnung gleicher rechtlicher Freiheit mit Offenheit begegnet, wird mit der folgenden Rekonstruktion erneut deren hermeneutische Kraft unter Beweis gestellt finden.
B. Diskriminierung als Delikt 8 Um die Diskriminierung als zivilrechtliches Delikt vorzustellen, muss erläutert werden,
wie der spezialgesetzlich geregelte Diskriminierungsschutz die Struktur der allgemeinen Regeln für Delikte (§§ 823 ff. BGB) reflektiert. Es gilt zu entfalten, wie die Regeln des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)15 Tatbestand und Rechtsfolgen der deliktischen Grundnorm in § 823 Abs. 1 BGB spiegeln. 9 Dafür ist in einem ersten Schritt zu zeigen, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz die Diskriminierung überhaupt als Verletzung eines absoluten Persönlichkeitsrechts begreift (dazu I.), die aus einer spezifischen Verletzungshandlung des Anspruchsgegners resultiert (dazu II.); weiterhin ist die Voraussetzung der Verantwortlichkeit des Anspruchsgegners für die Rechtsverletzung zu behandeln (dazu III.). I. Besonderes Persönlichkeitsrecht (§ 21 Abs. 1 und 2 AGG) 10
Ausgangspunkt für das Folgende ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Dort stehen insbesondere die Normen im Zentrum, die den Diskriminierungsschutz im Zivilrechtsverkehr regeln (§§ 19–21 AGG, sowie § 2 Abs. 1 Nr. 8, §§ 3 bis 5 AGG). Das Gesetz regelt in § 21 Abs. 1 und 2 AGG Forderungen und begleitend Ansprüche, die der von einer Benachteiligung gemäß § 19 Abs. 1 AGG Betroffene gegen den Urheber der Benachteiligung geltend machen kann.
begründbaren Diskriminierungsschutzes (siehe unten Rn. 31 ff. (B. I. 4.)) und in den durch das Delikt der Diskriminierung konstituierten Sorgfaltspflichten (siehe unten Rn. 66 ff. (B. III. 3.)). 13 Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, 2015, S. 48 f. 14 Aus dieser Perspektive hat sich der Verfasser Leidinger an der hiesigen Entfaltung der deliktischen Perspektive beteiligt. In seinem Dissertationsprojekt verteidigt er die These, dass man dem unionsrechtlichen Diskriminierungsschutz, wie ihn der EuGH über Jahrzehnte geprägt hat, nur gerecht wird, wenn man erkennt, dass er spezifische soziale Institutionen – unter anderem die Märkte für menschliche Arbeit, Wohnen und Konsumgüter – aus ihrer Verstrickung mit merkmalsbezogenen sozialen Hierarchien herauslöst und auf ein Ideal merkmalsunabhängiger gleicher Teilhabemöglichkeiten verpflichtet. 15 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. Florian Rödl/Andreas Leidinger
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1. Absolutes Recht
Das Gesetz begreift Diskriminierung offenbar als Verletzung eines absoluten Rechts. Dies 11 zeigt sich zunächst anhand der Regelung in § 21 Abs. 1 Satz 2 AGG, die einen Anspruch auf Unterlassung gewährt. Sie entspricht dem Unterlassungsanspruch in § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB. Einen solchen Anspruch kennt das materielle Zivilrecht grundsätzlich nur im Zusammenhang mit dem Schutz absoluter Rechte.16 Hiervon ausgehend kann das maßgebliche absolute Recht nur ein Aspekt des Rechts 12 an der eigenen Person sein. Dies zeigt sich zusätzlich anhand von § 21 Abs. 2 Satz 3 AGG, denn hier spricht das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz Entschädigung für immateriellen Schaden zu. Immaterielle Schäden, für die das Zivilrecht eine Entschädigung in Geld vorsieht, stellen in der Regel körperliche oder seelische Schmerzen dar. Sie resultieren darum grundsätzlich aus der Verletzung absoluter Rechte an der eigenen Person. Dies zeigt sich anhand der Regel in § 253 Abs. 2 BGB, die allgemein die Entschädigung immateriellen Schadens anordnet im Falle der Verletzung von Körper, Gesundheit, Freiheit oder sexueller Selbstbestimmung.17 Diese wiederum sind gerade als Inhalt des absoluten Rechts an der eigenen Person gemäß § 823 Abs. 1 BGB und § 825 BGB geschützt. Es lässt sich in einem ersten Schritt festhalten: Dem Allgemeinen Gleichbehandlungs- 13 gesetz liegt die Vorstellung zugrunde, dass ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot in § 19 Abs. 1 AGG das absolute Recht des Betroffenen an der eigenen Person verletzt.18 2. Integrität der Person und Persönlichkeitsrecht
Die sogleich anschließende Frage lautet, welcher Aspekt des Rechts an der eigenen Person 14 durch eine Diskriminierung verletzt wird. Dafür ist zu gewärtigen: Das absolute Recht an der eigenen Person hat eine leibliche und eine seelische Seite. Die leibliche Seite ist in § 823 Abs. 1 BGB mit Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit ausdrücklich angesprochen. Von dieser leiblichen Seite der Person hat die Rechtsprechung die seelische Seite als Persönlichkeitsrecht abgesondert und als ein sonstiges Recht19 ebenfalls dem Schutz nach § 823 Abs. 1 BGB unterstellt. Weil Benachteiligungen keine Einwirkung auf Leib, Körper, Gesundheit oder Freiheit darstellen, kommt nur die Verletzung der Persönlichkeit in Betracht. 16 Für das Recht an fremder Leistung besteht lediglich mit § 259 ZPO eine prozessrechtliche Parallele. Das
liegt daran, dass im Fall der vertraglichen Forderung deren positiver Inhalt bereits kraft Vertrags feststeht.
17 Die Entschädigung für seelische Schmerzen ist weiterhin aus Art. 1, 2 Abs. 1 GG abzuleiten, aber das
begründet keinen systematischen Unterschied.
18 Die in § 21 Abs. 5 AGG geregelte Ausschlussfrist ist vor diesem Hintergrund verfehlt. Eine derartige
Verkürzung von Forderungen findet sich in Tarifnormen und Einzelarbeitsverträgen, nicht aber im Deliktsrecht. Da es keinen Grund gibt, ausgerechnet die Forderung aus dem Diskriminierungsdelikt zu verkürzen, ist die Regelung auch mit dem unionsrechtlichen Äquivalenzgrundsatz nicht vereinbar. Zu letzterem EuGH, Urt. v. 8.7.2010, Rs. C-246/09, Bulicke, Rn. 39, wo der EuGH allerdings die arbeitsrechtliche Parallelnorm des § 15 Abs. 4 AGG zu Unrecht gebilligt hat. 19 Aufgrund der Einheit der Person als ein lebendiger und beseelter Körper spricht viel dafür, das „sonstige Recht“ in § 823 Abs. 1 BGB a. E. für vermögenswerte Rechte zu reservieren und die Persönlichkeit im Wege extensiver Auslegung an die leibliche Seite anzufügen. Florian Rödl/Andreas Leidinger
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Einzelne Aspekte der Persönlichkeit werden durch spezielle Normen geschützt. Das Persönlichkeitsrecht umfasst etwa den Gebrauch des eigenen Namens. Störungen dieser Berechtigung sind durch § 12 BGB erfasst. Das Persönlichkeitsrecht umfasst weiterhin die Bestimmung über die Verbreitung oder Veröffentlichung des eigenen Bildes. Störungen dieser Berechtigung sind von §§ 22 ff. KunstUrheberG erfasst. Dem Schutz der allgemeinen Norm des § 823 Abs. 1 BGB unterstellt sind insbesondere all jene Aspekte der Persönlichkeit, die nicht von besonderen Schutznormen erfasst sind. Darum wird in diesem Zusammenhang vom Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gesprochen. Liest man vor diesem Hintergrund das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz als deliktischen Schutz des Persönlichkeitsrechts, dann handelt es sich ebenfalls um einen spezialgesetzlich geregelten Schutz der Persönlichkeit, also um einen besonderen Aspekt des Persönlichkeitsrechts. 16 Ein wesentliches Strukturmerkmal des Persönlichkeitsrechts besteht darin, dass die Persönlichkeit als seelische Seite der Person keine vergleichbar klare Grenze aufweist, wie die leibliche Seite: Wer den Körper eines anderen ohne dessen Einwilligung nur berührt, begeht eine Rechtsverletzung. Wer Krankheit oder Tod verursacht, begeht eine Rechtsverletzung, und ebenso, wer eine andere einsperrt. All dies sind Formen der Einwirkung auf die leibliche Seite der Person. 17 Dessen ungeachtet soll auch die seelische Seite vor rechtsverletzenden Einwirkungen geschützt werden. Einwirkungen auf die Seele entstehen durch Kommunikation und andere Arten der Sinnerfahrung. Die für sie maßgebliche Verletzungsform ist nicht eine sinnlich wahrnehmbare äußerliche Einwirkung in eine räumlich bestimmbare Sphäre, sondern das Erzeugen eines abwertenden Sinnzusammenhangs durch menschliche Interaktion. Es geht daher regelmäßig nicht schlicht um das „Ob“ einer Einwirkung, sondern auch um das „Wie“ der Kommunikation, einschließlich des „Was“ ihres spezifischen Sinngehalts. Diese konstitutive Unterbestimmtheit der Verletzung der seelischen Seite der Person wird in der herrschenden Dogmatik des allgemeinen Persönlichkeitsrechts darin reflektiert, dass der Persönlichkeitsschutz als offener Tatbestand konzipiert wird, der namentlich eine Aufgliederung in Tatbestand und Rechtfertigung ausschließen soll.20 Es wird sich zeigen, dass eben diese Unterbestimmtheit auch die Verletzung des Persönlichkeitsrechts durch Benachteiligung kennzeichnet.21 15
3. Die betroffene Sphäre der Persönlichkeit 18
An dieser Stelle sei nun skizziert, welche besondere Sphäre der Persönlichkeit durch eine Diskriminierung verletzt wird. Die maßgebliche seelische Verletzung erfolgt durch die Benachteiligung wegen eines Merkmals aus § 1 AGG. Der Zusammenhang mit dem Merkmal ist essentiell. Denn für sich genommen hat eine Benachteiligung nach geltendem Deliktsrecht keine Bedeutung für die seelische Seite der Person. Benachteiligungen, die unge20 Teichmann, in: Jauernig, BGB, 18. Aufl. 2021, § 823 Rn. 67. 21 Siehe unter Rn. 61 ff. (B. III. 2. b)): Widerrechtlichkeit.
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rechtfertigt sein mögen, die aber nicht wegen eines der Merkmale in § 1 AGG erfolgen, müssen alle ständig hinnehmen.22 a) Versagte Wahrnehmung von Individualität?
Es wird vertreten, die Benachteiligung wegen eines Merkmals sei eine Persönlichkeitsrechtsverletzung, weil der Betroffene auf der Basis des Merkmals schablonenhaft beurteilt werde. Er könne aber beanspruchen, dass er ohne Ansehung des Merkmals in seiner Individualität beurteilt werde.23 Es wird also ein allgemeiner, das heißt vor allem ahistorischer und gesellschaftlich kontextloser Anspruch auf Individualitätswahrnehmung postuliert. Eine solche Vorstellung geht in zweierlei Hinsicht fehl. Erstens ist auf Basis des unterstellten Anspruchs auf Wahrnehmung der Individualität die gesetzliche Beschränkung des Delikts auf eine Benachteiligung wegen eines der Merkmale aus § 1 AGG nicht verständlich. Denn schablonenhafte oder stereotype Zuschreibungen knüpfen nicht nur an solchen Merkmalen an. Es gibt sie auch für BMW-Fahrerinnen und FH-Ingenieure, Mundartsprecher und Biertrinkerinnen. Auch auf Basis solcher Zuschreibungen können die Betroffenen gewichtige Benachteiligungen erfahren. Aber das wären keine Persönlichkeitsrechtsverletzungen, obwohl die zugrundeliegenden Zuschreibungen der einzelnen Betroffenen als Individuum auch in diesen Fällen nicht gerecht werden. Hierauf könnte erwidert werden, eine stereotype Zuschreibung sei nur eine Rechtsverletzung, sofern sie an Merkmalen ansetze, die entweder tatsächlich unveränderlich, oder normativ aufgrund ihres höchstpersönlichen Charakters von jedem Anpassungsdruck freizuhalten seien.24 Merkmale wie die eben genannten seien hingegen im Zuge der eigenen Lebensführung Gegenstand einer Wahl, die man in Kenntnis der Zuschreibungen getroffen habe, weshalb man auch deren Anwendung auf die eigene Person verkraften müsse. Doch auch auf dieser Grundlage würde die Beschränkung auf die Merkmale in § 1 AGG nicht eingeholt. Denn dort ist auch eine Reihe unveränderlicher Merkmale nicht aufgeführt: etwa die Körpergröße, die natürliche Haarfarbe und die ästhetische Erscheinung, oder auch das Elternhaus und der Intelligenzquotient.
22 Die von Michael Grünberger (Personale Gleichheit, 2013, S. 749–774, 791–830, 864 ff. et passim) ver-
teidigte Präsumtion einer Gleichbehandlungsverpflichtung gibt es im Zivilrecht nicht. Prozessual veranschaulicht: Es gibt kein Mittel, mit dem die Urheberin einer einfachen bloßen Ungleichbehandlung in einen Rechtfertigungsdiskurs gezwungen werden könnte (genau das verlangt aber die Präsumtion, vgl. nur Grünberger, S. 802). Bei Säumnis der Beklagten und beantragtem Versäumnisurteil würde die Klage abgewiesen. Dass es die Präsumtion nicht gibt, ist vom hier zugrunde gelegten Standpunkt richtig. Die Handlungsgrenzen, die das Zivilrecht errichtet, müssten sonst stets im einzelfallorientierten Diskurs ermittelt werden. Das Privatrecht wäre dann keine nicht-instrumentell begründete Ordnung gleicher rechtlicher Freiheit mehr, sondern ein Instrument eines fortwährenden einzelfallbezogenen Interessenausgleichs mit jeweils ungewissem Ausgang. Zur Frage, ob die Idee einer Gleichbehandlungspräsumtion für sich genommen überzeugt, siehe Leidinger (o. Fn. 14). 23 Lobinger (Fn. 11), S. 84. 24 Letzteres gilt für die Religionszugehörigkeit oder die Geschlechtsidentität. Florian Rödl/Andreas Leidinger
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Zweitens geht es in zivilrechtlichen Diskriminierungsfällen regelmäßig ganz grundsätzlich nicht um einen Anspruch, der Individualität des Gegenübers hinreichende Aufmerksamkeit zu schenken. Er richtet sich insbesondere nicht darauf, nicht schablonenhaft behandelt zu werden. Im Gegenteil, in den von den Diskriminierungsverboten erfassten Konstellationen ist es gerade eine standardisierte, eben schablonenhafte Behandlung, an der sich die Abwesenheit von Abwertungen in aller Regel festmachen lässt. Ein Hotelgast ist wie ein gewöhnlicher Hotelgast und eine Patientin ist wie eine gewöhnliche Patientin zu behandeln.25 Der Achtungsanspruch verlangt nur, nicht bezogen auf eine Merkmalsausprägung im Sinne des § 1 AGG abwertend behandelt zu werden. Im Übrigen ist es gänzlich unbeachtlich, wenn der Urheber der Benachteiligung an der Person der Betroffenen ebenso desinteressiert ist wie an der Person aller anderen, die das einschlägige Merkmal nicht tragen. Die Vorstellung einer fehlenden Würdigung der individuellen Persönlichkeit verfehlt also phänomenologisch, worin die Persönlichkeitsverletzung liegt. 24 In Reaktion auf diesen Einwand ist die vorstehende Position dahingehend modifiziert worden, die Persönlichkeitsverletzung bestehe darin, dass das Merkmal im einschlägigen Kontext regelmäßig irrelevant sei. Wo etwa Differenzierungen nach der ethnischen Herkunft regelmäßig unterblieben, wirke es verletzend, wenn plötzlich doch so differenziert werde.26 25 Aber das rettet den Ansatz nicht, unabhängig davon, ob man die maßgebliche Regelmäßigkeit der Irrelevanz empirisch oder normativ versteht. Versteht man sie empirisch, ist einzuwenden, dass es nicht darauf ankommen kann, was regelmäßig geschieht. Sonst wäre etwa in bekanntermaßen rassistisch geprägten Kontexten eine Persönlichkeitsverletzung nicht gegeben, weil jeder mit der herkunftsbezogenen Zurückweisung rechnen musste. Versteht man sie normativ, also im Sinn einer Festlegung, was in dem jeweiligen Kontext zu Recht ein relevantes Differenzierungskriterium sei, dann ist man nicht klüger als zuvor. Grundsätzlich dürfen Private nämlich nach noch so eigenwilligen Präferenzen differenzieren. Eine Vermieterin, die keine Rothaarigen mag, muss nicht an Rothaarige vermieten. Dass gerade die Merkmale nicht herangezogen werden dürfen, die in § 1 AGG aufgezählt werden, muss eigenständig begründet werden. 23
b) Manifestation historischer Benachteiligungsstruktur 26
Das Scheitern dieses Deduktionsversuchs motiviert, die Erläuterung induktiv anzugehen und dabei den historischen Hintergrund der erfassten Kategorien ernst zu nehmen: Die Verletzung der Persönlichkeit besteht darin, dass ausgerechnet ein Merkmal nach § 1 AGG die Anknüpfung einer Benachteiligung liefert. Die erfassten Kategorien verbindet, dass sie in der Geschichte kontinuierlich als zentraler Anknüpfungspunkt für Benachteiligungen dienten und teilweise noch immer dienen. Hierzulande sticht die eliminative Verfolgung 25 Das gilt gerade auch für Menschen mit Behinderung. Gewiss soll auf besondere Einschränkungen oder
Bedürfnisse Rücksicht genommen werden, aber auch dies in durchaus standardisierter Weise, in der die Individualität nicht weiter als genau für diesen Zweck relevant wird. 26 Hartmann (Fn. 10), Rn. 8. Florian Rödl/Andreas Leidinger
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aufgrund von Rasse und ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, sexueller Orientierung und Behinderung im Nationalsozialismus besonders hervor. Im Falle des Geschlechts ist es die teilweise massive Unterdrückung von Frauen seit jeher, ebenso wie die tief verankerte Abwertung von Menschen mit „untypischer“ Geschlechtsidentität. Gerade diese Merkmalsausprägungen waren und sind teilweise noch heute hinreichend, um aus dem Kreis jener ausgeschlossen zu werden, denen fraglos eine Gleichachtung als Person gebührt. Benachteiligungen über zahlreiche Sphären des Lebens hinweg waren und sind eine prägende Erscheinungsform dieser Versagung von Gleichachtung. Das Wesentliche der Benachteiligung wegen eines Merkmals nach § 1 AGG liegt also 27 darin, dass bestimmte Ausprägungen des Merkmals historisch Anknüpfung für politische, aber auch wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Unterdrückung und Ausgrenzung dramatischen Ausmaßes geliefert haben. Darum ist eine Benachteiligung wegen eines Merkmals in der Gegenwart nicht nur eben diese Benachteiligung. Sie transportiert für die Betroffenen zugleich praktisch manifest den Sinn, dass die Geschichte der Abwertung, Unterdrückung und Ausgrenzung als Angehöriger der einschlägigen Gruppe in Denk- und Handlungsmustern fortwirkt, die sich noch immer jederzeit in einer benachteiligenden Behandlung niederschlagen können. Die Benachteiligung wegen eines Merkmals signalisiert, dass man in den Augen der anderen noch immer als jemand gesehen wird, den man mit Selbstverständlichkeit wegen der Merkmalsausprägung ausgrenzen darf. Davon sind ohne Zweifel all diejenigen seelisch getroffen, für die das jeweilige Merkmal 28 einen wichtigen Teil ihrer Identität darstellt; das ist häufig der Fall, und zwar gerade vor dem Hintergrund der Verfolgungs- oder Benachteiligungsgeschichte. Aber die in der Benachteiligung vermittelte Repräsentation als inferiorer Anderer trifft auch eine Merkmalsträgerin, für deren Selbstverständnis jenes Merkmal nur wenig oder nichts bedeutet. Denn die Benachteiligung wegen des Merkmals demonstriert, dass sie an den essentialistischen Zuschreibungen einer Identität als Merkmalsträgerin und deren Abwertung nicht vorbeikommt.27 Durch die merkmalsbedingte Benachteiligung als historisch paradigmatische Form der Abwertung erfährt die Merkmalsträgerin die sich aus der Geschichte der merkmalsbezogenen Abwertung speisenden hierarchisierenden Denk- und Handlungsmuster an der eigenen Person. Es ist diese Zumutung, die das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz als Persönlich- 29 keitsverletzung ausweist. So erklärt sich auch, warum Benachteiligungen aufgrund anderer unveränderlicher Attribute wie der Körpergröße keine Persönlichkeitsverletzung sind. Solche Benachteiligungen können ein beträchtliches Ärgernis sein. Aber in ihnen wirkt nicht eine Geschichte der immer wieder auch bis zur Entmenschlichung reichenden fundamentalen Abwertung fort.28 27 Wenn hier und im Folgenden von „Merkmalsträgerschaft“ die Rede ist, so ist das nicht essentialistisch
gemeint; der Fokus liegt je nach Kontext darauf, dass die betroffene Person für sich selbst eine bestimmte Merkmalsausprägung bejaht oder ihr eine bestimmte Ausprägung zugeschrieben wird. 28 Aus diesem Grund fällt auch das Merkmal Alter gegenüber den übrigen gesetzlich erfassten Merkmalen ab. Offene altersbezogene Demütigungen sind nach § 823 Abs. 1 BGB verboten. Ein weiterreichendes Verbot lediglich ungerechtfertigter altersbezogener Benachteiligungen erscheint demgegenüber persönlichFlorian Rödl/Andreas Leidinger
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§ 22 Diskriminierungsschutz im Zivilrechtsverkehr
Ob die Betroffenen sich durch eine merkmalsbedingte Benachteiligung im Einzelnen tatsächlich fundamental erniedrigt fühlen, ist allerdings unerheblich. Maßgeblich ist, ob eine Handlung den objektiven Sinngehalt einer Erniedrigung hat. Es ist unbeachtlich, ob die einzelne Betroffene hart im Nehmen ist oder sich nicht dafür interessiert, die ihr widerfahrende Benachteiligung in dieser Weise auszudeuten. Es wäre deshalb ein Missverständnis, dem so begründeten deliktischen Diskriminierungsschutz vorzuwerfen, er sei pathologisierend, indem er den Betroffenen eine besondere seelische Empfindlichkeit unterstellen müsse. Die einzelne Diskriminierte, die sich gegen Diskriminierung zur Wehr setzt, muss nicht darlegen, dass sie durch die benachteiligende Behandlung seelisch zutiefst verletzt ist. Wie im übrigen deliktischen Persönlichkeitsschutz genügt es, wenn sie geltend macht, dass die Rechtsordnung Behandlungen mit dem objektiven Sinngehalt merkmalsbedingter Abwertung als Persönlichkeitsverletzung ausweist, die niemand hinnehmen muss.29 4. Zur symmetrischen Ausrichtung (§ 1 AGG)
Mit Ausnahme des Merkmals der Behinderung ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz symmetrisch ausgerichtet. Auch etwa Weiße, Männer und Heterosexuelle können im Falle einer Benachteiligung Forderungen geltend machen. Es ist einzuräumen: die persönlichkeitsrechtliche Lesart kann diese grundsätzlich symmetrische Ausgestaltung nicht erläutern. 32 An dieser Stelle könnte man entweder versuchen, konzeptionell von der konkreten Verfolgungs- oder Benachteiligungsgeschichte zu abstrahieren, die stets an der spezifischen Spielart des Merkmals ansetzte. Dann würde man in jeder Ausprägung der jeweiligen Kategorie eine Seite der Persönlichkeit sehen, die schon durch eine bloße merkmalsbezogene Benachteiligung verletzt werden kann. Die Geschichte merkmalsbedingter Abwertung hätte gelehrt, dass es generell persönlichkeitsverletzend sei, jemanden allein wegen des Geschlechts zu benachteiligen. Das aber erscheint verfehlt. Die Abweisung einer person of color, eines Juden oder einer Transperson an einer Bar bedeutet vor dem historischen Hintergrund und im hiesigen gesellschaftlichen Kontext etwas ganz Anderes als die Abweisung eines weißen Mannes. 33 Das liegt nicht daran, dass es nicht auch möglich wäre, heteronormativ auftretende heterosexuelle Cis-Männer merkmalsbezogen herabzuwürdigen. Ein Delikt liegt hier jedoch nur nach den Maßgaben des § 823 Abs. 1 BGB vor. Eine Verletzung der Person nach § 823 Abs. 1 BGB wäre etwa gegeben, wenn eine Vermieterin einem Mann zu verstehen gibt, sie 31
keitsrechtlich nicht geboten. Dafür ist nicht der Umstand entscheidend, dass alle Menschen altern. Entscheidend ist, dass Benachteiligungen wegen des Alters der Sinnbezug zu einer Geschichte fundamentaler Abwertung fehlt. Altersbezogene Benachteiligungen werfen eher Probleme sozialer Teilhabe auf. Hier wird das Zivilrecht also tatsächlich für einen zu seiner Eigenlogik äußerlichen Zweck der Förderung gesellschaftlicher Teilhabe eingesetzt. Gegen diese Entscheidung des demokratischen Gesetzgebers ist nichts einzuwenden; die tragende Begründung kann aber nicht lauten, dass Schutz vor Altersdiskriminierung als Bestandteil einer Ordnung gleicher Freiheit notwendig ist. 29 Einen ähnlichen, auf den objektiv abwertenden Sinngehalt fokussierenden Diskriminierungsbegriff entwirft Hellman, When Is Discrimination Wrong, 2008, Kapitel 1–3. Florian Rödl/Andreas Leidinger
B. Diskriminierung als Delikt
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vermiete grundsätzlich nicht an „triebgesteuerte Bestien“. Das Besondere der Persönlichkeitsverletzung, die die Diskriminierungsverbote ausbuchstabieren, ist hingegen gerade, dass solche offenen Feindseligkeiten nicht erforderlich sind. Bei bestimmten Merkmalsausprägungen stellt schon die bloße ungerechtfertigte Benachteiligung eine Persönlichkeitsverletzung dar, ohne dass weitere explizit abwertende Elemente hinzutreten müssen. Die Geschichte der Verfolgung und Benachteiligung, die in tief verankerten abwertenden Denk- und Handlungsmustern fortbesteht, bewirkt, dass Benachteiligungen in diesen Fällen den objektiven Sinngehalt einer Abwertung haben. Den Besuch eines Baumarkts Männern vorzubehalten, würdigt die ausgeschlossenen Frauen herab. Einen Baumarkt nur für Frauen zu öffnen, mag die ausgeschlossenen Männer zwar frustrieren; es wertet sie aber nicht ab. Dazu fehlt schlicht der historisch-soziale Kontext, der dieser Behandlung den entsprechenden Sinngehalt verleihen könnte. Der Diskriminierungsschutz kann deshalb nur dort deliktisch verstanden werden, wo die Benachteiligung nicht Angehörige der historisch dominanten Gruppe trifft.30 Eine symmetrische Ausrichtung des Diskriminierungsschutzes ist nicht etwa aufgrund 34 der ihrerseits symmetrischen Regelung in Art. 3 Abs. 3 GG geboten. Das zugrundeliegende öffentlich-rechtliche Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und auch vor dem Gesetzgeber ist zu Recht grundsätzlich symmetrisch ausgerichtet. Denn es bindet die Träger öffentlicher Gewalt und es verpflichtet diese, alle Menschen gleich zu behandeln, und das wiederum heißt, Menschen nur mit guten Gründen ungleich zu behandeln. Deswegen ist es gleichgültig, woran eine nicht hinreichend begründete Ungleichbehandlung anknüpft. Zwar steigen die Rechtfertigungsanforderungen, je näher das Kriterium einer Ungleichbehandlung der Sphäre der Persönlichkeit kommt. Sie liegen fast unüberwindbar hoch, wenn es um Merkmale im Sinn von § 1 AGG geht.31 Dies aber gilt grundsätzlich symmetrisch: 30 Herausforderungen liefern deshalb auch die Putativbenachteiligung und die assoziierende Diskrimi-
nierung. Das AGG gewährt gemäß § 7 Abs. 1 Halbsatz 2 AGG auch dann Diskriminierungsschutz, wenn eine Merkmalsausprägung im Sinne des § 1 AGG nur angenommen wird. Das gilt auch im zivilrechtlichen Anwendungsbereich – sei es durch Auslegung des Benachteiligungsbegriffs oder analoge Anwendung des § 7 Abs. 1 Halbsatz 2 AGG, Baumgärtner, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: Dezember 2021, § 1 Rn. 64; Däubler, in: ders./Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 1 Rn. 108 m. w. N.; WendelingSchröder, in: dies./Stein (Hrsg.) Kommentar AGG, 2008, Vor §§ 19–21 Rn. 9; Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 19 AGG Rn. 143 f. Die persönlichkeitsrechtliche Lesart kann das unproblematisch einfangen, wo der objektive Sinngehalt der benachteiligenden Behandlung keine Kongruenz von merkmalsbezogener Fremdzuschreibung und Selbstverortung verlangt. Wenn eine person of color fälschlicherweise der Gruppe der Sinti und Roma zugerechnet und deshalb abwertend behandelt wird, so entfällt die Persönlichkeitsverletzung nicht deshalb, weil die spezifische Zuschreibung sie verfehlt. Den objektiven Sinngehalt einer rassifizierenden Abwertung hat die Behandlung auch so. Soweit der Schutz beim fälschlich angenommenen Merkmal darüber hinaus aus Gründen der Unzumutbarkeit der entsprechenden Beweisführung gewährt wird, ist aus Sicht der persönlichkeitsrechtlichen Rekonstruktion nichts dagegen einzuwenden, vgl. zu letzterem Däubler, § 1 Rn. 106. Im Bereich assoziierender Diskriminierung ist aus persönlichkeitsrechtlicher Sicht wiederum der objektive Sinngehalt der Behandlung entscheidend. Ohne weiteres lässt sich etwa eine Konstellation einholen, in der die Eltern eines Kindes mit Behinderung benachteiligt werden, vgl. EuGH, Urt. v. 17.7.2008, Rs. C-202/06, Coleman. Die Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung umfasst seit jeher auch die Stigmatisierung naher Bezugspersonen. 31 Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 2, 3 GG Rn. 433. Florian Rödl/Andreas Leidinger
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§ 22 Diskriminierungsschutz im Zivilrechtsverkehr
Die sachlich unbegründete Benachteiligung von Männern ist unter Art. 3 GG ebenso eine Verletzung des Gleichheitsgrundrechts, wie die unbegründete Benachteiligung von Frauen.32 II. Verletzungshandlung 35
In den Ausführungen zur geschützten Sphäre der Persönlichkeit hieß es soeben, das Gesetz weise ungerechtfertigte merkmalsbezogene Benachteiligungen als Persönlichkeitsverletzung aus. Das war noch ungenau ausgedrückt, denn das AGG begreift nicht jede Handlung, die eine Benachteiligung wegen eines Merkmals in § 1 AGG beinhaltet, als Verletzung der Persönlichkeit. Die Handlung muss im maßgeblichen Kontext erfolgen. 1. Spezifikation durch Anwendungsbereich (§§ 2 Abs. 1 Nr. 8, 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG)
Der Kontext ist im Gesetz bestimmt in den verschiedenen Vorschriften zum Anwendungsbereich. Das sind für den Zivilrechtsverkehr die Regeln in § 2 Abs. 1 Nr. 5–8 AGG und § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG.33 Im Folgenden soll nicht versucht werden, diesen Regelungszusammenhang im Einzelnen als zivilrechtlich zwingend zu erweisen. Es soll nur darum gehen, die Grundidee einer Beschränkung des Diskriminierungsdelikts auf bestimmte Verletzungshandlungen zu erläutern. 37 Es wurde schon betont, dass es beim Schutz der Persönlichkeit nicht um das „Ob“ einer räumlichen, sondern um das „Wie“ und das „Was“ einer Kommunikation geht.34 Entsprechend ist es vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht bekannt, dass die Grenze zwischen erlaubtem und unerlaubtem Handeln durch die Verletzungshandlung mitbestimmt wird. In der Rechtsprechung haben sich bestimmte Verletzungshandlungen herauskristallisiert: Entstellende oder unwahre Behauptungen, Ehrverletzungen, Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung, in die Entscheidungsfreiheit oder Belästigungen.35 Andere Arten der Beeinträchtigung der Sphäre der Persönlichkeit überschreiten die Grenze zur Rechtsverletzung hingegen nicht. 38 Von dieser Art der Typisierungen etwas abgesetzt aber doch verwandt, zeichnet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ausschließlich solche Benachteiligungshandlungen als Delikt aus, die sich in einem schuldvertragsrechtlichen Kontext abspielen. Nach § 19 Abs. 1 S. 1 AGG muss die Benachteiligung bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse erfolgen. 36
32 Zur zulässigen Differenzierungen kommt es unter Art. 3 Abs. 3 GG aber, wo Regelungen betroffen sind,
die den Abbau überkommener Hierarchien bezwecken. Dem Verfassungsrecht musste das erst mühsam beigebracht werden: Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 349 ff. Siehe nun auch Baer/Markard (Fn. 31), Art. 3 Abs. 2, 3 GG, Rn. 422 f., 435. Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz hat sich eine asymmetrische Ausrichtung immerhin in § 5 AGG niedergeschlagen. Aus der hier vertretenen Perspektive bedürfte es dieses gesonderten Rechtfertigungsgrundes nicht, weil bloße geschlechtsbezogene Ungleichbehandlungen von Männern durch Private deren Persönlichkeit nicht verletzt. 33 Zu § 19 Abs. 2 und § 19 Abs. 5 Satz 1 AGG sogleich unter Rn. 41 u. 44 (B. III. 2.). 34 Siehe bereits unter Rn. 17 (B. I. 2.). 35 Specht-Riemenschneider, in: Artz u. a. (Hrsg.), BeckOGK BGB, Stand: Dezember 2021, § 823 Rn. 1151. Florian Rödl/Andreas Leidinger
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Eine weitere Beschränkung liefert § 2 Abs. 1 Nr. 8 AGG. Es muss um den Zugang zu und 39 die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen gehen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Es soll sich also um Verträge über Güter oder Leistungen handeln, wobei die Entgeltlichkeit vorausgesetzt wird. Erfasst sind darum Kauf (§ 433 BGB), Miete (§ 535 BGB), Dienst (§ 611 BGB), Werk (§ 631 BGB), nicht aber die unentgeltlichen Pendants, Schenkung (§ 516 BGB), Leihe (§ 598 BGB) und Auftrag (§ 662 BGB).36 Nicht erfasst sind zudem Schuldverhältnisse, die aus der Annahme einer Satzung (§ 25 BGB) und dem Abschluss eines Gesellschaftsvertrags resultieren (§ 705 BGB), entsprechend auch keine Schuldverhältnisse aus der Begründung von Mitgliedschaft oder Gesellschafterstellung. Der verbleibende Bereich von Schuldverträgen wird in einem zweiten Schritt noch ein- 40 mal weiter eingegrenzt durch die Vorgabe in § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG, dass es sich um sog. Massengeschäfte handeln müsse. Dabei ist ein Massengeschäft ein Vertrag über ein Gut oder eine Leistung, der typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommt.37 Beim Schutz vor rassistischer Diskriminierung wird der Anwendungsbereich gemäß 41 § 19 Abs. 2 AGG weiter gefasst, indem er nicht nur im Zusammenhang mit Schuldverträgen über Güter und Dienstleistungen greift, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, sondern darüber hinaus für Schuldverträge im Bereich des Sozialschutzes, der sozialen Vergünstigungen und der Bildung (§ 2 Abs. 1 Nr. 5–7 AGG). Damit treten sicherlich unentgeltliche Leistungen hinzu. Im Übrigen ist nicht völlig klar, ob die unter § 2 Abs. 1 Nr. 5–7 AGG erfassten Schuldverträge nicht stets auch Dienstleistungen im Sinn von § 2 Abs. 1 Nr. 8 AGG darstellen. Der weitergehende Schutz liegt insofern im Bereich dessen, was auch für die anderen Merkmale gewährt werden könnte. Rekonstruktiv herausfordernd ist deshalb nur der Umstand, dass § 19 Abs. 2 AGG auch anordnet, dass das Massengeschäftserfordernis für Fälle rassistischer Diskriminierung nicht gilt. 2. Insbesondere: im Zuge öffentlichen Angebots oder Massengeschäfts
Bei einem Massengeschäft wird typischerweise eine Einladung zur Abgabe von Angebo- 42 ten zum Abschluss von Schuldverträgen unbestimmt an die Öffentlichkeit gerichtet. Eine solche Erklärung darf der Betroffene so verstehen, dass jeder Kunde willkommen ist, der zahlungswillig ist und elementare soziale Gepflogenheiten achtet. Die Zugangshürden zum Geschäftsabschluss sind also von vornherein denkbar niedrig. Entsprechend darf ein Kunde erwarten, einfach als ein solcher behandelt zu werden. Wird er plötzlich aufgrund des Merkmals aus dem Kreis der Eingeladenen ausgeschlossen, so wirft ihn das in be36 Franke, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 2 Rn. 56 f. mit Erläuterung des unionsrecht-
lichen Hintergrunds des Merkmals der Entgeltlichkeit.
37 § 19 Abs. 5 S. 3 AGG stellt klar, dass auch die Vermietung von Wohnungen ein Massengeschäft dar-
stellt, also auch der Wohnungsmietvertrag typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen zustande kommt. Die Vorschrift legt zudem konstitutiv fest, dass die vom Gesetz geforderte Vielzahl von Geschäftsfällen dann vorliegt, wenn der Vermieter fünfzig oder mehr Wohnungen vermietet. Zur Kritik der Zahl siehe nur Thüsing/Vianden, Rechtsfreie Räume? – Die Umsetzung der EU-Antirassismusrichtlinie im Wohnungsbereich, 2020, S. 10 ff. Florian Rödl/Andreas Leidinger
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sonders empfindlicher Weise auf die fortdauernden abwertenden Denk- und Handlungsmuster zurück. Er hat sich erstens als Anbietender exponiert und ist dem Urheber der Benachteiligung damit gewissermaßen ins Messer gelaufen; zweitens zeigt ihm die Zurückweisung, dass er nicht einmal hier gleichgeachtet wird, wo doch die Hürde zur kontextspezifischen Achtung als ein Gleicher unter Vielen so denkbar niedrig ist. Hinzu kommt, dass Massengeschäfte typischerweise ohne Ansehen der Person voll43 zogen werden. Die unternehmerische Rationalität des Anbieters zahlreicher Massengeschäfte geht dahin, möglichst viele Geschäfte abzuschließen, da mit jedem ein Gewinn verbunden ist.38 Diese unternehmerische Rationalität wird durch eine Benachteiligung wegen eines Merkmals unterbrochen. Anders als bei Verträgen, die zwar der Öffentlichkeit angeboten werden, aber gerade nur einmalig zustande kommen können, verleiht dies der Benachteiligung von Seiten ihres Urhebers ein besonderes Gewicht: Der Wille zur Benachteiligung wegen des Merkmals oder auch das Ressentiment gegenüber den Merkmalsträgern ist so stark, dass sogar das ökonomische Interesse hintansteht. 44 Erst der Kontext des Massengeschäfts, so müsste man die Regelung in § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG affirmativ lesen, lässt also die mit der merkmalsbedingten Benachteiligung einhergehende seelische Zumutung zu einer Rechtsverletzung ausreifen. Das Verbot rassistischer Diskriminierung ist jedoch so ausgestaltet, dass bloße merkmalsbezogene Benachteiligungen auch außerhalb des Bereichs der Massengeschäfte persönlichkeitsverletzend sein können. Gemäß § 19 Abs. 5 S. 1 AGG ist der Anwendungsbereich lediglich dann nicht eröffnet, wenn der fragliche Vertrag für den Anbieter der Leistung ein besonderes Nähe- oder Vertrauensverhältnis begründet. Vom Verbot rassistischer Diskriminierung, nicht aber vom Verbot der Diskriminierung im Übrigen, ist also etwa der Verkauf eines gebrauchten Gegenstands über ein Kleinanzeigenportal erfasst. 45 Angesichts dieser Differenzierung gibt es drei Möglichkeiten: Erstens, es ist aufgrund einer normativen Differenz zwischen rassistischer und anderer Diskriminierung richtig, den Schutz vor ersterer schärfer einzustellen. Zweitens, das fehlende Erfordernis eines Massengeschäfts bei rassistischer Diskriminierung zieht den Schutz des Persönlichkeitsrechts dort zu weit. Drittens, das Erfordernis des Massengeschäfts bei den übrigen Diskriminierungen ist eine unbegründete Restriktion. Einiges spricht für letzteres, aber das kann hier nicht abschließend aufgeklärt werden. III. Verantwortlichkeit (§ 21 Abs. 2 S. 2 AGG) 46
Beseitigung und künftiges Unterlassen einer Benachteiligung gewährt § 21 Abs. 1 AGG nach dem Vorbild des Schutzes absoluter Rechte nach allgemeinen Regeln unabhängig von der Frage der Verantwortlichkeit. Für die Verpflichtung zum Schadensersatz hingegen setzt die Regel in § 21 Abs. 2 S. 1 AGG zusätzlich die Verantwortlichkeit des Verletzenden voraus (§ 21 Abs. 2 S. 2 AGG).39 38 Anders liegt es nur, wenn der Vertragsgegenstand ausnahmsweise endlich ist, wie etwa bei der Ver-
mietung von Wohnraum.
39 Es wird geltend gemacht, das Erfordernis der Verantwortlichkeit verstoße gegen das Unionsrecht (Thü-
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Das gesetzliche Verantwortlichkeitserfordernis muss zunächst näher bestimmt werden. 47 Im Deliktsrecht kann sich die Verantwortlichkeit grundsätzlich aus eigenem Vorsatz oder aus eigener Fahrlässigkeit speisen (vgl. § 823 Abs. 1 BGB). Daneben kann sich in gesetzlich gesondert geregelten Fällen eine Verantwortlichkeit aus besonderer Gefährdung ergeben, das sind namentlich Haltung oder Betrieb gefährlicher Sachen (vgl. § 833 S. 1 BGB, § 7 Abs. 1 StVG). Insofern liefert der Gesetzestext in § 21 Abs. 2 S. 2 AGG eigentlich keinen eindeutigen Aufschluss über die Reichweite der Verantwortlichkeit, namentlich ob sie eben über das eigene Verschulden hinausgeht und eine Gefährdung ausreichen lässt. Gleichwohl wird überwiegend angenommen, die Verantwortlichkeit müsse sich, dem deliktsrechtlichen Normalfall entsprechend, auf Verschulden, also auf Vorsatz und Fahrlässigkeit gründen.40 1. Kraft Gefährdung?
Allerdings ist konzeptionell gelegentlich für ein Verständnis von Diskriminierung als Ge- 48 fährdungsdelikt geworben worden.41 Das allerdings verkennt die Struktur des Gefährdungsdelikts. Diese kennzeichnet, dass für bestimmte Arten von Rechtsverletzungen, meist Personen- und Sachschädigungen, auf ein eigenes Verschulden verzichtet wird, wenn die Verletzung aus einer bestimmten besonders gefährlichen Aktivität resultiert. An die Stelle des eigenen Verschuldens als Grundlage der Verantwortlichkeit tritt dann die Zuständigkeit für die gefährliche Aktivität, etwa die des Halters für die gefährliche Aktivität des Betreibens eines Kraftfahrzeugs (§ 7 Abs. 1 StVG). Hiernach gehört es zur Struktur des Gefährdungsdelikts, dass die maßgebliche Rechtsverletzung im Falle des eigenen Verschuldens immer auch unabhängig von der gefährlichen Aktivität zum Schadensersatz verpflichtet, so wie es im Falle der Schädigung einer fremden Person oder Sache natürlich der Fall ist (§ 823 Abs. 1 BGB). sing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 21 AGG Rn. 39 f.; Mörsdorf, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: September 2021, § 21 AGG Rn. 49). Das Urteil in der Sache Draempaehl (EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs. C-189/95) lässt sich dafür nicht anführen. Denn dort steht eine Beschränkung auf Verantwortlichkeit kraft Vorsatzes in Rede. Das Fehlen eines Vorsatzes sollte aus Sicht des ArbG Hamburgs nach deutscher Rechtslage die Haftung ausschließen. Dies griff der EuGH dann als „Rechtfertigung“ auf und verneinte die unionsrechtliche Relevanz einer solchen (Rn. 18–22). Ob fehlende Fahrlässigkeit auch als unzulässige „Rechtfertigung“ zählen würde, ist damit nicht geklärt. Die nachfolgende Rekonstruktion insbesondere der Möglichkeit unbewusst fahrlässiger Begehung wird zudem zeigen, dass der Streit praktisch kaum Bedeutung hat. 40 Thüsing (Fn. 39), § 21 AGG Rn. 45; Mörsdorf (Fn. 39), § 21 Rn. 48. Soweit dafür auf § 276 Abs. 1 BGB verwiesen wird, liegt ein Fehlschluss vor. § 276 Abs. 1 BGB regelt, was der Schuldner einer bestehenden Forderung im Zuge ihrer Erfüllung zu vertreten hat. Hingegen geht es in § 21 Abs. 2 S. 1 AGG um die Voraussetzungen des Entstehens einer Forderung. 41 Insbesondere bezogen auf die mittelbare Diskriminierung, siehe Hanau/Preis, Zur mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts, ZfA 1988, S. 177 (188); Baumgärtner, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK, AGG, Stand: Dezember 2021, § 3 Rn 66; für den anglo-amerikanischen Diskurs (strict liability), siehe Morris, On the Normative Foundations of Indirect Discrimination Law, Oxford Journal of Legal Studies 15 (1995), S. 199 (214); dagegen und für die Fahrlässigkeitshaftung siehe Oppenheimer, Negligent Discrimination, University of Pennsylvania Law Review 141 (1993), S. 899 (899). Florian Rödl/Andreas Leidinger
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Im Falle der zivilrechtlichen Diskriminierung müsste als besonders gefährliche Aktivität, die auch ohne Verschulden, das heißt allein bei Verursachung, zum Schadensersatz verpflichtet, die Einladung zum Abschluss eines in den Anwendungsbereich fallenden Geschäfts präsentiert werden. Das wäre überzeugend, wenn die maßgebliche Rechtsverletzung im Falle eigenen Verschuldens unabhängig von der gefährlichen Aktivität zum Schadensersatz verpflichtete. Das ist aber nicht der Fall. Die Einladung zum Abschluss eines erfassten Geschäfts beschreibt, wie oben erläutert, die Verletzungshandlung. Sie repräsentiert die spezifische Form, in der allein die Persönlichkeitsrechtsverletzung durch Diskriminierung begangen werden kann. Jenseits dieser Begehungsform verpflichtet eine verschuldete Benachteiligung gerade nicht zum Schadensersatz. Mit anderen Worten: Eine spezifische Handlung, die eine Interaktion erst zur Rechtsverletzung macht, kann nicht zugleich als besonders gefährliche Aktivität die Grundlage der Verantwortlichkeit bilden. 50 Im Lichte der Rekonstruktion der Diskriminierung als Delikt muss die Verpflichtung zum Schadensersatz für die Persönlichkeitsrechtsverletzung also eigenes Verschulden in Gestalt von Vorsatz oder Fahrlässigkeit voraussetzen. Dieser deliktischen Logik folgend werden im Weiteren die vom Gesetz ausdrücklich unterschiedenen Arten der Benachteiligung, die unmittelbare und die mittelbare Benachteiligung gem. § 3 Abs. 1 und 2 AGG, im Zusammenhang mit ihrer Bedeutung für die Verantwortlichkeit erläutert. Dabei wird sich zeigen, dass die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht der Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung entspricht. Vielmehr können sowohl die Vorsatz- als auch die Fahrlässigkeitstat im Wege unmittelbarer Benachteiligung und im Wege mittelbarer Benachteiligung begangen werden. 49
2. Kraft Vorsatz
Die im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz geregelte Form der Rechtsverletzung erfolgt gem. § 19 Abs. 1 AGG durch Benachteiligung „aus Gründen“ bzw. „wegen“. Das bedeutet, die Benachteiligung muss von bestimmten Gründen getragen sein. Das bezieht sich im Fall der Vorsatztat auf die Handlungsgründe, die dem Urheber bewusst sind und die er daher angeben würde, wenn er die Frage nach den Gründen für die Benachteiligung wahrhaftig beantworten würde. 52 Grundsätzlich ist praktisches Handeln nicht von einem einzigen Grund getragen, sondern von einer Vielzahl von Gründen. Insofern wäre es unsinnig, wenn das Gesetz verlangte, die angenommene Merkmalsausprägung müsse den einzigen Handlungsgrund für die Benachteiligung liefern. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Trägerschaft der einschlägigen Merkmalsausprägung überhaupt einen Handlungsgrund für die Benachteiligung liefert. Häufig wird in diesem Zusammenhang vom Merkmal als Teil eines Motivbündels gesprochen,42 das meint dasselbe. 53 Im Fall der Vorsatztat liefert die Zuschreibung des einschlägigen Merkmals zumindest einen Handlungsgrund. Der Urheber möchte mit einer Person keinen Vertrag schließen 51
42 BAG, Urt. v. 24.1.2013, 8 AZR 188/12, Rn. 35; BAG, Urt. v. 21.6.2012, 8 AZR 364/11, Rn. 32; BAG, Urt.
v. 16.2.2012, 8 AZR 697/10, Rn. 42 (ständige Rechtsprechung).
Florian Rödl/Andreas Leidinger
B. Diskriminierung als Delikt
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oder sie gar nicht erst zum Zwecke des Vertragsschlusses einlassen, oder er möchte die eigene Leistung nur zu schlechteren Bedingungen anbieten und zwar, weil er die Person als Trägerin eines einschlägigen Merkmals sieht. Die Merkmalsträgerschaft ist dem Urheber als Handlungsgrund insofern bewusst, als er im Falle einer authentischen Auskunft über seine Gründe sagen würde „und auch weil die Person Trägerin jenes Merkmals ist“. Wenn die Trägerschaft des einschlägigen Merkmals in diesem Sinn einen Handlungs- 54 grund liefert, dann erfolgt die Benachteiligung wegen des einschlägigen Merkmals vorsätzlich. Allerdings sind verschiedene Weisen zu unterscheiden, wie eine Vorsatztat ihrer äußeren Erscheinungsform nach begangen werden kann. Paradigmatisch ist die offene Form, daneben ist die Begehung aber auch in verschiedenen verdeckten Formen möglich (dazu a)). Anschließend stellt sich die Frage einer Rechtfertigung nach § 20 Abs. 1 AGG (dazu b)). a) Offene und verdeckte Formen
Die offene Form vorsätzlicher Diskriminierung ist die einfachste. Sie heißt „offen“, weil die 55 Benachteiligung wegen eines Merkmals in dieser Erscheinungsform für den Betroffenen ohne weiteres erkennbar ist. Die Benachteiligung wird seitens des Urhebers bewusst und ausdrücklich auf ein einschlägiges Merkmal gestützt. Ein schwarzer Mann wird abgewiesen mit der Begründung, dass nur Weiße Einlass finden. Mit einer homosexuellen Frau wird das Vertragsgespräch über die Wohnung abgebrochen mit der Begründung, dass nur an Heterosexuelle vermietet wird. Es handelt sich um Fälle unmittelbarer Benachteiligung gemäß § 3 Abs. 1 AGG. Die Voraussetzungen der Verantwortlichkeit für die Persönlichkeitsrechtsverletzung liegen klar zu Tage, weil der Urheber dem Betroffenen selbst die innere Seite der Rechtsverletzung, die Gründe für sein Handeln, ausdrücklich bekannt macht. Nicht zuletzt, weil unter der Geltung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes die 56 Verpflichtung zum Schadensersatz droht, wird die vorsätzliche Benachteiligung häufiger verdeckt begangen. In der verdeckten Erscheinungsform gibt es wiederum mehrere Spielarten. Hinsichtlich der inneren Seite gilt allerdings in allen Spielarten dasselbe wie für die offene Erscheinungsform: Es handelt sich um eine bewusste Benachteiligung wegen eines Merkmals nach § 1 AGG. Jedoch wird die Benachteiligung vom Urheber nicht offengelegt. Die Verdeckung kann etwa erfolgen, indem gar kein Grund angegeben wird. Der ent- 57 sprechend instruierte Türsteher, der gegenüber einem schwarzen Besucher nur stumm den Kopf schüttelt und Fragen nicht beantwortet, liefert ein anschauliches Beispiel. Die Verdeckung kann auch dergestalt erfolgen, dass andere Gründe vorgeschoben werden. Entweder handelt es sich um Gründe, die die Ungleichbehandlung zwar tragen würden, die aber tatsächlich nicht gegeben sind. So liegt es, wenn der entsprechend instruierte Türsteher mitteilt, der Club sei überfüllt, obwohl das gar nicht stimmt. Alternativ handelt es sich um Gründe, die zu einem anderen, sog. neutralen Kriterium führen. Dieses neutrale Kriterium korreliert auf der Basis plausibler Annahmen mit einem nach § 1 AGG geschützten Merkmal, wobei die Gründe die Ungleichbehandlung anhand des Kriteriums nicht tragen. So liegt es, wenn der entsprechend instruierte Türsteher einen nach seinem Eindruck schwarFlorian Rödl/Andreas Leidinger
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zen jungen Mann nach einem Hochschulabschluss fragt, weil er davon ausgeht, dass die Hochschulabsolventenquote in der schwarzen Bevölkerung deutlich niedriger ist als in der weißen Bevölkerung. Es kommt ihm hingegen nicht darauf an, den Club wirklich nur für Hochschulabsolventen zu öffnen. 58 Wenn der Türsteher in der Absicht, Gäste mit Migrationshintergrund möglichst abzuweisen, allen Gästen gleichermaßen die Frage nach dem Hochschulabschluss stellt, handelt sich um eine mittelbare Benachteiligung gem. § 3 Abs. 2 AGG. Das ist vielleicht die ärgerlichste Erscheinung vorsätzlicher Diskriminierung: Der Urheber der Benachteiligung legt seine innere Seite weder authentisch offen noch verschweigt er sie einfach. Vielmehr schiebt er Gründe vor, doch der vorgeschobene Charakter lässt sich nicht durch die Ermittlung von Tatsachen aufklären. Er lässt sich nur über ein normatives Urteil über die Tragfähigkeit des Grundes erschließen, und das ist naturgemäß ungewisser. Trotzdem handelt es sich in allen geschilderten Fällen um eine vorsätzliche Verletzung 59 des Persönlichkeitsrechts in Gestalt einer Benachteiligung wegen eines Merkmals nach § 1 AGG. Die verdeckte Erscheinungsform führt allerdings dazu, dass der Nachweis der inneren Seite vor Gericht regelmäßig größeren bis großen Schwierigkeiten unterliegt. Denn die innere Seite ist den zuverlässigen förmlichen Beweismitteln nicht zugänglich. Der prozessrechtlich fairen Bewältigung dieser Schwierigkeiten dient § 22 AGG: Wenn aufgrund von nachgewiesenen Indizien für eine Benachteiligung wegen eines Merkmals eine verdeckte Diskriminierung im Raum steht, kehrt sich die Beweislast um. Die Regelung zur mittelbaren Benachteiligung in § 3 Abs. 2 AGG kann man im Zu60 sammenhang mit der Vorsatztat zunächst einmal als Verselbständigung der allgemeinen beweisrechtlichen Regel in § 22 AGG für einen der Fälle verdeckter Diskriminierung lesen: Wird eine Ungleichbehandlung ohne tragfähigen Grund auf ein Kriterium gestützt, das auf der Basis plausibler Annahmen signifikant mit einem Merkmal in § 1 AGG korreliert, liefert das im Sinn von § 22 AGG ein Indiz für eine vorsätzliche Benachteiligung wegen eines geschützten Merkmals. In dieser beweisrechtlichen Lesart des Gehalts von § 3 Abs. 2 AGG im Zusammenhang mit der Vorsatztat muss dem Urheber dann allerdings der Beweis des Gegenteils offenstehen. Damit kann er sich jedoch nur hinsichtlich der Vorsatztat entlasten. Das kann Bedeutung haben für die Höhe des Schmerzensgeldes. Der Vorwurf der Fahrlässigkeit kann jedoch weiterhin erhoben werden.43 b) Widerrechtlichkeit (§ 20 Abs. 1 S. 2 AGG) 61
Die Verpflichtung zum Schadensersatz wegen unerlaubter Handlung nach § 823 Abs. 1 BGB verlangt grundsätzlich die Widerrechtlichkeit der Verletzungshandlung. Weil das Merkmal der Widerrechtlichkeit im Zusammenhang mit der Fahrlässigkeitstat keine eigenständige Bedeutung hat44, ist es an dieser Stelle zu behandeln. Im allgemeinen Rahmen des Deliktsrechts werden unter dem Merkmal der Widerrechtlichkeit sowohl Rechtferti43 Im Zusammenhang mit der Fahrlässigkeitstat erhält § 3 Abs. 2 AGG seine eigentliche materiell-rechtliche Bedeutung, dazu sogleich unter Rn. 84 ff. (B. III. 3. e)). 44 Rödl (Fn. 13), S. 126 ff.
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gungsgründe behandelt als auch Aspekte, die bereits den Tatbestand vorsätzlicher Rechtsverletzung ausschließen. Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz ist die maßgebliche Regelung zur Wider- 62 rechtlichkeit in § 20 AGG enthalten. § 20 Abs. 1 S. 1 AGG besagt, dass ein Verstoß45 gegen das Benachteiligungsverbot nicht gegeben ist, wenn ein sachlicher Grund für die unterschiedliche Behandlung vorliegt. Satz 2 der Vorschrift gibt dann Beispiele für sachliche Gründe. Vielfach wird die Vorschrift als Regelung zur „Rechtfertigung“ einer merkmalsbedingten Benachteiligung vorgestellt. Daran ist nichts auszusetzen, insofern Rechtfertigung hier in einem allgemeinsprachlichen Sinn gebraucht wird. Dieser Sinn ist abzugrenzen von der spezifisch zivilrechtlichen Bedeutung der Rechtfertigung einer Rechtsverletzung. In letzterer Verwendung geht es um Umstände, die die Widerrechtlichkeit einer an sich eingetretenen Rechtsverletzung entfallen lassen. Eine Rechtsverletzung ist also in diesen Fällen an sich eingetreten. Besondere Umstände aber erweitern die rechtlichen Erlaubnisse des Handelnden und gestatten es ihm ausnahmsweise, die durch ein fremdes subjektives Recht gesetzte Handlungsgrenze zu überschreiten. Echte Rechtfertigungsgründe liefern Notwehr (§ 227 BGB), Notstand (§ 228 BGB) und Selbsthilfe (§ 229 BGB). Den echten Rechtfertigungsgrund kennzeichnet, dass er unabhängig von der Rechtsverletzung verständlich ist. Vom echten Rechtfertigungsgrund zu unterscheiden sind Umstände, deren Vorliegen 63 die Rechtsverletzung ausschließen. Ein klassisches Beispiel ist die Erlaubnis der Einwirkungen auf fremde Sachen, etwa das Betreten eines Grundstücks (vgl. auch § 123 StGB). Das klassische Beispiel aus dem Zivilrecht liefert gerade der offene Tatbestand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. In eben diesem Sinn eines Ausschlusses der Rechtsverletzung regelt die Vorschrift in § 20 Abs. 1 S. 1 AGG Spezifikationen des Handlungsgrundes für die Benachteiligung: Sachliche Gründe für die Benachteiligung schließen die Rechtsverletzung aus. Zwar liegt eine Benachteiligung aus Gründen eines Merkmals vor, diese hat aber nicht den objektiven Sinngehalt einer Abwertung. Darum beinhaltet die Benachteiligung in jenen Fällen keine Verletzung des Persönlichkeitsrechts. Wenn etwa eine Agentur für ein Herrenunterwäsche-Fotoprojekt einhundert männliche Modells sucht, liegt darin keine Abwertung wegen des weiblichen Geschlechts.46 Das Vorstehende erhellt auch noch einmal, dass die Regelung des § 20 AGG nur auf die 64 Vorsatztat Anwendung findet und insofern das deliktische Merkmal der Widerrechtlichkeit spezifiziert. Denn es geht um Konstellationen, in denen die Trägerschaft des einschlägigen Merkmals zwar einen Handlungsgrund liefert, dieser aber gleichwohl keine Abwertung begründet. Diese Reflexion auf den objektiven Sinngehalt der Merkmalsanknüpfung lässt 45 Im Gesetzestext heißt es an dieser Stelle „Verletzung“. Es handelt sich an dieser Stelle um ein Redak-
tionsversehen. Rechte und Pflichten werden verletzt, gegen Normen, einschließlich Verbotsnormen, wird verstoßen (dementsprechend richtig § 15 Abs. 1 AGG und § 21 Abs. 1 AGG: „Verstoß“, falsch wiederum § 21 Abs. 2 AGG). 46 Auch die Struktur der in § 20 Abs. 1 Satz 2 AGG genannten Regelbeispiele trägt das Verständnis der Norm als Ausschluss der Rechtsverletzung. Deren Bedeutung würde freilich weitgehend entfallen, wenn das Gesetz, wie hier begründet, keinen Schutz vor altersbedingter Ungleichbehandlung und den Diskriminierungsschutz im Übrigen nur asymmetrisch gewähren würde. Florian Rödl/Andreas Leidinger
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sich nur anstellen, wenn die Anknüpfung dem Urheber der Benachteiligung bewusst ist. Es kann also allein die Vorsatztat in Rede stehen. 65 Auf rassistische Diskriminierungen ist die Regelung in § 20 AGG nicht anwendbar. Der Gesetzgeber konnte sich also nicht vorstellen – und er liegt wahrscheinlich richtig damit –, dass eine Benachteiligung wegen der Rasse oder der ethnischen Herkunft ausnahmsweise einmal doch keine Abwertung beinhalten könnte. Einzig im Zusammenhang mit der Vermietung von Wohnraum hat er diese Möglichkeit gesehen, sie aber systematisch verfehlt in § 19 Abs. 3 AGG geregelt, obgleich sie unter § 20 AGG zu fassen gewesen wäre: Wenn die Benachteiligung aus Gründen der Schaffung und Erhaltung stabiler Bewohner- oder ausgewogener Siedlungsstrukturen oder ausgeglichener wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse erfolgt, soll sie nicht widerrechtlich sein.47 3. Kraft Fahrlässigkeit 66
Im Folgenden ist zunächst herauszuarbeiten, dass sich das Diskriminierungsdelikt nicht auf die Vorsatztat beschränkt (dazu a)). Sodann ist die Idee einer fahrlässigen Diskriminierung, namentlich der Gehalt des Fahrlässigkeitsvorwurfs, etwas genauer zu explizieren (dazu b)). Anschließend sind die zwei Formen darzustellen, in denen das Fahrlässigkeitsdelikt auftreten kann. Die Formen sind, wie aus der allgemeinen Fahrlässigkeitslehre vertraut, zum einen die bewusste Fahrlässigkeit (dazu c)), zum anderen die unbewusste Fahrlässigkeit (dazu d)). a) Konstellationen fahrlässiger Verletzung
Die Auffassung, der zufolge § 21 Abs. 2 S. 2 AGG für die Verpflichtung zum Schadensersatz über den Vorsatz hinaus auch die Fahrlässigkeit genügen lässt, steht im Einklang mit dem allgemeinen Deliktstatbestand in § 823 Abs. 1 BGB. Die Frage nach einer Verantwortlichkeit kraft Fahrlässigkeit kann sich schon in Fällen unmittelbarer Benachteiligung stellen, nämlich bei unmittelbaren Benachteiligungen, die aus Sicht ihres Urhebers von sachlichen Gründen im Sinn von § 20 AGG getragen werden, die aber tatsächlich nicht tragfähig sind. In diesem Fall erfolgt die Benachteiligung als unmittelbare sicherlich bewusst. Aber ein Vorsatz liegt hinsichtlich der Rechtsverletzung, der Persönlichkeitsrechtsverletzung durch Diskriminierung, nicht vor. Trotzdem schuldet der Urheber nach dem Gesetz Schadensersatz.48 68 Aber das ist nicht die einzige Konstellation fahrlässiger Diskriminierung. Zum Verständnis der weiteren Möglichkeiten ist es hilfreich, sich vergleichend die Struktur der Rechtsverletzung im Falle einer Beleidigung vor Augen zu führen. Die Persönlichkeitsrechtsverletzung in Gestalt der Ehrverletzung durch Beleidigung erfolgt essentiell auf kommunikative Weise. Einen isolierten Zustand der Beleidigung, der nicht auf fremde Äu67
47 So auch Thüsing (Fn. 30), § 19 AGG Rn. 78; zur Kritik Rn. 87 m. w. N. 48 Das wird auch von Anhängern einer restriktiven Lesart der mittelbaren als verdeckte Benachteiligung
heute augenscheinlich nicht mehr in Frage gestellt, anders noch Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, S. 501 f. zur Diskriminierung als Persönlichkeitsrechtsverletzung unter § 823 Abs. 1 BGB. Florian Rödl/Andreas Leidinger
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ßerung zurückgeht, gibt es nicht. Mit anderen Worten: Anders als im Fall des verletzten Körpers oder der beschädigten Sache ist der Zustand, den die Rechtsverletzung in Gestalt der Beleidigung bewirkt, nicht unabhängig von der Verletzungshandlung verständlich. Doch daraus folgt nicht, dass eine Ehrverletzung nur vorsätzlich möglich wäre. Zwar setzt die Straftat der Beleidigung gemäß § 185 StGB Vorsatz voraus. Aber das liegt nicht daran, dass es unmöglich wäre, einen anderen fahrlässig zu beleidigen. Es liegt daran, dass die fahrlässige Beleidigung nicht strafwürdig ist.49 Im Zivilrecht aber begründet die Fahrlässigkeit grundsätzlich dieselbe Verpflichtung 69 zum Schadensersatz wie der Vorsatz (vgl. §§ 280 Abs. 1, 276 Abs. 1 BGB und § 823 Abs. 1 BGB). Soweit ersichtlich wird die fahrlässige Ehrverletzung durch eine beleidigende Äußerung als zivilrechtliches Delikt in der Literatur nicht erörtert. Es mag an dieser Stelle auch dahinstehen, ob Fälle fahrlässiger Beleidigung im Rahmen der für das allgemeine Persönlichkeitsrecht charakteristischen Abwägungen der betroffenen Interessen tatsächlich die Schwelle zum Delikt überschreiten könnten. An dieser Stelle ist nur wichtig, dass die fahrlässige Beleidigung an sich möglich ist: Die vorsätzliche Beleidigung verlangt wenigstens, als Eventualvorsatz, dass dem Urheber der objektiv ehrverletzende Gehalt seiner Äußerung bewusst ist, mag er selbst der Äußerung auch einen anderen Sinn beigeben. War dem Urheber der objektiv ehrverletzende Gehalt nicht bewusst, ist über den Fahrlässigkeitsvorwurf zu urteilen. Die Struktur des Delikts einer fahrlässigen Diskriminierung fällt entsprechend aus. 70 Diskriminierung bedeutet die Abwertung eines Merkmalsträgers durch die Benachteiligung wegen jenes Merkmals. Ebenso wenig wie die Ehrverletzung kann auch die Abwertung als Merkmalsträger nicht durch den natürlichen Lauf der Dinge eintreten, sie ist nur durch Sinnerfahrung möglich, genauer im Zuge einer Benachteiligung, die objektiv eben die einschlägige abwertende Bedeutung hat. Jener objektive Sinngehalt einer Abwertung als Merkmalsträger kann auch fahrlässig gesetzt werden. Dabei ist es wichtig, den Bezug der Fahrlässigkeit präzise zu bestimmen: Die Fahrlässigkeit bezieht sich nicht auf die Benachteiligung, sondern auf die darüber vermittelte Rechtsverletzung. Die Rechtsverletzung liegt in dem objektiven Sinngehalt der Abwertung, den die Benachteiligung wegen eines Merkmals setzt. b) Gehalt des Fahrlässigkeitsvorwurfs
Fahrlässigkeit bedeutet, eine Sorgfaltspflicht zu verletzen. Die allgemeine Sorgfaltspflicht 71 beinhaltet, vorhersehbare und vermeidbare Rechtsverletzungen tatsächlich zu vermeiden. Bezogen auf die Verletzung des Persönlichkeitsrechts durch Diskriminierung bedeutet Fahrlässigkeit also allgemein, das Gegenüber merkmalsbedingt so zu benachteiligen, dass die Behandlung vorhersehbar den oben skizzierten objektiven Sinngehalt einer Abwertung wegen eines Merkmals hat. Vorhersehbar ist die Verletzung, wenn der Urheber einer Benachteiligung ihren abwertenden Sinn zwar nicht kannte, jedoch kennen musste. 49 Es liegt genauso wie bei der Sachbeschädigung (§ 303 StGB): Auch die ist fahrlässig möglich, verpflich-
tet zum Schadensersatz, ist aber nicht strafwürdig.
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Den Sinn einer Abwertung trägt die Benachteiligung wegen eines Merkmals dann, wenn die Benachteiligung aus Gründen erfolgt, die gesellschaftlich dominante, d. h. weithin wirksam werdende, tief eingeschriebene Denk- und Handlungsmuster aktualisieren, in die die Abwertung der Gruppe der Merkmalsträger eingelassen ist. Diese Denk- und Handlungsmuster sind vielen nicht bewusst, und doch sind sie handlungsleitend. Entsprechend liefern sie die Grundlage für Benachteiligungen. Das eben macht diese Denk- und Handlungsmuster so wirkmächtig auch in der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart, in der kaum jemand für sich selbst mehr bejahen würde, andere bewusst und damit vorsätzlich zu diskriminieren.50 Benachteiligungen, in denen sich solche abwertenden Denkund Handlungsmuster aktualisieren, sind dem Urheber der Benachteiligung nicht als Benachteiligung wegen des Merkmals bewusst. Und doch sind sie Benachteiligungen wegen des Merkmals. 73 Diese Erläuterung der fahrlässigen Diskriminierung unterstreicht noch einmal, dass die symmetrische Ausrichtung des geltenden Gleichbehandlungsrechts, soweit es den Schutz eines Persönlichkeitsrechts liefert, aus der Perspektive zivilrechtlicher Logik überschießend ist. Denn es bestehen Denk- und Handlungsmuster, in die die Benachteiligung von schwarzen Menschen, Frauen, Muslimen, Homosexuellen und Menschen mit Behinderung eingelassen ist. Es bestehen aber keine gesellschaftlich dominanten, hartnäckig abwertenden Denk- und Handlungsmuster, in die die Benachteiligung etwa eines weißen Mannes eingelassen ist, der heteronormativen Erwartungen entspricht.51 74 Indem das geltende Gleichbehandlungsrecht dem Urheber auch unbewusste Benachteiligungen wegen eines geschützten Merkmals zum Vorwurf und zur Grundlage seiner Verantwortlichkeit macht, konstituiert es eine zivilrechtliche Sorgfaltspflicht. Es konstituiert die Pflicht, die handlungsleitenden Denk- und Handlungsmuster daraufhin zu befragen, ob darin Abwertungen gegenüber den Trägern der geschützten Merkmale eingelassen sind. Es handelt sich um eine Pflicht, die nicht wenige Menschen vielleicht schon zuvor als ethische Pflicht für sich bejaht haben und heute auch jenseits des Anwendungsbereichs des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes für sich bejahen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz transformiert jene ethische in eine rechtliche Pflicht. Es handelt sich, das ist an dieser Stelle der entscheidende Punkt, nicht um eine Pflicht gegenüber der Allgemeinheit, weil diese politisch eines Tages ein Mehr an Chancengleichheit zum Allgemeinwohlziel erklärt hätte. Es handelt sich um eine Pflicht gegenüber jenen, die aufgrund der Wirkmächtigkeit der dominanten Denk- und Handlungsmuster immer wieder Benachteiligung erfahren haben und noch erfahren. Es ist genau darum eine zivilrechtliche Sorgfaltspflicht, deren Verletzung die Verantwortlichkeit gegenüber der betroffenen Person begründet und damit die resultierende Verpflichtung zum Schadensersatz trägt. 72
50 In den Kognitionswissenschaften wird das unter anderem unter dem Stichwort implicit bias verhan-
delt. Für Überblicksdarstellungen siehe Levinson/ Young/Rudman, Implicit Racial Bias: A Social Science Overview, in: Levinson/Smith (Hrsg.), Implicit racial bias across the law, 2012; Greenwald/Krieger, Implicit bias: Scientific Foundations, The California Law Review 94 (2006), S. 945; dazu → Magen, § 3 Rn. 7. 51 Dazu bereits unter Rn. 31 ff. (B. I. 4.). Florian Rödl/Andreas Leidinger
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c) Bewusste Formen
In bewusster Form begeht jemand eine fahrlässige Diskriminierung, dem vor Augen steht, dass er eine Benachteiligung eines Merkmalsträgers vornimmt. Das kann einerseits eine unmittelbare Benachteiligung sein, wenn die Benachteiligung an das geschützte Merkmal anknüpft. In Abhebung von der Vorsatztat ist die Benachteiligung aber dennoch nicht von einer bewussten Abwertung der Träger des betroffenen Merkmals getragen. Vielmehr ist sie von Gründen getragen, die dem Urheber der Benachteiligung als tragfähig erscheinen. Subjektiv mögen die Benachteiligungen im Rahmen fahrlässiger Diskriminierung sogar von Wohlwollen getragen sein. Das ist etwa der Fall, wenn ein Vermieter glaubt, es sei im Interesse jüdischer Mietinteressenten, nicht in ein Haus einzuziehen, in dem israelkritische Aktivisten wohnen, bei denen der Vermieter antisemitische Ressentiments vermutet. Wenn der Vermieter die Wohnungsbewerbung eines Juden deshalb ablehnt, ist die Abwertung wegen des einschlägigen Merkmals kein bewusster letzter Handlungsgrund für die Benachteiligung. Zwar handelt es sich um eine unmittelbare Benachteiligung. Gleichwohl kann ein Vorsatzvorwurf nicht erhoben werden, denn der Urheber glaubt, die Benachteiligung sei von einem sachlichen Grund getragen. Er verkennt, dass antizipierter Antisemitismus anderer Mieter kein sachlicher Grund für die Zurückweisung jüdischer Mieter sein kann – und zwar auch nicht zu deren eigenem Schutz. Er müsste wissen, dass es den objektiven Sinngehalt einer Abwertung hat, wenn Juden aufgrund von antizipierter Judenfeindlichkeit Dritter Vertragsschlüsse verweigert werden. In bewusster Form kann die Fahrlässigkeitstat aber auch im Wege mittelbarer Benachteiligung begangen werden. In diesem Fall ist sich der Urheber der empirischen Korrelation des geschützten Merkmals mit dem Kriterium, an das die Benachteiligung anknüpft, wohl bewusst. Wiederum wähnt er aber die Benachteiligung von sachlichen Gründen getragen, was jedoch objektiv nicht zu trifft. So liegt es etwa, wenn ein Konzertveranstalter von Konzertbesuchern weltanschaulich neutrale Bekleidung verlangt, weil am betreffenden Abend eine Fernsehübertragung stattfinden soll und er ein „weltanschaulich neutrales Erscheinungsbild“ anstrebt.52 Der Urheber der Benachteiligung verfolgt mit dem Erlass der Bekleidungsvorschrift womöglich wirklich nur ein allgemeines Marketing-Anliegen. Ihm ist allerdings bewusst, dass die Vorschrift weit überwiegend Musliminnen trifft. Er hält die Benachteiligung aber angesichts seines unternehmerischen Anliegens für gerechtfertigt. Doch damit irrt er sich. Denn das neutrale Erscheinungsbild soll gerade dadurch einen Marketing-Effekt zeitigen, dass für die Zuschauer keine Musliminnen mit Kopftuch zu sehen sind. Dass der Veranstalter diese Kopplung vornimmt, wird wiederum nur verständlich, wenn man in Rechnung stellt, dass antimuslimische Denk- und Handlungsmuster weit verbreitet sind.53
52 Der Sachverhalt ist gebildet in Anlehnung an den arbeitsrechtlichen Fall, der EuGH, Urt. v. 14.3.2017,
Rs. C-157/15, Achbita zugrunde lag; dazu → Walter/Tremml, § 8 Rn. 32 ff.; → Holzleithner, § 13 Rn. 75.
53 Deshalb ist EuGH, Urt. v. 14.3.2017, C-157/15, Achbita, falsch entschieden.
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Für den Fahrlässigkeitsvorwurf ist zentral, dass die empirische Korrelation von Kriterium und geschütztem Merkmal nicht nur statistisch besteht. Sie muss allgemein plausibel sein. Nur dann muss die Korrelation und der mit ihr verbundene objektive Sinngehalt vom Urheber gewusst werden. Die Korrelation darf im Zeitpunkt der Benachteiligung nicht unbekannt und womöglich erst im Laufe des Prozesses um die Schadensersatzforderung erwiesen werden. Es genügt auch nicht, dass sie dem betroffenen Merkmalsträger kraft Sonderwissen bekannt ist. Die Korrelation muss jedem vernünftigen Dritten einleuchten. Denn nur dann, wenn die Korrelation allgemein plausibel ist, ist dem Urheber vorzuwerfen, dass er trotz der plausiblen Korrelation ohne sachlichen Grund an einer Benachteiligung festhält. Und nur dann kann auch der Betroffene geltend machen, dass die Benachteiligung, die an ein korreliertes Kriterium anknüpft, objektiv den Sinn einer Abwertung wegen des geschützten Merkmals hatte. 80 Mithin ist die allgemeine Plausibilität der Korrelation unter § 3 Abs. 2 AGG nicht die gegenüber dem statistischen Nachweis zweitbeste Grundlage für die Feststellung einer mittelbaren Benachteiligung.54 Als Alternative zum statistischen Nachweis könnte sie durchaus als etwas freihändig und damit als unfair gegenüber dem Urheber der Benachteiligung erscheinen. Tatsächlich ist die allgemeine Plausibilität die allein maßgebliche Grundlage. Plausibel ist der Zusammenhang, wenn ein vorsätzlich handelnder Urheber einer Benachteiligung das Kriterium als Anknüpfungspunkt für eine verdeckte Diskriminierung hätte wählen können. Empirische Studien, die bis dahin unbekannte oder nur von einigen vermutete Korrelationen aufdecken, können allenfalls für die Zukunft neue Plausibilitäten schaffen. Einen Vorwurf fahrlässiger Diskriminierung für vergangene Ungleichbehandlungen können sie nicht stützen. Fehlt es am Fahrlässigkeitsvorwurf, kommen ab dem Zeitpunkt des statistischen Nachweises der Korrelation Ansprüche auf Beseitigung und Unterlassen nach § 21 Abs. 1 AGG in Betracht.55 Wird die Benachteiligung nach Eintreten der allgemeinen Plausibilisierung nicht abgestellt, entstehen Schadensersatzansprüche ab diesem Zeitpunkt. 79
d) Unbewusste Form 81
Während dem Urheber einer bewusst fahrlässig begangenen Diskriminierung die Benachteiligung der Merkmalsträger vor Augen steht, ist das bei der Form unbewusster Fahrlässigkeit anders. Es handelt sich um seltenere Fälle. 54 Zur Geltendmachung der Korrelation bleibt der statistische Nachweis sinnvoll, um die Plausibilität zu
unterfüttern. Für erforderlich erklärt wird der statistische Nachweis hingegen etwa bei Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 22 AGG Rn. 20. 55 Die meisten bislang gerichtlich entschiedenen Fälle mittelbarer Diskriminierung genügen dem Plausibilitätserfordernis. Das gilt für die Benachteiligung von Teilzeitangestellten, ebenso wie für die schlechtere Bezahlung von vorwiegend mit Frauen besetzten Berufsgruppen oder die Benachteiligung wegen der Körpergröße. Keinen Schadensersatzanspruch gäbe es hingegen in einer Konstellation wie jener, die der Entscheidung des UK Supreme Court in der Sache Essop zugrunde lag. Dort war die statistische Benachteiligung bestimmter Gruppen durch standardisierte Eignungstests lange Zeit tatsächlich nicht bekannt (UK Supreme Court, Essop and others v. Home Office, [2017] UKSC 27). Florian Rödl/Andreas Leidinger
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Ein solcher liegt etwa vor, wenn der Konzertveranstalter im obigen Beispiel die em- 82 pirische Korrelation zwischen der von der Bekleidungsvorschrift verursachten Benachteiligung und der muslimischen Religionszugehörigkeit nicht erkennt. Dann bezieht sich seine Fahrlässigkeit hierauf: Obgleich der Zusammenhang allgemein plausibel ist, also jedem vernünftigen Dritten vor Augen steht, war er ihm nicht bewusst. Er hat übersehen, dass sein Kriterium den objektiven Sinngehalt einer Abwertung betroffener kopftuchtragender Musliminnen hat. Einigen wird der Fahrlässigkeitsvorwurf in diesen Konstellationen streng erscheinen. 83 Aber er ist konsequent. Würde man diese Fälle unbewusster Fahrlässigkeit von der Verpflichtung zum Schadensersatz ausnehmen, würde es sich auszahlen, sich möglichst wenig Gedanken über empirische Korrelationen von neutralen Kriterien und geschützten Merkmalen zu machen. Wer sich keine Gedanken macht, liefe seltener Gefahr, sich schadensersatzpflichtig zu machen. Die Handlungsfreiheit des Sensiblen wäre stärker beschränkt als die Handlungsfreiheit des Sorglosen. Solche Abhängigkeit der Handlungsfreiheit von kognitivem Vermögen oder kognitiver Sorgfalt ist im Deliktsrecht grundsätzlich ausgeschlossen.56 e) Begründete mittelbare Ungleichbehandlung (§ 3 Abs. 2 AGG a. E.)
Die Anknüpfung an ein Kriterium, das mit den Trägern eines einschlägigen Merkmals 84 hinreichend korreliert, ist nach § 3 Abs. 2 AGG dann keine Benachteiligung, wenn sie von einem tragfähigen sachlichen Grund gestützt wird. Hier verwendet das Gesetz wiederum den Ausdruck der Rechtfertigung. Es wird allerdings verbreitet gesagt, bei der mittelbaren Benachteiligung gehöre das Fehlen eines sachlichen Grundes gemäß § 3 Abs. 2 AGG, anders als bei der unmittelbaren Benachteiligung, zum Tatbestand.57 Die Unterscheidung der Ebenen von Tatbestand und Rechtfertigung ist dem Strafrecht 85 entnommen, im Deliktsrecht hat sie eigentlich nichts zu suchen. Oben wurde die Alternative schon vorgestellt: Auch § 20 AGG hat mit einer von der Rechtsverletzung abgesetzten Ebene der Rechtfertigung nichts zu tun. Ein sachlicher Grund nach den Maßgaben von § 20 AGG schließt vielmehr die vorsätzliche Rechtsverletzung aus. Im Zusammenhang mit der Fahrlässigkeitstat zeigt § 3 Abs. 2 AGG a. E. an, dass ein sachlicher Grund im Sinne dieser Norm den objektiv abwertenden Sinngehalt der Behandlung entfallen lässt. Wenn ein Kino seine Vorstellungen stets auf 20 Uhr oder später legt und dadurch Alleinerziehende vom Kinobesuch faktisch so gut wie ausgeschlossen sind, was wiederum weit überwiegend Frauen trifft, mag das eine mittelbare Benachteiligung sein. Sie ist aber durch das Anliegen gerechtfertigt, eben gerade das abendliche Kinoerlebnis zu vermarkten. Der Verdacht einer geschlechtsbezogenen Abwertung entfällt, wenn man die Sache unter diesem Blickwinkel betrachtet. Die Entscheidung für die abendliche Spielzeit hat nichts mit abwertenden Denk- und Handlungsmustern zu tun. 56 Rödl (Fn. 13), S. 108 ff. 57 Serr, in: Serr/Rieble (Hrsg.), Staudinger BGB, Buch 2, Neubearbeitung 2020, § 3 AGG 3 Rn. 32; Hor-
cher, in: Hau/Poseck (Hrsg.), BeckOK BGB, Stand 1.5.2022, § 3 AGG Rn. 49. Florian Rödl/Andreas Leidinger
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Das Vorstehende erhellt zunächst, warum das Gesetz einen Grund von angemessenem Gewicht verlangt. Häufig ist in Anlehnung an den Gesetzeswortlaut von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung die Rede.58 Das ist aus persönlichkeitsrechtlicher Sicht ungenau. Denn es ist vielmehr einzelfallbezogen zu prüfen, ob der Grund hinreichend ist, um der mittelbaren Benachteiligung den objektiven Sinngehalt einer Abwertung zu nehmen. 87 Zugleich wird verständlich, warum das Spektrum von Gründen unter § 3 Abs. 2 AGG, sofern ihr Vorliegen die Fahrlässigkeitstat ausschließen soll, insgesamt weiter ist als das Spektrum von Gründen unter § 20 Abs. 1 AGG. Letztere sollen widerlegen, dass eine Benachteiligung, die vorsätzlich und in der Regel unmittelbar an ein geschütztes Merkmal anknüpft, ausnahmsweise doch nicht den Sinngehalt einer Abwertung der Gruppe der Merkmalsträger aufweist. Erstere sollen den abwertenden Sinngehalt einer fahrlässigen Benachteiligung wegen eines korrelierten Kriteriums ausschließen. Um einen fahrlässig geäußerten abwertenden Sinngehalt auszuschließen, genügt ein sachlicher Grund. Um auszuschließen, dass die vorsätzliche unmittelbare Benachteiligung ausnahmsweise nicht den Sinngehalt einer Abwertung hat, sind die Anforderungen spezifischer. 86
4. Schuldlose Rechtsverletzung (§ 21 Abs. 1 AGG)
Abschließend sei die Möglichkeit einer bloßen Rechtsverletzung aufgeklärt. Eine denkbare Konstellation ist die einer mittelbaren Benachteiligung, bei der der statistische Zusammenhang nicht plausibel ist, sich aber nachträglich erweist. Sie wurde bereits behandelt: hier sind tatsächlich für die Vergangenheit keine Schadensersatzansprüche begründet.59 89 Darüber hinaus läge rein begrifflich die Konstellation einer bloßen Rechtsverletzung vor, wenn eine Benachteiligung objektiv den Sinn einer Abwertung wegen eines Merkmals in sich trägt, aber der abwertende Sinn dem Urheber nicht nur nicht bewusst war, sondern ihm auch nicht bewusst sein musste. Das wird aber kaum vorkommen. Denn den objektiven Sinngehalt seiner benachteiligenden Handlung muss jeder erfassen können. Selbst besondere kognitive Umstände im konkreten Fall können unter dem objektiven Maß der zivilrechtlichen Fahrlässigkeit eigentlich keine Rolle spielen. 88
C. Schluss 90
So hat sich gezeigt, dass sich die Diskriminierungsverbote der §§ 19–21 AGG weitgehend aus der Eigenlogik des Zivilrechts entwickeln lassen. Damit ist ein Verständnis von Diskriminierung als Delikt entfaltet, das nicht für wesentliche Restriktionen des geltenden Rechts streitet.
58 Für den arbeitsrechtlichen Anwendungsbereich BAG, Urt. v. 22.6.2011, 8 AZR 48/10, Rn. 38; BAG,
Urt. v. 14.1.2015, 7 AZR 880/13, Rn. 47; Baumgärtner, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: Dezember 2021, § 3 AGG Rn. 96. 59 Siehe unter Rn. 79 (B. III. 3. c)). Florian Rödl/Andreas Leidinger
C. Schluss
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Sicher kann man sagen, dass ein Gesetzgeber, der seinem Zivilrecht das Delikt der Dis- 91 kriminierung einschreibt, namentlich mit Blick auf die Möglichkeit unbewusster fahrlässiger Begehung sehr anspruchsvolle Handlungsgrenzen errichtet. Man kann aber auch sagen, es ist ein Gesetzgeber, der erkannt hat, dass tradierte Hierarchien der Ungleichheit in der Ordnung gleicher rechtlicher Freiheit nicht einfach aufgehoben sind. Sie können sich darum auch zwischen rechtlich freien Gleichen im Wege der Diskriminierung als ein Unrecht niederschlagen, das einer dem anderen zufügt.
Florian Rödl/Andreas Leidinger
§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext Torsten von Roetteken Inhaltsübersicht Rn. A. Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Unionsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Richtlinien und ihre primärrechtlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geltung für die abhängige und selbstständige Berufsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beschränkung auf Erwerbstätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einbeziehung der Berufsberatung und -ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Mitwirkung in Organisationen mit Bezug zur Ausübung der Erwerbstätigkeit . . . . . . . . 6. Ausnahme vom Geltungsbereich des unionsrechtlichen Diskriminierungsschutzes in der RL 2000/78/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sozialschutz und Systeme der sozialen Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Streitkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausnahmen zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, der Verteidigung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und der Rechte und Freiheiten anderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Umsetzungs- und Ergebnispflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bundesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sozialgesetzbuch IX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gleichbehandlung und Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten . . . . . . . . . . . . . . . 5. Beamtengesetze des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Entgelttransparenzgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Beschäftigtenschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sachlicher Geltungsbereich (§ 2 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einseitig zwingendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zugang zur Erwerbstätigkeit (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Entlassungsbedingungen (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Berufsberatung, -bildung und -ausbildung (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Mitgliedschaft in berufsbezogenen Organisationen und deren Leistungen (§ 2 Abs. 1 Nr. 4 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Erfüllung der Voraussetzungen des § 6 AGG – weitgehende Ausklammerung der selbstständigen Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten von Roetteken
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9. Kein spezieller Vorrang des AGG vor gleichrangigem Bundesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Persönlicher Anwendungsbereich des AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Voraussetzungen der Beschäftigteneigenschaft (§ 6 Abs. 1 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Legaldefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arbeitnehmer/innen (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Berufsbildung Beschäftigte (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Arbeitnehmerähnliche Personen (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bewerber/innen (§ 6 Abs. 1 Satz 2 1. Alt. AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Nachwirkende Ansprüche ehemaliger Beschäftigter (§ 6 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. AGG) . . . . IV. Selbstständige, Organmitglieder (§ 6 Abs. 3 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verbot der Benachteiligung von Beschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 7 Abs. 1 AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Realisierung des Benachteiligungsverbots in Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anspruch auf Gleichbehandlung mit den nicht diskriminierten Personen . . . . . . . . . . . . 4. Einstufung von Diskriminierungen als Verletzung vertraglicher Pflichten . . . . . . . . . . . . 5. Kein Erfordernis einer schuldhaften Nichtbeachtung des Benachteiligungsverbotes . . 6. Entsprechende Geltung für Beamtinnen, Beamte, Berufsrichter/innen . . . . . . . . . . . . . . VIII. Rechtfertigung von Diskriminierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Berufliche Anforderungen (§ 8 Abs. 1 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonderregelungen für die Merkmale Religion und Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sonderregelungen für das Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausschluss von Diskriminierungen aufgrund von Schutzvorschriften (§ 8 Abs. 2 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Besondere Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Organisationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbot diskriminierender Ausschreibungen von Arbeitsplätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Besondere Pflichten des Arbeitgebers (§ 12 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X. Rechte der Beschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beschwerdestelle (§ 13 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Individuelles Leistungsverweigerungsrecht (§ 14 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Maßregelungsverbot (§ 16 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ersatz materieller und immaterieller Schäden (§ 15 Abs. 1–3 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ausschlussfrist zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen (§ 15 Abs. 4 AGG) . . . . . . . 6. Ausschluss eines Anspruchs auf Einstellung oder Beförderung (§ 15 Abs. 5 AGG) . . . . . 7. Verhältnis zu anderen Anspruchsgrundlagen (§ 15 Abs. 5 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI. Kollektivrechtliche Regelungen (§§ 17, 18 AGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext wird seit dem 18.8.2006 überwiegend im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)1 geregelt. 2017 sind die Regelungen des Entgelttransparenzgesetzes (EntgTranspG)2 hinzugetreten. Die Regelungen 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer
Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897, zuletzt geändert durch Art. 8 des SEPA-Gesetzes v. 3.4.2013, BGBl. 2013 I, S. 610. 2 Gesetz zur Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen v. 30.6.2017, BGBl. 2017 I, S. 2152. Torsten von Roetteken
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des AGG sind überwiegend an den verschiedenen zum Diskriminierungsschutz von der EU erlassenen Richtlinien orientiert, bleiben jedoch teilweise hinter den Anforderungen des Unionsrechts zurück und sind im Sanktionsteil von einem grundsätzlichen Misstrauen geprägt, soweit es um die Ansprüche von Personen geht, die sich diskriminiert sehen. Eine allgemeine Überarbeitung des deutschen Rechts mit dem Ziel, möglichst sämtliche Diskriminierungen zu beseitigen, ist seinerzeit und bis heute unterblieben. Die nachfolgende Darstellung konzentriert sich auf das AGG und unterzieht dessen Regelungen einer Prüfung hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem sich aus dem Unionsrecht ergebenden Mindeststandard. Mangels weiter reichender Regelungen im deutschen Recht ist für den Umfang des einklagbaren Diskriminierungsschutzes weiterhin die Rechtsprechung des EuGH maßstabsbildend.
A. Rechtsquellen I. Unionsrechtliche Vorgaben 1. Richtlinien und ihre primärrechtlichen Grundlagen
Das Unionsrecht regelt den Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext hinsicht- 2 lich der in § 1 AGG genannten Merkmale in den Richtlinien (RL) 2000/43/EG3, 2000/78/ EG4 und 2006/54/EG5. Diese sekundärrechtlichen Bestimmungen bedürfen entsprechend Art. 288 Abs. 3 AEUV der Umsetzung in nationales Recht. Ungeachtet dessen gehört das den Richtlinien zugrunde liegende Recht auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung hinsichtlich aller in den Richtlinien erfassten Merkmale dem Primärrecht der EU an und gilt nach Art. 51 Abs. 1 GRCh aufgrund der sekundärrechtlichen Konkretisierungen unabhängig vom Niveau der Umsetzung der jeweiligen Richtlinie in nationales Recht unmittelbar in den Mitgliedstaaten und für ihre Einwohner/innen, und zwar nicht nur gegenüber öffentlichen Stellen, sondern auch unter Personen des Privatrechts.6 Art. 21 Abs. 1 GRCh begründet für die im Sekundärrecht konkretisierten Diskriminierungsmerkmale ein in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes subjektives Recht auf Unterlassung der entsprechenden Benachteiligung und korrespondierend dazu einen gerichtlich einklagbaren Anspruch
3 Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied
der Rasse oder der ethnischen Herkunft v. 29.6.2000, ABl. 2000 L 180/22 (Antirassismus-Richtlinie).
4 Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung
der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303/16 (Rahmenrichtlinie).
5 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes
der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung) v. 5.7.2006, ABl. 2006 L 204/23 (Gleichbehandlungs-Richtlinie). 6 EuGH, Urt. v. 12.11.2005, Rs. C-144/04, Mangold, Rn. 74 ff.; EuGH, Urt. v. 19.1.2010, Rs. C-555/07, Kücükdeveci, Rn. 50 ff.; EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 76; EuGH, Urt. v. 19.4.2016, Rs. C-441/14, DI, Rn. 35 f.; EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-68/17, IR, Rn. 67 ff.; EuGH, Urt. v. 15.11.2018, Rs. C-457/17, Maniero, Rn. 36; EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco Investigation, Rn. 76. Torsten von Roetteken
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§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext
auf Gleichbehandlung.7 Entsprechendes gilt für Art. 157 Abs. 1, 2 AEUV, dessen unmittelbare Geltung auch unter Privatrechtspersonen schon seit 1976 anerkannt ist.8 2. Geltung für die abhängige und selbstständige Berufsausübung
Die verschiedenen Richtlinien der EU zum Diskriminierungsschutz beziehen sich mit leicht unterschiedlichen Formulierungen auf Arbeits- und Beschäftigungsfragen und konkretisieren dies durch den Bezug auf den Zugang zur Beschäftigung einschließlich des beruflichen Aufstiegs und des Zugangs zur Berufsausbildung, die Arbeitsbedingungen einschließlich des Entgelts und Entlassungsbedingungen sowie den Bezug auf betriebliche Systeme der sozialen Sicherheit.9 Eine Beschränkung auf den Bereich der Beschäftigung in persönlicher Abhängigkeit, das heißt auf Arbeitnehmer/innen im Sinne des Unionsrechts nehmen die RL 2000/43/EG, 2000/78/EG, 2006/54/EG nicht vor, erfassen also auch den Zugang zu beruflichen Tätigkeiten, die nicht in einem Arbeitsverhältnis beziehungsweise einem vergleichbaren öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis wahrgenommen werden. Der unionsrechtliche Diskriminierungsschutz gilt für den Zugang zu abhängiger und selbstständiger Erwerbstätigkeit gleichermaßen, unabhängig von dem Tätigkeitsfeld oder der beruflichen Position10. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob die berufliche Tätigkeit als Arbeitnehmer/in im Sinne des Unionsrechts wahrgenommen wird beziehungsweise werden soll. Der EuGH sieht für eine entsprechende Differenzierung keinen Anlass, um Fragen der Beendigung einer vertragszahnärztlichen Tätigkeit im System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung dem durch Art. 3 Abs. 1 lit. c RL 2000/78/EG bestimmten Geltungsbereich dieser Richtlinie zuzuordnen.11 Der unionsrechtliche Diskriminierungsschutz gilt für alle Beschäftigungs- und Arbeits4 bedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts. Insoweit hält der EuGH ebenfalls eine Unterscheidung nach selbstständiger oder unselbstständiger Erwerbstätigkeit nicht für geboten.12 Dementsprechend erfasst der Diskriminierungsschutz zum Beispiel auch die Bemessung der in einer Praxis erzielbaren ärztlichen Honorare einschließlich deren Begrenzung auf Höchstbeträge.13 3
3. Beschränkung auf Erwerbstätigkeiten 5
Die Fragen von Arbeit und Beschäftigung werden im Unionsrecht in den verschiedenen Richtlinien nur insoweit erfasst, wie es um eine auf Erwerb gerichtete berufliche Tätigkeit 7 EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco Investigation, Rn. 79 f., 83 ff.; EuGH, Urt. v. 19.4.2016,
Rs. C-441/14, DI, Rn. 36; EuGH, Urt. v. 15.1.2014, Rs. C-176/12, Association de médiation sociale, Rn. 47.
8 EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Rn. 38/39, 40. 9 Art. 1 Abs. 2 RL 2006/54/EG, konkretisiert in Art. 14 Abs. 1 RL 2006/54/EG; Art. 1 RL 2000/78/EG,
konkretisiert in Art. 3 RL 2000/78/EG; Art. 3 Abs. 1 lit. a bis lit. d RL 2000/43/EG.
10 Art. 14 Abs. 1 lit. a RL 2006/54/EG, Art. 3 Abs. 1 lit. a RL 2000/43/EG, Art. 3 Abs. 1 lit. a RL 2000/78/
EG.
11 EuGH, Urt. v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Petersen, Rn. 33. 12 EuGH, Urt. v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Petersen, Rn. 33. 13 EuGH, Urt. v. 6.4.2000, Rs. C-226/98, Jørgensen.
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geht. Diese Begrenzung des Diskriminierungsschutzes ist dem Umstand geschuldet, dass die insoweit bestehende Regelungskompetenz der EU durch Art. 19 Abs. 1 AEUV explizit auf die Bereiche beschränkt ist, in denen die EU vertraglich begründete Zuständigkeiten beziehungsweise Kompetenzen besitzt. Sie bestehen nicht, soweit es um die Ausgestaltung staatsbürgerlicher Rechte oder Pflichten geht.14 Auch Betätigungen in einem Ehrenbeamtenverhältnis, in der freiwilligen Feuerwehr15, als Helfer/in des THW, im Bundesfreiwilligendienst etc. stellen keine auf Erwerb gerichteten beruflichen Tätigkeiten dar16. Maßgebliches Abgrenzungskriterium ist, ob die Erzielung von Einkünften als Gegen- 6 leistung für die Tätigkeit angestrebt wird, um den Lebensunterhalt zumindest teilweise zu bestreiten.17 Nur völlig untergeordnete und wirtschaftlich bedeutungslose Tätigkeiten können außerhalb des Geltungsbereichs der Richtlinien zum Diskriminierungsschutz angesiedelt werden, weil es sich nicht um eine auf Erwerb gerichtete Tätigkeiten handelt, diese vielmehr anderen Zielen dienen.18 Die Zahlung das Erwerbseinkommen ergänzender Sozialleistungen schließt eine Erwerbstätigkeit allerdings noch nicht aus.19 4. Einbeziehung der Berufsberatung und -ausbildung
Der sachliche Geltungsbereich der Richtlinien erfasst ausdrücklich auch den Zugang zur 7 Berufsberatung und Berufsausbildung einschließlich Weiterbildung und Umschulung.20 Das gilt unabhängig davon, ob die entsprechenden Tätigkeiten bereits Erwerbscharakter besitzen. Maßgebend ist insoweit, dass der Zugang zur Berufsberatung und -ausbildung das der Ausübung der Erwerbstätigkeit vorgelagerte Feld erfasst. Ohne einen diskriminierungsfreien Zugang zur Berufsberatung und -ausbildung einschließlich deren Durchführung wäre eine Gleichbehandlung bei der nachfolgenden Erwerbstätigkeit von vornherein in Frage gestellt. 5. Mitwirkung in Organisationen mit Bezug zur Ausübung der Erwerbstätigkeit
Die Richtlinien erfassen über den engeren Bereich der Erwerbstätigkeit hinaus deren Um- 8 feld in Gestalt der Mitgliedschaft und Mitwirkung in einer Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberorganisation oder in einer Organisation, die nur aus Mitgliedern einer bestimmten Berufsgruppe besteht, einschließlich der Inanspruchnahme der Leistungen dieser Organi14 Zur Wehrpflicht EuGH, Urt. v. 11.3.2003, Rs. C-186/01, Dory, Rn. 38 f., 42; v. Roetteken, AGG, Stand:
Februar 2022, § 1 Rn. 238.
15 VG Frankfurt a. M., Beschl. v. 23.10.2014, 9 L 2389/14.F. 16 Mohr, in: Franzen/Gallner/Oetker (Hrsg.), Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2022,
Art. 3 RL 2000/78/EG Rn. 12 m. w. N.; a. A. und die Tätigkeit als Schöffe bzw. Schöffin als entgeltliche berufliche Tätigkeit i. S. d. der RL 200/78/EG einordnend EuGH, Urt. v. 21.10.2021, Rs. C-824/19, Komisia za zashtita ot diskriminatsia, Rn. 37 17 Schmidt/Senne, Das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und seine Bedeutung für das deutsche Arbeitsrecht, RdA 2002, S. 80 (82); v. Roetteken, AGG, Stand: Februar 2022, § 2 Rn. 11 m. w. N. 18 EuGH, Urt. v. 17.3.2005, Rs. C-109/04, Kranemann, Rn. 12; v. Roetteken (Fn. 14), § 1 Rn. 188 m. w. N. 19 Siehe v. Roetteken (Fn. 17), § 2 Rn. 11c. 20 Art. 14 Abs. 1 lit. b RL 2006/54/EG, Art. 3 Abs. 1 lit. b RL 2000/43/EG, Art. 3 Abs. 1 lit. b RL 2000/78/EG. Torsten von Roetteken
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sationen.21 Zu ihnen gehören etwa Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und berufspolitische Vereinigungen ohne den Anspruch auf eine Tariffähigkeit, aber auch die öffentlichrechtlich organisierten Kammern für Industrie und Handel, das Handwerk, Kammern für bestimmte Berufsgruppen wie Ärzte/Ärztinnen, Psychotherapeuten/-therapeutinnen, Anwälte/Anwältinnen, Ingenieure/Ingenieurinnen, Pflegekräfte etc. einschließlich der für solche Berufsgruppen gegebenenfalls bestehenden – außerhalb der gesetzlichen Sozialversicherung angesiedelten – Versorgungswerke.22 6. Ausnahme vom Geltungsbereich des unionsrechtlichen Diskriminierungsschutzes in der RL 2000/78/EG a) Sozialschutz und Systeme der sozialen Sicherheit 9 Der unionsrechtliche Diskriminierungsschutz wird für die in Art. 1 RL 2000/78/EG ge-
nannten Merkmale23 durch Bestimmungen dieser Richtlinie für Entscheidungen des nationalen Gesetzgebers dahin geöffnet, dass in einigen Bereichen kein Diskriminierungsschutz gewährleistet werden muss bzw. Ausnahmen vom grundsätzlich gebotenen Diskriminierungsschutz zugelassen werden. 10 Art. 3 Abs. 3 Richtlinie 2000/78/EG lässt diese Richtlinie nicht gelten für Leistungen jeder Art staatlicher Systeme der sozialen Sicherheit oder des sozialen Schutzes einschließlich der diesen Systemen gleichgestellten Systeme. Diese Beschränkung des Geltungsbereichs der RL 2000/78/EG bezieht sich in erster Linie auf die gesetzlichen Sozialversicherungen hinsichtlich der in Art. 3 Abs. 1 RL 79/7/EWG genannten Risiken.24 Das bezieht sich auf Systeme, die gegen das Risiko von Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeitsunfall und Berufskrankheit sowie Arbeitslosigkeit schützen. Erfasst sind auch Sozialhilfeleistungen, soweit sie den Schutz gegen die vorgenannten besonderen Risiken ergänzen oder ersetzen. Deshalb erfasst die RL 2000/78/EG zum Beispiel keine öffentlichen Leistungen, wie sie dem deutschen Arbeitslosengeld II (ALG II) entsprechen, das Kinder- oder Elterngeld, und sonstige von der öffentlichen Hand gewährte Vergütungen, die den Zugang zu einer Beschäftigung oder die Aufrechterhaltung eines Beschäftigungsverhältnisses zum Ziel haben. 11 Art. 3 Abs. 3 RL 2000/78/EG steht im Gegensatz zu Art. 3 Abs. 1 lit. e, f RL 2000/43/ EG, der den Sozialschutz einschließlich der sozialen Sicherheit und der Gesundheitsdienste und den Bereich der sozialen Vergünstigungen dem Diskriminierungsverbot der Art. 1 und 2 RL 2000/43/EG unterwirft. 12 Die Ausnahme des Art. 3 Abs. 3 RL 2000/78/EG erfasst nicht solche Leistungen, die sich als Arbeitsentgelt im Sinne des Art. 157 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV einordnen lassen, wie der Er21 Art. 14 Abs. 1 lit. d RL 2006/54/EG, Art. 3 Abs. 1 lit. d RL 2000/43/EG, Art. 3 Abs. 1 lit. d RL 2000/78/
EG.
22 EuGH, Urt. v. 1.4.2008, Rs. C-267/06, Maruko, Rn. 41 ff.; v. Roetteken, Gelten das Allgemeine Gleichbe-
handlungsgesetz und die Gleichbehandlungsrichtlinien für berufsständische Versorgungswerke?, NVwZ 2008, S. 615. 23 Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Ausrichtung. 24 Erwägungsgrund Nr. 13 der RL 2000/78/EG. Torsten von Roetteken
A. Rechtsquellen
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wägungsgrund Nr. 13 zur RL 2000/78/EG klarstellt.25 Die in Art. 3 Abs. 1 lit. c RL 2000/78/ EG mit Bezug auf das Arbeitsentgelt bestimmte Geltung dieser Richtlinie erfasst daher zum Beispiel die berufsbezogenen Sicherungssysteme wie die Beamtenversorgung26 im Bereich von Bund und Ländern und die Gewährung von Beihilfen für Krankheits- und Pflegeaufwendungen von Beamtinnen und Beamten, Richterinnen und Richtern.27 Unstrittig ist auch, dass die RL 2000/78/EG für die Leistungen der die allgemeine Rentenversicherung ergänzenden betrieblichen Altersversorgung selbst dann gilt, wenn das System gesetzlich oder sonst öffentlich-rechtlich ausgestaltet ist.28 Die Ausnahme des Art. 3 Abs. 3 RL 2000/78/EG erfasst keine auf einzelne Berufsgrup- 13 pen beschränkten Versorgungswerke,29 deren Ausgestaltung mangels bundesrechtlicher Kompetenz Sache der Landesgesetzgebung ist. Dies folgt insbesondere aus Art. 6, 7 Abs. 1 lit. a, Abs. 2 RL 2006/54/EG. b) Streitkräfte
Art. 3 Abs. 4 RL 2000/78/EG erlaubt es, für Diskriminierungen wegen einer Behin- 14 derung oder des Alters bei Angehörigen der Streitkräfte die Geltung dieser Richtlinie auszuschließen. Diese Regelung ist nicht als Beschränkung des sich aus Art. 18 RL 2000/78/ EG ergebenden Umsetzungsgebotes zu verstehen. Der Erwägungsgrund Nr. 19 Satz 2 der RL 2000/78/EG setzt vielmehr eine ausdrückliche Entscheidung der Mitgliedstaaten voraus, um den Anwendungsbereich der nach Art. 3 Abs. 4 RL 2000/78/EG zulassungsfähigen Ausnahme festzulegen. Soweit dies geschieht, können die Betroffenen den Schutz des primärrechtlich fundierten Rechts auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung nicht in Anspruch nehmen.30 Nationales Verfassungsrecht, wie zum Beispiel Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, bleibt jedoch unverändert anwendbar. Gleiches gilt auch für die Regelungen der als allgemeine Regel des Völkerrechts geltenden UN-BRK, soweit nicht deren Einzelregelungen eine Abweichung erlauben. Für die RL 2006/54/EG und die RL 2000/43/EG gibt es keine Art. 3 Abs. 4 RL 2000/78/ 15 EG vergleichbare Regelung.31
Dem folgend EuGH, Urt. v. 1.4.2008, Rs. C-267/06, Maruko, Rn. 41; seitdem ständige Rechtsprechung. EuGH, Urt. v. 23.10.2003, Rs. C-4/02 u. a., Schönheit u. Becker, Rn. 74. EuGH, Urt. v. 6.12.2012, Rs. C-124/11 u. a., Dittrich u. a., Rn. 43. EuGH, Urt. v. 1.4.2008, Rs. C-267/06, Maruko, Rn. 41 ff.; EuGH, Urt. v. 10.5.2011, Rs. C-147/08, Römer, Rn. 32 ff. 29 Siehe v. Roetteken (Fn. 22), S. 615; ders., Keine Hinterbliebenenversorgung eines überlebenden Lebenspartners in ärztlichem Versorgungswerk, jurisPR-ArbR 48/2007, Anm. 3; a. A. BVerwG, Urt. v. 25.7.2007, 6 C 27.06, Rn. 42; Steinmeyer, Leserbrief, Replik zur Anmerkung von Dr. Torsten von Roetteken, jurisPRArbR 48/2007 Anm. 3, jurisPR-ArbR 9/2008, Anm. 7; Bier, Zulässiger Ausschluss der Hinterbliebenenversorgung für überlebenden Lebenspartner durch ärztliches Versorgungswerk, jurisPR-BVerwG 24/2007, Anm. 4. 30 Teilweise umgesetzt in § 1 Abs. 1, § 18 SoldGG. 31 Zu RL 76/207/EWG EuGH, Urt. v. 26.10.1999, Rs. C-273/97, Sirdar, Rn. 16 ff.; EuGH, Urt. v. 11.1.2000, Rs. C-285/98, Kreil, Rn. 16 ff. 25 26 27 28
Torsten von Roetteken
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§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext
c) Ausnahmen zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, der Verteidigung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und der Rechte und Freiheiten anderer
Art. 2 Abs. 5 RL 2000/78/EG belässt den Mitgliedstaaten die Kompetenz, von den sich aus Art. 2 Abs. 1–4 RL 2000/78/EG ergebenden Diskriminierungsverboten abzuweichen, wenn eine Maßnahme in Rede steht, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, für die Verteidigung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Vergleichbare Regelungen finden sich weder in der RL 2000/43/EG noch in der RL 2006/54/EG.32 Zur Inanspruchnahme der Ausnahmeermächtigung in Art. 2 Abs. 5 RL 2000/78/EG 17 geht der EuGH davon aus, es bedürfe des Erlasses staatlich verantworteten Rechts, was allerdings einer gesetzliche Ermächtigung an die Sozialpartner zum Erlass konkreter Bestimmungen in Ausfüllung der durch Art. 2 Abs. 5 RL 2000/78/EG eröffneten Möglichkeiten nicht ausschließt.33 16
7. Umsetzungs- und Ergebnispflicht 18
Die verschiedenen Richtlinien zum Diskriminierungsschutz begründen entsprechend Art. 288 Abs. 3 AEUV die Pflicht, die durch die jeweilige Richtlinie vorgegebenen Ergebnisse zu erzielen.34 Diese Art der Umsetzungspflicht ist in den Richtlinien sowohl in den Erwägungsgründen wie auch in den Normtexten ausdrücklich angesprochen.35 Art. 1 Abs. 1 RL 2006/54/EG definiert als Ziel die Sicherstellung des Grundsatzes der Gleichbehandlung und Chancengleichheit. Art. 157 Abs. 1, 2 AEUV versteht der EuGH als Ergebnispflicht der Mitgliedstaaten.36 Das durch die Richtlinie verbindlich vorgegebene Ziel muss in Wirklichkeit erreicht werden.37 In Bundesstaaten trifft diese Ergebnispflicht die jeweils für die Gesetzgebung zuständige Instanz, bei Untätigkeit oder Unzuständigkeit des Bundes die Länder im Rahmen ihrer durch Art. 70, 72, 74 GG konkretisierten Zuständigkeiten.38 32 Zu RL 76/207/EWG EuGH, Urt. v. 15.5.1986, Rs. 222/84, Johnston, Rn. 25; EuGH, Urt. v. 26.10.1999,
Rs. C-273/97, Sirdar, Rn. 16 ff.; EuGH, Urt. v. 11.1.2000, Rs. C-285/98, Kreil, Rn. 16 ff.
33 EuGH, Urt. v. 13.9.2013, Rs. C-447/09, Prigge u. a., Rn. 64. 34 EuGH, Urt. v. 11.8.1995, Rs. C-431/92, Kommission v. Deutschland, Rn. 22; Ruffert, in: Calliess/Ruf-
fert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 288 AEUV Rn. 24; Schroeder, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 288 AEUV Rn. 61; Geismann, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Bd. 4, 7. Aufl. 2015, Art. 288 AEUV Rn. 41; v. Roetteken, Anforderungen des Gemeinschaftsrechts an Gesetzgebung und Rechtsprechung, NZA 2001, S. 414 (415 f.). 35 Erwägungsgrund Nr. 27 der RL 2000/43/EG, Art. 16 Abs. 1 Satz 2 2. Hs. RL 2000/43/EG; Erwägungsgrund Nr. 36 der RL 2000/78/EG, Art. 18 Abs. 1 Satz 2 2. Hs. RL 2000/78/EG; Art. 33 Abs. 1 Satz 3 RL 2006/54/EG. 36 EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Rn. 30/34; ebenso Schlachter, Grundsatz des gleichen Entgelts nach Art. 119 EG-Vertrag und der RL 75/117/EWG, in: Oetker/Preis (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, Teil B 4100, Stand: 2020, Rn. 9; v. Roetteken (Fn. 14), § 1 Rn. 160. 37 EuGH, Urt. v. 26.10.1983, Rs. 163/82, Kommission v. Italien, Rn. 9. 38 Dies verkennend für den Fall der Untätigkeit des Bundesgesetzgebers OVG Münster, Urt. v. 7.10.2019, 6 A 2628/16, Rn. 72. Torsten von Roetteken
A. Rechtsquellen
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II. Bundesrecht 1. Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von 2006
Der Bund hat mit Erlass des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Ver- 19 wirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung vom 14.8.200639 unter erheblicher Überschreitung des für eine Umsetzung zur Verfügung stehenden Zeitraums Schritte zur Umsetzung unter anderem der RL 2000/43/EG, 2000/78/EG und 2002/73/EG unternommen. An die Stelle der RL 2002/73/EG und der durch diese Richtlinie geänderten RL 76/207/EWG ist mit Wirkung zum 16.8.2009 die RL 2006/54/EG getreten.40 Das Inkrafttreten dieser Richtlinie hat jedoch keine gesonderten Maßnahmen des Gesetzgebers ausgelöst. 2. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
Art. 1 des Umsetzungsgesetzes enthält das AGG, dessen § 1 sich auf den Schutz vor Benach- 20 teiligungen wegen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität bezieht und insoweit dem Geltungsbereich der RL 2000/43/EG, 2000/78/EG, 2006/54/ EG entspricht. 3. Sozialgesetzbuch IX
Für Schwerbehinderte im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB IX und ihnen gem. § 2 Abs. 3 SGB IX 21 durch behördliche Entscheidung Gleichgestellte enthalten die §§ 164 ff. SGB IX eine nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AGG neben das AGG tretende Teilumsetzung der RL 2000/78/EG, auch wenn weder bei Erlass des SGB IX 2001 noch bei Erlass des SGB IX 2018 der in Art. 18 Abs. 3 Satz 1 RL 2000/78/EG vorgeschriebene Hinweis darauf erfolgt ist, das SGB IX diene – auch – der Umsetzung dieser Richtlinie. Der EuGH geht davon aus, dass die nach nationalem Recht erfolgende Einstufung von Menschen als Schwerbehinderte beziehungsweise Gleichgestellte keine unmittelbare Auswirkung darauf hat, ob eine Zuordnung zum Kreis der Menschen mit einer Behinderung im Sinne des Art. 1 RL 2000/78/EG geboten ist. Den unionsrechtlichen Begriff der Behinderung legt der EuGH eigenständig, das heißt unabhängig vom nationalen Recht, aus41. Diese Auslegung ist unmittelbar nur dann relevant, wenn es darum geht, ob eine Behinderung die Teilhabe am Berufsleben einschränkt.42 Soweit das nicht der Fall ist, unterfallen entsprechende Sachverhalte nicht dem Geltungsbereich der RL 2000/78/EG, sodass insoweit auch kein Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung besteht. 39 Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbe-
rechtigung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897.
40 Art. 34 RL 2006/54/EG. 41 EuGH, Urt. v. 1.12.2016, Rs. C-395/15, Daouidi, Rn. 50 f. 42 EuGH, Urt. v. 18.3.2014, Rs. C-363/12, Z, Rn. 80 ff.
Torsten von Roetteken
964 22
§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext
§ 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verbietet lediglich Arbeitgebern die Benachteiligung schwerbehinderter Menschen und bleibt insoweit schon hinter der Bestimmung des sachlichen Geltungsbereichs der RL 2000/78/EG zurück. Sie verbietet nicht nur Arbeitgebern jede Diskriminierung wegen einer Behinderung, sondern verbietet innerhalb des durch Art. 3 Abs. 1 RL 2000/78/EG definierten Rahmens jede Diskriminierung wegen jeder Behinderung in allen Bereichen der abhängigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit. § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX erfasst damit nur einen Ausschnitt des sehr viel weiter reichenden unionsrechtlichen Diskriminierungsverbotes. 4. Gleichbehandlung und Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten
Art. 2 des Umsetzungsgesetzes vom 14.8.200643 enthält das ausschließlich für Soldatinnen und Soldaten geltende Gesetz über die Gleichbehandlung der Soldatinnen und Soldaten (SoldGG)44, dessen § 1 sich auf den Schutz vor Benachteiligungen wegen der Rasse, ethnischen Herkunft, Religion, Weltanschauung und sexuellen Identität beschränkt. Das SoldGG enthält keine ausdrückliche Regelung dahingehend, dass von der Ausnahme des Art. 3 Abs. 4 RL 2000/78/EG hinsichtlich der Merkmale Alter oder Behinderung Gebrauch gemacht und insoweit auf eine Umsetzung des Diskriminierungsschutzes verzichtet wird. Die Entwurfsbegründung der Bundesregierung geht ungeachtet dessen davon aus, die Fassung des SoldGG mache von Art. 3 Abs. 4 RL 2000/78/EG Gebrauch.45 24 § 18 SoldGG enthält ein auf schwerbehinderte Soldatinnen und Soldaten (§ 2 Abs. 2, 3 SGB IX) beschränktes Benachteiligungsverbot. 25 Regelungen zum Verbot der Benachteiligung wegen des Geschlechts finden sich für Soldatinnen und Soldaten nur in dem durch Art. 3 Nr. 15 des Umsetzungsgesetzes geänderten Gesetz zur Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr (SGleiG)46. Dessen § 4 Abs. 7 enthält allerdings lediglich eine Definition der unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts, während die Diskriminierungen in Gestalt einer Belästigung und sexuellen Belästigung in § 3 Abs. 3 und 4 SoldGG definiert und in § 7 Abs. 2 SoldGG verboten sind. § 5 Abs. 2 SGleiG sieht die entsprechende Anwendung von § 12 SoldGG nur vor, soweit es um die Begründung eines Dienstverhältnisses oder den beruflichen Aufstieg geht. 23
5. Beamtengesetze des Bundes 26
Für Beamtinnen und Beamte ergibt sich eine neben das AGG tretende Teilumsetzung der verschiedenen Richtlinien aus § 9 BBG/BeamtStG, wobei die für Auswahlen beziehungsweise bei Ernennungen verbotenen Kriterien das Merkmal Alter nicht enthalten und inso43 Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbe-
rechtigung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897.
44 Gesetz über die Gleichbehandlung der Soldatinnen und Soldaten v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897,
1904, zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes v. 31.7.2008, BGBl. 2008 I, S. 1629.
45 BT-Drs. 16/1780, S. 27, 53. 46 Gesetz zur Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr v. 27.12.2004, BGBl. 2004 I,
S. 3822, zuletzt geändert durch Art. 65 des Gesetzes v. 20.11.2019, BGBl. 2019 I, S. 1626. Torsten von Roetteken
B. Beschäftigtenschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
965
weit hinter dem Unionsrecht zurückbleiben. Die Regelungen des BBG/BeamtStG gelten nach den §§ 46, 71 DRiG entsprechend für Berufsrichter/innen. 6. Entgelttransparenzgesetz
Das 2017 verkündete EntgTranspG bezieht sich lediglich auf Entgeltgleichheit unter 27 Personen verschiedenen Geschlechts und nimmt keinen Bezug auf die in den Art. 1 RL 2000/43/EG und 2000/78/EG genannten Diskriminierungsmerkmale. Das EntgTranspG erhebt für sich nicht den Anspruch, der Umsetzung der RL 2006/54/EG zu dienen. Es fehlt der in Art. 33 Abs. 2 RL 2006/54/EG vorgeschriebene Hinweise darauf, das EntgTranspG setze die RL 2006/54/EG um. Auch in der Sache ist das allenfalls teilweise der Fall, da die Ausgestaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Bereich des Arbeitsentgelts als Diskriminierungsverbot in § 3 EntgTranspG in Verbindung mit § 7 EntgTranspG hinter dem als Gleichstellungsanspruch ausgestalteten Art. 157 Abs. 1 AEUV zurückbleibt.47 Ebenso wenig setzt das EntgTranspG die Vorgaben um, die dem Leitfaden der EG-Kommission vom 17.7.1996 zu entnehmen sind.48 Gleiches gilt in Bezug auf die Empfehlung der EU-Kommission 2014/124/EU49 zur Stärkung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Frauen und Männer durch Transparenz. Das BAG sieht im EntgTranspG eine Umsetzung der RL 2006/54/EG und verlangt deshalb seine richtlinienkonforme Auslegung.50
B. Beschäftigtenschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz I. Sachlicher Geltungsbereich (§ 2 AGG) 1. Allgemeines
Der sachliche Umfang des in § 1 AGG angesprochenen Diskriminierungsschutzes ist in 28 § 2 AGG definiert. Dessen Abs. 1 Nr. 1–4 enthält mit leichten Modifikationen im Wortlaut eine den Anforderungen der Art. 3 Abs. 1 lit. a bis lit. d RL 2000/43/EG, Art. 3 Abs. 1 RL 2000/78/EG und Art. 14 Abs. 1 RL 2006/54/EG entsprechende Definition des sachlichen Geltungsbereichs des AGG. Unglücklich ist allerdings die Formulierung in § 2 Abs. 1 AGG, dass Benachteiligungen aus einem in § 1 AGG genannten Grund nach Maßgabe dieses Gesetzes, das heißt des AGG, in Bezug auf die in § 2 Abs. 1 Nr. 1 ff. angeführten Bereiche unzulässig sind. Das lässt offen, ob Benachteiligungen im Hinblick auf einen in § 1 genann47 Siehe v. Roetteken, Entgeltgleichheit im Verhältnis von Frauen und Männern, ZTR 2014, S. 585; ders.,
Die aktuelle Rechtsprechung des EuGH zur Entgeltdiskriminierung, NZA-RR 2019, S. 177.
48 Kommission der EG, Leitfaden zur Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und
Frauen bei gleichwertiger Arbeit, 17.7.1996, KOM(96) 336 endg.
49 Empfehlung der Kommission zur Stärkung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Frauen und
Männer durch Transparenz v. 7.3.2014, 2014/124/EU, Abl. 2014 L 69, S. 112.
50 BAG Urt. v. 25.6.2020, 8 AZR 145/19, Rn. 39 ff.
Torsten von Roetteken
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§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext
ten Grund auch aufgrund eines anderen Gesetzes unzulässig sind. Wie § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zeigt, geht der Gesetzgeber davon aus, dass sich Benachteiligungsverbote hinsichtlich eines in § 1 AGG genannten Grundes auch aus anderen Vorschriften ergeben können, § 2 Abs. 1 AGG also insoweit keine abschließende Regelung enthält. Das folgt auch aus § 2 Abs. 3 Satz 1 AGG. Insoweit kann auch Landesrecht in Betracht kommen.51 Abweichend von der Gestaltung der verschiedenen Richtlinien definiert das AGG 29 zusätzlich einen persönlichen Geltungsbereich und schränkt durch die §§ 6 ff. AGG die Reichweite des sachlichen Geltungsbereichs erheblich ein.52 2. Einseitig zwingendes Recht
Kennzeichnend für den Diskriminierungsschutz im AGG ist, dass die nach seiner Maßgabe zu beachtenden Vorgaben einseitig zwingender Natur sind. § 31 AGG verbietet jede Abweichung zu Ungunsten der vor Benachteiligungen im Sinne des § 1 AGG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 AGG geschützten Personen. Deren Einverständnis mit einem bestimmten Verhalten einer/s anderen führt nicht zum Verlust des Diskriminierungsschutzes, noch ist eine nach dem AGG verbotene Benachteiligung unter Verweis auf eine Zustimmung der – objektiv – benachteiligten Person rechtfertigungsfähig oder sonst zulässig. Das AGG führt zu einer einseitig zugunsten der geschützten Personen wirkenden Beschränkung der Vertragsfreiheit. Das gilt in gleicher Weise für die Ausübung von Ermächtigungen zum Erlass einer Verordnung oder Satzung. Ebenso sind die Parteien von Kollektivverträgen an die zwingenden Vorgaben des AGG gebunden.53 31 Unionsrechtlich ergibt sich dieser umfassende Geltungsanspruch des Diskriminierungsschutzes aus Art. 14 RL 2000/43/EG, Art. 16 RL 2000/78/EG54 und Art. 23 RL 2006/54/EG, da die Ausübung des durch Art. 28 GRCh gewährleisteten Rechts auf Kollektivverhandlungen die Parteien nur dazu berechtigt, Vereinbarungen im Einklang mit dem sonstigen Unionsrecht abzuschließen.55 Die genannten Bestimmungen der Richtlinien unterwerfen ausdrücklich Tarifverträge, Betriebsordnungen, Statuten freier Berufe und alle sonstigen Vereinbarungen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen der Geltung des jeweiligen Diskriminierungsverbots. 30
51 Das gilt für Diskriminierungsverbote in der Landesverfassung, aber gegebenenfalls auch für einfachge-
setzliche Regelungen wie zum Beispiel § 4 Abs. 3 HGlG.
52 Dazu unten Rn. 42 ff. (B. II.). 53 BAG, Urt. v. 5.9.2019, 6 AZR 533/18, Rn. 13; BAG, Urt. v. 12.5.2016, 6 AZR 365/15, Rn. 21; BAG, Urt. v.
18.2.2016, 6 AZR 700/14, Rn. 27; BAG, Urt. v. 25.3.2015, 5 AZR 458/13, Rn. 41; BAG, Urt. v. 10.12.2014, 7 AZR 1002/12, Rn. 39; BAG, Urt. v. 14.5.2013, 1 AZR 44/12, Rn. 25; BAG, Urt. v. 20.3.2012, 9 AZR 529/10, Rn. 32; BAG, Beschl. v. 8.12.2010, 7 ABR 98/09, Rn. 62 f.; siehe auch BT-Drs. 16/1780, S. 53; BT-Drs. 15/4538, S. 51. 54 EuGH, Urt. v. 12.12.2013, Rs. C-267/12, Hay, Rn. 27 m. w. N.; EuGH, Urt. v. 8.11.1983, Rs. 165/82, Kommission v. Vereinigtes Königreich, Rn. 11. 55 EuGH, Urt. v. 19.9.2018, Rs. C-312/17, Bedi, Rn. 69 ff. m. w. N. Torsten von Roetteken
B. Beschäftigtenschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
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3. Zugang zur Erwerbstätigkeit (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG)
§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG lässt das AGG gelten für den Zugang zur unselbständigen und selbst- 32 ständigen Erwerbstätigkeit unabhängig von dem Tätigkeitsfeld und der beruflichen Position, ferner für den beruflichen Aufstieg. Das gilt nach der beispielhaften Aufzählung in § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG insbesondere für die Bedingungen des Zugangs56 oder des beruflichen Aufstiegs, die Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen. Auswahlkriterien sind auch die Merkmale eines autonom aufgestellten Anforderungsprofils.57 Einstellungsbedingungen sind Einstellungshöchstaltersgrenzen58, die Modalitäten der 33 Beschäftigung, d. h. die Konditionen, zu denen die Erwerbstätigkeit auszuüben ist. Das betrifft insbesondere eine mögliche Befristung des Beschäftigungsverhältnisses, die Dauer der Arbeitszeit oder deren Lage, die Möglichkeit in Teilzeit zu arbeiten bzw. den Ausschluss einer solchen Möglichkeit, die Möglichkeit von freiwilliger Telearbeit etc., soweit davon die Einstellung oder der berufliche Aufstieg abhängig sein sollen. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG erfasst auch Situationen, in denen der Zugang zur Erwerbstätigkeit oder zum beruflichen Aufstieg von bestimmten Kriterien oder Bedingungen abhängig gemacht wird, selbst wenn diese Kriterien oder Bedingungen ihrerseits nicht Bestandteil des Arbeitsvertrages oder Dienstverhältnisses werden oder für die weitere Ausübung der Erwerbstätigkeit unmittelbar in verpflichtender Weise maßgebend sein sollen, also nur das Vorfeld des Zugangs beziehungsweise Aufstiegs betreffen sollten. 4. Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG)
§ 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG erstreckt den Diskriminierungsschutz auf die Beschäftigungs- und 34 Arbeitsbedingungen, nach Maßgabe derer die Erwerbstätigkeit auszuüben ist, auch soweit es sich nicht schon um Einstellungsbedingungen handelt. Das gilt für die Arbeits- und Dienstbedingungen in Verhältnissen, in denen eine Beschäftigung in persönlicher Abhängigkeit ausgeübt wird, und die Gestaltung solcher Verhältnisse.59 Der Geltungsbereich erfasst daneben die Bedingungen, unter denen eine selbstständige Erwerbstätigkeit wahrzunehmen ist, sei es aufgrund gesetzlicher, vertraglicher, kollektivrechtlicher, satzungsrechtlicher oder berufsständischer Vorgaben. Erfasst sind etwa auch Regelungen zur Freistellung von der Arbeit, wie zum Beispiel an landesgesetzlich vorgesehen Feiertagen.60 § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG rechnet zu den Beschäftigungs- beziehungsweise Arbeitsbedin- 35 gungen das Arbeitsentgelt. Das meint zunächst alle Leistungen, die nach Art. 157 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV als Arbeitsentgelt anzusehen sind, und schließt nach der umfangreichen 56 Für den Zugang zum Beruf der Hebamme EuGH, Urt. v. 8.11.1983, Rs. 165/82, Kommission v. Ver-
einigtes Königreich, Rn. 117 f.
57 LAG Hamm, Urt. v. 17.7.2008, 16 Sa 544/08; BVerwG, Urt. v. 3.3.2011, 5 C 16.10, Rn. 21. 58 EuGH, Urt. v. 12.1.2010, Rs. C-229/08, Wolf, Rn. 26 f.; zur Zuordnung zu § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG BVerwG,
Urt. v. 19.2.2009, 2 C 18.07, Rn. 14.
59 Zur Geltung für die Arbeitszeitgestaltung BAG, Urt. v. 14.5.2013, 1 AZR 44/12, Rn. 16 ff.; BAG, Urt. v.
22.10.2015, 8 AZR 168/14, Rn. 40 ff.
60 Zu religionsbezogenen Freistellungen beziehungsweise Feiertagen EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs.
C-193/17, Cresco Investigation, Rn. 35 ff.
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§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext
Rechtsprechung des EuGH betriebliche Sozialleistungen aller Art einschließlich der betrieblichen Altersversorgung ein,61 also auch Entgeltzahlungen, die unabhängig vom Umfang der Arbeitszeit erfolgen oder nach der Beendigung der Beschäftigung beziehungsweise Erwerbstätigkeit fällig werden. § 2 Abs. 2 Satz 2 AGG steht dieser Auslegung jedenfalls bei Beachtung des Gebots einer unionsrechtskonformen Auslegung nicht entgegen.62 36 Bei selbstständiger Erwerbstätigkeit sind erfasst die Entgeltbedingungen für die im Rahmen dieser Tätigkeit erbrachten Leistungen, wie dies der EuGH für Honorare ärztlicher Tätigkeiten bereits entschieden hat.63 Insoweit kommt es nicht darauf an, ob die Voraussetzungen des Art. 157 Abs. 1, 2 AEUV erfüllt werden. 5. Entlassungsbedingungen (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG)
§ 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG erfasst ferner die Entlassungsbedingungen. Das betrifft sowohl Kündigungen von Beschäftigungsverträgen wie auch Entlassungen nach den dienstrechtlichen Bestimmungen sowie alle sonstigen Bedingungen, die zu einer Beendigung der konkret ausgeübten Erwerbstätigkeit führen, unabhängig davon, ob sie selbstständiger oder unselbstständiger Natur ist.64 Erfasst sind damit unter anderem die Gestaltung einer Befristung von Beschäftigungsverhältnissen,65 Regelungen zu Altersgrenzen in Arbeits- und Kollektivverträgen66 sowie im Beamten- und Richterrecht67 ferner Vorgaben zur Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen68. Das Gleiche gilt für entsprechende Regelungen in Bezug auf die selbstständige Berufsausübung69. 38 Die durch § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG angeordnete Erfassung von Entlassungsbedingungen als Teil der Beschäftigungsbedingungen steht in Widerspruch zu § 2 Abs. 4 AGG, der für Kündigungen nur das außerhalb des AGG geregelte Recht zum Schutz vor Kündigungen gelten lassen will, was insbesondere als Bekenntnis zur Geltung des Kündigungsschutzgesetz (KSchG) ohne parallele oder subsidiäre Geltung des AGG aufzufassen ist.70 Dieses offen37
61 EuGH, Urt. v. 13.1.2005, Rs. C-356/03, Mayer, Rn. 29; EuGH, Urt. v. 10.5.2011, Rs. C-147/08, Römer,
Rn. 32; BAG, Urt. v. 11.12.2007, 3 AZR 249/06, Rn. 22 ff.; BGH, NJW-RR 2005, S. 1161 (1162); zu Leistungen der Beamtenversorgung EuGH, Urt. v. 23.10.2003, Rs. C-4/02 u. a., Schönheit u. Becker, Rn. 74; BVerwG, Urt. v. 28.10.2010, 2 C 10.09, Rn. 12 ff. 62 BAG, Urt. v. 11.12.2007, 3 AZR 249/06, Rn. 22 ff.; seitdem ständige Rechtsprechung. 63 EuGH, Urt. v. 6.4.2000, Rs. C-226/98, Jørgensen. 64 EuGH, Urt. v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Petersen, Rn. 32 f. 65 EuGH, Urt. v. 27.11.2005, Rs. C-144/04, Mangold, Rn. 56 ff.; BAG, Urt. v. 17.3.2016, 8 AZR 677/14, Rn. 26; BAG, Urt. v. 6.4.2011, 7 AZR 524/09, Rn. 14. 66 EuGH, Urt. v. 16.10.2007, Rs. C-411/05, Palacios de la Villa, Rn. 45 f.; EuGH, Urt. v. 13.9.2011, Rs. C-447/09, Prigge u. a., Rn. 40 f.; BAG, Urt. v. 8.12.2010, 7 AZR 438/09, Rn. 36 ff. 67 EuGH, Urt. v. 21.7.2011, Rs. C-159/10 u. a., Fuchs u. Köhler, Rn. 33; vgl. BVerwG, Beschl. v. 21.12.2011, 2 B 94.11. 68 BAG, Urt. v. 6.11.2008, 2 AZR 523/07, Rn. 36. 69 EuGH, Urt. v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Petersen, Rn. 33; zur Zuordnung von Höchstaltersgrenzen für die Berufsausübung zu § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG BVerwG, Urt. v. 1.2.2012, 8 C 24.11, Rn. 12; gegen die Geltung für Notarinnen und Notare BGH, Beschl. v. 22.3.2010, NotZ 16/09, Rn. 15. 70 So die Begründung des BT-Rechtsausschusses BT-Drs. 16/2022, S. 12 im Anschluss an die Forderung des Bundesrates in BT-Drs. 16/1852, S. 2. Torsten von Roetteken
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kundig richtlinienwidrige Ergebnis hat die Rechtsprechung des BAG schon früh korrigiert und geht von der Geltung der Diskriminierungsverbote auch bei Kündigungen aus, auf die das KSchG anzuwenden ist71. Soweit das KSchG mangels Erfüllung der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 KSchG nicht gilt, ist gleichwohl jede Kündigung den Anforderungen des AGG unterworfen72. § 2 Abs. 4 AGG hat letztlich nur zur Folge, dass eine diskriminierende Kündigung innerhalb der Frist des § 4 KSchG gerichtlich angegriffen werden muss, wenn die Unwirksamkeit einer solchen Kündigung geltend gemacht werden soll.73 6. Berufsberatung, -bildung und -ausbildung (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 AGG)
§ 2 Abs. 1 Nr. 3 AGG lässt den Diskriminierungsschutz des AGG gelten für den Zugang zu 39 allen Formen und allen Ebenen der Berufsberatung, der Berufsbildung einschließlich der Berufsausbildung, der beruflichen Weiterbildung und der Umschulung sowie der praktischen Berufserfahrung. Dieser Anspruch wird durch die nachfolgenden Bestimmungen des AGG allerdings nur sehr eingeschränkt umgesetzt. Für die berufsberatenden Leistungen der Bundesagentur für Arbeit und der Jobcenter 40 verweist § 2 Abs. 2 Satz 1 AGG auf § 33c SGB I und § 19a SGB IV, was nach dem Willen des Gesetzgebers eine – unmittelbare – Anwendung des AGG insoweit ausschließt.74 Dieses Ergebnis ist mit den Vorgaben des Unionsrechts unvereinbar, soweit § 19a Satz 2 SGB IV Leistungsansprüche trotz Verletzung des Diskriminierungsverbotes nur gewährt, soweit solche Ansprüche gesetzlich vorgesehen sind. Der Anspruch auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung gibt benachteiligten Personen jedoch das Recht auf positive Gleichbehandlung mit denen, die nicht benachteiligt worden sind.75 Dieser unionsrechtliche Anspruch auf positive Gleichstellung ist bei unionsrechtkonformer Auslegung des deutschen Rechts als die in § 19a Satz 2 SGB IV vorausgesetzte gesetzliche Ausgestaltung des von der Benachteiligung betroffenen Leistungsanspruchs anzusehen.76 Soweit § 2 Abs. 1 Nr. 3 AGG Leistungsbeziehungen außerhalb des Arbeitsrechts ein- 41 schließlich des Rechts der Berufsbildung im Sinne des Berufsbildungsgesetzes (BBiG)77 oder ihm gleichstehender Vorschriften erfasst, setzt die Anwendung des AGG voraus, diese 71 BAG, Urt. v. 6.11.2008, 2 AZR 523/07, Rn. 28 ff.; seitdem ständige Rechtsprechung. 72 BAG, Urt. v. 19.12.2013, 6 AZR 190/12, Rn. 14 ff.; BAG, Urt. v. 26.3.2015, 2 AZR 237/14, Rn. 32; BAG,
Urt. v. 23.7.2015, 6 AZR 457/14, Rn. 23; BGH, Urt. v. 26.3.2019, II ZR 244/17, Rn. 16. 73 Zur Zulässigkeit von Ansprüchen nach § 15 Abs. 2 AGG aufgrund einer diskriminierenden Kündigung, ohne diese angegriffen zu haben: BAG, Urt. v. 21.4.2016, 8 AZR 402/14, Rn. 13; BAG, Urt. v. 12.12.2013, 8 AZR 838/12, Rn. 18 ff. 74 BT-Drs. 16/1780, S. 32. 75 EuGH, Urt. v. 7.10.2019, Rs. C-171/18, Safeway, Rn. 33; EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco Investigation, Rn. 79 ff.; EuGH, Urt. v. 14.3.2018, Rs. C-482/16, Stollwitzer, Rn. 31; ständige Rechtsprechung. 76 Zur Geltung des Anspruchs auf Gleichbehandlung auch bei fehlerhaften gesetzlichen Regelungen EuGH, Urt. v. 7.10.2019, Rs. C-171/18, Safeway, Rn. 33; EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco Investigation, Rn. 79 ff.; EuGH, Urt. v. 9.3.2017, Rs. C-406/15, Milkova, Rn. 66 ff. 77 Berufsbildungsgesetz v. 23.3.2005, BGBl. 2005 I, S. 931, in der Fassung der Bekanntmachung v. 4.5.2020, BGBl. 2020 I, S. 920. Torsten von Roetteken
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§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext
Leistungsbeziehungen den sog. Massengeschäften in § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG zuzuordnen.78 Eine solche Auslegung ist aufgrund der unionsrechtlichen Pflicht zur vollständigen Umsetzung der verschiedenen Richtlinien zum Diskriminierungsschutz zwingend geboten und auch möglich.79 7. Mitgliedschaft in berufsbezogenen Organisationen und deren Leistungen (§ 2 Abs. 1 Nr. 4 AGG) 42
§ 2 Abs. 1 Nr. 4 AGG erfasst die Mitgliedschaft und Mitwirkung in einer Beschäftigtenoder Arbeitgeberorganisation oder in einer Vereinigung, deren Mitglieder einer bestimmten Berufsgruppe angehören, einschließlich der Inanspruchnahme der Leistungen solcher Vereinigungen. Diese Regelung setzt § 18 AGG nur teilweise um, weil sich die Norm hauptsächlich auf Tarifvertragsparteien beschränkt80 und für sonstige Vereinigungen über die Anforderungen des Unionsrechts hinaus voraussetzt, dass ein grundlegendes Interesse am Erwerb der Mitgliedschaft besteht. 8. Erfüllung der Voraussetzungen des § 6 AGG – weitgehende Ausklammerung der selbstständigen Erwerbstätigkeit
Die Erfüllung der Anwendungsvoraussetzungen des § 2 Abs. 1 AGG ist allein nicht ausreichend, um die weiteren Regelungen des AGG zum Diskriminierungsschutz in den Bereichen Beschäftigung und Beruf81 beziehungsweise in Arbeits- und Beschäftigungsfragen82 zur Anwendung zu bringen. Der Diskriminierungsschutz gilt nur nach Maßgabe der weiteren Bestimmungen des AGG, sodass ohne deren Erfüllung der Schutz nach nationalem Recht nicht – unmittelbar – in Anspruch genommen werden kann. Dieser Vorbehalt wird einerseits durch § 6 AGG, andererseits durch § 18 Abs. 1 AGG, § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG näher ausgefüllt. Die verschiedenen Richtlinien nehmen keine vergleichbaren Einschränkungen vor, da sie sich mit den in § 2 Abs. 1 Nr. 1–4 AGG enthaltenen Regelungen begnügen, um den Geltungsbereich des Diskriminierungsschutzes im Mindestumfang festzulegen. Die Vorgehensweise des deutschen Gesetzgebers führt zu Umsetzungslücken, insbeson44 dere im Bereich der selbstständigen Erwerbstätigkeit. Gleiches gilt für Personen, die nach Maßgabe des § 611a BGB keine Arbeitnehmer/innen sind und bei einer daran orientierten Auslegung über § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AGG nicht vom persönlichen Anwendungsbereich des AGG erfasst werden,83 sodass allenfalls § 6 Abs. 3 AGG einen – sachlich eingeschränkten – nationalen Diskriminierungsschutz begründet. 43
78 Vgl. BGH, Urt. v. 25.4.2019, I ZR 272/15, Rn. 17. 79 Zur Geltung der RL 2000/43/EG für die Vergabe von Stipendien EuGH, Urt. v. 15.11.2018, Rs.
C-457/17, Maniero; dem folgend BGH, Urt. v. 25.4.2019, I ZR 272/15, Rn. 20 ff. § 18 Abs. 1 Nr. 1 AGG. Art. 1 RL 2000/78/EG. Art. 1 Abs. 1 RL 2006/54/EG. Zur Einstufung von Fremdgeschäftsführern/-führerinnen einer GmbH als Arbeitnehmer/innen im Sinne des AGG BGH, Urt. v. 26.3.2019, II ZR 244/17, Rn. 22 ff., unter Berufung auf das Gebot einer unionsrechtskonformen Auslegung.
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Die selbständige Erwerbstätigkeit wird außerhalb des Anwendungsbereichs von § 6 45 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AGG nur über § 6 Abs. 3 AGG erfasst, dort jedoch beschränkt auf den Zugang zur Erwerbstätigkeit oder den beruflichen Aufstieg.84 Ungeachtet dieser Beschränkung ordnet das BVerwG85 die Bedingungen für die Beendigung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit zum Beispiel aufgrund einer Höchstaltersgrenze dem Begriff des Zugangs zu dieser Tätigkeit zu und erzielt so ein unionsrechtskonformes Ergebnis.86 Die Ausklammerung der weiteren Bedingungen für die Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit und deren Fortentwicklung vom Diskriminierungsschutz des AGG ist mit den umfassenden Anforderungen an eine vollständige Umsetzung der dem Diskriminierungsschutz dienenden Richtlinie unvereinbar.87 Die Verantwortung für diese mangelnde Umsetzung fällt nur teilweise in den Verant- 46 wortungsbereich des Bundes. Er ist zu einer Umsetzung der verschiedenen Richtlinien nur in dem Umfang der ihm nach Art. 72 ff. GG zustehenden Gesetzgebungskompetenzen befugt. Art. 288 Abs. 3 AEUV verleiht dem Bund keine allgemeine Kompetenz, das zur Umsetzung einer Richtlinie nötige nationale Recht als Bundesrecht zu erlassen. Jedenfalls im Rahmen ihrer ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen nach Art. 70 GG müssen die Länder selbstständig und in eigener Verantwortung die Umsetzung der Richtlinien vornehmen. Im Hinblick auf Art. 30, Art. 70, 72 Abs. 1 GG gilt dies aber auch dann, wenn der Bund für bestimmte Bereiche untätig bleibt. In solchen Fällen sind nach der Kompetenzordnung des GG vorrangig die Länder zur Gesetzgebung berufen, da ihre Kompetenz nur dann und in dem Umfang ausgeschlossen ist, wie der Bund über eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz verfügt oder von seiner konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis tatsächlich Gebrauch gemacht hat.88 Relevant ist die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen vor allem in den Bereichen 47 des Laufbahnrechts der Beamtinnen/Beamten im Bereich der Länder, der Besoldung und Versorgung dieses Personenkreises und der Berufsrichter/innen in den Ländern. Insoweit weist Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG den Ländern die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz zu. Ebenso sind sie zuständig für diejenigen Bereiche der selbstständigen Erwerbstätigkeit, für deren Gestaltung dem Bund keine Gesetzgebungszuständigkeit zusteht. Das betrifft insbesondere das Recht der Versorgungswerke für bestimmte Berufsgruppen89, das Berufsrecht der Heilberufe einschließlich der Fort- und Weiterbildungsanforderungen.
84 Eine Auslegung über diese Fallgruppen hinaus unter Berufung auf den Wortlaut ablehnend BGH, Urt.
v. 26.3.2019, II ZR 244/17, Rn. 19 ff.
85 BVerwG, Urt. v. 26.1.2011, 8 C 45.09, Rn. 27; BVerwG, Urt. v. 1.2.2012, 8 C 24.11, Rn. 12. 86 A. A. für die Vereinbarung einer Entlassungsbedingung im Vertrag eines Geschäftsführers beziehungs-
weise einer Geschäftsführerin einer GmbH BGH, Urt. v. 26.3.2019, II ZR 244/17, Rn. 19 ff.
87 Davon wohl ausgehend BGH, Urt. v. 26.3.2019, II ZR 244/17, Rn. 22 ff. 88 Dies nicht berücksichtigend OVG Münster, Urt. v. 7.10.2019, 6 A 2628/16, Rn. 72. 89 Siehe v. Roetteken (Fn. 22), S. 615; Mohr (Fn. 16), Art. 5 RL 2006/54/EG Rn. 4, Art. 10 RL 2006/54/EG
Rn. 1; vgl. BVerwG, Urt. v. 25.7.2007, 6 C 27.06, Rn. 35, das jedoch in Rn. 42 zu Unrecht davon ausgeht, die RL 2000/78/EG gelte nicht für berufsständische Versorgungswerke; dem folgend Steinmeyer (Fn. 29); Bier (Fn. 29). Torsten von Roetteken
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§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext
9. Kein spezieller Vorrang des AGG vor gleichrangigem Bundesrecht 48
Das AGG enthält trotz seines Anspruchs, die Richtlinien zum Grundsatz der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf umzusetzen, keine Kollisionsnorm für gleichrangige Bundesgesetze. Insoweit wird vielfach das Argument stechen, die jeweiligen speziellen Regelungen für einen bestimmten Bereich seien spezieller als das AGG und gingen ihm deshalb vor.90 In derartigen Fällen sind die Vorschriften der jeweiligen Richtlinie zum Diskriminierungsschutz unmittelbar heranzuziehen.91 Durch den Vorrang des Unionsrechts kann in derartigen Fällen trotz fehlender Anwendbarkeit des AGG ein unionrechtskonformes Ergebnis erzielt werden. II. Persönlicher Anwendungsbereich des AGG
Der auf Erwerbstätige zielende Diskriminierungsschutz ist in den §§ 6 ff. AGG geregelt und enthält im Wesentlichen eine nähere Ausgestaltung des allgemeinen Arbeitsrechts und über § 24 Nr. 1, 2 AGG eine Ausgestaltung des Dienstrechts für Beamtinnen, Beamte und Berufsrichter/innen. § 6 AGG legt nach seiner amtlichen Überschrift den persönlichen Anwendungsbereich 50 der in Abschnitt 2 des AGG enthaltenen Regelungen fest.92 Ergänzt wird § 6 Abs. 1 AGG durch § 164 Abs. 2 SGB IX, der für die Durchsetzung des Verbots einer Benachteiligung von schwerbehinderten Beschäftigten (Satz 1) die Geltung des AGG anordnet (Satz 2). § 24 AGG Nr. 1, 2 AGG bezieht Beamtinnen, Beamten und Richter/innen93 in den Gel51 tungsbereich der §§ 6 ff. AGG ein. Das gilt auch für die im Bereich der Länder beschäftigten Beamtinnen, Beamten und Richter/innen. Bei Erlass von § 24 AGG im August 2006 bestand noch die erst mit Ablauf des 31.8.2006 entfallene Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 GG.94 52 Diese Art der Umsetzung des unionsrechtlich gebotenen Diskriminierungsschutzes ist durch die RL 2000/43/EG, 2000/78/EG, 2006/54/EG nicht vorgegeben. Dort wird weder an die Eigenschaft von Beschäftigten im Sinne des § 6 Abs. 1 AGG noch an die Eigenschaft als Arbeitgeber/innen im Sinne des § 6 Abs. 2 AGG, § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX beziehungsweise in Verbindung mit § 24 Nr. 1, 2 AGG an die Eigenschaft als Dienstherr95 angeknüpft. Diskriminierungen in den sachlich von den jeweiligen Richtlinien erfassten Bereichen sind unabhängig davon verboten, ob eine Einzelperson oder mehrere benennbare Einzelpersonen für eine Benachteiligung als beschwerte Person(en) identifizierbar sind.96 Außer49
90 BGH, Beschl. v. 22.3.2010, NotZ 16/09, Rn. 12. 91 BGH, Beschl. v. 22.3.2010, NotZ 16/09, Rn. 13 ff. 92 BAG, Urt. v. 16.10.2018, 3 AZR 520/17, Rn. 22; BAG, Urt. v. 11.8.2016, 8 AZR 4/15, Rn. 37; BGH, Urt.
v. 23.4.2012, II ZR 163/10, Rn. 16 f.; BVerwG, Urt. v. 26.1.2011, 8 C 45.09, Rn. 27; BVerwG, Urt. v. 3.3.2011, 5 C 16.10, Rn. 12; vgl. BVerwG, Urt. v. 6.4.2017, 2 C 11.16, Rn. 19. 93 Zur Geltung der RL 2000/78/EG für Richter/innen EuGH, Urt. v. 9.9.2015, Rs. C-20/13, Unland u. a., Rn. 26. 94 Zur Inanspruchnahme dieses Kompetenztitels BT-Drs. 16/1780, S. 29. 95 BVerwG, Urt. v. 6.4.2017, 2 C 11.16, Rn. 19. 96 EuGH, Urt. v. 10.7.2008, Rs. C-54/07, Feryn, Rn. 23 ff. Torsten von Roetteken
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dem muss in der Person der/s Beschäftigten das Diskriminierungsmerkmal nicht erfüllt sein. Der EuGH hat anerkannt, dass die wegen eines Diskriminierungsgrundes erfolgende 53 nachteilige Behandlung im Bereich von Beschäftigung und Beruf vom Geltungsbereich der eine Diskriminierung verbietenden Richtlinie auch dann erfasst wird, wenn die benachteiligte Person selbst das Diskriminierungsmerkmal nicht erfüllt.97 Das zielt auf einen Schutz im Vorfeld der konkreten Anbahnung eines Beschäftigungsverhältnisses und sichert die Diskriminierungsfreiheit für individuelle Entscheidungen, welche Erwerbstätigkeit angestrebt werden soll, bei welchem Arbeitgeber beziehungsweise Dienstherrn eine Beschäftigung erfolgen soll. Diese Entscheidungsfreiheit sichert das AGG nur im Zusammenhang mit der Gestaltung von Ausschreibungen, sanktioniert Verstöße gegen § 11 AGG aber nach derzeitiger Auslegung nur, wenn über eine konkrete Bewerbung nach § 6 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 1. Hs. AGG die Beschäftigteneigenschaft erworben wird, weil Ansprüche nach § 15 Abs. 1, 2 AGG einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG voraussetzen. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG ist auf Beschäftigte im Sinne des § 6 54 Abs. 1 AGG, gegebenenfalls in Verbindung mit § 24 AGG, beschränkt und gilt nach § 6 Abs. 3 AGG nur in eingeschränkter Form für die Bedingungen des Zugangs zur Erwerbstätigkeit und des beruflichen Aufstiegs, soweit Selbstständige und Organmitglieder betroffen sind. Das verleitet zugleich zu dem Fehlschluss, Beschäftigte könnte wegen eines in § 1 AGG genannten Merkmals nur benachteiligt werden, wenn sie selbst ein Diskriminierungsmerkmal erfüllen oder bereits unmittelbar in ihrer Stellung bzw. in ihren Chancen betroffen sind. Ebenso wenig muss die Diskriminierung von einem Arbeitgeber im Sinne des § 6 Abs. 2 AGG, § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ausgehen, sondern kann auch von sonstigen Personen vorgenommen werden, die für sich den Anspruch erheben, auf die in § 2 Abs. 1 Nr. 1–3 AGG angesprochenen Bereiche Einfluss auszuüben.98 Wem derartige Aktivitäten zugerechnet werden können, um Ansprüche gegen diese Person zu verfolgen, ist eine andere Frage. Sie berührt jedoch den Umfang des sachlichen Geltungsbereichs des jeweiligen Diskriminierungsverbotes. Die sich aus § 6 Abs. 1 AGG in Verbindung mit § 7 Abs. 1 AGG beziehungsweise § 6 55 Abs. 2 AGG, § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ergebenden Einschränkungen für die nationale Reichweite des Diskriminierungsschutzes sind unionsrechtlich unzulässig, da sie hinter dem sachlichen Geltungsbereich der verschiedenen Richtlinien zurückbleiben99. Nur für Ausschreibungen hat der Gesetzgeber dies ebenso beurteilt, da das Verbot einer diskriminierenden Ausschreibung ohne Rücksicht darauf besteht, wer sich gegebenenfalls für den ausgeschriebenen Arbeitsplatz interessiert beziehungsweise bewirbt und damit nach § 6 Abs. 1 Satz 2 1. Alt. AGG die Eigenschaft eines Bewerbers beziehungsweise einer Be97 EuGH, Urt. v. 17.7.2008, Rs. C-303/06, Coleman, Rn. 50 ff. zur Benachteiligung einer Arbeitnehmerin
im Zusammenhang mit der Behinderung ihres Kindes.
98 EuGH, Urt. v. 25.4.2013, Rs. C-81/12, Asociaţia Accept, Rn. 44 ff. 99 Zur Voraussetzung eines ernsthaften Interesses an einer Beschäftigung, um in den Geltungsbereich des
unionsrechtlichen Diskriminierungsverbotes zu gelangen, EuGH, Urt. v. 28.7.2016, Rs. C-423/15, Kratzer, Rn. 34 f. Torsten von Roetteken
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werberin erlangt. Sanktioniert sind Verstöße gegen § 11 AGG jedoch jedenfalls nach herrschender Meinung nur, wenn eine Bewerbung im Hinblick auf die Ausschreibung erfolgt ist. Ohne eine Bewerbung besteht kein durch Sanktionen abgesicherter Schutz vor einer nach § 1 AGG unzulässigen Diskriminierung.100 Folgerichtig zu diesem Ansatz lässt die Rechtsprechung Verstöße gegen § 11 AGG nur als Indiz für eine Benachteiligung im Verfahren zur Besetzung des ausgeschriebenen Arbeitsplatzes gelten.101 Daneben ist fraglich, ob als Opfer102 im Sinne der Art. 15 Satz 2 RL 2000/43/EG, Art. 17 56 Satz 2 RL 2000/78/EG, Art. 25 Satz 2 RL 2006/54/EG nur solche Menschen angesehen werden können, die sich ohne ein bereits bestehendes Beschäftigungsverhältnis auf eine Beschäftigung beworben haben und damit nach § 6 Abs. 1 Satz 2 1. Alt. AGG als Beschäftigte im Sinne des § 7 Abs. 1 AGG gelten.103 57 Eine Lücke belässt die Konstruktion der §§ 6 f., 24 AGG auch hinsichtlich derjenigen, die Leistungen im Hinblick auf eine frühere Erwerbstätigkeit als Hinterbliebene der erwerbstätigen Person beziehen. Dieser Personenkreis wird von § 6 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. AGG nicht unmittelbar erfasst, weil dort nur diejenigen genannt sind, deren Beschäftigungsverhältnis beendet ist. Diese Voraussetzung können Hinterbliebene nicht erfüllen. Das BAG behilft sich hier damit, für die Verletzung des Benachteiligungsverbots in § 7 Abs. 1 AGG auf die Person der/s früher Erwerbstätigen abzustellen und für diese Person zu prüfen, ob sie wegen eines in § 7 Abs. 1 AGG genannten Grundes benachteiligt worden ist.104 Die insoweit vom BAG als Begründung angeführte Entscheidung des EuGH vermag 58 die vom BAG aufgestellte These nicht zu tragen, weil der EuGH das Vorliegen einer Benachteiligung ohne Bezug auf die Eigenschaft als frühere/r Beschäftigte/r oder als Hinterbliebene/r prüft, und zwar hinsichtlich beider insoweit betroffenen Personen.105 In Entscheidungen zu Art. 119 EGV, der Art. 141 EG und Art. 157 AEUV vorausgehenden Regelung, ist der EuGH bei der Prüfung der Einhaltung des Gebots des gleichen Entgelts für Frauen und Männer davon ausgegangen, dass unterschiedliche Voraussetzungen für den Bezug einer Witwerrente im Verhältnis zu einer Witwenrente den Witwer selbst wegen seines Geschlechts benachteiligen.106 Gleiches wurde für Hinterbliebenenrenten im Geltungsbereich der RL 2000/78/EG entschieden.107 100 OVG Münster, Urt. v. 7.10.2019, 6 A 2628/16, Rn. 66. 101 BAG, Urt. v. 23.11.2017, 8 AZR 372/16, Rn. 23; BAG, Urt. v. 11.8.2016, 8 AZR 4/15, Rn. 65; a. A. v.
Roetteken, AGG, Stand: September 2019, § 11 Rn. 218, § 15 Rn. 105; ders., Unionsrechtliche Aspekte des Schadensersatzes und der Entschädigung bei Diskriminierungen, NZA-RR 2013, S. 337 (340). 102 Auf den Opferbegriff abstellend EuGH, Urt. v. 28.7.2016, Rs. C-423/15, Kratzer, Rn. 36. 103 Davon ausgehend OVG Münster, Urt. v. 7.10.2019, 6 A 2628/16, Rn. 66: ohne Bewerbung keine Benachteiligung im Sinne des § 7 Abs. 1, § 15 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AGG. 104 BAG, Urt. v. 16.10.2018, 3 AZR 520/17, Rn. 22; BAG, Urt. v. 20.2.2018, 3 AZR 43/17, Rn. 14; BAG, Urt. v. 14.11.2017, 3 AZR 781/16, Rn. 17. 105 EuGH, Urt. v. 24.11.2016, Rs. C-443/15, Parris, Rn. 63 ff.; ebenso EuGH, Urt. v. 10.5.2011, Rs. C-147/08, Römer, Rn. 37, 39 ff.; EuGH, Urt. v. 1.4.2008, Rs. C-267/06, Maruko, Rn. 66 ff. 106 EuGH, Urt. v. 17.4.1997, Rs. C-147/95, Evrenopoulos, Rn. 27; EuGH, Urt. v. 20.3.1984, Rs. 75/82, Razzouk u. a., Rn. 17 f. 107 EuGH, Urt. v. 24.11.2016, Rs. C-443/15, Parris, Rn. 32 ff. m. w. N. Torsten von Roetteken
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Die Beschränkung der Anwendung des AGG auf Personen, die vom Beschäftigtenbegriff 59 in § 6 Abs. 1, 3 AGG erfasst werden, ist mit dem Unionsrecht unvereinbar, soweit das Verbot des § 7 Abs. 1 AGG diejenigen nicht erfasst, die im Hinblick auf eine frühere Erwerbstätigkeit als Hinterbliebene der entsprechenden Person Leistungsansprüche haben, die nicht dem System der gesetzlichen Sozialversicherung zuzurechnen sind, sondern Entgelt im Sinne des Art. 157 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV oder als Leistungen eines berufsständischen Versorgungswerks darstellen. Dabei kann es für die Art der Leistungsausgestaltung nicht darauf ankommen, ob die Benachteiligung wegen eines Diskriminierungsgrundes in der Person der/s früheren Erwerbstätigen oder in der Person der/s Hinterbliebenen eintritt. Die Benachteiligung kann – das Unionsrecht zugrunde gelegt – auch ausschließlich in der Person der/s Hinterbliebenen stattfinden. III. Voraussetzungen der Beschäftigteneigenschaft (§ 6 Abs. 1 AGG) 1. Legaldefinition
§ 6 Abs. 1 AGG zählt die dort im Einzelnen genannten Erwerbstätigen zu den Beschäftigten 60 und enthält insoweit eine Legaldefinition, die für die weiteren Regelungen des AGG zu beachten ist, soweit dort der Begriff „Beschäftigte“ verwendet wird. Darauf nehmen Bezug § 7 Abs. 1, 3, § 12 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3, 4, § 13 Abs. 1, § 14 Satz 1, § 15 Abs. 2 Satz 1, § 16 Abs. 1, 2, § 17 Abs. 1 AGG. Dagegen nimmt § 15 Abs. 1 Satz 1 AGG unmittelbar keinen Bezug auf Beschäftigte. Die dort genannte Tatbestandsvoraussetzung eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot ist jedoch dahin zu verstehen, dass damit ein Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG normierte Benachteiligungsverbot gemeint ist, das allein zugunsten von Beschäftigten besteht. Die Aufzählung in § 6 Abs. 1 Satz 1 AGG bezieht sich auf Arbeitnehmer/innen (Nr. 1), 61 die zur ihrer Berufsbildung Beschäftigten (Nr. 2) und arbeitnehmerähnliche Personen einschließlich der Heimarbeiter/innen und der ihnen Gleichgestellten (Nr. 3). 2. Arbeitnehmer/innen (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AGG)
Wer Arbeitnehmer/in im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AGG ist, beurteilt sich seit dem 62 1.4.2017 nach den in § 611a BGB genannten Kriterien.108 Aufgrund der lückenhaften Regelung in § 6 Abs. 3 AGG hat sich der BGH veranlasst gesehen, jedenfalls auch Fremdgeschäftsführer/innen einer GmbH für den persönlichen Anwendungsbereich des AGG als Arbeitnehmer/innen einzustufen.109 Gleiches wird gelten müssen für andere Organmitglieder wie zum Beispiel Vorstände von Kapitalgesellschaften, öffentlichen Anstalten oder Stiftungen. Mit dem Wortlaut von § 6 Abs. 3 AGG ist eine solche Auslegung allerdings nicht vereinbar. 108 Wohl auch Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, AGG, 9. Aufl. 2021, § 6 AGG Rn. 4. 109 BGH, Urt. v. 26.3.2019, II ZR 244/17, Rn. 22 ff.; ähnlich Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt
(Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 22. Aufl. 2022, § 6 AGG Rn. 1; Kort, Sind GmbH-Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder diskriminierungsschutzrechtlich Arbeitnehmer?, NZG 2013, S. 601 (604 ff.); Schrader/Schubert, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 6 AGG Rn. 37. Torsten von Roetteken
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Gerechtfertigt werden kann die Nichtanwendung von § 6 Abs. 3 AGG nur durch die Berufung auf die Vorrangigkeit des unionsrechtlich gebotenen Diskriminierungsschutzes.110 3. Zur Berufsbildung Beschäftigte (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AGG)
Der Kreis der zur Berufsbildung Beschäftigten ist weiter zu fassen als der durch § 5 Abs. 1 Satz 1 3. Alt. Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) erfasste Kreis der zur Berufsausbildung Beschäftigten. Der Begriff der Berufsbildung dient dazu, alle Personen in einer beruflichen Bildungsmaßnahme zu erfassen, auch wenn sich die konkrete Maßnahme nicht als Teil einer Berufsausbildung darstellt. Berufsbildung liegt daher auch vor, wenn während eines Studiums oder eines Schulbesuchs Praktika absolviert werden, ohne dass es auf die Gewährung einer Vergütung ankommt.111 Das Gleiche gilt für Volontariate, Praktikantinnen und Praktikanten,112 soweit der entsprechende Personenkreis nicht § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AGG unterfällt. Über § 24 Nr. 1 AGG werden auch Ausbildungsverhältnisse erfasst, die im Beamten64 verhältnis auf Widerruf oder Probe durchgeführt werden und meist auf den Erwerb einer Laufbahnbefähigung zielen.113 Mangels einer Gesetzgebungskompetenz des Bundes gilt das AGG nicht für öffent65 lich-rechtliche Ausbildungsverhältnisse, die außerhalb eines Beamtenverhältnisses durchgeführt werden.114 63
4. Arbeitnehmerähnliche Personen (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AGG) 66
Der Kreis der arbeitnehmerähnlichen Personen (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AGG) wird aufgrund seiner wirtschaftlichen Unselbstständigkeit teilweise von den gesetzlichen Schutzvorschriften des Arbeitsrechts erfasst, obwohl keine Arbeitsverhältnisse im Sinne des § 611a BGB vorliegen115. Es handelt sich um den gleichen Personenkreis, wie er Gegenstand von § 5 Abs. 1 Satz 2 ArbGG, § 12a Tarifvertragsgesetz (TVG) oder § 2 Satz 2 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) ist. Bedeutung hat die Einbeziehung arbeitnehmerähnlicher Personen unter anderem für die sog. freien Mitarbeiter/innen der Rundfunkanstalten.116 Das BAG ordnet arbeitnehmerähnliche Personen dem unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff im Sinne der RL 2006/54/EG und damit wohl auch des Art. 157 Abs. 1, 2 AEUV zu.117 110 Zur gebotenen Nichtanwendung einer nationalen Rechtsvorschrift zwecks Herstellung eines unions-
rechtskonformen Ergebnisses EuGH, Urt. v. 4.12.2018, Rs. C-378/17, Minister for Justice and Equality und Commissioner of the Garda Síochána, Rn. 35 ff.; EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 79, 82; ständige Rechtsprechung. 111 Siehe v. Roetteken, AGG, Stand: Februar 2022, § 6 Rn. 19. 112 Schrader/Schubert (Fn. 109), § 6 AGG Rn. 56. 113 A. A. Schleusener, in: ders./Suckow/Plum, AGG, 5. Aufl. 2019, § 6 Rn. 9. 114 Siehe v. Roetteken (Fn. 111), § 6 Rn. 20; das betrifft derzeit zum Beispiel verbreitet Teilnehmer/innen des juristischen Vorbereitungsdienstes, soweit diese Personen nur in einem sonstigen öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis stehen. 115 Zur unterstellten Geltung von Art. 157 Abs. 1, 2 AEUV für arbeitnehmerähnliche Personen LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 5.2.2019, 16 Sa 983/18, Rn. 442. 116 BAG, Urt. v. 20.6.2013, 8 AZR 482/12, Rn. 25, 30. 117 BAG Urt. v. 25.6.2020, 8 AZR 145/19, Rn. 39 ff. Torsten von Roetteken
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§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AGG bezieht ausdrücklich ein die Heimarbeiter/innen im Sinne 67 des Heimarbeitsgesetzes (HAG)118. Soweit Arbeitnehmer/innen im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AGG in Heimarbeit tätig sind, handelt es sich um Arbeitsverhältnisse. 5. Bewerber/innen (§ 6 Abs. 1 Satz 2 1. Alt. AGG)
§ 6 Abs. 1 Satz 2 1. Alt. AGG rechnet Bewerber/innen für eine Beschäftigung im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 AGG zu den Beschäftigten im Sinne des AGG. Ausreichend, aber auch erforderlich ist, dass sich eine Person für einen Arbeitsplatz, eine Beschäftigung beziehungsweise die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses beworben hat. Die tatsächliche Bewerbung ist Voraussetzung für den Erwerb der Beschäftigteneigenschaft als Bewerber/ in.119 Erst der Erwerb dieser Eigenschaft eröffnet nach ständiger Rechtsprechung den persönlichen Anwendungsbereich des AGG und damit auch die Berechtigung, Ansprüche nach § 15 Abs. 1, 2 AGG zu verfolgen.120 Das führt, wie oben bereits ausgeführt, zu einer Lücke bei der Umsetzung des Unionsrechts, das einen von der Eigenschaft als Bewerber/in unabhängigen Diskriminierungsschutz verlangt. Der/Die Adressat/in der Bewerbung ist in § 6 Abs. 1 Satz 2 1. Alt. AGG nicht genannt. Das System des AGG setzt voraus, dass sich die Bewerbung an einen Arbeitgeber beziehungsweise eine Arbeitgeberin im Sinne des § 6 Abs. 2 AGG richtet, in Verbindung mit § 24 Nr. 1, 2 AGG an einen Dienstherrn. Der/Die Arbeitgeber/in beziehungsweise der Dienstherr müssen sich allerdings für die Behandlung einer Bewerbung einschließlich der ihr gegebenenfalls vorausgehenden Ausschreibung das Verhalten von Dritten, Personalvermittlungen etc. zurechnen lassen121. Diese Auslegung belässt gleichwohl Lücken im Diskriminierungsschutz, weil das Verhalten von Personalvermittlungen, die ohne konkreten Auftrag eines Arbeitgebers handeln bzw. an einen Arbeitgeber herantreten, jedenfalls über das Haftungssystem des § 15 AGG in seiner derzeitigen Auslegung durch die Gerichte nicht eigenständig sanktionierbar ist.122 Die Begründung der Eigenschaft als Bewerber/in ist rein formal zu beurteilen, wird durch die Einreichung einer Bewerbung begründet123 und setzt im Gegensatz zur älteren Rechtsprechung des BAG nicht mehr voraus, dass sich die bewerbende Person für den in der Bewerbung genannten Arbeitsplatz objektiv eignet.124 Unerheblich ist für die Einstufung als Bewerber/in auch die subjektive Ernsthaftigkeit der Bewerbung.125 Insoweit 118 Heimarbeitsgesetz in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 804–1, veröffentlichten
bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Artikel 11 des Gesetzes v. 20.5.2020, BGBl. 2020 I, S. 1055.
119 OVG Münster, Urt. v. 7.10.2019, 6 A 2628/16, Rn. 66. 120 BAG, Urt. v. 11.8.2016, 8 AZR 4/15, Rn. 65. 121 BVerfG, Beschl. v. 21.9.2006, 1 BvR 308/03 – Diskriminierende Ausschreibung; zur Zurechnung des
Verhaltens von Mitgliedern eines Aufsichtsrates auf den Arbeitgeber BGH, Urt. v. 23.4.2012, II ZR 163/10, Rn. 36, 58. 122 OLG Celle, Urt. v. 13.2.2014, 13 U 37/13. 123 BAG, Urt. v. 11.8.2016, 8 AZR 4/15, Rn. 38. 124 BAG, Urt. v. 16.2.2012, 8 AZR 697/10, Rn. 24; BAG, Urt. v. 19.5.2016, 8 AZR 470/14, 25 ff.; seitdem ständige Rechtsprechung. 125 BAG, Urt. v. 16.2.2012, 8 AZR 697/10, Rn. 24; BAG, Urt. v. 11.8.2016, 8 AZR 4/15, Rn. 38. Torsten von Roetteken
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kann sich – allenfalls in Ausnahmefällen – die Frage nach einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten stellen, vorausgesetzt, die sich bewerbende Person ist nachweislich an der jeweiligen Beschäftigung gar nicht interessiert, sondern lediglich auf Ersatzansprüche aus.126 Bewerbungen setzen keine vorherige Ausschreibung voraus. Es kann sich auch um Ini72 tiativbewerbungen handeln, ohne dass es überhaupt zu einer Ausschreibung gekommen ist.127 6. Nachwirkende Ansprüche ehemaliger Beschäftigter (§ 6 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. AGG) 73 § 6 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. AGG lässt als Beschäftigte Personen gelten, deren Beschäftigungs-
verhältnis beendet ist. In der Sache betrifft dies Beschäftigte im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 AGG, denen mit Rücksicht auf ein bereits beendetes Beschäftigungsverhältnis gegen den früheren Arbeitgeber nach- beziehungsweise fortwirkende Ansprüche zustehen, die ihre Grundlage im früheren Beschäftigungsverhältnis haben. Das betrifft vor allem Leistungen der betrieblichen Altersversorgung, kann aber auch Ansprüche auf sonstige insbesondere soziale Leistungen erfassen wie zum Beispiel fortzugewährende Deputate, die Bereitstellung von Wohnungen, Nutzung betrieblicher Sozialeinrichtungen etc. Für Beamtinnen, Beamte und Berufsrichter/innen (§ 24 Nr. 1, 2 AGG) geht es vor allem 74 um die Leistungen der Ruhestands- und Hinterbliebenenversorgung und die Gewährung von Beihilfen bei Krankheit oder Pflegebedürftigkeit nach der Beendigung des Dienstverhältnisses. Die Nichterfassung der Hinterbliebenen früherer Beschäftigter durch den Beschäftig75 tenbegriff beraubt diesen Personenkreis der aus Sicht des Gesetzgebers zentralen Sanktionsmöglichkeit,128 eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG zu erlangen, wenn im Zusammenhang mit der Leistungsgewährung an Hinterbliebene eine Diskriminierung eingetreten ist. Dieses Resultat ist mit Art. 15 RL 2000/43/EG, Art. 17 RL 2000/78/ EG und Art. 18, 25 RL 2006/54/EG unvereinbar und kann nur durch eine erweiternde Auslegung von § 6 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. AGG beziehungsweise dessen analoge Anwendung korrigiert werden. Opfer129 einer Benachteiligung im Sinne des Art. 15 Satz 2 RL 2000/43/ EG, Art. 17 Satz 2 RL 2000/78/EG, Art. 25 Satz 2 RL 2006/54/EG kann nicht nur der/die frühere Beschäftigte selbst sein, sondern ebenso deren/dessen Hinterbliebene. Sie/Er kann durch eine Benachteiligung einen Schaden erlitten haben, dessen Ausgleich durch Art. 18 RL 2006/54/EG zwingend vorgeschrieben ist.130 IV. Selbstständige, Organmitglieder (§ 6 Abs. 3 AGG) 76 Für den Bereich der selbstständigen Erwerbstätigkeit außerhalb des Anwendungsbereichs
von § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AGG sollen die §§ 7 ff. AGG nach § 6 Abs. 3 1. Alt. AGG lediglich
126 127 128 129 130
EuGH, Urt. v. 28.7.2016, Rs. C-423/15, Kratzer, Rn. 35 ff.; BAG, Urt. v. 11.8.2016, 8 AZR 4/15, Rn. 50 ff. BVerwG, Urt. v. 3.3.2011, 5 C 16.10, Rn. 12. Zu dieser Einstufung BT-Drs. 16/1780, S. 38. Zur Relevanz dieses Begriffs EuGH, Urt. v. 28.7.2016, Rs. C-423/15, Kratzer, Rn. 36. Zum unionsrechtlich maßgebenden Schadensbegriff v. Roetteken (Fn. 101), S. 339 ff. Torsten von Roetteken
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entsprechend gelten, beschränkt auf den Zugang zur Erwerbstätigkeit und den beruflichen Aufstieg. Dieser Personenkreis gehört nicht zu den Beschäftigten im Sinne des § 6 Abs. 1 AGG, ist aber entsprechend zu behandeln, soweit es um den Zugang zur Erwerbstätigkeit, das heißt die dabei zu erfüllenden Voraussetzungen und das Verfahren, geht. Entsprechendes gilt auch für den beruflichen Aufstieg. § 6 Abs. 3 AGG klammert nach seinem Wortlaut und im Hinblick auf die Differenzierungen in § 2 Abs. 1 Nr. 1, 2 AGG die sonstigen Bedingungen aus, unter denen die selbstständige Erwerbstätigkeit auszuüben ist. Dieses Ergebnis ist richtlinienwidrig. Die Rechtsprechung des BVerwG korrigiert diesen Fehler dahin, dass die Beendigungsbedingungen wie zum Beispiel Höchstaltersgrenzen für die Fortsetzung der Erwerbstätigkeit als Zugangsbedingungen eingestuft werden.131 Auf diesem Weg wird zwar insoweit ein richtlinienkonformes Ergebnis erzielt. Mit den Differenzierungen in § 2 Abs. 1 Nr. 1, 2 AGG ist das allerdings, den Wortlaut zugrunde gelegt, nicht vereinbar. § 6 Abs. 3 2. Alt. AGG stellt den selbstständig Erwerbstätigen die Organmitglieder gleich und beschränkt die entsprechende Anwendung der § 6 Abs. 1, 2, §§ 7 ff. AGG auf Fragen des Zugangs zur Organmitgliedschaft oder den beruflichen Aufstieg. Aus der beispielhaften Erwähnung von Geschäftsführern, Geschäftsführerinnen und Vorständen, das heißt deren Mitgliedern, wird deutlich, welcher Personenkreis gemeint ist. Es handelt sich um Personen, die nach deutschem Recht nicht als Arbeitnehmer/innen angesehen werden, deren Dienstverträge außerhalb des allgemeinen Arbeitsrechts stehen. Zum Zugang gehören sowohl die Bestellung in die jeweilige Funktion wie der Abschluss des entsprechenden Anstellungsvertrages.132 Zum Zugang gehören auch die erneute Bestellung, deren Verlängerung und die entsprechenden Verträge beziehungsweise Vertragsänderungen.133 Dagegen soll der Begriff des Zugangs in § 6 Abs. 3 AGG im Hinblick auf die in § 2 Abs. 1 Nr. 1, 2 AGG erfolgte Differenzierung nicht die – gegebenenfalls vorzeitige – Beendigung einer Organmitgliedschaft bzw. des entsprechenden Dienstvertrages erfassen.134 Das ist zwar im Hinblick auf die im Gesetzgebungsverfahren erkennbar gewordenen Ziele nachvollziehbar, mit den unionsrechtlichen Anforderungen jedoch unvereinbar.135 Der BGH trägt dem dadurch Rechnung, dass er jedenfalls Fremdgeschäftsführer/innen einer GmbH als Arbeitnehmer/innen im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AGG einstuft.136 Ein in jeder Hinsicht richtlinienkonformes Ergebnis lässt sich nur dadurch erreichen, dass die Sonderregelung in § 6 Abs. 3 AGG unangewendet bleibt137 und die dort genann131 BVerwG, Urt. v. 26.2.1011, 8 C 45.09, Rn. 27; BVerwG, Urt. v. 1.2.2012, 8 C 24.11, Rn. 12; dem offen-
kundig nicht folgend für Fälle der Abberufung aus der Organstellung BGH, Urt. v. 23.4.2012, II ZR 163/10, Rn. 21. 132 BGH, Urt. v. 23.4.2012, II ZR 163/10, Rn. 19. 133 BGH, Urt. v. 23.4.2012, II ZR 163/10, Rn. 20. 134 BGH, Urt. v. 23.4.2012, II ZR 163/10, Rn. 21; BGH, Urt. v. 26.3.2019, II ZR 244/17, Rn. 18 ff. 135 Hey, in: ders./Forst (Hrsg.), AGG, 2. Aufl. 2015, § 6 Rn. 25. 136 BGH, Urt. v. 26.3.2019, II ZR 244/17, Rn. 22 ff. 137 EuGH, Urt. v. 4.12.2018, Rs. C-378/17, Minister for Justice and Equality und Commissioner of the Garda Síochána, Rn. 35 ff. Torsten von Roetteken
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ten Personen, zumindest die Organmitglieder, als Arbeitnehmer/innen im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AGG behandelt werden, gegebenenfalls im Wege der analogen Anwendung.138 Dieser Weg ist durch die Rechtsprechung des EuGH139 zu den Voraussetzungen der Einstufung einer GmbH-Geschäftsführerin als Arbeitnehmerin im Sinne des Art. 2 lit. a RL 92/85/EWG vorgezeichnet. V. Arbeitgeber
§ 6 Abs. 2 Satz 1 AGG definiert als Arbeitgeber/innen alle natürlichen und juristischen Personen einschließlich rechtsfähiger Personengesellschaften, die Personen nach § 6 Abs. 1 AGG beschäftigen, im Falle einer Bewerbung beschäftigen sollen beziehungsweise beschäftigt haben. Das ist sowohl der – künftige oder ehemalige – Vertragspartner beziehungsweise die entsprechende Vertragspartnerin der/s Beschäftigten wie auch diejenige Person, bei der die Beschäftigung aufgrund einer Überlassung tatsächlich stattfindet (§ 6 Abs. 2 Satz 2 AGG). Für die – tatsächliche – Überlassung ist unerheblich, ob es sich um den Fall einer Abordnung, Personalgestellung, Zuweisung oder Überlassung nach Maßgabe des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG)140 handelt oder ob dessen Voraussetzungen im Einzelfall eingehalten werden. 82 Für die Beamtinnen, Beamten und Berufsrichter/innen ist Arbeitgeber aufgrund der durch § 24 Nr. 1, 2 AGG gebotenen entsprechenden Anwendung der Dienstherr.141 Erfolgt die Beschäftigung aufgrund einer Zuweisung bei einer Einrichtung ohne Dienstherrnfähigkeit, ist sie nach § 6 Abs. 2 Satz 2 AGG Arbeitgeber neben dem Dienstherrn. 83 Für die in Heimarbeit Beschäftigten definiert § 6 Abs. 2 Satz 3 AGG als Arbeitgeber/in den/die Auftraggeber/in oder Zwischenmeister/in. 81
VI. Verbot der Benachteiligung von Beschäftigten 84
§ 7 Abs. 1 AGG verbietet Benachteiligungen von Beschäftigten wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ohne das Verbot auf bestimmte Adressatinnen beziehungsweise Adressaten zu begrenzen. Der mangelnde Bezug auf bestimmte Adressaten beziehungsweise Adressatinnen ergibt sich insbesondere aus § 7 Abs. 1 2. Hs. AGG, weil dort ganz allgemein auf eine Person abgestellt wird, die eine Benachteiligung begeht. Diese Person kann jede/r sein. Auf die Stellung als Arbeitgeber/in wird im Unterschied zu § 611a BGB in seiner bis 2006 geltenden Fassung nicht abgestellt. Das folgt im Umkehrschluss auch aus § 7 Abs. 3 AGG, weil dort explizit auf Arbeitgeber/innen und Beschäftigte abgestellt wird.
138 Im Ergebnis ebenso, allerdings durch eine Verneinung einer Sperrwirkung des Begriffs des Zugangs in
§ 6 Abs. 3 AGG und dessen weite Auslegung Hey (Fn. 135), § 6 Rn. 25.
139 EuGH, Urt. v. 11.11.2010, Rs. C-232/09, Danosa, Rn. 39 ff. 140 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 3.2.1995, BGBl. 1995 I,
S. 158, zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes v. 13.3.2020, BGBl. 2020 I, S. 493.
141 BVerwG, Urt. v. 6.4.2017, 2 C 11.16, Rn. 19.
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§ 7 Abs. 1 AGG richtet sich deshalb nicht allein an den/die Arbeitgeber/in im Sinne 85 des § 6 Abs. 2 AGG, sondern ebenso an andere Beschäftigte im Sinne des § 6 Abs. 1 AGG (Kollegen, Kolleginnen)142 und darüber hinaus an alle sonstigen Personen, die Beschäftigte benachteiligen (können). Das können auch Dritte sein,143 wie sich aus § 12 Abs. 4 AGG ergibt. Vor allem für Diskriminierungen in Gestalt einer Belästigung (§ 3 Abs. 3 AGG) oder einer sexuellen Belästigung (§ 3 Abs. 4 AGG) ist dies von Bedeutung. Entsprechende Diskriminierungen sind verboten, auch wenn sie von dem/r Arbeitgeber/in nach den üblichen Kriterien nicht als ihm/r zurechenbares Verhalten zumindest mitzuverantworten sind. § 7 Abs. 1 AGG erfasst zum Beispiel Personalvermittlungsunternehmen und die für sie 86 tätigen Beschäftigten unabhängig davon, ob sie im konkreten Auftrag eines bestimmten Arbeitgebers tätig werden. Das Verbot der Diskriminierung gilt auch dann, wenn ein solches Unternehmen die Personalrekrutierung eigenständig vornimmt, um Personen einem Arbeitgeber vorzuschlagen. Das AGG stellt für das Verhalten dieser Unternehmen und Personen allerdings jedenfalls nach herrschender Meinung keine Sanktionsinstrumente bereit, da die Ansprüche aus § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG trotz fehlender gesetzlicher Angabe der zur Entschädigung verpflichteten Person nur gegen einen Arbeitgeber im Sinne des § 6 Abs. 2 AGG in Betracht kommen sollen.144 Diese Beschränkung ist mit den Anforderungen unvereinbar, die nach Art. 15 RL 2000/43/EG, Art. 17 RL 2000/78/EG und Art. 25 RL 2006/54/EG zu erfüllen sind, um jede mangelnde Beachtung des Diskriminierungsverbotes zu sanktionieren. Bei einer Diskriminierung wegen des Geschlechts muss zudem jedem Opfer nach Art. 18 RL 2006/54/EG ein Anspruch auf Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens zustehen. § 7 Abs. 1 2. Hs. AGG erfasst Verhaltensweisen, in denen die Person, die eine Benach- 87 teiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes lediglich annimmt. Damit werden sogenannte untaugliche Versuche erfasst, weil es der handelnden Person nicht zur Entlastung gereichen soll, dass ein angenommener Diskriminierungsgrund in Wahrheit nicht vorlag.145 Zugleich verdeutlicht § 7 Abs. 1 2. Hs. AGG, dass der Diskriminierungsschutz alle Verhaltensweisen verbietet, denen als Motiv zumindest auch ein in § 1 AGG genanntes Diskriminierungsmerkmal zugrunde liegt. Das entbindet allerdings nicht davon, zunächst danach zu fragen, ob ein Verhalten seinem Ergebnis nach ungeachtet der zugrunde gelegten Motive zu einer Diskriminierung führt.146
142 Schrader/Schubert, in: Däubler/Beck, AGG, 5. Aufl. 2022, § 3 AGG Rn. 94. 143 Schrader/Schubert (Rn. 142), § 3 AGG Rn. 94. 144 BAG, Urt. v. 23.1.2014, 8 AZR 118/13, Rn. 26; OLG Celle, Urt. v. 13.2.2014, 13 U 37/13; Stoffels,
Grundprobleme der Schadensersatzverpflichtung nach § 15 Abs. 1 AGG, RdA 2009, S. 204 (207); Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, AGG, 9. Aufl. 2021, § 15 AGG Rn. 7; Deinert, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 15 AGG Rn. 100. 145 BAG, Urt. v. 17.12.2015, 8 AZR 421/14, Rn. 20 f. 146 Fehlerhaft deshalb zum Beispiel VG Würzburg, Urt. v. 26.11.2019, W 1 K 18.1029, Rn. 34 f., das für eine Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit trotz der damit objektiv vorliegenden, zumindest jedoch angenommenen Behinderung davon ausgeht, die Motivation der Behörde beziehe sich nur auf die Dienstunfähigkeit, nicht aber auf die Behinderung. Torsten von Roetteken
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VII. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 7 Abs. 1 AGG 1. Nichtigkeit 88
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Die Rechtsfolgen einer mangelnden Beachtung von § 7 Abs. 1 AGG regeln die weiteren Bestimmungen des AGG nur teilweise. Für einseitige Rechtsgeschäfte wie zum Beispiel Kündigungen147 und rechtsgeschäftsähnliche Handlungen ist nach § 32 AGG auf § 134 BGB als allgemeine Bestimmung zur Frage zurückzugreifen, welche Folgen der Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot hat. § 134 BGB hat die Nichtigkeit zur Folge, was im Falle einer Kündigung im Hinblick auf § 4 Satz 1 KSchG nicht von der Notwendigkeit entbindet, innerhalb der gesetzlich bestimmten Frist von 3 Wochen das Arbeitsgericht anzurufen. § 7 Abs. 1 AGG führt in Verordnungen oder Satzungen zur Nichtigkeit derjenigen Bestimmungen, die das Benachteiligungsverbot nicht beachten. Das ergibt sich auch aus dem Vorrang des Gesetzes vor nachrangigem Recht. Gleichrangige Bundesgesetze werden von § 7 Abs. 1 AGG nicht erfasst. Das AGG enthält keine Kollisionsvorschrift, die den Vorrang des AGG vor gleichrangigem Bundesrecht sichert. Insoweit kann die mangelnde Anwendung von Bundesrecht nur auf den Vorrang des Unionsrechts gestützt werden. Landesrecht wird im Geltungsbereich des AGG nach Art. 31 GG durch § 7 Abs. 1 AGG gebrochen, wobei Landesgesetze insoweit nur nach einer Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 Satz 2 GG als nichtig behandelt werden können. Ein entsprechendes Normenkontrollverfahren ist allerdings unzulässig, soweit aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ein dem Ergebnis der Normenkontrolle durch das BVerfG inhaltsgleiches Ergebnis erzielt werden kann. Über den Anwendungsvorrang des Unionsrechts wird auch hinsichtlich der inhaltlich mit § 7 Abs. 1 AGG nicht übereinstimmenden Bundesgesetze ein Ergebnis zu erzielen sein, das die Durchführung des unionsrechtlichen Diskriminierungsschutzes sicherstellt. § 15 Abs. 2 AGG begründet insoweit Entschädigungsansprüche gegen den Dienstherrn auch dann, wenn der Gesetzgeber für die Diskriminierung verantwortlich ist.148 Daneben kann gegebenenfalls ein unionsrechtlicher Haftungsanspruch bestehen.149 2. Realisierung des Benachteiligungsverbots in Vereinbarungen
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Eine von den allgemeinen Grundsätzen abweichende Sonderregelung enthält § 7 Abs. 2 AGG für Benachteiligungen, die sich aus Bestimmungen in Vereinbarungen ergeben. Vereinbarungen sind Verträge unabhängig davon, ob sie auf der Ebene des Individualrechts angesiedelt oder kollektivrechtlicher Natur sind. § 7 Abs. 2 AGG gilt insbesondere für Tarifverträge150, BAG, Urt. v. 26.3.2015, 2 AZR 237/14, Rn. 32. BVerwG, Urt. v. 30.10.2014, 2 C 6.13, Rn. 36 ff. BVerwG, Urt. v. 30.10.2014, 2 C 6.13, Rn. 25 ff. BAG, Urt. v. 5.9.2019, 6 AZR 533/18, Rn. 13; BAG, Urt. v. 18.2.2016, 6 AZR 700/14, Rn. 27; BAG, Urt. v. 10.12.2014, 7 AZR 1002/12, Rn. 39; BAG, Urt. v. 14.5.2013, 1 AZR 44/12, Rn. 25; BAG, Beschl. v. 8.12.2010, 7 ABR 98/09, Rn. 62 f.; BT-Drs. 16/1780, S. 53; BT-Drs. 15/4538, S. 51.
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Betriebsvereinbarungen151 und Dienstvereinbarungen152 ebenso wie für die mit einem Sprecherausschuss vereinbarte Richtlinien und Inklusionsvereinbarungen. Nach § 7 Abs. 2 AGG ist – nur – die zur Benachteiligung im Hinblick auf § 1 AGG 94 führende Einzelregelung der jeweiligen Vereinbarung nichtig, nicht aber etwa die Vereinbarung insgesamt.153 § 139 BGB findet hier aufgrund der Spezialität von § 7 Abs. 2 AGG auch nach § 32 AGG keine Anwendung.154 Die Anwendung von § 139 BGB würde den Diskriminierungsschutz vielfach leerlaufen lassen, weil jede Geltendmachung einer Diskriminierung durch eine bestimmte Klausel einer Vereinbarung deren Fortbestand insgesamt in Frage stellen würde. Das wäre mit dem Grundsatz eines unionsrechtlich gebotenen und tatsächlich effektiven Diskriminierungsschutzes unvereinbar. § 7 Abs. 2 AGG verdeutlicht, dass verbotene Diskriminierungen durch die Zustimmung 95 der/s Betroffenen nicht zulässig werden und sich aus einer solchen Zustimmung kein Rechtfertigungsgrund ergibt. Das folgt auch aus § 31 AGG. Danach kann zu Ungunsten der vor Diskriminierungen geschützten Personen nicht von den Vorschriften des AGG abgewichen werden. Die in § 7 Abs. 2 AGG angeordnete Rechtsfolge entspricht Art. 14 lit. b RL 2000/43/EG, 96 Art. 16 lit. b RL 2000/78/EG und Art. 23 lit. b RL 2006/54/EG. Es bedarf keines besonderen Verfahrens, eine entsprechende Bestimmung für nichtig zu erklären. Die Nichtigkeit tritt – entsprechend § 134 BGB – unmittelbar aufgrund des Verstoßes gegen § 7 Abs. 1 AGG ein. 3. Anspruch auf Gleichbehandlung mit den nicht diskriminierten Personen
Aus § 7 Abs. 1 AGG ist ein Anspruch auf Gleichbehandlung mit den nicht benachteiligten 97 Beschäftigten herzuleiten. Dieser Anspruch ist die Kehrseite des sich für die Beschäftigten aus § 7 Abs. 1 AGG ergebenden Unterlassungsanspruchs.155 Die Rechtsprechung nimmt insoweit allerdings regelmäßig Bezug auf die unionsrechtlichen Grundsätze.156 Für den unionsrechtlichen Anspruch auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung 98 geht der EuGH davon aus, dass den diskriminierten Personen ein Anspruch auf diejenige Behandlung, diejenigen Leistungen zusteht, wie sie den nicht Benachteiligten gewährt werden.157 Dieses Bezugssystem bleibt als einziges gültig, solange das Unionsrecht nicht richtig durchgeführt worden ist.158 151 BAG, Urt. v. 16.7.2019, 1 AZR 842/16, Rn. 11, 21; BAG, Urt. v. 22.10.2015, 8 AZR 168/14, Rn. 38 ff., 61;
BAG, Urt. v. 14.5.2013, 1 AZR 44/12, Rn. 17 f., 25.
152 BAG, Urt. v. 13.10.2009, 9 AZR 722/08, Rn. 46. 153 Zum Bezug von § 7 Abs. 2 AGG auf die einzelne Klausel BT-Drs. 16/1780, S. 34. 154 BAG, Urt. v. 18.2.2016, 6 AZR 700/14, Rn. 29; Hey (Fn. 135), § 7 Rn. 132; v. Roetteken, AGG, Stand:
Februar 2022, § 7 Rn. 39; Bauer/Krieger/Günther, AGG, 5. Aufl. 2018, § 7 AGG Rn. 22; Däubler (Fn. 142), § 7 AGG Rn. 29; vgl. BAG, Urt. v. 6.4.2011, 7 AZR 524/09, Rn. 29; BAG, NZA 1991, S. 635 (637); Serr, in: Serr/Rieble (Hrsg.), Staudinger BGB, Buch 2, 18. Aufl. 2020, § 7 AGG Rn. 15. 155 Dies verkennend BAG, Urt. v. 14.5.2013, 1 AZR 44/12, Rn. 24 ff. 156 BAG, Urt. v. 27.4.2017, 6 AZR 119/16, Rn. 44 ff. m. w. N. 157 EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco Investigation, Rn. 79 ff.; EuGH, Urt. v. 14.3.2018, Rs. C-482/16, Stollwitzer, Rn. 30; ständige Rechtsprechung; BAG, Urt. v. 15.11.2016, 9 AZR 534/15, Rn. 29 ff.; BAG, Urt. v. 18.2.2016, 6 AZR 700/14, Rn. 31 f.; ständige Rechtsprechung. 158 EuGH, Urt. v. 7.10.2019, Rs. C-171/18, Safeway, Rn. 17, 33 f., 40; EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. Torsten von Roetteken
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§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext
Vorstehende Grundsätze gelten nicht, wenn es – aufgrund der Diskriminierung – überhaupt kein gültiges Bezugssystem gibt159. Der EuGH hat das angenommen für die an das Lebensalter anknüpfenden Leistungsstufen der früheren Besoldungsordnung A zum BBesG in seiner bis 2006 geltenden Fassung.160 100 Ein wegen Diskriminierung fehlerhaftes Bezugssystem kann nach Auffassung des EuGH auch rückwirkend durch eine diskriminierungsfreies System ersetzt werden, sodass für die Zeit vom Erlass bis zum Inkrafttreten des neuen Systems auch nicht zeitweilig begrenzte Ansprüche entstehen können.161 Erwägungen zum Vertrauensschutz hinsichtlich eventuell bereits nach dem alten System erworbener Ansprüche hat der EuGH in dem von ihm entschiedenen Fall nicht angestellt,162 können jedoch beachtlich sein, insbesondere wenn es zu Rückforderungen von Leistungen kommen sollte. Vertrauensschutz wird insbesondere dann zu beachten sein, wenn das mit einer Diskriminierung behaftete Bezugssystem vollzugsfähig war und dementsprechend aufgrund des Anspruchs auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung in der Vergangenheit bereits entsprechende Leistungsansprüche entstanden sind und nicht nur, wie in dem vom BVerwG163 entschiedenen Fall, Ansprüche auf Entschädigung in Rede stehen. 101 Unzulässig ist dagegen nach der Rechtsprechung des EuGH, in einem diskriminierenden System den dadurch Begünstigten die entsprechenden Vorteile zu entziehen, indem die Gleichbehandlung durch den Wegfall dieser Vorteile rückwirkend hergestellt wird.164 99
4. Einstufung von Diskriminierungen als Verletzung vertraglicher Pflichten 102
§ 7 Abs. 3 AGG stuft jede Missachtung des in § 7 Abs. 1 AGG geregelten Benachteiligungsverbotes als Verletzung vertraglichen Pflichten ein. Der Begriff der vertraglichen Pflichten bezieht sich auf jedes durch einen Vertrag zustande gekommene Schuldverhältnis. Als Verträge sind insoweit nicht nur die rechtsgeschäftlich begründeten Schuldverhältnisse anzusehen, sondern ebenso die rechtsgeschäftsähnlichen Schuldverhältnisse im Sinne des § 311 Abs. 2 BGB, da sie auf den Abschluss eines noch abzuschließenden Vertrages ausgerichtet sind. Beschränkt man § 7 Abs. 3 AGG auf rechtsgeschäftliche Schuldverhältnisse, das heißt Verträge im engeren Sinn, ergibt sich eine § 7 Abs. 3 AGG vergleichbare Rechtsfolge für den Fall eines Verstoßes gegen § 7 Abs. 1 AGG im Zusammenhang mit einem C-193/17, Cresco Investigation, Rn. 82; EuGH, Urt. v. 14.3.2018, Rs. C-482/16, Stollwitzer, Rn. 30; ständige Rechtsprechung; BAG, Urt. v. 18.2.2016, 6 AZR 700/14, Rn. 31. 159 EuGH, Urt. v. 22.1.2019, Rs. C-193/17, Cresco Investigation, Rn. 81 m. w. N. 160 EuGH, Urt. v. 19.12.2014, Rs. C-501/12 u. a., Specht u. a., Rn. 96 ff.; dem folgend BVerwG, Urt. v. 10.10.2014, 2 C 6.13, Rn. 18 ff.; a. A. zu Recht für nahezu inhaltsgleiche tarifliche Regelungen BAG, Urt. v. 25.3.2015, 5 AZR 458/13, Rn. 32 ff.; LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.8.2015, 7 Sa 384/15, Rn. 34 ff. 161 EuGH, Urt. v. 14.3.2018, Rs. C-482/16, Stollwitzer, Rn. 47; EuGH, Urt. v. 17.4.2014, Rs. C-173/13, Leone, Rn. 77; ebenso bereits BVerwG, Urt. v. 30.10.2014, 2 C 3.13, Rn. 74 ff.; für eine lediglich zukunftsbezogene Neuregelung BAG, Urt. v. 18.2.2016, 6 AZR 700/14, Rn. 34; in diesem Sinn auch EuGH, Urt. v. 24.2.1994, Rs. C-343/92, Roks u. a., Rn. 30. 162 EuGH, Urt. v. 14.3.2018, Rs. C-482/16, Stollwitzer. 163 BVerwG, Urt. v. 30.10.2014, 2 C 3.13. 164 EuGH, Urt. v. 7.10.2019, Rs. C-171/18, Safeway, Rn. 40 f. Torsten von Roetteken
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rechtsgeschäftsähnlichen Schuldverhältnis aus der für dieses Verhältnis geltenden Regelung des § 241 Abs. 2 BGB.165 § 7 Abs. 3 AGG kann nach § 31 AGG nicht zulasten der vor einer Diskriminierung geschützten Person abbedungen werden. Die in § 7 Abs. 3 AGG angesprochene Verletzung vertraglicher Pflichten kann durch den Arbeitgeber und die Personen erfolgen, für die entsprechend dem Rechtsgedanken des § 278 BGB einzustehen ist. Daneben können auch Beschäftigte ihre vertraglichen Pflichten verletzen. Insoweit kommen die § 3 Abs. 3–5 AGG genannten Diskriminierungstatbestände in Betracht.166 § 7 Abs. 3 AGG verlangt von jedem Arbeitgeber, jeder Arbeitgeberin und allen Beschäftigten ein Verhalten, das in keinem Fall zu einem Verstoß gegen § 7 Abs. 1 AGG führt. Diese Pflicht ist ohne Rücksicht darauf zu erfüllen, ob entsprechende Schulungen, Bildungsmaßnahmen, interne Hinweise etc. erfolgt sind. Das ergibt sich auch aus § 12 Abs. 5 AGG. Die danach gebotene Bekanntmachung des AGG im Betrieb beziehungsweise in der Dienststelle sind bereits als verbindliche Ermahnung zur Pflichterfüllung entsprechend § 7 Abs. 1 AGG aufzufassen. Die Rechtsprechung zum Kündigungsschutz, die bei Verstößen von Beschäftigten gegen § 3 Abs. 3, 4 AGG in der Regel eine Abmahnung zur Voraussetzung der Kündigung macht,167 berücksichtigt diesen Zusammenhang nicht ausreichend.168 Die Rechtslage hat sich durch den Erlass von § 7 Abs. 1, 3 AGG in Verbindung mit § 12 Abs. 5 AGG in wesentlichen Punkten dahin geändert, dass es gerade keiner Abmahnung mehr bedarf, um einen Verstoß gegen § 7 Abs. 1 AGG und die damit kraft Gesetzes einhergehende Verletzung der vertraglichen Pflichten zu sanktionieren. Nur so kann das AGG zumindest teilweise den Anforderungen der Art. 15 RL 2000/43/EG, Art. 17 RL 2000/78/EG, Art. 18 RL 2006/54/ EG gerecht werden. Aus § 12 Abs. 3 AGG ergibt sich nichts Gegenteiliges. Zwar setzt die Regelung für Sanktionen bei Verstößen von Beschäftigten gegen das Benachteiligungsverbot die Prüfung der Angemessenheit voraus.169 Die entsprechende Frage kann jedoch maßgeblich nur aus der Perspektive des Opfers einer bereits eingetretenen oder gegebenenfalls – erneut – drohenden Benachteiligung beantwortet werden. Die herrschende Meinung berücksichtigt hier jedoch nur die Sphäre der/s Beschäftigten, der/m die Benachteiligung anzulasten ist. Dieses Verfahren stellt sich als – erneute – Benachteiligung des Opfers dar, verstößt damit auch gegen das Viktimisierungsverbot170 und verfehlt die unionsrechtlich vorgegebene Effektivität des Diskriminierungsschutzes für die Opfer. Soweit 165 Für eine Zuordnung von § 7 Abs. 3 AGG zu § 241 Abs. 2 BGB Däubler (Fn. 142), § 7 AGG Rn. 343. 166 Zur Verletzung vertraglicher Pflichten durch eine nach § 3 Abs. 4 AGG einem Beschäftigten verbotene
sexuelle Belästigung BAG, Urt. v. 29.6.2017, 2 AZR 302/16, Rn. 15.
167 Insoweit richtig BAG, Urt. v. 29.6.2017, 2 AZR 302/16, Rn. 27 f. 168 Richtig insoweit LAG BW, Urt. v. 15.1.2020, 4 Sa 19/19, Rn. 46 für den Fall einer rassistischen Belei-
dung anderer Beschäftigter, verfehlt jedoch in der nachfolgenden Interessenabwägung; zustimmend zu dieser Entscheidung Fischer, Kündigung wegen rassistischer Äußerungen auch ohne Abmahnung zulässig?, jurisPR-ArbR 10/2020, Anm. 2. 169 A. A. BAG, Urt. v. 29.6.2017, 2 AZR 302/16, Rn. 29. 170 Art. 9 RL 2000/43/EG, Art. 11 RL 2000/78/EG, Art. 24 RL 2006/54/EG, § 16 Abs. 1, 2 AGG. Torsten von Roetteken
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eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen soll, kann sie nur im Hinblick darauf angestellt werden, was im Interesse des Opfers einer Benachteiligung zur Wiederherstellung der verletzten Gleichheit nötig ist. Die Perspektive des Täters beziehungsweise der Täterin kann diese Beurteilung nicht dominieren.171 5. Kein Erfordernis einer schuldhaften Nichtbeachtung des Benachteiligungsverbotes
Für die Feststellung der aufgrund einer mangelnden Beachtung von § 7 Abs. 1 AGG eintretenden Pflichtverletzung kommt es schon nach dem Wortlaut des § 7 Abs. 3 AGG nicht auf etwaiges Verschulden an. Das entspricht der Rechtsprechung des EuGH. Danach darf die Haftung des Urhebers beziehungsweise der Urheberin einer Diskriminierung nicht davon abhängig gemacht werden, dass ein Verschulden nachgewiesen wird oder kein Rechtfertigungsgrund vorliegt.172 Die Befugnis der Mitgliedstaaten, sich bei der Umsetzung von Art. 15 RL 2000/43/EG, Art. 17 RL 2000/78/EG, Art. 18 RL 2006/54/EG für bestimmte Sanktionen zur Durchsetzung des Rechts auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung zu entscheiden, ist entsprechend eingeschränkt, wenn sie sich für eine zivilrechtliche Haftung des Urhebers entscheiden.173 Anders verhält es im Hinblick auf Art. 48 Abs. 1 GRCh, Art. 6 Abs. 2 EMRK, wenn eine Umsetzung durch strafrechtliche Sanktionen erfolgen soll, da sie ohne Nachweis eines Verschuldens unzulässig sind. 108 Fraglich kann insoweit nur sein, wann eine Benachteiligung im Sinne des § 7 Abs. 1 AGG durch den Arbeitgeber erfolgt ist, das heißt in welchem Ausmaß er für die gesetzlich definierte Pflichtverletzung einzustehen hat, weil sie ihm als Urheber zuzurechnen ist. Für die Beurteilung dieser Frage enthält das AGG keine näheren Vorgaben. § 15 Abs. 1 Satz 2 AGG überschreitet mit der Regelung zur Enthaftung des Arbeitgebers beim Nachweis fehlenden Verschuldens hinsichtlich der mangelnden Beachtung von § 7 Abs. 1 AGG den unionsrechtlichen Spielraum, weil insoweit allenfalls das Problem konkretisierungsfähig ist, unter welchen Voraussetzungen der Arbeitgeber als Urheber einer Diskriminierung anzusehen ist, die in dem von ihm zumindest mitzuverantwortenden Beschäftigungskontext stattgefunden hat. Dabei kann es nur um objektiv wirkende Zurechnungskriterien gehen, nicht aber um Fragen der subjektiv möglichen Vermeidbarkeit eines Verstoßes gegen § 7 Abs. 1 AGG.174 109 Das in § 15 Abs. 1, 2 AGG gewählte Haftungssystem ist nur eingeschränkt geeignet, die Anforderungen an effektive und abschreckend wirkende zivilrechtliche Sanktionen für eine mangelnde Beachtung des Gebots der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung zu erfüllen. Auf den durch eine Benachteiligung entgegen § 7 Abs. 1 AGG entstandenen Vermögensschaden haftet nach § 15 Abs. 1 Satz 1 AGG nur der Arbeitgeber, nicht dagegen in Fällen von § 3 Abs. 3, 4 AGG der sonstige Urheber einer Belästigung oder sexuellen Belästigung. Entsprechendes gilt für Entschädigungsansprüche nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG, 107
Verfehlt deshalb zum Beispiel Fischer (Fn. 168). EuGH, Urt. v. 8.11.1990, Rs. C-177/88, Dekker, Rn. 22, 24. EuGH, Urt. v. 8.11.1990, Rs. C-177/88, Dekker, Rn. 25. A. A. BVerwG, Urt. v. 25.7.2013, 2 C 12.11, Rn. 54 ff.; OVG Münster, Urt. v. 7.10.2019, 6 A 2628/16, Rn. 115.
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wenn dieser Haftungstatbestand – trotz des insoweit von § 15 Abs. 1 Satz 1 AGG abweichenden Wortlauts – mit der herrschenden Meinung dahin ausgelegt wird, dass lediglich der Arbeitgeber auf Zahlung einer Entschädigung wegen einer Diskriminierung in Anspruch genommen werden kann.175 6. Entsprechende Geltung für Beamtinnen, Beamte, Berufsrichter/innen
Für Beamtinnen, Beamte und Berufsrichter/innen gilt § 7 Abs. 1 AGG nach § 24 Nr. 1, 2 110 AGG entsprechend. Sie verletzen bei einem Verstoß gegen § 7 Abs. 1 AGG ihre Dienstpflichten.176 Diese Auslegung ist jedenfalls aufgrund von § 7 Abs. 2 SoldGG geboten, der Parallelbestimmung zu § 7 Abs. 3 AGG.177 Für den Dienstherrn stellt sich die mangelnde Beachtung von § 7 Abs. 1 AGG als Ver- 111 letzung der Fürsorgepflicht178 dar. Der Bezug auf diese Pflichtenstellung lässt jedoch keine Auslegung dahin zu, der Dienstherr habe nur schuldhafte Pflichtverletzungen zu vertreten. § 7 Abs. 3 AGG in entsprechender Anwendung steht einer solchen Auslegung entgegen, wie auch § 7 Abs. 2 SoldGG zeigt. Das dienstrechtliche Sanktionssystem ist den Besonderheiten der aufgrund von § 7 112 Abs. 3 AGG als Pflichtverletzungen zu behandelnden Verhaltensweisen nicht angepasst worden. Disziplinarmaßnahmen einschließlich der Entfernung aus dem Dienstverhältnis setzen nach § 47 Abs. 1 Satz1 BeamtStG, gegebenenfalls in Verbindung mit § 71 DRiG und § 77 Abs. 1 Satz 1 BBG, gegebenenfalls in Verbindung mit § 46 DRiG den Nachweis eines Verschuldens voraus. Diese Einschränkung ist richtlinienwidrig und beeinträchtigt die unionsrechtlich gebotene Effektivität der Durchsetzung des Diskriminierungsverbotes beziehungsweise des Diskriminierungsschutzes. Disziplinarmaßnahmen sind keine Sanktionen strafrechtlicher Art,179 sondern Sanktionen, die denen des Zivil- beziehungsweise Arbeitsrechts entsprechen. Jedenfalls gilt dies im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK180 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 3 EUV. Art. 48 Abs. 1 GRCh, Art. 6 Abs. 2 EMRK sind deshalb nicht einschlägig.
175 BAG, Urt. v. 23.1.2014, 8 AZR 118/13, Rn. 13, 20 ff.; OLG Celle, Urt. v. 13.2.2014, 13 U 37/13, AGG-ES
B. II.1 § 15 AGG Nr. 50a; Deinert (Fn. 144), § 15 AGG Rn. 100.
176 Vgl. BVerwG, Urt. v. 14.6.2018, 2 WD 15.17, Rn. 24; zur Einordnung als Verstoß gegen die sich aus den
§§ 33, 34 Satz 3 BeamtStG ergebenden Pflichten VG SchlH, Urt. v. 14.3.2019, 17 A 2/17, Rn. 154.
177 BT-Drs. 16/1780, S. 54. 178 § 45 BeamtStG, § 78 BBG, gegebenenfalls in Verbindung mit § 71 DRiG beziehungsweise § 46 DRiG. 179 Vgl. zur mangelnden Geltung von Art. 103 Abs. 3 GG BVerfG, Beschl. v. 2.5.1967, 2 BvR 391/64 u. a. –
Wehrdisziplin.
180 Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer (Hrsg.), EMRK,
4. Aufl. 2017, Art. 6 EMRK Rn. 11, 26, 211, jeweils m. w. N.; Sinner, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 4 ZP VII Rn. 11. Torsten von Roetteken
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VIII. Rechtfertigung von Diskriminierungen 1. Berufliche Anforderungen (§ 8 Abs. 1 AGG) 113
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Die Rechtfertigung einer unmittelbaren Diskriminierung ist für den Bereich Beruf und Beschäftigung hinsichtlich aller in § 1 AGG genannten Merkmale in § 8 Abs. 1 AGG geregelt. Danach ist eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt, wenn ein in § 1 AGG genannter Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt. Das widerspricht Art. 4 RL 2000/43/EG, Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG und Art. 14 Abs. 2 RL 2006/54/EG. Danach können nur tätigkeitsbezogene Anforderungen eine Ungleichbehandlung rechtfertigen. Derartige Anforderungen entbehren dann der in § 3 Abs. 2 AGG vorausgesetzten scheinbaren Neutralität, wenn sie im Zusammenhang mit einem in § 1 AGG genannten Diskriminierungsgrund stehen181 beziehungsweise geschlechtsbezogen182 sind. Eine unmittelbare Diskriminierung kann nicht unter Verweis auf ein bestimmtes Geschlecht, eine bestimmte ethnische Herkunft beziehungsweise deren Fehlen, eine vorliegende Behinderung etc. nach § 8 Abs. 1 AGG gerechtfertigt werden. Ausgangspunkt und Grundlage der Rechtfertigung kann nur die jeweilige berufliche Anforderung selbst sein.183 Sie unterliegt dann den verschärften Anforderungen des § 8 Abs. 1 AGG beziehungsweise der zugrunde liegenden Bestimmungen in den verschiedenen Richtlinien, wenn die berufliche Anforderung im Zusammenhang mit einem Diskriminierungsgrund steht. Eine Ausnahme davon besteht für die Diskriminierungsgründe der Religion oder Weltanschauung, da Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 RL 2000/78/EG nach Maßgabe der dort genannten Voraussetzungen auch eine direkte Anknüpfung an diesen Diskriminierungsgrund rechtfertigungsfähig macht. § 8 Abs. 1 AGG kann allenfalls in richtlinienkonformer Auslegung eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG rechtfertigen. Das BAG versteht § 8 Abs. 1 AGG trotz seines Wortlauts dahin, dass nur die berufliche Anforderung selbst den Grund für die Rechtfertigung einer unmittelbaren Diskriminierung darstellen kann.184 Diese Auslegung kann nur dann richtlinienkonform sein, wenn dadurch die Rechtfertigungsmöglichkeiten eines Arbeitgebers/Dienstherrn über den Wortlaut des § 8 Abs. 1 AGG als eingeschränkt angesehen werden. Umgekehrt stellt sich jedoch die Frage, ob damit nicht zulasten der benachteiligten Personen eine gesetzlich nicht zugelassene Erweiterung der Rechtfertigungsmöglichkeiten erfolgt. Bei dieser Sichtweise würde dem Arbeitgeber beziehungsweise Dienstherrn die 181 Art. 4 RL 2000/43/EG, Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG. 182 Art. 14 Abs. 2 RL 2006/54/EG. 183 EuGH, Urt. v. 12.1.2010, Rs. C-229/08, Wolf, Rn. 35 f.; EuGH, Urt. v. 13.9.2011, Rs. C-447/09, Prigge
u. a., Rn. 65 f.; EuGH, Urt. v. 15.11.2016, Rs. C-258/15, Salaberria Sorondo, Rn. 33.
184 BAG, Urt. v. 11.8.2016, 8 AZR 4/15, Rn. 101; BAG, Urt. v. 19.5.2016, 8 AZR 470/14, Rn. 78; BAG,
Urt. v. 22.5.2014, 8 AZR 662/13, Rn. 34; zustimmend Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 22. Aufl. 2022, § 8 AGG Rn. 1. Torsten von Roetteken
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Ermächtigung fehlen, sein unmittelbar diskriminierendes Verhalten zu rechtfertigen. Eine solche Ermächtigung ist erforderlich, weil ohne sie das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung in seiner strikten Form zu beachten wäre. Das Unionsrecht begründet hinsichtlich der Möglichkeit einer Rechtfertigung lediglich eine Ermächtigung an die Mitgliedstaaten, schafft jedoch für den einzelnen Arbeitgeber beziehungsweise Dienstherrn keine Rechte, auf die er sich ohne Umsetzung des Sekundärrechts ins nationale Recht berufen kann. Das unterscheidet die Regelungen zur Rechtfertigung von den Diskriminierungsverboten, die aufgrund ihrer primärrechtlichen Grundlage auch ohne ausreichende Umsetzung im nationalen Recht beachtet werden müssen. Die richtlinienkonforme Auslegung von § 8 Abs. 1 AGG durch das BAG geht zulasten 118 der diskriminierungsrechtlich geschützten Personen und verkennt, dass es Aufgabe des Gesetzgebers und nicht der Gerichte ist, die richtlinienkonforme Zulassung von Durchbrechungen des Diskriminierungsverbotes vorzunehmen. 2. Sonderregelungen für die Merkmale Religion und Weltanschauung
Für unmittelbare Benachteiligungen wegen der Religion oder Weltanschauung begründet 119 § 9 Abs. 1 AGG die Berechtigung, dass dieser Grund selbst die Unterscheidung rechtfertigt. Die im deutschen Recht insoweit genannten Voraussetzungen müssen jedoch im Hinblick auf die engeren Bedingungen des Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 RL 2000/78/EG einschränkend dahin ausgelegt werden, dass nur die im Hinblick auf die jeweilige konkrete berufliche Tätigkeit angemessenen und insoweit auch notwendigen Anforderungen hinsichtlich der Religion oder Weltanschauung zulässig sind, und das von der Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaft diesbezüglich bekundete Selbstverständnis allein nicht den Ausschlag geben kann.185 In dieser Auslegung stellt sich Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 RL 2000/78/EG nur als Sonderfall von Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG dar, indem der notwendige Zusammenhang der beruflichen Anforderung mit der Religion beziehungsweise Weltanschauung näher definiert wird. Bestätigt wird dies durch die ebenfalls auf die beruflichen Anforderungen ausgerichtete Auslegung von Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2000/78/EG durch den EuGH186 unter Zurückweisung der nahezu grenzenlosen Berechtigung, durch die Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaft Art und Umfang der beruflichen Anforderungen autonom und gerichtlicher Kontrolle entzogen festzulegen. Der ausufernden Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 137 Abs. 3 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG ist damit in Teilen die Grundlage entzogen worden, was auch zu einer Stärkung der sich aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ergebenden Benachteiligungsverbote führt. § 9 Abs. 2 AGG wird vom BAG einschränkend und richtlinienkonform ausgelegt.187 Für 120 § 9 Abs. 1 AGG hält das BAG eine unionsrechtskonforme Auslegung für ausgeschlossen 185 EuGH, Urt. v. 17.4.2017, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 59, 69; EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-58/17,
IR, Rn. 51 ff.; die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung bejahend Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 22. Aufl. 2022, § 9 AGG Rn. 3 m. w. N. auch zur Gegenauffassung. 186 EuGH, Urt. v. 11.9.2018, Rs. C-58/17, IR, Rn. 61. 187 BAG, Urt. v. 20.2.2019, 2 AZR 746/14, Rn. 17 ff. Torsten von Roetteken
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§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext
und wendet die Regelung aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts nicht an.188 Der entsprechende Rechtfertigungsgrund entfällt damit ersatzlos. 3. Sonderregelungen für das Alter 121
Unmittelbare Diskriminierungen wegen des Alters können unabhängig von § 8 Abs. 1 AGG nach Maßgabe des § 10 AGG gerechtfertigt werden, der den durch Art. 6 RL 2000/78/EG eröffneten Spielraum nicht überschreitet. Die Rechtsprechung des EuGH verfährt insoweit großzügig und nimmt dem Verbot der Altersdiskriminierung den für die anderen Diskriminierungsgründe geltenden stringenten Charakter. Das gilt vor allem für die Zulassung von Altersgrenzen zur automatischen Beendigung von Beschäftigungsverhältnissen unabhängig von der Höhe von Ansprüchen auf Altersbezüge.189 Bei der Anerkennung von Höchstaltersgrenzen für eine Einstellung in das Beamtenverhältnis verfährt die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte sehr großzügig.190 Große praktische Bedeutung hat daneben § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG für den Ausschluss lebensälterer Beschäftigter von Sozialplanleistungen. § 10 AGG führt dazu, dass der Diskriminierungsschutz für das Merkmal Alter im Verhältnis zu den anderen in § 1 AGG genannten Gründen zu Recht als lediglich zweitklassig eingestuft wird.191 4. Ausschluss von Diskriminierungen aufgrund von Schutzvorschriften (§ 8 Abs. 2 AGG)
§ 8 Abs. 2 AGG stellt klar, dass sich aus der Beachtung der für einzelne Beschäftigtengruppen erlassenen besonderen Schutzvorschriften keine Berechtigung ergibt, in Bezug auf den jeweils betroffenen Diskriminierungsgrund eine unmittelbare Diskriminierung zu rechtfertigen. § 8 Abs. 2 AGG bezieht sich zwar seinem Wortlaut nach nur auf die Vereinbarung eines geringeren Entgelts, ist jedoch als Ausdruck eines entsprechenden allgemeinen Rechtsgrundsatzes zu verstehen. Nach § 2 Abs. 3 Satz 2 AGG werden die öffentlich-rechtlichen Schutzvorschriften für bestimmte Personengruppen durch das AGG nicht berührt. 123 Die deutsche Rechtsprechung hat sich mit der Anerkennung dieses Grundsatzes zunächst schwergetan. Erst die Intervention des EuGH hat dazu geführt, die zum Beispiel für Schwerbehinderte vorgesehenen spezifischen Vergünstigungen bei der Altersrente aus der Sozialversicherung nicht zum Anlass zu nehmen, den entsprechenden Personenkreis im Hinblick darauf bei der Ausgestaltung von Sozialplänen trotz der Möglichkeiten eines früheren Rentenbezugs ebenso zu behandeln wie sonstige Beschäftigte.192 122
188 BAG, Urt. v. 25.10.2018, 8 AZR 562/16, Rn. 39 ff.; zustimmend Junker, Gleichbehandlung und kirchli-
ches Arbeitsrecht, NJW 2018, S. 1850 (1852).
189 EuGH, Urt. v. 5.7.2012, C-141/11, Hörnfeldt, Rn. 47. 190 BVerwG, Urt. v. 11.10.2016, 2 C 11.15, Rn. 20 ff.; zur Gegenauffassung VG Frankfurt a. M., Beschl. v.
21.4.2008, 9 E 3856/07; v. Roetteken, Altersdiskriminierung bei Übernahme ins Probebeamtenverhältnis, jurisPR-ArbR 26/2007, Anm. 3; ders., AGG, Stand: Februar 2022, § 10 Rn. 401 ff.; Kühling/Bertelsmann, Höchstaltersgrenzen bei der Einstellung von Beamten, NVwZ 2010, S. 87 (93); wohl auch EuGH, Urt. v. 3.6.2021, Rs. C-914/19, Ministero della Giustizia (Notaires), Rn. 40 ff. 191 Schmidt/Senne (Fn. 17), S. 89 m. w. N. 192 EuGH, Urt. v. 19.8.2018, Rs. C-312/17, Bedi, Rn. 55 ff.; EuGH, Urt. v. 6.12.2012, Rs. C-152/11, Odar, Torsten von Roetteken
B. Beschäftigtenschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
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Daneben fungiert § 8 Abs. 2 AGG nach der Rechtsprechung als Anspruchsgrundlage 124 für Ansprüche auf Zahlung des Entgelts in der Höhe, wie sie zur Gewährleistung einer diskriminierungsfreien Entgeltgestaltung geboten ist.193 Dem gleichen Zweck soll § 7 EntgTranspG dienen, soweit das Gebot der Gewährung gleichen Entgelts für Frauen und Männer betroffen ist.194 Nach anderer Auffassung setzt § 8 Abs. 2 AGG den Anspruch auf ein diskriminierungsfreies Entgelt voraus.195 Richtigerweise ergibt sich dieser Anspruch unmittelbar aus § 7 Abs. 1 AGG. Für Ungleichbehandlungen im Zusammenhang mit dem Geschlecht folgt der Anspruch daneben aus § 7 EntgTranspG, gegebenenfalls in Verbindung mit § 3 Abs. 1, 2 EntgTranspG.196 IX. Besondere Pflichten 1. Organisationspflichten
Die §§ 11 f. AGG normieren spezielle Organisationspflichten. Nach der amtlichen Über- 125 schrift des Unterabschnitts 2 in Abschnitt 2 des AGG bestehen diese Pflichten – jedenfalls – für Arbeitgeber/innen im Sinne des § 6 Abs. 2 AGG und nach § 24 Nr. 1, 2 AGG – jedenfalls auch – für Dienstherren. Gleichwohl nimmt lediglich § 12 AGG einen Bezug auf die Pflichtenstellung des Arbeitgebers vor. § 11 AGG verzichtet dagegen ebenso wie § 7 Abs. 1 AGG auf die Angabe der zur Einhaltung des Benachteiligungsverbotes verpflichteten Personen. Die §§ 11 f. AGG haben keinen unmittelbaren Bezug zu Vorschriften des sekundären 126 Unionsrechts. Die dort geregelten Diskriminierungstatbestände beziehen sich allerdings ebenso wie § 3 Abs. 2 AGG auch auf Benachteiligungen durch Verfahren.197 2. Verbot diskriminierender Ausschreibungen von Arbeitsplätzen
§ 11 AGG verpflichtet dazu, Arbeitsplätze nicht unter Verstoß gegen § 7 Abs. 1 AGG aus- 127 zuschreiben. Für den Bereich der öffentlichen Dienste im Bund und in den Ländern gelten vielfach Regelungen, die zur Gestaltung von Ausschreibungen zwecks Gewährleistung der Gleichbehandlung ohne Rücksicht auf das Geschlecht präzisere und insoweit über § 11 AGG hinausgehende Vorgaben aufstellen.198 Das ist nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AGG zulässig. Rn. 67 ff.; dem nun folgend BAG, Urt. v. 17.11.2015, 1 AZR 938/13, Rn. 21 ff.; dazu Düwell, Benachteiligung wegen Behinderung bei Sozialplanabfindung, jurisPR-ArbR 18/2016, Anm. 1. 193 BAG, Urt. v. 11.12.2007, 3 AZR 249/06, Rn. 45; LAG RhlPf, Urt. v. 14.8.2014, 5 Sa 509/13; BT-Drs. 16/1780, S. 35; zustimmend zum Beispiel Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, AGG, 9. Aufl. 2021, § 8 AGG Rn. 44; ebenso schon zu § 612 Abs. 3 BGB a. F. BAG, Urt. v. 10.12.2008, 10 AZR 35/08, Rn. 9. 194 Zimmer, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 7 EntgTranspG Rn. 1; BT-Drs. 18/11133, S. 56; vom Vorrang des § 7 EntgTranspG vor § 8 Abs. 2 AGG ausgehend Thüsing (Fn. 194), § 8 AGG Rn. 48. 195 Schlachter (Fn. 185), § 8 AGG Rn. 9. 196 Schlachter (Fn. 185), § 8 AGG Rn. 9. 197 Siehe v. Roetteken (Fn. 101), S. 340. 198 § 6 Abs. 1, 3 BGleiG, Art. 7 BayGlG, § 5 LGG Bln, § 7 BraLGG, § 7 BremLGG, § 7 HmbGleiG, § 9 HGlG, § 7 LGG M-V, § 11 NGG, § 8 LGG NW, § 7 LGG RhlPf, § 10 SaarlLGG, § 6 SächsFFG, § 3 FrFG LSA, § 6 ThürGleichG. Torsten von Roetteken
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§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext
Aufgrund der umfassend definierten Zielsetzung in § 1 AGG kommt eine Beschränkung des in § 11 AGG enthaltenen Verbots auf Arbeitgeber nicht in Betracht, obwohl die amtliche Überschrift des Unterabschnitts 2 in Abschnitt 2 des AGG eine solche Auslegung nahezulegen scheint. Eine daran orientierte Auslegung würde auch dem unionsrechtlichen Gebot zuwiderlaufen, einen sachlich umfassenden Diskriminierungsschutz in allen Bereichen von Beruf und Erwerbstätigkeit sicherzustellen.199 129 Für die Beachtung von § 7 Abs. 1 AGG bei Ausschreibungen verfährt die Rechtsprechung großzügig und akzeptiert Ausschreibungen unter Verwendung der männlichen Berufsbezeichnung, wenn ihr in Klammern der Zusatz „m/w“ beigefügt ist.200 Diese Auslegung ist mit den Anforderungen einer in jeder Hinsicht diskriminierungsfreien Ausschreibung unvereinbar.201 Die Rechtsprechung verlangt zwar, bezogen auf das Merkmal Geschlecht, eine gleichmäßige Ansprache von Frauen und Männern, setzt diesen Anspruch jedoch nicht folgerichtig um, weil die Verwendung des generischen Maskulinums als Ausgangspunkt akzeptiert wird, sodass die Klammerzusätze lediglich eine Art Garnierung darstellen und verschleiern, dass derartige Ausschreibungsgestaltungen eher Männer als Frauen oder sonstige Personen nichtmännlichen Geschlechts ansprechen. Diese Kritik gilt auch für die Vorschläge, dem generischen Maskulinum der jeweiligen Berufsbezeichnung den Klammerzusatz „m/w/i/t“202, „m/w/x“203 oder „m/w/i“204 anzufügen. Das Problem einer gleichmäßigen Ansprache unabhängig vom Geschlecht kann nur durch die Verwendung von Arbeitsplatzbeschreibungen unter Angabe der dort auszuübenden Tätigkeiten verbunden mit der Angabe der dafür als nötig oder hilfreich angesehenen Kompetenzen gelöst werden.205 130 Verstöße gegen § 11 AGG führen nach herrschender Meinung für sich genommen nicht zu Ersatzansprüchen nach § 15 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AGG.206 Mit § 11 AGG unvereinbare Ausschreibungen stellen danach nur ein Indiz im Sinne des § 22 AGG für eine entsprechende Benachteiligung in der Entscheidung über die Besetzung des ausgeschriebenen Arbeitsplatzes dar. Diese Auffassung übersieht, dass § 3 Abs. 1, 2 AGG schon Be128
199 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.7.2008, Rs. C-54/07, Feryn, Rn. 23 ff. 200 BAG, Urt. v. 23.11.2017, 8 AZR 604/16, Rn. 29; noch großzügiger zur Zulässigkeit der Verwendung des
sogenannten generischen Maskulinums und deshalb völlig verfehlt BGH, Urt. v. 13.3.2018, VI ZR 143/17, Rn. 35 ff. 201 Siehe v. Roetteken, Das „dritte“ Geschlecht, GiP 3/2019, S. 23 (28 f.); ders. (Fn. 14), § 11 Rn. 145 ff. 202 Körlings, Das dritte Geschlecht und die diskriminierungsfreie Einstellung, NZA 2018, S. 282 (284). 203 Jacobs, Aktuelle Entwicklungen im deutschen und europäischen Antidiskriminierungsrecht, RdA 2018, S. 263 (269). 204 Bettinghausen, Die geschlechtsneutrale Stellenausschreibung unter Berücksichtigung des dritten Geschlechts, BB 2018, S. 372 (375). 205 Siehe v. Roetteken (Fn. 202), S. 23 (28 f.). 206 Vgl. aus der Rechtsprechung BAG, Urt. v. 11.8.2016, 8 AZR 406/14, Rn. 30; BayVGH, Beschl. v. 30.4.2009, 7 CE 09.661, 7 CE 09.662, Rn. 34; LAG BW, Urt. v. 20.3.2009, 9 Sa 5/09, Rn. 55; LAG Düsseldorf, Urt. v. 12.11.2008, 12 Sa 1102/08; LAG RhlPf, Urt. v. 20.3.2008, 2 Sa 51/08; VG Mainz, Urt. v. 21.1.2009, 7 K 484/08; zustimmend Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 22. Aufl. 2022, § 11 AGG Rn. 3; Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, AGG, 9. Aufl. 2021, § 11 AGG Rn. 12; Serr, in: Serr/Rieble (Hrsg.), Staudinger BGB, Buch 2, 18. Aufl. 2020, § 11 AGG Rn. 15; Buschmann, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 11 AGG Rn. 46. Torsten von Roetteken
B. Beschäftigtenschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
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nachteiligungen durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung erfasst.207 Über § 11 AGG wird klargestellt, dass § 7 Abs. 1 AGG als umfassendes Verbot der Benachteiligung bereits die Vorbereitung einer Arbeitsplatzbesetzung erfasst.208 In richtlinienkonformer Auslegung kann jede Person, die sich im Hinblick auf eine diskriminierende Ausschreibung beworben hat, zugleich als individualisierbares Opfer einer Diskriminierung209 und damit als anspruchsberechtigt aus § 15 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AGG angesehen werden. Art. 18 Satz 2 RL 2006/54/EG lässt für den Erwerb des Anspruchs auf Schadensersatz entsprechend Art. 18 Satz 1 RL 2006/54/EG eine Bewerbung genügen. 3. Besondere Pflichten des Arbeitgebers (§ 12 AGG)
§ 12 AGG verpflichtet die Arbeitgeber/innen (§ 6 Abs. 2 AGG) und, in Verbindung mit § 24 131 Nr. 1, 2 AGG, auch die Dienstherren zu den in § 12 AGG näher bezeichneten Maßnahmen und Schutzvorkehrungen. Bedeutsam ist hier insbesondere, dass § 12 Abs. 3 AGG den/ die Arbeitgeber/in im Falle einer Belästigung oder sexuellen Belästigung durch eine/n Beschäftigten zu den im Einzelfall geeigneten, erforderlichen und angemessenen Maßnahmen zur Unterbindung der Benachteiligung verpflichtet. Beispielhaft sind als Maßnahmen genannt Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung. An der für die Opfer einer Belästigung oder sexuellen Belästigung in der Regel enttäu- 132 schenden Sanktionierung solcher besonders entwürdigender Diskriminierungen haben weder § 12 Abs. 3 AGG noch die seit Erlass des AGG ergangene Rechtsprechung etwas geändert, da in vielen Fällen eine Abmahnung als ausreichend und selbst in diesen Fällen als Vorstufe einer Kündigung für erforderlich gehalten wird.210 Dabei bleibt stets unberücksichtigt, dass die Opfer einer solchen Diskriminierung sich weder ihre Kollegen beziehungsweise Kolleginnen aussuchen können noch zu deren Kündigung berechtigt sind, also für die Sanktionierung dieser Diskriminierung entsprechend den unionsrechtlichen Vorgaben auf die entsprechenden Reaktionen des Arbeitgebers beziehungsweise der Arbeitgeberin angewiesen sind. Zudem bleibt unberücksichtigt, welchen Eindruck das Opfer einer solchen oft in schwerwiegender Weise als erniedrigend empfundenen Behandlung gewinnen muss, wenn es auch künftig mit der Anwesenheit des Täters beziehungsweise der Täterin am Arbeitsplatz rechnen muss, das heißt entsprechend konfrontiert ist. Das Opfer kann hier nur den Eindruck gewinnen, dass die Offenlegung einer entsprechenden Benachteiligung letztlich sinnlos ist, jedenfalls in keiner Weise zu einer angemessenen Genugtuung führt. Die Rechtsprechung klammert aus der Beurteilung der Sanktionen regelmäßig die Perspektive und Erwartungen des Opfers der Belästigung beziehungsweise sexuellen Belästigung vollständig aus und nimmt nicht zur Kenntnis, dass es sich um ein 207 Siehe v. Roetteken (Fn. 101), S. 340. 208 Zur Geltung des Diskriminierungsverbotes im Vorfeld EuGH, Urt. v. 10.7.2008, Rs. C-54/07, Feryn,
Rn. 23 ff.
209 Art. 15 Satz 2 RL 2000/43/EG, Art. 17 Satz 2 RL 2000/78/EG, Art. 25 Satz 2 RL 2006/54/EG. 210 Vgl. LAG Hamm, Urt. v. 3.3.2016, 15 Sa 1669/15; BAG, Urt. v. 20.11.2014, 2 AZR 651/13; LAG BW,
Urt. v. 15.1.2020, 4 Sa 19/19, Rn. 46 zu einer rassistischen Beleidigung; dieser Entscheidung zu Unrecht zustimmend Fischer (Fn. 168). Torsten von Roetteken
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Dreiecksverhältnis handelt, bei dem die Erwartungen des Opfers gleichberechtigt neben die des Arbeitgebers beziehungsweise der Arbeitgeberin treten. X. Rechte der Beschäftigten 1. Beschwerdestelle (§ 13 AGG)
§ 13 Abs. 1 AGG verpflichtet den/die Arbeitgeber/in zur Bekanntgabe derjenigen Stelle, die Beschwerden entgegenzunehmen hat, die eine Diskriminierung rügen. Zudem steht den beschwerdeführenden Beschäftigten ein Anspruch auf Bescheidung ihrer Beschwerde zu. Die in den §§ 84 ff. Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) geregelten Verfahren bleiben davon unberührt (§ 13 Abs. 2 AGG). 134 § 13 Abs. 1 AGG geht nicht über den Wert eines teilweise auf den Bereich des Privatrechts ausgedehnten Petitionsrechts hinaus. Die Vorschrift kann für Arbeitgeber/innen allenfalls Anlass sein, ein intelligentes Beschwerdemanagement einzurichten und sich so nähere Kenntnisse über interne Abläufe, Verhaltensweisen von Beschäftigten und damit womöglich zusammenhängende Diskriminierungen zu verschaffen, wenn die Verfahren dem Whistleblowing angenähert werden. Ein dahingehender Gestaltungsauftrag lässt sich § 13 Abs. 1 AGG allerdings nicht entnehmen. 133
2. Individuelles Leistungsverweigerungsrecht (§ 14 AGG)
§ 14 Satz 1 AGG begründet ein Leistungsverweigerungsrecht, wenn der/die Arbeitgeber/ in im Hinblick auf eine Belästigung oder sexuelle Belästigung entweder keine oder eine offensichtlich ungeeignete Maßnahme zur Unterbindung dieser Benachteiligung trifft. Die Voraussetzung einer offensichtlich ungeeigneten Unterbindungsmaßnahme wird aufgrund der zurückhaltenden Rechtsprechung zu den Möglichkeiten einer Ahndung von derartigen Diskriminierungen nur sehr selten erfüllt sein. Dementsprechend hat die Regelung in der Praxis bisher keine Bedeutung gewonnen. Zudem ist die Einstellung der Arbeit ohne Entgeltverlust nur zulässig, wenn dies zum eigenen Schutz erforderlich ist. § 14 Satz 2 AGG stellt klar, dass die Ausübung des allgemeinen Zurückbehaltungsrechts 136 entsprechend § 273 BGB unberührt bleibt und der Anwendungsbereich dieser Vorschrift durch § 14 Satz 1 AGG nicht verkürzt wird. 135
3. Maßregelungsverbot (§ 16 AGG) 137
§ 16 Abs. 1 AGG begründet nach seiner Überschrift ein Maßregelungsverbot hinsichtlich derjenigen, die eine Benachteiligung im Sinne des § 7 Abs. 1 AGG geltend machen oder Betroffene bei der Geltendmachung unterstützen. Gleiches gilt für diejenigen, die sich weigern, eine Anweisung zu befolgen, die gegen die Regelungen in „diesem Abschnitt“ des AGG, d. h. Abschnitt 2 verstoßen. Das bezieht sich auf die Nichtumsetzung von Anweisungen zu einer Diskriminierung, die nach § 3 Abs. 5 AGG ohne Rücksicht auf ihre tatsächliche Ausführung bereits eine Diskriminierung darstellen und nach § 7 Abs. 1 AGG in Verbindung mit § 134 BGB nichtig sind. Das ist nicht nur im Rahmen von § 106 Satz 1, 2 Torsten von Roetteken
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Gewerbeordnung (GewO) bedeutsam, sondern beschränkt insbesondere die Folgepflicht der § 35 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG, § 62 Abs. 1 Satz 2 BBG, ohne dass es einer Remonstration nach § 36 Abs. 2 BeamtStG, § 63 Abs. 2 BBG bedarf. Zwar lässt § 24 Nr. 1, 2 AGG die Regelungen in § 3 Abs. 5, § 7 Abs. 1, § 16 Abs. 1 AGG nur entsprechend gelten. Das führt jedoch nicht dazu, der Erfüllung der dienstrechtlichen Folgepflicht den Vorrang zu geben. Dem steht schon entgegen, dass § 13 Abs. 1 Satz 1 SoldGG eine § 16 Abs. 1 Satz 1 AGG entsprechende Regelung enthält, sodass die dienstrechtliche Folgepflicht durch § 16 Abs. 1 Satz 1 AGG ebenso zurückgedrängt wird wie die Gehorsamspflicht der Soldatinnen und Soldaten. § 16 Abs. 1 Satz 1 AGG setzt mit der Formulierung als Benachteiligungsverbot den 138 Auftrag der Art. 9 RL 2000/43/EG, Art. 11 RL 2000/78/EG, Art. 24 RL 2006/54/EG um, Personen vor Benachteiligungen zu schützen, die sie als Reaktion auf eine Beschwerde oder die Einleitung eines Verfahrens zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes erfahren. Die unionsrechtlichen Bestimmungen enthalten nach ihren amtlichen Überschriften ein Viktimisierungsverbot, gestalten es jedoch als Benachteiligungsverbot entsprechend den Tatbeständen des Diskriminierungsverbotes aus. Von diesen Verboten abweichend setzt das Benachteiligungsverbot in seiner Ausgestaltung als Viktimisierungsverbot keinen Vergleich mit anderen Beschäftigten voraus, noch bedarf es insoweit einer Feststellung, ob die benachteiligte Person sich in einer vergleichbaren Lage mit anderen Personen befindet. Jede Schlechterstellung im Verhältnis zu dem zuvor erreichten Status in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht ist verboten, wenn dem entsprechenden Verhalten des Arbeitgebers beziehungsweise Dienstherrn ein Bezug auf die Geltendmachung einer Diskriminierung zugrunde liegt.211 Der Wortlaut von § 16 Abs. 1 Satz 1 AGG ist folgerichtig als Verbot entsprechender Be- 139 nachteiligungen formuliert. Gleichwohl soll § 15 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AGG für entsprechende Benachteiligungen nach herrschender Meinung nicht gelten,212 obwohl in § 15 Abs. 1 Satz 1 AGG ganz allgemein von einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot die Rede ist, ohne dass dieses Verbot allein auf § 7 Abs. 1 AGG beschränkt ist. Die Sanktionsgebote der Art. 15 Satz 1 RL 2004/43/EG, Art. 17 Satz 1 RL 2000/78/EG, Art. 25 Satz 1 RL 2006/54/EG beziehen sich auf die mangelnde Anwendung aller Bestimmungen der genannten Richtlinien. Daher müssen § 15 Abs. 1, 2 AGG auch zur Anwendung gelangen, wenn gegen das in § 16 AGG normierte Benachteiligungsverbot verstoßen wird. § 16 Abs. 2 Satz 1 AGG verbietet es, die Duldung oder Zurückweisung benachteiligen- 140 der Verhaltensweisen durch betroffene Beschäftigte als Grundlage für eine die jeweilige Person betreffende Entscheidung heranzuziehen. Das schließt nicht nur nachteilige Be211 Siehe v. Roetteken, AGG, Stand: Februar 2020, § 16 Rn. 126 m. w. N.; vgl. zu § 612a BGB BAG, Urt. v.
15.5.2005, 9 AZR 116/04.
212 BAG, Urt. v. 18.5.2017, 8 AZR 74/16, Rn. 85; Deinert, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022,
§ 16 AGG Rn. 43; Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, AGG, 7. Aufl. 2015 (Vorschrift in nachfolgenden Auflagen nicht mehr kommentiert), § 16 AGG Rn. 16; ders., Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, 2. Aufl. 2013, Rn. 617; Forst, in: Hey/ders. (Hrsg.), AGG, 2. Aufl. 2015, § 15 Rn. 71, § 16 Rn. 57; Serr, in: ders./Rieble (Hrsg.), Staudinger BGB, Buch 2, 18. Aufl. 2020, § 16 AGG Rn. 13; dagegen v. Roetteken, AGG, Stand: Februar 2022, § 15 Rn. 97 f. Torsten von Roetteken
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§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext
merkungen in Zeugnissen oder Beurteilungen aus, sondern verbietet es auch, die Nichtausführung einer Anweisung zu einer Diskriminierung (§ 3 Abs. 5 AGG) hinsichtlich der sich entsprechend verhaltenden Person nachteilig zu berücksichtigen, oder diese gar zu sanktionieren oder zu disziplinieren. § 16 Abs. 2 Satz 1 AGG sichert insoweit ab, was sich hinsichtlich der Nichtigkeit entsprechender Anweisungen aus § 7 Abs. 1 AGG in Verbindung mit § 134 BGB ergibt, und beschränkt insoweit die Pflichten der Beschäftigten, derartige Weisungen zu befolgen. 4. Ersatz materieller und immaterieller Schäden (§ 15 Abs. 1–3 AGG)
Für Verstöße gegen das Benachteiligungsverbot (§ 7 Abs. 1, § 16 AGG) enthält § 15 AGG eigene Regelungen zum Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens. § 15 Abs. 1, 2 AGG trennt zwischen den beiden Schadensformen, die nach § 611a BGB in seiner bis 2006 geltenden Fassung noch unter dem Begriff der Entschädigung zusammengefasst worden waren.213 142 Nach Art. 18 Satz 1 RL 2006/54/EG muss das Recht der Mitgliedstaaten vorsehen, dass einer Person der ihr durch eine Diskriminierung wegen des Geschlechts entstandene Schaden tatsächlich und wirksam ausgeglichen oder ersetzt wird.214 Insoweit besteht keine Wahlmöglichkeit, diese Art der Sanktionierung durch andere Formen der Ahndung zu ersetzen. Sie können lediglich neben die Schadensersatz- beziehungsweise Entschädigungspflicht treten.215 Wählen die Mitgliedstaaten im Hinblick auf Art. 15 RL 2000/43/ EG, Art. 17 RL 2000/78/EG eine zivilrechtliche Form der Sanktionierung von Diskriminierungen, müssen diese Regelungen einen vollständigen Ausgleich der erlittenen Schäden vorsehen. Das erfasst sowohl die materiellen wie die immateriellen Schäden.216 143 Art. 18 RL 2006/54/EG erfasst sowohl Vermögens- wie auch immaterielle Schäden.217 Deutlich wird dies daran, dass in Satz 1 von Schäden die Rede ist, in Satz 2 von Ausgleich oder Entschädigung. Die Richtlinie zielt auf einen umfassenden Ausgleich sämtlicher Schäden. Das entspricht dem Begriff des Schadens im Unionsrecht, der beide Varianten des Schadens umfasst, wenn nicht im Einzelfall Abweichendes geregelt ist.218 Für eine Aufteilung der den Ersatz aller materiellen und immateriellen Schäden regelnden Bestimmungen entsprechend dem Konzept des § 15 Abs. 1, 2 AGG besteht daher jedenfalls unionsrechtlich kein Anlass. 144 Für die in § 15 Abs. 1 Satz 1 AGG getroffene Regelung zum Ersatz des – materiellen – Vermögensschadens ist zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des EuGH auch die Beeinträchtigung von Chancen auf einen Zugang zur Beschäftigung oder zum beruf141
213 214 215 216 217 218
BT-Drs. 16/1780, S. 38. Deinert (Fn. 144), § 15 AGG Rn. 6; Mohr (Fn. 16), Art. 18 RL 2006/54/EG Rn. 1. Siehe v. Roetteken (Fn. 101), S. 337. Siehe v. Roetteken (Fn. 101), S. 338 m. w. N. Deinert (Fn. 144), § 15 AGG Rn. 6; Mohr (Fn. 16), Art. 18 RL 2006/54/EG Rn. 1 ff. Siehe v. Roetteken (Fn. 101), S. 339 f. m. w. N. Torsten von Roetteken
B. Beschäftigtenschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
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lichen Aufstieg ersatzfähig sind,219 was in der deutschen Rechtsprechung bisher entgegen den unionsrechtlichen Vorgaben nicht anerkannt ist.220 Die in § 15 Abs. 1 Satz 2 AGG vorgesehene Enthaftung des Arbeitgebers beziehungsweise Dienstherrn bei fehlendem Verschulden ist richtlinienwidrig,221 da die Sanktionierung einer Diskriminierung nicht vom Nachweis eines Verschuldens der die Diskriminierung verantwortlichen Person beziehungsweise Stelle abhängig sein darf.222 Aus den gleichen Gründen kann § 15 Abs. 3 AGG die Haftung für eine nach § 15 Abs. 2 AGG zu leistenden Entschädigung nicht ausschließen. Die absolut wirkende Begrenzung der Entschädigung auf das Dreifache des im Falle der Einstellung gewährten Monatsgehalts in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG ist mit den unionsrechtlichen Anforderungen nicht vereinbar.223 Der EuGH lässt eine derartige Regelung nur insoweit zu, wie damit eine Vermutung dafür begründet werden soll, dem/r Betroffenen sei kein höherer Schaden entstanden.224 Zudem ist fraglich, ob für immaterielle Schäden der Umfang des zu ersetzenden Schadens nach dem Einstiegsgehalt bemessen werden kann, da in diesem Fall die Diskriminierung einer sich als Reinigungskraft bewerbenden Person einen deutlich geringeren – immateriellen – Schaden verursachen würde, als die Diskriminierung einer Person, die sich für eine Anstellung als Geschäftsführer/in bewirbt. Derartige Aspekte sind beim Ersatz des Vermögensschadens zu berücksichtigen, können jedoch für die Bemessung des abzugeltenden Unrechtsgehalts einer lediglich immateriellen Schädigung keine Rolle spielen. Jedem Diskriminierungsopfer steht schon aufgrund des allgemeinen Gleichheitssatzes und des absolut gleichwertigen Persönlichkeitsrechts für das gleiche Unrecht die gleiche Entschädigung zu. Die Rechtsprechung hat diese Problematik jedoch noch nicht beschäftigt, sondern sie ignoriert sie. § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG kann nach seinem Wortlaut nicht auf die Bemessung einer Entschädigung bei einer Diskriminierung im Zusammenhang mit dem beruflichen Aufstieg übertragen werden.225
219 EuGH, Urt. v. 21.2.2008, Rs. C-348/06 P, Girardot, Rn. 55; v. Roetteken (Fn. 101), S. 341 m. w. N. 220 Für die Ersatzfähigkeit einer Chancenbeeinträchtigung Wagner, Prävention und Verhaltenssteuerung
durch Privatrecht – Anmaßung oder legitime Aufgabe?, AcP 2006, S. 352 (402 ff.); Wagner/Potsch, Haftung für Diskriminierungsschäden nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, JZ 2006, S. 1085 (1095 f.); v. Roetteken (Fn. 101), S. 341. 221 Wagner/Potsch (Fn. 221), S. 1091; Thüsing (Fn. 144), § 15 AGG Rn. 39; v. Roetteken (Fn. 101), S. 344; Stoffels (Fn. 144), S. 210; v. Roetteken (Fn. 213), § 15 Rn. 272 m. w. N.; dazu neigend BAG, Urt. v. 18.5.2017, 8 AZR 74/16, Rn. 53; a. A. OVG Lüneburg, Urt. v. 25.1.2011, 5 LC 190/09; BVerwG, Urt. v. 25.7.2013, 2 C 12.11, Rn. 56 ff.; OVG Münster, Urt. v. 7.10.2019, 6 A 2170/16, Rn. 51. 222 Grundlegend EuGH, Urt. v. 8.11.1990, Rs. C-177/88, Dekker, Rn. 22, 24. 223 Siehe v. Roetteken (Fn. 213), § 15 Rn. 398 ff. 224 EuGH, Urt. v. 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draempaehl, Rn. 35. 225 LAG Berlin-Brandenburg, Urt v. 26.11.2008, 15 Sa 517/08; v. Roetteken (Fn. 213), § 15 Rn. 388 m. w. N.; a. A. und den Wortlaut verlassend BAG, Urt. v. 17.8.2010, 9 AZR 839/08, Rn. 61; OVG Hamburg, Urt. v. 27.6.2013, 1 Bf 108/12; VGH BW, Urt. v. 10.9.2013, 4 S 547/12; Bauer/Krieger/Günther (Fn. 154), § 15 AGG Rn. 36. Torsten von Roetteken
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§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext
§ 15 Abs. 2 Satz 2 AGG verleitet die Praxis, Entschädigung bereits in Anwendung von § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG in Orientierung am Bruttomonatsgehalt zu bemessen. Diese Praxis verkennt, dass § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG lediglich eine Kappungsgrenze enthält,226 im Sinne der Vermutung, dass kein höherer immaterieller Schaden entstanden ist. Methodisch korrekt ist deshalb nur ein Verfahren, das in der ersten Stufe eine von § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG unabhängige Bemessung der Entschädigung vornimmt und erst auf der zweiten Stufe die Frage aufwirft, ob der so ermittelte Betrag etwa im Hinblick auf § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG zu kürzen ist. 5. Ausschlussfrist zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen (§ 15 Abs. 4 AGG)
§ 15 Abs. 4 AGG bestimmt eine zweimonatige Ausschlussfrist zur Geltendmachung von Ansprüchen nach § 15 Abs. 1, 2 AGG. Die Regelung wird ganz überwiegend für unionrechtskonform gehalten.227 Der EuGH hat die Beurteilung der Vereinbarkeit mit den Richtlinien letztlich in das Beurteilungsermessen der nationalen Gerichte gestellt.228 151 § 15 Abs. 4 Satz 2 1. Alt. AGG muss allerdings unionsrechtskonform dahin ausgelegt werden, dass die Ausschlussfrist zwar nicht vor dem Zugang der Ablehnung einer Bewerbung beginnen kann, der Zugang der Bewerbungsablehnung jedoch nur dann geeignet ist, die Frist in Lauf zu setzen, wenn der/die Betroffene spätestens zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von der Diskriminierung hat.229 Andernfalls beginnt die Frist erst zu dem Zeitpunkt, zu dem der/die Betroffene Kenntnis von der Benachteiligung erlangt. Dafür soll es allerdings schon genügen, wenn Kenntnis von Indizien besteht, die nach § 22 eine Vermutung dafür begründen, dass die Benachteiligung aus einem in § 1 genannten Grund erfolgt ist.230 Diese Rechtsprechung stellt anstelle der vorausgesetzten positiven Kenntnis auf die Möglichkeit ab, vertretbare Mutmaßungen zum Benachteiligungsgrund anzustellen. Sie verkürzt damit in unzulässiger, unionsrechtswidriger Weise die Rechtsschutzmöglichkeiten und befreit den Arbeitgeber/Dienstherrn verfrüht vom Risiko der unionsrechtlich im Grundsatz gebotenen Sanktionierung.231 150
6. Ausschluss eines Anspruchs auf Einstellung oder Beförderung (§ 15 Abs. 5 AGG) 152
§ 15 Abs. 6 AGG schließt Ansprüche auf eine Einstellung oder einen beruflichen Aufstieg aus, wenn dafür die Diskriminierung maßgebend sein soll. Das schließt Ansprüche aus anderen Gründen nicht aus, wobei hier die Anspruchsvoraussetzungen so zu beurteilen sind, dass es auf die zunächst erfolgte oder drohende Benachteiligung nicht ankommt, 226 BAG, Urt. v. 28.5.2020, 8 AZR 170/19, Rn. 22; BAG Urt. v. 25.10.2018, 8 AZR 501/14, Rn. 110; BAG
Urt. v. 19.8.2010, 8 AZR 530/09, Rn. 66; HessLAG, Urt. v. 2.6.2015, 8 Sa 1374/14, Rn. 91; VG Frankfurt a. M., Urt. v. 13.11.2015, 9 K 2555/13.F, Rn. 33; v. Roetteken (Fn. 213), § 15 Rn. 340, 433 m. w. N. 227 BAG, Urt. v. 18.5.2017, 8 AZR 74/16, Rn. 30 ff.; BVerwG, Urt. v. 25.7.2013, 2 C 12.11, Rn. 59; a. A. v. Roetteken (Fn. 213), § 15 Rn. 580 ff., 550 ff. 228 EuGH, Urt. v. 8.7.2010, Rs. C-246/09, Bulicke, Rn. 42, 47. 229 BAG, Urt. v. 22.8.2013, 8 AZR 574/12, Rn. 21. 230 BAG, Urt. v. 15.3.2012, 8 AZR 37/11, Rn. 66. 231 Siehe v. Roetteken (Fn. 213), § 15 Rn. 513. Torsten von Roetteken
B. Beschäftigtenschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
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diese also als nicht vorhanden zu unterstellen ist. Daher kann sich zum Beispiel aus Art. 33 Abs. 2 GG ein Anspruch auf Einstellung ergeben, wenn die diskriminierte Person jedenfalls nach rechtlich nicht zu beanstandender Auffassung des öffentlichen Arbeitgebers oder Dienstherrn als am besten qualifiziert eingestuft wird, und die Stelle unverändert zur Besetzung ansteht, die Einstellung jedoch aus einem Grund unterblieben ist beziehungsweise unterbleiben soll, der mit dem Diskriminierungsverbot unvereinbar ist. 7. Verhältnis zu anderen Anspruchsgrundlagen (§ 15 Abs. 5 AGG)
§ 15 Abs. 5 AGG lässt sonstige Anspruchsgrundlagen außerhalb des AGG ausdrücklich un- 153 berührt. Das gilt insbesondere für Ansprüche aus § 280 Abs. 1, §§ 823, 826, 1004 BGB.232 Da für diese Ansprüche § 15 Abs. 4 AGG nicht gilt, will das BAG die Geltendmachung von Ansprüchen aus § 823 BGB dann § 15 Abs. 4 AGG unterwerfen, wenn ihnen der gleiche Sachverhalt wie den Ansprüchen aus § 15 Abs. 1, 2 AGG zugrunde liegt.233 Diese über den Wortlaut des § 15 Abs. 4 AGG hinausgehende Anwendung der Ausschlussfrist mag zwar systematisch gesehen folgerichtig sein, ist aber dennoch unzulässig, weil § 15 Abs. 5 AGG diese Frage – womöglich systemwidrig – anders entschieden hat. Gerichte haben nicht die Aufgabe, die Schlamperei des AGG-Gesetzgebers auszubügeln. XI. Kollektivrechtliche Regelungen (§§ 17, 18 AGG)
§ 17 AGG enthält kollektivrechtliche Regelungen, die jedoch nach § 24 AGG nur sehr ein- 154 geschränkt für Beamtinnen, Beamte und Richter/innen gelten können. § 17 Abs. 1 AGG verpflichtet die Tarifvertragsparteien, Arbeitgeber (und in Verbin- 155 dung mit § 24 AGG Dienstherren), Beschäftigte (einschließlich der in § 24 Nr. 1, 2 AGG genannten) und deren Vertretungen, das heißt Betriebs- und Personalräte, Sprecherausschüsse, Vertrauenspersonen schwerbehinderter Menschen, im Rahmen ihrer Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten an der Verwirklichung der Ziele des § 1 AGG mitzuwirken. Dieses Gebot beschränkt die Handlungsmöglichkeiten dahin, dass sie so zu nutzen sind, dass die Verwirklichung der in § 1 genannten Ziele einer Verhinderung und Beseitigung von Diskriminierungen gefördert wird. Folglich sind Verhaltensweisen, die eine Verwirklichung der Ziele nicht befördern, gesetzlich untersagt. Das hat Einfluss insbesondere auf die Ausübung der Tarifautonomie und der Spiel- 156 räume, die das BetrVG234, Bundespersonalvertretungsgesetz (BPersVG)235, Sprecherausschußgesetz (SprAuG)236 und das SGB IX für kollektivrechtliches Handeln bereitstellen. Insbesondere muss im Hinblick auf § 80 Abs. 1 Nr. 1, 2, 2a, 4 BetrVG, § 68 Abs. 1 Nr. 1, 2, 4, 232 BT-Drs. 16/1780, S. 38. 233 BAG, Urt. v. 21.6.2012, 8 AZR 188/11, Rn. 40, 49 f. 234 Betriebsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 25.9.2001, BGBl. 2001 I, S. 2518,
zuletzt geändert durch Artikel 5 des Gesetzes v. 20.12.2021, BGB. 2021 I, S. 5162.
235 Bundespersonalvertretungsgesetz v. 9.6.2021, BGBl. 2021 I, S. 1614. 236 Sprecherausschußgesetz v. 20.12.1988, BGBl. 1988 I, S. 2312, 2316), zuletzt geändert durch Artikel 6
des Gesetzes v. 20.12.2021, BGBl. 2021 I, S. 5162.
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§ 23 Diskriminierungsschutz im Beschäftigungskontext
5, 5a BPersVG und entsprechendes Landesrecht von den jeweiligen gesetzlichen Möglichkeiten einer Zustimmungsverweigerung beziehungsweise Erhebung von Einwänden Gebrauch gemacht werden. § 17 Abs. 1 AGG ist geeignet, die allgemein vertretene Auslegung zu bestätigen, dass ein Zustimmungsverweigerungsgrund wegen Gesetzesverstoßes einer Maßnahme237 auch dann gegeben sein kann, wenn die mangelnde Beachtung des AGG beziehungsweise des zugrunde liegenden und nach Art. 21 Abs. 1, Art. 51 Abs. 1 GRCh verbindlichen Unionsrechts gerügt wird.238 § 17 Abs. 1 AGG tritt neben die sich ohnehin aus § 75 BetrVG, § 2 Abs. 4 BPersVG und § 27 Abs. 1 SprAuG ergebenden Pflichten und die sich daraus eigenständig ergebenden Schranken für die Parteien der Betriebs- und Personalverfassung. 157 § 17 Abs. 2 Satz 1 AGG enthält für das Betriebsverfassungsrecht eine Klarstellung beziehungsweise Ergänzung zu § 23 Abs. 3 BetrVG. Betriebsräten steht das Recht zu, das Verhalten des Arbeitgebers hinsichtlich der vom BetrVG erfassten Beschäftigten239 auf die Vereinbarkeit mit dem AGG nicht nur zu überwachen, sondern gegen ein gesetzeswidriges Verhalten gegebenenfalls auch im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren vorzugehen.240 Eine vergleichbare Einwirkungsmöglichkeit eröffnen derzeit weder das BPersVG noch das SGB IX oder das SprAuG. Für Personalräte im Bereich der Länder kann eine § 17 Abs. 2 AGG entsprechende Einwirkungsmöglichkeit auf die Dienststellenleitung nur in Betracht kommen, wenn die entsprechende Anwendung von § 23 Abs. 3 BetrVG angeordnet ist,241 oder es eine dieser Vorschrift nachgebildete Regelung gibt242, und von der unter Berufung auf die mangelnde Beachtung von Geboten Gebrauch werden kann, die der Regelung in § 2 Abs. 4 BPersVG243 entspricht. 158 § 17 Abs. 2 Satz 2 AGG schließt es entsprechend dem bisherigen Verständnis der Handlungsmöglichkeiten von Betriebsräten aus, dass in einem nach § 17 Abs. 2 Satz 1 AGG angestrengten Beschlussverfahren individuelle Ansprüche der Beschäftigten geltend gemacht werden. Sie müssen also gegebenenfalls selbst initiativ werden. 159 § 17 Abs. 2 AGG verfehlt die Anforderungen, die sich aus Art. 7 Abs. 2 RL 2000/43/EG, Art. 9 Abs. 2 RL 2000/78/EG und Art. 17 Abs. 2 RL 2006/54/EG ergeben, um Verbänden und Organisationen das Recht zu geben, sich an behördlichen oder gerichtlichen Verfahren zur Durchsetzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung zu beteiligen. § 23 AGG ist nicht geeignet, die Umsetzung der genannten unionsrechtlichen Bestimmungen zu gewährleisten, da § 23 Abs. 2 AGG die Antidiskriminierungsverbände auf die Rolle von Beiständen beschränkt, während das Unionsrecht verlangt, dass solche Verbände sich im Namen der/s Betroffenen oder zu seiner/ihrer Unterstützung und mit deren Einwilligung selbstständig an entsprechenden Verfahren beteiligen können. 237 § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG, § 77 Abs. 2 Nr. 1 BPersVG. 238 Zu einer auf eine diskriminierende Ausschreibung gestützten Zustimmungsverweigerung hinsichtlich
einer Einstellungsabsicht BVerwG, Beschl. v. 17.9.2019, 5 P 6.18, Rn. 29 ff. Maßgebend ist insoweit nur § 5 BetrVG, der hinter § 6 Abs. 1 AGG zurückbleibt. BAG, Beschl. v. 18.8.2009, 1 ABR 47/08. § 79 Abs. 3 Satz 2 LPVG NW. § 111 Abs. 2 HPVG. Entsprechend § 62 LPVG NW, § 61 Abs. 1 HPVG.
239 240 241 242 243
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B. Beschäftigtenschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
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Eine derartige Regelung enthält lediglich § 85 SGB IX, bezogen auf – alle – Menschen mit Behinderung, nicht beschränkt auf Schwerbehinderte oder Gleichgestellte. § 18 AGG enthält bezogen auf den Erwerb der Mitgliedschaft in Gewerkschaften und 160 Arbeitgeberverbänden und die Ausübung der mit einer solchen Mitgliedschaft verbundenen Rechte eine eigenständige Regelung. Sie begründet – abweichend von § 15 Abs. 6 AGG – einen Anspruch auf Begründung der Mitgliedschaft, sollte deren Erwerb in einer mit § 1 AGG unvereinbaren Weise verweigert worden sein. Entsprechendes gilt für die Inanspruchnahme von Leistungen solcher Organisationen, auch wenn darauf im Grundsatz kein Rechtsanspruch bestehen sollte, wie das beispielsweise für den gewerkschaftlichen Rechtsschutz gilt.
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§ 24 Diskriminierungsschutz und Migration Constanze Janda Inhaltsübersicht
Rn.
A. Migrationsbezogene Kategorien von Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Staatsangehörigkeit als formelle rechtliche Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Menschen mit Migrationshintergrund“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Staatsangehörigkeit als verpönte Differenzierungskategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Weitere Diskriminierungskategorien als Chiffre für „Fremdheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Rasse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ethnische Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 5 6 8 11 14 16 17 20
B. Diskriminierung und Migrationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Flüchtlingsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Diskriminierung als Fluchtgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbot der Diskriminierung von Flüchtlingen im Zielstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ungleichbehandlungen im Aufenthaltsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Steuerung und Begrenzung“ als Ziel des Aufenthaltsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strukturelle und rechtliche Hürden für die „Integration“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wohnsitzauflagen für anerkannte Flüchtlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22 23 25 32 38 39 40 42
C. Diskriminierung zugewanderter Menschen im Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausschluss mittelloser Unionsbürgerinnen und Unionsbürger vom Sozialleistungsbezug . 1. Privilegierte Migration von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern? . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gleichbehandlungsgebot im Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Sondersozialhilferecht für Drittstaatsangehörige mit vorübergehendem Aufenthalt . . 1. Fortentwicklung des AsylbLG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unionsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Benachteiligungen durch die Sozialleistungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45 47 48 50 52 53 57 58 62 65 68
D. Migration und Diskriminierung im Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriff der Benachteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Diskriminierungsschutz im Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Deutschkenntnisse als Einstellungsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sprachkenntnisse als Ausweis der ethnischen Herkunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtfertigung von Spracherfordernissen im Beschäftigungsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . .
69 71 73 75 77 78
E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Constanze Janda
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§ 24 Diskriminierungsschutz und Migration
Menschen mit Migrationserfahrung sind auf vielfältige Weise mit Diskriminierungen konfrontiert. Diskriminierung kann einerseits Anlass sein, das Herkunftsland zu verlassen und anderswo um internationalen Schutz nachzusuchen. Zugleich besteht die Gefahr, dass Migrantinnen und Migranten aufgrund ihrer „Fremdheit“ Eigenschaften zugeschrieben werden, die zu Benachteiligungen im Zielstaat führen. Diese können sich sowohl in Gesetzen und deren Implementierung durch die öffentliche Gewalt als auch in Zivilrechtsverhältnissen, etwa auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, aber auch jenseits von Rechtsverhältnissen in Handlungen oder Äußerungen manifestieren. Spezifische antidiskriminierungsrechtliche Vorgaben zum Schutz von Menschen mit Migrationserfahrung bestehen nur vereinzelt. Daher sind die hergebrachten Diskriminierungskategorien heranzuziehen, was wiederum die Gefahr begründet, diese per se mit Migration in Verbindung zu bringen und somit eine – etwa ethnische, kulturelle oder religiöse – Homogenität der Aufnahmegesellschaft zu suggerieren. Solche Zuschreibungen perpetuieren ihrerseits den Status der Fremdheit, oftmals über mehrere Generationen hinweg.
A. Migrationsbezogene Kategorien von Diskriminierung Migration bezeichnet zunächst schlicht Wanderungsbewegungen, ungeachtet ihrer Motive und ihrer räumlichen Ausmaße.1 Zu einer Diskriminierungskategorie werden Migrationserfahrungen typischerweise erst dann, wenn eine nationalstaatliche Grenze überschritten wird, um – dies ist auch der wesentliche Unterschied zur „Mobilität“ – den Lebensmittelpunkt in ein anderes Land zu verlegen. 3 Migration zeigt vielfältige Erscheinungsformen: Sie kann freiwillig oder unfreiwillig erfolgen, temporär, auf Dauer oder zirkulär angelegt sein und auf den unterschiedlichsten Motiven basieren. Der Terminus der forced migration nimmt Bezug auf Asylsuchende und Flüchtlinge, umfasst aber einen weitaus größeren und überaus heterogenen Personenkreis. Neben der Furcht vor Krieg, Verfolgung und Gewalt können Menschenhandel ebenso wie Naturkatastrophen und andere Unglücksfälle Wanderungsbewegungen erzwingen.2 Freiwillige Migration wird demgegenüber oftmals mit wirtschaftlichen Motiven in Verbindung gebracht, also etwa der Arbeitsmigration. Sie kann aber auch auf anderen Gründen beruhen, wie Ausbildung und Studium oder dem Nachzug zu Familienangehörigen, welcher wiederum häufig im Zusammenhang mit der Arbeitsmigration eines Familienmitglieds steht.3 Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen freiwilliger und erzwungener Migration ist kaum möglich, da auch politisch Verfolgte den Wunsch haben können, ihre wirtschaftliche Situation im Zielstaat zu verbessern. 4 Allen Migrantinnen und Migranten ist die „Fremdheit“ im Zielstaat gemeinsam, wiewohl auch hier Unterschiede bestehen. Bestimmte Gruppen von Migrantinnen und Mi2
1 Schulte/Treichler, Integration und Antidiskriminierung, 2010, S. 17. 2 Castles, Global Perspectives on Forced Migration, Asian and Pacific Migration Journal 15 (2006), S. 7
(8); Han, Soziologie der Migration, 4. Aufl. 2016, S. 20 ff.; Oswald, Migrationssoziologie, 2007, S. 73 ff.
3 Han (Fn. 2) S. 85.
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granten werden von der Gesellschaft des Aufnahmestaates häufiger und über längere Zeiträume als „fremd“, andere dagegen rasch als „zugehörig“ wahrgenommen, was teils deren Herkunft, teils ihren (mutmaßlichen) Wanderungsmotiven geschuldet sein kann. Unterscheidungen zwischen Menschen mit Migrationserfahrung oder zwischen den „Eigenen“ und den „Fremden“, die explizit oder implizit an derartige Kategorisierungen anknüpfen, ist daher mit den Mitteln des Antidiskriminierungsrechts zu begegnen. Diesem Ziel sind Gleichbehandlungsgrundsätze als Verbot der sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung ebenso verpflichtet wie Diskriminierungsverbote, welche die Anknüpfung an bestimmte Kategorien zur Ungleichbehandlung verbieten.4 Auf Migrationserfahrung als solche wird in aller Regel nicht rekurriert, sodass andere Kategorien heranzuziehen sind. I. Staatsangehörigkeit
Im Zeitalter des Nationalstaats kommt der Staatsangehörigkeit besondere Bedeutung zu. 5 Der Nationalstaat konstituiert sich nach der Drei-Elemente-Lehre5 durch eine souveräne Staatsgewalt, ein fest umgrenztes Staatsgebiet und ein Staatsvolk. Diese Elemente stehen in enger Wechselbeziehung zueinander. So vermittelt die Souveränität jedem Staat die Kompetenz zur Setzung verbindlicher Rechtsregeln; die Hoheitsgewalt beschränkt sich grundsätzlich auf das Staatsgebiet und die sich dort aufhaltenden Personen. Das Staatsvolk wiederum formt die Nation, deren Wohl sicherzustellen der Verantwortung des Nationalstaates zugewiesen ist.6 1. Staatsangehörigkeit als formelle rechtliche Zuordnung
Grenzte sich die „Nation“ historisch vor allem durch ihre Sprache, Kultur und Geschichte 6 nach außen ab,7 bewirkt nunmehr die Staatsangehörigkeit die formelle rechtliche Zuordnung einzelner Personen zu einem Staat.8 Sie bildet die „Grundbeziehung der mitgliedschaftlichen Verbindung und rechtlichen Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft … und den kraft der Verfassung daraus unmittelbar erwachsenden Rechten“.9 Das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland schließt darüber hinaus auch Flüchtlinge und Vertrie4 Preis, Diskriminierungsschutz zwischen EuGH und AGG – Teil I, ZESAR 2007, S. 249 (250); v. Diest,
Änderungen im Diskriminierungsschutz durch die Europäische Grundrechtecharta, 2016, S. 212.
5 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1900, S. 394 ff.; vgl. auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik
Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 235.
6 Becker, Migration und soziale Sicherheit – die Unionsbürgerschaft im Kontext, in: Hatje/Huber (Hrsg.),
Unionsbürgerschaft und soziale Rechte, EuR Beiheft 1 (2007), S. 95 (97); zum Ganzen Janda, Migranten im Sozialstaat, 2012, S. 3. 7 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, 2001, S. 10 f.; ausführlich Kuhnen, Die Zukunft der Nationen in Europa, 2009, S. 78 ff. 8 Kießling, Die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit, Der Staat 54 (2015), S. 1; Kingreen, Sozialrechtliche Zugehörigkeit. Zum Verhältnis von Territorialitäts- und Personalitätsprinzip im supra- und internationalisierten Sozialstaat, in: Jaeckel/Zabel/Zimmermann (Hrsg.), Grundrechtspolitik und Rechtswissenschaft, 2015, S. 73 (78); siehe auch Janda (Fn. 6), S. 3 m. w. N. 9 BVerfGE 37, 217 (239) – Staatsangehörigkeit von Abkömmlingen (1974). Constanze Janda
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bene „deutscher Volkszugehörigkeit“ (Art. 116 Abs. 1 GG) als sogenannte Statusdeutsche ein10 – ein Beleg für die Diffusität des Begriffs. Das hergebrachte Verständnis des Nationalstaats stößt an seine Grenzen, wenn das Territorium nach außen wie innen durchlässig ist und „Fremde“ Teil der inländischen Bevölkerung werden oder auch die Staatsangehörigkeit erwerben können.11 Migration erfordert damit eine Vergewisserung nicht nur über den Wesenskern der „Nation“, sondern auch über die Reichweite der staatlichen Herrschaftsgewalt.12 Denn Migration überschreitet nicht nur territoriale, sondern auch rechtliche Grenzen: Das Flüchtlingsrecht ist durch die Vorgaben des Unionsrechts weitgehend europäisiert; auch für die Erwerbsmigration bestehen zahlreiche europäische Richtlinien, die Aufenthalt und Rechte der Migrantinnen und Migranten regeln.13 7 Nach dem klassischen Verständnis vom Nationalstaat sind aufgrund der Wechselwirkung zwischen Zuordnung und Verantwortung Unterscheidungen zwischen eigenen und fremden Staatsangehörigen nicht per se bedenklich.14 Regelungen, die an die Staatsangehörigkeit anknüpfen, können sich indes diskriminierend auswirken, ist die Staatsangehörigkeit doch nicht ohne Weiteres disponibel. Ihre wichtigste Bedeutung liegt darin, dass sie dem einzelnen Menschen ein unbedingtes Einreise- und Bleiberecht in „seinem“ Staat vermittelt, das dieser selbstbestimmt wahrnehmen kann. Zugleich ermöglicht sie umfassende demokratische Teilhabe durch das aktive und passive Wahlrecht.15 Menschen mit „fremder“ Staatsangehörigkeit sind demgegenüber normunterworfen, solange sie sich im Inland aufhalten, ohne ihrerseits Einfluss auf das Zustandekommen der für sie geltenden Rechtsregeln zu haben.16 Durch Vorgaben zur Visumspflicht, Ausweisung und Abschiebung wird bereits Migration als solche erschwert.17 Werden soziale Rechte an die Staatsangehörigkeit geknüpft, kommt damit die Erwartung zum Ausdruck, im Falle der Hilfebedürftigkeit in den Herkunftsstaat zurückzukehren, da jedem Staat die Verantwortung für die soziale Absicherung seiner eigenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zugeschrieben wird.
10 Die praktische Relevanz ist jedoch gering, Giegerich, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Juli 2021,
Art. 116 Rn. 56.
11 Siehe Brecht, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, in: Versuche 20/21, 1950, S. 94: „Das
Wort Volk besagt eine gewisse Einheitlichkeit und deutet auf gemeinsame Interessen hin, sollte also nur benutzt werden, wenn von mehreren Völkern die Rede ist, da höchstens dann eine Gemeinsamkeit der Interessen vorstellbar ist. Die Bevölkerung eines Landstriches hat verschiedene, auch einander entgegengesetzte Interessen (…).“ 12 Schammann, Migrationspolitik, in: Blank u. a. (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, 2018, S. 67 (69). 13 Janda, „We asked for workers …“ Legal Rules on Temporary Labor Migration in the European Union and Germany, Comparative Labor Law & Policy Journal 39 (2017), S. 143 (146 ff.). 14 Vgl. auch BVerfGE 51, 1 (30) – Rentenversicherung im Ausland (1979); BVerfGE 90, 27 (39) – Parabolantenne I (1994); BVerfGE 116, 243 (259) – Transsexuelle IV (2006); BVerfGE 130, 240 (252) – Bayerisches Landeserziehungsgeldgesetz (2012). 15 Schulte/Treichler (Fn. 1), S. 95 f. 16 Han (Fn. 2), S. 281. Grundlegend dazu Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, 2010, S. 376 ff. 17 Schulte/Treichler (Fn. 1), S. 18. Constanze Janda
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2. „Menschen mit Migrationshintergrund“
Indes ist das Kriterium der Staatsangehörigkeit nur bedingt geeignet, um Diskriminie- 8 rungserfahrungen von Migrantinnen und Migranten zu identifizieren. Denn die Staatsangehörigkeit macht auch diejenigen zu „Fremden“, die im Inland geboren und aufgewachsen sind und dieses nie verlassen haben. Zugleich können eingebürgerte Menschen weiterhin – selbst über mehrere Generationen hinweg – als „Fremde“ oder „Ausländer“ wahrgenommen und auf diese Weise ausgegrenzt werden.18 Dies spiegelt sich in dem in der Bundesrepublik oftmals verwendeten Terminus „Men- 9 schen mit Migrationshintergrund“. Dieser rekurriert ebenfalls auf die Staatsangehörigkeit – sei es der betreffenden Person selbst, sei es ihrer Vorfahren. Geprägt wurde der Begriff, um die überkommene Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländern zu ergänzen, die angesichts von Einbürgerungen und des Zuzugs von Aussiedlern und Spätaussiedlern in den 1990er Jahren nicht mehr passgenau schien.19 Wie weit die Ahnenreihe reichen muss, um einer Person keinen Migrationshintergrund (mehr) zuzuschreiben, ist damit freilich nicht gesagt.20 Das Statistische Bundesamt stellt darauf ab, ob eine Person oder mindestens einer ihrer Elternteile mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren worden ist.21 Damit setzt der in der offiziellen Statistik erfasste Migrationshintergrund bezeichnenderweise nicht zwingend Migration voraus, sondern erfasste alle Nichtdeutschen und eingebürgerte Menschen, egal ob sie zugewandert sind oder nicht, desgleichen Spätaussiedler oder Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Adoption erhalten haben.22 Die Nachkommen der 3. Generation haben nach dem Mikrozensus keinen Migrationshintergrund, wiewohl ihnen dieser in der Gesellschaft oftmals zugeschrieben und damit die Konnotation des „Fremden“ aufrechterhalten wird.23 Oftmals wird der Begriff als abwertende Bezeichnung verwendet, etwa wenn Menschen 10 mit Migrationshintergrund – explizit oder implizit – mit Problemgruppen gleichgesetzt werden, denen beispielsweise Bildungsferne, Gewaltbereitschaft oder Abwertung von Frauen zugeschrieben werden.24 Überdies kann seine unkritische Verwendung dazu führen, dass Menschen auf ihre Migrationserfahrung bzw. die ihrer Familie reduziert und da18 Oswald (Fn. 2), S. 21; Schulte/Treichler (Fn. 1), S. 18. Diese Tendenz zeigt zuweilen auch der Gesetz-
geber, etwa in den Materialien zu den Regelungen über den Ehegattennachzug zu Eingebürgerten, mit denen Zwangsehen vermieden werden sollen, dazu Kießling (Fn. 8), S. 31 f. 19 Statistisches Bundesamt, Migration und Integration, Personen mit Migrationshintergrund, https:// www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Methoden/ Erlauterungen/migrationshintergrund.html. 20 Ausführlich El-Mafaalani, Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund, in: Scherr/ElMafaalani/Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 465 (467 f.). 21 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Bevölkerung mit Migrationshintergrund, Ergebnisse des Mikrozensus 2018, Fachserie 1, Reihe 2.2 2019, S. 4. 22 Statistisches Bundesamt (Fn. 21), S. 4. 23 So auch Gusy/Müller, Leitbilder im Migrationsrecht, ZAR 2013, S. 265 (267); Schramkowski, Paradoxien des ‚Migrationshintergrundes‘, in: Blank u. a. (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, 2018, S. 43 (47); El-Mafaalani (Fn. 20), S. 473. 24 Klose/Liebscher, Antidiskriminierungspolitik in der deutschen Einwanderungsgesellschaft, 2015, S. 16; Schramkowski (Fn. 23), S. 45. Constanze Janda
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durch einerseits nicht in all ihren Facetten als Person wahrgenommen, andererseits einer vermeintlich homogenen Gruppe von Menschen zugeordnet werden. Auch dies bildet deren Lebenswirklichkeit nicht sachgerecht ab.25 3. Staatsangehörigkeit als verpönte Differenzierungskategorie
Ungeachtet der Begrifflichkeiten treffen Unterscheidungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit faktisch häufiger Menschen mit eigener oder familiärer Migrationserfahrung. 12 Dass die Staatsangehörigkeit im Zeitalter des Nationalstaats ein vorherrschendes Ab-, aber auch Ausgrenzungskriterium ist, verwundert kaum. Schließlich sind es die Nationalstaaten, die für die Durchsetzung der Menschenrechte, also das „Recht, Rechte zu haben“26 verantwortlich sind und entsprechende Strukturen – beispielsweise in Verwaltung und Gerichtsbarkeit – zu schaffen haben. Indes ist der Aufenthaltsort nicht immer der Staat der Staatsangehörigkeit. Dementsprechend sehen zahlreiche Völkerrechtsakte vor, dass Staaten „Fremde“ wie eigene Staatsangehörige zu behandeln haben.27 Denn im internationalen Verbund muss die Zugehörigkeit zu einer Untereinheit des Verbundes außer Betracht bleiben. Nicht die Gruppe, sondern der einzelne Mensch ist maßgeblich. Als verpönte Kategorie findet sich die Staatsangehörigkeit auch in dem auf Mobilität angelegten Unionsrecht: Unter den Angehörigen der Mitgliedstaaten ist eine Differenzierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in aller Regel unzulässig, vgl. Art. 18 AEUV.28 Die gemeinsame Unionsbürgerschaft (Art. 20 AEUV ) verdrängt zwar nicht die nationalrechtlichen Staatsbürgerschaften, sondern steht lediglich diesen zur Seite, bewirkt aber, dass sich der persönliche Anwendungsbereich der vom Unionsrecht erfassten Rechtsgebiete stets auf alle Unionsbürger zu erstrecken hat. Nationale Identitäten können dadurch zumindest im rechtlichen Kontext verschwimmen. Indes kann das inkludierende Konzept der Unionsbürgerschaft zugleich exkludierend wirken, etwa wenn im Sekundärrecht Unterscheidungen nach dem sozialen Status der Unionsbürger getroffen werden29 oder soweit Drittstaatsangehörigen die Rechte der Unionsbürger vorenthalten werden. 13 Unter den Diskriminierungskategorien nimmt die Staatsangehörigkeit eine besondere Position ein. Dass sie nicht im gleichen Kontext wie etwa „Rasse“ oder ethnische Herkunft genannt wird, wird damit begründet, dass fremde Staatsangehörige der Rechtsordnung des Aufenthaltsstaats nicht „unentrinnbar“ und auf Lebenszeit verbunden seien. Die Bindung könne vielmehr jederzeit durch Ausreise beendet werden.30 Überdies sei es dem Einzelnen unbenommen, durch den Wechsel der Staatsangehörigkeit einer darauf bezogenen Ungleichbehandlung zu entgehen.31 Anders als andere Diskriminierungskategorien 11
Schramkowski (Fn. 23), S. 46. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1991, S. 462. Dazu Rn. 46 und → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 27 ff. → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 41. Dazu Rn. 50 (C. I. 2.). Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL 32 (1974), S. 49 (58 f.). 31 Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 131; Sopp, Drittstaatsangehörige und Sozialrecht, 2007, S. 23. 25 26 27 28 29 30
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A. Migrationsbezogene Kategorien von Diskriminierung
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(vgl. Art. 19 AEUV ) wird die Staatsangehörigkeit damit als Kriterium wahrgenommen, das nicht von Geburt an erworben und daher nicht der Disposition ihres Inhabers entzogen sei. Die Tragfähigkeit dieser Argumentation ist jedoch fraglich, berücksichtigt man die nationalrechtlichen Hürden für den Erwerb der Staatsangehörigkeit, die mit Staatenlosigkeit verbundenen Hindernisse bei der Realisierung von Menschenrechten ebenso wie die im Zusammenhang mit Flucht und Verfolgung überaus fragliche Möglichkeit der Ausreise. II. Weitere Diskriminierungskategorien als Chiffre für „Fremdheit“
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes verweist unter der Rubrik „Migration, Flücht- 14 linge und Integration“ darauf hin, dass Diskriminierungserfahrungen oftmals auf einem Zusammenspiel der Kategorien „Rasse“, Ethnie und Religion beruhten.32 Sie ereignen sich häufig in der Freizeit, bei der Arbeits- oder Wohnungssuche sowie bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen.33 Benachteiligungen, die an die genannten Diskriminierungskategorien anknüpfen, sind 15 Ausdruck der fehlenden Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen34 und verdeutlichen gesellschaftliche Einstellungen, Stereotype oder Vorurteile.35 Zugleich beinhaltet der Rekurs auf die Diskriminierungskategorien zuweilen die Zuschreibung, dass ein bestimmtes Aussehen oder eine bestimmte Religion auf Migrationserfahrung schließen lässt.36 Die unreflektierte Zuordnung von Migrantinnen und Migranten zu den Kategorien „Rasse“, Ethnie und Religion wirkt ihrerseits diskriminierend, da sie einerseits deren Anderssein betont, andererseits die Homogenität dieser Personengruppe insinuiert.37 Zugleich suggeriert sie die ethnische wie religiöse Homogenität der Inlandsgesellschaft. Aufgrund dieser Ungenauigkeiten wird gefordert, den Diskriminierungsschutz postkategorial auszugestalten, also Diskriminierungsgründe zu finden, mit denen die negativen Zuschreibungen nicht perpetuiert werden.38 Damit würden nicht zuletzt die mit der inhaltlichen Bestimmung der Begriffe einhergehenden Probleme vermieden. 32 BT-Drs. 18/13060, S. 75. Der dort verwendete Begriff „Merkmale“ wird kritisiert, da er sich auf tatsäch-
lich vorhandene Umstände und Eigenschaften beziehe. Stattdessen solle auf „Gründe“ rekurriert werden, die nicht zwingend tatsächlich vorliegen müssen, sondern auch zugeschrieben sein können, vgl. Winter, Facetten des Antidiskriminierungsrechts im Arbeitsleben und in der arbeitsgerichtlichen Praxis, SR 2019, S. 188 (190). 33 BT-Drs. 18/13060, S. 207 ff.; Franke/Schlenzka, Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft, ZAR 2019, S. 179 (180); Schramkowski (Fn. 23), S. 48. 34 Preis, Diskriminierungsschutz zwischen EuGH und AGG – Teil II, ZESAR 2007, S. 308 (311); Hartmann, Diskriminierung durch Antidiskriminierungsrecht?, EuZA 2019, S. 24 (39); → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 109; → Hong, § 2 Rn. 8 ff. 35 Lembke/Liebscher, Postkategoriales Antidiskriminierungsrecht?, in: Philipp u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, S. 261 (269); → Baer, § 5 Rn. 41 ff. 36 Vgl. auch Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR Forschungsbereich), „Wo kommen Sie eigentlich ursprünglich her?“, Diskriminierungserfahrungen und phänotypische Differenz in Deutschland, 2018, S. 4. 37 Hartmann (Fn. 34), S. 26; Liebscher u. a., Wege aus der Essentialismusfalle: Überlegungen zu einem postkategorialen Antidiskriminierungsrecht, KJ 2012, S. 204; dazu auch Lembke/Liebscher (Fn. 35), S. 270. 38 Dazu → Baer § 5; Liebscher u. a. (Fn. 37), passim; Hartmann (Fn. 34), passim. Constanze Janda
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1. „Rasse“ 16
Der Begriff der „Rasse“39 wird im Kontext des Antidiskriminierungsrechts zwar regelmäßig verwendet.40 Selbst der Gesetzgeber distanziert sich jedoch davon und verwendet ihn, ohne sich Theorien über die Existenz menschlicher Rassen zu eigen zu machen.41 Gemeint sind genetisch bedingte, vererbliche und äußerlich sichtbare Eigenschaften und Merkmale eines Menschen,42 wie etwa Hautfarbe oder Gesichtszüge. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die betroffene Person wirklich einer bestimmten „Rasse“ angehört, zumal entsprechende Theorien wissenschaftlich nicht haltbar sind.43 Das Konzept der „Rasse“ erweist sich damit als sozial konstruiert: Verpönt ist die rassistische Diskriminierung,44 bei der Äußerlichkeiten mit bestimmten kulturellen oder sozialen Eigenschaften verknüpft und damit wiederum negative Konnotationen und eine Hierarchisierung der Merkmalsträger bewirkt werden.45 2. Ethnische Herkunft
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In der Praxis spielt das Kriterium wohl angesichts dieser begrifflichen Schwierigkeiten – abgesehen vom racial profiling – bislang keine große Rolle; stattdessen wird oftmals auf den nicht minder schwer zu konkretisierenden Begriff der ethnischen Herkunft abgestellt.46 Der Begriff der Ethnie rekurriert nicht auf angeborene Merkmale einer einzelnen Person, sondern auf erworbene und angenommene Merkmale einer Gruppe. In der Rechtsprechung wird insofern beispielsweise auf die Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache, Religion oder Kultur verwiesen und damit auf verschiedene in Art. 14 EMRK enthaltene Merkmale abgestellt.47 Das Erfüllen eines einzelnen Kriteriums begründet aber noch keine ethnische Zugehörigkeit, sondern hierfür ist ein „Bündel von Indizien“ erforderlich.48 Ob diese objektiv eine bestimmte Ethnie oder ein subjektives Zugehörigkeitsgefühl konstituie39 Ausführlich → Barskanmaz § 7. 40 Siehe auch Art. 5 ICERD, wonach die Konventionsstaaten die Gleichheit vor dem Gesetz „ohne Unter-
schied der Rasse, der Hautfarbe, des nationalen Ursprungs oder des Volkstums“ zu gewährleisten haben.
41 So etwa der 6. Erwägungsgrund zu RL 2000/43/EG sowie der deutsche Gesetzgeber in der Begründung
zum AGG, BT-Drs. 16/1780, S. 31.
42 Zimmermann/Mahler, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refu-
gees and its 1967 Protocol, 2011, Article 1 A, para. 2 1951 Convention Rn. 339; v. Diest (Fn. 4), S. 233; siehe auch EGMR, Urt. v. 22.12.2009, Beschwerde-Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v. Bosnien-Herzegowina, Rn. 43. 43 Schiek, Diskriminierung wegen „Rasse“ oder „ethnischer Herkunft“, AuR 2003, S. 44; v. Diest (Fn. 4), S. 231; Hartmann (Fn. 34), S. 28. 44 Winter (Fn. 32), S. 192; v. Diest (Fn. 4), S. 230 f. im Kontext des Art. 21 GRCh. 45 Hathaway/Foster, The Law of Refugee Status, 2. Aufl. 2014, S. 395; Reisigl, Sprachwissenschaftliche Diskriminierungsforschung, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 81 (85); Rottleuthner/Mahlmann, Diskriminierung in Deutschland, 2011, S. 24; Klose/Liebscher (Fn. 24), S. 36. 46 Lembke/Liebscher (Fn. 35), S. 275. 47 EGMR, Urt. v. 22.12.2009, Beschwerde-Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v. BosnienHerzegowina, Rn. 43; EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14, CHEZ, Rn. 46; EuGH, Urt. v. 6.4.2017, Rs. C-668/15, Jyske Finans, Rn. 17. 48 EuGH, Urt. v. 6.4.2017, Rs. C-668/15, Jyske Finans, Rn. 19. Constanze Janda
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ren, ist irrelevant.49 Es kommt nicht einmal darauf an, ob eine benachteilige Person tatsächlich einer bestimmten Ethnie zuzuordnen ist. Im sogenannten „Ossi-Fall“ hatte zwar das ArbG Stuttgart50 geprüft, ob „die Ostdeutschen“ tatsächlich eine Ethnie bilden. Es erschließt sich jedoch nicht, warum insofern andere Maßstäbe angelegt werden als bei der rassistischen Diskriminierung, zumal auch die Idee der Ethnie nicht ohne Widersprüche ist, vor allem wo sie auf „künstlich“ herbeigeführten Unterscheidungen beruht, die bestimmten ideologischen Vorstellungen Vorschub leisten sollen.51 Richtigerweise muss es für die Annahme einer ethnisch motivierten Benachteiligung ausreichen, ob eine Person als „fremd“ wahrgenommen und ihr deshalb bestimmte Eigenschaften negativ zugeschrieben werden.52 Gestützt wird diese Auffassung im zivilrechtlichen Kontext53 durch die Putativ-Diskriminierung (§ 7 Abs. 1 AGG), wonach eine Benachteiligung auch dann vorliegt, wenn die benachteiligende Person das Vorliegen eines bestimmten Merkmals zu Unrecht annimmt.54 Dieses weite Verständnis entlastet auch die Gerichte von der kaum zu bewältigenden Aufgabe, Ethnien zu konstruieren.55 Migrantinnen und Migranten mögen zwar in vielen Fällen einer anderen Ethnie als 18 die Angehörigen des Aufenthaltsstaates zugeschrieben werden.56 Allein der Umstand der Geburt in einem anderen Staat bewirkt jedoch noch keine Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, da verschiedene Ethnien durchaus ein gemeinsames Geburtsland haben können.57 Zumindest ungenau ist auch die Gleichsetzung von Staatsangehörigkeit und Ethnie.58 Allenfalls können an der Staatsangehörigkeit anknüpfende Ungleichbehandlungen auf eine mittelbare Benachteiligung aufgrund der ethnischen Herkunft schließen lassen.59 Generell ist zu bedenken, dass nicht jedwede kulturellen oder religiösen Unterschiede einen ethnischen Hintergrund haben.60 Das vorschnelle Bejahen einer „Ethnie“ kann folglich Stereotype und Vorurteile zum Ausdruck bringen und Personen zu Unrecht als „fremd“ markieren.61 49 EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14, CHEZ, Rn. 88 ff.; v. Diest (Fn. 4), S. 242; Winter (Fn. 32), S. 192 f.;
siehe auch Latzel, Die Sprachdiskriminierung, SAE 2012, S. 62 (63); → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 90; → Baer, § 5 Rn. 39 ff. 50 ArbG Stuttgart, Urt. v. 15.4.2010, 17 Ca 8907/09. 51 Dazu Schiek (Fn. 43), S. 45. 52 Köhlert, Die neue Rechtsprechung des BAG zur Anforderung „sehr guter“ Deutschkenntnissen in Stellenanzeigen, NZA 2018, S. 1172 (1173); Schiek (Fn. 43), S. 45; Göbel-Zimmermann/Marquardt, Diskriminierung aus Gründen der „Rasse“ und wegen der ethnischen Herkunft im Spiegel der Rechtsprechung zum AGG, ZAR 2012, S. 369 (370); Greiner, Putativ-Diskriminierung wegen Ethnie oder Rasse, DB 2010, S. 1940 (1941). 53 Dazu Rn. 69 ff. (D.). 54 Greiner (Fn. 52), S. 1941. 55 Schiek (Fn. 43), S. 46 („zweifelhafte Abstammungsstudien“). 56 Han (Fn. 2), S. 271. 57 EuGH, Urt. v. 6.4.2017, Rs. C-668/15, Jyske Finans, Rn. 20. 58 Herbert/Oberrath, Hinreichende Deutschkenntnisse des Arbeitnehmers im Spiegel der Rechtsprechung, NJ 2011, S. 8 (9); Rottleuthner/Mahlmann (Fn. 45), S. 24; Winter (Fn. 32), S. 193. 59 Latzel (Fn. 49), S. 63. 60 Oswald (Fn. 2), S. 21. 61 Köhlert (Fn. 52), S. 1173; Lembke/Liebscher (Fn. 35), S. 275 f.; Hartmann (Fn. 34), S. 28. Constanze Janda
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Im Ergebnis erweist sich der Begriff der ethnischen Herkunft als wenig präzise. Dies ist dem Ziel des Antidiskriminierungsrechts jedoch nicht abträglich, beruhen ablehnende und diskriminierende Positionen und Verhaltensweisen gegenüber „Fremden“ doch in aller Regel nicht auf Rationalität, sondern auf diffusen Vorstellungen.62 Die ethnische Zugehörigkeit steht in enger Beziehung zum Begriff der „Rasse“: „Eine Diskriminierung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit stellt eine Form der rassischen Diskriminierung dar.“63 Beide Kategorien sind weit auszulegen, um einen möglichst lückenlosen Schutz vor rassistisch und ethnisch motivierter Diskriminierung sicherzustellen.64 3. Religion
Die Ausübung einer bestimmten Religion gründet in höchstpersönlichen Überzeugungen und Wertvorstellungen, die zwar auch durch die Gesellschaft tradiert werden, in der man aufwächst, die aber nicht unlösbar mit Migrationserfahrungen verbunden sind. Faktisch treffen hierzulande Benachteiligungen von Menschen anderer als der christlichen Religion überproportional oft solche mit sogenanntem „Migrationshintergrund“, trägt Zuwanderung doch erheblich zu religiöser Heterogenität bei.65 Gleichwohl sind Migration und (eine nichtchristliche) Religion keineswegs miteinander in eins zu setzen.66 Die auf religiösen Gründen beruhenden Benachteiligungen, die sich beispielsweise im Kirchenprivileg des § 9 AGG, welches seinem Wortlaut nach den christlichen Religionsgemeinschaften die Ablehnung nichtchristlicher Bewerberinnen und Bewerber erlaubt,67 oder in der Ablehnung oder Kündigung von Arbeitnehmerinnen manifestieren, die ein Kopftuch tragen, sollen daher an dieser Stelle bewusst ausgespart werden.68 21 Sie sind jedoch oftmals ein tragendes Element rassistischer Diskriminierung: Beide Dimensionen überschneiden sich und werden damit zum Ausdruck einer Gemengelage von Ressentiments und Abwertung.69 An die Religion anknüpfende Benachteiligungen können damit den Tatbestand der mehrdimensionalen oder intersektionellen Diskriminierung erfüllen.70 In jüngerer Zeit werden insbesondere Muslime als „fremd“ markiert,71 und zwar ungeachtet ihrer eigenen bzw. familiären Migrationserfahrung. Setzte man den Islam oder 20
62 Hanau, Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (arbeitsrechtlicher Teil) zwischen Bagatellisierung
und Dramatisierung, ZIP 2006, S. 2189 (2190).
63 EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. v. Tschechische Republik, Rn. 176; EGMR,
Urt. v. 22.12.2009, Beschwerde-Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v. Bosnien-Herzegowina, Rn. 43; so auch der deutsche Gesetzgeber, der die „Rasse“ im AGG als Oberbegriff versteht, der auch Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Herkunft einschließt, BT-Drs. 16/1780, S. 31. 64 BT-Drs. 16/1780, S. 30. 65 Schulte, Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und ihrer Einrichtungen – ein Integrationshindernis in der multireligiösen Einwanderungsgesellschaft?, ZAR 2013, S. 24. 66 So auch Deinert, Migration und Arbeitsrecht, ZFA 2018, S. 17 (33). 67 Kritisch Schulte (Fn. 65), S. 28 f. 68 Ausführlich zu Diskriminierung aus Gründen der Religion → Walter/Tremml, § 8. 69 Klose/Liebscher (Fn. 24), S. 16; vgl. auch Rottleuthner/Mahlmann (Fn. 45), S. 25; Schiek (Fn. 43), S. 46. 70 Zur intersektionellen Diskriminierung ausführlich → Holzleithner § 13; Chege, EU-Antidiskriminierungsrichtlinien und EU-Gleichstellungsrecht, NJ 2012, S. 503. 71 SVR-Forschungsbereich (Fn. 36), S. 13. Constanze Janda
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andere Religionen per se mit Migration in eins, schriebe man der Inlandsgesellschaft religiöse Homogenität zu – ein Ergebnis, das zwar von manchen geteilt würde,72 das sich mit der gesellschaftlichen Realität jedoch nicht deckt.73 Daher bleibt die Ungleichbehandlung aus Gründen der Religion in diesem Kapitel außer Betracht.
B. Diskriminierung und Migrationsrecht Das Migrationsrecht weist vielfältige Bezugspunkte zu Ungleichbehandlungen auf. Zum 22 einen bietet es Schutz im Falle systematischer Diskriminierung. Zum anderen kann es aber aufgrund seiner – wenngleich in den inter- und supranationalen Kontext eingebetteten – nationalrechtlichen Determinierung selbst diskriminierend wirken. Dies kann sich sowohl aus rechtlichen Vorgaben, etwa im Aufenthaltsrecht oder im Arbeitserlaubnisrecht, als auch aus dessen restriktiver Anwendung durch die mit der Umsetzung betrauten Behörden ergeben.74 I. Flüchtlingsrecht
Im Grunde sind die Staaten darin frei, die Bedingungen für Einreise und Aufenthalt in 23 ihrem Staatsgebiet zu regeln. Dies ist Ausdruck ihrer Souveränität. Einzelnen Personen steht kein kosmopolitisches und unbedingtes Freizügigkeitsrecht zu.75 Die Souveränität der Staaten wird dadurch eingeschränkt, dass das Völkerrecht die Zurückweisung von Menschen in Gebiete verbietet, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit gefährdet sind. Dieses sogenannte Refoulement-Verbot ist in Art. 33 GFK verankert, lässt sich aber auch Art. 3 EMRK entnehmen.76 Es knüpft im Kontext des Art. 33 GFK an Gefahren für Leib, Leben und Freiheit an, denen eine Person wegen ihrer „Rasse“, Religion, Staatsangehörigkeit, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung ausgesetzt ist. Diese begründen ein absolutes Verbot der Zurückweisung in den Verfolgerstaat.77 Diese die Bundesrepublik bindenden völkerrechtlichen Vorgaben entfalten auch Wirkungen im innerstaatlichen Rechtsraum. Darüber hinaus schränkt das Unionsrecht die Rechtssetzungskompetenz der Mitglied- 24 staaten im Flüchtlingsrecht ein, indem es die Zuständigkeiten für die Durchführung von Asylverfahren78 regelt und Mindeststandards für das Verfahren und die Rechte der Schutz72 So etwa die Vorgabe der „christlich-abendländischen Leitkultur“ im bayerischen Integrationsgesetz,
dazu kritisch Leven, Zu (des-)integrativen Wirkungen des Rechts, ZAR 2018, S. 339 (340 f.).
73 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Religionszugehörigkeit, https://www.destatis.de/DE/Themen/
Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/Tabellen/bevoelkerung-religion.html.
74 Han (Fn. 2), S. 271 f. 75 Janda (Fn. 6), S. 63. 76 EGMR, Urt. v. 7.7.1989, Beschwerde-Nr. 14038/88, Soering v. Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt. v.
20.3.1991, Beschwerde-Nr. 15576/89, Cruz Varras u. a. v. Schweden; EGMR, Urt. v. 10.4.2012, BeschwerdeNr. 24027/07, 11949/08, 36742/08, 66911/09, 67354/09, Babar Ahmad u. a. v. Vereinigtes Königreich. 77 Schmahl/Jung, Die Genfer Flüchtlingskonvention, NVwZ-Extra 2018, S. 1 (2). 78 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der KriteConstanze Janda
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§ 24 Diskriminierungsschutz und Migration
suchenden etabliert. Diese sind Gegenstand der Qualifikationsrichtlinie,79 der Verfahrensrichtlinie,80 der Massenzustrom-Richtlinie81 und der Aufnahmerichtlinie.82 All diese Sekundärrechtsakte sind von der Idee der Gleichheit geprägt, sollen also die diskriminierungsfreie Durchführung der Schutzgewährung sicherstellen. 1. Diskriminierung als Fluchtgrund
Flüchtling ist nach Art. 1 A Nr. 2 GFK jede Person, die sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb des Landes ihrer Staatsangehörigkeit aufhält und den Schutz dieses Landes wegen dieser Befürchtung nicht in Anspruch nehmen kann oder will. Gleiches gilt für Staatenlose, die sich außerhalb des Landes ihres gewöhnlichen Aufenthalts befinden und nicht dorthin zurückkehren können. Diese Definition wird in allen Rechtsakten aufgenommen, die den Rechtsstatus von Flüchtlingen regeln – sei es Art. 2 lit. d) RL 2011/95/EU, sei es § 3 Abs. 1 AsylG. Der Terminus der Nationalität darf nicht mit der Staatsangehörigkeit gleichgesetzt 26 werden, sondern bezieht sich auch auf benachteiligende Regelungen zulasten von Staatenlosen oder anderen Personen, die als nicht der Nation zugehörig eingestuft werden. Im Ergebnis umschreibt der Begriff nicht nur das rechtliche Band zwischen einem Staat und seinen Bürgern, sondern die Zugehörigkeit zu einer ethnischen, kulturellen oder religiösen Gruppe83 und weist damit Parallelen zur ethnischen Herkunft84 auf. Die Kriterien zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft sind in Art. 1 A Nr. 2 GFK 27 abschließend aufgeführt. Jedoch bietet das Merkmal der „sozialen Gruppe“ die Möglichkeit, die Verfolgung aufgrund anderer unverfügbarer persönlicher Merkmale in den Flüchtlingsbegriff einzubeziehen und diesen so fortzuentwickeln.85 Dazu zählen etwa 25
rien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist v. 26.6.2013, ABl. Nr. L 180, S. 31. 79 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit internationalem Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes v. 13.12.2011, ABl. Nr. L 337, S. 9. 80 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zum gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes v. 26.6.2013, ABl. Nr. L 180, S. 60. 81 Richtlinie 2001/55/EG des Rates über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten v. 20.6.2001, ABl. Nr. L 212, S. 12. 82 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen v. 26.6.2013, ABl. Nr. L 180, S. 96. 83 Hathaway/Foster (Fn. 45), S. 397 f.; Zimmermann/Mahler (Fn. 42), Article 1 A, para. 2 1951 Convention Rn. 390; Frei/Hinterberger/Hruschka, in: Hruschka (Hrsg.), Genfer Flüchtlingskonvention, 2022, Art. 1 Rn. 82. 84 Dazu bereits Rn. 17 (A. II. 2.). 85 Schmahl/Jung (Fn. 77), S. 4; Marx, Furcht vor Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmConstanze Janda
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die geschlechtsspezifische Verfolgung86 oder die Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung bzw. Identität.87 Der unbestimmte Rechtsbegriff der „sozialen Gruppe“ ist so auszulegen, dass Sinn und Zweck der GFK angemessen verwirklicht werden. Danach soll Flüchtlingsschutz nicht allen benachteiligten Menschen zuteilwerden, sondern nur jenen, die sich in einer den explizit aufgeführten Verfolgungsgründen vergleichbaren Situation befinden. Allein der Umstand, dass Menschen verfolgt werden, macht diese nicht zum Teil einer hinreichend abgegrenzten sozialen Gruppe.88 Die Zugehörigkeit muss sich vielmehr aus einer weiteren gruppenspezifischen Eigenschaft konstituieren. Dies können angeborene und unveränderbare Merkmale sein oder aber solche, auf die zu verzichten dem einzelnen Menschen nicht zugemutet werden kann, da sie dessen Identität und innerste Überzeugungen prägen.89 Die Identität der so gefundenen Gruppe muss klar umrissen sein und von der Gesellschaft auch als solche wahrgenommen werden,90 ohne dass es auf ihre Größe ankommt.91 Kern des Flüchtlingsbegriffs ist die Verfolgung wegen einer der genannten Kategorien. 28 Der Begriff der Verfolgung wird in der GFK nicht näher definiert, lässt sich aber zumindest teilweise aus ihrer Systematik erschließen. So verbietet Art. 33 GFK die Aus- oder Zurückweisung von Menschen in Staaten, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht sein würde (non-refoulement). Daraus folgt, dass die Bedrohung von Leben und Freiheit aus den genannten Gründen stets als Verfolgung anzusehen ist; aber auch andere „schwerwiegende Verstöße gegen die Menschenrechte“ stellen eine Verfolgung dar.92 Dies ist im Rahmen einer objektivierten Herangehensweise zu ermitteln; lediglich subjektive seelische Empfindungen, die keinerlei objektive Ausprägung erfahren bzw. auf keinerlei objektive Anhaltspunkte gestützt sind, genügen folglich nicht, um die Flüchtlingseigenschaft annehmen zu können.93 Der Begriff der Verfolgung ist nicht mit dem der Diskriminierung gleichzusetzen, knüpft 29 aber durch die Aufzählung der die Flüchtlingseigenschaft konstituierenden Kategorien an ten sozialen Gruppe, ZAR 2005, S. 177; Hruschka/Löhr, Das Konventionsmerkmal „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ und seine Anwendung in Deutschland, NVwZ 2009, S. 205. 86 Beispielsweise Genitalverstümmelung bei Frauen oder Zwangsprostitution, Zimmermann/Mahler (Fn. 42), Article 1 A, para. 2 1951 Convention Rn. 456. 87 EuGH, Urt. v. 7.11.2013, Rs. C-199/12 bis C-201/12, X, Y und Z. Ausführlich Judith, Die „bestimmte soziale Gruppe“ „queer“ gelesen, ZAR 2014, S. 404, passim. 88 Löhr/Hruschka (Fn. 85), S. 206. 89 EuGH, Urt. v. 7.11.2013, Rs. C-199/12 bis C-201/12, X, Y und Z, Rn. 45 ff. zur Geheimhaltung der Homosexualität; dazu auch Titze, Sexuelle Orientierung und die Zumutung der Diskretion, ZAR 2012, S. 93. 90 Marx (Fn. 85), S. 178; Löhr/Hruschka (Fn. 85), S. 207. 91 Marx (Fn. 85), S. 181. 92 EuGH, Urt. v. 5.9.2012, Rs. C-71/11 und C-99/11, Y und Z, Rn. 57; UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Genf 2013 (deutsche Version), S. 15; Zimmermann/Mahler (Fn. 42), Article 1 A, para. 2 1951 Convention Rn. 248; Schmahl/Jung (Fn. 77), S. 3; Frei/ Hinterberger/Hruschka (Fn. 83), Art. 1 Rn. 45. 93 UNHCR (Fn. 92), S. 12; EuGH, Urt. v. 5.9.2012, Rs. C-71/11 und C-99/11, Y und Z, Rn. 70; kritisch Hathaway/Foster (Fn. 45), S. 93 f.; Frei/Hinterberger/Hruschka (Fn. 83), Art. 1 Rn. 52 f.; Siehe auch Zimmermann/Mahler (Fn. 42), Article 1 A, para. 2 1951 Convention Rn. 368 ff. zum Streitstand. Constanze Janda
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diskriminierende Eingriffe des Verfolgerstaates an.94 Diskriminierungen und Benachteiligungen wirken oftmals subtiler als offene, an die genannten Kategorien anknüpfende Bedrohungen von Leben und Freiheit, die das Refoulement-Verbot auslösen würden. Sie gehen auch nicht zwangsläufig mit gezieltem Handeln oder Unterlassen des Heimatstaates einher, was der Begriff der Verfolgung nahelegen mag. Indes ist der Flüchtlingsbegriff nicht auf die Frage von „Leben und Tod“ zu verengen.95 Entscheidend ist, dass der Herkunftsstaat gegen die erlittenen Menschenrechtsverletzungen keinen Schutz zu gewähren bereit ist bzw. vermag96 – sei es normativ, sei es institutionell.97 30 Eine Vielzahl von benachteiligenden Einzelmaßnahmen, etwa im wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Leben, die ein erhebliches Ausmaß erreichen, kann sich im Einzelfall zu einer Verfolgung verdichten.98 Dies ist der Fall, wenn die Eingriffe „zu einer ähnlich schweren Rechtsverletzung [führen] wie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte“.99 Befindet sich eine Diskriminierungen ausgesetzte Person in einer ausweglosen Lage, in der sie keinen Zugang zu grundlegenden Menschenrechten – zu denen auch der Zugang zu sozialer Fürsorge, zum Arbeitsmarkt oder zu Unterkunft gehören – erlangen kann, ist eine Verfolgungshandlung gegeben.100 Bloße finanzielle und sonstige materielle Entbehrungen reichen jedoch nicht aus.101 Entscheidend ist zudem, dass die Vorenthaltung sozio-ökonomischer Rechte durch den Herkunftsstaat in diskriminierender Weise erfolgt. Ist die gesamte Bevölkerung – beispielsweise von Armut – betroffen, ist dies flüchtlingsrechtlich ohne Relevanz.102 31 Verfolgung besteht aber nicht nur in den Konstellationen, in denen der Heimatstaat unmittelbare Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen trägt, sondern auch dann, wenn er keinen (effektiven) Schutz gegen Diskriminierungen durch nichtstaatliche Akteure vorsieht – sei es strafrechtlich, sei es zivilrechtlich, obwohl er grundsätzlich dazu in der Lage wäre.103 2. Verbot der Diskriminierung von Flüchtlingen im Zielstaat 32 Die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat lediglich deklaratorische Wirkung.104 Um
den Interessen der Vertragsstaaten wie auch denen der Geflüchteten gleichermaßen ge-
Schmahl/Jung (Fn. 77), S. 3. Hathaway/Foster (Fn. 45), S. 183 f. Hathaway/Foster (Fn. 45), S. 183 f. Marx, Diskriminierung im Zuwanderungs- und Flüchtlingsrecht, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 321 (329). 98 Marx (Fn. 97), S. 326; vgl. auch UNHCR (Fn. 92), S. 15: Konsequenzen, welche die Person „in hohem Maße benachteiligen würden“. 99 BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23.12, Rn. 37. 100 Vgl. Hathaway/Foster (Fn. 45), S. 200 f.; Zimmermann/Mahler (Fn. 42), S. 356; Marx (Fn. 97), S. 330. 101 Zimmermann/Mahler (Fn. 42), Article 1 A, para. 2 1951 Convention Rn. 257. 102 Zimmermann/Mahler (Fn. 42), Article 1 A, para. 2 1951 Convention Rn. 259. 103 Hathaway/Foster (Fn. 45), S. 297 f.; Zimmermann/Mahler (Fn. 42), Article 1 A, para. 2 1951 Convention Rn. 302 ff.; Frei/Hinterberger/Hruschka (Fn. 83), Art. 1 Rn. 63. 104 UNHCR (Fn. 92), S. 10; Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, 2005, S. 158; 94 95 96 97
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recht zu werden, etabliert die GFK ein abgestuftes System des Zugangs zu Rechten, die teils die bloße physische Präsenz, teils den rechtmäßigen, teils den gewöhnlichen Aufenthalt voraussetzen.105 Grund dafür ist, dass Flüchtlinge gegenüber ihrem Herkunftsstaat an der Geltendmachung von Schutzrechten und anderen Ansprüchen gehindert sind. Die GFK bewirkt daher einen Verantwortungsübergang auf den Aufenthaltsstaat.106 Die Gleichbehandlung ist einer der Grundpfeiler der GFK.107 Während einzelne Artikel – hierzu zählen das Recht auf Fürsorge (Art. 23 GFK) und das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 24 GFK) – die Gleichbehandlung von Flüchtlingen mit Inländern anordnen, verpflichten andere lediglich zur Gleichbehandlung mit Ausländern, wie etwa der Zugang zum Wohnungswesen (Art. 21 GFK) oder die Bewegungsfreiheit (Art. 26 GFK). Die Rechte der GFK müssen gemäß Art. 3 GFK allen Flüchtlingen gleichermaßen ge- 33 währt werden, ungeachtet ihrer „Rasse“, Religion oder ihres Herkunftsstaates. Der Begriff „Herkunftsstaat“ ist weit zu verstehen und nicht mit dem Staat der Staatsangehörigkeit gleichzusetzen. Geschützt werden auch Staatenlose sowie Personen, die nicht die Staatsangehörigkeit des Staates haben, aus dem sie geflohen sind.108 Art. 3 GFK statuiert ein Diskriminierungsverbot im Hinblick auf sämtliche Flüchtlingsrechte – nicht aber ein Gleichbehandlungsgebot im Hinblick auf die Staatsangehörigen des Aufnahmestaates. Die Norm muss folglich immer in Verbindung mit den anderen Vorgaben der GFK gelesen werden, erweist sich also als akzessorisches Diskriminierungsverbot.109 Die Ankündigung einiger EU-Mitgliedstaaten, im Rahmen der EU-weiten Relocation keine muslimischen Flüchtlinge aufnehmen zu wollen, verstößt folglich gegen Art. 3 GFK, wenn sie mit der Rückschiebung in den Staat verbunden ist, in dem ihnen Verfolgung droht, vgl. Art. 33 GFK. Die Konvention selbst vermittelt Flüchtlingen weder ein Recht auf Schutz in einem bestimmten Staat noch beinhaltet sie konkrete verfahrensrechtliche Verpflichtungen, sondern sie vermittelt das Recht, zum Zweck der Asylsuche einzureisen und sich während des Asylverfahrens in einem Staat aufzuhalten.110 Im deutschen Recht sind an verschiedener Stelle Differenzierungen zwischen Schutz- 34 suchenden mit Bleibeperspektive und solchen aus sicheren Herkunftsstaaten vorgeseso auch der EuGH, Urt. v. 12.4.2018, Rs. C-550/16, A. S., Rn. 52 f., EuGH, Urt. v. 24.6.2015, Rs. C-373/13, H. T., Rn. 63. 105 Vgl. die instruktive Übersicht bei Sharpe, The 1951 Refugee Convention’s Contingent Rights Framework and Article 26 of the ICCPR: A Fundamental Incompatibility?, Refuge: Canada’s Journal on Refugees 30 (2014), S. 5 (7). 106 Davy, Sozialleistungen für Nicht-Deutsche: Zugang durch globale Gleichheitsrechte, in: Rolfs (Hrsg.), Migration und Sozialstaat, Sozialrechtslehrertagung 2018, 2018, S. 9 (13). 107 Walter/Goldbach, Sozialleistungen für Flüchtlinge und das europäische Gleichbehandlungsprinzip, ZESAR 2019, S. 317 (319). 108 Marx/Staff, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, 2011, Article 3 1951 Convention Rn. 48. 109 Marx/Staff (Fn. 108), Article 3 1951 Convention Rn. 29; Frei (Fn. 83), Art. 3 Rn. 17. 110 Frei/Hinterberger/Hruschka (Fn. 83), Art. 33 Rn. 1 f.; Haefeli, Steuerung der Migrationsströme und Non-refoulement-Prinzip gemäß GFK und EMRK, ZAR 2020, S. 25 (26); Hathaway (Fn. 104), S. 301; Kau, Ein Recht auf Migration?, in: Uhle (Hrsg.), Migration und Integration. Die Migrationskrise als Herausforderung des Rechts, 2017, S. 19 (32 f.). Constanze Janda
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hen.111 Dies betrifft beispielsweise den Ablauf des Asylverfahrens. Mit dem starken Anstieg der Asylgesuche in den Jahren 2014 und 2015 wurde der öffentliche und parteipolitische Diskurs zunehmend radikal geführt; rassistische und ausländerfeindliche Ressentiments prägten die Debatte, sodass nach dem anfänglichen Ausleben der „Willkommenskultur“ recht zügig die Begrenzung der Zahl der Asylsuchenden in den Vordergrund rückte.112 Daher wurden Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien 2014, Albanien, Kosovo und Montenegro 2015 als sichere Herkunftsstaaten i. S. v. § 29a i. V. m. Anlage II AsylbLG eingestuft, da sich der Anteil der erfolgreichen Asylgesuche aus diesen Ländern auf unter 1 Prozent belief. Bei Personen aus diesen Staaten wird zunächst die offenkundige Unbegründetheit ihres Asylantrags vermutet, § 29a Abs. 1 AsylG. Sie können diese Vermutung jedoch durch den schlüssigen und substantiierten Vortrag von Tatsachen und die Vorlage von Beweismitteln, die auf eine individuelle Verfolgung schließen lassen, widerlegen.113 Dies führt zwar zu einer Benachteiligung von Asylsuchenden aus sicheren Herkunftsstaaten. Das Bundesverfassungsgericht hat das Verfahren und die damit verbundene erhöhte Darlegungslast jedoch gebilligt, da der Gesetzgeber die Verfolgungssituation in den betreffenden Staaten ausführlich und gründlich geprüft habe.114 Die Ungleichbehandlung wurde in der Entscheidung nicht thematisiert. 35 Die Prüfung der Asylanträge von Schutzsuchenden aus sicheren Herkunftsstaaten kann in einem beschleunigten Verfahren nach § 30a Abs. 1 AsylG durchgeführt werden.115 Zugleich sind die betreffenden Personen dauerhaft zum Aufenthalt in Aufnahmeeinrichtungen verpflichtet (§ 47 Abs. 1a AsylG) und daran anknüpfend von der Erwerbstätigkeit ausgeschlossen (§ 61 Abs. 1 Satz 1 AsylG) – selbst wenn ihnen eine Duldung erteilt wird (§ 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 AufenthG).116 36 Das Verfahren zur Prüfung des Schutzgesuches selbst ist zwar nicht Gegenstand der GFK. Jedoch tangieren die Regelungen über das beschleunigte Verfahren für Personen aus sicheren Herkunftsstaaten das Differenzierungsverbot aus Art. 3 GFK, wenn man dem Refoulement-Verbot insofern eine verfahrensrechtliche Dimension zuspricht, dass zumindest der dem Schutzgesuch zugrunde liegende Sachverhalt vom Aufenthaltsstaat zu prüfen ist. Ungleichbehandlungen bedürfen daher der Rechtfertigung.117 Solange aber die Grundanforderungen an ein faires Verfahren gewahrt sind, in dem das Schutzgesuch inhaltlich – wenngleich beschleunigt – geprüft wird, ist ein Verstoß gegen die Konventionsrechte nicht ersichtlich. 111 Pichl, Diskriminierung von Flüchtlingen und Geduldeten, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.),
Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 449 (453) sieht darin eine Unterscheidung zwischen vermeintlich „guten“ und „schlechten“ Flüchtlingen. 112 Eindrücklich zur Begleitung des Diskurses in den Medien Davy (Fn. 106), S. 24 ff. 113 Heusch, in: Heusch/Kluth (Hrsg.), BeckOK AuslR, Stand: Oktober 2021, § 29a AsylG Rn. 38 f. 114 BVerfGE 94, 115 – Sichere Herkunftsstaaten (1996). 115 Dieser Ansatz spiegelt sich auch im sogenannten integrierten Flüchtlingsmanagement wider, in dem die Asylgesuche je nach Herkunftsstaat durch das BAMF in Cluster eingeteilt und priorisiert worden sind, dazu Janda, Neue Erkenntnisse für das Verwaltungsrecht durch die Flüchtlingskrise?, in: Schliesky/Hill (Hrsg.), Verwaltungspraxis in Zeiten von Unsicherheit und Nichtwissen, 2019, S. 52. 116 Kritisch Pichl (Fn. 111), S. 460 f. 117 Hathaway (Fn. 104), S. 253. Constanze Janda
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Der Zugang von Flüchtlingen zur nichtselbstständigen Erwerbstätigkeit ist in Art. 17 37 GFK, der Zugang zum Wohnungswesen in Art. 21 GFK gewährleistet. Beide Verbürgungen sind jedoch nur den Flüchtlingen eingeräumt, die sich rechtmäßig in dem betreffenden Staat aufhalten. Rechtmäßig ist der Aufenthalt jedenfalls dann, wenn ein Aufenthaltstitel erteilt oder die Flüchtlingseigenschaft anerkannt worden ist.118 Wegen der lediglich deklaratorischen Wirkung der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft kann ein rechtmäßiger Aufenthalt jedoch bereits vorher gegeben sein.119 Menschen, die um Asyl nachsuchen, erhalten nach Ausstellung des Ankunftsnachweises (§ 63a Abs. 1 AsylG) eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG. Diese begründet ein Aufenthaltsrecht kraft Gesetzes bis zur Entscheidung über den Asylantrag, welches im non-refoulement aus Art. 33 GFK gründet.120 Indes ist umstritten, ob das bloße Stellen des Schutzgesuchs insbesondere im Hinblick auf die sozialen Rechte, die mit vergleichsweise umfassenden Leistungsverpflichtungen der Aufenthaltsstaaten und weitgehenden Teilhaberechten geflüchteter Menschen einhergehen, für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts ausreicht.121 Dies kann letztlich jedoch dahinstehen: Zwar geben sowohl Art. 17 GFK als auch Art. 21 GFK keine Inländergleichbehandlung vor, sondern lediglich die Gewährleistung gleicher Bedingungen, die auch für Angehörige anderer Staaten gelten. Wenn Flüchtlingen aus anderen Staaten bereits während des laufenden Asylverfahrens – also womöglich ebenfalls bevor sie einen rechtmäßigen Aufenthalt erlangt haben – die Möglichkeit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit eingeräumt ist und sie auch dezentral untergebracht werden können, verstößt eine abweichende Regelung und Praxis für die Angehörigen sicherer Herkunftsstaaten gegen das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 GFK. Denn die Norm verbietet auch eine Bevorzugung einzelner Flüchtlinge aufgrund ihrer Herkunft, selbst wenn die übrigen Gruppen sonst der GFK entsprechend behandelt werden.122 Die Möglichkeit einer Rechtfertigung einer solchen Diskriminierung ist in der Konvention nicht vorgesehen; sie wäre auch kaum zu begründen. Personen aus sicheren Herkunftsstaaten werden vornehmlich wirtschaftliche Motive für ihre Flucht zugeschrieben, die in der öffentlichen Debatte diskreditiert werden. Eine trennscharfe Abgrenzung politischer und sonstiger Migrationsmotive ist freilich nicht möglich. Das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten suggeriert zudem, dass die Anerkennung des internationalen Schutzstatus von vornherein ausgeschlossen ist,123 wiewohl sie – wenngleich mit erhöhtem Darlegungsaufwand der Schutzsuchenden – durchaus Ergebnis des Verfahrens sein kann. Der Gedanke der Abschreckung „unerwünschter“ Flüchtlinge ist der 118 Hathaway (Fn. 104), S. 186; Goodwin-Gill/McAdam, The Refugee in International Law, 2007, S. 526;
vgl. auch Conference of Plenipotentiaries on the Status of Refugees and Stateless Persons, Draft Convention Relating to the Status of Refugees, Report of the Style Committee, UN Doc. A/CONF.2/102 (1951), S. 2. 119 Hathaway (Fn. 104), S. 189; zustimmend Sharpe (Fn. 105), S. 781. 120 Neundorf, in: Heusch/Kluth (Hrsg.), BeckOK AuslR, Stand: Juli 2020, § 55 AsylG vor Rn. 1; Schröder, in: Hofmann (Hrsg.), NK-AuslR, 2. Aufl. 2016, AsylVfG § 55 Rn. 2. 121 Vgl. Hathaway (Fn. 104), S. 159, dort Fn. 20, der die Gewährung sozialer Rechte an eine „affirmative verification of refugee status“ knüpft. 122 Marx/Staff (Fn. 108), S. 650. 123 So beispielsweise Deinert (Fn. 66), S. 25. Constanze Janda
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GFK fremd: Sie gewährt universellen Schutz für jede Person, die sich der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt sieht. II. Ungleichbehandlungen im Aufenthaltsrecht 38 Die bereits dem Asylrecht inhärente Unterscheidung zwischen verschiedenen Gruppen
setzt sich im Aufenthaltsrecht fort und findet sich auch im Staatsangehörigkeitsrecht wieder. So wird gemäß § 12 Abs. 2 StAG bei Unionsbürgern und Schweizern die doppelte Staatsangehörigkeit hingenommen, bei Angehörigen anderer Staaten dagegen nicht. Auch die Optionspflicht nach § 29 StAG, wonach sich die ius-soli-Doppelstaater (§ 4 Abs. 3 StAG) mit Erreichen der Volljährigkeit für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden haben, trifft nicht alle Personen, sondern nur die, die neben der deutschen die Staatsangehörigkeit eines anderen als eines EU-Mitgliedstaates oder der Schweiz haben. Darin liegt eine doppelte Ungleichbehandlung – zum einen im Vergleich zu jungen Doppelstaatern, die die deutsche Staatsangehörigkeit kraft Abstammung haben, denen keine Pflicht zu einem Loyalitätsbekenntnis auferlegt wird, zum anderen im Verhältnis zu Unions- und schweizerischen Bürgern.124
1. „Steuerung und Begrenzung“ als Ziel des Aufenthaltsrechts 39 Ziel des Aufenthaltsrechts ist gemäß § 1 Abs. 1 AufenthG die „Steuerung und Begrenzung“
des Zuzugs von Ausländern. Wenngleich sich das Migrationsrecht in den letzten Jahren zumindest für die Arbeitsmigration stark geöffnet hat, folgt es damit noch immer einem gefahrenabwehrrechtlichen Ansatz.125 Die Verankerung dieses Ziels ist grundsätzlich von der nationalstaatlichen Souveränität gedeckt,126 sofern das Recht nicht so restriktiv ausgestaltet wird, dass die Vorgaben des Völkerrechts, namentlich das Refoulement-Verbot, verletzt werden. Dem Aufenthaltsrecht ist die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Staatsangehörigen denknotwendig inhärent, da Regelungen betreffend die Einreise und den Aufenthalt in das Staatsgebiet gerade nicht für die eigenen Staatsangehörigen gelten. Solche Vorgaben sind nicht per se diskriminierend. Sofern unterschiedliche Anforderungen für unterschiedliche Gruppen von Migrantinnen und Migranten statuiert werden, kommt es darauf an, ob diese einer sachlichen Rechtfertigung zugänglich sind. Solche Unterschiede bestehen beispielsweise im Hinblick auf die Visumspflicht, das Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung für die Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis, das Erfordernis von Sprachkenntnissen für den Familiennachzug127 oder die Voraussetzungen für die Erlangung eines Bleiberechts.128 Eine erschöpfende Darstellung und Analyse 124 Dazu Kießling (Fn. 8), S. 5 f. 125 Eichenhofer, in: Heusch/Kluth (Hrsg.), BeckOK AuslR, Stand: Oktober 2021, § 1 AufenthG Rn. 2;
Bender, in: Hofmann (Hrsg.), NK-AuslR, 2. Aufl. 2016, § 1 AufenthG Rn. 1 ff. zur historischen Genese.
126 Janda (Fn. 6), S. 63. 127 Siehe nur Kießling (Fn. 8), S. 33. 128 Dazu Pichl (Fn. 111), S. 461 f.
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ist an dieser Stelle nicht möglich;129 stattdessen sollen Ungleichbehandlungen hier exemplarisch am Beispiel der im AufenthG vorgesehenen Maßnahmen zur Integration erörtert werden. 2. Strukturelle und rechtliche Hürden für die „Integration“
Nachdem die Politik jahrzehntelang geleugnet hat, dass die Bundesrepublik ein Ein- 40 wanderungsland ist,130 wird seit den 2000er Jahren nach Wegen gesucht, zugewanderte Menschen in die Inlandsgesellschaft zu integrieren.131 Die erfolgreiche Integration wird belohnt, sei es mit einer Aufenthaltsverfestigung, sei es mit der Möglichkeit der Einbürgerung.132 Der genaue Gehalt des Begriffs der Integration ist schwammig.133 Gesellschaftspolitisch bezieht er sich auf das Anliegen des Zusammenlebens und der Zugehörigkeit der (vormals) „Fremden“ zur Inlandsgesellschaft, ohne dass freilich dafür wesentliche Elemente der eigenen Identität wie Sprache, Kultur oder Religion aufgegeben werden müssen.134 Der Begriff umschreibt neben diesem Ziel auch die auf dessen Erreichung gerichteten Prozesse – nicht zwangsläufig aber auch die dazu notwendigen Instrumente.135 Aus den normativen Vorgaben des AufenthG wird erkennbar, dass der Gesetzgeber vor allem Kenntnisse der deutschen Sprache sowie der Rechtsordnung, Kultur und Geschichte Deutschlands für erforderlich hält, um eine Integration in das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben zu bewirken, vgl. § 43 Abs. 1 und 2 AufenthG. Integration ist damit Aufgabe der Arbeitsmarkt-, Sozial- wie Gesellschaftspolitik gleichermaßen.136 Den genannten Aspekten ist gemein, dass sie sich auf von den Migrantinnen und Migranten selbst zu erbringende Integrationsanstrengungen beziehen. In der Sozialwissenschaft wird jedoch die Bedeutung von Kulturation, Platzierung, Interaktion und Identifikation als wesentliche Merkmale der Integration betont.137 Solche Aspekte, etwa die Einbindung in ein funktionierendes gesellschaftliches Netzwerk oder das Bestehen sozialer Kontakte, spielen im 129 Einen Überblick über die Facetten der Ungleichbehandlung im Migrationsrecht bieten etwa die Sam-
melbände Barwig/Davy (Hrsg.), Auf dem Weg zur Rechtsgleichheit?, 2004, sowie Barwig/Beichel-Benedetti/Brinkmann (Hrsg.), Gleichheit, 2012. 130 Grundlegend Meier-Braun, Freiwillige Rotation, 1979, S. 93 ff. 131 Gusy/Müller (Fn. 23), S. 269. 132 Siehe Kießling (Fn. 8), S. 3: Die Einbürgerung stehe „am Ende eines erfolgreichen Integrationsverlaufs wie eine Krönung“. 133 Ausführlich Schulte, Politische Steuerung von Integrationsprozessen und Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft, ZAR 2012, S. 289 (290 f.); Eichenhofer, Begriff und Konzept der Integration im Aufenthaltsgesetz, 2013; Bolat, Integration als Leitbild im deutschen Migrationsrecht, 2016. 134 Schulte (Fn. 65), S. 25; Schneider, Assimilation und Integration – eine Begriffsanalyse aus Sicht der Rechtswissenschaft, ZAR 2011, S. 8 (11); Niesten-Dietrich, Integration und Staatsangehörigkeit, ZAR 2012, S. 85 (86). 135 Gusy/Müller (Fn. 23), S. 269; Schulte/Treichler (Fn. 1), S. 45. 136 So bereits das „Kühn-Memorandum“ des damaligen Ausländerbeauftragten der Bundesregierung Kühn, Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland, 1979. 137 Esser, Integration und ethnische Schichtung, Arbeitspapiere Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung 40, 2001, S. 8 ff. Constanze Janda
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AufenthG keine Rolle – und sind überdies einer Regelung auch nur schwer zugänglich,138 zumal sie zwingend auch Anstrengungen der Inlandsgesellschaft erfordern.139 Dies kann sich bereits als strukturelle Hürde für eine erfolgreiche gesellschaftliche Teilhabe zugewanderter Menschen erweisen. 41 Hinzu kommt die rechtliche Ungleichbehandlung: Nicht alle Ausländerinnen und Ausländer sind verpflichtet, an Integrationskursen teilzunehmen und damit einen sanktionierten Beitrag zu ihrer gesellschaftlichen Eingliederung zu leisten. Adressaten der Kurse sind die „rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet lebenden Ausländer“ (§ 43 Abs. 1 AufenthG). Einen Anspruch auf Teilnahme haben daher Personen, die sich dauerhaft im Inland aufhalten werden und denen erstmals eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist. Von einem dauerhaften Aufenthalt ist insofern auszugehen, wenn eine Aufenthaltserlaubnis von mindestens einjähriger Geltungsdauer erteilt worden ist (§ 44 Abs. 1 AufenthG). Sind darüber hinaus Kursplätze verfügbar, können auch andere Personen zur Teilnahme zugelassen werden. Dies betrifft namentlich Asylsuchende, bei denen ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten ist, § 43 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 lit. a) AufenthG. Insofern wird eine Ausnahme vom Grundsatz des Erfordernisses rechtlicher Gewissheit über die Bleibeperspektive gemacht. Dadurch wird vermieden, dass aufgrund langer Asylverfahren die Chance für einen frühzeitigen Spracherwerb und von Kenntnissen über die deutsche Rechts- und Gesellschaftsordnung vertan wird, zumal dies Schwierigkeiten für die Arbeitsmarktintegration nach sich ziehen kann.140 Welcher Personenkreis aus dieser Norm ein Recht auf Teilnahme an Integrationskursen herleiten kann, ist abhängig von der Anerkennungs- und Gesamtschutzquote von Schutzsuchenden aus dem betreffenden Herkunftsstaat. Diese muss bei mindestens 50 Prozent liegen, um eine sichere Bleibeperspektive annehmen zu können; die Rechtsprechung verhält sich hierzu jedoch nicht einheitlich.141 Wiederum sind Asylsuchende aus sicheren Herkunftsstaaten davon ausgenommen, § 44 Abs. 4 Satz 3 AufenthG. Der Gesetzgeber begründet dies damit, dass bei Personen, bei denen ein dauerhafter Inlandsaufenthalt nicht zu erwarten ist, kein Eingliederungsbedarf bestehe.142 Auch hier kommt wiederum der Gedanke der „Sippenhaft“ zum Tragen: alle Schutzsuchenden aus diesen Staaten werden bewusst und gezielt von Integrationsmaßnahmen ausgeschlossen, weil ihnen unlautere Motive unterstellt werden.143 Hierdurch wird eine strukturelle Ausgrenzung von Menschen bewirkt, die aufgrund sprachlicher Barrie138 Kritisch Kunz, Was meint eigentlich „Integration“?, ZAR 2018, S. 107 (112); Janda, Migration und ihre
Folgen, JZ 2018, S. 816 (819). Zur Integration in den Arbeitsmarkt trägt aber zumindest das AGG insofern bei, als Arbeitgeberinnen die Einstellung von zugewanderten Menschen nicht aufgrund diskriminierender Zuschreibungen erschweren dürfen. 139 Gusy/Müller (Fn. 23), S. 271. 140 BT-Drs. 18/6185, S. 48. 141 Siehe auch Eichenhofer, in: Heusch/Kluth (Hrsg.), BeckOK AuslR, Stand: Juli 2020, § 44 AufenthG Rn. 17 m. w. N.; v. Harbou, Der Zugang Asylsuchender und Geduldeter zu Erwerbstätigkeit und Bildung, NVwZ 2016, S. 421 (425). 142 BT-Drs. 18/6185, S. 34. 143 Siehe v. Harbou (Fn. 141), S. 425; Janda, Migrationssteuerung durch Recht?, Jahrbuch für Recht und Ethik 2017, S. 239 (247). Constanze Janda
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ren Schwierigkeiten im Umgang mit Behörden oder beim Zugang zu Beschäftigung oder gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe haben. Zwar verbürgen die Verfassung wie auch das Völkerrecht – Art. 3 Abs. 3 GG, ebenso wie in Art. 2 AEMR und Art. 14 EMRK – ein Verbot der Diskriminierung wegen der Sprache. Diese Normen beinhalten jedoch in erster Linie ein Abwehrrecht, welches beispielsweise vor der Unterdrückung der Muttersprache schützt. Eine leistungsrechtliche Dimension in dem Sinne, dass Menschen mit anderer Sprache das Erlernen und Anwenden der Mehrheitssprache zu ermöglichen oder tatsächliche sprachbedingte Erschwernisse auszugleichen wären, lässt sich daraus jedoch nicht herleiten.144 Dieses spezifische Diskriminierungsverbot lässt sich daher nicht für die Beseitigung der im Ausschluss von Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten liegenden Benachteiligung bei der Integration nutzbar machen. 3. Wohnsitzauflagen für anerkannte Flüchtlinge
Benachteiligungen werden aber nicht nur Asylsuchenden bestimmter Herkunft, sondern 42 auch anerkannten Flüchtlingen zuteil. Mit dem Integrationsgesetz145 ist in § 12a AufenthG die Möglichkeit geschaffen worden, Asylberechtigten, anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten im Wege einer Wohnsitzauflage einen bestimmten Aufenthaltsort zuzuweisen. Damit soll ausweislich des Gesetzeswortlauts die nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik gefördert werden; indes wird die Auflage nach § 12a Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur an Personen erteilt, die nicht erwerbstätig sind, also auf existenzsichernde Leistungen angewiesen sind.146 Der Aufenthalt an einem anderen Ort hat einen Leistungsausschluss zur Folge, denn Grundsicherung und Sozialhilfe werden ausschließlich durch den Träger des in der Auflage zugewiesenen Ortes erbracht, § 36 Abs. 2 SGB II, § 23 Abs. 5 SGB XII.147 In der Rechtssache Alo und Osso148 hat der EuGH Wohnsitzauflagen als unionsrechts- 43 widrig eingestuft, mit denen die Sozialhilfelasten unter den örtlich zuständigen Sozialhilfeträgern gleich verteilt werden sollen. Der Gerichtshof bezog sich auf das Gebot der Inländergleichbehandlung im Sozialhilferecht nach Art. 29 RL 2011/95/EG sowie das Freizügigkeitsgebot nach Art. 33 RL 2011/95/EG. Wenn eine Wohnortzuweisung im Interesse der Verteilung der Sozialhilfelasten bei Deutschen nicht vorgesehen sei, könne dies auch für subsidiär Schutzberechtigte nicht gelten. Offen ließ der EuGH jedoch, ob Wohnsitzauflagen, die dem Ziel der Integration dienen, mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar sind. Eigene Staatsangehörige und Schutzberechtigte befänden sich insofern nicht in einer vergleichbaren Lage, sodass das Gebot der Inländergleichbehandlung nicht zum Tragen komme.149 144 BVerfGE 64, 135 (156) – Übersetzung im Strafverfahren (1983); Kischel, in: Epping/Hillgruber
(Hrsg.), BeckOK GG, Stand: November 2021, Art. 3 Rn. 229. Integrationsgesetz v. 31.7.2016, BGBl. 2016 I, S. 1939. Pelzer/Pichl, Wohnsitzauflage und Residenzpflicht, ZAR 2016, S. 96. Kritisch Davy (Fn. 106), S. 13. EuGH, Urt. v. 1.3.2016, Rs. C-443/14 und C-444/14, Alo und Osso. EuGH, Urt. v. 1.3.2016, Rs. C-443/14 und C-444/14, Alo und Osso, Rn. 59.
145 146 147 148 149
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Der Zusammenhang zwischen Wohnsitzauflage und Integration wird in § 12a Abs. 3 AufenthG verdeutlicht. Die Zuweisung eines Wohnorts kommt danach insbesondere dann in Betracht, wenn dadurch die Versorgung mit Wohnraum, der Erwerb von Deutschkenntnissen oder der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden. Dies mag im Hinblick auf die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen, die in Art. 27 GFK sowie in Art. 33 RL 2011/95/ EU verbürgt ist, unbedenklich sein.150 Indes sehen weder Art. 23 GFK noch Art. 29 RL 2011/95/EG Spielräume für die Ungleichbehandlung von Flüchtlingen im Sozialhilfebezug vor. Sie dürfen daher nicht strengeren Anspruchsvoraussetzungen ausgesetzt sein als die eigenen Staatsangehörigen.151 Daher dürfen ihnen auch im Interesse der Integration keine existenzsichernden Leistungen vorenthalten werden.
C. Diskriminierung zugewanderter Menschen im Sozialrecht 45 Dass dem Zuzug von Ausländerinnen und Ausländern über Jahrzehnte mit einem ge-
fahrenabwehrrechtlichen Ansatz begegnet wurde, spiegelt sich auch im Sozialrecht wider. Nach § 30 Abs. 1 SGB I knüpft das deutsche Sozialrecht zwar zunächst nur an den Wohnsitz oder den gewöhnlichen Aufenthalt an. Sozialleistungen stehen daher grundsätzlich allen im Inland lebenden Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit zu.152 Indes unterwerfen die speziellen Regelungen in den Besonderen Teilen des SGB den Zugang von Migrantinnen und Migranten strengeren Anforderungen. Es finden sich spezifische Vorgaben zu Unionsbürgern, Drittstaatsangehörigen, Flüchtlingen und Asylsuchenden, Heimat- und Staatenlosen, Vertriebenen oder (Spät)Aussiedlern.153 Neben Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus wird auf die Aufenthaltsdauer rekurriert. 46 Dies erscheint insofern schlüssig, als die Mitgliedschaft im Solidarverband des Sozialstaats im Zeitalter des Nationalstaats eng an die Idee der Nation geknüpft ist.154 Im Lichte eines menschenrechtlichen Ansatzes155 muss die Gleichsetzung von Solidargemeinschaft und Nation auf Bedenken stoßen. Einerseits sind der grundsätzlich unangetasteten Kompetenz der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung des Sozialrechts durch die Gleichheitsverbürgungen des Unionsrechts erhebliche Grenzen gesetzt. Die Migrationsrichtlinien, die auch Vorgaben zu den Mindeststandards sozialer Sicherheit enthalten, sind zudem im Lichte der GRCh,156 der EMRK sowie – für Flüchtlinge – der GFK auszulegen.157 Schließ150 Schmahl/Jung (Fn. 77), S. 7, a. A. Pelzer/Pichl (Fn. 146), S. 100 f., die vor allem die Unverhältnismäßig-
keit der Regelung betonen.
151 Walter/Goldbach (Fn. 107), S. 321. Dazu ausführlich Davy (Fn. 106), S. 16 f. 152 Langenfeld, Asyl und Migration unter dem Grundgesetz, NVwZ 2019, S. 677 (683). 153 Gusy/Müller (Fn. 23), S. 268; ausführlich Janda (Fn. 6), passim. Zu weiteren diskriminierenden As-
pekten im Sozialrecht → Wersig, § 25.
154 Giddens, Beyond Left and Right, 1994, S. 137: „Who says welfare state, says nation state.“ 155 Dazu grundlegend Eichenhofer, Soziale Menschenrechte im Völker-, europäischen und deutschen
Recht, 2012.
156 Namentlich das Diskriminierungsverbot aus Art. 21 GRCh entfaltet „aus sich heraus Wirkung“ und
muss weder durch Unionsrecht noch durch nationales Recht konkretisiert werden, um dem Einzelnen ein Constanze Janda
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lich vermitteln völkerrechtliche Normen wie Art. 9 und 11 IPwskR jeder Person ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit das Recht auf soziale Sicherheit sowie auf Sicherung eines angemessenen Lebensstandards. Wie weit der Anspruch sozialrechtlicher Gleichheit und die Realität des Sozialrechts auseinanderfallen, wird im Folgenden exemplarisch anhand des Ausschlusses arbeitsuchender Unionsbürger vom Grundsicherungsbezug sowie des Sondersozialhilferechts nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)158 dargestellt. I. Ausschluss mittelloser Unionsbürgerinnen und Unionsbürger vom Sozialleistungsbezug
Grundsätzlich sind die Mitgliedstaaten in der Ausgestaltung ihrer Systeme sozialer Sicher- 47 heit frei; nicht zuletzt angesichts der historisch gewachsenen Strukturen des Sozialrechts ist der EU keine Kompetenz zur Harmonisierung eingeräumt, vgl. auch Art. 153 AEUV.159 Die Mitgliedstaaten sind jedoch an vorrangiges Unionsrecht gebunden, müssen ihr nationales Sozialrecht also so ausgestalten, dass dadurch die primärrechtlichen Vorgaben gewahrt bleiben und insbesondere die Ausübung der Grundfreiheiten nicht beeinträchtigt wird. 1. Privilegierte Migration von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern?
Seit ihrer Gründung im Jahr 1957 ist die EU – damals noch EWG, EGKS und Euratom – 48 auf Mobilität angelegt: Kapital, Waren und Dienstleistungen sollen im gemeinsamen Binnenmarkt frei zirkulieren. Dass zu diesem Zweck auch die Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu gewährleisten ist, ist zwingende Folge eines europäisierten, inzwischen globalisierten Marktes.160 Zwar differenziert der Wortlaut des Art. 45 AEUV nicht nach der Staatsangehörigkeit; der EuGH hat jedoch klargestellt, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit unmittelbar nur die Angehörigen der EU-Mitgliedstaaten schützt.161 Nichterwerbstätige Personen genießen erst seit der Einführung der Unionsbürgerschaft 49 durch den Vertrag von Maastricht im Jahr 1992 das Recht auf Freizügigkeit. Dieses steht gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV unter dem Vorbehalt der Beschränkungen und Bedingungen im sonstigen Primär- sowie im Sekundärrecht; zur Seite gestellt ist ihm ein Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit „unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge“, Art. 18 AEUV. Damit bietet die Unionsbürgerschaft ein weiteres, vom subjektives Recht zu verleihen, EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 78; ausführlich zur Bindungswirkung der GRCh v. Diest (Fn. 4), S. 54 ff. 157 Walter/Goldbach (Fn. 107), S. 319. 158 Asylbewerberleistungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 5.8.1997, BGBl. 1997 I, S. 2022, zuletzt geändert durch Artikel 18 des Gesetzes v. 12.6.2020, BGBl. 2020 I, S. 1248. 159 Ständige Rechtsprechung, vgl. nur EuGH, Urt. v. 24.4.1980, Rs. 110/79, Coonan, Rn. 12; EuGH, Urt. v. 7.2.1984, Rs. 238/82, Duphar, Rn. 16; EuGH, Urt. v. 4.10.1991, Rs. C-349/87, Paraschi; EuGH, Urt. v. 17.6.1997, Rs. C-70/95, Sodemare, Rn. 27. 160 Schammann (Fn. 12), S. 71. 161 Die Formulierung des EuGH „Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten“ ist insofern jedoch nicht eindeutig, EuGH, Urt. v. 5.7.1984, Rs. 238/83, Meade, Rn. 7. Constanze Janda
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Nationalstaat unabhängiges Kriterium der Zugehörigkeit, ohne freilich per se auch die Mitgliedschaft in der Solidargemeinschaft der einzelnen Mitgliedstaaten zu vermitteln.162 Diese folgt erst aus dem Zusammenspiel mit der Freizügigkeit und dem Diskriminierungsverbot. Da das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit einer der prägenden Grundsätze des Primärrechts ist, sind strenge Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen zu stellen.163 Dem Interesse der Mitgliedstaaten, einer vermeintlichen „Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme“ zu begegnen und die finanzielle Stabilität des Systems der sozialen Sicherheit zu gewährleisten, hat der EuGH durch das Erfordernis einer „tatsächlichen Verbindung“ Rechnung getragen, die die Sozialleistungsberechtigung im konkreten Aufenthaltsstaat legitimiert.164 Erforderlich ist damit eine „Nähebeziehung“ zum leistenden Staat, die für Migrantinnen und Migranten freilich schwerer zu begründen ist als für Einheimische.165 2. Gleichbehandlungsgebot im Sekundärrecht
Art. 24 RL 2004/38 verbietet zwar grundsätzlich die Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Abs. 1), stellt den Mitgliedstaaten aber zugleich frei, Sozialhilfeleistungen nur jenen Unionsbürgern zu gewähren, die sich bereits länger als drei Monate im Mitgliedstaat aufhalten und deren Aufenthaltsrecht nicht lediglich zum Zwecke der Arbeitsuche besteht (Abs. 2).166 In den ersten drei Monaten des Aufenthalts haben auch mittellose Menschen ein Aufenthaltsrecht, solange sie Sozialleistungen nicht unangemessen in Anspruch nehmen, Art. 6 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38/EG. Der längerfristige Aufenthalt setzt jedoch voraus, dass die Person erwerbstätig ist oder über hinreichende Mittel zum Lebensunterhalt verfügt. Gleichwohl führt der Sozialhilfebezug keineswegs automatisch zur Aufenthaltsbeendigung, Art. 6 Abs. 1, Art. 7, Art. 14 Abs. 1 und 3 RL 2004/38/EG. 51 Art. 4 VO (EG) 883/2004 etabliert demgegenüber das Gebot der Inländergleichbehandlung im Sozialrecht, welches ungeachtet der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch den Lebensmittelpunkt in einem Mitgliedstaat ausgelöst wird.167 Unionsbürgerrichtlinie und koordinierendes Sozialrecht führen somit zu diametral gegensätzlichen Ergebnissen.168 Für Angehörige anderer Mitgliedstaaten dürfen nach Art. 4 VO (EG) 883/2004 keine 50
162 Kingreen (Fn. 8), S. 84. Als Familienangehörige von Unionsbürgern sind auch Drittstaatsangehörige
privilegiert, da sie aus den Grundfreiheiten und Rechten ihrer Angehörigen ihrerseits Rechte ableiten können. 163 Bokeloh, Die mittelbare Diskriminierung im Europäischen Sozialrecht, DRV 2014, S. 88 (94). 164 EuGH, Urt. v. 12.5.1998, Rs. C-85/96, Martinez Sala; EuGH, Urt. v. 20.9.2001, Rs. C-184/99, Grzelczyk; EuGH, Urt. v. 11.7.2002, Rs. C-224/98, d’Hoop; EuGH, Urt. v. 7.9.2004, Rs. C-456/02, Trojani; EuGH, Urt. v. 15.3.2005, Rs. C-209/03, Bidar; ausführlich Devetzi, Die „Verbindung“ zu einem (Sozial-) Staat, EuR 2014, S. 638 ff. 165 Vgl. den Überblick bei Pfeil, Sozialleistungen für migrierende Arbeitslose, ZIAS 2016, S. 151 (155 f.). 166 Die Unionsbürgerrichtlinie soll den Aufenthaltsstatus von Unionsbürgern nach Beendigung einer Beschäftigung einheitlich regeln, vgl. Erwägungsgrund 1 VO (EG) 635/2006. 167 Art. 4, Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004, Art. 11 VO (EG) 987/2009. 168 Schreiber, Die Bedeutung des Aufenthaltsrechts für die sozialrechtliche Gleichbehandlung von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern, ZAR 2015, S. 46. Constanze Janda
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strengeren Anspruchsvoraussetzungen etabliert werden als für die des zuständigen Staates. Von dem Gleichbehandlungsgebot profitieren nicht nur Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, sondern auch Flüchtlinge und Staatenlose sowie Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat der EU aufhalten, so Art. 1 VO (EU) 1231/2010. Die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts richten sich nach dem nationalen Recht des zuständigen Mitgliedstaats.169 Die praktische Realisierung des Gleichbehandlungsgebots für Drittstaatsangehörige wird jedoch dadurch erschwert, dass das koordinierende Sozialrecht nur in (binnen)grenzüberschreitenden Sachverhalten anwendbar ist,170 also innereuropäische Mobilität voraussetzt. Diese gewährt das Migrationsrecht indes oftmals nicht: In zahlreichen Richtlinien sind unterschiedliche Zugangsvoraussetzungen für unterschiedliche Gruppen von Drittstaatsangehörigen – Saisonarbeitnehmer, Hochqualifizierte etc. – etabliert.171 Vereinfacht gesprochen erweitert sich danach der Kreis der sozialen Rechte, je weiter der Aufenthalt verfestigt ist. Die Verfestigung wiederum ist leichter für Hochqualifizierte als für Geringqualifizierte. Das Unionsrecht folgt damit nicht lediglich der Struktur „eigene“ vs. „fremde“ Bürger, sondern etabliert ein ausdifferenziertes System von Zugangsrechten, das eher einem Flickenteppich gleicht. 3. Nationales Recht
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden Grundsicherungsleistungen an Menschen erbracht, 52 die erwerbsfähig (§ 8 SGB II) und hilfebedürftig (§ 9 SGB II) sind, mindestens 15 Jahre alt sind, aber das Rentenalter noch nicht erreicht haben und sich gewöhnlich in der Bundesrepublik aufhalten (§ 30 Abs. 3 SGB I). Für Ausländerinnen und Ausländer statuiert § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II weitere Voraussetzungen, mit denen der Gesetzgeber vor allem die vermeintliche „Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme“ verhindern will. Ausgeschlossen vom Leistungsbezug sind danach nichterwerbstätige Personen in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts. Diese Wartefrist findet ihre historischen Wurzeln im Prinzip des Unterstützungswohnsitzes, wonach die Zuständigkeit für die Gewährung von Fürsorgeleistungen erst nach Ablauf einer bestimmten Zeit auf den Aufenthaltsort überging. Bis dahin blieb weiterhin die Herkunftsgemeinde zuständig,172 mit der Folge, dass der Aufenthalt dorthin zurückzuverlegen war, da existenzsichernde Leistungen nicht exportiert wurden. Nach Ablauf der Wartefrist sind Personen ohne Aufenthaltsrecht sowie Arbeitsuchende von den Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen. Erst nach fünfjährigem gewöhnlichen Aufenthalt sind sie den Deutschen gleichgestellt, § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II.173 Sind sie bereits vorher auf existenzsichernde Leistungen angewiesen, vermittelt § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII einen Anspruch auf Überbrückungsleistungen, welche jedoch innerhalb einer Rahmenfrist von zwei Jahren lediglich für einen Monat gewährt werden und sich auf 169 170 171 172 173
Bokeloh (Fn. 163), S. 95. EuGH, Urt. v. 11.10.2001, Rs. C-95/99, Khalil. Vgl. dazu Janda (Fn. 13), S. 146 ff. Kingreen (Fn. 8), S. 86. Die Ausschlusstatbestände sind spiegelbildlich auch im Sozialhilferecht, § 23 SGB XII, enthalten. Constanze Janda
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die Sicherung der physischen Existenz beschränken.174 Der Gesetzgeber sieht sich damit im Einklang mit der neueren Rechtsprechung des EuGH, nach der das Gebot der Inländergleichbehandlung aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 an die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nach der Unionsbürgerrichtlinie gekoppelt ist.175 Zugleich hat sich der Gesetzgeber explizit von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts abgesetzt, welches im Falle der Aufenthaltsverfestigung ein Recht auf Hilfe zum Lebensunterhalt als Ermessensleistung aus dem Grundrecht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz hergeleitet hat.176 4. Bewertung 53 Unionsbürger, denen im Allgemeinen ein robuster Rechtsstatus zugeschrieben wird, wer-
den folglich im Falle der Erwerbs- oder Mittellosigkeit gegenüber Drittstaatsangehörigen benachteiligt, die immerhin unbefristet Leistungen nach dem AsylbLG beziehen können. Gerechtfertigt wird die Unterscheidung mit dem Hinweis auf die für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger jederzeitige Möglichkeit der Rückkehr in das Herkunftsland.177 Zweifelsohne ist diese bei Unionsbürgern nicht mit Gefahren für Leib und Leben verbunden. Die Rechtslage lässt aber die tatsächliche Lebenssituation der betroffenen Personen außer Acht; beispielsweise werden Roma in verschiedenen Mitgliedstaaten strukturell diskriminiert und dadurch von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. 54 Die Leistungsausschlüsse in § 7 SGB II wie § 23 SGB XII ignorieren nicht nur die mit der Wohnsitzverlegung in einen anderen Staat verbundenen Kosten, die für arme Menschen nur schwer zu stemmen sein dürften.178 Sie verstellen zudem den Blick auf die Anspruchsvoraussetzungen der Grundsicherung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II, insbesondere das Erfordernis des gewöhnlichen Aufenthalts. Dieser wird gerade nicht per se mit der Einreise oder der Arbeitsuche begründet, sondern erfordert die Begründung des Lebensmittelpunkts. Besteht dieser, erklärt sich nicht, warum damit nicht auch die sozialstaatliche Verantwortung für die Lebensunterhaltssicherung auf den Aufenthaltsstaat übergehen soll. Im Kontext migrationsbedingter Diskriminierung werfen die Leistungsausschlüsse die 55 Frage auf, ob die beständige Wiederholung der Behauptung, ein zu großzügiges soziales Sicherungssystem löse Wanderungsbewegungen derjenigen aus, die die Leistungen ausnutzen wollen, zu einer gesellschaftlichen Stigmatisierung mittelloser „Fremder“ führt. Der Gesetzgeber suggeriert ein Regelungsbedürfnis, und bedient sich mit dem Topos des Missbrauchs von Sozialleistungen eines diskriminierenden Argumentationsmusters.179 Dieses hat beispielsweise auch die 2019 erfolgte Verschärfung der Zugangskriterien für 174 Kritisch Steffen/Oberhäuser, Rechtswidriger Leistungsausschluss für Unionsbürger, ZAR 2017, S. 149;
Janda/Devetzi, Das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende und in der Sozialhilfe, ZESAR 2017, S. 197. 175 EuGH, Urt. v. 19.9.2013, Rs. C-140/12, Brey; EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13, Dano; EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14, Alimanovic. 176 BSGE 120, 149. 177 Langenfeld (Fn. 152), S. 683. 178 Pfeil (Fn. 165), S. 161. 179 Reisigl (Fn. 45), S. 91 f. Constanze Janda
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das Kindergeld getragen.180 Warum indes bereits das Beantragen einer Grundsicherungsoder Familienleistung durch erwerbslose Unionsbürger einen Leistungsmissbrauch darstellen soll, bleibt unbeantwortet. Der Vorwurf des Missbrauchs von Sozialleistungen im engeren Sinne kann sich doch nur in den Fällen stellen, in denen falsche Angaben gemacht werden, um Leistungen zu erschleichen, auf die kein Anspruch besteht. Ihm kann durch sorgfältige Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen, nötigenfalls mit den Mitteln des Strafrechts begegnet werden. Der Argumentation liegt im Kern der Gedanke zugrunde, dass bereits die Einreise dieser Personen missbräuchlich erfolge, da sie allein von dem Motiv getragen sei, Leistungen in Anspruch zu nehmen. Für diese sogenannte „Um-zu-Einreise“ bestehen aber seit jeher Leistungsausschlüsse im Sozialhilferecht (vgl. § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB XII), mit denen dem unerwünschten forum shopping begegnet werden soll. Die Etablierung zahlreicher weiterer Ausschlusstatbestände beinhaltet jedoch eine generelle Abwertung von Menschen, die von ihren unionsrechtlichen Mobilitätsrechten Gebrauch machen, aber nicht über hinreichende eigene Mittel zur Sicherung ihres Lebensunterhalts verfügen. Regelungen, die die Gewährung existenzsichernder Leistungen von einem Voraufent- 56 halt oder der Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängig machen, verstoßen zudem gegen das Recht auf soziale Sicherheit aus Art. 9 IPwskR und das bedingungslose Recht auf einen angemessenen Lebensstandard aus Art. 11 IPwskR. Sind derartige Zugangskriterien nur für fremde Staatsangehörige vorgesehen, bedürfen sie – nicht zuletzt aufgrund des dem Recht auf soziale Sicherheit und Fürsorge inhärenten Gedankens des Schutzes der Menschenwürde – der Rechtfertigung durch gewichtige Gründe des allgemeinen Interesses. Da die welfare magnet thesis migrationssoziologisch nicht belegt ist,181 verbietet sich der Rückgriff auf sie, um sozialrechtliche Einschränkungen für Ausländerinnen und Ausländer zu begründen. Ungleichbehandlungen dürfen gerade nicht auf Stereotypen basieren, sondern erfordern eine sachliche (!) Rechtfertigung.182 Das Argument, die Zugehörigkeit zur inländischen Solidargemeinschaft hätte man sich zunächst zu verdienen, verfängt im Kontext gegenleistungsunabhängiger Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums jedenfalls nicht.183 Dies entspricht auch der Rechtsprechung des EGMR, der aus Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 1 1. ZP-EMRK ein umfassendes Recht auf Gleichbehandlung im Sozialrecht hergeleitet hat. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die Überlegung, dass Anwartschaften und Ansprüche auf Sozialleistungen – egal ob sie aus eigenen Beiträgen oder aus Steuern finanziert werden – Eigentumscharakter aufweisen. Das Diskriminierungsverbot aus Gründen der nationalen Herkunft in Art. 14 EMRK verbiete Ungleichbehandlungen, die an die Staatsangehörigkeit anknüpfen. Eine Rechtfertigung für die Vorenthaltung von 180 Dazu Janda, Familienförderung nur für „Marktbürger“?, ZRP 2019, S. 94. 181 Die Verbesserung der ökonomischen Situation ist regelmäßig nur eines von mehreren Migrations-
motiven, dazu Oswald (Fn. 2), S. 69 ff. Armut ist in aller Regel sogar ein Hemmnis für Migration, Oltmer, Flucht, Vertreibung, Asyl, in: Oppelland (Hrsg.), Das Recht auf Asyl im Spannungsfeld von Menschenrechtsschutz und Migrationsdynamik, S. 75 (106 f.). 182 Baer, Das Soziale und die Grundrechte, NZS 2014, S. 1 (3). 183 Davy (Fn. 106), S. 32 und 35 f. Constanze Janda
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beitrags- wie steuerfinanzierten Sozialleistungen allein aus Gründen der Staatsangehörigkeit konnte der EGMR nicht erkennen. Insbesondere lehnte das Gericht die Argumentation ab, dass eine besondere Verantwortung der Nationalstaaten gegenüber ihren eigenen Staatsangehörigen bestehe.184 II. Das Sondersozialhilferecht für Drittstaatsangehörige mit vorübergehendem Aufenthalt 57 Nachdem zu Beginn der 1990er Jahre aufgrund der Kriege im damaligen Jugoslawien
sowie im Irak die Zahl der Asylsuchenden erheblich angestiegen war, wurde mit dem AsylbLG ein Sondersystem zur Existenzsicherung von Personen mit lediglich vorübergehendem Inlandsaufenthalt geschaffen. Auch in diesem Kontext wurde der Topos des Missbrauchs aktiviert: Eine Vielzahl von Asylgesuchen sei weniger durch die Kriegssituation im Herkunftsland als durch die Aussicht auf die Gewährung von Sozialhilfeleistungen motiviert.185 Der persönliche Anwendungsbereich (§ 1 AsylbLG) erfasste Asylsuchende, Geduldete und Ausreisepflichtige sowie Inhaber von einzelnen Aufenthaltstiteln aus humanitären Gründen. Nach § 3 AsylbLG waren lediglich Sachleistungen zu erbringen,186 deren Umfang auf einer Schätzung beruhte.187 Gesichert wurde lediglich die physische Existenz: Nahrung, Kleidung, Obdach, Körperpflege sowie eine medizinische Notversorgung für akute Erkrankungen und Schmerzzustände (§ 4 AsylbLG). Der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse diente ein gering bemessenes Taschengeld. Mit der Neuregelung wollte der Gesetzgeber Asylsuchende abschrecken, denen er überwiegend wirtschaftliche Motive zuschrieb.188 1. Fortentwicklung des AsylbLG
58 Das Bundesverfassungsgericht hat die Grundleistungen nach § 3 AsylbLG fast 20 Jahre
nach ihrem Inkrafttreten für verfassungswidrig erklärt:189 Die Leistungsbeträge seien evident unzureichend, nicht zuletzt aufgrund der über Jahre unterbliebenen Anpassung an die Preisentwicklung. Die Regelung verletze damit das Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht stellte klar, dass es sich dabei um ein Menschenrecht handele, das jedermann ungeachtet der Staatsangehörigkeit und des Aufenthaltsstatus zustehe. Ungleichbehandlungen in der Existenzsicherung seien nur zulässig, wenn für bestimmte Gruppen nachweislich andere Bedarfe bestehen. Eine formale Anknüpfung an den Aufenthaltsstatus hielt 184 EGMR, Urt. v. 16.9.1996, Beschwerde-Nr. 17371/90, Gaygusuz v. Österreich; EGMR, Urt. v. 30.9.2003,
Beschwerde-Nr. 40892/98, Poirrez v. Frankreich.
185 BT-Drs. 12/4451, S. 5. 186 Die meisten Bundesländer haben jedoch aufgrund des hohen Verwaltungsaufwands und der erheb-
lichen Kosten von der Erbringung von Sachleistungen Abstand genommen.
187 Dies hat auch der Gesetzgeber eingeräumt, BT-Drs. 16/9018, S. 6. 188 BT-Drs. 12/5008, S. 13. 189 BVerfGE 132, 134 – Asylbewerberleistungsgesetz (2012).
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das Gericht für bedenklich, zumal der personelle Anwendungsbereich nach § 1 AsylbLG nicht gewährleiste, dass von dem Gesetz nur Menschen betroffen seien, die sich lediglich vorübergehend im Inland aufhalten. Der Gesetzgeber darf sich hier folglich nicht auf eine formale, allein am Aufenthaltsstatus anknüpfende Betrachtung zurückziehen, sondern müsse auch die tatsächliche Aufenthaltsdauer berücksichtigen. Gänzlich unzulässig sei aber die Verknüpfung des Existenzsicherungsrechts mit migrationspolitischen Zielen. Sozialleistungen dürfen danach nicht in Dienst genommen werden, um Migration zu steuern, namentlich unerwünschte Zuwanderer abzuschrecken. Mit der im Nachgang zu dem Urteil erfolgten Neuregelung – die sich freilich auf § 3 59 AsylbLG beschränkte und andere problematische Regelungen außen vor ließ – näherte der Gesetzgeber die Grundleistungen an die nach dem SGB II bzw. SGB XII an: Grundlage der Berechnung der Leistungssätze ist seither die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die auch dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG)190 zugrunde liegt. Herausgerechnet wurden lediglich Aufwendungen für die Beschaffung eines Bundespersonalausweises, für Hausrat sowie die Gesundheitspflege, da diese in Form von Sachleistungen erbracht werden bzw. von vornherein nicht anfallen.191 Nachdem das Sachleistungsprinzip im Zuge des sogenannten „2. Asylkompromisses“ 60 aus dem Jahr 2014 weitgehend aufgegeben worden war, wurde es mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz192 wieder eingeführt und sogar verstärkt, nachdem die Zahl der Asylsuchenden 2014 und 2015 erneut stark angestiegen war. Seither sollen gemäß § 3 Abs. 2 Satz 4 AsylbLG auch die persönlichen Bedarfe durch Sachleistungen gedeckt werden; eine Ausnahme gilt nur für dezentral untergebrachte Asylantragsteller. Bei den persönlichen Bedarfen handelt es sich um Leistungen, die nicht, wie etwa Nahrung, Kleidung, Obdach und Hygiene, vornehmlich der physischen Existenz, sondern vor allem der soziokulturellen Teilhabe dienen. Diese als Sachleistung zu erbringen, sieht der Gesetzgeber als geboten an, um Personen abzuschrecken, die zwar einen Asylantrag stellen, tatsächlich aber vor allem den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt anstreben. Zugleich wurde § 1a AsylbLG verschärft, indem die Leistungsansprüche von Personen, die im Asylverfahren nicht hinreichend mitwirken, auf das zur Sicherung der physischen Existenz Gebotene beschränkt wurden.193 2016194 wurden weitere Bedarfspositionen aus der Grundleistung nach § 3 AsylbLG 61 herausgerechnet, die der Gesetzgeber im Hinblick auf die Kürze des Aufenthalts als nicht regelsatzrelevant angesehen hat. Dazu zählen vornehmlich Ausgaben für Bildung, Sport, Freizeit und Unterhaltung.195 Die Ausgaben, die aufgrund des lediglich kurzfristigen Auf190 Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz v. 22.12.2016, BGBl. 2016 I, S. 3159, zuletzt geändert durch Artikel 5 des Gesetzes v. 29.4.2019, BGBl. 2019 I, S. 530. 191 Dazu Janda, Quo vadis, AsylbLG?, ZAR 2013, S. 175 (179). 192 Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz v. 20.10.2015, BGBl. 2015 I, S. 1722. 193 Kritisch Voigt, Asylbewerberleistungsgesetz: Feindliche Übernahme durch das Ausländerrecht, info also 2016, S. 99; Brings/Oehl, Verfassungswidrige Kürzungen und nachgeschobene Berechnungen, ZAR 2016, S. 22. 194 Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren v. 11.3.2016, BGBl. 2016 I, S. 390. 195 BT-Drs. 18/7538, S. 21.
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enthalts im Asylverfahren nicht anfallen, wurden jedoch nicht ins Verhältnis zu solchen gesetzt, die gerade in dieser Situation Mehrbedarfe begründen – etwa Rechtsschutz, Ausgaben für die Beschaffung von Dokumenten oder die Telekommunikation mit Angehörigen im Herkunftsstaat.196 2. Unionsrechtliche Vorgaben 62 Die Aufnahmerichtlinie gibt unter anderem die Mindeststandards zur Gewährung mate-
rieller Leistungen an Schutzsuchende vor.197 Der personelle Anwendungsbereich ist im Vergleich zu dem des AsylbLG enger, da davon nur Personen erfasst sind, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, der noch nicht beschieden worden ist. Nach Art. 17 Abs. 1 RL 2013/33/EU haben die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen, dass Schutzsuchende ab Stellung des Asylantrags materielle Leistungen in Anspruch nehmen können. Dies gilt selbst in den Fällen, in denen der Antrag nicht im zuständigen Staat gestellt worden ist.198 Die Leistungen sollen einen „angemessenen Lebensstandard“ gewährleisten, der den Lebensunterhalt ebenso wie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit umfasst, Art. 17 Abs. 2 RL 2013/33/EU. Über die Art und Weise der Leistungserbringung und die konkrete Leistungshöhe entscheiden die Mitgliedstaaten selbst. Art. 17 Abs. 5 RL 2013/33/ EU gibt jedoch den Grundsatz der Gleichbehandlung mit den eigenen Staatsangehörigen vor. Eine „weniger günstige Behandlung“ ist allenfalls dann zulässig, wenn Sachleistungen gewährt werden oder wenn das den eigenen Staatsangehörigen gewährte Leistungsniveau die Mindeststandards der Aufnahmerichtlinie übersteigt. Dem Unionsrecht ist somit zwar das Konzept eines abgestuften Zugangs zu sozialen Rechten immanent, allerdings nur soweit diese über das zur Sicherung der Existenz Notwendige hinausgehen.199 Die Leistungen des SGB II oder SGB XII sollen ebenso wie jene des AsylbLG ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen. Die Regelleistungen der Grundsicherung decken neben dem physischen auch das soziokulturelle Existenzminimum; jedoch wird in der Richtlinie an keiner Stelle eine Einschränkung vorgenommen, dass Schutzsuchenden lediglich die zum Überleben notwendigen Leistungen zu gewähren sind, nicht aber solche zur Teilhabe. Zudem hat der EuGH in der Rechtssache Ayubi200 – wenngleich in anderem Kontext – zu bedenken gegeben, dass der Unterstützungsbedarf am größten sein dürfte, wenn sich eine Person erst seit kurzer Zeit im Inland aufhält, sodass ein unter Umständen geringerer Bedarf an Teilhabeleistungen durch Mehrbedarfe an anderer Stelle aufgewogen wird. Fehlverhalten von Schutzsuchenden kann nach Art. 20 RL 2013/33/EU „in begrün63 deten Einzelfällen“ die Einschränkung oder Entziehung von materiellen Leistungen zur 196 Davy, Sicherung des Lebensunterhalts durch das AsylbLG – ein Verfassungsproblem!, in: FS Barwig,
2018, S. 133 (142).
197 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Normen für
die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen v. 26.6.2013, ABl. L 180, S. 96.
198 EuGH, Urt. v. 27.9.2012, Rs. C-179/11, Cimade und Gisti, Rn. 39 f.; EuGH, Urt. v. 27.2.2014, Rs.
C-79/13, Saciri, Rn. 33.
199 Vgl. auch Walter/Goldbach (Fn. 107), S. 320. 200 EuGH, Urt. v. 21.11.2018, Rs. C-713/17, Ayubi; zustimmend Walter/Goldbach (Fn. 107), S. 317 ff.
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Folge haben. Indes sind die Pflichtverletzungen dort abschließend aufgezählt,201 etwa das Verlassen des behördlich bestimmten Aufenthaltsorts, die Verletzung von Melde- und Auskunftspflichten oder Aufforderungen zum persönlichen Erscheinen, die Nichtangabe von Einkünften oder Vermögen oder die Verzögerung des Stellens eines Asylantrags. Die Leistungseinschränkung bedarf einer Einzelfallentscheidung, die das Verhältnismäßigkeitsprinzip wahrt und die besonderen Bedürfnisse der betroffenen Personen berücksichtigt. Führt die Sanktionierung zu einer Situation extremer materieller Not, in der die betroffene Person ihre elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigen kann, ist dies unverhältnismäßig.202 Die generelle Leistungseinschränkung kraft Gesetzes in § 1a AsylbLG geht darüber weit hinaus. Der auf eine Versorgung medizinischer Notfälle beschränkte Rechtsanspruch aus § 4 64 AsylbLG ist dagegen zumindest grundsätzlich mit Art. 19 RL 2013/33/EU vereinbar – nicht aber, soweit davon auch besonders schutzbedürftige Personen in ihrer Gesundheitsversorgung eingeschränkt werden. Ihnen muss die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe, einschließlich erforderlichenfalls einer geeigneten psychologischen Betreuung, zuteilwerden. Dies wird derzeit lediglich im Rahmen einer Ermessensentscheidung nach § 6 AsylbLG ermöglicht. 3. Verfassungsrechtliche Vorgaben
Die Gewährung existenzsichernder Leistungen basiert auf dem Recht auf Sicherung einer 65 menschenwürdigen Existenz, welches das Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG herleitet. Danach sei nicht nur das physische Überleben zu gewährleisten, sondern auch gesellschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe zu ermöglichen.203 Den verfassungsrechtlichen Anspruch in materielles Recht zu überführen, ist aufgrund des Sozialstaatsprinzips Aufgabe des Gesetzgebers. Das Bundessozialgericht hat – wenngleich in anderem Kontext – deutlich gemacht, 66 dass aus der Verfassung kein Recht auf ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ folge,204 dass der Gesetzgeber also durchaus befugt sei, den Personenkreis festzulegen, der vom Schutz des Grundrechts profitieren soll – etwa Menschen, die bereit sind, an der Überwindung ihrer materiellen Notlage mitzuwirken. Zweifelsfrei ausgeschlossen hat das Bundesverfassungsgericht dagegen eine migrationspolitisch motivierte Auslegung des personellen Schutzbereichs des Grundrechts auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz.205 Eine Differenzierung in den Leistungssätzen für Personen, die sich lediglich vorübergehend im Inland aufhalten, ist damit nicht von vornherein unzulässig. Sie setzt jedoch voraus, dass aufgrund des kurzfristigen Aufenthalts tatsächlich konkrete Minderbedarfe feststellbar 201 Rixen, Gestaltungsspielräume bei der Gewährung von Leistungen an Geflüchtete, Der Landkreis
2016, S. 268 (270).
202 EuGH, Urt. v. 12.11.2019, Rs. C-233/18, Haqbin. 203 BVerfGE 125, 175 (223) – Hartz IV (2010); BVerfGE 132, 134 (159) – Asylbewerberleistungsgesetz
(2012).
204 BSGE 119, 17, Rn. 53. 205 BVerfGE 132, 134 (172) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012).
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sind, die signifikant vom gesetzlich determinierten Regelbedarf abweichen.206 Daraus lässt sich jedoch nicht folgern, dass der Gesetzgeber berechtigt wäre, Personen, die über „keine Bindung an die deutsche Gesellschaft“ und keine längerfristige Aufenthaltsperspektive verfügen, von sozialrechtlichen Ansprüchen auszuschließen.207 Ebenso stößt es auf Bedenken, wenn Personen, die etwa die Klärung ihrer Identität und die Beschaffung von Ausweispapieren verweigern, von vornherein nur einen Anspruch auf Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft sowie Körper- und Gesundheitspflege haben, vgl. § 1a Abs. 1, Abs. 5 AsylbLG.208 Dies gilt umso mehr, als es dem Einzelnen als Maßnahme der Selbsthilfe – die ja eigentlich konkret auf die Überwindung der Hilfebedürftigkeit gerichtet sein müsste – kaum obliegen kann, an der eigenen Abschiebung mitzuwirken.209 67 Das AsylbLG negiert den Gedanken der Gleichheit aller Menschen und etabliert ein Sondersozialhilferecht, welches eine Stratifizierung sozialer Rechte für verschiedene Gruppen von Migrantinnen und Migranten bewirkt und perpetuiert.210 Durch die Verschärfungen jüngeren Datums – namentlich die Rückkehr zum Sachleistungsvorrang, die Pflicht zum dauerhaften Aufenthalt in Aufnahmeeinrichtungen und dem damit verbundenen dauerhaften Ausschluss vom Arbeitsmarkt für Asylsuchende aus sicheren Herkunftsstaaten – hat der Gesetzgeber zudem rassistische Elemente aus dem öffentlichen Diskurs aufgenommen, die einen gezielten Missbrauch des Asylsystems vor allem durch Menschen aus den Balkanstaaten insinuierten.211 Ressentiments als Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung und den damit einhergehenden dauerhaften Ausschluss von sozioökonomischer Teilhabe heranzuziehen, bildet jedoch keinen hinreichenden Grund für deren sachliche Rechtfertigung. Selbst wenn Fälle von Missbrauch zu verzeichnen wären, ist es mit dem Grundgedanken des Flüchtlingsrechts unvereinbar, dafür die Mitglieder der gesamten Gruppe gleichsam in „Sippenhaft“ zu nehmen. III. Benachteiligungen durch die Sozialleistungsträger 68 Das Sozialrecht selbst trifft Vorkehrungen gegen Benachteiligungen durch die Sozialleis-
tungsträger. § 33c SGB I verbietet die Benachteiligung aus Gründen der „Rasse“, der ethnischen Herkunft oder aufgrund einer Behinderung212 bei der Inanspruchnahme sozialer Rechte. Gleiches gilt nach § 19a SGB IV bei der Inanspruchnahme von Leistungen der Sozialversicherung. § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB III verbietet den Arbeitsagenturen bei der Arbeitsvermittlung Vorgaben der Arbeitgeber zur Staatsangehörigkeit potenzieller BeschäfBVerfGE 132, 134 (164) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012). So aber Langenfeld (Fn. 152), S. 683. Davy (Fn. 196), S. 144. Dagegen Davy (Fn. 196), S. 148 und dort Fn. 67. Pichl (Fn. 111), S. 458. Davy (Fn. 106), S. 30. Dass die Merkmale Religion oder Geschlecht in diesem Zusammenhang nicht genannt werden, erschwert die Anwendung dieser Norm etwa in Fällen, in denen die Arbeitsvermittlung von Musliminnen das Ablegen ihres Kopftuchs verlangt, um ihre Vermittelbarkeit zu erhöhen, Lembke/Liebscher (Fn. 35), S. 271.
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tigter, die nicht die berufliche Qualifikation betreffen, zu berücksichtigen, sofern diese nicht unerlässlich für die auszuübende Tätigkeit sind. Einschränkungen der Arbeitgeber für eine Vermittlung aus Gründen der „Rasse“ oder wegen der ethnischen Herkunft oder der Religion der Ausbildungs- und Arbeitsuchenden dürfen nur nach Maßgabe des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)213 berücksichtigt werden, § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB III. Indes legen nicht nur Arbeitgeber, sondern unter Umständen auch die Arbeitsagenturen ihrer Vermittlungstätigkeit Stereotype und Vorurteile zugrunde. Denkbar ist beispielsweise, dass Arbeitsvermittler Arbeitsuchende aufgrund ihrer Migrationserfahrung oder zugeschriebener „Fremdheit“, etwa wegen des Tragens eines Kopftuchs, von vornherein als chancenlos ansehen und ihnen deshalb weniger Qualifikationsmaßnahmen oder Vermittlungsangebote unterbreiten.214 Solche Stereotype sind insbesondere angesichts der im Vergleich zu Deutschen hohen Arbeitslosenquote von „Menschen mit Migrationshintergrund“215 nicht hinnehmbar.
D. Migration und Diskriminierung im Zivilrecht Diskriminierung und Ausgrenzung von Migrantinnen und Migranten ereignen sich vor 69 allem beim Zugang zu Beschäftigung und gleichen Beschäftigungsbedingungen, auf dem Wohnungsmarkt oder im sozialen Umfeld, etwa im Rahmen von Vereinigungen.216 Da die Anmietung oder der Kauf einer Wohnung ebenso wie die Ausübung einer Beschäftigung Voraussetzung für die Deckung essentieller Bedarfe ist, wird die Privatautonomie der einen Seite daher eingeschränkt, um der anderen Seite den gleichberechtigten Zugang zu den am Markt angebotenen Gütern und Dienstleistungen zu eröffnen.217 Denn die Vertragsfreiheit missbraucht, wer unter ihrem Schutz ein Recht zur Diskriminierung wahrnehmen möchte; insofern dient ihre Beschränkung im Interesse der Gleichbehandlung dem Schutz der Rechte anderer, vgl. Art. 2 Abs. 1 GG.218 Dies soll durch das AGG sichergestellt werden. Die Gerichtsbarkeit hatte sich bereits mit Benachteiligungen aufgrund der „Rasse“, eth- 70 nischen Herkunft oder Religion beim Zugang zu Wohnraum,219 dem Zutritt zu Diskothe213 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. 214 Klose/Liebscher (Fn. 24), S. 26 f.; ausführlich Brussig/Frings/Kirsch, Diskriminierungsrisiken in der öffentlichen Arbeitsvermittlung, 2017. 215 Schulte/Treichler (Fn. 1), S. 34. 216 BT-Drs. 18/13060, S. 207 ff.; Franke/Schlenzka (Fn. 33), S. 180; Schramkowski (Fn. 23), S. 48; Han (Fn. 2), S. 281. 217 Singer, Grundfragen der Gleichbehandlung im Zivil- und Arbeitsrecht, in: Dieterich u. a. (Hrsg.), Individuelle und kollektive Freiheit im Arbeitsrecht, 2010, S. 341 (343). 218 Singer (Fn. 217), S. 348. 219 AG Hamburg, Urt. v. 3.2.2017, 811b C 273/15 (keine Einladung von Menschen mit ausländisch klingendem Namen zur Wohnungsbesichtigung); AG Tempelhof, Urt. v. 19.12.2014, C 357/14 (höhere Miete bei Mietern mit türkischem oder arabischem Hintergrund); OLG Köln, Urt. v. 19.1.2010, 24 U 51/09 (Ablehnung schwarzer Menschen als Mieter).
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ken,220 dem Abschluss von Verträgen über Dienstleistungen221 oder im arbeitsrechtlichen Kontext222 auseinanderzusetzen. Wie bereits erörtert223 sind diese Diskriminierungskategorien nicht uneingeschränkt repräsentativ für Menschen mit Migrationserfahrung.224 Menschen, die in andere Staaten zuwandern, sind aber oftmals mit der Notwendigkeit des Erlernens einer neuen Sprache konfrontiert. Daher soll der zivilrechtliche Diskriminierungsschutz im Folgenden am Beispiel des Erfordernisses von Sprachkenntnissen im Beschäftigungskontext einer näheren Betrachtung unterzogen werden. I. Begriff der Benachteiligung 71 Das AGG verwendet den Begriff der Diskriminierung nicht, sondern rekurriert auf den
der Benachteiligung, die durch eine objektiv ungleiche Behandlung gekennzeichnet ist, die mit der Zufügung eines Nachteils verbunden ist.225 Auf einen subjektiven Benachteiligungswillen kommt es nicht an.226 Verpönt sind sowohl die unmittelbare Anknüpfung an eines der in § 1 AGG genannten Kriterien (§ 3 Abs. 1 AGG) als auch die mittelbare Benachteiligung, die Belästigung und die Anweisung zur Benachteiligung. Eine mittelbare Benachteiligung liegt nach § 3 Abs. 2 AGG vor, wenn auf dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren abgestellt wird, die aber Personen wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes in besonderer Weise benachteiligen können. Sie ist nur zulässig, wenn sie ein legitimes Ziel verfolgt und zu dessen Erreichung geeignet, erforderlich und angemessen ist.227 Dass von einer Regelung oder Verhaltensweise „wesentlich mehr Personen“ betroffen sind, die zum geschützten Personenkreis gehören, ist nicht statistisch zu ermitteln. Vielmehr reicht es aus, dass eine Regelung geeignet ist, von der geschützten Gruppe schwerer erfüllt werden zu können, sodass die Gefahr besteht, dass sie sich zu deren Nachteil auswirkt.228 72 Um die Verfolgung von Schadenersatz- und Entschädigungsansprüchen im Falle der Benachteiligung zu erleichtern, sieht § 22 AGG eine Beweislastumkehr vor.229 Danach sind lediglich Indizien vorzutragen, die eine Benachteiligung vermuten lassen; die Gegenseite 220 AG Oldenburg, Urt. v. 23.7.2008, E2 C 2126/07; OLG Stuttgart, Urt. v. 12.12.2011, 10 U 106/11; AG
Bremen, Urt. v. 20. 1. 2011, 25 C 278/10; AG München, Urt. v. 23.7.2014, 171 C 27853/13.
221 LG Aachen, Urt. v. 11.5.2017, 2 S 26/17 (Aufnahme von Nichtdeutschen in ein Fitnessstudio nur bei
Vorauszahlung des Jahresbeitrags).
222 Statt vieler: LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 25.3.2009, 2 Sa 94/08 (volksverhetzende Äußerungen
als Kündigungsgrund); BAG, Urt. v. 24.9.2009, 8 AZR 705/08 (rassistische Schmierereien am Arbeitsplatz); ArbG Köln, Urt. v. 6.8.2008, 9 Ca 7687/07 (Migrationshintergrund als Einstellungsvoraussetzung). 223 Siehe Rn. 14 ff. 224 Auf diese Kriterien wird an anderer Stelle ausführlich eingegangen → Barskanmaz § 7; → Walter/ Tremml § 8; → Rödl/Leidinger § 22; → v. Roetteken § 23. 225 → Mangold/Payandeh, § 1 Rn. 102. 226 Siehe nur Winter (Fn. 32), S. 196. 227 Ausführlich → Sacksofsky, § 14. 228 BAG, NZA 2010, S. 222 (224); statistische Daten können freilich ein Indiz für eine Benachteiligung bilden, BAG, NZA 2011, S. 689 (691). Vgl. auch Schiek (Fn. 43), S. 47, die insofern auf den Unterschied zur statistischen Diskriminierung nach der RL 97/80/EG hinweist; → Towfigh, § 18. 229 → Muthorst, § 19 Rn. 33 ff. Constanze Janda
D. Migration und Diskriminierung im Zivilrecht
1037
kann diese Vermutung sodann entkräften. Das bloße Vorliegen „diskriminierungsanfälliger Merkmale“ genügt für sich genommen nicht, um die erforderliche Indizwirkung zu erzielen.230 Auch der Umstand, dass ein Betrieb bislang keine Arbeitnehmer nichtdeutscher Herkunft beschäftigt, lässt keine Benachteiligung eines Bewerbers aufgrund seiner ethnischen Herkunft vermuten.231 Gleiches gilt für die falsche männliche Anrede einer Bewerberin mit einem Namen, der auf einen sogenannten Migrationshintergrund schließen lässt.232 Verweigert der Arbeitgeber aber jedwede Angabe zu den Gründen einer Bewerbungsabsage, kann im Einzelfall durchaus eine Benachteiligung indiziert sein, wenn dies dazu führt, dass der betroffenen Person dadurch der Rechtsschutz verunmöglicht wird.233 Auch öffentliche Äußerungen eines Arbeitgebers, keine Arbeitnehmer einer bestimmten „Rasse“ oder ethnischen Zugehörigkeit einzustellen, bilden ein Indiz für eine Benachteiligung.234 II. Diskriminierungsschutz im Arbeitsrecht
Institutionelle Hürden für den Zugang zu Beschäftigung ergeben sich bereits aus den Vor- 73 gaben zur Erteilung von Aufenthaltstiteln zum Zwecke der Berufsausübung sowie zur Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse. Dies lässt sich auf die restriktive rechtspolitische Haltung zurückführen, nach der „Fremde“ grundsätzlich als Gefahr für die oder zumindest als Beeinträchtigung der Belange der Bundesrepublik wahrgenommen worden sind.235 Solche normativ verankerten Vorbehalte gegen die Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern dürften auch auf die Bereitschaft der Arbeitgeber zurückwirken, diesem Personenkreis auf individual-privatrechtlicher Ebene vorurteilsfrei gegenüberzutreten. Ethnisch motivierte Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt gründen beispielsweise in der unterschiedlichen Entlohnung von Tätigkeiten – wobei Migrantinnen und Migranten oftmals eine höhere Bereitschaft zur Annahme schlecht vergüteter Arbeitsangebote haben –236 oder in der befürchteten Verdrängung einheimischer Arbeitskräfte. Die Benachteiligungen können in einen gespaltenen Arbeitsmarkt münden, der einerseits durch Beschäftigung unter guten und stabilen Bedingungen, andererseits durch schlecht entlohnte, teilweise informelle Beschäftigung mit hoher Fluktuation gekennzeichnet ist.237 Diskriminierungen beim Zugang zu Beschäftigung wirken sich massiv auf die Lebensführung und Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Personen in der Gesellschaft aus, führen sie doch nicht nur zum Ausschluss aus Arbeitsverhältnissen, sondern verschließen auch den Weg zu Einkommen, das notwendig ist, um adäquaten Wohnraum zu erlangen 230 BAG, Urt. v. 25.4.2013, 8 AZR 287/08, Rn. 46 (Ablehnung der Stellenbewerbung einer russischstäm-
migen Frau). BAGE 142, 158. ArbG Düsseldorf, Urt. v. 9.3.2011, 14 Ca 908/11, Rn. 22. EuGH, Urt. v. 19.4.2012, Rs. C-415/10, Meister, Rn. 39 ff. EuGH, Urt. v. 10.7.2008, Rs. C-54/07, Feryn, Rn. 25. Dazu Gusy/Müller (Fn. 23), S. 266. Schulte/Treichler (Fn. 1), S. 32 f.; Deinert (Fn. 66), S. 28. Oswald (Fn. 2), S. 116.
231 232 233 234 235 236 237
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§ 24 Diskriminierungsschutz und Migration
oder sich in anderer Weise am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen.238 Im Arbeitsrecht zielt das AGG daher auch darauf ab, stereotypen Vorstellungen von der verminderten Leistungsfähigkeit bestimmter Gruppen, zu denen auch „Fremde“ gehören, zu begegnen.239 Benachteiligungen sind danach nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern stehen der 74 sachlichen Rechtfertigung offen. Während diese im Fall der mittelbaren Diskriminierung bereits Tatbestandsmerkmal ist, ist sie im Fall der unmittelbaren Diskriminierung erst auf zweiter Stufe zu prüfen.240 Die Rechtfertigungsgründe sind in §§ 8 bis 10 AGG241 abschließend normiert. Nach § 8 AGG ist eine unterschiedliche, an eines der Merkmale des § 1 AGG anknüpfende Behandlung zulässig, wenn das Merkmal „aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Rahmenbedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Voraussetzung darstellt“. Der mit der Benachteiligung verfolgte Zweck muss rechtmäßig, die berufliche Anforderung angemessen sein. Diese ist strikt anhand der Art der Tätigkeit zu bewerten; Kundenwünsche – ob explizit geäußert oder lediglich angenommen – sind nicht relevant.242 Es kommt vielmehr darauf an, ob sich die Tätigkeit an dem konkret in Rede stehenden Arbeitsplatz mit bzw. ohne eine bestimmte Eigenschaft überhaupt nicht oder schlechter durchführen lässt.243 III. Deutschkenntnisse als Einstellungsvoraussetzung 75 Benachteiligungen im Arbeitsverhältnis aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse kön-
nen daher rühren, dass sich Arbeitnehmer auf vertragliche Vereinbarungen einlassen, deren Inhalt sie aufgrund der Sprachbarriere nicht verstehen. Nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen ist der Vertrag in diesem Fall gleichwohl wirksam; namentlich ist die Anfechtung ausgeschlossen, weil die betroffene Person keinem Irrtum unterlegen ist, sondern schlicht keine Kenntnis vom Inhalt des Vertrags hatte.244 Gegen solche Situationen bietet das AGG keinen Schutz. Auch im Übrigen birgt das Zivilrecht hier allenfalls dann einen Anhaltspunkt, wenn man aus § 241 Abs. 2 BGB die Verpflichtung des Arbeitgebers herleitet, die dem potenziellen Vertragspartner ersichtlich unverständlichen Vertragspassagen verständlich zu machen; in diesem Fall ließe sich aus § 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB eine Schadenersatzpflicht herleiten.245 Es liegt jedoch vor allem in der eigenen Verantwortung einer jeden Person, sich Kenntnis über den Inhalt eines Vertragsangebots zu verschaffen, 238 Schulte (Fn. 65), S. 28. 239 Hanau (Fn. 62), S. 2191; → v. Roetteken, § 23. 240 Preis (Fn. 4), S. 252; Göbel-Zimmermann/Marquardt (Fn. 52), S. 372; Hanau (Fn. 62), S. 2196; Latzel
(Fn. 49), S. 63; v. Diest (Fn. 4), S. 219 im Kontext von Art. 21 GRCh; → Reimer, § 17.
241 Zur Kirchenklausel in § 9 AGG → Walter/Tremml § 8; zu Ungleichbehandlungen wegen des Alters
(§ 10 AGG) → Temming, § 10.
242 EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-188/15, Bougnaoui und ADDH, Rn. 40; siehe auch LAG Bremen, Urt.
v. 29.6.2010, 1 Sa 29/10 zur Kündigung einer Mitarbeiterin, die Deutsch mit russischem Akzent spricht.
243 Novara, Bewerberauswahl nach Kundenwünschen?, NZA 2015, S. 142 (143); Winter (Fn. 32), S. 190;
Latzel (Fn. 49), S. 64.
244 BAGE 147, 342; vgl. auch BGH, Urt. v. 27.10.1994, IX ZR 168/93 für die Übernahme einer Bürgschaft
durch eine der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtige Person.
245 Deinert (Fn. 66), S. 34 und 36.
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D. Migration und Diskriminierung im Zivilrecht
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sofern nicht aufgrund des sittenwidrigen Ausnutzens fehlender Sprachkenntnisse durch den Arbeitgeber der Tatbestand des § 826 BGB erfüllt ist. Im Kontext des AGG durchaus relevant ist dagegen die Frage, ob und unter welchen 76 Voraussetzungen Kenntnisse der deutschen Sprache für die Ausübung einer Beschäftigung verlangt werden können. 1. Sprachkenntnisse als Ausweis der ethnischen Herkunft?
Die Sprache ist in § 1 AGG nicht als Differenzierungskriterium genannt. Die Mutterspra- 77 che prägt die Herkunft eines Menschen in besonderer Weise.246 Das Beherrschen einer bestimmten Sprache zieht mitunter die Zuschreibung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie nach sich. Indes können verschiedene Gruppen die gleiche, einzelne Gruppen aber auch verschiedene Muttersprachen sprechen. Im Zusammenwirken mit anderen Umständen können muttersprachliche Kenntnisse durchaus auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie hindeuten.247 Teilweise wird vertreten, dass Sprachanforderungen nur dann diskriminierungsrechtliche Relevanz hätten, wenn die benachteiligte Person tatsächlich einer anderen Ethnie als die Mehrheitsgesellschaft angehöre, da sie nur dann aufgrund ihrer ethnischen Herkunft mit Schwierigkeiten beim Erlernen der (deutschen) Sprache konfrontiert sein könne. Nur in diesem Fall seien die Sprachkenntnisse oder -defizite oder auch ein Akzent Ausdruck der ethnischen Herkunft.248 Diese Auffassung verkennt aber bereits die grundlegenden Bedenken gegen eine Konstruktion von Ethnien249 wie auch die Grundannahme des Diskriminierungsrechts, das ethnisierende Zuschreibungen zu verhindern und gegebenenfalls zu sanktionieren bestimmt ist. Zwar liegt in der Anforderung der Beherrschung einer Sprache auf einem bestimmten Niveau regelmäßig keine unmittelbare Benachteiligung aufgrund der ethnischen Herkunft, da gute Sprachkenntnisse grundsätzlich von jedem Menschen erworben werden können.250 Werden aber Deutschkenntnisse von Nicht-Muttersprachlern verlangt, trifft dies typischerweise Angehörige anderer Ethnien. Sie treffen die Schwierigkeiten des Erlernens einer Fremdsprache (sic!) und die damit verbundenen Schwierigkeiten ihrer Beherrschung in Wort und Schrift. Das scheinbar neutrale Kriterium der Sprachkenntnisse kann sich daher für sie nachteilig und damit mittelbar diskriminierend auswirken.251
246 BAG, Urt. v. 15.12.2016, 8 AZR 418/15, Rn. 39; BAGE 159, 334, Rn. 54; Köhlert (Fn. 52), S. 1174;
Herbert/Oberrath (Fn. 58), S. 9. Siehe v. Diest (Fn. 4), S. 257 sowie 259. Latzel (Fn. 49), S. 63 f. Dazu Rn. 17 ff. (A. II. 2.). BAG, Urt. v. 15.12.2016, 8 AZR 418/15, Rn. 39; BAGE 133, 141; LAG Bremen, NZA-RR 2010, S. 510 (512); Köhlert (Fn. 52), S. 1172; Franke/Schlenzka (Fn. 33), S. 182; Herbert/Oberrath (Fn. 58), S. 9. 251 LAG Nürnberg, Urt. v. 5.10.2011, 2 Sa 171/11, Rn. 70; Göbel-Zimmermann/Marquardt (Fn. 52), S. 371; Herbert/Oberrath (Fn. 58), S. 10; Köhlert (Fn. 52), S. 1172. 247 248 249 250
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§ 24 Diskriminierungsschutz und Migration
2. Rechtfertigung von Spracherfordernissen im Beschäftigungsverhältnis
Erweist sich damit das Erfordernis einer bestimmten Muttersprache als unzulässig,252 kommt es im Hinblick auf die Qualität der Deutschkenntnisse darauf an, ob ein entsprechendes Erfordernis von einem rechtmäßigen Ziel getragen, angemessen und erforderlich ist, vgl. § 3 Abs. 2 AGG. Es kommt darauf an, ob die Beherrschung der deutschen Sprache auf einem bestimmten Niveau unverzichtbar für die Ausübung der Tätigkeit ist.253 Dies einzuschätzen ist von der unternehmerischen Freiheit der Arbeitgeber gedeckt; die Gerichtsbarkeit prüft jedoch, ob die „arbeitsnotwendigen Sprachkenntnisse“ von diesem willkürlich festgelegt worden sind.254 Für Tätigkeiten, die beispielsweise keinen Kundenkontakt255 mit sich bringen, kaum Abstimmung mit Kolleginnen und Kollegen oder keinerlei Schriftverkehr erfordern, dürften einfache Sprachkenntnisse ausreichend sein. Die Bewertung des Niveaus der Sprachkenntnisse der Bewerberinnen oder Arbeitnehmerinnen muss ihrerseits diskriminierungsfrei erfolgen, d. h. es ist sicherzustellen, dass bei allen Personen der gleiche Maßstab zur Anwendung kommt.256 79 Das Bundesarbeitsgericht hat eine Benachteiligung aufgrund der ethnischen Herkunft verneint, weil in der Stellenausschreibung sehr gute Kenntnisse zweier Sprachen (Deutsch und Englisch) gefordert wurden. Dies spreche gegen die Verknüpfung der erforderlichen Sprachkenntnisse mit einer bestimmten Ethnie potenzieller Bewerber.257 Dieser Ansatz verdient Kritik, kommt es für das Vorliegen einer Benachteiligung doch gar nicht auf die Zugehörigkeit der Person zu einer bestimmten Ethnie oder auf die Ausgrenzung einer Gruppe von Menschen einer bestimmten ethnischen Zugehörigkeit an.258 Von größerer Relevanz – vom Bundesarbeitsgericht freilich nicht näher ausgeführt – dürfte sein, dass die Notwendigkeit der guten bzw. sehr guten Beherrschung beider Sprachen durch den Arbeitgeber nicht lediglich vorgeschoben gewesen sei.259 80 Der Diskriminierungsschutz beginnt ausweislich § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG bereits im Bewerbungsverfahren. Wird eine erste Auswahl der für das weitere Verfahren in Betracht kommenden Bewerberinnen und Bewerber ausschließlich aufgrund telefonischer Interviews getroffen, kann darin eine mittelbare Benachteiligung aufgrund der ethnischen Herkunft liegen. Dieses Vorgehen stellt nicht nur Menschen mit anderer Muttersprache vor größere Schwierigkeiten, sondern ist auch kaum geeignet, die Sprachkenntnisse der Bewerberinnen und Bewerber angemessen zu überprüfen.260 78
252 BAGE 159, 334; BAG, Urt. v. 23.11.2017, 8 AZR 372/16, Rn. 44; ArbG Berlin, Urt. v. 11.2.2009, 55 Ca
16952/08.
253 Göbel-Zimmermann/Marquardt (Fn. 52), S. 372; Herbert/Oberrath (Fn. 58), S. 12. 254 BAGE 138, 166, Rn. 41; BAG, NZA-RR 2018, S. 287 (291). 255 LAG Nürnberg, Urt. v. 5.10.2011, 2 Sa 171/11, Rn. 72 zu „sehr guten“ Deutschkenntnissen für einen
im Außendienst tätigen Informatiker; LAG Hamm, Urt. v. 4.2.2014, 7 Sa 1026/13 für Beratungstätigkeiten. 256 Göbel-Zimmermann/Marquardt (Fn. 52), S. 372. 257 BAG, NZA-RR 2018, S. 287 (291). 258 Köhlert (Fn. 52), S. 1173. 259 BAG, NZA-RR 2018, S. 287 (291). 260 ArbG Hamburg, Urt. v. 26.1.2010, 25 Ca 282/09. Constanze Janda
E. Fazit
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Werden Arbeitsanweisungen nicht verstanden, so verstößt eine auf die fehlende Beherr- 81 schung der deutschen Sprache in Wort und Schrift gestützte Kündigung nicht gegen das AGG.261 Auch die schriftliche Abfassung von Arbeitsanweisungen ist nicht zu beanstanden, wenn sie der Qualitätssicherung – diese bildet ein legitimes Ziel – dient, selbst wenn Beschäftigte anderer Ethnien zwar ausreichende Kenntnisse der gesprochenen, nicht aber der Schriftsprache haben.262 Da die Beendigung des Arbeitsverhältnisses stets nur ultima ratio ist, setzt dies aber die Gelegenheit zur Abhilfe voraus; so muss der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer in diesen Fällen die Möglichkeit einräumen, seine Sprachkenntnisse zu verbessern.263 Die Aufforderung zum Besuch eines Deutschkurses stellt in diesem Fall auch keine unzulässige Belästigung nach § 3 Abs. 3 AGG dar,264 denn diese setzt ausweislich des Wortlauts der Norm ein unerwünschtes Verhalten voraus, durch das die Würde der belästigten Person verletzt wird und ein einschüchterndes, erniedrigendes oder feindliches Umfeld geschaffen wird. Die Unerwünschtheit ist anhand objektiver Kriterien zu beurteilen; insofern ist auf die vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen abzustellen.265 Bezieht sich die Aufforderung zur Verbesserung der Sprachkenntnisse aber auf die arbeitsvertraglichen Nebenleistungspflichten, also auf die Beseitigung der Defizite, die die Arbeitnehmerin an der Erfüllung ihrer Pflichten hindern, wird damit kein feindliches Klima geschaffen.266
E. Fazit Der Schutz vor Diskriminierung zählt zu den tragenden Pfeilern menschenrechtlicher Ver- 82 bürgungen; er ist Ausdruck des in der universellen Menschenwürdegarantie gründenden Achtungsanspruches jedes Menschen.267 In Zeiten globaler Migrationsbewegungen wird die Idee der Gleichheit aller Menschen jedoch auf die Probe gestellt. Die Offenheit des Rechts für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern belegt ebenso wie die Regelungen über ihren Zugang zu Sozialleistungen die Offenheit der Gesellschaft als solche. Eine gewisse Privilegierung der eigenen gegenüber fremden Staatsangehörigen mag für die Akzeptanz von Migrationspolitik von Bedeutung sein. Abseits eines „geschlossenen Staates“,268 der seine (Staats)Bürger gegen alle äußerlichen Einflüsse gleichsam hermetisch abschließt, sind systematische und strukturelle Differenzierungen zwischen „eigenen“ und „fremden“ in demokratischen Gesellschaften jedoch nicht aufrecht 261 BAGE 133, 141. 262 BAGE 133, 141. 263 Deinert (Fn. 66), S. 38. Dies war in dem der Entscheidung BAGE 133, 141 zugrunde liegenden Sach-
verhalt der Fall. BAGE 138, 166. Latzel (Fn. 49), S. 65 verweist insofern auf die Parallele zu § 138 BGB. BAGE 138, 166; zustimmend Latzel (Fn. 49), S. 66 f. Davy (Fn. 196), S. 150 f. Vgl. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, in: Fichte (Hrsg.), Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke, Band 3, 1845/1846, S. 388.
264 265 266 267 268
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§ 24 Diskriminierungsschutz und Migration
zu erhalten.269 Inter- und supranationales Recht tangieren zwar nicht die grundlegende Zuständigkeit der Nationalstaaten für die Ausgestaltung ihres Migrations- wie Sozialrechts. Sie entziehen aber zumindest die Zugangs- und Zugehörigkeitskriterien der (traditionell nationalstaatlich definierten) Solidargemeinschaft der unbeschränkten Gesetzgebungssouveränität, zwingen die Staaten zur personellen Öffnung ihres Sozialrechts270 und zur Gewährung gleicher Rechte für jeden Menschen. Die vollständige rechtliche Integration – im Sinne einer uneingeschränkten Teilhabe an allen Rechten einschließlich der Möglichkeit der Einwirkung auf das Rechtssystem (durch Wahlen) – ist jedoch nach wie vor an die Staatsangehörigkeit geknüpft.271 Im Zeitalter des Nationalstaates erweist sich dies durchaus als schlüssig; ein menschenrechtsbasierter Ansatz verbietet jedoch eine derart schematische Zuordnung, die sich in der Inhaberschaft eines Passes manifestiert. Stattdessen gewinnt der (gewöhnliche) Aufenthalt an Relevanz für die Gewährung von Rechten. Da das Antidiskriminierungsrecht an Merkmale anknüpft, die der Disposition des 83 Einzelnen weitgehend entzogen sind,272 verwundert es nicht, dass Migrationserfahrungen üblicherweise nicht als verpönte Diskriminierungskategorien herangezogen werden. Stattdessen wird im einfachen Recht oftmals auf die Staatsangehörigkeit, den Aufenthaltsstatus oder die Aufenthaltsdauer rekurriert. Ungleichbehandlungen können sich zudem an der Religion, Sprache oder Herkunft festmachen. Diese Eigenschaften prägen die Identität jedes Menschen; sie sind nicht zuletzt Vehikel, um sich als Individuum abzugrenzen, können aber ausgrenzend wirken, wenn auf ihrer Grundlage Zugehörigkeit verneint oder verweigert wird.273 Die weit verbreitete Wahrnehmung von Menschen mit Migrationserfahrungen als „fremd“ oder „anders“ kann zur Folge haben, dass deren Ungleichbehandlung gerade aufgrund dieser vermeintlichen Andersartigkeit als gerechtfertigt angesehen wird.274 Ist Antidiskriminierung auch dem Ziel der Chancengleichheit verpflichtet,275 lassen sich die strukturellen Benachteiligungen von Migrantinnen und Migranten allein mit den Mitteln des Rechts kaum bewältigen. Erforderlich ist vielmehr ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz, der Migration nicht als Störfall begreift – das Recht setzt hierfür freilich den Rahmen.
269 270 271 272 273 274 275
Schammann (Fn. 12), S. 71. Kingreen (Fn. 8), S. 90 f. Niesten-Dietrich (Fn. 134), S. 86. BVerfGE 96, 288 (302) – Integrative Beschulung (1997); → Baer, § 5 Rn. 16. Kingreen (Fn. 8), S. 73. Schramkowski (Fn. 23), S. 47. Preis (Fn. 4), S. 250 für das AGG. Constanze Janda
§ 25 Diskriminierungsschutz im Kontext der sozialen Sicherheit Maria Wersig Inhaltsübersicht Rn. A. Sozialrecht als Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Rechtsquellen des Diskriminierungsschutzes im Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
C. Benachteiligungsverbote im Sozialgesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verhältnis von AGG und den Benachteiligungsverboten des SGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Benachteiligungsverbote des SGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendungsbereich von § 33c SGB I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich von § 19a SGB IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anwendungsbereich von § 36 Abs. 2 SGB III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausstrahlungswirkung auf die Leistungserbringung im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Diskriminierungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 13 15 16 17 18
D. Benachteiligungen im Sozialrecht und Reformbedarfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beratungsqualität und unbewusste Vorurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zugang zum System und Stereotypisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einschätzung individueller Potenziale in schematischen Abläufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bereitschaft zum Einsatz von Ressourcen und Steuerung von Sozialverwaltungshandeln durch Kennzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Belästigung und Stereotype . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zugang zum Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28 29 31 32 35 38 41 44
E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
19 20 23 27
A. Sozialrecht als Antidiskriminierungsrecht Sozialrecht dient der „Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit“ (§ 1 1 Abs. 1 S. 1 SGB I). Weitere Aufgaben, die § 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I)1 nennt, sind „menschenwürdiges Dasein“, „gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch in der Fassung der Bekanntmachung v. 11.12.1975, BGBl. 1975 I, S. 3015,
zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes v. 15.2.2021, BGBl. 2021 I, S. 239. Maria Wersig
1044
§ 25 Diskriminierungsschutz im Kontext der sozialen Sicherheit
Persönlichkeit“, Schutz der Familie, Ausgleich besonderer Belastungen des Lebens. Das Sozialrecht ist darauf ausgerichtet, gesellschaftliche Teilhabe und sozialen Ausgleich durch soziale Sicherheit zu gewährleisten. Während für weite Teile des Sozialrechts ein breiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zur Umsetzung der Staatszielbestimmung Sozialstaatsprinzip verbleibt,1 ist für den Bereich des Grundsicherungsrechts der Anspruch auf die Sicherung des menschenwürdigen sozio-kulturellen Existenzminimums seit der Regelsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt.2 In einem weit verstandenen Sinne ist das Sozialrecht Antidiskriminierungsrecht, denn es richtet den Blick auf die materiellen Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens in Deutschland, auf die Rahmenbedingungen von Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlicher Teilhabe, aber auch auf den Ausgleich und die Absicherung sozialer Risiken. In diesem Sinne zählen auch der Bildungsbereich und das Recht auf Erwerbsarbeit zum Sozialrecht. 2 Soziale Rechte und die Rahmenbedingungen von Freiheit, der Abbau von Benachteiligungen aufgrund der sozio-ökonomischen Herkunft und die auf diskriminierenden Gesellschaftsstrukturen basierende ökonomische Ungleichheit und damit eng verknüpfte Chancenungleichheit sind Schnittmengen von Antidiskriminierungsrecht und Sozialrecht. Die im Sozialgesetzbuch formulierten Ziele werden durch ein komplexes System historisch gewachsener Zuständigkeiten für Geld-, Sach- und Dienstleistungen (Sozialleistungen) verfolgt. Der Sozialleistungsbezug selbst, insbesondere im Grundsicherungsbereich, ist andererseits stigmatisierungsanfällig. Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen am Rande der Gesellschaft stehen, als Rechtssubjekte mit eigenen Ansprüchen zu verstehen, war auch im deutschen Sozialstaat nicht immer eine Selbstverständlichkeit.3 Auf dem Gebiet der damals (und in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG bis heute) so genannten Fürsorge (heute Grundsicherung, Sozialhilfe) wurde bis in die 1950er Jahre noch vertreten, es handele sich bei der Sozialhilfe nicht um Rechtsansprüche, sondern um Leistungen der Gefahrenabwehr. Ähnliches ist zu beobachten in der Jugendhilfe und in der Wohnungslosenhilfe. Die Leistungsansprüche und die Praxen der Leistungsgewährung aus der Perspektive der Individuen und ihrer Rechtspositionen zu denken, ist insofern eine Jahrhundertaufgabe, die bis heute nicht abgeschlossen ist, man denke an das gesetzgeberische Projekt des Bundesteilhabegesetzes und den darin enthaltenen Autonomiegedanken für Menschen mit Behinderung, der durch enorme Organisationsveränderungen des Hilfesystems umgesetzt werden soll.4 Der Diskriminierungsschutz hat im Sozialrecht deshalb eine bedeutende Funktion, 3 da es im Sozialrecht immer auch um die tatsächliche Umsetzung der verfassungsrechtlich verbürgten, allerdings auf einem gewissen Abstraktionsniveau formulierten Grundrech1 Ausführlich Papier/Shirvani, in: Ruland/Becker/Axer (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 6. Aufl. 2018, § 3
Rn. 8.
2 BVerfGE 125, 175 – Regelsatz (2010). 3 BVerwGE 1, 159: „Soweit das Gesetz dem Träger der Fürsorge zugunsten des Bedürftigen Pflichten auf-
erlegt, hat der Bedürftige entsprechende Rechte.“
4 Vgl. Banafsche, Die „Systemfestigkeit“ des Rechts der Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen – der Innovationsgehalt des Bundesteilhabegesetzes, SGb 2020, S. 661. Maria Wersig
A. Sozialrecht als Antidiskriminierungsrecht
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te geht. Hinzu kommt, dass der Schwerpunkt der Grundrechte auf den Freiheitsrechten liegt, ein gehaltvolles Freiheitskonzept aber die materiellen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Freiheitsrechten zumindest auf einem gewissen Niveau mitgarantieren muss (und dies auch tut).5 Dies gilt auch, weil diese Rechte insbesondere für diejenigen eine Bedeutung haben, die auf Solidarität der Gemeinschaft angewiesen sind. Das Verhältnis von in diesem Sinne jeweils weit verstandenen Begriffen des Sozial- 4 rechts und Antidiskriminierungsrechts ist vielschichtig: Gesellschaftliche Diskriminierungskategorien haben (auch) ökonomische Folgen6, im nationalen Sozialstaat getroffene Verteilungsentscheidungen können Diskriminierungskategorien wiederum aufgreifen (man denke an die Debatte über mögliche Leistungsausschlüsse für Ausländer*innen), es drohen Verfestigungen von Benachteiligungen durch gewählte Mechanismen und Kategorien der Leistungsgewährung und schließlich ist darauf zu achten, dass Autonomie und Teilhabe besonders für Angehörige von vulnerablen Gruppen ohne paternalistische Bevormundung und Verwahrindustrien ermöglicht werden, selbstverständlich unter demokratischer Beteiligung aller Betroffenen. Obwohl eine lange Tradition sozialrechtlicher Antidiskriminierungsregeln, auch be- 5 dingt durch europäische Richtlinien und die Verpflichtungen Deutschlands aus den Menschenrechtsverträgen, besteht, kommt den im Sozialgesetzbuch verbürgten Diskriminierungsverboten in der Praxis eine erstaunlich geringe Bedeutung zu. Was bedeutet also Diskriminierungsschutz im Sozialrecht? Sind Ungleichbehandlungen aus rassistischen Gründen oder aufgrund der Herkunft, aufgrund einer Behinderung undenkbar? Oder sind sie so selbstverständlich in das Gewebe des Sozialstaats eingearbeitet, dass die bloße Postulation eines Anspruchs der Nichtdiskriminierung wirkungslos bleiben muss? Dieser Beitrag betrachtet die europäischen Rechtsquellen des Diskriminierungsschutzes im Sozialrecht, geht mit Hilfe einer Auswertung der aktuellen empirischen Forschung zu Diskriminierung im Sozialrecht der Frage nach, welche Bedarfe der Fortentwicklung eines Antidiskriminierungsframeworks im Sozialrecht bestehen und zieht Schlussfolgerungen aus dieser Betrachtung.
5 So Baer, Das Soziale und die Grundrechte, NZS 2014, S. 1. In diesem Sinne, BVerfGE 115, 25 (49 f.) –
Gesetzliche Krankenversicherung (2005); „Übernimmt der Staat mit dem System der gesetzlichen Krankenversicherung Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit der Versicherten, so gehört die Vorsorge in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung unter den genannten Voraussetzungen zum Kernbereich der Leistungspflicht und der von Art 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderten Mindestversorgung.“ 6 Die Ungleichheitssoziologie zeigt beispielsweise auf, dass die Chancen auf individuellen Erfolg im Bildungswesen und die individuelle Gesundheit und Lebenserwartung eng mit dem sozio-ökonomischen Status eines Menschen verknüpft sind. Gleichzeitig ist wichtig, festzuhalten, dass die Wirkungen von Diskriminierung auf eine Person ökonomische Folgen haben (können). Maria Wersig
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§ 25 Diskriminierungsschutz im Kontext der sozialen Sicherheit
B. Rechtsquellen des Diskriminierungsschutzes im Sozialrecht 6 Bei der Überprüfung von Diskriminierung im Sozialrecht kann auf Art. 3 Abs. 2 und
Abs. 3 GG sowie auf den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes zurückgegriffen werden. Darüber hinaus speist sich der Schutz vor Diskriminierung im Sozialrecht aus unterschiedlichen Rechtsquellen. Einleitend ist auf die praktische Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN 7 BRK)7 hinzuweisen: Sie hat Gesetzeskraft in Deutschland im Rang eines Bundesgesetzes und enthält auch Regelungen, die unmittelbar anwendbar sind, wie Art. 5 UN BRK, das Diskriminierungsverbot für Menschen mit Behinderung. Regelungen der UN BRK, die nicht unmittelbar anwendbar sind, können zudem im Sozialrecht bei der Auslegung der Vorschriften des SGB eine Rolle spielen.8 Dies ist insbesondere der Fall bei unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensvorschriften. Im Zusammenhang mit rassistischer Diskriminierung garantiert zudem Art. 5 lit. e) iv ICERD das diskriminierungsfreie Recht auf öffentliche Gesundheitsfürsorge, ärztliche Betreuung, soziale Sicherheit und soziale Dienstleistungen. Wichtig ist außerdem der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte9, der diese Rechte ebenfalls diskriminierungsfrei verbürgt (Art. 2 Abs. 2 IPwskR). Zeitgleich mit der Einführung des AGG wurden auch im Sozialgesetzbuch die euro8 päischen Antidiskriminierungsrichtlinien umgesetzt. Der uneinheitliche Geltungsbereich der Richtlinien in Bezug auf das Sozialrecht sowie ihre lückenhafte Umsetzung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)10 und im Sozialgesetzbuch führen im Ergebnis zu einem insgesamt fragmentierten Diskriminierungsschutz, der nicht alle der in § 1 AGG genannten und in den Richtlinien vorgegebenen Kategorien erfasst. Das mag auch an den verschiedenen Regelungszugriffen der Richtlinien liegen. Bereits der Geltungsbereich der Richtlinien erstreckt sich nicht hinsichtlich aller Diskriminierungskategorien auf alle Bereiche des Sozialrechts.11 Die Antirassismusrichtlinie (RL 2000/43/EG)12 hat den weitesten Geltungsbereich, sie gilt als einzige der aktuellen Richtlinien für alle Bereiche des Sozialrechts. Die Richtlinien 2000/78/EG13 und 2002/73/EG14 sind auf den Be7 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen v. 13.12.2006, BGBl. 2008 II,
S. 1419.
8 Welti/Frankenstein/Hlava, Angemessene Vorkehrungen im Sozialrecht, Gutachten erstattet für die
Schlichtungsstelle nach dem Behindertengleichstellungsgesetz, 2018.
9 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) v. 19.12.1966, BGBl.
1973 II, S. 1569.
10 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer
Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897.
11 Vgl. Dern, Sozialrechtliche Gleichstellungs- und Antidiskriminierungskonzeptionen, 2012, S. 71 ff. 12 Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unter-
schied der Rasse oder der ethnischen Herkunft v. 29.6.2000, ABl. 2000 L 189/22.
13 Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung
der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf v. 27.11.2000, ABl. 2000 L 303/16 (Rahmenrichtlinie).
14 Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie
76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Maria Wersig
B. Rechtsquellen des Diskriminierungsschutzes im Sozialrecht
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reich Beschäftigung und Beruf beschränkt.15 Auch die Antirassismusrichtlinie umfasst allerdings nicht die unterschiedliche Behandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, die im deutschen Sozialrecht wiederum häufig vorgegeben ist, denn bei der Anspruchsberechtigung auf Sozialleistungen bzw. den weit verbreiteten und kontrovers diskutierten Ausschlussregelungen im Bereich der existenzsichernden Sozialleistungen wird häufig an den aufenthaltsrechtlichen Status angeknüpft.16 Dies stellt jedoch keine Diskriminierung im Rechtssinne der Richtlinien oder der völkerrechtlichen Verträge mit Drittstaaten (NichtEU-Staaten) dar. Die Kategorie Lebensalter, die im Sozialrecht ebenfalls zur Anwendung kommt,17 ist gleichfalls im sozialrechtlichen Diskriminierungsschutz derzeit nicht erfasst. Die Gründe für den aktuell lückenhaften Diskriminierungsschutz sind in der engen Orientierung der Gesetzgebung im Zuge der AGG-Einführung an der Richtlinienumsetzung zu sehen. Hintergrund für die Formulierung der Richtlinien war auch die primärrechtliche Verpflichtung, nicht in das Sozialrecht der Mitgliedstaaten einzugreifen (Art. 153 Abs. 2 a AEUV ). Hier hätte der deutsche Gesetzgeber jedoch eine Lücke füllen können und müssen, um einen systematisch stimmigen Diskriminierungsschutz im Sozialrecht zu schaffen. Ein stufenloser Diskriminierungsschutz ohne Differenzierung zwischen den in § 1 AGG genannten Kategorien ist auch im Sozialrecht derzeit nicht verwirklicht. § 2 Abs. 2 AGG verweist für Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch auf die bereichsspezifischen Benachteiligungsverbote in § 33c SGB I (allgemeine Vorschriften für das gesamte Sozialrecht) und § 19a SGB IV (allgemeine Vorschriften für die Sozialversicherung). Diese verbieten die Benachteiligung bei der Inanspruchnahme sozialer Rechte, verweisen für die Geltendmachung bestimmter Ansprüche auf den besonderen Teil des Sozialgesetzbuchs und die dort enthaltenen Anspruchsgrundlagen. § 31c SGB I setzt nur die RL 2000/43/EG um und ergänzt sie, im Grunde willkürlich, um die Kategorie der Behinderung.18 § 36 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB III regelt die Berücksichtigung von Kategorien mit Diskriminierungspotenzial (zum Beispiel Geschlecht) im Rahmen der der Arbeitsvermittlung. Die Durchsetzung diskriminierungsfreier Leistungserbringung im Sozialrecht ist schon aufgrund dieser fragmentierten Rechtslage – Beschränkung auf wenige Kategorien und zudem auf den Rechtsanwendungsbereich – nicht einfach. Die praktische Anwendung der Benachteiligungsverbote im SGB ist zudem überschaubar. In fast 15 Jahren ihrer Geltung finden sich bei einer entsprechenden juris-Recherche Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen v. 23.9.2002, ABl. 2002 L 269/15. 15 Bieback, Beziehen sich die Diskriminierungsverbote der Rahmenrichtlinie 2000/78/EG auch auf das deutsche Sozialrecht?, ZESAR 2006, S. 143; ders., Schutz vor Diskriminierungen gegenüber Systemen der Sozialen Sicherheit, in: Rust u. a. (Hrsg.), Die Gleichbehandlungsrichtlinien der EU und ihre Umsetzung in Deutschland, Loccumer Protokolle 40/03, S. 93. 16 Vgl. → Janda, § 24 Rn. 45 ff.; sowie Schweigler, „… wenn Gewinn aus Sozialkassen winkt“ Die EuGHRechtsprechung zu Leistungsausschlüssen in der Grundsicherung und ihre Rezeption, KJ 2021, S. 335. 17 Beispiel: altersmäßige und nach Geschlecht differenzierende Beschränkung des Anspruchs auf die Kostenübernahme der künstlichen Befruchtung § 27a Abs. 3 SGB V, dazu BSG, Urt. v. 25.6.2009, B 3 KR 7/08 R, oder die Beschränkung der BAföG Förderung nach Lebensalter, dazu BayVGH, Urt. v. 10.8.2020, 12 ZB 19.2041. 18 Auch die Gesetzesbegründung bietet keine Erläuterung für diese Auswahl, BT-Drs. 16/1780, S. 57. Maria Wersig
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zu § 33c SGB II für den Zeitrahmen der Jahre 2005 bis 2020 lediglich 34 Gerichtsentscheidungen, in denen die Regelung Erwähnung findet, keines der entscheidenden Gerichte konnte indes einen Verstoß gegen die Norm erkennen. Die gleiche Recherche zu § 19a SGB IV erzielte für den gleichen Zeitraum 14 Treffer, ebenfalls jeweils mit dem Ergebnis, dass keine Diskriminierung festgestellt werden konnte. Gründe für diese Zurückhaltung in der Anwendung der sozialrechtlichen Benachteiligungsverbote sind, dass (1) beide genannten Regelungen entweder für die in der Klage genannte Kategorie keine Anwendung entfalten oder (2) dass sie ausdrücklich keine neuen sozialen Rechte begründen, der Anspruch auf die begehrte Leistung sich also aus dem besonderen Teil des Sozialgesetzbuches ergeben muss, was Fälle von auf einer gesetzlichen Regelung beruhenden mittelbaren oder auch unmittelbaren Diskriminierung ausschließt und (3) dass eine eventuelle Ungleichbehandlung bei der Leistungsgewährung z. B. aus rassistischen Motiven im Verwaltungshandeln im Rahmen von Ermessensentscheidungen in der Regel für die Betroffenen nicht erkennbar bzw. nachweisbar ist.
C. Benachteiligungsverbote im Sozialgesetzbuch I. Verhältnis von AGG und den Benachteiligungsverboten des SGB
Obwohl die genannten Benachteiligungsverbote in der Rechtsprechung zum Sozialrecht so gut wie keine Anwendung erfahren, existieren Diskriminierungsrisiken im Sozialrecht, wie die spärliche einschlägige interdisziplinäre Forschung herausgearbeitet hat.19 Im Folgenden werden zunächst die Benachteiligungsverbote und die dazu vorliegende Rechtsprechung und Literatur dargestellt. Im Anschluss daran werden die empirischen Studien zu Diskriminierungspotenzialen referiert und in einem dritten Schritt diskutiert, welche Schlussfolgerungen für das Sozialrecht daraus zu ziehen sind. 14 Im Zuge der Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien wurden im Jahr 2006 gleichzeitig mit dem AGG die Benachteiligungsverbote des § 33c SGB I und § 19a SGB IV im Sozialgesetzbuch verankert und § 36 SGB III geändert. Als speziellere Normen gehen diese Regelungen dem AGG vor.20 Gleichzeitig bestehen Auslegungsprobleme, weil Rechtsfolgen, insbesondere richtlinienkonforme Sanktionen von Verstößen gegen die Benachteiligungsverbote, sowie die Beweislast im SGB ungeregelt blieben.21 Diese Lücken werden durch Auslegung in unterschiedlicher Weise gefüllt. 13
19 Brussig/Frings/Kirsch, Diskriminierungsrisiken in der öffentlichen Arbeitsvermittlung, 2017; Hem-
ker/Rink, Multiple Dimensions of Bureaucratic Discrimination, American Journal of Political Science 61 (2017), S. 786; Frings, Diskriminierungsschutz für Geflüchtete, 2018. 20 BSG, Urt. v. 25.6.2009, B 3 KR 7/08 R, Rn. 18. 21 Husmann, Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und seine Auswirkungen auf das Sozialrecht, ZESAR 2007, S. 13; Husmann, Auswirkungen des neuen Anti-Diskriminierungsrechts auf das Sozialrecht, NZA-Beilage 2/2008, S. 94; Kocher, Umfang und Reichweite des Diskriminierungsschutzes im Sozialrecht, SGb 2011, S. 545. Maria Wersig
C. Benachteiligungsverbote im Sozialgesetzbuch
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II. Die Benachteiligungsverbote des SGB
Die Benachteiligungsverbote des § 33c SGB I und § 19a SGB IV im Sozialgesetzbuch wer- 15 den im Folgenden dargestellt. 1. Anwendungsbereich von § 33c SGB I
Gemäß § 33c S. 1 SGB I darf niemand bei der Inanspruchnahme sozialer Rechte aus 16 Gründen der Rasse, wegen der ethnischen Herkunft oder einer Behinderung benachteiligt werden. Bezüglich der Kategorien „Rasse und ethnische Herkunft“ wird an die Antirassismusrichtlinie und bezüglich des Merkmals „Behinderung“ an die Rahmenrichtlinie Beschäftigung (RL 2000/78/EG) angeknüpft, sowie an Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Mit der Bezugnahme auf soziale Rechte (§ 2 Abs. 1 S. 1 SGB I, §§ 3–10 SGB I) erstreckt sich der Anwendungsbereich des Benachteiligungsverbots auf alle Sozialleistungen (Geld-, Sach- und Dienstleistungen, vgl. § 11 SGB I) des gesamten Sozialgesetzbuchs. Das Sozialgesetzbuch umfasst die so benannten Bücher des SGB und die in § 68 SGB I genannten Gesetze. § 33c SGB I erwähnt die Kategorie Geschlecht nicht, das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gilt, gestützt auf Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 GG und die Richtlinie 79/7/ EG, trotzdem im Sozialrecht.22 2. Anwendungsbereich von § 19a SGB IV
Bei der Inanspruchnahme von Leistungen, die den Zugang zu allen Formen und allen 17 Ebenen der Berufsberatung, der Berufsbildung, der beruflichen Weiterbildung, der Umschulung einschließlich der praktischen Berufserfahrung betreffen, darf niemand aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität benachteiligt werden. § 19a SGB IV erfasst Leistungen nach dem SGB, die der Berufsberatung, der Berufsbildung, der beruflichen Weiterbildung und der Umschulung einschließlich der praktischen Berufserfahrung dienen. Die Regelung verpflichtet alle Sozialleistungsträger (§ 12 SGB I), in deren Leistungskatalog die Berufsförderung enthalten ist (Unfall-, Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung sowie auch die Kinder- und Jugendhilfe).23 3. Anwendungsbereich von § 36 Abs. 2 SGB III
§ 36 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB III regelt die Zulässigkeit der Berücksichtigung von Diskriminie- 18 rungskategorien bei der Arbeitsvermittlung. Bei der Suche nach geeigneten Bewerber*innen auf übermittelte Stellenangebote hat die Agentur für Arbeit die von den Arbeitgebern vorgegebenen Stellenangebote auf Diskriminierungsverbote hin zu überprüfen. Es besteht insoweit die Verpflichtung der Agentur für Arbeit, diskriminierende Einschränkungen von 22 Welti, in: Schiek/Kocher (Hrsg.), AGG, 2007, § 33c SGB I Rn. 4. 23 Eichenhofer, in: Däubler/Beck (Hrsg.), AGG, 5. Aufl. 2022, § 2 Rn. 115; Welti (Fn. 22), § 19a SGB IV
Rn. 2.
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§ 25 Diskriminierungsschutz im Kontext der sozialen Sicherheit
Stellenangeboten grundsätzlich nicht zu berücksichtigen und diese anhand der Anforderungen und Rechtfertigungsmöglichkeiten des AGG zu prüfen. 4. Ausstrahlungswirkung auf die Leistungserbringung im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis 19
Im sogenannten sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis werden Sozialleistungen häufig nicht vom Leistungsträger selbst, sondern von Leistungserbringern in privater Rechtsform erbracht (zum Beispiel Beratungsdienstleistungen im Bereich der Arbeitsförderung, im Bereich der Jugendhilfe). In diesem Fall strahlen die Benachteiligungsverbote auf die Leistungserbringung durch Dritte aus, binden diese aber nicht unmittelbar.24 Der Leistungsträger muss für eine diskriminierungsfreie Leistungserbringung Sorge tragen (z. B. durch entsprechende Auflagen in der Vertragsgestaltung) und sich eventuelle Verstöße auch zurechnen lassen.25 In den Fällen, in denen Leistungsberechtigte einen Anspruch gegenüber dem privatrechtlichen Leistungserbringer durchsetzen möchten (zum Beispiel einen Entschädigungsanspruch aufgrund einer Belästigung), ist wiederum das AGG unmittelbar anwendbar.26 5. Diskriminierungsformen
Die klassischen Benachteiligungsfälle im Sozialrecht sind: in Verbindung mit einer geschützten Kategorie keine oder weniger Sozialleistungen als erwartet gewährt zu bekommen bzw. wegen einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit anders behandelt oder sanktioniert zu werden oder in der Beratung bzw. dem Sozialverwaltungsverfahren mit Stereotypen und unangemessenen Zuschreibungen belegt zu werden. In der Arbeitsförderung kommt als besondere Diskriminierungsform noch die Verwehrung von „Maßnahmen“ der Arbeitsförderung in Betracht, also zum Beispiel von Fortbildungen oder Umschulungen, die eine wesentliche Rolle spielen können beim beruflichen Fortkommen und der dauerhaften Sicherung der eigenen Existenz durch Arbeit. Beispiele für die hier benannten Diskriminierungsformen können nicht aus Gerichts21 entscheidungen abgeleitet werden, sie finden sich aber in der empirischen Forschung zum Sozialrecht. So hat Ratzmann herausgearbeitet, dass Sprache als eines von mehreren informellen Zugangshindernissen für EU-Ausländer*innen zu Leistungen der Jobcenter (SGB II) fungiert bzw. verwendet wird.27 Hemker und Rink haben gezeigt, dass bereits der 20
24 Lilge, in: ders./Gutzler (Hrsg.), SGB I, 5. Aufl. 2019, § 33c Rn. 5; Gutzler, in: Rolfs u. a. (Hrsg.), BeckOK
SozR, Stand: Dezember 2021, § 33c SGB I Rn. 5.
25 Schifferdecker, in: Körner u. a. (Hrsg.), Kassler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand: Septem-
ber 2021, § 33c SGB I Rn. 30; Knospe, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB, Stand: März 2012, § 19a SGB IV Rn. 26. 26 Vgl. Beispiel bei Mrozynski, SGB I, 6. Aufl. 2019, § 33c, Rn 11 ff. zur Weigerung einer Kindertagesstätte zur Aufnahme eines Kindes mit Behinderung in die Einrichtung; gleichzeitig könnte in dem Fall allerdings eine Amtspflichtverletzung mit der Folge von Sekundäransprüchen des zuständigen Trägers der Jugendhilfe bestehen. 27 Ratzmann, Gleichberechtigt – und diskriminiert, WZB Mitteilungen 2018, S. 41–43. Maria Wersig
C. Benachteiligungsverbote im Sozialgesetzbuch
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Nachname Auswirkungen auf die Beratungsqualität bei Anfragen an Jobcenter hat.28 Und Frings nennt Beispiele für Belästigungen von Geflüchteten bei der Leistungserbringung.29 § 33c SGB I und § 19a SGB IV verwenden wie das AGG den Begriff der Benachtei- 22 ligung. Eine Definition des Benachteiligungsbegriffs hat der Gesetzgeber im SGB nicht vorgenommen, es besteht gleichwohl Einigkeit, dass alle Diskriminierungsformen des § 3 AGG hier gleichfalls untersagt sind.30 Die unmittelbar benachteiligende Leistungserbringung oder die Verwendung mittelbar diskriminierender Kriterien (z. B. bei der Arbeitsvermittlung) sind ebenso untersagt wie Belästigungen,31 also diskriminierende und damit würdeverletzende Äußerungen in der Interaktion (z. B. rassistische Zuschreibungen) zwischen Behörde, Leistungserbringer und den Berechtigten, sowie sexuelle Belästigungen. Rechtfertigungsmöglichkeiten für Benachteiligungen nennen die Benachteiligungsverbote im Sozialrecht nicht ausdrücklich, je nach Art der Benachteiligung muss auf die Rechtfertigungsgründe des AGG oder direkt auf die Richtlinien zurückgegriffen werden.32 6. Ansprüche
Konkrete Fallkonstellationen zur Bedeutung dieser Ansprüche lassen sich der Rechtspre- 23 chung aktuell nicht entnehmen, die einschlägige Kommentarliteratur bleibt ebenfalls vage. Wegen des Gesetzesvorbehalts im Sozialrecht (§ 33 SGB I) und ausweislich des Wort- 24 lauts können die Benachteiligungsverbote keine Ansprüche auf Sozialleistungen begründen, die nicht aufgrund einer Anspruchsgrundlage im Sozialgesetzbuch ohnehin bereits bestehen. Es besteht also ein Anspruch auf diskriminierungsfreie Leistungsgewährung und Leistungserbringung im Rahmen der Regelungen des Sozialgesetzbuchs. Sollte eine Sozialleistung aus diskriminierenden Erwägungen rechtswidrig nicht gewährt worden sein, kann dieses im Rahmen der Rechtsschutzverfahren gegen den belastenden Bescheid geltend gemacht werden.33 Diese Ansprüche finden ihren Niederschlag in Ansprüchen auf Unterlassen zukünftiger Benachteiligungen, sollte die Sorge einer Wiederholung oder andauernden Viktimisierung bestehen, hier kommt die Fortsetzungsfeststellungsklage in Betracht, aber auch Eilanträge bei zukünftigen Verstößen. Diese Ansprüche können als selbständiges Recht verfolgt werden. Relevant sind auch Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche im Sinne der Richtlinien, spezielle sozialrechtliche Schadensersatzansprüche fehlen allerdings und die Anwendbarkeit des AGG an den Punkten, wo das SGB lückenhaft umgesetzt ist, ist zumindest umstritten.34 Der Rechtsweg unterscheidet sich ebenfalls nach der Form der Benachteiligung: Wäh- 25 rend im Primärrechtsschutz, also in der Auseinandersetzung über die Gewährung einer konkreten Sozialleistung der Rechtsweg zu den Sozial- oder Verwaltungsgerichten eröffnet 28 29 30 31 32 33 34
Hemker/Rink (Fn. 19). Frings (Fn. 19), S. 31–47. Knospe (Fn. 25), § 19a SGB IV, Rn. 24. Bieback (Fn. 15), S. 106 ff. Vgl. dazu Schifferdecker (Fn. 25), § 33c SGB I Rn. 25, 26. Schifferdecker (Fn. 25), § 33c SGB I Rn. 33. Schifferdecker (Fn. 25), § 33c SGB I Rn. 39; Gutzler (Fn. 24), § 33c SGB I Rn. 30. Maria Wersig
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ist, ist für Sekundäransprüche wie Amtspflichtverletzungen und die daraus abzuleitenden Schadensersatzansprüche (§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i. V. m. Art. 34 Satz 1 GG) der Rechtsweg zur ordentlichen Gerichtsbarkeit vorgegeben.35 Im Sozialrecht ist außerdem der sozialrechtliche Herstellungsanspruch eine weite26 re Möglichkeit, Betroffenenrechte durchzusetzen. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist ein in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entwickeltes Prinzip, wonach Pflichtverletzungen des Leistungsträgers (zum Beispiel bei einer – auch aus diskriminierenden Gründen erfolgten – Falschberatung, die zur Folge hat, dass ein Antrag auf Sozialleistungen nicht gestellt oder so verspätet gestellt wird, dass eine Frist versäumt wird) dazu führen, dass die geschädigte Person so gestellt wird, als habe die Fehldisposition, die auf dem Pflichtverstoß beruht, nicht stattgefunden.36 Der Herstellungsanspruch wird aus § 14 SGB I abgeleitet und zielt ausschließlich auf Schadensbeseitigung, die durch falsche Beratung verursacht ist. Der Herstellungsanspruch erfordert kein Verschulden des Leistungsträgers. Er basiert auf dem Gedanken, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden sollen (vgl. § 2 Abs. 2 SGB I). Die Beweislast für die Falschberatung liegt trotz des Amtsermittlungsgrundsatzes im Sozialrecht allerdings bei den Betroffenen.37 Für anderes behördliches Fehlverhalten steht zusätzlich nur der personalisierte Amtshaftungsanspruch zur Verfügung, mit entsprechend deutlich höheren Anforderungen. 7. Beweislast 27 Die Beweislast bei Verstößen gegen die dargestellten Benachteiligungsverbote im Sozial-
recht ist im SGB nicht im Einzelnen geregelt. Allerdings machen die Richtlinien Vorgaben: Wenn Personen, die sich benachteiligt sehen, bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Behörde Tatsachen glaubhaft machen, die eine Vermutung des Vorliegens einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung begründen, obliegt es der Beklagten zu beweisen, dass keine Benachteiligung stattgefunden hat (Art. 8 Abs. 1 RL 2000/43/EG RL, Art. 10 Abs. 1 RL 2000/78/EG). Es ist unstrittig, dass die beschriebene Beweiserleichterung auch für die Geltendmachung von Benachteiligungen im Bereich des Sozialrechts gilt, wenngleich der dogmatische Anknüpfungspunkt im deutschen Recht für die unionsrechtlich zwingend vorgegebene Folge umstritten bleibt. Eine Auffassung spricht sich für eine direkte Anwendung der Richtlinien aus,38 vertreten wird auch die analoge Anwendung 35 Vgl. BGH, Urt. v. 2.8.2018, III ZR 466/16: Amtspflichtverletzung durch Verletzung der Beratungspflicht
des Trägers der Sozialhilfe nach § 14 SGB I, wenn bei Beantragung von laufenden Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII ein dringender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf nach dem SGB VI deutlich erkennbar ist. Es bestehen hohe Anforderungen an Beratungspflichten aufgrund des immer komplexer werdenden Sozialsystems, das für Anspruchsberechtigte schwer zu durchschauen ist. 36 Etwa BSG, Urt. v. 16.3.2016, B 9 V 6/15 R; Felix, Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch und Amtshaftung, SGb 2014, S. 469; Waltermann, Sozialrecht, 14. Aufl. 2020, Rn. 29; Schaumberg, Sozialrecht, 3. Aufl. 2020, Rn. 119; Eichenhofer, Sozialrecht, 12. Aufl. 2021, Rn. 213. 37 Turnau, in: Heussen u. a. (Hrsg.), Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, 12. Aufl. 2022, § 9 Rn. 32 ff. 38 Mrozynski (Fn. 26), § 33c Rn. 13; Gutzler (Fn. 24), SGB I § 33c Rn. 28. Maria Wersig
D. Benachteiligungen im Sozialrecht und Reformbedarfe
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von § 22 AGG,39 sowie die Anwendung des in richterlicher Rechtsfortbildung entwickelten sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs mangels anderer Regelungen im SGB (letzteres ist allerdings wenig schlüssig, bedenkt man die Beweislastverteilung dort).40
D. Benachteiligungen im Sozialrecht und Reformbedarfe Die rechtssoziologische Betrachtung von Benachteiligungen im Sozialrecht ist ein bislang 28 wenig bearbeitetes Feld. Im Folgenden werden wichtige Ergebnisse aus drei aktuellen Studien aus dem Bereich der öffentlichen Arbeitsverwaltung (SGB II und SGB III) dargestellt und im Anschluss Schlussfolgerungen für gesetzgeberisches Handeln, Beratungspraxis und weitere Forschung formuliert. I. Beratungsqualität und unbewusste Vorurteile
Der individuelle Umgang mit Leistungsberechtigten im Sozialstaat kann durch „implicit 29 bias“, also unbewusste Vorurteile geprägt sein und die Leistungsqualität beeinträchtigen.41 In ihrer Studie zu Beratungsqualität in Jobcentern betrachteten Hemker und Rink die Antworten auf einfache Anfragen per E-Mail an 408 Jobcenter (in den Jahren 2014 und 2015).42 Die Fragen zu den notwendigen Informationen und Unterlagen zu einem Antrag auf Leistungen nach dem SGB II wurden von fiktiven Personen mit sechs deutsch, türkisch und rumänisch klingenden Namen gestellt. Die Mails variierten unter anderem in Berufsqualifikation, Geschlecht und Sprachstil, sowie nach der vorhandenen oder nicht vorhandenen Unterstützung durch einen Anwalt. Es handelte sich um Anfragen einer alleinstehenden Person, die mit anderen befreundeten Personen in einer Wohngemeinschaft lebt. Die Anfragenden stellten jeweils eine Frage nach dem Antragsverfahren und nach der Notwendigkeit der Beibringung von Unterlagen der Mitbewohner*innen. Durch die Frage nach den Mitbewohner*innen, die rein rechtlich keine Daten zur Verfügung stellen müssen,43 wurde in die Anfrage ein Beratungsspielraum für die Jobcenter integriert, da nach Einschätzung der Autoren durch die Erwähnung von Mitbewohner*innen die Frage aufgeworfen werden könnte, ob diese eventuell doch als Partnerin oder Partner in der Bedarfsgemeinschaft leben und damit einstandspflichtig wären bzw. ob eine solche Beziehung bewusst falsch dargestellt werden sollte. Durch diesen Anhaltspunkt in der Anfrage kann die Qualität der Antwort erheblich variieren, weil die Rechtslage differenziert erläutert werden muss. Die angefragten Leistungsträger beantworteten unabhängig vom Namen alle Anfragen. Auch im Umfang der Antwort unterschieden sich die Kontrollgruppen kaum. Bezüglich Lilge (Fn. 24), § 33c Rn. 6. Weselski, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB I, 3. Aufl., Stand: März 2018, § 33c SGB I Rn. 30. Allgemein hierzu → Magen, § 3 Rn. 7. Hemker/Rink (Fn. 19). Sie gehören weder einer Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 SGB II noch einer Haushaltsgemeinschaft gemäß § 9 Abs. 5 SGB II mit der antragstellenden Person an.
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§ 25 Diskriminierungsschutz im Kontext der sozialen Sicherheit
der Qualitätsanalyse ergab sich dann allerdings ein anderes Bild: Die Personen mit ausländisch klingenden Namen erhielten substantiell häufiger unzureichende und weniger detaillierte Informationen über die Antragstellung und auf ihre konkrete Frage hin. Dieses Informationsdefizit hätte sie nach Einschätzung der Autoren davon abhalten können, einen Antrag auf eine Grundsicherung nach dem SGB II zu stellen.44 Ein solcher Nachweis des Bestehens von statistisch relevanter Diskriminierung ist mit 30 vergleichbaren Testing-Verfahren auch in anderen Gebieten des Antidiskriminierungsrechts gelungen.45 Er ist geeignet, ein Problembewusstsein zu schaffen bzw. zu verstärken, und rückt die Notwendigkeit von Diversity Management, interkultureller Kompetenz und entsprechenden Fortbildungen und Arbeitsanweisungen zu unbewussten Vorurteilen in das Blickfeld.46 II. Zugang zum System und Stereotypisierung 31
Ein weiterer Anhaltspunkt dafür, dass die Beratungsqualität abhängig sein kann von diskriminierenden Zuschreibungen bzw. Interpretationen von Gruppenzugehörigkeit: Bezogen auf die Leistungsansprüche von EU-Ausländer*innen im Anwendungsbereich des SGB II hat Ratzmann in einer Reihe von Interviews mit betroffenen EU-Bürger*innen verschiedenster Qualifikationsniveaus und Jobcenter-Mitarbeitenden in Berlin Diskriminierungserfahrungen dieser Zielgruppe im Sozialverwaltungsverfahren erforscht. Sie stellt eine Diskrepanz zwischen formulierten Leistungsansprüchen und dem tatsächlichen Zugang zum System fest.47 Im Erstkontakt im dem Jobcenter würden die Betroffenen selten an die Arbeitsagenturen verwiesen, wo sie nach dem SGB III auch ohne Leistungsanspruch Anrecht auf Beratung zur Integration in den Arbeitsmarkt hätten. Außerdem stellte Ratzmann die (rechtswidrige) Praxis fest, dass Betroffene bereits im Eingangsbereich des Jobcenters mündlich mit der Begründung abgewiesen wurden, sie hielten sich nur zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland auf und hätten damit keinen Anspruch auf Grundsicherung nach dem SGB II. In dieser Praxis, die auch aus anderen Bundesländern bekannt ist, liegt eine diskriminierende Verweigerung der Entgegennahme eines Antrags auf Sozialleistungen, auch wenn aufgrund der derzeitigen Rechtslage nicht in jedem Fall davon ausgegangen werden kann, dass der Antrag erfolgreich gewesen wäre. Auch an dieser Stelle stellt sich die Frage, ob der Blick auf die Gruppenzugehörigkeit, die stereotype Zuschreibung von „der/dem EU-Ausländer*in mit Einwanderungsziel in das Sozialsystem“ die Auseinandersetzung mit dem individuellen Fall ersetzt und mit welchen Maßnahmen die Sozialverwaltung dem entgegenwirken kann.
44 Hemker/Rink (Fn. 19), S. 801. 45 Dazu → Towfigh, § 18 Rn. 106; → Muthorst, § 19 Rn. 58. 46 Sander/Hartmann, in: Genkova/Ringeisen (Hrsg.), Handbuch Diversity Kompetenz: Perspektiven
und Anwendungsfelder, 2015; Mecheril, Einführung in die Migrationspädagogik, 2004.
47 Ratzmann (Fn. 27), S. 41.
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III. Einschätzung individueller Potenziale in schematischen Abläufen
Neben möglicherweise verbesserungsbedürftigen individuellen Kommunikationskom- 32 petenzen und der Qualität der Erstberatung ist es außerdem nötig, die Rahmenbedingungen von Verwaltungshandeln und Steuerungs- sowie Entscheidungsprozesse (und Spielräume) in den Blick zu nehmen. In einer hochkomplexen Massenverwaltung mit modernen Steuerungsmethoden können die Strukturen der Verwaltung selbst Diskriminierungsrisiken enthalten. Hier setzen die Studien von Brussig, Frings und Kirsch sowie von Ratzmann an. In ihrer interdisziplinären Betrachtung der Diskriminierungsrisiken in der deutschen 33 Arbeitsvermittlung (Rechtskreise SGB II und SGB III) verfolgten Brussig, Frings und Kirsch einen Ansatz, der „Prozesse mit erhöhtem Diskriminierungspotenzial zu identifizieren“48 suchte. Die Studie setzt methodisch nicht an einem einfachen Testing-Verfahren für einen Sachverhalt an, sondern befasst sich mit Verwaltungsorganisation.49 In allen Arbeitsabläufen der Arbeitsverwaltung (bezogen auf Arbeitsvermittlung) stellte die Studie im Ergebnis Diskriminierungsrisiken fest. Wie Hemker und Rink sehen auch Brussig, Frings und Kirsch Diskriminierungsrisiken in der Beratungsqualität. Besonders Personen mit komplexem Beratungsbedarf und Menschen, die den Umgang mit einer Sozialverwaltungsbürokratie nicht gewohnt sind (z. B. aufgrund ihrer sozialen Herkunft), seien von diesen Risiken betroffen. Sie beziehen dieses Ergebnis aber nicht auf unbewusste Vorurteile, sondern die gesetzlich vorgesehenen Abläufe der Eingliederung in Arbeit nach dem SGB II. Bezogen auf die Eingliederungsstrategie und das Prinzip des „Fordern und Fördern“ im SGB II sei die Festlegung der Eingliederungsstrategie und der damit verbundenen Maßnahmen der Aktivierung oft unzureichend partizipativ und mit Blick auf den Einzelfall ausgestaltet. Dies stelle ein Diskriminierungsrisiko vor allem für Personen mit einem besonderen Unterstützungsbedarf dar, der nicht immer offen auf der Hand liegt, wie zum Beispiel bei gesundheitlichen Einschränkungen.50 Dies gelte besonders für die häufig schematischen Eingliederungsvereinbarungen bzw. deren Ersetzung durch Verwaltungsakt51 im SGB II. Im Fokus standen auch Auswirkungen von unbewussten Vorurteilen und Stereotypen 34 auf Entscheidungen und die Ermöglichung dieser durch intransparente Verfahren und Entscheidungen. Als Beispiel nennen die Autor*innen Vermittlungsvorschläge der Fachkräfte, die sich an unausgesprochenen Stereotypen orientieren, wie beispielsweise eine vorschnelle Vermittlung migrantischer Frauen in Pflegeberufe oder Ablehnungen von Qualifizierungswünschen mit Verweis auf Budgetbeschränkungen, während der tatsächliche Ablehnungsgrund eine sich auf pauschale Kategorien stützende Erfolgsprognose der Maßnahme für das konkrete Individuum war.52 An dieser Stelle, wo pauschale Bewertungen mit stereotypen Betrachtungen der Gruppenzugehörigkeit der AntragstellenBrussig/Frings/Kirsch (Fn. 19), S. 15. Brussig/Frings/Kirsch (Fn. 19), S. 278. Brussig/Frings/Kirsch (Fn. 19), S. 281. Vgl. Hökendorf/Wersig, Der Ersatz der Eingliederungsvereinbarung durch Verwaltungsakt, info also 2015, S. 147; Hökendorf, Neue Entscheidungen zur Eingliederungsvereinbarung und zum ersetzenden Verwaltungsakt – eine Rechtsprechungsübersicht, info also 2020, S. 195. 52 Brussig/Frings/Kirsch (Fn. 19), S. 281. 48 49 50 51
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den verknüpft werden, bestehe ein Diskriminierungsrisiko für Zugewanderte, für Ältere und Frauen sowie die Gefahr der intersektionalen Diskriminierung (z. B. für muslimische Frauen, ältere Frauen, russlanddeutsche Männer). Ein ähnlich gelagertes Problem könnte sich feststellen lassen in Sozialleistungsbereichen, wo persönliche Dienstleistungen (anders als Geldleistungen) nach Ermessen und unter Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe erbracht werden (Jugendhilfe, Eingliederungsleistungen) und die Entscheidungen zumeist mündlich und im persönlichen Kontakt erfolgen. So sehr dies der Einzelfallgerechtigkeit dient, so sehr ist das Verfahren auch anfällig für verdeckte Zuschreibungen und stereotypisierte Erwartungsmuster. IV. Bereitschaft zum Einsatz von Ressourcen und Steuerung von Sozialverwaltungshandeln durch Kennzahlen
Ein weiteres Diskriminierungspotenzial betrifft die Steuerung des Verwaltungshandelns im gesamten Bereich der Bundesagentur für Arbeit durch Kennzahlen. Die Steuerung des Verwaltungshandelns erfolgt im Bereich der Arbeitsförderung durch Kennzahlen, die zunächst eine Basis für eine Vergleichbarkeit der Arbeit der Leistungsträger gewährleisten (§ 48a SGB II; § 11 SGB III), aber auch eine Rolle bei Zielvereinbarungen mit den Leistungsträgern nach § 48b SGB II bzw. § 1 Abs. 3 SGB III spielen. Die Kennzahlen betreffen wesentliche Kernziele der Arbeitsvermittlung. 36 Das Ziel einer diskriminierungsfreien Leistungserbringung ist dabei leider nicht durch Kennzahlen hinterlegt.53 Stattdessen dominieren Faktoren wie Dauer der Arbeitslosigkeit, Anzahl der Integrationen in Beschäftigung sowie das Verlassen des Leistungsbezuges des Arbeitslosengeld II. Diese Kennzahlen bergen laut Brussig, Frings und Kirsch insofern „Diskriminierungsrisiken, als sie Anreize setzen, die Vermittlungsanstrengungen nicht an den individuellen Bedarfen der Arbeitsuchenden auszurichten, sondern mit möglichst minimalem Aufwand die Kennzahlen zu erfüllen (Creaming54) und Personen, die nur mit erhöhtem Aufwand integriert werden können, in kostengünstige Maßnahmen zu verweisen oder gar nicht zu aktivieren (Parking55). Dies ist konkret ein Diskriminierungsrisiko für Personen, von denen erwartet wird, dass sie nur mit überdurchschnittlichem Aufwand in Beschäftigung integriert werden können, wie z. B. Ältere, aber auch Alleinerziehende mit mehreren Kindern (weil dann das Einkommen höher sein muss als von Singles, um den Leistungsbezug zu verlassen)“ oder für Menschen, die aufgrund von sprachlichen oder gesundheitlichen Problemen größerer Aufmerksamkeit und gegebenenfalls auch Investitionen in ihre Qualifizierung bedürfen. Hinzu komme, dass widersprüchliche Anforderungen an die Vermittlungsfachkräfte „stillschweigend zu Praktiken [führe], welche sich eher 35
53 §§ 48a ff. SGB II; Verordnung zur Festlegung der Kennzahlen nach § 48a des Zweiten Buches Sozialge-
setzbuch.
54 Brussig/Frings/Kirsch (Fn. 19), S. 50, 126. 55 Brussig/Frings/Kirsch (Fn. 19), S. 50, 126.
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an den Ressourcen innerhalb der Organisation als an den Bedarfen der Arbeitsuchenden orientieren“.56 Schließlich richtet die Studie den Blick auf die Problematik der Schnittstellen der Zu- 37 ständigkeiten mehrerer Sozialleistungsträger für Individuen mit komplexen Problemlagen wie schweren gesundheitlichen Einschränkungen oder Suchterkrankungen, hier ist die Diskriminierungskategorie Behinderung berührt. Zuständigkeitsstreitigkeiten und divergierende Interessen können hier dazu führen, dass das Individuum und sein Einzelfall aus dem Blick geraten und die Leistung nicht bedürfnisadäquat gestaltet wird, obwohl die Möglichkeiten bestünden.57 V. Sprache
Im Verwaltungsverfahren weist das Sozialrecht auch bei Sprachbarrieren zumeist den 38 Antragstellenden die „Bringschuld“ zu, sich bei der zuständigen Stelle mit ihrem Anliegen verständlich zu machen.58 Die Amtssprache ist auch im Sozialverwaltungsverfahren deutsch, § 19 SGB X. Dies ist geeignet, Menschen, deren Muttersprache eine andere ist, insbesondere Migrant*innen der ersten Generation, den Zugang zu Sozialleistungen zu erschweren. Bei vielen standardisierten Sozialleistungen sind Antragsformulare und sonstige Informationen zwar auch in anderen Sprachen als deutsch verfügbar. Einen Anspruch darauf gibt es nicht, sollte die Behörde sich einer anderen Sprache bedienen, trägt sie allerdings das Risiko von Übersetzungsfehlern.59 Selbst wenn Übersetzungsleistungen für die Erbringung der Sozialleistung zwingend notwendig sind (z. B. Krankenbehandlung und Verständigung mit Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen), gibt es im Leistungsbereich des Sozialgesetzbuches der Rechtsprechung zufolge darauf keine Rechtsansprüche.60 Ausnahmen von diesen Regelungen – nämlich als Nachteilsausgleiche aufgrund einer Behinderung – sind die Kommunikation in deutscher Gebärdensprache (§ 19 Abs. 1 S. 2 SGB X) sowie in leichter Sprache (§ 19 Abs. 1a SGB X i. V. m. § 11 BGG), wofür die Leistungsträger jeweils auch die Kosten für Übersetzungen zu tragen haben. Von diesen Verfahrensregeln zu unterscheiden ist die Frage nach der Leistung der 39 Krankenbehandlung, für die der Leistungsträger die Verantwortung trägt.61 Das Krankenversicherungsrecht des SGB V enthält keine Grundlage für die Übernahme der zur medizinischen Versorgung notwendigen Übersetzungskosten, etwa für dolmetschende Begleitpersonen (inklusive für Gebärdensprache).62 Die Krankenkassen verweisen deshalb auf die Sozialhilfeträger und lehnen eine Leistungserbringung der Kosten für das DolmetBrussig/Frings/Kirsch (Fn. 19), S. 284. Brussig/Frings/Kirsch (Fn. 19), S. 284. Dern (Fn. 11), S. 257. Mutschler, in: Körner u. a. (Hrsg.), Kassler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand: September 2021, § 19 SGB X Rn. 3a. 60 BSG, Urt. v. 6.2.2008, B 6 KA 40/06 R. 61 Frings, in: Degener/Dern/Dieball/Frings/Oberlies/Zinsmeister, Antidiskriminierungsrecht – Handbuch für Lehre und Beratungspraxis, 2008, S. 347. 62 Das Bundessozialgericht hat eine Auslegung des § 28 Abs. 1 SGB V, der den Einsatz von Hilfspersonen 56 57 58 59
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schen ab. Die Hilfe bei Krankheit im Sozialhilferecht (nach § 48 SGB XII) ist aber auf Leistungen beschränkt, die auch die Krankenversicherung erbringen würde. Bei stationärer Behandlung z. B. im Krankenhaus oder in der Psychiatrie müsste das Krankenhaus aus der Krankenhausvergütung die Leistungen vorhalten. Dieses Beispiel zeigt, wie die betroffenen Personen zwischen unterschiedlichen Zuständigkeiten hin und her verwiesen werden und es vom Zufall abhängig ist, ob in einer Einrichtung behandelt wird, die entsprechenden Angebote vorhält. 40 Die Benachteiligungsverbote helfen in einem Fall, in dem eine Patientin bzw. ein Patient sich mit medizinischem Personal nicht verständigen kann, nicht weiter. Denn der fehlende Leistungsanspruch auf eine Dolmetscherleistung im SGB V ist zwar eine mittelbare Benachteiligung aufgrund der ethnischen Herkunft,63 das sozialrechtliche Benachteiligungsverbot verbietet aber nur Ungleichbehandlungen bei der Anwendung der bestehenden Gesetze. Hier fehlt es aber gerade an einer anspruchsbegründenden Gesetzesregelung im Sozialrecht, letztlich muss die Forderung sich darauf beziehen, die Leistung auch ohne einfachgesetzliche Grundlage zu erbringen. Die mittelbare Benachteiligung liegt also im Fehlen einer Regelung, die die Leistungserbringung für Angehörige einer bestimmten Gruppe ermöglichen würde, die aufgrund ihrer ethnischen Herkunft notwendige Sprachkenntnisse nicht aufweist, um von der Sozialleistung zu profitieren. VI. Belästigung und Stereotype
Die Benachteiligungsverbote sind relevant im Rahmen der Ermessensausübung durch die Leistungsträger und bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, sowie bei der Beratung über Sozialleistungen und schließlich bei der Leistungserbringung selbst. Benachteiligungsfreie Formulierungen im Umgang mit Antragstellenden und eine Beratung frei von Stereotypisierungen muss erfolgen, weil sonst von einer Diskriminierung in Form einer Belästigung (§ 3 Abs. 3 AGG) auszugehen ist. 42 Eine Beratung zum Ablegen des Kopftuches im Rahmen der Leistungen zur Eingliederung in Arbeit wäre ein Verstoß gegen § 19a SGB IV. In den Fällen, in denen ein Leistungsträger ein Auswahlermessen hat, ist eine Entscheidung durch pauschale und stereotypisierende Bezugnahme auf ethnische Herkunft oder Geschlecht der antragstellenden Person, sowie Alter64 ermessensfehlerhaft und unzulässig. Gleiches gilt für bevorzugte Vermittlung migrantischer Frauen in Pflegeberufe ohne Berücksichtigung von Neigung oder Vorqualifikationen, die ebenfalls auf stereotypen Zuschreibungen beruht. 43 Eine Überwindung dieser Benachteiligungsformen aus Betroffenensicht durch Hinweise auf die Benachteiligungsverbote und gegebenenfalls entsprechende Rechtsmittel 41
unter ärztlicher Aufsicht regelt, in Bezug auf Dolmetscherleistungen verneint, vgl. BSG, Urt. v. 10.5.1995, 1 RK 20/94. 63 Frings (Fn. 61), S. 342. 64 LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 26.7.2007, L 10 R 5394/06, vor Inkrafttreten des § 19a SGB IV, Ablehnung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer Umschulung bzw. Fortbildung ist ermessensfehlerhaft, wenn sie maßgebend darauf abstellt, dass der 45-jährige Versicherte wegen seines Alters keine Chance auf eine Wiedereingliederung habe. Maria Wersig
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erscheint wenig vielversprechend. Die Umsetzung einer Leistungserbringung ohne diese Form der Benachteiligung erfordert die Anstrengung der Schulung aller beteiligten Fachkräfte sowie klarer Richtlinien zur Ermessensausübung, die dieses Thema benennen. VII. Zugang zum Recht
Die dargestellten Diskriminierungsrisiken sollten in der Gesetzgebung und in den Orga- 44 nisationen der Leistungsträger adressiert werden. Sie werfen aber auch die Frage nach den individuellen Rechtsschutzmöglichkeiten auf. Da die Diskriminierungsverbote im Sozialrecht, auch die für die Arbeitsvermittlung geltenden § 19a SGB IV und § 36 Abs. 2 SGB III, keine Sanktionen enthalten, sind die Betroffenen, jedenfalls wenn sie aufgrund einer Diskriminierungserfahrung im Zusammenhang mit einer Sozialleistung eine Entschädigung geltend machen, im Ergebnis nach dem Fazit von Brussig, Frings und Kirsch schlechter geschützt als gegen Diskriminierungen durch Private. Sie werden auf den Rechtsweg einer Amtshaftung an die Zivilgerichte verwiesen, wo sie faktisch mit Anwaltszwang, den Anforderungen an den Vortrag im Zivilprozess und in Erwartung von Gerichtskosten für ihre Rechte eintreten können.65 Dies passiert so gut wie nie. Gleichzeitig ist die Verfolgung der sozialrechtlichen Ansprüche auf bestimmte Sozial- 45 leistungen selbstverständlich vor den Sozialgerichten möglich, dies auch kostenfrei und mit einem kläger*innenfreundlichen Verfahren, sowie dem Amtsermittlungsgrundsatz. Diese Ansprüche laufen aber, wie die Analyse der dargestellten Benachteiligungsverbote gezeigt hat, entweder ins Leere, weil eine Benachteiligung nicht nachgewiesen werden kann, weil der Sozialleistungsanspruch gegebenenfalls selbst mittelbar diskriminierend ausgestaltet ist und die Benachteiligungsverbote deshalb nicht anwendbar sind bzw. weil die Benachteiligungsverbote des SGB sich gar nicht auf die genannte Kategorie erstrecken. Die Handlungsmöglichkeiten der Individuen, mit ihren individuellen Ansprüchen 46 gegen Benachteiligungen, die eine strukturelle Ursache haben, vorzugehen, sind auch im Sozialrecht eher begrenzt. Dieses Ergebnis wird sicherlich diejenigen nicht überraschen, die den Fokus des AGG auf individuelle Rechtsdurchsetzung kritisch sehen, es soll aber an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass es bei den dargestellten Rechtsproblemen im Sozialrecht um Leistungen geht, die vielfach und in besonderer Weise die Menschenwürde berühren, wenn es um das sozio-kulturelle Existenzminimum geht oder auch um die Möglichkeit, die eigene Existenz dauerhaft unabhängig von staatlichen Grundsicherungsleistungen durch Arbeit selbstbestimmt zu sichern. Die diskriminierungsfreie Leistungserbringung sollte in diesem Themenbereich nicht Kür sein, sondern Pflicht.
65 Brussig/Frings/Kirsch (Fn. 19), S. 284.
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E. Fazit Im Ergebnis zeigen die skizzierten Studien, dass im Bereich der Erbringung von Sozialleistungen Diskriminierung stattfinden kann. Hierzu besteht weiterer Forschungsbedarf. Die Ursachen sowie die Handlungsnotwendigkeiten dürften sowohl auf der individuellen Ebene der Gestaltungsmöglichkeiten der involvierten Beschäftigten liegen, als auch auf der organisationalen Ebene, wo Abläufe, Zuständigkeiten, Rechtsquellen der Verwaltungspraxis in den Blick genommen werden müssen, sowie auf der rechtlichen Ebene der Ausgestaltung von Beratungsansprüchen und den Rechtsansprüchen auf Sozialleistungen, sowie auf der Verfahrens- und Steuerungsebene. Benachteiligungsverbote allein können die diskriminierungsfreie Umsetzung der sozia48 len Rechte im Sozialgesetzbuch nicht gewährleisten. Die Verbote tatsächlich umzusetzen und den Ansprüchen an eine diskriminierungsfreie Gestaltung des Sozialrechts gerecht zu werden, erfordert den Blick auf alle Aspekte des Sozialverwaltungsverfahrens, Änderungen in Recht und Verwaltungspraxis, sowie auf die individuellen Handlungsspielräume der Fachkräfte. 47
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§ 26 Diskriminierungsschutz in der Gefahrenabwehr Alexander Tischbirek* Inhaltsübersicht Rn. A. Die Gefahrenabwehr als Referenzgebiet des Antidiskriminierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Rechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Völkerrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. UN-Abkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zivilpakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Spezielle UN-Antidiskriminierungsabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Genfer Flüchtlingskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Regionaler Diskriminierungsschutz in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bundesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Landesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 5 6 7 9 11 12 14 16 18
C. Insbesondere: Racial Profiling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriffliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Diskriminierungsschutz als Paradigma des Gefahrenabwehrrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die effiziente Gefahrenabwehr als leitendes Paradigma des Polizei- und Ordnungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechtsbindung des Polizei- und Ordnungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestimmtheitsanforderungen der Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Adressatinnenauswahl „wegen“ der Rasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zur Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtfertigungsfähigkeit eines Racial Profiling? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtfertigungsansätze in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Insbesondere: „statistische“ Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abgrenzung zu konkreten Personenfahndungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 20 24 25 25 26 31 38 47 54 55 57 59 63
D. Ausblick: diskriminierungsgeneigtes „Predictive Policing“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
* Der Autor tritt als Rechtsbeistand in verwaltungsgerichtlichen Racial Profiling-Prozessen auf. Alexander Tischbirek
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§ 26 Diskriminierungsschutz in der Gefahrenabwehr
A. Die Gefahrenabwehr als Referenzgebiet des Antidiskriminierungsrechts Die staatliche Gefahrenabwehr bildet eines der wichtigsten Referenzgebiete des Antidiskriminierungsrechts. So haben Erfahrungen mit der Polizei in zahlreichen Rechtsordnungen einen entscheidenden Impuls für die Herausbildung von Antidiskriminierungsrecht gegeben. Dies gilt jedenfalls für die diskriminierungsschutzrechtliche Grundnorm der deutschen Verfassung, Art. 3 Abs. 3 GG, die als direkte Reaktion auf die Gräuel des Nationalsozialismus gelesen wird und hierin auch und gerade auf die beispiellosen Verbrechen verweist, welche der staatliche Sicherheitsapparat an Juden, Roma, politisch Andersdenkenden, Menschen mit Behinderungen und Homosexuellen begangen hat.1 Dies gilt aber auch für das Antidiskriminierungsrecht der USA, wo die Civil Rights-Bewegung bereits früh exzessive Polizeigewalt gegenüber Schwarzen Menschen anprangerte2 und bis heute zu beklagen hat.3 Im Vereinigten Königreich hat insbesondere der vielzitierte MacphersonReport4 eine breite politische und akademische Debatte über Phänomene eines „institutionellen“ Rassismus5 bei der Polizei ausgelöst und ebenfalls zu direkten Reaktionen des Gesetzgebers geführt.6 2 Der diskriminierungsschutzrechtliche Vorwurf im Kontext der staatlichen Gefahrenabwehr ist dabei zuvörderst derjenige des Rassismus. Eine empirische Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zur Diskriminierungswirklichkeit in Deutschland verzeichnet, dass „Diskriminierungen anhand der (ethnischen) Herkunft bzw. aus rassis1
1 Vgl. Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Juli 2021, Art. 3 Abs. 3 Rn. 9; Boysen, in:
v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 179; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 6; Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), GG, 14. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 53; Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 388; Kingreen, in: Kahl/ Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand: Februar 2020, Art. 3 Rn. 32 und 517. Siehe auch Wilhelm, Die Polizei im NS-Staat, 2. Aufl. 1999, S. 73 ff. zur „Verreichlichung“ der Polizeibehörden und ihrer Verschmelzung mit der SS. 2 Siehe etwa den zentralen Vorwurf der „police brutality“ in King, Letter from Birmingham Jail (1963), abgedruckt in Washington (Hrsg.), A Testament of Hope, 1. Aufl. 1986, S. 289 ff.; siehe auch Pratt, Selma’s Bloody Sunday, 2017, S. 52 ff. 3 Hattery/Smith, Policing Black Bodies, 2018; zur „Black Lives Matter“-Bewegung siehe etwa zuletzt Boyd/Dumpson, Black Lives Matter, in: Berry (Hrsg.), Appearance Bias and Crime, 2019, S. 94 ff. 4 The Stephen Lawrence Inquiry, Report of an Inquiry by Sir William Macpherson of Cluny, UK Government Home Office, Cm 4262-I v. 24.2.1999. 5 Für eine frühe Beschreibung im US-amerikanischen Kontext siehe Carmichael//Hamilton, Black Power, 1. Aufl. 1967. 6 Der Macpherson-Report ist nach deutscher Logik eher dem strafprozessualen als dem gefahrenabwehrrechtlichen Vorgehen der Polizei zuzuordnen, da die polizeilichen Ermittlungen infolge des Mordes an dem schwarzen Studenten Stephen Lawrence den Gegenstand des Berichts bilden. Seine Aussagen über einen „internalisierten“ Rassismus in staatlichen Institutionen beanspruchen jedoch Geltung über den bloßen strafprozessualen Bereich hinaus, zumal die strikte Trennung zwischen repressiver und präventiver Polizeitätigkeit, die in Deutschland zuvörderst kompetenzielle Implikationen zeigt, nicht ohne Weiteres auf das britische Recht übertragen werden darf. Zu den Auswirkungen des Reports auf Politik und Recht im Vereinigten Königreich Bourne, The Life and Times of Institutional Racism, Race & Class 43 (2001), S. 7 (12 ff.). Alexander Tischbirek
B. Rechtlicher Rahmen
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tischen Gründen (…) im Bereich der Polizei (…) sehr deutlich überrepräsentiert [sind]“.7 Gleichwohl sind auch andere Diskriminierungskategorien wie etwa das Geschlecht, die Religion und Weltanschauung oder die sexuelle Orientierung angesprochen, zumal, wenn diese additiv oder intersektional8 zur (vermeintlichen) Rasse9 polizeiliches Handeln motivieren. Andersherum bildet das Gefahrenabwehrrecht jedenfalls in Deutschland das bislang einzige Rechtsgebiet mit nennenswerter Rechtsprechung zu rassistischen Diskriminierungen.10 Während das Bundesverfassungsgericht – soweit ersichtlich – in den knapp siebzig Jahren seiner Rechtsprechungstätigkeit bislang noch keine einzige Verletzung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG mit Blick auf eine Ungleichbehandlung wegen der Rasse oder der ethnischen Herkunft festgestellt hat,11 liegt seit wenigen Jahren oberverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung vor, die das grundgesetzliche Diskriminierungsverbot anhand Fragen des „Racial Profiling“ effektuiert hat.12 Das Gefahrenabwehrrecht ist also nicht bloß Referenz, sondern maßgeblicher Fixpunkt für die Vermessung des rechtlichen Schutzes vor rassistischen Diskriminierungen in Deutschland. Aber auch darüber hinaus vermag es den Status des Antidiskriminierungsrechts – seiner Motive, Figuren und Probleme – im deutschen Recht zu veranschaulichen und lohnt daher eine gesonderte Betrachtung.
B. Rechtlicher Rahmen Angesichts der historischen und aktuellen Diskriminierungserfahrungen im Kontext 3 staatlicher Gefahrenabwehr muss es verwundern, dass das diskriminierungsschutzrechtliche Regularium im Polizeirecht sehr viel spärlicher ist als etwa im Arbeitsrecht oder im Recht des Waren- und Dienstleistungsverkehrs. Das Polizeirecht ist diskriminierungsschutzrechtlich unterreguliert. Dies liegt – vor dem Hintergrund der starken unionsrechtlichen Prägung des Antidiskriminierungsrechts im Übrigen – zunächst an den stark zurückgenommenen Kompetenzen der EU im Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungs7 Beigang/Fetz/Kalkum/Otto, Diskriminierungserfahrungen in Deutschland, 2017, S. 250 ff. (Tabelle 35
mitsamt Lesebeispiel).
8 Zur Unterscheidung beider Weinberg, Ansätze zur Dogmatik der intersektionalen Benachteiligung,
EuZA 2020, S. 60; → Holzleithner, § 13.
9 Eingehend zum umstrittenen Begriff der Rasse einerseits Barskanmaz, Rasse – Unwort des Antidis-
kriminierungsrechts?, KJ 2011, S. 382 ff.; andererseits Liebscher/Naguib/Plümecke/Remus, Wege aus der Essentialismusfalle, KJ 2012, S. 204 (207 ff.); siehe ferner die Begriffsanalysen bei Feldmann/Hoffmann/ Keilhauer/Liebold, „Rasse“ und „ethnische Herkunft“ als Merkmale des AGG, RW 2018, S. 23 (insbesondere S. 25 ff. mit einer vergleichenden Perspektive auf das anglo-amerikanische, französische und deutsche Antidiskriminierungsrecht); → Barskanmaz, § 7. 10 Nur vereinzelt liegen zivilgerichtliche Urteile zum Verbot rassistischer Diskriminierungen im AGG vor – etwa im Mietrecht (siehe beispielsweise AG Tempelhof-Kreuzberg, Urt. v. 19.12.2014, 25 C 357/14 und AG Hamburg-Barmbek, Urt. v. 3.2.2017, 811b C 273/15) oder beim Zugang zu Diskotheken (siehe etwa OLG Stuttgart, Urt. v. 12.12.2011, 10 U 106/11). 11 Siehe jedoch die Engführung von Diskriminierungsverbot, Menschenwürdesatz und freiheitlich demokratischer Grundordnung in BVerfGE 144, 20 (207 f.) – NPD-Verbotsverfahren II (2017). 12 OVG Koblenz, Urt. v. 21.4.2016, 7 A 11108/14 und OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16; dazu im Einzelnen unten Rn. 28 ff. und 43 ff. (C. II. 1. b) und C. II. 3.). Alexander Tischbirek
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recht. Damit einher geht jedoch auch eine große Zurückhaltung der Landesgesetzgeber, deren diskriminierungsschutzrechtliche Gesetzgebungstätigkeit zumeist auf arbeits- und beamtenrechtliche Fragen der Geschlechtergleichstellung sowie der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen beschränkt bleibt und die einen vergleichbaren Diskriminierungsschutz im Polizeirecht scheuen.13 Zwar besteht auch im Polizeirecht eine vielschichtige Regulierung auf unterschiedlichs4 ten Normebenen, denn im Grundsatz sind hier eine Vielzahl an Akteuren von der kommunalen Ebene bis hin zum Völkerrecht zur diskriminierungsschutzrechtlichen Rechtssetzung berufen. Beim Abschreiten dieser verschiedenen Normebenen fällt indessen auf, dass die diskriminierungsschutzrechtliche Steuerungsintensität deutlich abnimmt, je tiefer eine Regelung in der Normenhierarchie verankert ist. Der diskriminierungsschutzrechtliche Normbestand speist sich im Gefahrenabwehrrecht demnach zuvörderst aus den völkerrechtlichen Menschenrechtspakten und dem Verfassungsrecht. In Ermangelung sachnaher Bundes- und Landesgesetzgebung zeigt sich ein hoher Bedarf an richterlicher Normkonkretisierung, der einen weiteren Grund für die erheblichen praktischen Unsicherheiten in Detailfragen des gefahrenabwehrrechtlichen Diskriminierungsschutzes bildet. I. Völkerrechtliche Vorgaben 5 Spezielle Diskriminierungsverbote sind in einer Vielzahl völkerrechtlicher Abkommen
enthalten, die von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wurden. Sie entfalten auch speziell für die staatliche Gefahrenabwehr besondere Relevanz.14
1. UN-Abkommen 6 Als wichtigste UN-Dokumente sind im hiesigen Zusammenhang der Internationale Pakt
über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR)15 und die UN-Antidiskriminierungsabkommen, insbesondere das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD)16, hervorzuheben.17
13 Zu unionsrechtlichen Umsetzungsdefiziten aufgrund allzu zurückhaltender Landesgesetzgebung im
Antidiskriminierungsrecht Tischbirek, Antidiskriminierungsgesetzgebung der Länder im Mehrebenensystem, ZG 32 (2017), S. 165 ff. 14 Für einen Überblick über das Völker- und Europarecht zum Verbot rassistischer Diskriminierung siehe Payandeh, Rechtlicher Schutz vor rassistischer Diskriminierung, JuS 2015, S. 695 ff., und zuletzt Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 145 ff.; zu den völkerrechtlichen Verboten rassistischer Diskriminierung speziell im Kontext der Gefahrenabwehr hier und im Folgenden Tischbirek/Wihl, Verfassungswidrigkeit des „Racial Profiling“, JZ 2013, S. 219 (220 f.). 15 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1533. 16 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung v. 7.3.1966, BGBl. 1969 II, S. 961. 17 Ausführlich zu beidem → Barskanmaz, § 7. Alexander Tischbirek
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a) Zivilpakt
Art. 26 IPbpR verlangt nach einem gesetzlichen Verbot von Diskriminierungen, insbeson- 7 dere aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauungen, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Standes. Zugleich verlangt die Vorschrift nach „gleiche[m] und wirksame[m] Schutz“ vor Diskriminierung. Der Pakt enthält – anders als andere Rechtsakte des Antidiskriminierungsrechts18 – keine Einschränkungen seines sachlichen Anwendungsbereichs. Im Gegenteil stellt Art. 4 Abs. 1 IPbpR klar, dass selbst im Falle eines öffentlichen Notstandes Diskriminierungen allein wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion oder der sozialen Herkunft ausgeschlossen bleiben. Die Diskriminierungsverbote des IPbpR binden die Vertragsstaaten damit auch umfassend im Polizei- und Ordnungsrecht. Das Fakultativprotokoll, dem Deutschland ebenso wie dem Pakt daselbst beigetreten ist,19 eröffnet unter bestimmten Voraussetzungen den Weg des Individualbeschwerdeverfahrens zum UN-Menschenrechtsausschuss, wenn sich Einzelpersonen durch einen Vertragsstaat in den im Pakt niedergelegten Rechten verletzt sehen. Allerdings hat die Bundesrepublik gerade im Hinblick auf Mitteilungen über eine Verletzung des Art. 26 IPbpR einen Vorbehalt angebracht, welcher das Individualbeschwerdeverfahren in Diskriminierungsfragen wieder schwächt.20 Der Menschenrechtsausschuss hat infolge einer Beschwerde auch bereits prominent 8 zu Diskriminierungsvorwürfen bei der staatlichen Gefahrenabwehr Stellung genommen, als er einen spanischen Fall von polizeilichem Racial Profiling zugunsten der Beschwerdeführerin Rosalind Williams Lecraft entschied.21 Er sah in der hautfarbebezogenen Adressatinnenauswahl Frau Lecrafts einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 26 IPbpR und wies damit eine anderslautende Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichtshofs zurück.22 18 Siehe insbesondere die ebenso strengen wie variierenden Sachbereichsdefinitionen der vier europäi-
schen Antidiskriminierungsrichtlinien (Art. 3 RL 2000/43/EG, Art. 3 RL 2000/78/EG, Art. 3 RL 2004/113/ EG sowie Art. 7 RL 2006/54/EG). 19 Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1992 II, S. 1246. 20 Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 30.12.1993, BGBl. 1994 II, S. 311. 21 Die Beschwerdeführerin, eine spanische Staatsbürgerin mit dunkler Hautfarbe, war im Bahnhof von Valladolid einer anlasslosen Personenkontrolle unterzogen worden; außer ihr wurden in der konkreten Situation keine anderen Personen kontrolliert. Die Beamtinnen der spanischen Nationalpolizei begründeten die Kontrolle als eine Maßnahme zur möglichst effizienten Abwehr illegaler Migration. Denn Verstöße gegen das Migrationsrecht seien überdurchschnittlich oft bei Menschen dunkler Hautfarbe zu verzeichnen, vgl. CCPR, Decision v. 27.7.2009, Communication No. 1493/2006, Rosalind Williams Lecraft v. Spain, UN Doc. CCPR/C/96/D/1493/2006, Rn. 2.1. Der Sachverhalt war insofern prototypisch für auch die späteren Streitigkeiten um das Racial Profiling vor deutschen Verwaltungsgerichten, die regelmäßig ebenfalls verdachtsunabhängige Personenkontrollen an Bahnhöfen und in Zügen mit dem Ziel der Verhinderung unerlaubter Einreise betrafen, dazu ausführlich unten Rn. 28 ff. (C. II.). 22 Die Maßstabsbildung des Ausschusses lohnt hier das wörtliche Zitat: „The Committee considers that identity checks carried out for public security or crime prevention purposes in general, or to control illegal immigration, serve a legitimate purpose. However, when the authorities carry out such checks, the physical Alexander Tischbirek
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b) Spezielle UN-Antidiskriminierungsabkommen 9 Ferner binden auch die speziellen völkerrechtlichen Antidiskriminierungsabkommen
die Vertragsstaaten in Fragen der Gefahrenabwehr. Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1966 fordert in Art. 2 Abs. 1 lit. a eine diskriminierungsfreie Verwaltung und schließt damit auch die Polizei- und Ordnungsbehörden mit ein.23 Des Weiteren verpflichtet Art. 2 Abs. 1 lit. c der Konvention zur Änderung, Aufhebung oder Nichtigerklärung aller Verwaltungspraktiken und Rechtsvorschriften, die eine Rassendiskriminierung bewirken; Art. 4 lit. c ICERD verbietet es, dass Behörden oder staatliche Einrichtungen die Rassendiskriminierung fördern oder dazu aufreizen. Nach Art. 2 Abs. 1, 1. Hs. ICERD müssen die Vertragsstaaten allgemein eine Politik zur „Förderung des Verständnisses unter allen Rassen“ verfolgen, wobei Art. 7 ICERD die aktive Überwindung rassistischer Vorurteile einfordert. Neben periodischen Staatenberichten (Art. 9 ICERD) sieht die Konvention wiederum einen fakultativen Individualbeschwerdemechanismus zum UN-Antirassismusausschuss (Art. 14 ICERD) vor, dem sich die Bundesrepublik allerdings erst im August 2001 unterworfen hat.24 In seinen General Recommendations hat der Antirassismusausschuss auch wiederholt sein Verständnis der Konventionsanforderungen an die Arbeit der Sicherheitsbehörden dargelegt.25 So wendet er sich konkret gegen jegliche Berücksichtigung des Phänotyps für die Begründung eines Gefahrenverdachts und gegen hautfarbebasierte Befragungen, Festnahmen und Durchsuchungen.26 Auch fordert er Menschenrechtstrainings in der Polizeiausbildung, die eine intensive Beschäftigung mit Fragen des Diskriminierungsschutzes umfassen.27 Explizit dem Racial Profiling wendet sich zuletzt die General Recommendation No. 36 zu.28 Sie bekräftigt das Verbot rassistischer Diskriminierung bei der Polizeiarbeit und empfiehlt den or ethnic characteristics of the persons subjected thereto should not by themselves be deemed indicative of their possible illegal presence in the country. Nor should they be carried out in such a way as to target only persons with specific physical or ethnic characteristics. To act otherwise would not only negatively affect the dignity of the persons concerned, but would also contribute to the spread of xenophobic attitudes in the public at large and would run counter to an effective policy aimed at combating racial discrimination.“ CCPR, Decision v. 27.7.2009, Communication No. 1493/2006, Rosalind Williams Lecraft v. Spain, UN Doc. CCPR/C/96/D/1493/2006, Rn. 7.2. 23 Vgl. Thornberry, The International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, A Commentary, 2016, S. 180 ff. und S. 197 ff. 24 Dazu Cremer, Die Individualbeschwerde nach Art. 14 des Internationalen Übereinkommens gegen Rassismus (ICERD): ein Handbuch für Nichtregierungsorganisationen und Betroffene, 2005, S. 7. 25 Zum ambivalenten verfassungsrechtlichen Status der Stellungnahmen völkerrechtlicher Ausschüsse zuletzt BVerfGE 151, 1 (29 Rn. 65) – Wahlrechtsausschluss für Menschen mit Behinderung. 26 CERD, General Recommendation XXXI on the Prevention of Racial Discrimination in the Administration and Functioning of the Criminal Justice System v. 19.8.2005, UN Doc. A/60/18, Rn. 20. 27 CERD, General Recommendation No. XIII on the training of law enforcement officials in the protection of human rights v. 15.9.1993, UN Doc. A/48/18. Siehe auch UN High Commissioner for Human Rights/ Centre for Human Rights, Human Rights and Law Enforcement: A Manual on Human Rights Training for the Police, Professional Training Series No. 5, HR/P/PT/5, 1997. 28 CERD, General Recommendation No. 36, Preventing and Combating Racial Profiling by Law Enforcement Officials, Advance unedited version 2020 v. 24.11.2020, UN Doc. CERD/C/GC/36. Alexander Tischbirek
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Mitgliedstaaten eine Vielzahl von Gegenmaßnahmen, die von der Aufnahme konkreter Definitionen des Racial Profiling in die Polizeigesetze über die Erarbeitung eines konkreten Handlungsleitfadens für Polizeibedienstete bei der Durchführung von Personenkontrollen bis hin zur Schaffung unabhängiger Beschwerdestellen reichen und adressiert dabei auch spezifisch die Gefahren des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Gefahrenabwehr.29 Vergleichbare Regelungsregime wie das ICERD enthalten auch das Übereinkommen 10 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) von 197930 und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) von 200631. Auch hier werden die Polizei- und Ordnungsbehörden als Teil der öffentlichen Verwaltung unmittelbar adressiert (vgl. Art. 2 lit. d CEDAW; Art. 4 lit. d UN-BRK) und die Vertragsstaaten umfassend zum Abbau von Diskriminierungen in Gesetzgebung und Verwaltungspraxis verpflichtet (vgl. Art. 2 lit. f CEDAW; Art. 4 lit. b UN-BRK). Art. 5 lit. a CEDAW sowie Art. 8 lit. b UN-BRK verlangen von den Vertragsstaaten ferner ein aktives Tätigwerden, um Stereotype und Vorurteile abzubauen. Nach Art. 14 Abs. 1 lit. a UNBRK muss dabei Menschen mit Behinderungen ein diskriminierungsfreies Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit garantiert sein. Die Konventionsrechte werden auch im CEDAW und in der UN-BRK durch ein Staatenberichts- (Art. 18 CEDAW bzw. Art. 35 ff. BRK) und ein Individualbeschwerdeverfahren (Fakultativprotokolle zur CEDAW32 und zur UN-BRK33) flankiert. Das Deutsche Institut für Menschenrechte fungiert als nationale Monitoringstelle zur UN-BRK in Deutschland.34 c) Genfer Flüchtlingskonvention
Daneben enthalten auch weitere völkerrechtliche Abkommen Diskriminierungsschutz- 11 klauseln, die in der Gefahrenabwehr relevant werden können. Zu nennen ist hier insbesondere Art. 3 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge35, wonach die Bestimmungen des Abkommens auf Flüchtlinge ohne unterschiedliche Behandlung aus Gründen der Rasse, der Religion oder des Herkunftslandes anzuwenden sind.36 Art. 33 29 Zu Letzterem siehe noch unten Rn. 64 ff. (D.). 30 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau v. 18.12.1979, BGBl. 1985
II, S. 647.
31 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen v. 13.12.2006, BGBl. 2008 II,
S. 1419.
32 Fakultativprotokoll zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau
v. 6.10.1999, BGBl. 2001 II, S. 1237.
33 Siehe nochmals BGBl. II 2008, S. 1419. 34 Vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte, Monitoring – unverzichtbarer Beitrag zur staatlichen Um-
setzung der UN-Behindertenrechtskonvention, Positionen 1/2010. Ausführlich zum Ganzen → Degener, § 15. 35 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention, GFK), BGBl. 1953 II, S. 559. 36 Näher zu Art. 3 der Genfer Flüchtlingskonvention Marx/Staff, Article 3 1951 Convention, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, 2011, S. 643 ff.; siehe ferner → Janda, § 24. Alexander Tischbirek
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Abs. 1 GFK enthält zudem ein Ausweisungs- und Zurückweisungsverbot, wenn Leben und Freiheit von Flüchtlingen wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen der politischen Überzeugung bedroht wären; Abs. 2 schränkt dieses Verbot indessen andersherum für Fälle wieder ein, in denen der Flüchtling eine Gefahr für die Sicherheit des Aufnahmestaates darstellt. 2. Regionaler Diskriminierungsschutz in Europa 12 Das mit Abstand wichtigste regionale Menschenrechtsinstrument in Europa ist auch für
den gefahrenabwehrrechtlichen Diskriminierungsschutz die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)37. Der Konventionstext beschränkt sich hier zunächst auf die bloße Garantie freiheitsrechtsakzessorischer spezieller Gleichheitsrechte in Art. 14 EMRK, der allerdings einen vergleichsweise ausführlichen und offenen Katalog von Diskriminierungskategorien vorhält.38 Das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK findet im Konventionstext noch keinerlei verfahrens- oder beweisrechtliche Flankierungen. Die intensive Rechtsprechungstätigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat hier jedoch einen sehr viel robusteren Schutz erwachsen lassen, als dies der spärliche Normtext zunächst vermuten ließe.39 Dies gilt auch für das Gefahrenabwehrrecht und macht die EMRK zur wohl wichtigsten völkerrechtlichen Referenz in der deutschen diskriminierungsschutzrechtlichen Praxis. So wird die Rechtsprechung des EGMR für eine auch konventionsrechtliche Begründung des Verbots polizeilichen Racial Profiling herangezogen.40 Ihr lassen sich ferner wichtige Hinweise zur Dogmatik faktischer Diskriminierungen41, zur Rechtfertigungsfähigkeit von Ungleichbehandlungen
37 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.1950, BGBl. 1952 II, S. 685,
in der Fassung der Bekanntmachung v. 1.10.2010, BGBl. 2010 II, S. 1196; zuletzt geändert durch Protokoll Nr. 15 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 24.6.2013, BGBl. 2014 II, S. 1034. 38 Wo das 12. Zusatzprotokoll zur EMRK die Akzessorietät des Diskriminierungsverbots zu den anderen Konventionsrechten aufzulösen versucht, hat dies bisher zu nur sehr wenigen Ratifikationen geführt; auch Deutschland bleibt dem 12. Zusatzprotokoll bislang fern, Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl. 2021, § 26 Rn. 40. 39 Vgl. die ausführliche Darstellung bei Altwicker, Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, 2011, S. 121 ff. sowie Peters/König, Das Diskriminierungsverbot, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Bd. II, 2. Aufl. 2013, Kap. 21. 40 Siehe EGMR, Urt. v. 13.12.2005, Beschwerde-Nr. 55762/00, 55974/00, Timishev v. Russland. Im zugrunde liegenden Fall war dem Beschwerdeführer wegen seiner tschetschenischen Ethnie unter anderem die Einreise nach Kabardino-Balkarien verweigert worden (ibid., Rn. 3). Der Gerichtshof sah hierin eine Verletzung des Diskriminierungsverbots: „In any event, the Court considers that no difference in treatment which is based exclusively or to a decisive extent on a person’s ethnic origin is capable of being objectively justified in a contemporary democratic society built on the principles of pluralism and respect for different cultures. In conclusion, since the applicant’s right to liberty of movement was restricted solely on the ground of his ethnic origin, that difference in treatment constituted racial discrimination within the meaning of Article 14 of the Convention.“ (Ibid., Rn. 58 f.). 41 Siehe insbesondere EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik, Rn. 184 ff. Alexander Tischbirek
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aufgrund einer inkriminierten Kategorie42 sowie zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast in Diskriminierungsschutzprozessen43 entnehmen.44 Im Gegensatz zu den zuvor genannten überregionalen völkerrechtlichen Instrumenten, die in der gefahrenabwehrrechtlichen Diskriminierungsschutzrechtsprechung bislang kaum zitiert werden, lassen sich die Verwaltungsgerichte durchaus von konventionsrechtlichen Argumenten leiten und geben dies in ihren Entscheidungen auch entsprechend zu erkennen.45 Als weitere Akteurin neben dem EGMR ist hier ferner die ebenfalls auf den Europa- 13 rat zurückgehende Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) zu nennen.46 Ausweislich ihres Statuts soll sie staatenspezifisch Probleme benennen, Politikempfehlungen abgeben und best practices identifizieren, um dem Verbot rassistischer Diskriminierung aus Art. 14 EMRK im Lichte seiner Auslegung durch den Gerichtshof zur Durchsetzung zu verhelfen.47 In ihrer allgemeinen Politikempfehlung Nr. 11 widmet sich die Kommission dann auch spezifisch der Bekämpfung von Rassismus in der Polizeiarbeit, indem sie Begriffe definiert und Untersuchungsaufträge abgibt, aber auch Tendenzen zu einer Vorverlagerung der gefahrenabwehrrechtlichen Eingriffsschwelle kritisiert und die Kontrollfähigkeit polizeilicher Maßnahmen einfordert.48 II. Unionsrecht
Vergleichsweise gering ist der gefahrenabwehrrechtliche Diskriminierungsschutz indes- 14 sen durch das Unionsrecht vorgezeichnet.49 Die Nichtdiskriminierungsgrundsätze der Art. 21 ff. der Grundrechte-Charta (GRCh) sind nach Art. 51 GRCh in ihrem Anwendungsbereich an die primärrechtlich festgelegten Unionszuständigkeiten gekoppelt und erfassen daher im Grundsatz auch Fragen der polizeilichen Zusammenarbeit (Art. 87–89 AEUV ), der Grenzkontrollen (Art. 77 AEUV ), sowie der Kriminalprävention (Art. 84
42 Siehe nochmals EGMR, Urt. v. 13.12.2005, Beschwerde-Nr. 55762/00, 55974/00, Timishev v. Russland,
Rn. 58.
43 Unter anderem EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Repu-
blik, Rn. 186 ff.; EGMR, Urt. v. 24.7.2012, Beschwerde-Nr. 47159/08, B. S. v. Spanien, Rn. 58 ff.
44 Dazu im Einzelnen noch unten Rn. 50 (C. II. 4.). 45 Vgl. etwa die beiden unten noch näher besprochenen oberverwaltungsgerichtlichen Urteile zum Racial
Profiling OVG Koblenz, Urt. v. 21.4.2016, 7 A 11108/14, Rn. 107, und OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 59. 46 Vgl. Ministerkomitee des Europarats, Resolution 2002(8) v. 13.6.2002 über das Statut der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz. 47 Ministerkomitee des Europarats, Resolution 2002(8) (Fn. 46), insbesondere, Art. 1, Art. 10, Art. 12. 48 ECRI, Allgemeine Politikempfehlung Nr. 11: Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung in der Polizeiarbeit v. 29.6.2007, CRI(2007)39. 49 Zwar gilt das zuvor zur EMRK Gesagte infolge des Art. 6 Abs. 3 EUV auch als „Teil des Unionsrechts“, ferner verpflichtet Art. 52 Abs. 3 GRCh auf ein konventionsfreundliches Verständnis auch der EU-Grundrechte. Gleichwohl bleibt der genuin unionsrechtliche Beitrag zum Diskriminierungsschutz im Gefahrenabwehrrecht weit hinter dem mitunter massiven Einfluss des EU-Antidiskriminierungsrechts auf andere Politikbereiche zurück. Alexander Tischbirek
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§ 26 Diskriminierungsschutz in der Gefahrenabwehr
AEUV ). Dies hat bislang jedoch kaum zu relevanter diskriminierungsschutzrechtlicher Rechtsprechung durch den EuGH im Kontext der polizeilichen Gefahrenabwehr geführt.50 15 Hier spiegelt sich die eng umgrenzte, akzessorisch ausgestaltete Zuständigkeit der EU für das Antidiskriminierungsrecht und der entsprechende Zuschnitt der vier europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien wider, deren sachliche Anwendungsbereiche das Gefahrenabwehrrecht kaum berühren. Denn der EuGH hat vor dem Hintergrund des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh seine jüngeren Aussagen zu Art. 21 GRCh meist erst nach einem sekundärrechtlichen „Zugang“ über diese Richtlinien getroffen.51 Die vier Richtlinien regulieren indessen vor allem das Arbeitsrecht52 und den Bereich des Waren- und Dienstleistungsverkehrs.53 Die gefahrenabwehrrechtliche Tätigkeit der Polizei erfolgt jedoch in aller Regel in dem Sinne unentgeltlich, dass sie nicht typischerweise gegen Berechnung eines marktförmigen Gegenwerts erbracht wird; sie ist somit nicht als öffentliche Dienstleistung im Sinne der Richtlinien anzusehen und daher nicht an deren Vorgaben gebunden.54 Dieser strenge Zuschnitt des antidiskriminierungsrechtlichen EU-Sekundärrechts zeitigt Nachwirkungen auch auf der Ebene des nationalen Rechts in Deutschland. III. Bundesrecht 16
Im Gegensatz zum vergleichsweise detaillierten diskriminierungsschutzrechtlichen Völkerrecht beschränkt sich der genuin bundesrechtliche Beitrag zum Diskriminierungsschutz im Gefahrenabwehrrecht im Wesentlichen auf die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG. Damit ist zwar das gesamte Gefahrenabwehrrecht von dem materiellen Verbot einer Benachteiligung wegen des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und Herkunft, des Glaubens, der religiösen oder politischen Anschauung sowie – seit dem Jahre 199455 – der Behinderung durchzogen. Die Formulierung des Art. 3 Abs. 3 GG als materielles Verbot, die sich zu etwaigen präventiven Schutzmechanismen, verfahrensrechtlichen Flankierungen, der Einräumung von Sekundäransprüchen und Einzelheiten der Beweislastverteilung zunächst ausschweigt, sowie seine offene generalklauselartige Struktur ermöglichen zwar ungezwungen das erforderliche völker- und europarechtsfreundliche Verständnis der Vorschrift. Der erhöhte Konkretisierungsbedarf wird sodann jedoch insbesondere der (höchstgerichtlichen) 50 Siehe allerdings den auch sicherheitsrechtlichen Bezug bei der Prüfung des Fluggastdatenabkommens
mit Kanada anhand Art. 21 GRCh in EuGH, Gutachten 1/15 v. 26.7.2017, Passenger Name Records, Rn. 165.
51 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 17.4.2018, Rs. C-414/16, Egenberger, Rn. 70 ff., wo mit dem Verweis auf Art. 21
GRCh letztlich eine Horizontalwirkung der RL 2000/78/EG (in ihrem spezifischen sachlichen Anwendungsbereich) erreicht wird. Vgl. zuletzt auch Lenaerts, Limits on Limitations, German Law Journal 20 (2019), S. 779 (788 ff.). Dazu im Einzelnen → Walter/Tremml, § 8. 52 Siehe Art. 3 Abs. 1 lit. a bis lit. d RL 2000/43/EG; Art. 3 Abs. 1 RL 2000/78/EG sowie Art. 7 und 8 RL 2006/54/EG. 53 Siehe Art. 3 Abs. 1 lit. h RL 2000/43/EG und Art. 3 Abs. 1 RL 2004/113/EG. 54 Zum unionsrechtlichen Dienstleistungsbegriff Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand: Juni 2019, Art. 57 AEUV Rn. 32 ff. und 44 ff. 55 Siehe Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3, 20a, 28, 29, 72, 74, 75, 76, 77, 80, 87, 93, 118a und 125a) v. 27.10.1994, BGBl. 1994 I, S. 3146. Alexander Tischbirek
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Rechtsprechung überantwortet. Allein: solch konkretisierende Rechtsprechung seitens des Bundesverwaltungs- oder des Bundesverfassungsgerichts liegt für das Polizeirecht nicht vor und ist – mit Ausnahme zu Fragen der Geschlechterdiskriminierung56 – auch im Übrigen kaum erkennbar. Dies alles führt zu erheblichen dogmatischen Unsicherheiten bei der Auslegung des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots. Eine einfachgesetzliche Konkretisierungshilfe vermag auch das Allgemeine Gleich- 17 behandlungsgesetz (AGG)57 im Polizeirecht nicht ohne Weiteres zu bieten. Denn der sachliche Anwendungsbereich des AGG orientiert sich zum einen an den europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien und muss zum anderen die grundgesetzliche Kompetenzverteilung zwischen Bund- und Ländern achten.58 In seinen Beschränkungen auf insbesondere das Arbeitsrecht und das Recht des Zugangs zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (vgl. § 2 Abs. 1 AGG) bindet es demnach nicht einmal die Gefahrenabwehrbehörden des Bundes außerhalb des Dienstrechts. Die Polizeitätigkeit der Länder könnte es mit Blick auf Art. 70 GG von vornherein nicht regulieren.59 IV. Landesrecht
Auch das Recht der Bundesländer fügt bislang allerdings nur wenig zu einem detaillierte- 18 ren gefahrenabwehrrechtlichen Diskriminierungsschutzregime hinzu. Wiederum tragen die Landesverfassungen materielle Diskriminierungsverbote, die auch bei der Gefahrenabwehr zu beachten sind.60 Einzig das Land Berlin hat ein umfassendes Landesantidiskriminierungsgesetz erlassen, welches die materiellen Verbotssätze mit Beweiserleichterungen, Verbandsklagebefugnissen, einem verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch und präventiven Schutzmechanismen flankiert und dabei auch die Sicherheits- und Ordnungsbehörden des Landes bindet.61 Die derzeitigen Polizeigesetze der Länder enthalten keine spezifisch antidiskriminierungsrechtlichen Abschnitte. Andersherum zeigen die spe56 Nach einer automatisierten Auswertung des Leibniz Linguistic Research into Constitutional Law
(LLCon)-Korpus aller Senatsentscheidungen bis einschließlich 2017 hat das Bundesverfassungsgericht in insgesamt nur 21 Fällen eine Verletzung des Art. 3 Abs. 2 oder 3 GG angenommen, wovon 20 Fälle die Kategorie Geschlecht betreffen; zum Korpus siehe https://www.lehrstuhl-moellers.de/llcon. 57 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. 58 Vgl. Tischbirek (Fn. 13), S. 167 ff. 59 So ist auch § 2 Abs. 1 Nr. 7 AGG (Bildung) eng zu lesen und kann allein das Privatschulwesen, nicht jedoch die Länderzuständigkeit für die öffentlichen Schulen erreichen. Dies führt – in Ermangelung landesrechtlicher Umsetzungsakte – zur Unionsrechtswidrigkeit des deutschen Rechts mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 lit. g RL 2000/43/EG. Da Richtlinien und AGG das Polizeirecht jedoch ausnehmen (siehe oben Rn. 17 (B. III.)), lässt sich dieser Befund nicht auf das Polizeirecht übertragen. 60 Die Kataloge der inkriminierten Kategorien variieren dabei teilweise zwischen den landesverfassungsrechtlichen Diskriminierungsverboten und Art. 3 Abs. 3 GG, siehe etwa Art. 10 Abs. 2 VvB (sexuelle Identität), Art. 12 Abs. 2 BbgVerf (Nationalität, sexuelle Identität, soziale Herkunft oder Stellung). 61 Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) v. 11.6.2020, GVBl. S. 532. Die Schaffung zusätzlichen Landesantidiskriminierungsrechts ist dabei nicht zuletzt durch das Unionsrecht geboten, das etwa im Bereich der öffentlichen Bildung (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. g RL 2000/43/EG) nicht bereits durch das AGG vollständig umgesetzt wurde, dazu Tischbirek (Fn. 13), S. 169 ff.; das Unionsrecht zeichnet allerdings – wie gesehen – Alexander Tischbirek
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§ 26 Diskriminierungsschutz in der Gefahrenabwehr
ziellen landesrechtlichen Gleichstellungsgesetze zugunsten von Frauen62 und – vermehrt noch – zugunsten von Menschen mit Behinderung63 nur teilweise eine Relevanz für das Gefahrenabwehrrecht.64 Damit speist sich das Diskriminierungsschutzregime auch bei landespolizeilichen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr im Wesentlichen nicht aus dem einfachen Gesetzesrecht, sondern aus dem Verfassungsrecht in seiner möglichst völkerrechtsund vor allem konventionsrechtsfreundlichen Auslegung.
C. Insbesondere: Racial Profiling 19
Das seit einigen Jahren wohl meistdiskutierte Thema des Diskriminierungsschutzes im Recht der staatlichen Gefahrenabwehr betrifft das sogenannte Racial (manchmal auch: Ethnic) Profiling. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz nennt in ihren Allgemeinen Politikempfehlungen zur Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung in der Polizeiarbeit demnach auch Maßnahmen gegen ein Racial Profiling an der Spitze ihres Berichts.65 Ein Racial Profiling kann sich als Fehler des Entschließungsoder Auswahlermessens bei einer Vielzahl gefahrenabwehrrechtlicher Maßnahmen darstellen. Besondere Bedeutung erlangt es im deutschen Recht allerdings bei verdachtsunabhängigen Personenkontrollen66 und der Identifikation sogenannter „Gefährder“.67 Während Rechtsprechung zum gefahrenabwehrrechtlichen Diskriminierungsschutz im Übrigen kaum existent ist, liegt zur Problematik des Racial Profiling nunmehr eine zwar übersichtliche Zahl an verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen vor, die jedoch vergleichsweise stark in der politischen68 und wissenschaftlichen69 Öffentlichkeit rezipiert regelmäßig nicht auch das Gefahrenabwehrrecht vor, so dass hier aus unionsrechtlicher Perspektive eine „überschießende“ Umsetzung erfolgt ist, die als solche dem Landesgesetzgeber freilich offensteht. 62 Das Berliner Landesgleichstellungsgesetz (LGG) v. 6.9.2002, GVBl. S. 280, bindet zwar die gesamte Verwaltung, widmet sich sodann jedoch allein der beruflichen Gleichstellung von Frauen und Männern. 63 Das Berliner Gesetz über die Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderung (LGBG) v. 28.9.2006, GVBl. S. 957, bindet alle Berliner Behörden hingegen ohne sachliche Einschränkung (§ 1) und sieht unter anderem eine Beweislasterleichterung (§ 3 Abs. 2) und ein Verbandsklagerecht (§ 15) vor. 64 Nur vereinzelt wurden bislang unabhängige Beschwerdestellen für die Polizei geschaffen, die als solche auch Diskriminierungssachverhalte untersuchen können, siehe etwa § 98 des Sächsischen Polizeivollzugsdienstgesetzes vom 11.5.2019, SächsGVBl. S. 358. 65 ECRI, Allgemeine Politikempfehlung Nr. 11 (Fn. 48), S. 4. 66 Dazu sogleich Rn. 28 ff. (C. II. 1. b)). 67 Vgl. nur Hanschmann, „Gefährder“ – eine neue alte Figur im Öffentlichen Recht, KJ 2017, S. 434 ff.; Kreuter-Kirchhof, Die polizeiliche Gefährderansprache, AöR 139 (2014), S. 257 ff.; Kießling, Die dogmatische Einordnung der polizeilichen Gefährderansprache in das allgemeine Polizeirecht, DVBl. 2012, S. 1210 ff.; Hebeler, Die Gefährderansprache, NVwZ 2011, S. 1364 ff. 68 Einen guten Überblick über die Rezeption und den politischen Kontext der Entscheidung gibt Weingarten, Racial Profiling – eine Zeitreise, DPolBl 37 (2019), S. 14 f. 69 Siehe unter anderem Waldhoff, Polizei- und Ordnungsrecht, JuS 2019, S. 95 f.; Pettersson, Racial Profiling, ZAR 2019, S. 301 ff.; Leidinger, Drei Perspektiven auf Racial Profiling, KJ 2018, S. 450 ff.; Liebscher, „Racial Profiling“ im Lichte des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots, NJW 2016, S. 2779 ff.; Alter, Grenzziehung und Grenzüberschreitung, NVwZ 2015, S. 1567 ff.; Payandeh (Fn. 14), S. 698; Tischbirek/Wihl (Fn. 14); Cremer, Das Verbot rassistischer Diskriminierung nach Art. 3 III GG, AnwBl 2013, Alexander Tischbirek
C. Insbesondere: Racial Profiling
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wurden. Die Kontroverse um das Racial Profiling wirft dabei spezifisch Fragen rassistischer Diskriminierungen in der Polizeiarbeit auf. Sie beleuchtet aber auch manch allgemeines Problem der Diskriminierungsverbote und mag daher als Anschauungsbeispiel und Prüfstein ihrer dogmatischen Entfaltung dienen. I. Begriffliches
Der Begriff des Racial Profiling stammt aus den USA und bündelt dort Kritik an verschärf- 20 ten Polizeimaßnahmen gegenüber Schwarzen, Hispanics, Native Americans und – nach dem 11. September 2001 – auch vermehrt gegenüber arabischaussehenden Menschen.70 Wenngleich der Begriff immer stärkeren Eingang auch in die wissenschaftliche Diskussion gefunden hat, enthalten sich viele Autorinnen dabei jedoch des Versuchs einer näheren Definition.71 Letztere ergibt sich dabei – zumindest in Deutschland – auch nicht unmittelbar aus dem Recht, denn im deutschen Polizeirecht ist das Racial Profiling kein Rechtsbegriff im engeren Sinne. Er findet sich weder in den Polizeigesetzen des Bundes noch in denen der Länder; auch die Verwaltungsgerichte verwenden ihn nicht in ihren Entscheidungsbegründungen. Im völker- und europarechtlichen Kontext wird indessen in einer Vielzahl von Doku- 21 menten auf den Begriff des Racial Profiling Bezug genommen: Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz definiert Racial Profiling etwa als „die ohne objektive und vernünftige Begründung erfolgende polizeiliche Berücksichtigung von Merkmalen wie Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, Staatsangehörigkeit oder nationale oder ethnische Herkunft im Rahmen von Kontrollen, Überwachungen oder Ermittlungen.“72 Sie unterstreicht mit ihrem Katalog die Vielschichtigkeit des Rassebegriffs,73 dürfte jedoch insbesondere in ihrer Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit – zu denken wäre hier beispielsweise an die polizeilichen Befugnisse im Migrationsrecht und beim Zoll – umstritten sein.74 S. 896 ff.; Wagner, Allegorie des „racial profiling“, DÖV 2013, S. 113 ff.; Drohla, Hautfarbe als Auswahlkriterium für verdachtsunabhängige Polizeikontrollen?, ZAR 2012, S. 411 ff.; zuletzt auch Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 429 ff. 70 Aus der weitläufigen U. S.-amerikanischen Diskussion Weitzer/Tuch, Race and Policing in America, 2006; Risse/Zeckhauser, Racial Profiling, Philosophy & Public Affairs 32 (2004), S. 131 ff.; Harcourt, Rethinking Racial Profiling, University of Chicago Law Review 71 (2004), S. 1275 ff.; Gross/Livingston, Racial Profiling under Attack, Columbia Law Review 102 (2002), S. 1413 ff.; Alschuler, Racial Profiling and the Constitution, The University of Chicago Legal Forum 2002, S. 163 ff.; Harris, Profiles in Injustice, 2002; Skolnick/Caplovitz, Guns, Drugs, and Profiling, Arizona Law Review 43 (2001), S. 413 ff.; Thompson, Stopping the Usual Suspects, New York University Law Review 74 (1999), S. 956 ff.; allgemein zur Problematik eines gruppenbezogenen Profiling: Schauer, Profiles Probabililities and Stereotypes, 2003. 71 Im amerikanischen Kontext beklagt insbesondere Alschuler (Fn. 70), S. 168, ein Defizit an begrifflicher Reflexion. 72 ECRI, Allgemeine Politikempfehlung Nr. 11 (Fn. 48), S. 4. 73 → Barskanmaz, § 7. 74 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa auch den Vorbehalt primärrechtlich vorgesehener Unterscheidungen nach der Staatsangehörigkeit in Art. 21 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta. Dies blendet freilich nicht Alexander Tischbirek
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§ 26 Diskriminierungsschutz in der Gefahrenabwehr
Auch die Europäische Grundrechteagentur (FRA) verortet das Problem eines diskriminierenden Ethnic Profiling schwerpunktmäßig im Polizeirecht. Ein solches Profiling sei zu beklagen, wenn „eine Person weniger wohlwollend behandelt wird als andere Personen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden (…), z. B. bei der Ausübung von Polizeibefugnissen wie Feststellung von Personalien oder Durchsuchungen, [oder wenn] eine Entscheidung über die Ausübung der Polizeibefugnisse ausschließlich oder überwiegend auf der Rasse, ethnischen Herkunft oder Religion der betreffenden Person basiert.“75 23 Von durchaus überzeugender Schlichtheit ist schließlich ein Definitionsansatz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSCE). Sie will Racial Profiling verstehen als „the inclusion of data about race or ethnicity in the profile of persons whom the police consider are more likely to commit a particular crime“.76 Dies umfasst, erstens, einen engen Zusammenhang mit Fragen der Adressatenauswahl bei Maßnahmen der Gefahrenabwehr. Dieser Zusammenhang ist zwar nicht begrifflich zwingend. Der Sache nach wäre ein Racial Profiling etwa auch im privatrechtlichen Kontext denkbar – beispielsweise bei der Berechnung von Versicherungstarifen, bei Kreditvergaben oder der Vermittlung von Arbeits- oder Mietverträgen.77 Es entspricht jedoch dem hergebrachten Begriffsgebrauch, an die Ausübungsmodalitäten polizeilicher Eingriffsbefugnisse anzuknüpfen. Zweitens verweist das Racial Profiling auf eine Ungleichbehandlung aufgrund der Rasse oder ethnischen Herkunft – und somit auch konzeptionell auf alle Schwierigkeiten, die mit dem Rassebegriff verbunden sind.78 Die beim Racial Profiling angesprochene Ungleichbehandlung ist dabei jedoch, drittens, mit einer Gefährlichkeitserwartung verbunden, die nicht ausschließlich auf das individuelle Verhalten einer Person, sondern auf vermeintliche gruppenspezifische Merkmale einer gesellschaftlichen Minderheit verweist.79 So wird der Phänotyp zum Kürzel für eine Gefährlichkeit im polizeirechtlichen Sinne und damit zum Auswahlkriterium in der Polizeiarbeit. 22
II. Problemfelder 24
Während das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zunächst durch seine ebenso knappe wie klare Formulierung besticht, zeigen sich doch erhebliche Unsicherheiten bei seiner Konkretisierung im konkreten Einzelfall. Eine bündige Dogmatik des aus, dass in bestimmten Zusammenhängen die Staatsangehörigkeit tatsächlich als rassistischer Proxy Verwendung findet. 75 FRA, Diskriminierendes „Ethnic Profiling“ erkennen und vermeiden: ein Handbuch, 2010, S. 15. 76 OSCE High Commissioner on National Minorities, Recommendations on Policing in Multi-Ethnic Societies, 2006, S. 32. 77 Ein solches privatrechtliches Racial Profiling wird zuletzt wieder häufiger als Problem des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz auch bei der Verarbeitung von Massenverträgen diskutiert. Instruktiv O’Neil, Weapons of Math Destruction, 2016. 78 Siehe nochmals → Barskanmaz, § 7. 79 Zu unscharf daher die vielzitierte Definition bei Skolnick/Caplovitz (Fn. 70), S. 417 („police targeting people solely or primarily because [of ] their skin color“), da sie auch Maßnahmen aufgrund konkreter Täterinnenbeschreibungen erfassen könnte, dazu noch unten Rn. 63 (C. II. 5. d)). Alexander Tischbirek
C. Insbesondere: Racial Profiling
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Verbots rassistischer Diskriminierung ist erst in der Entwicklung begriffen. Anhand von Fragen des Racial Profiling soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, Elemente einer solchen Dogmatik für das Gefahrenabwehrrecht zu identifizieren, zumal entsprechende Fragen zuletzt immer häufiger an die Verwaltungsgerichte herangetragen werden. Die diskriminierungsschutzrechtliche Beurteilung des Racial Profiling verweist dabei ebenso auf allgemeine Probleme des Antidiskriminierungsrechts, wie es den spezifischen Kontext der staatlichen Gefahrenabwehr aufnehmen muss. Hierbei treten fünf Problemfelder hervor. Zunächst gilt es allgemein, sich des Status der Diskriminierungsverbote im Gefahrenabwehrrecht zu vergewissern (1.). Dies führt zur Frage nach den Anforderungen der Diskriminierungsverbote an die gesetzlichen Eingriffstatbestände des Polizei- und Ordnungsrechts, insbesondere wo diese bereits im Vorfeld einer konkreten Gefahr ansetzen (2.). Von erheblicher praktischer Relevanz ist ferner der Maßstab für die diskriminierungsschutzrechtliche Kausalitätsprüfung – und zwar sowohl in materiell-rechtlicher Hinsicht (3.) als auch mit Blick auf die Darlegungs- und Beweislast (4.). Daran schließt sich die Frage nach der Rechtfertigungsfähigkeit einer Ungleichbehandlung aufgrund der Rasse im Polizei- und Ordnungsrecht an, wobei auch ein besonderes Augenmerk auf die Rolle von (Kriminalitäts-)Statistiken zu werfen sein wird (5.). 1. Diskriminierungsschutz als Paradigma des Gefahrenabwehrrechts a) Die effiziente Gefahrenabwehr als leitendes Paradigma des Polizei- und Ordnungsrechts
Das Polizei- und Ordnungsrecht dient zunächst der möglichst effektiven wie effizienten 25 Gefahrenabwehr.80 Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen stellen sich oftmals erst nachrangig. Sie werden regelmäßig erst aufgeworfen, wenn dem Primärziel des Gefahrenabwehrrechts – der Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung – Genüge getan ist. So kommt es gerade bei der gefahrenabwehrrechtlichen Adressatenauswahl grundsätzlich nicht auf ein Verschulden der Polizeipflichtigen an.81 Die (gutgläubige) Zustandsverantwortliche kann etwa regelmäßig vor dem (bösgläubigen) Verhaltensverantwortlichen polizeirechtlich belangt werden, solange dies eine schnellere und wirksamere Gefahrenabwehr verspricht.82 Zum vermögensrechtlichen Ausgleich zwischen beiden schweigt das Polizeirecht weit überwiegend83 und verweist damit auf das Zivilrecht.84 Selbst dort, wo es etwa 80 Zum Wandel des Polizeibegriffs vgl. etwa Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 2018, S. 12 ff. 81 Vgl. BVerfGE 102, 1 (18) für die Zustandsverantwortlichkeit der Eigentümerin eines kontaminierten
Grundstücks.
82 Lindner, in: Möstl/Schwabenbauer (Hrsg.), BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, Stand: Sep-
tember 2021, Art. 7 PAG Rn. 10 ff. und Art. 8 Rn. 28 ff.; Trurnit, in: Möstl/Trurnit (Hrsg.), BeckOK Polizeirecht Baden-Württemberg, Stand: Januar 2021, § 6 PolG Rn. 36 ff.; Kingreen/Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 2018, S. 164 f.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 2018, Rn. 285 ff.; Schoch (Fn. 80), S. 137 f.; Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 2017, Rn. 369 ff. 83 Siehe jedoch § 15 Abs. 2 Satz 2 ASOG Bln; § 9 Abs. 2 Satz 2 LSASOG; § 9 Abs. 2 Satz 2 ThüPAG. 84 Zu vertrags- und deliktsrechtlichen Schadensersatzansprüchen bei „Störermehrheit“ Trurnit (Fn. 82), § 6 PolG Rn. 42; zur Ablehnung eines quasi-gesamtschuldnerischen Ausgleichs analog § 426 BGB mangels spezialgesetzlicher Anordnung entgegen der wohl herrschenden Lehre, vgl. nur Schoch (Fn. 80), S. 139 f., indessen BGH, Urt. v. 10.7.2014, III ZR 441/13, Rn. 14 ff., jeweils m. w. N. Alexander Tischbirek
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eine Entschädigungspflicht für die rechtmäßige Inanspruchnahme von Notstandspflichtigen statuiert, betrifft dies allein die nachgelagerte Sekundärebene.85 Auf der Primärebene können hingegen auch Personen ohne jede Handlungs- oder Zustandsverantwortung zur Gefahrenabwehr verpflichtet werden. Das Recht erlaubt den Behörden hier also regelmäßig, Probleme der Lastentragung zunächst auszublenden, und verschiebt deren Lösung im Wesentlichen auf nachgelagerte Mechanismen.86 b) Grundrechtsbindung des Polizei- und Ordnungsrechts
Gleichwohl gilt auch im Gefahrenabwehrrecht selbstredend kein schrankenloses Effektivitätsdiktat. Insbesondere zum Schutz individueller Freiheit dient das Gefahrenabwehrrecht nicht nur der polizeilichen Ertüchtigung, sondern zentral auch der Einhegung von Staatsgewalt.87 Indem der gefahrenabwehrrechtliche Eingriff an bestimmte materielle und verfahrensrechtliche Voraussetzungen geknüpft wird und diese gerade bei den Standardmaßnahmen unmittelbar auf die Schrankenbestimmungen der Grundrechte Bezug nehmen, ist Polizeirecht konkretisiertes Verfassungsrecht und deutlich sichtbar den Freiheitsrechten des Grundgesetzes und der Landesverfassungen verpflichtet. Dies geht gar soweit, dass einzelne Mittel der Gefahrenabwehr – wie etwa Folter – als Missachtung der Menschenwürde schon kategorisch ausgeschlossen bleiben und zwar gänzlich unabhängig von ihrer (im Einzelfall vermeintlich alternativlosen und im Übrigen auch bestrittenen88) Effektivität.89 Der im Polizeirecht besonders hervorgehobene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit90 bindet aber auch die prima facie zulässigen Abwehrmittel situationssensibel zurück und schlägt diese – im Falle ihrer Unangemessenheit – den Behörden im Einzelfall gar aus der Hand, so dass einmal mehr das Ziel der Gefahrenabwehr gegenüber individuellen Grundrechtspositionen zurückstehen kann. 27 Nichts anderes kann für die Diskriminierungsverbote des Grundgesetzes und des Völkerrechts gelten. Sie tragen ebenso wie die Freiheitsrechte das Verlangen nach hinreichend bestimmten und vorstrukturierten polizeilichen Eingriffsermächtigungen in sich.91 Auch aus den Diskriminierungsverboten können sich dabei materielle und verfahrensrecht26
85 Vgl. etwa § 59 Abs. 1 Nr. 1 ASOG Bln, § 67 PolG NRW i. V. m. § 39 Abs. 1 lit. a OBG NRW, Art. 87 Abs. 1
BayPAG, § 51 Abs. 1 Nr. 1 BPolG.
86 Trurnit (Fn. 82), § 6 PolG Rn. 41; Schoch (Fn. 80), S. 139 f. 87 Klassisch mit Blick auf die Freiheitsrechte und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit etwa Schoch
(Fn. 80), S. 37 ff.
88 Siehe nur Bell, Behind This Mortal Bone, Indiana Law Journal 38 (2008), S. 339 ff. 89 Der relativierende Ansatz bei Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996),
S. 67 ff., und ders., Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, S. 165 (166 ff.), ist insofern – trotz aller Diskussionen zu Beginn der 2000er Jahre – Dokument der Zeitgeschichte geblieben. Zum Ganzen zuletzt Hong, Todesstrafenverbot und Folterverbot, 2019, S. 214 ff. und passim. 90 Siehe dessen Positivierung in zahlreichen Polizeigesetzen, u. a. § 11 ASOG Bln, § 2 PolG NRW, Art. 4 BayPAG, § 15 BPolG. Zu den polizeirechtlichen Ursprüngen des Verhältnismäßigkeitsdenkens Remmert, Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen des Übermaßverbots, 1994, S. 140 ff.; zu den Rückwirkungen der auch auf dem Privatrecht fußenden Verfassungsdoktrin, Tischbirek, Die Verhältnismäßigkeitsprüfung, 2017, insbesondere S. 38 ff. und S. 209 ff. 91 Dazu sogleich, Rn. 34 ff. (C. II. 2.). Alexander Tischbirek
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liche Hürden des polizeilichen Eingriffs ergeben. Und auch der Nichtdiskriminierungsgrundsatz mag in einem Spannungsverhältnis zum Ziel der möglichst effektiven Gefahrenabwehr stehen, ohne dass ein Vorrang des letzteren dabei immer feststünde. Doch während das grundsätzliche Erfordernis einer rechtlichen Einhegung von Polizeigewalt durch die Freiheitsrechte einen unumstößlichen Kerngehalt jedes rechtsstaatlichen Selbstverständnisses bildet, sind die Wirkungen der Diskriminierungsverbote auf das Gefahrenabwehrrecht nicht gleichermaßen unumstritten oder werden schlicht übersehen.92 Beredtes Beispiel einer allein freiheitsrechtlich fokussierten Betrachtung des Gefahren- 28 abwehrrechts und der daraus resultierenden diskriminierungsschutzrechtlichen Defizite bildet das – soweit ersichtlich – erste Urteil eines deutschen Gerichts zum Racial Profiling aus dem Jahr 2012 durch das Verwaltungsgericht Koblenz. Der Kläger, ein Architekturstudent dunkler Hautfarbe, fuhr mit einer Regionalbahn von Kassel nach Frankfurt.93 Dabei wurde er einer verdachtsunabhängigen Personenkontrolle zur Verhinderung illegaler Einreisen nach § 22 Abs. 1a BPolG unterzogen. Als sich der Kläger weigerte, seinen Ausweis vorzuzeigen, durchsuchten die kontrollierenden Beamten zunächst vergeblich seinen Rucksack und verbrachten ihn daraufhin auf eine Dienststelle der Bundespolizei in Kassel. Dort konnten sie sodann den Führerschein des Klägers finden und seine Personalien aufnehmen. Die kontrollierenden Beamten gaben später vor Gericht an, sie hätten den Kläger wegen seiner Hautfarbe adressiert, woraus man nach polizeilicher Erfahrung auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit migrationsrechtlicher Vergehen schließen könne. Weitere Kontrollen fanden in dem Zug nicht statt. Das Urteil des Verwaltungsgerichts sorgte bundesweit für Aufsehen, da es vor diesem 29 Hintergrund nicht nur zu einer Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Kontrolle kam, sondern dies ohne jegliche Auseinandersetzung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG bewerkstelligte, der in den Entscheidungsgründen des Gerichts ohne jede Erwähnung blieb. Die Personenkontrolle maß das Gericht allein am klägerischen Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, um sodann infolge eines nur geringfügigen Eingriffs in das Recht an den eigenen Daten und eines überwiegenden öffentlichen Gefahrenabwehrinteresses zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu gelangen. Die Entscheidung illustriert deutlich das freiheitszentrierte Grundrechtsdenken im 30 deutschen Recht, welches die eigenständige Bedeutung gerade der besonderen Gleichheitsrechte oftmals überspielt hat.94 Wo die Preisgabe der auf dem Führerschein verzeichneten Daten, die dem Staat ohnehin bereits bekannt sind, freiheitsrechtlich in der Tat kaum ins Gewicht fällt, liegt die Grundrechtsrelevanz der Kontrolle hier gerade in der Stigmatisie92 Vielzitiert etwa die Reaktion des Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt auf
einen ersten obergerichtlichen Hinweis des OVG Koblenz, dass ein Racial Profiling als verfassungswidrig einzustufen sei: es handele sich um „schöngeistige Rechtspflege“, die sich „nicht an der Praxis“ ausrichte (Auswahlkriterium Hautfarbe, Gericht verbietet diskriminierende Polizeikontrollen, SZ.de v. 30.10.2012). 93 Hier und im Folgenden, VG Koblenz, Urt. v. 28.2.2012, 5 K 1026/11.KO. 94 Berühmt bleibt hier das Wort des Verfassungsrichters Simon in seinem Minderheitenvotum in BVerfGE 63, 266 (303) – Anwaltszulassung (1983), vom „merkwürdige[n] Schattendasein“ des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, als seine Kolleginnen des Ersten Senats das Berufsverbot eines kommunistischen Rechtsanwalts allein an Art. 12 Abs. 1 GG messen. Alexander Tischbirek
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rungswirkung, die eine noch so geringe Freiheitsrechtsverkürzung mit sich bringen kann, wenn sie allein durch die Hautfarbe des Menschen motiviert ist. Die Abwehr illegaler Migration bildet zwar zweifelsohne einen rechtlich legitimen Zweck der Personenkontrolle. Während sie im konkreten Fall zwar in der Abwägung mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung noch bestehen kann, vermag sie jedoch nicht auch die allein hautfarbebezogene Adressatenauswahl zu rechtfertigen95 – so dann auch das Oberverwaltungsgericht Koblenz in der mündlichen Berufungsverhandlung, woraufhin der Vertreter der Bundespolizei dem Kläger eine Entschuldigung anbot und die Parteien einvernehmlich die Sache für erledigt erklärten.96 2. Bestimmtheitsanforderungen der Diskriminierungsverbote 31 Während dieser erste rechtliche Hinweis des OVG Koblenz zum Racial Profiling vor Art. 3
Abs. 3 Satz 1 GG allein die Adressatenauswahl auf Rechtsfolgenseite zum Gegenstand hatte, sind bereits die Auswirkungen der Diskriminierungsverbote auf die Eingriffstatbestände des Gefahrenabwehrrechts durchaus umstritten. Die Kritik entzündet sich dabei insbesondere an eben jenem § 22 Abs. 1a BPolG, der auch die Ermächtigungsgrundlage für die Kontrolle im obigen Fall des Kasseler Architekturstudenten bildete. Bei § 22 Abs. 1a BPolG handelt es sich um eine fast voraussetzungslose Norm, deren wenige Tatbestandsmerkmale kaum Trennschärfe aufweisen.97 Sie erlaubt der Bundespolizei die Schleierfahndung in Zügen, Bahnhöfen und Verkehrsflughäfen – wobei bereits unklar ist, ob hier generell nur solche Einrichtungen und Verkehrsmittel den Tatbestand der Norm erfüllen, die selbst für den grenzüberschreitenden Verkehr genutzt werden,98 oder ob dies nur für die letzte Tatbestandsvariante der Verkehrsflughäfen gelten soll.99 Abgesehen von dieser mit der Zuständigkeit der Bundespolizei korrespondierenden örtlichen Begrenzung der Schleierfahndung finden sich in der praktisch wichtigen ersten Tatbestandsvariante lediglich zwei (weitere) Tatbestandsmerkmale mit zweifelhafter Steuerungswirkung: die Schleierfahndung müsse, erstens, die „Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet“ bezwecken. Zweitens dürfe nur in solchen Zügen, Bahnhöfen und Flughäfen kontrolliert werden, bei denen „aufgrund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung anzunehmen ist, dass diese zur unerlaubten Einreise genutzt werden“. 32 Bereits die gesetzliche Charakterisierung der Schleierfahndung nach § 22 Abs. 1a BPolG als präventive Maßnahme der Migrationskontrolle findet sich kaum in ihren praktischen Ergebnissen wieder.100 So zeigen die offiziellen Statistiken der Bundespolizei, dass der weit 95 Dazu noch unten Rn. 56 (C. II. 5. a)). 96 OVG Koblenz, Beschl. v. 29.10.2012, 7 A 10532/12.OVG, Pressemitteilung Nr. 30/2012. 97 Von bloßer „Scheintatbestandlichkeit“ spricht etwa Waechter, Die „Schleierfahndung“ als Instrument
der indirekten Verhaltenssteuerung durch Abschreckung und Verunsicherung, DÖV 1999, S. 138 (142).
98 So noch das VG Koblenz, Urt. v. 23.10.2014, 1 K 294/14.KO, dessen Begründungsansatz das Berufungs-
gericht insoweit jedoch nicht gefolgt ist, siehe OVG Koblenz, Urt. v. 21.4.2016, 7 A 11108/14, Rn. 37 ff.; Wehr, Bundespolizeigesetz, 2. Aufl. 2015, § 22 Rn. 7. 99 Drewes, in: ders./Malmberg/Walter, BPolG, 6. Aufl. 2018, § 22 Rn. 22; Borsdorff, Bundespolizeigesetz, 9. Aufl. 2019, S. 76 f.; Hoppe/Peilert, in: Heesen u. a. (Hrsg.), BPolG, 5. Aufl. 2012, § 22 Rn. 31, 34. 100 Schütte, Befugnis des Bundesgrenzschutzes zu lageabhängigen Personenkontrollen, ZRP 2002, S. 394 Alexander Tischbirek
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überwiegende Teil der aufgrund von § 22 Abs. 1a BPolG getroffenen Feststellungen lediglich als „Beifang“ zu qualifizierende allgemeine Straftaten berührt, während Sachverhalte der unerlaubten Einreise nur einen deutlich geringeren Anteil der „Treffer“ bilden.101 Das Verhältnis erfolgreicher zu ergebnisloser Kontrollen allein mit Blick auf die Bekämpfung unerlaubter Einreise liegt dabei seit Jahren im Promillebereich.102 (Entsprechendes gilt im Übrigen auch für die Parallelnormen der §§ 23 Abs. 1 Nr. 3 und 44 Abs. 2 BPolG.)103 Einer Entgrenzung der Schleierfahndung kann aber auch das Erfordernis von Lageer- 33 kenntnissen oder grenzpolizeilichen Erfahrungssätzen kaum etwas entgegnen. Weder die Kommentarliteratur104 noch die Rechtsprechung105 haben überhaupt nur eine anerkannte Definition der Lageerkenntnisse und Erfahrungssätze hervorgebracht. Insbesondere letztere mögen begriffliche Anleihen bei der „kriminalistischen Erfahrung“ der StPO nehmen, doch fehlt ihnen im BPolG der konkrete Tatverdacht als notwendiges Korrelat.106 Soweit Lageerkenntnisse und grenzpolizeiliche Erfahrungen lediglich auf einen Ausschluss sachfremder Erwägungen hinauslaufen, geht der Wert dieser Tatbestandsmerkmale sowohl für die Steuerungs- als auch für die gerichtliche Kontrollperspektive gen Null. Forderungen in der Literatur, den offenen Normtatbestand über das Erfordernis polizeilicher Konzeptpflichten und einer entsprechend intensivierten gerichtlichen Kontrolle einzufangen,107 wurden nicht umgesetzt. So kann es auch nicht überraschen, dass – soweit ersichtlich – bislang kein Verwaltungsgericht die Rechtswidrigkeit einer Maßnahme nach § 22 Abs. 1a BPolG angenommen hat, weil es an einschlägigen Lageerkenntnissen oder grenzpolizei-
(396 ff.), sieht daher den Schwerpunkt der Maßnahme zumindest ihrer praktischen Handhabung nach schon früh im repressiven Bereich und folgert daraus die formelle Verfassungswidrigkeit der Vorschrift, die nicht auf einer ausschließlichen Zuständigkeit des Bundes nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG (sondern allenfalls auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) fuße. Dem sind die Gerichte freilich bislang nicht gefolgt, vgl. wiederum OVG Koblenz, Urt. v. 21.4.2016, 7 A 11108/14, Rn. 52 ff. 101 Im Jahr 2013 machten Delikte der unerlaubten Einreise lediglich 2.280 von insgesamt 16.969 strafrechtlich relevanten Feststellungen aus (ca. 13 Prozent); im Jahr 2014 waren es 4.794 von 23.931 (ca. 20 Prozent), siehe BT-Drs. 18/4149, S. 5. Für das Jahr 2016 ergibt sich ein Anteil von 16 Prozent, für das Jahr 2017 von 13 Prozent unerlaubter Einreisen im Vergleich zur Gesamtzahl der festgestellten Delikte, vgl. BTDrs. 19/2151, S. 3 und 7 f. 102 Bei insgesamt 486.295 dokumentierten Kontrollen nach § 22 Abs. 1a BPolG im Jahr 2013 ergibt sich eine Erfolgsquote für Feststellungen unerlaubter Einreise von 0,47 Prozent; bei 443.838 dokumentierten Kontrollen im Jahr 2014 liegt die Erfolgsquote bei 1,1 Prozent (vgl. BT-Drs. 18/4149, S. 5); 99 Prozent der Kontrollen verfehlen somit das gesetzlich normierte Kontrollziel, wenngleich mögliche generalpräventive Wirkungen nicht ausgeschlossen werden können und in diesen Zahlen naturgemäß keinen Niederschlag finden. Ähnlich niedrige Erfolgsquoten ergeben sich auch für die Folgejahre: von insgesamt 273.893 Kontrollen im Jahr 2016 führten 2.544 zu Feststellungen unerlaubter Einreise (0,93 Prozent); im Jahr 2017 führten bei 207.175 Kontrollen 1.404 (0,68 Prozent) zu einem entsprechenden Treffer, vgl. BTDrs. 19/2151, S. 3 f. 103 Vgl. BT-Drs. 18/4149, S. 5, und BT-Drs. 19/2151, S. 3 f. 104 Vgl. Wehr (Fn. 98), § 22 Rn. 10; Drewes (Fn. 99), § 22 Rn. 28. 105 Vgl. etwa die offene Formulierung in OVG Koblenz, Urt. v. 21.4.2016, 7 A 11108/14, Rn. 99. 106 Wehr (Fn. 98), § 22 Rn. 10. 107 Zur Vorgängervorschrift des § 22 Abs. 1a BPolG im BGSG siehe Möllers, Polizeikontrollen ohne Gefahrenverdacht, NVwZ 2000, S. 382 (386 f.). Alexander Tischbirek
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lichen Erfahrungssätzen gefehlt hätte, obwohl dies regelmäßig seitens der Klägerinnen angezweifelt wird und der Beklagtenvortrag hierzu oftmals wenig konkret bleibt.108 34 Das Bundesverfassungsgericht hat die mangelnde Bestimmtheit von Eingriffsnormen wiederum insbesondere als Problem der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Freiheitsrechtsverkürzungen thematisiert.109 Die Verwaltungsgerichte sind bislang davor zurückgeschreckt, daraus die Konsequenz einer Vorlage des § 22 Abs. 1a BPolG an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG zu ziehen.110 Allerdings hat die erhebliche Unbestimmtheit des § 22 Abs. 1a BPolG das Verwaltungsgericht Stuttgart dazu bewogen, die Vorschrift aufgrund offensichtlicher Unionsrechtswidrigkeit – ebenso wie die Kontrollermächtigung des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG – für unanwendbar zu erklären.111 Nach einem zwischenzeitlichen Vorabentscheidungsersuchen eines deutschen Strafgerichts112 hat auch der EuGH diese Sichtweise im Grundsatz bestätigt. In einem Urteil vom Juni 2017 bemängelt er, dass der allzu weiche und offene Tatbestand der Vorschrift kaum einen hinreichenden Rechtsrahmen bilde, um (faktische) systematische Grenzkontrollen zu unterbinden, welche der Schengener Grenzkodex an den europäischen Binnengrenzen nur im Ausnahmefall erlaubt.113 Dabei stützt der Gerichtshof seine Argumentation ganz maßgeblich auf die Rechtsschutzperspektive. In Ermangelung eines hinreichend präzisen Eingriffsprogramms könnten nämlich die Kontrollmaßnahmen selbst keiner wirksamen Kontrolle unterzogen werden.114 Hier bedürfe es „Konkretisierungen und Einschränkungen“, welche die „Selektivität der Kontrollen“ bestimmten.115 Das Bundesverfassungsgericht hat sich – obwohl es, wie erwähnt, bislang keine Gele35 genheit hatte, die Verfassungsmäßigkeit des § 22 Abs. 1a BPolG oder des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG direkt zu überprüfen – diese Rechtsprechung in seinem Urteil zur Kennzeichenerfassung nach dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz zu eigen gemacht.116 Dort knüpft 108 Letztlich offen gelassen in OVG Koblenz, Urt. v. 21.4.2016, 7 A 11108/14, Rn. 102. 109 So gilt die Intensität von Freiheitseinschränkungen als wichtigster Topos zur Ermittlung des erfor-
derlichen Maßes an Normklarheit und -bestimmtheit, vgl. nur Grzeszik, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: Juli 2021, Art. 20 VII Rn. 60 unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG und Rn. 66 zum „aus den Grundrechten folgende[n] prinzipielle[n] Freiheitsanspruch der Bürger“ auf gebundene oder zumindest tatbestandlich hinreichend vorstrukturierte Verwaltungsentscheidungen in freiheitsrechtssensiblen Bereichen. 110 Deutlich etwa OVG Koblenz, Urt. v. 21.4.2016, 7 A 11108/14, Rn. 63 ff., nach Maßgabe einer freiheitsrechtlichen Betrachtung vor der allgemeinen Handlungsfreiheit und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung. 111 VG Stuttgart, Urt. v. 22.10.2015, 1 K 5060/13, Rn. 33. Siehe zuvor bereits Groh, Schleierfahndung auf dem Prüfstand, NVwZ 2016, S. 1678 (1681 ff.); Trennt, Die (Un-)Vereinbarkeit der Ermächtigungsgrundlagen zur Schleierfahndung mit dem Schengener Grenzkodex, DÖV 2012, S. 216 (221 ff.). 112 AG Kehl, Vorlagebeschl. v. 21.12.2015, 3 Ds 303 Js 7262/14. 113 EuGH, Urt. v. 21.6.2017, C-9/16, A v. Staatsanwaltschaft Offenburg, Rn. 66 ff. 114 EuGH, Urt. v. 21.6.2017, C-9/16, A v. Staatsanwaltschaft Offenburg, Rn. 73. 115 Diese unionsrechtlichen Defizite hat die Bundesregierung jedenfalls bei § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG nunmehr durch Präzisierungen in einem ministeriellen Erlass behoben, siehe den „Erlass zur Anwendung von § 23 Absatz 1 Nr. 3 Bundespolizeigesetz“ v. 7.3.2016, GMBl. S. 203; dazu BVerwG, Beschl. v. 13.12.2019, 6 B 30/19, Rn. 10 ff.; vgl. ferner EuGH, Beschl. v. 4.6.2020, C-554/19, FU v. Staatsanwaltschaft Offenburg, Rn. 42 ff. 116 Hier und im Folgenden BVerfG, Beschl. v. 18.12.2018, 1 BvR 142/15, Rn. 151 f. – Kfz-Kennzeichenerfassung. Alexander Tischbirek
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der Erste Senat die Verhältnismäßigkeit der landespolizeilichen Schleierfahndung an das Bestehen einer „verbindliche[n] und transparente[n] Regelung zur Lenkung der Intensität, der Häufigkeit und der Selektivität der Kontrollen“ und verweist auf das besagte Urteil des EuGH und den mit Blick auf das Unionsrecht auch fachgerichtlich festgestellten Konkretisierungsbedarf der Ermächtigungsgrundlagen im BPolG.117 Wenngleich der EuGH seine Bestimmtheitsanforderungen also vor dem Hintergrund 36 des Schengener Grenzkodex118 und das Bundesverfassungsgericht die seinen mit Blick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung119 formuliert, stellt sich doch die Frage, ob die Unbestimmtheit einer Norm wie § 22 Abs. 1a BPolG auch noch einmal anders vor dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zum Problem wird. So wird vertreten, dass die Gesamtarchitektur der Vorschrift, welche die Bundespolizei auf die Kontrolle illegaler Migration verpflichtet, sodann jedoch faktisch keinerlei Auswahlkriterien bereithält und insbesondere einen verhaltensunabhängigen Eingriffstatbestand schafft, eine am Phänotyp ausgerichtete Kontrollpraxis zumindest begünstige.120 Diese Sorgen teilt auch der Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung bei den Vereinten Nationen. In seinen Abschließenden Bemerkungen zum 19. bis 22. Staatenbericht Deutschlands zeigt er sich erkennbar irritiert von den Eingriffskriterien des § 22 Abs. 1a BPolG121 und fordert konkret entweder die Ergänzung oder die Abschaffung der Vorschrift.122 In der Tat wird man den menschenrechtlichen Diskriminierungsverboten wie auch 37 Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG eine Dimension entnehmen müssen, die sich direkt der Legislative zuwendet und sich dabei nicht in der Ächtung offener, schon im bloßen Wortlaut der Norm abzulesender Diskriminierungen aufgrund der Rasse erschöpft. Darüber hinaus trifft den Gesetzgeber auch eine Beobachtungspflicht, die in eine Handlungspflicht umschlagen kann, wo dem Anschein nach neutrale Vorschriften in ihrer praktischen Anwendung erhebliche Diskriminierungsrisiken bergen.123 Zwar mögen polizeigesetzliche Ermächtigungen zu verdachtsunabhängigen Eingriffen im Kontext der Migrationskon117 Dabei ähnelt die bayerische Vorschrift, die den Gegenstand der Verfassungsbeschwerde bildete, zu-
nächst eher § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG, führt jedoch das Tatbestandsmerkmal der „Lageerkenntnisse“ wie § 22 Abs. 1a BPolG. 118 Art. 67 Abs. 2 AEUV i. V. m. Art. 20 und 21 VO 562/2002, siehe EuGH, Urt. v. 21.6.2017, C-9/16, A v. Staatsanwaltschaft Offenburg, Rn. 75 und passim. 119 Siehe BVerfG, Beschl. v. 18.12.2018, 1 BvR 142/15, Rn. 34 und passim – Kfz-Kennzeichenerfassung. 120 Cremer, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz, Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013, S. 27; ders. (Fn. 69), S. 897 ff.; zustimmend Leidinger (Fn. 69), S. 461 f. 121 CERD, Concluding Observations on the Combined Nineteenth to Twenty-Second Periodic Reports of Germany v. 30.6.2015, UN Doc. CERD/C/DEU/CO/19–22, Nr. 11 (der Ausschuss zitiert in seinem Bericht zwar § 22 Abs. 1 [sic!] BPolG, zielt jedoch erkennbar auf dessen Abs. 1a: „The Committee is concerned that this general provision leads de facto to racial discrimination, especially taking into account the delegation’s explanation of the criteria used by police to carry out these checks, which involve notions such as a ‚feel for a certain situation‘ or ‚the person’s external appearance‘ (…)“). 122 CERD, Concluding Observations on the Combined Nineteenth to Twenty-Second Periodic Reports of Germany (Fn. 121), Nr. 11 lit. a (S. 6). 123 Für Art. 2 ICERD etwa siehe Thornberry (Fn. 23), S. 169 ff. und S. 186 ff. Alexander Tischbirek
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trolle nicht per se schon unweigerlich gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verstoßen.124 Wo die Vorverlagerung der Eingriffsschwelle in Abkehr vom konkreten Gefahrentatbestand die Konturen empfindlich verschwimmen lässt und damit nicht mehr das Handeln der Normunterworfenen, sondern deren bloßes Sein den Ausschlag zu geben droht, bedarf es jedoch regulatorischer Kompensation. 3. Zur Adressatinnenauswahl „wegen“ der Rasse 38 Nicht unerhebliche Auslegungsschwierigkeiten zeigen sich zudem bei der Frage, welche
konkreten Anforderungen Art. 3 Abs. 3 GG mit seinem Verbot der polizeilichen Adressatenauswahl „wegen“ der Rasse aufstellt. In der Literatur findet sich hier überwiegend eine Beschreibung als „Anknüpfungsverbot“.125 Dem wird zum Teil ein Verständnis als bloßes „Begründungsverbot“ entgegengesetzt.126 Dabei werden beide Ansätze allerdings begrifflich nicht immer streng unterschieden und es kommt mitunter zu Vermengungen in der Sache.127 Das strengere Anknüpfungsverbot sieht in jeder tatbestandlichen Anknüpfung an eine Kategorie des Art. 3 Abs. 3 GG eine (zunächst) verbotene Ungleichbehandlung. Dies gilt nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für die Verwaltung: Knüpft diese bei der Rechtskonkretisierung – entweder auf Tatbestands- oder auf Rechtsfolgenseite – an eine Kategorie des Art. 3 Abs. 3 GG an, bedeutet dies ebenfalls eine verfassungsrechtlich kritische Ungleichbehandlung. Als bloßes Begründungsverbot soll Art. 3 Abs. 3 GG hingegen großzügiger sein. Hiernach sei staatliches Handeln nur als diskriminierend zu werten, wenn seine unterschiedlichen Auswirkungen nur anhand der inkriminierten Kategorien zu begründen sind. Findet sich jedoch (auch) ein von Art. 3 Abs. 3 GG unabhängiger, tragender Grund, soll eine Ungleichbehandlung von Menschen dunkler Hautfarbe, Frauen, Menschen mit Behinderung etc. nicht als Benachteiligung im Sinne der Norm gelten.128 Das Bundesverfassungsgericht changiert in seiner Rechtsprechung zwischen beiden 39 Deutungsansätzen, ohne dies immer transparent zu machen.129 Gerade die frühe Rechtsprechung des Ersten Senats lehnt sich noch stark an ein Verständnis des Art. 3 Abs. 3 GG als Begründungsverbot an, wenn etwa „nur die bezweckte Benachteiligung oder Bevorzugung“ verboten wird, „nicht aber ein[] Nachteil oder ein[] Vorteil, der die Folge einer ganz 124 Mit dieser Konsequenz indessen Cremer, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkon-
trollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz, Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013, S. 33. 125 Siehe etwa Boysen (Fn. 1), Art. 3 Rn. 125 ff.; Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 182 Rn. 73 ff. 126 Etwa Heun (Fn. 1), Art. 3 Rn. 125; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 3 Rn. 379. 127 So auch Boysen (Fn. 1), Art. 3 Rn. 125 ff.; kritisch zur Unterscheidung Baer/Markard (Fn. 1), Art. 3 Rn. 426. 128 Vgl. Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: November 2021, Art. 3 Rn. 212a (obwohl hier vom „Anknüpfen“ die Rede ist); siehe auch Eckertz-Höfer, in: Denninger u. a. (Hrsg.), AK-GG, Bd. I, 3. Aufl. 2001, Art. 3 Abs. 2, 3 Rn. 107 („Begründbarkeitsverbot“). 129 Kingreen (Fn. 1), Art. 3 Rn. 436. Alexander Tischbirek
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anders intendierten Regelung ist“.130 Später sieht sich der Senat indessen zu einer „Klarstellung“131 genötigt und erklärt, dass „das Geschlecht […] grundsätzlich nicht zum Anknüpfungspunkt und zur Rechtfertigung für rechtliche Ungleichbehandlungen […] herangezogen werden“ dürfe.132 Sofern eine Ungleichbehandlung unter Anknüpfung an eine oder mehrere Kategorien 40 des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG jedoch unter Rückgriff auf kollidierendes Verfassungsrecht als rechtfertigungsfähig erachtet wird, nähern sich Anknüpfungs- und Begründungsverbot freilich wieder an.133 Zumindest unvollständig sind beide Ansätze zudem in ihrer Vergessenheit gegenüber mittelbaren Diskriminierungen, welche ja weder eine direkte Anknüpfung an eine verpönte Kategorie noch eine entsprechende Intention verlangen.134 Ein unions- und völkerrechtsfreundliches Verständnis des Grundgesetzes erfordert jedoch eine auch verfassungsrechtliche Berücksichtigung mittelbarer Diskriminierungen.135 Die im Grundsatz vorzugswürdige Deutung des Art. 3 Abs. 3 GG als striktes Anknüpfungsverbot muss sich mithin einer stärker folgenorientierten Betrachtungsweise öffnen, zumal dies in der Freiheitsrechtsdogmatik kaum noch hinterfragt wird,136 was wiederum eine vergleichbare Entfaltung auch der Gleichheitsrechte des Grundgesetzes nahelegt.137 Zu erheblicher praktischer Bedeutung gereicht der Streit um die Deutung der grund- 41 gesetzlichen Diskriminierungsverbote als Anknüpfungs- oder Begründungsverbote mit Blick auf „Motivbündel“ bei der polizeilichen Adressatinnenauswahl, wenn also in einer Kontrollsituation die Hautfarbe der Bürgerin nur ein Kriterium unter mehreren ist. Den beiden bislang einzigen oberverwaltungsgerichtlichen Entscheidungen zu polizeilichem Racial Profiling in Deutschland lagen dann auch nach Überzeugung der jeweiligen Senate Sachverhalte zugrunde, in denen neben der Hautfarbe noch mindestens ein weiteres, für sich genommen diskriminierungsrechtlich unproblematisches Motiv die Auswahl steuerte. Die Kläger in einem zweiten Fall von Racial Profiling, den das Oberverwaltungsgericht 42 Rheinland-Pfalz im Jahr 2016 zu entscheiden hatte, waren als vierköpfige Familie an einem Samstag auf der linken Rheinschiene, einer beliebten Touristikroute, in einer Regionalbahn unterwegs. Sie unterhielten sich in englischer Sprache und führten leichtes Tagesgepäck mit sich. In dem vollbesetzten Wagen wurde wiederum allein die Familie nach § 22 Abs. 1a BPolG kontrolliert. Nachdem sich die Familie mit deutschen Reisepässen auswies, nahmen die Beamten über Funk einen Datenabgleich mit der lokalen BundespolizeidirekBVerfGE 75, 40 (70) – Privatschulfinanzierung (1987). BVerfGE 85, 191 (206) – Nachtarbeitsverbot (1992). Vgl. unter anderem BVerfGE 121, 241 (254) – Teilzeitbeamter, Versorgungsausgleich (2008). Sehr weitgehend Kischel (Fn. 128), Rn. 212a; strenger Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 246; Baer/Markard (Fn. 1), Art. 3 Rn. 432 ff.; näher zur Rechtfertigung unten Rn. 54 ff. (C. II. 5.) und → Reimer, § 17. 134 Langenfeld (Fn. 1), Art. 3 Abs. 3 Rn. 22; Heun (Fn. 1), Art. 3 Rn. 125; Krieger (Fn. 1), Art. 3 Rn. 56 und 58 ff. 135 → Sacksofsky, § 14; Krieger (Fn. 1), Art. 3 Rn. 60; Nußberger (Fn. 133), Rn. 248 f.; Baer/Markard (Fn. 1), Art. 3 Rn. 429 ff. 136 Siehe nur Hillgruber, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 200 Rn. 89 ff. m. w. N. 137 Tischbirek/Wihl (Fn. 14), S. 222 f. 130 131 132 133
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tion vor und verließen daraufhin den Zug. In der mündlichen Verhandlung stritten die Beamten ab, dass die dunkle Hautfarbe der Kläger die Adressatenauswahl gesteuert habe. Als Auswahlmotive gaben sie hingegen die Unterhaltung der Familie auf Englisch, deren gepflegte Kleidung sowie das leichte Gepäck an, wodurch nach polizeilicher Erfahrung der Gesamteindruck einer möglicherweise illegalen Migration der Familie entstanden sei. Unter Rückgriff auf die spätere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach deren Umschwenken auf ein Anknüpfungsverbot erkennt das Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil jedenfalls dann eine verfassungsrechtlich kritische Ungleichbehandlung, wenn die Auswahlentscheidung auf mehrere Gründe gestützt wird, von denen nur einer an eine verbotene Kategorie anknüpft, dieser jedoch mitursächlich für die Auswahl wurde.138 So sah es das Gericht unwiderlegt, dass neben der englischen Unterhaltung der Familie139 zumindest auch ihre dunkle Hautfarbe die Adressatenauswahl geleitet hat und gelangt so zur Verfassungswidrigkeit der Kontrolle insgesamt.140 43 Diesen Maßstäben schloss sich auch das Oberverwaltungsgericht Münster im August 2018 an.141 Das Verwaltungsgericht Köln hatte den dortigen Fall erstinstanzlich noch ganz im Sinne eines Begründungsverbots bewertet.142 Die dunkle Hautfarbe des Klägers sei nur mitursächlich für die Kontrolle seiner Person im Hauptbahnhof Bochum gewesen. Daneben hätten einschlägige Kriminalitätsstatistiken und ein auffälliges Verhalten des Klägers, der sich die Kapuze seines Pullovers tief ins Gesicht gezogen habe und beim Herantreten der Polizisten hinter einen Aufzug ausgewichen sei, die Adressatenauswahl plausibilisiert und führten zu einer rechtmäßigen Ermessensbetätigung. 44 Das Oberverwaltungsgericht sah hingegen – ohne erneute Beweisaufnahme – Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verletzt: Solange nicht festgestellt werden könne, dass das inkriminierte Motiv offensichtlich irrelevant gewesen sei, führe bereits die bloße Mitberücksichtigung der Hautfarbe in einem Motivbündel zu einer im Grundsatz verbotenen Anknüpfung an die Rasse im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.143 Der Wechsel von einer Begründungs- zu einer Anknüpfungsdoktrin führt das Oberverwaltungsgericht damit letztlich zur Rechtswidrigkeit der Maßnahme. Der Motivbündelrechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte ist im Ergebnis zu45 zustimmen. Denn gerade vor dem Hintergrund konturenloser Eingriffstatbestände wie § 22 Abs. 1a oder § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG ist die Menge der möglichen Auswahlmotive nahezu unbegrenzt und im Nachhinein kaum objektiv zu überprüfen. Angesichts kaum justiziab138 OVG Koblenz, Urt. v. 21.4.2016, 7 A 11108/14, Rn. 106 unter Verweis auf BVerfGE 89, 276 (288 f.) –
§ 611a BGB (1993).
139 Das Eingriffsmotiv der englischsprachigen Unterhaltung wertet das Gericht dabei trotz der Kategorie
der „Sprache“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als – für sich genommen – unbedenklich, nachdem es das entsprechende Diskriminierungsverbot im Wege einer subjektiv-teleologischen Auslegung auf den Schutz sprachlicher Minderheiten im Gebrauch der Muttersprache zurückführt, OVG Koblenz, Urt. v. 21.4.2016, 7 A 11108/14, Rn. 119. 140 OVG Koblenz, Urt. v. 21.4.2016, 7 A 11108/14, Rn. 103 ff. 141 OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 50 ff. 142 Hier und im Folgenden VG Köln, Urt. v. 10.12.2015, 20 K 7847/13, Rn. 64 ff. 143 OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 52 ff. Alexander Tischbirek
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ler Tatbestandsmerkmale wie der „grenzpolizeilichen Erfahrung“ bildet die Motivbündelrechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte aus der Rechtsschutzperspektive mithin ein wichtiges Gegengewicht. Aber auch darüber hinaus trägt sie zu einer Vereinheitlichung der antidiskriminierungsrechtlichen Dogmatik bei. Denn auch in der zivil- und insbesondere der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung führt bereits ein diskriminierendes Motiv unter mehreren zur Fehlerhaftigkeit der Handlung.144 Dieses Ergebnis steht ferner im Einklang mit der Auslegung der Diskriminierungsverbote im Unions- und Völkerrecht, wo EuGH145 und EGMR146 hier ebenfalls strenge Anforderungen stellen. Umso mehr muss vor diesem Hintergrund die Rechtsauffassung der Bundesregierung 46 erstaunen, die trotz der genannten Rechtsprechung offiziell daran festhält, dass eine Anknüpfung etwa an die Hautfarbe in einem Motivbündel nicht zwingend zur Verfassungswidrigkeit der Maßnahme vor Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG führen soll.147 Denn zwar wirken die oben genannten oberverwaltungsgerichtlichen Urteile nur inter partes. Doch gilt dies nicht gleichermaßen für die Konventionsauslegung etwa des EGMR, welche auch das Verständnis des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG leiten muss.148 4. Zur Darlegungs- und Beweislast
Von nicht minderer praktischer Bedeutung ist auch im Gefahrenabwehrrecht die Frage der 47 Darlegungs- und Beweislast. Zwar ist der gefahrenabwehrrechtliche Diskriminierungsschutzprozess regelmäßig ein Verwaltungsrechtsstreit, welcher dem Untersuchungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO verpflichtet ist. Gleichwohl stellt sich auch hier das dem Diskriminierungsschutzprozess inhärente Problem empfindlicher Informationsasymmetrien, wenn die diskriminierende Motivation einer Handlung nicht offen zutage tritt. Gerade bei Motivbündeln verwundert es kaum, wenn die fragliche Handlung nach außen allein auf die unverfängliche Teilmotivation gestützt wird, während das inkriminierte Teilmotiv verschwiegen bleibt. Wo – wie bei der polizeirechtlichen Adressatenauswahl – die Motivation der Beamtinnen zwar einerseits zur Rechtsfrage wird, andererseits aber vollständig in der Sphäre der Amtsträgerinnen verbleibt, drohen empfindliche Rechtsschutzdefizite. Die Eingriffsadressatin kann die rechtswidrige Motivation oftmals nur über Hilfstatsachen plausibilisieren. Der Vollbeweis einer Diskriminierung kann hier regelmäßig nur scheitern.
144 Vgl. nur BAG, NZA 2016, S. 681 f.; BAG, NZA 2012, S. 1345 (1347 f.); BGH, DStR 2012, S. 1394
(1397 f.); OLG Karlsruhe, NZA-RR 2011, S. 632 (634).
145 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 5.5.1994, Rs. C-421/92, Habermann-Beltermann, Rn. 14 und EuGH, Urt. v.
8.11.1990, Rs. C-177/88, Dekker, Rn. 10.
146 EGMR, Urt. v. 13.12.2005, Beschwerde-Nr. 55762/00, 55974/00, Timishev v. Russland, Rn. 58. 147 Siehe BT-Drs. 19/10065, S. 5, unter Verweis auf BT-Drs. 18/11302, S. 3 (Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3
Satz 1 GG nur, wenn die Hautfarbe „das alleinige bzw. das ausschlaggebende Kriterium für eine polizeiliche Maßnahme ist“). 148 Siehe BVerfGE 111, 307 (315 ff.) – Görgülü (2004). Näher zum Ganzen Payandeh, Die Präjudizienwirkung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, JöR n. F. 68 (2020), S. 1 ff. Alexander Tischbirek
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Dies hat nicht zuletzt den europäischen Richtliniengeber zu entsprechenden Beweislastregelungen bewogen,149 die ihren Niederschlag in § 22 AGG gefunden haben. Hiernach reicht ein Tatsachenvortrag, der das Vorliegen einer Diskriminierung lediglich indiziert, bereits aus, um eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast auszulösen, so dass die Gegenseite nunmehr ihr diskriminierungsfreies Handeln dartun muss.150 Allerdings finden weder die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien noch das AGG im Polizeirecht direkte Anwendung.151 Trotz einer durchaus vergleichbaren Ausgangssituation ist die Adressatin eines gefahrenabwehrrechtlichen Eingriffs somit zunächst auf das allgemeine Beweisrecht verwiesen, auch wenn konkret der Vorwurf einer Diskriminierung im Raum steht.152 49 Vor diesem Hintergrund erklären sich die Schlussfolgerungen etwa der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarats oder des UN-Ausschusses zur Beseitigung der Rassendiskriminierungen in ihren jeweiligen Empfehlungen zu Deutschland, die eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des AGG bzw. entsprechender Antidiskriminierungsgesetzgebung auf die öffentliche Gefahrenabwehr und insbesondere auf Sachverhalte des Racial Profiling fordern.153 50 Doch bereits nach geltendem Recht sprechen gute Argumente für eine zumindest partielle Erleichterung der Darlegungs- und Beweislast in Racial Profiling-Prozessen.154 Dies ergibt sich zunächst aus dem Recht der EMRK. So enthält die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 13 EMRK deutliche Hinweise an die Konventionsstaaten, dass die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast bereichsspezifisch anzupassen seien und nach den Besonderheiten der jeweiligen Faktenlage, der besonderen Natur des Streitgegenstands und der betroffenen Konventionsrechte variierten.155 In der Rechtssache Salman verdeutlicht dies der EGMR anhand von Wissens- und Einflusssphären:156 Wo die Tatsachengrundlage eines Rechtsstreits allein oder weit überwiegend dem Wissen der staatlichen Behörden vorbehalten bliebe, ginge auch das Risiko unzureichender Begründungen zu deren Lasten. Diese Grundsätze überträgt der EGMR ausdrücklich auf das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK: Wenn die fraglichen Ereignisse in einem Diskriminierungsschutzprozess zu einem wesentlichen Teil ausschließlich den Behörden bekannt seien, läge die Beweis48
Siehe Art. 8 RL 2000/43/EG; Art. 10 RL 2000/78/EG; Art. 9 RL 2004/113 EG; Art. 19 RL 2006/54/EG. → Towfigh, § 18. Siehe oben Rn. 17 (B. III.). Allerdings sei darauf hingewiesen, dass selbst im europäischen Antidiskriminierungsrecht aus den Richtlinien keine unbedingte Pflicht der Mitgliedstaaten zur Schaffung entsprechender Beweiserleichterungen in Verfahren, die dem Amtsermittlungsgrundsatz unterliegen, folgt. Siehe Art. 8 Abs. 5 RL 2000/43/ EG; Art. 10 Abs. 5 RL 2000/78/EG; Art. 9 Abs. 5 RL 2004/113 EG; Art. 19 Abs. 3 RL 2006/54/EG. Im Anwendungsbereich des AGG gilt dessen § 22 indessen auch im Verwaltungsprozess, Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 22 AGG Rn. 5. 153 ECRI, Allgemeine Politikempfehlung Nr. 11 (Fn. 48), S. 13; CERD, Concluding Observations on the Combined Nineteenth to Twenty-second Periodic Reports of Germany (Fn. 121), Nr. 8. 154 Vgl. Nußberger (Fn. 133), Art. 3 Rn. 296; Krieger (Fn. 1), Art. 3 Rn. 62 f.; Tischbirek/Wihl (Fn. 14), S. 223. 155 EGMR, Urt. v. 6.7.2005, Beschwerde-Nr. 43577/98 und 43579/98, Nachova u. a. v. Bulgarien, Rn. 147. 156 Hier und im Folgenden EGMR, Urt. v. 27.6.2000, Beschwerde-Nr. 21986/93, Salman v. Türkei, Rn. 100. 149 150 151 152
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C. Insbesondere: Racial Profiling
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last bei ihnen. Ein wirksamer Schutz der Konventionsrechte verlange hier nach weniger strengen Regeln.157 Entsprechende Aussagen lassen sich auch der nationalen Rechtsprechung entnehmen. 51 Das Bundesverfassungsgericht verlangt regelmäßig nach einer prozessualen Flankierung der materiellen Grundrechtsgarantien zum Zwecke ihrer effektiven gerichtlichen Durchsetzung. In einer seiner Leitentscheidungen zu Art. 3 Abs. 2 GG verleiht das Gericht der Beweiserleichterung des damaligen § 611a Abs. 1 Satz 3 BGB gar quasiverfassungsrechtliche „grundrechtswahrende“ Autorität, deren allzu restriktive Handhabung durch die Fachgerichte der Senat sodann als Verfassungsverstoß geißelt.158 Eine situationssensible Verteilung der Darlegungs- und Beweislast prägt darüber hi- 52 naus auch den Verwaltungsprozess – und zwar bereits unabhängig von Fragen des Antidiskriminierungsrechts. Hier kennt das Verwaltungsrecht Verschiebungen sowohl zulasten des Bürgers als auch zulasten des Staates, wobei sich die Gerichte einmal mehr von dem Gedanken der Wissens- und Einflusssphären leiten lassen: Im Beamtenrecht etwa obliegt es der einzelnen Beamtin die entscheidungserheblichen Vorgänge aus ihrem privaten Lebensbereich darzutun.159 Andersherum muss jedoch die Dienstherrin in ihrem Verantwortungsbereich plausibilisieren, ob sie die gesetzlichen Vorgaben bei der Suche nach einer anderweitigen Verwendung für den dienstunfähigen Beamten beachtet hat.160 Selbst außerhalb der Anwendungsbereiche der Antirassismusrichtlinie und des § 22 53 AGG müssen demnach Beweiserleichterungen auch im gefahrenabwehrrechtlichen Diskriminierungsschutzprozess greifen. Dies haben die Oberverwaltungsgerichte von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen in ihren Grundsatzentscheidungen zum Racial Profiling ausdrücklich bestätigt.161 Die (partielle) Umverteilung der Darlegungs- und Beweislast bei einer diskriminierungsrechtlich kritischen Adressatenauswahl bildet dabei die prozessuale Ergänzung der oben dargestellten Motivbündelrechtsprechung. Denn wo die vorgetragenen Auswahlmotive vage bleiben oder gar widersprüchlich sind, mag dies zumindest eine Mitanknüpfung an das verpönte Merkmal indizieren, was sodann zusätzliche Begründungsanstrengungen der Behörden erforderlich macht. 5. Rechtfertigungsfähigkeit eines Racial Profiling?
Der Widerstreit zwischen den Auslegungen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als Anknüpfungs- 54 bzw. als Begründungsverbot wird letztlich um einen vermittelnden Ansatz ergänzt, wenn die oberverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung im Ansatz zwar von einem verfassungsrechtlichen Anknüpfungsverbot an die Rasse im Polizeirecht ausgeht, im Falle einer solchen Anknüpfung diese jedoch unter bestimmten Voraussetzungen als gerechtfertigt 157 EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik, Rn. 186 ff. Siehe ferner EGMR, Urt. v. 24.7.2012, Beschwerde-Nr. 47159/08, B. S. v. Spanien, Rn. 58 ff. 158 BVerfGE 89, 276 (289) – § 611a BGB (1993). 159 BVerwG, Urt. v. 28.5.2008, 2 C 12/07, Rn. 27. 160 BVerwGE 133, 297 (305 f.). 161 OVG Koblenz, Urt. v. 21.4.2016, 7 A 11108/14, Rn. 111 ff.; OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 66 ff.
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ansieht. Denn vor bestimmten Gründen soll hier die (zunächst offen rassistische) Ungleichbehandlung lediglich als Mittel zum (letztlich rechtfertigenden) Zweck erscheinen. Vor bestimmten Zwecken soll dann also auch ein Racial Profiling rechtlich Bestand haben.162 a) Rechtfertigungsansätze in der Rechtsprechung
Eine derartige Rechtfertigungsdogmatik entwirft insbesondere das Oberverwaltungsgericht Münster in seinem Racial-Profiling-Urteil vom August 2018. Weite Teile seiner Rechtfertigungsmaßstäbe dürften in concreto freilich als bloße obiter dicta zu qualifizieren sein;163 insbesondere ist nicht auszuschließen, dass das Gericht hier nicht allein den streitgegenständlichen Sachverhalt der Personenkontrolle im Hauptbahnhof von Bochum vor Augen hatte, sondern auch das im dortigen Gerichtsbezirk und darüber hinaus kontrovers diskutierte Vorgehen der Polizeibehörden in der Kölner Silvesternacht des Jahres 2016, als nordafrikanisch anmutende164 Männer mittleren Alters von den übrigen Besuchern der Domplatte getrennt wurden, den Hauptbahnhof durch einen gesonderten Ausgang verlassen mussten und dort speziellen Personenkontrollen unterzogen wurden.165 Das Oberverwaltungsgericht Münster weist den Weg zu einem „legalen“ Racial Profi56 ling, knüpft dies jedoch an vergleichsweise strenge Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssten. Eine ausschließliche Anknüpfung an die Hautfarbe hält der Senat grundsätzlich nicht für rechtfertigungsfähig.166 Die Rechtfertigungsprüfung erlange ihre Bedeutung somit allein bei Motivbündeln, in denen die Hautfarbe nur eines unter mehreren Kriterien sei.167 Doch auch hier erfordere die hohe Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ein kollidierendes Gut mit Verfassungsrang, dessen Schutz der polizeiliche Eingriff dienen müsse.168 Als solche Güter mit Verfassungsrang nennt das Gericht beispielhaft „Leib, Leben und Eigentum der Bürger“; die Durchsetzung des einfachen Migrationsrechts dürfte indessen auch nach diesen Maßstäben nicht für ein Racial Profiling genügen.169 Ferner knüpft das Gericht eine „erhöhte Darlegungslast“ an die Erforderlichkeit und Angemessenheit der Anknüpfung an die Hautfarbe zur Herstellung praktischer Konkordanz.170 Diese erhöhte Darlegungslast erfordere insbesondere einen spezifischen Orts- und/oder Situationsbezug, welcher durch „konkret geschilderte Erkenntnisse“ zu unterfüttern sei. 55
162 Allgemein zur Rechtfertigung von Diskriminierungen → Reimer, § 17. 163 Ebenso Leidinger (Fn. 69), S. 451. 164 Kontrovers der Tweet der Polizei Köln an jenem Abend, man habe „mehrere Hundert Nafris“ über-
prüft, siehe https://twitter.com/polizei_nrw_k/status/815318640094572548?s=20.
165 Dazu und zu einer Zusammenschau der beiden Sachverhalte auch Froese, Gefahrenabwehr durch
typisierendes Vorgehen vs. Racial Profiling, DVBl. 2017, S. 293 (295), freilich unter Anschluss an das mittlerweile als verfassungswidrig aufgehobene Urteil des VG Köln in der Vorinstanz. 166 OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 58. 167 OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 60. 168 OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 62. 169 Vgl. Tischbirek/Wihl (Fn. 14), S. 220; anders wohl das OVG Koblenz, Urt. v. 21.4.2016, 7 A 11108/14, Rn. 132; unklar hingegen das OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 75. 170 Hier und im Folgenden, OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 66. Alexander Tischbirek
C. Insbesondere: Racial Profiling
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b) Insbesondere: „statistische“ Rechtfertigung
Das Oberverwaltungsgericht Münster geht hier indessen noch einen Schritt weiter, indem 57 es eine „ergänzende Heranziehung“ statistischer Erhebungen im Rahmen der diskriminierungsschutzrechtlichen Rechtfertigungsprüfung erwägt – freilich ohne sich hierbei abschließend festzulegen.171 Statistiken wurden im Antidiskriminierungsrecht bislang zuvörderst als Instrumente der klägerischen Beweisführung gesehen – etwa bei der Darlegung von Indizien für eine Diskriminierung im Sinne des § 22 AGG172 oder zur Begründung einer mittelbaren Diskriminierung173. Eine ähnliche Funktion kann ihnen auch in Fragen des Racial Profiling zukommen, wenn die Klägerin eine verzerrte Auswahlpraxis mit Blick auf die Hautfarbe darlegen will. Andersherum – so das Ansinnen des Oberverwaltungsgerichts Münster – könnten 58 statistische Erhebungen auch ein Racial Profiling legalisieren, indem sie die in der Rechtfertigungsprüfung geforderten orts- und situationsbezogenen Erkenntnisse unterfütterten. Im konkreten Fall hatte die Beklagte Kriminalitätsstatistiken vorgelegt, welche eine erhöhte Delinquenz „nord- und schwarzafrikanischer Täter“ bei Eigentumsdelikten und Verstößen gegen das Betäubungsmittelrecht belegen sollten.174 Der Senat wies die vorgelegten Statistiken zwar zurück, da er sie in zeitlicher und örtlicher Hinsicht für unergiebig erachtete und zudem die Schlussfolgerungen der Beklagten aus den Zahlen nicht nachzuvollziehen vermochte.175 Gleichwohl wird der statistische Schluss von der Hautfarbe der einzelnen Person auf eine – situativ – erhöhte Kriminalitätsgeneigtheit nicht kategorisch ausgeschlossen.176 c) Kritik
Die aufgezeigte Rechtfertigungsdogmatik des Oberverwaltungsgerichts Münster hat – zu 59 Recht – zum Teil heftige Kritik ausgelöst.177 Problematisch erscheint zunächst, dass die zur Sicherung des grundgesetzlichen Diskriminierungsverbots bemühten Rechtfertigungserfordernisse der Mischkausalität in einem „Motivbündel“ sowie eines kollidierenden Gutes von Verfassungsrang in der Praxis nur geringe verfassungsrechtliche Hürden für eine diskriminierende Kontrollpraxis aufstellen. Weitere Gründe neben dem fragwürdigen Auswahlkriterium der Hautfarbe sind schnell benannt. Eine konsequente (Teil-)Umkehr der Darlegungs- und Beweislast muss hier allzu vordergründige Zusatzmotive hinterfragen und herausfiltern helfen. Und wo bereits jeder einfache Taschendiebstahl ein Gut von Ver171 OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 68; zustimmend zur Berücksichtigungsfähigkeit von Statistiken wohl Kerkemeyer, Anmerkung zum Urteil des OVG Münster, NVwZ 2018, S. 1501 (1502). 172 Siehe Thüsing (Fn. 152), § 22 AGG Rn. 17 m. w. N.; mit Blick auf das Konventionsrecht vgl. ferner EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. u. a. v. Tschechische Republik, Rn. 180; → Towfigh, § 18. 173 → Sacksofsky, § 14. 174 OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 50. 175 OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 71 ff. 176 Vgl. OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 68. 177 Siehe etwa Geyer, Soll die Polizei wahllos Dunkelhäutige kontrollieren dürfen?, FAZ.net v. 9.8.2018, mit erheblichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit.
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§ 26 Diskriminierungsschutz in der Gefahrenabwehr
fassungsrang bedroht, verliert sich auch die Doktrin des kollidierenden Verfassungsrechts schnell in zum Teil ebenso unscharfen wie unvorhersehbaren Abwägungsvorgängen. Hier kommt es mithin entscheidend darauf an, das schon vor der deutschen (Verfassungs-)Geschichte und dem einschlägigen Völkerrecht höchstrangige Verbot rassistischer Diskriminierungen in seiner besonderen Bedeutung zu erkennen und entsprechend bei der Herstellung „praktischer Konkordanz“ zu berücksichtigen. Als verfassungswidrig abzulehnen sind jedenfalls die dargestellten Ansätze zur Recht60 fertigung eines Racial Profiling anhand von Kriminalitätsstatistiken, welche unmittelbar oder nur kaum mittelbar auf die Hautfarbe der Täterinnen abstellen.178 Das Oberverwaltungsgericht Münster hat bereits selbst zu bedenken gegeben, dass solche Statistiken nicht auf „Vorurteile reproduzierende[n] Verzerrungseffekte[n]“ basieren dürften.179 So liegen gerade aus der amerikanischen polizeiwissenschaftlichen Forschung umfangreiche Studien vor, die eindrücklich verzerrende „feedback loops“ in stadtteilbezogenen Kriminalitätsstatistiken nachweisen: Wo die Polizei aufgrund einer womöglich zunächst vorurteilsgeleiteten Ressourcenallokation verstärkt „schwarze“ Viertel bestreift, besteht zugleich eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie in diesen Vierteln sodann auch fündig wird. Finden diese Ergebnisse nun Eingang in eine nach Ortsteilen differenzierende Statistik, droht bei bloßer Betrachtung der absoluten Zahlen eine Interpretation, die den Polizeibehörden eine noch intensivere Bestreifung dieser Viertel nahelegt.180 Aber noch viel grundsätzlicher stellt sich die Frage, wie jedenfalls unmittelbar haut61 farbebezogene Statistiken überhaupt die Reproduktion von Vorurteilen vermeiden lassen und ob die (überaus fraglichen) Effizienzversprechen einer solchen statistischen Betrachtung vor der Wertbindung des Polizeirechts an die Grundrechte und insbesondere Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG Bestand haben können. Denn wo entsprechende Statistiken eine mehr oder weniger starke Korrelation zwischen einer bestimmten Hautfarbe und erhöhter Delinquenz behaupten, steht ja gleichermaßen positiv fest, dass es keinerlei Kausalzusammenhang zwischen beidem geben kann. Die Hautfarbe dient hier also allenfalls als ein Proxy. Der Rückgriff auf einen Proxy bedeutet aber zwingend eine statistische Unschärfe: Werden nachfolgende Prognoseentscheidungen auf einen solchen Proxy gestützt, muss dies zwingend zu falschpositiven Ergebnissen, die für sich genommen bereits verfassungsrechtlich prekär sind, und falschnegativen Ergebnissen, welche einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit gar freien Lauf lassen, führen. 62 Der Rückgriff auf den Proxy speziell der Hautfarbe muss ebenso zwangsläufig eine Reproduktion und auch Verstärkung von Vorurteilen zur Folge haben. Denn beide ver178 Der rechtliche Status gerade rassebezogener Kriminalitätsstatistiken ist überaus unklar. Eine un-
mittelbare Anknüpfung an die Rasse dürfte ihrerseits gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verstoßen und kann somit nichts zur Rechtfertigung einer Diskriminierung beitragen. Auch nach Herkunftsländern auflösende Kriminalitätsstatistiken sind freilich verfassungsrechtlich nicht unzweifelhaft. Dies sieht auch das OVG Münster, folgert daraus jedoch eher überraschend, dass „die Anforderungen [an das Datenmaterial] nicht überspannt werden“ dürften, OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 68. 179 OVG Münster, Urt. v. 7.8.2018, 5 A 294/16, Rn. 68. 180 Vgl. Ferguson, Big data and predictive reasonable suspicion, University of Pennsylvania Law Review 163 (2015), S. 327 (401 ff.). Alexander Tischbirek
C. Insbesondere: Racial Profiling
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schreiben sich derselben Logik: Wo das Vorurteil von der Hautfarbe auf ein bestimmtes Verhalten kurzschließt, verschwimmt auch bei der statistisch motivierten Adressatenauswahl die vor Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG so wichtige Unterscheidung von pauschalisierender, auf bloße Äußerlichkeiten reduzierender Korrelation und Eigenverantwortlichkeit betonender Individualität des Menschen.181 Letztere ist das Leitbild, welches – angeführt vom Menschenwürdesatz – dem Grundgesetz zugrunde liegt. Letztere verlangt auch im Gefahrenabwehrrecht wenn nicht gar ein Minimum an Verhaltensbezug, so doch wenigstens die Abwesenheit von Verallgemeinerung mit den Kriterien des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG bei polizeilichen Eingriffen. d) Abgrenzung zu konkreten Personenfahndungen
Hierin liegt auch der wesentliche Unterschied zwischen einem (mit statistischen Erhe- 63 bungen begründeten) Racial Profiling und Personenfahndungen anhand von (konkreten) Steckbriefen, die (auch) Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG führen. Wird polizeilich nach einer konkreten Person gesucht, diese etwa als Frau dunkler Hautfarbe mittleren Alters beschrieben und bildet diese Beschreibung sodann die Grundlage für die Adressatenauswahl bei Personenkontrollen, liegt bei richtigem Verständnis bereits begrifflich kein Racial Profiling vor. Zwar wird auch hier bei formaler Betrachtung an die Hautfarbe angeknüpft. Diese Anknüpfung steht allerdings in untrennbarem Zusammenhang mit einem konkreten Tun, welches in einer spezifischen Situation einer ganz bestimmten Person zuzurechnen ist. Hier gehört es zum allgemeinen Lebensrisiko, äußerlich einer konkret gesuchten Person zu ähneln, so dass damit verbundene Grundrechtsverkürzungen hinzunehmen sein können.182 Bei entsprechenden Maßnahmen steht deren konkreter Handlungsbezug noch deutlich im Vordergrund; es wird aber nicht generell vom Phänotyp auf eine erhöhte Gefährlichkeit geschlossen, der Rasse oder dem Geschlecht wird also keine überschießende Bedeutung zugemessen, welche die Gruppenzugehörigkeit zulasten des individuellen Tuns überbetont.183
181 So mögen die im Polizeirecht immer wieder erforderlichen Wahrscheinlichkeitsurteile zwar einerseits
nicht ohne einen jeden Rückgriff auf Generalisierungen zu bewerkstelligen sein, vgl. Lippert-Rasmussen, „We are all Different“, Journal of Ethics 15 (2011), S. 47 ff.; entscheidend kommt es jedoch darauf an, anhand welcher Kriterien diese Generalisierungen erfolgen. 182 Dies gilt jedenfalls, wenn die Täterbeschreibungen sachgemäß in Ermittlungsmaßnahmen umgemünzt werden, ohne dass überschießend und missbräuchlich die Hautfarbe stigmatisierend politisiert wird. In diesem Zusammenhang vgl. zuletzt auch BT-Drs. 19/14747, S. 28. 183 Vgl. Leidinger (Fn. 69), S. 455 ff., der unter Kritik der Unzulänglichkeiten eines „konservativen“ Gleichheitsverständnisses richtigerweise erstens immer auch die Kontrollüberlegung einfordert, ob die Täterinnenbeschreibung etwa einer „weißen“ Person ebenfalls zu entsprechenden Maßnahmen geführt hätte, sowie zweitens ein Mindestmaß an Spezifizierungsleistung des verwendeten Merkmals verlangt, um auch hier institutionell diskriminierende Muster ausschließen zu können. Alexander Tischbirek
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§ 26 Diskriminierungsschutz in der Gefahrenabwehr
D. Ausblick: diskriminierungsgeneigtes „Predictive Policing“? Der zunehmende Einsatz Big Data-gestützter Applikationen und Künstlicher Intelligenz (KI) im Gefahrenabwehrrecht lässt die Frage „statistischer“ Diskriminierungen erneut und mit besonderer Schärfe stellen. Unter dem Stichwort des Predictive Policing kommen auch in deutschen Polizeibehörden verstärkt Prognosealgorithmen zum Einsatz, die etwa die Wahrscheinlichkeit von Wohnungs- und Gewerbeeinbrüchen oder Kfz-Diebstählen für bestimmte Zeiten und Orte errechnen.184 Solche Methoden der Predictive Analytics185 finden darüber hinaus – etwa zur Terrorabwehr – auch personenbezogene Verwendung, wo beispielsweise § 4 Abs. 1 des Fluggastdatengesetzes (FlugDaG)186 gezielt einen „Abgleich“ mit „Mustern“ zur Identifizierung potentieller Straftäter autorisiert.187 Auch die Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a BPolG mögen ein geeignetes Einsatzfeld für algorithmische Prognoseverfahren bieten. Denn Techniken des Predictive Policing gelten derzeit insbesondere dort als besonders effektiv, wo sie bereits im Vorfeld eines konkreten Gefahrenverdachts ansetzen und verdächtige Muster in den Daten aufdecken, die dem bloßen Auge zunächst verborgen bleiben.188 Der Einsatz von Predictive Analytics im Polizeirecht verspricht jedoch nicht allein eine 65 effizientere Gefahrenabwehr. Aus der Perspektive des Antidiskriminierungsrechts birgt er zugleich die anfängliche Hoffnung auf ein Mehr an Rationalität und die Überwindung von (zunächst doch so menschlichen) Ressentiments.189 Die Unbestimmtheit auch eines § 22 Abs. 1a BPolG mitsamt seinem zweifelhaften Verweis auf „Lageerkenntnisse“, „grenzpolizeiliche Erfahrung“ und weite Ermessensspielräume190 könnte an rechtsstaatlicher Kontur gewinnen – so die Erwartung – wenn sie sich auf breiter Datengrundlage mittels rein mathematischer Operationen zur konkret bezifferten Probabilität verdichten ließe.191 Dagegen mehren sich die Stimmen, die im Einsatz Künstlicher Intelligenz im Gegen66 teil gerade eine Herausforderung für das Antidiskriminierungsrecht erblicken.192 Dies gilt auch für das Gefahrenabwehrrecht. Denn die Algorithmen des Predictive Policing erweisen sich im Einzelfall alles andere als vorurteilsfrei.193 Wo etwa bereits die Trainingsdaten strukturellen Rassismus widerspiegeln, wird sich dieser auch in den prognostizierten Er64
184 Vgl. Härtel, Digitalisierung im Lichte des Verfassungsrechts, LKV 2019, S. 49 (54 ff.). 185 Näher → v. Ungern-Sternberg, § 28. 186 Gesetz über die Verarbeitung von Fluggastdaten zur Umsetzung der RL 2016/681/EU v. 6.6.2017,
BGBl. 2017 I, S. 1484.
187 Hierzu und zum Ganzen siehe Rademacher, Predictive Policing im deutschen Polizeirecht, AöR 142
(2017), S. 367 (370 f. und passim).
188 Vgl. Rademacher (Fn. 187), S. 401 ff. 189 Siehe hierzu auch nochmals CERD, General Recommendation No. 36, Preventing and Combating
Racial Profiling by Law Enforcement Officials (Fn. 28).
190 Siehe oben Rn. 33 (C. II. 2.). 191 Vgl. für den amerikanischen Diskurs nur Capers, Race, Policing, and Technology, North Carolina Law
Review 95 (2017), S. 1241 (1268 ff.), mit einem Plädoyer für eine stärkere Technologisierung und Automatisierung der Polizeiarbeit als Mittel gegen strukturellen Rassismus. 192 Für eine plastische Einführung siehe einmal mehr O’Neil (Fn. 77), passim. 193 Zu den verschiedenen Fehlerquellen diskriminierender Künstlicher Intelligenz hier und im FolgenAlexander Tischbirek
D. Ausblick: diskriminierungsgeneigtes „Predictive Policing“?
1093
gebnissen verfestigen. Insofern ist auch Künstliche Intelligenz nicht vor den oben beschriebenen „feedback loops“ gefeit, wenn sie mit verzerrten Kriminalitätsstatistiken angelernt wird.194 Zwar mag dem Algorithmus eine Negativliste beiseite gestellt werden, die eine unmittelbare Berücksichtigung von Daten zu den verpönten Kategorien der besonderen Diskriminierungsverbote verbietet.195 Auch mag dieses Berücksichtigungsverbot technisch durch einen Verzicht auf ein unsupervised machine learning gestützt werden, so dass die KI auch im weiteren Verlauf ihres Einsatzes keine Muster unmittelbar anhand dieser Kategorien abbildet.196 Doch obwohl Künstliche Intelligenz keinerlei Begriff von Rasse, Geschlecht, Behinderung, Religion oder Weltanschauung haben mag, drohen mittelbare Diskriminierungen, wenn bestimmte scheinbar neutrale Proxys (wie beispielsweise der Wohnort) isoliert oder kombiniert deutlich mit den verpönten Kategorien (etwa der Rasse oder ethnischen Herkunft) korrelieren und sodann die Polizeiarbeit anleiten.197 Daher muss – auch beim Predictive Policing – die Masse des algorithmisch aggregier- 67 ten statistischen Korrelationswissens einem idealerweise ebenso breiten und tiefen Wissen über die algorithmische Entscheidungsfindung und ihre konkreten Auswirkungen auf die antidiskriminierungsrechtlich geschützten Gruppen begegnen, um einer Reproduktion und Verfestigung diskriminierender Strukturen durch polizeiliche Künstliche Intelligenz entgegentreten zu können.198
den Tischbirek, AI and Discrimination, in: Wischmeyer/Rademacher (Hrsg.), Regulating Artificial Intelligence, 2020, S. 103 (105 ff.). 194 Siehe Calders/Žliobaitė, Why Unbiased Computational Processes Can Lead to Discriminative Decision Procedures, in: Custers u. a. (Hrsg.), Discrimination and Privacy in the Information Society, 2013, S. 43 (49 ff.), und nochmals Ferguson (Fn. 180), S. 401 ff., sowie oben Rn. 60 (C. II. 5. c)). 195 Siehe insoweit etwa § 4 Abs. 3 Satz 7 FlugDaG. 196 So etwa die Empfehlung bei Rademacher (Fn. 187), S. 392. 197 Vgl. unter anderem Barocas/Selbst, Big Data’s Disparate Impact, California Law Review 104 (2016), S. 673 (677 ff.); Hacker, Teaching Fairness to Artificial Intelligence, Common Market Law Review 55 (2018), S. 1143 (1152 ff.). 198 Zu den Implikationen eines solchen diskriminierungsschutzrechtlichen Wissensparadigmas für das Prozessrecht, das Datenschutzrecht aber auch das Antidiskriminierungsrecht selbst siehe Tischbirek (Fn. 193), S. 115 ff. Alexander Tischbirek
§ 27 Diskriminierungsschutz in der Strafrechtspflege Julia Geneuss Inhaltsübersicht Rn. A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Diskriminierung in der (Straf-)Rechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
C. Die Ermittlungen zur Česká-Mordserie des NSU – eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
D. Diskriminierung durch Nichtberücksichtigung von Vorurteilsmotiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorurteilskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Pflicht zur Ermittlung und statistischen Erfassung von Vorurteilskriminalität . . . . . . . . . . . . III. Verletzung des Diskriminierungsverbots aus Art. 14 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39 40 42 45
E. Verkennen von Vorurteilsmotiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. PMK-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das verengte Verständnis von „Hasskriminalität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Individuelle und institutionelle Einflüsse bei der Feststellung von Vorurteilsmotiven . . . . .
49 51 52 56 58
F. Spezifisches Risiko sekundärer Viktimisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
G. Reformvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Individuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Institutionell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65 66 69 75 77
A. Einleitung „Bis zum Aufdecken des NSU haben ich niemandem erzählt, dass mein Vater umgebracht 1 wurde. Obwohl ich sicher war, dass mein Vater kein Krimineller war, habe ich versucht, die Ermordung meines Vaters geheim zu halten. Es klingt absurd, aber ich war erleichtert, als ich hörte, dass mein Vater von Nazis umgebracht wurde. Die Heimlichtuerei konnte endlich aufhören.“1 In seiner Aussage vor dem OLG München beschreibt Abdulkerim Şimşek, der Sohn des ersten Mordopfers des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), des Blumenhändlers Enver Şimşek, seine Erleichterung, als mit der Selbst1 Aus der Aussage von Abdul Kerim Şimşek in dem Verfahren gegen Beate Zschäpe u. a. vor dem OLG
München; Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler, Der NSU-Prozess, 2018, Tag 403. Julia Geneuss
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enttarnung des NSU nach 11 Jahren und zwei Monaten endlich klar war, dass sein Vater, wie später acht weitere Opfer mit Migrationsbiographie und eine Polizistin, von deutschen Rechtsterroristen ermordet wurde und nicht, wie jahrelang von den Strafverfolgungsbehörden, den Medien und der Gesellschaft angenommen, von Tätern aus dem Umfeld migrantischer Organisierter Kriminalität. Dieser Beitrag will anhand der Ermittlungen jener Tötungsdelikte, die nach seiner 2 Selbstenttarnung dem NSU zugerechnet werden konnten, die spezifischen Probleme bei der Ermittlung von Hass- bzw. Vorurteilskriminalität aufzeigen. Die NSU-Ermittlungen werden dabei als exemplarische Fallstudie gewählt, weil es sich zum einen um ein besonders ausgeprägtes Beispiel des Verkennens einer rassistischen Tatmotivation handelt, zum anderen aufgrund der einschneidenden politischen und gesellschaftlichen Bedeutung des „NSU-Komplexes“.2 Durch die Aufarbeitungen des staatlichen Versagens sind die Ermittlungen mit den veröffentlichten Abschlussberichten der verschiedenen Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Länderebene,3 der journalistischen Dokumentation des Strafverfahrens gegen Beate Zschäpe und andere vor dem OLG München,4 aber auch weiterer Publikationen von Angehörigen der Ermordeten und sonstigen Prozessbeteiligten, Journalist/innen und Prozessbeobachter/innen aus der Zivilgesellschaft5 gut dokumentiert.6 Trotz dieses Fokus auf den NSU-Ermittlungen geht es in diesem Beitrag gleichwohl weder nur um rechtextreme Taten noch nur um schwere Gewalt- oder Tötungsdelikte. Vielmehr soll der Blick gerade auch auf das Verkennen bzw. Vernachlässigen von alltags- und individuell rassistisch motivierten Straftaten gelenkt werden.7 3 Mit dem so skizzierten Gegenstand fügt sich der Beitrag in einen Band zum Antidiskriminierungsrecht, weil vorurteilsmotivierte Kriminalität, das heißt Straftaten, bei denen die Opfer aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer kategorial bestimmten Gruppe angegriffen werden, im Grunde eine dreifache Diskriminierungs2 Im Zuge der Aufarbeitungen der Verbrechen des NSU und ihrer Ermittlungen ist in Gesellschaft, Poli-
tik und Wissenschaft eine Diskussion um rassistische und rechtsterroristische Gewalt und ihre Vernachlässigung in Gang gekommen. Verglichen wird dies mitunter mit der Aufarbeitung der fehlerhaften Ermittlungen der rassistisch motivierten Tötung von Stephen Lawrence im Jahr 1993 in London und dem problematischen Umgang mit den Angehörigen des Opfers, die als „watershed in British race relations“ begriffen werden; vgl. den sogenannten „Macpherson Report“ v. 24.2.1999 sowie unten Rn. 75 (G. III.) und in Fn. 203. 3 Vom Bundestag wurden zwei Untersuchungsausschüsse eingesetzt, der erste 2012, der zweite 2015. Von Landesparlamenten wurden Untersuchungsausschüsse eingesetzt in Thüringen (2), Sachsen (2), Bayern, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg (2), Hessen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Zu den NSU-Untersuchungsausschüssen ausführlich Pichl, Untersuchung im Rechtsstaat, 2022. 4 Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1). 5 Vgl. nur Şimşek/Schwarz, Schmerzliche Heimat, 2013; John (Hrsg.), Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen, 2014; von der Behrens (Hrsg.), Kein Schlusswort, 2018; Daimagüler, Empörung reicht nicht!, 2017; Aust/Laabs, Heimatschutz, 2014; Schulz, NSU, 2018. Hervorzuheben ist zudem das Blog NSU-Watch (www.nsu-watch.info), das sowohl die gerichtlichen Verfahren als auch die der Untersuchungsausschüsse kritisch begleitet. 6 Beiträge aus der Wissenschaft finden sich z. B. in Bozay u. a. (Hrsg.), Die haben gedacht, wir waren das, 2016; Karakayalı u. a. (Hrsg.), Den NSU-Komplex analysieren, 2017. 7 Vgl. auch Payandeh, Die Sensibilität der Justiz für Rassismus und Diskriminierung, DRiZ 2017, S. 322 ff. Julia Geneuss
A. Einleitung
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dimension aufweist. Zunächst beinhaltet die Straftat durch das Vorurteilsmotiv selbst ein diskriminierendes Element. Der Täter sieht das Opfer und die Gruppe, zu der es aufgrund bestimmter (identitätsstiftender) Merkmale gehört, als ungleichwertig und ausgrenzungswürdig an. Damit greifen die Taten zugleich das Gleichheitsversprechen in einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft an. Vorurteilskriminalität selbst kann als Akt der Diskriminierung zwischen Privaten angesehen werden. Im Anschluss an eine vorurteilsmotivierte Straftat kommt der Ermittlung, Benennung 4 und Zurückweisung des Vorurteilsmotivs durch die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte eine zentrale Bedeutung zu. Dies kann, insofern zweitens, als (staatliche) Maßnahme gegen die (private) Diskriminierung – und damit im weiteren Sinn als Teil eines Antidiskriminierungsrechts – begriffen werden. Rückgebunden an die Thematik der Rassismusbekämpfung findet sich daher im Völker-, Europa- und Unionsrecht die Verpflichtung zur effektiven Ermittlung eines Vorurteilsmotivs. Wird gegen diese Pflicht verstoßen, handelt es sich um einen eigenständigen Diskriminierungsakt durch die staatlichen Behörden. Bei der Ermittlung von vorurteilsmotivierten Straftaten wird das Vorurteilsmotiv von den Strafverfolgungsbehörden allerdings mitunter verkannt, vernachlässigt oder ignoriert. Trotz der spezifischen Charakteristika von Vorurteilskriminalität, wird diese dann nur als allgemeine Kriminalität verarbeitet. Folge ist stets auch eine Geringdokumentation und damit Marginalisierung des Phänomens. Die Gründe hierfür sind divers. Sie hängen zum einen mit dem aufgrund der Praxis seiner statistischen Erfassung verengten Konzept von „politisch motivierter (Hass-)Kriminalität“ zusammen. Zum anderen spielen bei der Motiverkennung sowohl individuelle Einstellungen und bewusste oder unbewusste Vorurteile, zum Teil in Kombination mit weiteren kognitiven Verzerrungen, als auch institutionelle Praktiken und Rahmenbedingungen eine Rolle. Damit verbunden, aber doch als eigenständige und damit dritte Diskriminierungs- 5 dimension zu begreifen, besteht bei Opfern vorurteilsmotivierter Straftaten, bei denen es sich um Angehörige von Gruppen handelt, die sich gesellschaftlich weit verbreiteten Stereotypen, Vorurteilen und Diskriminierungen ausgesetzt sehen, auch ein spezifisches Risiko sogenannter sekundärer Viktimisierung durch die staatlichen Strafverfolgungsbehörden. Derartige sekundäre Viktimisierungseffekte, wie generell vorurteilsbelastetes Fehlverhalten in und Diskriminierungserfahrungen durch Polizei und Justiz können einen erheblichen Vertrauensverlust in die Strafverfolgungsbehörden nach sich ziehen, was sich wiederum unter anderem auch in einer geringeren Anzeigebereitschaft von Mitgliedern vulnerabler Gruppen niederschlägt.8 Mit Blick auf die Česká-Mordserie des NSU und im Anschluss an den Beitrag von Anja 6 Schmidt in diesem Band9, fokussiert sich der vorliegende Beitrag auf die strafrechtlichen Ermittlungen von vorurteilsmotivierten Straftaten. Er setzt mithin nach Begehung einer vorurteilsmotivierten Straftat an und nimmt konkret die Arbeit der Ermittlungs- und 8 Eine solche inhärente Diskriminierungsrelevanz liegt auch in Verfahren nach dem AGG vor, vgl. hierzu
Bartel/Liebscher/Remus, Rassismus vor Gericht, in: Fereidooni/El (Hrsg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen, 2017, S. 361 ff. 9 → Schmidt, § 21. Julia Geneuss
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Strafverfolgungsbehörden in den Blick, befasst sich also mit der zweiten und dritten Diskriminierungsdimension. Auch konzentriert sich der Beitrag primär auf die Ermittlung und Erfassung rassistisch motivierter (Gewalt-)Delikte; erfasst wird damit nur ein bestimmter Ausschnitt von Vorurteilskriminalität. Die dabei auftretenden Probleme mögen in ihrem Kern auf andere Formen der Vorurteilskriminalität – z. B. Straftaten aus antisemitischer, homo- bzw. transphober oder sozialdarwinistischer Motivation – übertragbar sein, allerdings weisen die verschiedenen Dimensionen von Vorurteilskriminalität jeweils eigene Spezifika auf. Dass sich der Beitrag zudem auf die Arbeit der polizeilichen Ermittlungsbehörden, und nicht auf Staatsanwaltschaften und Strafgerichte, konzentriert, hängt zum einen ebenfalls mit dem Einstieg über das Fallbeispiel NSU zusammen, bei dem gerade der Polizei eine vorurteilsbehaftete Ermittlungsstrategie vorgeworfen wurde. Zum anderen spielt die Polizei im deutschen Strafrecht eine zentrale Rolle, da sie das Ermittlungsgeschehen prägt und sich der polizeiliche Erstzugriff auf ein strafrechtsrelevantes Geschehen (vgl. § 163 Abs. 1 StPO) als neuralgischer Punkt (nicht nur) bei der Ermittlung vorurteilsmotivierter Straftaten darstellt.10 7 Im folgenden Abschnitt (B.) finden sich zunächst einige generelle Ausführungen zu Stereotypen, Vorurteilen und Diskriminierung in Justiz und Polizei. Sodann (C.) werden schlaglichtartig die Ermittlungen zur Česká-Mordserie des NSU skizziert. Nach einer kurzen begrifflichen und konzeptionellen Einführung zu Vorurteilskriminalität werden als nächstes die völker-, europa- und unionsrechtlichen Verpflichtungen zur effektiven Ermittlung und sorgfältigen Dokumentation vorurteilsmotivierter Kriminalität erläutert (D.). Ausgehend von der statistischen Erfassung von rassistischer und sonst vorurteilsmotivierter Kriminalität werden schließlich verschiedene Hintergründe beleuchtet, die, so wie es auch in den NSU-Ermittlungen der Fall war, zum Verkennen der Vorurteilsmotive und damit zur Marginalisierung des Phänomens führen (E.). In diesem Zusammenhang wird auf die sekundäre Viktimisierung der Opfer und ihrer Angehörigen eingegangen (F.). Abschließend werden verschiedene Reformvorschläge diskutiert (G.).
B. Diskriminierung in der (Straf-)Rechtspflege 8 Eingebettet ist die Diskussion um die Reaktion auf Vorurteilskriminalität durch staatliche
Strafverfolgungsbehörden in den sehr viel breiteren Kontext von Fragen rund um – rassistisch oder sonst vorurteilsbasierte – Diskriminierung in und durch Justiz und Polizei. Das Thema wird in Deutschland bisher eher zurückhaltend thematisiert, die Forschungslage ist dünn, Untersuchungen aus anderen Staaten, insbesondere aus den USA, wo das Thema wissenschaftlich deutlich umfangreicher erforscht ist, lassen sich aufgrund der Unterschiede im Rechtssystem und der unterschiedlichen Rechtskultur nur bedingt auf die hiesige Situation übertragen.
10 Vgl. Singelnstein, Confirmation Bias, StV 2016, S. 830 m. w. N. zu kriminologischen Untersuchungen.
Von Gesetzes wegen leitet die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren, § 160 Abs. 1 StPO, in der Praxis führt die Polizei die Ermittlungen jedoch weitgehend eigenständig. Julia Geneuss
B. Diskriminierung in der (Straf-)Rechtspflege
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Bei Betrachtung der möglichen Diskriminierungseffekte in Justiz und Polizei sind die 9 individuelle Ebene einerseits und die institutionelle Ebene andererseits zu unterscheiden. Dabei ist auf individueller Ebene zunächst nicht – jedenfalls nicht ohne belastbare Untersuchungen – davon auszugehen, dass sich in Justiz und Polizei besonders rassistische und sonst vorurteilsbelastete Vorstellungen finden lassen.11 Stattdessen ist anzunehmen, dass auch hier jene Einstellungen vorzufinden sind, die auch sonst in der Gesellschaft vorherrschen – denen jedoch bei in Justiz und Polizei tätigen Personen eine unmittelbare gesellschaftliche Relevanz zukommt. Damit sind auch in Polizei, Staatsanwaltschaften und bei Gericht Personen mit offen rassistischen oder sonst explizit vorurteilsbelasteten, demokratiefeindlichen bis hin zu extremistischen Einstellungen tätig. Gerade in letzter Zeit sind allerdings vermehrt Polizist/innen, aber auch Staatsanwält/innen und Richter/innen mit explizit politisch rechter Einstellung und Kontakten in die rechtsextreme Szene aufgefallen.12 Vor allem aber werden auch bei in Justiz und Polizei tätigen Personen implizite, das heißt unbewusste, Vorurteile und andere kognitive Verzerrungen, die sich zu Lasten bestimmter Bevölkerungsgruppen auswirken, auftreten.13 Derartige kognitive Verzerrungen treten bei komplexen Prozessen der Informationsaufnahme und -verarbeitung auf und stellen eine Strategie zur Komplexitätsvermeidung dar.14 Bei impliziten Vorurteilen (implicit biases) handelt es sich um einen unbewussten Rückgriff auf z. B. rassistisch geprägte Vorurteile. Sie wirken sich entscheidungs- und handlungsleitend aus und münden im Ergebnis in objektiven Diskriminierungseffekten. Vermutet wird, dass gerade aufgrund des institutionellen Objektivitätsdogmas in Polizei und Justiz der „bias blindspot“, das heißt die Überzeugung der eigenen Objektivität und das Nicht-Bemerken der eigenen Denkverzerrungen, besonders ausgeprägt ist.15 Es ist anzunehmen, dass sich implizite Vorurteile im Zusammenhang mit anderen kognitiven Verzerrungen, insbesondere zur Dissonanzreduktion, das heißt zur Angleichung von nicht zueinander passenden Wissens- und Informationsbeständen, verstärken und verfestigen. 11 Vgl. auch die Einschätzung von Christoph Kopke und Tobias Singelnstein in dem Interview Kleffner/
Meisner, „Wie unter einem Brennglas“, in: dies. (Hrsg.), Extreme Sicherheit, 2019, S. 120 f., die auch auf fehlende Studien mit validen Aussagen über politische Einstellungen innerhalb der Polizei hinweisen. 12 In den letzten Jahren wird vermehrt über eine ganze Reihe von Fällen von Personen mit politisch rechter bis hin zu demokratiefeindlicher Einstellung und verschwörungstheoretischen Weltbildern, Verbindungen zur rechtsextremen Szene und rechte Strukturen und Netzwerke in staatlichen Institutionen, insbesondere der Polizei, der Bundeswehr und dem Verfassungsschutz, aber auch bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten berichtet. Vgl. hierzu nur die unzähligen Beispiele in den Beiträgen in Kleffner/ Meisner (Fn. 11). 13 Jäger, Unbewusste Vorurteile und ihre Bedeutung für den Richter, DRiZ 2018, S. 24 ff. Hierzu und zum Folgenden auch Bublitz, Der Rassismus im eigenen Denken, Verfassungsblog v. 15.6.2020. 14 Vgl. z. B. Krahé, Soziale Reaktionen auf primäre Viktimisierung, in: Barton/Kölbel (Hrsg.), Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 159 ff., zur Unterscheidung von datengesteuerter und schemagesteuerter Informationsverarbeitung im (Straf-)Recht; sowie Singelnstein (Fn. 10), zur Bestätigungsneigung (confirmation bias). Vgl. auch Bublitz (Fn. 13). 15 Vgl. auch Jäger (Fn. 13), S. 24 ff., mit dem Hinweis, dass die nur begrenzte Begründungspflicht über getroffene Einzelentscheidungen auch nicht zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der eigenen Entscheidungsfindung führt. Julia Geneuss
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Noch zurückhaltender als das Thema individuellen Fehlverhaltens aufgrund bestimmter Einstellungen und (bewusster oder unbewusster) Vorurteile wird institutionelle (z. B. rassistische) Diskriminierung diskutiert. Bei institutioneller Diskriminierung handelt es sich um in einer bestimmten Institution vorherrschende Praktiken, Regeln, Routinen und eine Arbeitskultur, die nicht auf individuellen Vorurteilen basieren, das heißt nicht intentional diskriminierend umgesetzt werden, aber Angehörige bestimmter (Minderheiten-) Gruppen überproportional negativ treffen; der Diskriminierungseffekt ist „statistisch erwartbar“.16 Hier werden individuelle Entscheidungen und Handlungen durch die in die Institution selbst eingeschriebenen überindividuellen Praktiken beeinflusst. Diese Praktiken beruhen auf sich verselbständigten „kollektiven Wissensrepertoires“17 oder „erzählter Erfahrung“18, die sich in die Alltagskultur der Institution derart eingeschrieben haben, dass sie nicht mehr hinterfragt werden und sich in der Praxis immer wieder neu bestätigen.19 Die überlieferten Wissensbestände beinhalten unter anderem auch gesellschaftlich vorhandene rassistische oder sonst vorurteilsbelastete Denkweisen. Diese werden jedoch über die Zeit von ihrem vorurteilsbelasteten Gehalt entthematisiert, so dass es den Anschein hat, dass z. B. in bestimmten Kontexten neutral an die Situation und nicht die Person angeknüpft wird.20 11 Unterstützt werden individuelles Fehlverhalten und institutionell vorurteilsbelastete Praktiken zudem durch einen „Korpsgeist“ und ein „Diskretionsversprechen“: Über Fehlverhalten und rechtliche Übertretungen inklusive rassistisch motivierte Diskriminierungen wird geschwiegen, weil sie nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollen.21 Hinzu kommt, dass insbesondere der Polizei der Vorwurf mangelnder Fehlerkultur und einer „hermetischen Kommunikationsverweigerung“ gegenübergebracht wird.22 12 Bei Gericht, Staatsanwaltschaft und Polizei finden sich eine Reihe von Faktoren und Entscheidungsstrukturen, die einen Rückgriff auf implizite Vorurteile und weitere kognitive Verzerrungen sowie institutionell vorurteilsbelastete Praktiken begünstigen.23 So sind oft mehrdeutige Sachverhalte, bei mitunter lückenhafter Informationslage unter Zeitdruck zu entscheiden, wobei das Recht den entscheidenden Personen eine Reihe von Beurteilungs- und Ermessensspielräumen eröffnet. Um die Komplexität zu reduzieren und die 10
16 Vgl. nur Gomolla, Institutionelle Diskriminierung, in: Karakayali u. a. (Hrsg.), Den NSU-Komplex
analysieren, 2017, S. 123 (130 ff.).
17 Gomolla (Fn. 16), S. 131. 18 Behr, Diskriminierung durch Polizeibehörden, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel (Hrsg.), Handbuch
Diskriminierung, 2017, S. 301 (307).
19 Bei der Institution Polizei geht es nach Behr (Fn. 18), S. 310 ff., vor allem um eine institutionelle Vor-
stellung von gesellschaftlicher Ordnung („Normalismus“), die zwischen ungefährlichen Vertrauten/Bekannten und als bedrohlich wahrgenommenen „Fremden“ und sozial nicht Zugehörigen unterscheidet, wobei letztere nicht zwingend „Ausländer“ oder „Migranten“ sein müssen, diese (Minderheiten-)Gruppen werden aber überproportional getroffen. 20 Behr (Fn. 18), S. 308 f. 21 Vgl. Behr, Warum Polizisten oft schweigen, wenn sie reden sollten, in: Feltes (Hrsg.), Neue Wege, neue Ziele, 2009, S. 25 ff. 22 Behr (Fn. 18), S. 304. 23 Hierzu und zum folgenden ausführlich Jäger (Fn. 13), S. 24 ff. Julia Geneuss
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Entscheidungsfindung effektiver zu gestalten und zu beschleunigen, erfolgt ein Rückgriff auf schematische Informationsverarbeitung und Heuristiken. Auch die oft gleichartigen Entscheidungskonstellationen können den Blick auf den Einzelfall und die individuelle Person leicht verwischen, stattdessen wird auf eine stereotypisch-schematische Einordnung zurückgegriffen. Hinzu kommt, dass die Akteure insbesondere in der Justiz, mit etwas mehr Abstrichen auch in der Polizei, in der Regel selbst weniger Diskriminierungserfahrung aufweisen. Kenntnisse über Rassismus, seine gesellschaftliche Prävalenz, Funktionsweisen und Auswirkungen bei den Betroffenen und in der Gesellschaft sind oft nur rudimentär vorhanden. Zumindest in der juristischen Ausbildung spielen derartige Themen so gut wie keine Rolle. Dies kann zu mangelndem Verständnis und wenig Empathie für Mitglieder betroffener Gruppen führen. Wirken sich die skizzierten individuellen und institutionellen Mechanismen entschei- 13 dungs- und handlungsleitend aus, kann sich das, mitunter mit gravierenden Folgen, unmittelbar auf das Verfahren auswirken. Zudem setzen derartige Mechanismen Mitglieder marginalisierter Gruppen spezifischen Effekten sekundärer Viktimisierung aus. Unter sekundärer Viktimisierung werden generell unangemessene, „nicht-empathische“ oder sonstige Fehlreaktionen des familiären oder sozialen Umfelds der Opfer, aber gerade auch der Instanzen sozialer Kontrolle (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte) und in der medialen Berichterstattung über die Taten verstanden.24 Durch die Fehlreaktionen kann es zu Belastungen und Folgeschädigungen kommen, die sich gegebenenfalls verfestigen können.25 Stellten strafrechtliche Ermittlungen und der Strafprozess mit seiner Verfahrensstruktur bereits an sich ein „viktimisierungsgeneigtes Handlungsfeld“ dar,26 sind Angehörige marginalisierter Gruppen zusätzlich den bewussten oder unbewussten, individuellen oder institutionellen Vorurteilen und vorurteilsbelasteten Praktiken in Justiz und Polizei ausgesetzt.27 Geht es nun zudem um die Ermittlung und Aburteilung rassistischer oder sonst vorurteilsmotivierter Straftaten, besteht ein weiteres spezifisches Risiko sekundärer Viktimisierung darin, dass es nicht nur zu Fehlreaktionen auf die Tat, sondern gerade hinsichtlich des Vorurteilsmotivs kommt, indem dieses beispielsweise geleugnet oder bagatellisiert wird.28 Die Effekte sekundärer Viktimisierung können dabei nicht nur bei der unmittelbar 24 Kritisch aufgrund der Unschärfe des Begriffs, der Schwierigkeiten einer empirischen Überprüfung und
hinsichtlich einer möglichen Instrumentalisierung Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung als Legitimationsformel, 2012. Zu den methodischen Schwierigkeiten der empirischen Untersuchung von möglichen sekundären Viktimisierungseffekten auch Volbert, Geschädigte im Strafverfahren, in: Barton/Kölbel (Hrsg.), Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, 197 (198 f.). 25 Vgl. nur Neubacher, Kriminologie, 3. Aufl. 2017, § 12 Rn. 6. 26 So Kölbel, Strafrechtliche Haftung für prozessbedingte sekundäre Viktimisierung, ZStW 119 (2007), S. 334 (336). Genannt wird in diesem Zusammenhang die Täterzentriertheit des Verfahrens, die weitgehend passive Rolle von Opfern als Zeug/innen, der Zwang der Konfrontation mit der Tat in Anwesenheit des/der Angeklagten, die formale Strenge des Verfahrens, die mitunter wenig Raum für Empathie lässt usw. 27 Vgl. aus dem deutschen Schrifttum Strobl, Soziale Folgen der Opfererfahrungen ethnischer Minderheiten, 1998, S. 253 ff.; Asmus/Enke, Der Umgang der Polizei mit migrantischen Opfern, 2016. 28 Vgl. Kölbel (Fn. 26), S. 339; Schneider, Hasskriminalität, JZ 2003, S. 497 (499). Auch in der EU-Opferschutzrichtlinie (Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung Julia Geneuss
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betroffenen Person selbst auftreten, sondern sich auch auf weitere Angehörige der betroffenen Gruppe übertragen.29 14 Sekundäre Viktimisierungseffekte, aber auch allgemeine Diskriminierungserfahrungen (Stichwort: racial profiling) sowie Meldungen über möglicherweise politisch motiviertes Fehlverhalten und rechtsextreme Einstellungen in Polizei und Justiz, können schließlich einen – für einen Rechtsstaat fatalen – Vertrauensverlust in die staatlichen Behörden zur Folge haben.30 Als Folge dieses Vertrauensverlustes wird angenommen, dass in Fällen der Vorurteilskriminalität deutlich seltener Anzeige erstattet wird als bei anderen Kriminalitätsbereichen (sog. „underreporting“).31
C. Die Ermittlungen zur Česká-Mordserie des NSU – eine Skizze 15 Zwischen 2000 und 2007 wurden nach bisherigen Erkenntnissen zehn Morde, zwei Spreng-
stoffanschläge32 und zahlreiche Raubüberfälle verübt, die dem NSU zuzurechnen sind.33 16 Am 9.9.2000 wird der Blumenhändler Enver Şimşek mit einer Česká-Pistole in Nürnberg niedergeschossen, er stirbt zwei Tage später im Krankenhaus. Im Zuge der polizeides Rahmenbeschlusses 2001/220/JI v. 25.10.2012, ABl. 2012 L 315/57) wird in Erwägungsgrund 57 darauf hingewiesen, dass Opfer von unter anderem Hassverbrechen einem hohen Risiko sekundärer Viktimisierung ausgesetzt sind. Bereichsspezifische sekundäre Viktimisierung wurde zunächst, getrieben von einer feministischen Rechtskritik, bei Sexualdelikten problematisiert und untersucht; vgl. dazu Bader, Legitime Verletzteninteressen im Strafverfahren, 2019, S. 33. 29 Vgl. Treibel, Opferforschung, in: Hermann/Pöge (Hrsg.), Kriminalsoziologie, 2018, S. 439 (441 f.). 30 Vgl. Geschke/Quent, Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?, in: Frindte u. a. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, 2016, S. 481 (482). 31 Vgl. Lang, Vorurteilskriminalität, 2014, S. 102 ff. Zum „underreporting“ bei antisemitischen Straftaten, vgl. den Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus v. 7.4.2017, BT-Drs. 18/11970, S. 32, i. Ü. Steinke, Terror gegen Juden, 2020, Kap. 7. Zur Situation in den USA, Pezzella/Fetzer/Keller, The Dark Figure of Hate Crime Underreporting, American Behavioral Scientist 2019 (online). Als weiterer Faktor, der das Anzeigeverhalten beeinflusst, wird genannt, dass Opfer von Vorurteilskriminalität die Straftaten oft als geringfügig empfinden, da diese Teil eines andauernden Diskriminierungsprozesses sind und die Grenze zwischen strafbarem und straflosem Verhalten aus der Eigenperspektive verschwimmt. 32 Am 23.6.1999 explodierte eine zur Rohrbombe umgebaute, mit Sprengstoff gefüllte Taschenlampe in einer von einem türkischstämmigen Pächter und von türkischstämmigen Gästen besuchten Gastwirtschaft in Nürnberg. Der Zusammenhang zum NSU wurde erst im Verfahren vor dem OLG München durch die Aussage von Carsten Schultze bekannt; vgl. Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tage 8, 9, 172, 257, 288. Obwohl der Pächter auf den ungewöhnlichen Besuch eines deutschen Gastes am Vorabend der Tat verwies, ermittelte die Polizei gegen ihn und sein Umfeld. 33 Die folgenden Ausführungen zum Verkennen des rassistischen Tatmotivs basieren primär auf dem Abschlussbericht des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags (BT UA I), des Bayerischen Untersuchungsausschusses (UA Bayern), der journalistischen Dokumentation des Strafverfahrens vor dem OLG München sowie den Berichten von Angehörigen. Das schriftliche Urteil des OLG München sowie die Revisionsentscheidungen des BGH lagen zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrages noch nicht vor. Die Ermittlungen zu den Kölner Sprengstoffanschlägen in der Probsteingasse im Januar 2001 und der Keupstraße Anfang Juni 2004 können aus Platzgründen nicht dargestellt werden; vgl. hierzu nur BT UA I, S. 663 ff. Nicht weiter erörtert werden können zudem die Kompetenz- und Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen den Polizeibehörden sowie das problematische Agieren des Verfassungsschutzes; vgl. dazu BT UA I, S. 837 ff., 853 ff. Julia Geneuss
C. Die Ermittlungen zur Česká-Mordserie des NSU – eine Skizze
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lichen Ermittlungen wird Enver Şimşek verdächtigt, mit Drogen gehandelt zu haben und Mitglied einer Mafia-Organisation gewesen zu sein.34 Der Lieferwagen, in dem Enver Şimşek ermordet wurde, wird mit einer Wanze versehen, bevor er der Familie zurückgegeben wird.35 Die Telefone der Verwandten werden abgehört, da sich diese „auffallend zurückhalten“ und sie „bislang nicht ihr gesamtes Wissen preisgegeben“ hätten.36 Adile Şimşek, der Frau von Enver Şimşek, werden Fotos (irgend)einer blonden Frau, die angeblich die Geliebte ihres Mannes war, vorgelegt.37 Adile Şimşek wiederum vermutet in ihrer Vernehmung ein rassistisches Motiv für die Tat.38 Auch der damalige Bayerische Innenminister Beckstein fragt in einem handschriftlichen Vermerk, ob ein „ausländerfeindlicher Hintergrund denkbar [ist]“; ihm wird knapp mitgeteilt, dass derzeit dafür keine Anhaltspunkte bestehen.39 Der Sohn von Enver Şimşek berichtet, seine Familie sei von den Ermittlern als „Ausländer“ abgestempelt worden, man habe ihm das Gefühl vermittelt, er gehöre nicht hierher. „Und je mehr Menschen getötet wurden, und je mehr die Polizei einseitig in Richtung des Umfelds der Opfer ermittelte, desto fremder fühlte ich mich.“40 Im Juni 2001 wird der Fabrikarbeiter und Änderungsschneider Abdurrahim Özüdoğru 17 mit der Česká in Nürnberg getötet. Es wird Hinweisen auf türkische Drogenbanden in Rotterdam und Schutzgelderpressungen nachgegangen.41 Parallel wird vermutet, Abdurrahim Özüdoğru habe ein Verhältnis und Kinder mit einer anderen Frau.42 In den Ermittlungsakten heißt es zur Wohnung von Özüdoğru, dass sich dort ein „für Wohnungen von Türken nicht unübliche[r] Nippes“ finden lasse.43 Tülin Özüdoğru, die Tochter von Abdurrahim Özüdoğru, berichtet, wie sie nach der Tat gemieden worden sei, Freunde hätten sich abgewandt. Erst mit der Enttarnung des NSU sei endlich klar geworden, dass ihr Vater keine Schuld an seinem Tod trage.44 Ende Juni 2001 wird Süleyman Taşköprü, ein Obst- und Gemüsehändler, mit der Česká 18 in Hamburg getötet. Die ermittelnden Beamten vermuten das Motiv für die Tat insbesondere in Drogengeschäften und Scheckbetrügereien.45 Die Frage eines rechtsextremen Hintergrunds wird mangels Anhaltspunkten rasch verworfen.46 In den Ermittlungsakten findet sich die Aussage: „Süleyman Taşköprü war das, was wir im Landeskriminalamt einen ganz normalen türkischen Mann genannt haben: leidenschaftlich, sehr engagiert und doUA Bayern, S. 86 f.; Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tag 31. BT UA I, S. 731; UA Bayern, S. 86 f. Daimagüler (Fn. 5), Kap. 6 – Enver Şimşek. BT UA I, S. 731. Vgl. auch Şimşek/Schwarz (Fn. 5), S. 96 f. Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tag 31. BT UA I, S. 496 f. Im Jahr 2006 notiert Beckstein erneut die Frage, ob bei den „Türken-Morden“ „Fremdenfeindlichkeit“ das Motiv sein könnte; vgl. UA Bayern, S. 88. 40 John (Fn. 5), S. 30 ff. 41 BT UA I, S. 497. 42 Daimagüler (Fn. 5), Kap. 6 – Abdurrahim Özüdoğru. 43 Daimagüler (Fn. 5), Kap. 6 – Abdurrahim Özüdoğru. 44 John (Fn. 5), S. 52 f. 45 BT UA I, S. 498. 46 Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tag 37. 34 35 36 37 38 39
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minant vom Wesen.“47 Süleyman Taşköprüs Vater werden Fragen nach Schulden, Drogen, Mafia und einem Ehrenkodex gestellt, wie die Schwester des Opfers formuliert: „nach dem Motto: Bei euch Türken ist es ja üblich, dass man sich gegenseitig umbringt“.48 Ende August 2001 wird Habil Kılıç, der Inhaber eines Frischwarengeschäfts mit der Česká in München getötet. Ermittelt wird im Bereich der „türkischen Drogenmafia“; ein rechtsextremes Motiv wird nicht erwogen: „Der Modus der Tat entsprach nicht dem, was man sonst von Neonazis kannte, also Ausländer durch die Straßen jagen, zu Tode prügeln.“49 Mitte September 2001 wird in Nürnberg als Koordinierungsstelle für die bis dato drei bayerischen Fälle eine Sonderkommission (Soko) mit dem Namen „Halbmond“ gegründet, ein Name der nach Aussage eines involvierten Beamten „ohne Hintergedanken“ gewählt wurde.50 Eine Verbindung zwischen den Opfern wird nicht gefunden. Ende Februar 2004 wird Mehmet Turgut, Verkäufer in einem Dönerimbiss in Rostock, mit der Česká erschossen. Ermittler gehen Hinweisen ins Drogenmilieu nach. Das familiäre Umfeld des Opfers wird durchleuchtet, es werden Familienkonflikte vermutet und über Racheakte spekuliert. Polizisten reisen in die Türkei und hören sich nach der Familie um, unter anderem auch mit Blick darauf, ob es Anhaltspunkte für „Blutrache“ gebe.51 Der Bruder des Opfers äußert derweil Hinweise auf einen möglichen rassistischen Hintergrund der Tat.52 Spuren aus dem Bereich des Rechtsextremismus wird nachgegangen, allerdings ohne Ergebnis.53 Im Frühjahr 2004 bittet das BKA den Verbindungsbeamten in der Schweiz, zu prüfen, ob entsprechende Munition und Schalldämpfer, insbesondere an „türkische Staatsangehörige“, abgegeben wurden. Begründet wird diese Einschränkung damit, dass als Grund für die Tötungen Rauschgiftgeschäfte in Betracht kommen dürften.54 Anfang Juni 2005 wird İsmail Yaşar, der Inhaber eines Dönerimbisses, mit der Česká in Nürnberg erschossen. Die Polizei ermittelt zu Verbindungen des Opfers ins Drogenmilieu.55 Der Sohn des Opfers berichtet von den Folgen dieser Verdächtigungen gegen seinen Vater im persönlichen Umfeld. „Bevor das mit meinem Vater passierte, habe ich mich eigentlich nie als Ausländer gefühlt. Ich fühlte mich hier wohl und sicher. Und dann merkst du plötzlich: Irgendetwas stimmt nicht. Dieses Misstrauen hat sich mittlerweile wieder etwas gelegt. Aber eines ist geblieben: Ich fühle mich irgendwie so heimatlos.“56
47 BT UA I, S. 733. 48 John (Fn. 5), S. 57 (Aussage der Schwester). Vgl. auch UA BT I, S. 731 (zur ersten Operativen Fallana-
lyse (OFA)). Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tag 22. Vgl. auch UA Bayern, S. 105. UA Bayern, S. 102. Daimagüler (Fn. 5), Kap. 6 – Mehmet Turgut. Vgl. auch John (Fn. 5), S. 78 f. BT UA I, S. 594. Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tag 49. BT UA I, S. 506 f. BT UA I, S. 498. John (Fn. 5), S. 100.
49 50 51 52 53 54 55 56
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Nicht mal eine Woche nach der Tötung von İsmail Yaşar wird Theodoros Boulgarides, der Mitinhaber eines Schlüsseldienstes, mit der Česká in München erschossen. Auch wenn schnell klar wird, dass es sich bei Theodoros Boulgarides um einen „allseits beliebte[n], integre[n], seriöse[n] Geschäftsmann“ handelt, der nie polizeilich in Erscheinung getreten ist und keine Verstrickungen in ein kriminelles Milieu aufweist,57 wird im Zuge der Ermittlungen nach Zusammenhängen zu Drogendelikten, Glücksspiel und Prostitution gesucht.58 Verdeckte Ermittler geben sich gegenüber Yvonne Boulgarides, der Ehefrau, als (türkische) Privatdetektive aus, die für einen Nürnberger Verein türkischer Kleinunternehmer ermitteln.59 „Mein Bruder war das siebte Opfer des NSU. Er könnte noch leben, wenn die Behörden nicht von Anfang an so auf Ausländer als mögliche Täter fixiert gewesen wären.“60 Nach dem sechsten und dem siebten Mord der Reihe wird im Juli 2005 die Besondere Aufbauorganisation (BAO) „Bosporus“ beim Polizeipräsidium Mittelfranken als Gesamtermittlungsgruppe und zentrale Koordinierungsstelle eingerichtet.61 Nach einer im August 2005 vorliegenden ersten Operativen Fallanalyse sind die Taten im Zusammenhang mit Organisierter Kriminalität begangen worden, wenn auch der Hintergrund der Opfer hierfür keine Anzeichen biete.62 In Nürnberg und München werden circa 900 türkische Kleingewerbetreibende aufgesucht, um sachdienliche Hinweise zu erhalten, aber auch, um zur Beruhigung beizutragen und Verhaltenstipps zu geben.63 Ein rechter Tathintergrund wird weiterhin ausgeschlossen, unter anderem, da es kein Bekennerschreiben und keine Form einer Mitteilung an eine Zeitung oder ans Fernsehen gegeben habe.64 Vom Ermittlungsrichter werden Maßnahmen im „Nahbereich“ der Opfer genehmigt.65 Ziel dieser Maßnahmen ist es, eine „Mauer des Schweigens“ zu durchbrechen und in eine „Parallelwelt“ einzudringen.66 Bisher sei „die türkische Bevölkerung bei offenen Ermittlungen äußerst zurückhaltend, was zum einen an der fehlenden Akzeptanz der Polizei, zum anderen in der türkischen Mentalität begründet“ liege.67 In Nürnberg und München werden von Vertrauenspersonen der Polizei ein Jahr lang Dönerstände betrieben.68 Da-
57 Daimagüler (Fn. 5), Kap. 6 – Theodoros Boulgarides. 58 Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tag 38. 59 BT UA I, S. 731 f. und UA Bayern, S. 128. Yvonne Boulgarides ruft daraufhin mehrfach die Polizei an
und bekommt letztendlich die Auskunft, dass die Polizei von den Männern wisse.
60 John (Fn. 5), S. 104. 61 BT UA I S. 519 ff. Wie auch bei der Soko „Halbmond“ habe man den Namen „ohne Hintergedanken“
gewählt und lediglich „den Bezug zu türkischen Opfern“ ausdrücken wollen. BT UA I, S. 529 f. BT UA I, S. 523 und UA Bayern, S. 119. UA Bayern, S. 107. UA Bayern, S. 106. UA Bayern, S. 129, unter Hinweis auf einen Artikel in der SZ v. 27.4.2006, in dem der damals stellvertretende Sprecher des Bayerischen Staatsministerium des Innern zitiert wird. 67 Zitiert nach Schultz (Fn. 5), Kap. 4 – Halbmond und Bosporus. Vgl. auch BT UA I, Stellungnahme SPD, S. 879. 68 UA Bayern, S. 102, 106. 62 63 64 65 66
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durch will man „ethnisch bedingte[] Geschäftspraktiken türkischer Gewerbetreibender“69 erkennen sowie die Zwänge, denen „türkische Geschäftsinhaber im Zusammenhang mit der Führung eines Gewerbes ausgesetzt sind (z. B. Gebietsabsprachen)“.70 „Als Ergebnis wurde festgestellt, dass die Geschäftspraktiken türkischer Personen unauffällig seien.“71 Als einzige Auffälligkeit meldet der Münchener Imbissbetreiber der Polizei, dass „ein ‚Verrückter‘ am Dönerwagen war und ihn verbal bedroht habe. […] Bei den Beschimpfungen ging es hauptsächlich darum, dass Türken den Deutschen die Geschäfte wegnehmen und sie sich seiner Meinung nach unkontrolliert in Deutschland ausbreiten. Unter anderem zeigte er mit dem Finger während des Gespräches auf das von der VP [Vertrauensperson] angebrachte Fahndungsplakat (neun ungeklärte Morde an türkischen Kleingewerbetreibenden) der Polizei und meinte, wenn man Türken nicht so vertreiben könne, dann würden sie halt so heimgeschickt.“72 Ende November 2005 wird die bis dahin schwerpunktmäßig verfolgte „Organisations28 hypothese“ erstmals zur Disposition gestellt, als Motiv auch ein Einzeltäter/Psychopath aufgeführt.73 Es wird eine zweite Operative Fallanalyse in Auftrag gegeben. Am 4.4.2006 wird Mehmet Kubaşık mit der Česká in seinem Kiosk in Dortmund er29 schossen. Obwohl schnell klar wird, dass er „eine absolut weiße Weste“ hat,74 wird über Monate hinweg im persönlichen Umfeld des Opfers ermittelt, die Wohnung der Familie durchsucht, die Nachbarschaft nach Drogengeschäften befragt, ein Verhältnis zu einer anderen Frau geprüft, und die Gäste der Trauerfeier werden observiert.75 Verdeckte Ermittler hören sich in türkischen Teestuben, Moscheen, Imbissen und Gaststätten um; von den dort angesprochenen Personen wird häufig auf einen rechtsradikalen Hintergrund der Taten getippt.76 Auch Elif Kubaşık, die Ehefrau von Mehmet Kubaşık, vermutet ein „fremdenfeindliches“ Motiv.77 Gamze Kubaşık, Mehmet Kubaşıks Tochter, berichtet von Ausgrenzung und Isolation im Nachgang der Ermittlungen. Und auch sie berichtet von der Last, die von ihr abfällt, als klar wird, dass ihr Vater von deutschen Rechtsextremen getötet wurde. Endlich sei ihr Vater rehabilitiert, endlich habe sie trauern können.78 30 Nur zwei Tage nach dem Mord an Mehmet Kubaşık wird Halit Yozgat, Inhaber eines Internetcafés in Kassel, mit der Česká getötet. Es wird im Umfeld der Familie ermittelt und davon ausgegangen, dass es sich „um ein internes Problem der betroffenen Bevölkerung handelte“.79 Der Vater von Halit Yozgat, İsmail Yozgat, vermutet einen rechtsextremen BT UA I, S. 530. BT UA I, S. 530; vgl. auch UA Bayern, S. 106. BT UA I, S. 530. BT UA I, S. 531. BT UA I, S. 524. Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tag 36. Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tag 51. Vgl. auch Bunjes, Stille Trauer, laute Mahnung, taz v. 13.6.2006: „Alle Opfer sind Migranten. Da ist doch ein rechtsextremistischer Hintergrund sehr einleuchtend.“ 77 BT UA II, S. 1061. 78 John (Fn. 5), S. 123 f. 79 Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler. (Fn. 1), Tag 92; vgl. auch Tag 39 und BT UA I, S. 732. 69 70 71 72 73 74 75 76
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C. Die Ermittlungen zur Česká-Mordserie des NSU – eine Skizze
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Tathintergrund.80 Da die Ermittler in der rechten Szene in Kassel keine Äußerungen zur Mordserie feststellen können, ergeben sich für sie keine Ermittlungsansätze.81 Das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz behauptet, İsmail Yozgat habe bei Freitagsgebeten in der Moschee zur Blutrache gegen Andreas Temme, den Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, der sich zum Zeitpunkt der Tötung von Halit Yozgat in dessen Internetcafé aufgehalten hat,82 aufgerufen. Angesichts der „ethnisch-kulturellen Hintergründe der Opferfamilie“ wird eine Gefährdung von Temme angenommen, aus Gründen der Gefahrenabwehr werden die Telefone des Vaters überwacht bis sich herausstellt, dass İsmail Yozgat an keinem Freitagsgebet teilgenommen hat.83 In der deutschen Presse wird derweil über die Mordserie unter anderem unter den Stichworten „Döner-Morde“ oder „Mordserie Bosporus“ berichtet.84 In der im Mai 2006 vorgestellten zweiten Operativen Fallanalyse wird – gleichberechtigt neben der Organisationshypothese – die sogenannte Einzeltäter-/Serientätertheorie vorgestellt:85 Danach handle es sich bei dem Täter um jemanden, der eine „ablehnende Haltung gegenüber Türken“ sowie Vorstellungen von seiner eigenen „Mission“ entwickelt habe. Über die Person lägen möglicherweise polizeiliche Erkenntnisse vor, die am ehesten im Bereich Staatsschutz (rechts) zu finden seien, Waffen- bzw. Sprengstoffdelikte und Sachbeschädigungen könnten als stellvertretendes Aggressionsdelikt gedient haben. Die Person könne vor der Tat der rechten Szene zugehörig gewesen sein, sich dann aber zurückgezogen haben, da ihr diese nicht radikal genug erschien. Da von einem „Ankerpunkt“ in Nürnberg ausgegangen wurde, werden dort neun Gefährderansprachen mit bekannten Rechtsextremisten durchgeführt. Als Ergebnis wird unter anderem festgehalten, dass „innerhalb der rechten Szene die Meinung vorherrscht, dass sich die Opfer wohl selber im kriminellen Milieu bewegt haben dürften und einer Vergeltungs-/Rachetat zum Opfer gefallen sein könnten; eine fremdenfeindlich motivierte Straftat [nach Auffassung der angesprochenen Personen] nicht vorliegt, da die Mordopfer für ihren Unterhalt selber sorgten und aufgrund ihrer Berufstätigkeit den deutschen Staat (Steuerzahler) nicht ausnützten.“86 Die zweite Fallanalyse wird in Ermittlerkreisen kritisiert, der Vizepräsident des BKA spricht von „Kaffeesatzleserei“.87 Es wird eine dritte Operative Fallanalyse in Auftrag ge80 BT UA I, S. 533 f. 81 BT UA I, S. 533. 82 Vgl. Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tage 40–42, 49, 63–65, 80, 88, 91–92, 104, 106, 135,
206, 211, 213–214, 241, 295–296, 310, 342, 356, 358, 372, 395. Vgl. dazu auch BT UA II, S. 1067 ff.
83 BT UA I, S. 732. 84 Zur Rolle der Medien, die die These der migrantischen Organisierten Kriminalität weitgehend kritik-
los übernommen, öffentlich verstärkt und damit zur Kriminalisierung der Opfer und ihrer Angehörigen beigetragen haben, Virchow/Thomas/Grittmann, Das Unwort erklärt die Untat, 2015. Dazu auch Schultz, Verloren im Vorurteil, SZ v. 10.1.2015. 85 BT UA I, S. 560 f. 86 UA Bayern, S. 119. 87 BT UA I, S. 563, 836. Kritik an der Einzeltäterhypothese lässt sich auch in einer Synopse des BKA von Mitte August 2006 erkennen; vgl. BT UA I, S. 562. Abgelehnt wurde die These eines aus persönlichen Motiven handelnden Einzeltäters unter anderem, da dieser keine Botschaften hinterlässt und sich auch Julia Geneuss
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geben. In der Zwischenzeit soll nach der ausgearbeiteten Medienstrategie eine denkbare Nähe zur rechten Szene in der Öffentlichkeit nur auf Rückfragen und nur mit geringer Priorität platziert werden.88 Stattdessen wird die Öffentlichkeitsarbeit in türkischen Medien verstärkt.89 35 Ende Januar 2007 erscheint die dritte Operative Fallanalyse. Die Einzeltäterhypothese und ein „ausländerfeindliches“ Motiv werden abgelehnt, ein rechtsextremer Hintergrund der Täter als unwahrscheinlich verworfen. Stattdessen wird ein Tathintergrund im Bereich der Organisierten Kriminalität wieder als wahrscheinlichstes Motiv angenommen. Wörtlich heißt es: „Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.“90 Als Ergebnis der Analyse wird festgehalten: „Alle neun Opfer hatten Kontakt zu einer Gruppierung, die ihren Lebensunterhalt mit kriminellen Aktivitäten bestreitet und innerhalb derer zudem ein rigider Ehrenkodex bzw. ein rigides inneres Gesetz besteht. Im Laufe der ‚Zusammenarbeit‘ begingen die Opfer vermutlich einen Fehler, der für die Opfer hinsichtlich seiner Bedeutung nicht erkennbar war. Aufgrund dieser für die Täter bedeutsamen Verletzung eines Ehrenkodex bzw. Wertesystems wurden in der Tätergruppierung jeweils Todesurteile gefällt und vollstreckt. Dabei ging es vermutlich nicht (mehr) um Forderungen irgendwelcher Art (rationaler Aspekt), sondern letztendlich um die Sicherung oder Wiederherstellung einer in der Gruppe ideell verankerten Wirklichkeit, z. B. Status, Prestige, Ehre, Pflege eines bestimmten Selbstbildes usw. (irrationaler Aspekt).“ Und zum Täterprofil heißt es unter anderem unter dem Stichwort „Ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit“: „Auch spricht der die Gruppe prägende rigide Ehrenkodex eher für eine Gruppierung im ost- bzw. südosteuropäischen Raum (nicht europäisch westlicher Hintergrund).“ Nach Erscheinen der dritten Operativen Fallanalyse wird wieder (ausschließlich) im Bereich der Organisierten Kriminalität ermittelt. 36 Ende April 2007 wird die Polizistin Michèle Kiesewetter mit der Česká in Heilbronn erschossen, ihr Kollege schwer verletzt. In den Ermittlungsakten finden sich Hinweise auf einen „joggenden Neger“ und auf eine „Zigeunerin“ und Angehörige einer „Roma-Sippe“, über die ein hinzugezogener Psychologe gesagt haben soll, Lügen seien für diese Ethnie „typisch“.91 sonst nicht mitteilt. Auch müsse man von zwei Tätern ausgehen, was eine „absolute Seelenverwandtschaft der Täter“ verlange, die „sich dann auch noch rein zufällig zusammen gefunden hätten“. Es stelle sich die Frage, „ob eine so enge, intensive Verbindung über einen Zeitraum von 6 Jahren überhaupt möglich ist“. Weiter stellen die Ermittler die Frage, worauf sich der Hass des Einzeltäters schüren soll: Die Opfer seien im Erscheinungsbild alle sehr unterschiedlich und grundverschieden und wirkten zudem „auf den ersten Blick ‚anständig‘“, es stelle sich die Frage, „wie sich eine so hohe Treffsicherheit ‚ethnischer Türken‘ erklärt“. Die Geschäfte der Opfer seien auf den ersten Blick nicht als „türkische Geschäfte“ erkennbar. Für die Organisationsthese spräche hingegen, „dass gerade die bisherige kriminelle ‚Unauffälligkeit‘ der Opfer für die illegalen Tätigkeiten einer OK-Gruppierung von Nutzen sein könnte“. 88 BT UA I, S. 570; UA Bayern, S. 143 f. 89 BT UA I, S. 523. 90 BT UA I, S. 575 ff. 91 Vgl. Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tag 81. Julia Geneuss
D. Diskriminierung durch Nichtberücksichtigung von Vorurteilsmotiven
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Nachdem alle Ermittlungen weiterhin erfolglos verlaufen, wird die BAO Bosporus Ende 37 Januar 2008 zurück- und als Mordkommission weitergeführt. Auch ansonsten werden die Ermittlungen erheblich zurückgefahren.92 Am 4.11.2011 erfolgt nach einem Banküberfall in Eisenach mit den Selbsttötungen 38 von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos und dem Versenden eines Bekennervideos durch Beate Zschäpe die Selbstenttarnung des NSU.93 Der Generalbundesanwalt übernimmt die Ermittlungen.94 Das Strafverfahren gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach sowie Carsten Schultze beginnt Anfang Mai 2013 vor dem OLG München.95 Das erstinstanzliche Urteil wird – nach 438 Verhandlungstagen – am 11.7.2018 verkündet: Beate Zschäpe wird wegen zehnfachen mittäterschaftlichen Mordes und weiterer Straftaten des NSU sowie Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und schwerer Brandstiftung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, die besondere Schwere der Schuld wird festgestellt.96 Auch die übrigen Angeklagten werden wegen verschiedener Unterstützer- und Beihilfehandlungen zu Freiheitsstrafen verurteilt.97 Das Urteil ist mittlerweile insgesamt rechtskräftig.98
D. Diskriminierung durch Nichtberücksichtigung von Vorurteilsmotiven Rassistische und sonst vorurteilsmotivierte Kriminalität unterscheidet sich von allgemei- 39 ner Kriminalität, das heißt gewöhnlichen Straftaten, insbesondere aufgrund des kommunikativen Gehalts der Taten (dazu I.).99 Dieser kommunikative Gehalt macht die Notwendigkeit einer explizit auf das Vorurteilsmotiv fokussierten staatlichen Reaktion aus. Die 92 Im April 2008 führt die Hamburger Polizei, die zuvor die zweite OFA als methodisch „unsolide“ abge-
lehnt hatte, ein „Gespräch“ mit einem iranischen „Metaphysiker“. Dieser nahm über ein „Medium“ Kontakt mit dem Mordopfer auf und kam zu dem Ergebnis, „dass der Täter einen dunklen Teint, braune Augen und schwarze Haare habe. Das Opfer habe mit einer polizeibekannten Bande in Kontakt gestanden, die aus bis zu acht Personen bestanden habe“. Vgl. BT UA I, S. 593. 93 Vgl. nur Leyendecker, Reliquien des Irrsinns, SZ v. 21.11.2011. 94 GBA, Pressemitteilung 35/2011 v. 11.11.2011, abrufbar unter www.generalbundesanwalt.de. 95 Weitere (Struktur-)Ermittlungen werden durchgeführt. 96 Vgl. Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tag 438. 97 Vgl. Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tag 438. 98 BGH, Beschl. v. 12.8.2021, 3 StR 441/20; BGH, Urt. v. 15.12.2021, 3 StR 441/20. 99 Vgl. ausführlich zur Konzeption und zur materiellrechtlichen Verarbeitung von Vorurteilskriminalität im deutschen Strafrecht den Beitrag von Anja Schmidt in diesem Band → Schmidt, § 21. Im vorliegenden Beitrag wird der Begriff Vorurteilskriminalität verwendet. Der weitläufig verwendete Begriff „Hasskriminalität“ erscheint zu eng, da er das den Taten zu Grunde liegende emotionale Spektrum zu sehr verengt (vgl. Bannenberg/Rössner/Coester, Hasskriminalität, extremistische Kriminalität, politische motivierte Kriminalität und ihre Prävention, in: Egg (Hrsg.), Extremistische Kriminalität, 2006, S. 17 (18)). Da Hass in der Regel nur einzelnen Individuen zugeschrieben wird, besteht daher die Gefahr, die Straftaten als emotionales und extremes Handeln Einzelner auf eine (rein) individuelle Ebene zu verschieben. Der gesamtgesellschaftliche Kontext, in den die Taten eingebettet sind – Alltagsrassismus, Alltagsdiskriminierungen und weit verbreitete Vorurteile – kann so begrifflich weitgehend ausgeblendet werden (vgl. Lang Julia Geneuss
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Bedeutung der Ermittlung und Zurückweisung des Vorurteilsmotivs ist auch im Völker-, Europa- und Unionsrecht anerkannt, wo sich jeweils eine Pflicht zur effektiven Ermittlung des Vorurteilsmotivs und zur sorgfältigen statistischen Erfassung von Vorurteilskriminalität finden (dazu II.). In der Rechtsprechung des EGMR wird das Nichtermitteln eines Vorurteilsmotivs als Verletzung des Diskriminierungsverbots aus Art. 14 EMRK anerkannt (dazu III.). I. Vorurteilskriminalität 40
Bei rassistischen oder sonst vorurteilsmotivierten Straftaten werden die Opfer nicht aus persönlichen oder situationsbedingten Gründen angegriffen, sondern, wie bei den Mordtaten des NSU, willkürlich aufgrund von (identitätsstiftenden) Merkmalen, durch die sie – real oder vermeintlich – einer kategorial bestimmten Gruppe angehören oder mit einer solchen in Verbindung gebracht werden.100 Als Repräsentanten einer als „anders“ und ungleichwertig konstruierten Gruppe wird ihnen durch die Tat kommuniziert, dass sie aufgrund dieser Andersartig- und Ungleichwertigkeit kein bzw. kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sind, dass sie anders, weniger wert und nicht erwünscht sind und daher jederzeit angegriffen werden können.101 Diese ab-, ausgrenzende und einschüchternde Botschaft wird nicht nur der unmittelbar von der Tat betroffenen Person, sondern auch der Gruppe, der das Opfer über das (identitätsstiftende) Merkmal tatsächlich oder vermeintlich angehört, vermittelt.102 Damit weisen vorurteilsmotivierte Straftaten auch (Fn. 31), S. 36 ff.). Mitunter findet sich auch der Begriff „Diskriminierungskriminalität“. Als „discrimination crimes“ werden jedoch – zumindest teilweise, auch hier ist die Begriffsverwendung uneinheitlich – jene Straftatbestände bezeichnet, die eine originäre Diskriminierungspraxis unter Strafe stellen (z. B. aus dem spanischen Strafgesetzbuch die schwerwiegende Diskriminierung im Arbeitskontext (Art. 341) oder die Verweigerung einer öffentlichen Dienstleistung aus Diskriminierungsmotivation (Art. 511)). 100 Vgl. Lang (Fn. 31), S. 35; Coester, Das Konzept der Vorurteilskriminalität und Folgen für die polizeiliche Praxis, in: FS Jaschke, 2017, S. 167 ff. (168). In konzeptioneller Hinsicht ist etwa umstritten, welche Anknüpfungskategorien erfasst sein sollten, ob Vorurteilskriminalität nur Straftaten von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft gegen Angehörige von Minderheiten erfasst, ob auch die stereotypenbasierte Opferauswahl erfasst sein soll, wie stark das Vorurteilsmotiv ausgeprägt sein und in welchem Grad es sich in der Tat niedergeschlagen haben muss. Überblick zum verschiedenen konzeptionellen Verständnis von „hate crime“ bei Chakraborti/Garland, Hate Crime, 2009, S. 4 ff.; zudem Jacobs/Potter, Hate Crimes, 1998, S. 23. 101 Geschke/Quent (Fn. 30), S. 483; Coester (Fn. 100), S. 168; Jacobs/Potter (Fn. 100), S. 11. Zu Hasskriminalität als Form des „othering“ Perry, In the Name of Hate, 2001, S. 31 ff. 102 Geschke/Quent (Fn. 30), S. 483. Die „Botschaft“ der Einschüchterung und die Offenbarung des „ideologischen Gehalts“ der Verbrechen war nach Auffassung des OLG München „inhärenter Teil“ des Tatkonzepts des NSU und tragender Bestandteil der Begründung der Mittäterschaft von Beate Zschäpe; vgl. die mündliche Urteilsbegründung in Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tag 438. Danach sollte zunächst unter Verzicht auf Bekennung durch den im Laufe der Zeit deutlich werdenden Seriencharakter der Taten die potentielle Opfergruppe eingeschüchtert werden. Um eine größere destabilisierende Wirkung zu entfalten, sollte erst zu einem späteren (selbstgewählten oder aufgezwungenen) Zeitpunkt die politische und ideologische Ausrichtung der Taten offenbart werden. Dadurch sollte Verunsicherung und Angst bei den potentiellen Opfergruppen geschürt werden und der Staat als hilflos und ohnmächtig vorgeführt werden, als nicht in der Lage, die Taten aufzuklären und seinen Bürgern Schutz zu bieten. Erst mit der Veröffentlichung des Bekennervideos, das heißt der Auflösung des Rätsels der Täterschaft, sei das „finale Ziel der Anschlagsserie“ und der ideologische Zweck der Taten erreicht. Hierfür sei Zschäpes Tatbeitrag – in Julia Geneuss
D. Diskriminierung durch Nichtberücksichtigung von Vorurteilsmotiven
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einen spezifischen gesamtgesellschaftlichen Bezug auf: Indem die Täter durch die Tat den Angehörigen der betroffenen Gruppe die Gleichwertigkeit absprechen, kommunizieren sie ihre Ablehnung des sozialen Gefüges einer pluralen, heterogenen und demokratischen Gesellschaft.103 Schließlich übermitteln vorurteilsmotivierte Taten auch eine Botschaft an Gleichgesinnte. Indem die Gruppe als ungleichwertig und unerwünscht markiert wird, wird eine Legitimation und Ermächtigung, Gruppenangehörige anzugreifen vermittelt. Dadurch wohnt ihr ein „Aufforderungs- oder mindestens Zustimmungscharakter“ inne.104 Rassistische und sonst vorurteilsmotivierte Straftaten müssen dabei im Kontext der ihnen zu Grunde liegenden gesellschaftlich weit verbreiteten Vorurteile und Ungleichwertigkeitsvorstellungen gesehen werden.105 Es handelt sich nicht um singuläre, isolierte Akte, die aus dem Nichts heraus begangen werden, sondern um den unter Strafe gestellten Teil eines vielfältigen Diskriminierungsprozesses, dem sich die Angehörigen der betroffenen – nach der vorherrschenden Konzeption marginalisierten – Gruppen ausgesetzt sehen. Zur Reaktion auf vorurteilsmotivierte Straftaten, das heißt zur spezifischen materiell- 41 rechtlichen Erfassung des Vorurteilsmotivs, wird von der Erfassung mittels eines eigenständigen Straftatbestands bis zur strafzumessungsrechtlichen Berücksichtigung eine Bandbreite von Positionen vertreten.106 In Deutschland wurden speziell benannte Vorurteilsmotive („rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Tatmotive“) mit der Änderung des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB im Jahr 2015, als wohl bekannteste Gesetzesänderung im Nachgang der Aufarbeitung des NSU-Skandals, strafzumessungsrechtlich aufgenommen und müssen bei einer Verurteilung strafschärfend berücksichtigt werden.107 Im Frühjahr 2021 wurde die Liste in Reaktion auf den Anschlag auf die Synagoge in Halle um antisemitische Beweggründe erweitert.108 Unabhängig von dieser materiellstrafrechtlichen Verarbeitung vorurteilsmotivierter Straftaten wird angesichts der individuellen und gesellschaftlichen Folgen jedenfalls die Notwendigkeit der „Gegenrede“ der Wohnung die Nachrichten beobachten und gegebenenfalls das Bekennervideo verschicken – „unverzichtbar […] und im Vergleich zu dem der beiden Männer nicht von untergeordneter Natur“. 103 Vgl. Coester (Fn. 100), S. 168. 104 Vgl. Coester (Fn. 100), S. 168. 105 Vgl. nur Perry (Fn. 101), S. 1 f.; sowie bzgl. rassistisch motivierter Gewalt Bowling, Racial Harassment and the Process of Victimization, British Journal of Criminology 33 (1993), S. 231 ff.; dazu auch Chakraborti/Garland (Fn. 100), S. 33 f. und 116 f. mit dem Hinweis, dass ein „incident driven approach“ der Strafverfolgungsbehörden nicht nur zu einer Fehleinschätzung bei der Bewertung einer Straftat als vorurteilsmotiviert führt, sondern auch die Einbettung der Tat in einen alltäglichen Diskriminierungsprozess ausblendet und zu unsensiblem bzw. Fehlverhalten gegenüber den Opfern führen kann (Stichwort sekundäre Viktimisierung). Vgl. auch Geschke/Quent (Fn. 30), S. 483 f. 106 Zur materiellrechtlichen Verarbeitung im deutschen Strafrecht vgl. den Beitrag von Anja Schmidt in diesem Band → Schmidt, § 21; i. Ü. Timm, Gesinnung und Straftat, 2012, S. 211 ff. Zur Debatte im angloamerikanischen Rechtsraum siehe die Beiträge in: Iganski (Hrsg.), The Hate Debate, 2002. 107 Gesetz zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages v. 12.6.2015, BGBl. 2015 I, S. 925. Vgl. auch zur Kritik an der Änderung des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 46 Rn. 15a m. w. N. Zu vorhergehenden legislativen Vorstößen vgl. Lang (Fn. 31), S. 162 ff. 108 Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität v. 30.3.2021, BGBl. I, S. 441. Julia Geneuss
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(„countermessage“)109 durch Staat und Gesellschaft deutlich. Die ausdrückliche Zurückweisung nicht nur der Tat, sondern gerade des Vorurteilsmotivs durch die staatlichen (Strafverfolgungs-)Behörden und Gerichte sowie die (Mehrheits-)Zivilgesellschaft, lässt sich insofern im weiteren Sinne als eine Art Antidiskriminierungsmaßnahme begreifen. Indem das Vorurteilsmotiv erkannt, ausdrücklich benannt und effektiv geächtet wird, wird anerkannt, dass den Opfern mehr als nur „gewöhnliche“ Kriminalität angetan wurde, ihnen wird Solidarität ausgedrückt und kommuniziert, dass sie (gleichberechtigter) Teil der Gesellschaft sind.110 II. Pflicht zur Ermittlung und statistischen Erfassung von Vorurteilskriminalität 42 Die Bedeutung einer staatlichen Reaktion spezifisch auf Vorurteilskriminalität zeigt sich
auch darin, dass im Völker-, Europa- und Unionsrecht, jeweils für Deutschland bindende, Verpflichtungen zur effektiven Ermittlung und sorgfältigen statistischen Erfassung vorurteilsmotivierter, insbesondere rassistisch motivierter, Kriminalität normiert sind.111 43 Auf völkerrechtlicher Ebene greift das unter dem Dach der Vereinten Nationen abgeschlossene Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) aus dem Jahr 1966, von Deutschland ratifiziert 1969.112 In Art. 6 ICERD verpflichten sich die Vertragsstaaten zu einem wirksamen (Rechts-)Schutz gegen alle rassistisch diskriminierenden Handlungen. Der ICERD-Ausschuss, der die Einhaltung der Konvention überwacht, hat Art. 6 ICERD in der Allgemeinen Empfehlung XXXI über die Verhütung von rassistischer Diskriminierung in der Strafrechtspflege und im Strafjustizsystem im Jahr 2005 konkretisiert und näher ausgeführt, welche Verpflichtungen sich aus der Konvention für die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte ergeben.113 Dabei geht 109 Vgl. unter Annahme einer expressiven Straftheorie auch Kauppinen, Hate and Punishment, Journal
of Interpersonal Violence 30 (2015), S. 1719 ff., die sich als Reaktion auf „hate crimes“ allerdings für eine Strafschärfung ausspricht. 110 Geschke/Quent (Fn. 30), S. 490. Nach der Selbstenttarnung des NSU kam es zu verschiedenen außerrechtlichen (Gedenkveranstaltungen, Entschuldigungen, Benennung von Straßen/Plätzen, Solidaritätsveranstaltungen etc.) und rechtlichen (Untersuchungsausschüsse, Strafverfahren etc.) Reaktionen, durch die der rassistische und rechtsextreme Tathintergrund zurückgewiesen und den Opfern bzw. ihren Angehörigen gegenüber Solidarität ausgesprochen wurde. 111 Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat sich, unter dem Arbeitsfeld „tolerance and non-discrimination“ in den letzten Jahren wiederholt mit dem Thema Hasskriminalität befasst; vgl. www.osce.org/tolerance-and-nondiscrimination. In den Beschlüssen des Ministerrats aus dem Jahr 2009 zur „Bekämpfung von Hassverbrechen“ verpflichten sich die Teilnehmerstaaten – damit auch Deutschland – unter anderem dazu, sicherzustellen, dass mögliche Vorurteilsmotive effektiv ermittelt, strafschärfend berücksichtigt und von offizieller Seite anerkannt und verurteilt werden; vgl. OSZE Ministerrat, Decision No. 9/09, Combating Hate Crimes v. 1.–2.12.2009. Besonders hervorgehoben wird von der OSZE zudem die statistische Erfassung von Vorurteilskriminalität, vgl. http://hatecrime.osce.org. 112 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung v. 7.3.1966, BGBl. 1969 II, S. 961. Die Konvention wurde von Deutschland im Februar 1967 unterzeichnet und im Mai 1969 ratifiziert. 113 CERD, General Recommendation XXXI on the Prevention of Racial Discrimination in the Administration and Functioning of the Criminal Justice System v. 28.8.2004, UN Doc. A/60/18, S. 98. Eine (nichtJulia Geneuss
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es neben dem Schutz vor Diskriminierung von Personen im Strafverfahren darum, Taten mit einem rassistischen Hintergrund konsequent zu verfolgen und den Opfern ausreichend Gehör zu schenken. So heißt es in Empfehlung Nr. 6, dass wirksamer Rechtsschutz gegen rassistisch diskriminierende Handlungen gewährt werden muss, unabhängig davon, ob diese Handlungen von Privatpersonen oder Staatsbediensteten begangen worden sind. In Empfehlung Nr. 11 heißt es, dass Anzeigen von Opfern rassistischer Handlungen sofort aufgenommen, Ermittlungen unverzüglich, wirksam, unabhängig und unparteiisch durchgeführt und Unterlagen zu derartigen Vorfällen aufbewahrt und in Datenbanken aufgenommen werden sollen. Schließlich sind nach Empfehlung Nr. 15 auch geringfügige rassistisch motivierte Straftaten strafrechtlich zu verfolgen, „da jede rassisch motivierte Straftat den sozialen Zusammenhalt und die Gesellschaft als Ganzes untergräbt“. Unterlassen die Strafverfolgungsbehörden trotz Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für ein rassistisches Tatmotiv dahingehende Ermittlungen, liegt eine Verletzung von Art. 6 ICERD vor.114 Aus dem Unionsrecht ist schließlich ein Rahmenbeschluss aus dem Jahr 2008 zur straf- 44 rechtlichen Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu erwähnen.115 Der Rahmenbeschluss betrifft zwar hauptsächlich das Phänomen „Hassrede“, in Artikel 4 werden die Mitgliedstaaten jedoch verpflichtet sicherzustellen, „dass rassistische und fremdenfeindliche Beweggründe entweder als erschwerender Umstand gelten oder dass solche Beweggründe bei der Festlegung des Strafmaßes durch die Gerichte berücksichtigt werden können“.116 Auch daraus lässt sich eine Pflicht zur möglichst sorgfältigen Ermittlung einer rassistischen Vorurteilsmotivation ableiten. III. Verletzung des Diskriminierungsverbots aus Art. 14 EMRK
Im Zentrum der europarechtlichen Verpflichtung zur effektiven strafrechtlichen Ermitt- 45 lung eines möglichen rassistischen und diskriminierenden Motivs einer Straftat steht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).117 Der amtliche) deutsche Übersetzung der Empfehlung durch das BMJ und das Auswärtige Amt ist online über die Homepage des BMJ abrufbar. 114 Vgl. hierzu auch das Verfahren CERD, Decision v. 6.3.2012, Communication No. 46/2009, Mahali Dawas and Yousef Shava v. Denmark, UN Doc. CERD C/80/D/46/2009: Beschwerdeführer des Verfahrens waren zwei als Flüchtlinge anerkannte in Dänemark wohnende irakische Staatsangehörige (Vater und Sohn). Im Juni 2004 wurde die Familie der Beschwerdeführer in ihrem Haus von 15 bis 20 Jugendlichen attackiert. Trotz vorliegender tatsächlicher Anhaltspunkte auf ein rassistisches Motiv unterließen die dänischen Strafverfolgungsbehörden Ermittlungen in diese Richtung. Entsprechend wurde eine mögliche rassistische Tatmotivation im Urteil außer Acht gelassen. Nach Auffassung des Ausschusses und unter Bezugnahme auf die Allgemeinen Empfehlung XXXI (Fn. 113) stelle dies eine Verletzung von Art. 6 ICERD dar. 115 Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit v. 28.11.2008, ABl. 2008 L 328/55. 116 Der im Jahr 2015 aufgenommene § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB wird auch als Umsetzung von Art. 4 des Rahmenbeschlusses begriffen, obwohl die Gesetzesänderung nicht zwingend erforderlich war, da schon davor eine Berücksichtigung der Vorurteilsmotive im Rahmen der Strafzumessung möglich gewesen ist. Die Einführung spezifischer Straftatbestände gibt der Rahmenbeschluss nicht vor. 117 Ausführlich Mačkić, Proving Discriminatory Violence at the European Court of Human Rights, 2018; Julia Geneuss
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Gerichtshof hat mehrfach betont, dass Hass- bzw. Vorurteilskriminalität Besonderheiten gegenüber „gewöhnlicher“ Kriminalität aufweist und gerade rassistische Gewalt einen besonderen Angriff auf die Menschenwürde darstellt. Staaten unterlägen daher einer besonderen Ermittlungspflicht. 46 Normativer Anknüpfungspunkt der Ermittlungspflicht sind dabei zunächst Art. 2 und 3 EMRK – das Recht auf Leben und das Verbot der Folter. Aus der verfahrensrechtlichen Dimension dieser Konventionsgarantien leitet der EGMR bei Tötungs- und schweren Gewaltdelikten eine generelle Pflicht zur effektiven und umfassenden strafrechtlichen Ermittlung der Taten ab. Bestehen darüber hinaus Anhaltspunkte, dass die Tat einen rassistischen – oder sonst vorurteilsmotivierten – Hintergrund hat, ergibt sich aus der verfahrensrechtlichen Dimension des Art. 14 EMRK, dem akzessorischen Verbot von Diskriminierung bei Beanspruchung der Konventionsrechte,118 zudem die Pflicht zu einer effektiven Ermittlung der rassistischen oder sonst vorurteilsmotivierten Tathintergründe.119 47 Der Grundstein für diese mittlerweile gefestigte Rechtsprechung wurde im Jahr 2003 in Menson u. a. v. UK gelegt.120 Gestützt auf Art. 2 EMRK nahm der Gerichtshof hier bei Tötungsdelikten (privater Dritter) eine Ermittlungspflicht des Staates an.121 Weiter führt der Gerichtshof aus: „The Court would add that, where that attack is racially motivated, it is particularly important that the investigation is pursued with vigour and impartiality, having regard to the need to reassert continuously society’s condemnation of racism and to maintain the confidence of minorities in the ability of the authorities to protect them from the threat of racist violence.“122 In Nachova u. a. v. Bulgaria entwickelte die Große Kammer des EGMR im Juli 2005 sodann zum ersten Mal eine sich aus Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 2 EMRK ergebende verfahrensrechtliche Pflicht, bei vorliegenden Anhaltspunkten ein mögliches rassistisches Motiv eines von einem Polizisten begangenen Tötungsdelikts zu vgl. auch Gerards, Prohibition of Discrimination, in: van Dijk u. a. (Hrsg.), Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 5. Aufl. 2018, S. 997 (1008 ff.). EGMR-Urteile wirken nach Art. 46 Abs. 1 EMRK zwar nur inter partes, so dass nur die beiden Vertragsparteien des Verfahrens an das konkrete Urteil gebunden sind. Gleichwohl ist mittlerweile anerkannt, dass den Urteilen auch eine gewisse ergaomnes-Wirkung zukommt, zwar nicht im Sinne einer rechtlichen Umsetzungsverpflichtung, doch kommt den generalisierbaren Aussagen des Urteils eine Orientierungs- und Leitfunktion zu und die konventionsfreundliche Auslegung und Anwendung des Rechts verlangt es, Verstöße nach Möglichkeit zu vermeiden, vgl. nur Grabenwarter, Wirkungen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, JZ 2010, S. 857 (861). 118 Art. 14 EMRK hat akzessorischen, d. h. nicht-selbständigen Charakter und greift nur im Zusammenhang mit einem anderen Konventionsrecht. Verboten wird die Diskriminierung bei Ausübung eines Konventionsrechts: Die Beanspruchung der Konventionsgarantien muss ohne jegliche Unterscheidung, insbesondere in Bezug auf die Sprache, die Konfession oder die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, sichergestellt sein. Vgl. hierzu nur Peters/König, Das Diskriminierungsverbot, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Bd. II, 2. Aufl. 2013, Kap. 21 Rn. 31 ff. Das 12. Zusatzprotokoll zur EMRK, das im Jahr 2005 in Kraft getreten ist, enthält ein selbständiges und umfassendes Diskriminierungsverbot. Das Protokoll ist allerdings nur von wenigen Staaten ratifiziert worden. Deutschland hat es gezeichnet, aber nicht ratifiziert; vgl. Meyer-Ladewig, in: ders./Nettesheim/v. Raumer (Hrsg.), EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 14 Rn. 3 f. 119 Mačkić (Fn. 117), S. 66 ff. 120 EGMR, Beschl. v. 6.5.2003, Beschwerde-Nr. 47916/99, Menson u. a. v. Vereinigtes Königreich. 121 EGMR, Beschl. v. 6.5.2003, Beschwerde-Nr. 47916/99, Menson u. a. v. Vereinigtes Königreich, S. 13. 122 EGMR, Beschl. v. 6.5.2003, Beschwerde-Nr. 47916/99, Menson u. a. v. Vereinigtes Königreich, S. 13 f. Julia Geneuss
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ermitteln und offen zu legen.123 Denn: „Failing to do so and treating racially induced violence and brutality on an equal footing with cases that have no racist overtones would be to turn a blind eye to the specific nature of acts that are particularly destructive of fundamental rights.“124 Nach Nachova wurde die Pflicht zur Ermittlung eines möglichen Vorurteilsmotivs vom EGMR in verschiedener Hinsicht erweitert. So stützte der Gerichtshof eine entsprechende Ermittlungspflicht in Bekos and Koutropoulos v. Greece im Dezember 2005 bei Misshandlungen durch Polizisten auf Art. 3 – Verbot der Folter – i. V. m. Art. 14 EMRK.125 In Šečić v. Croatia entschied der Gerichtshof im Mai 2007, dass auch dann eine staatliche Pflicht zur Ermittlung rassistischer Motive nach Art. 14 i. V. m. Art. 3 EMRK bestehe, wenn die Gewalt nicht von staatlichen Akteuren, sondern von privaten Dritten ausging.126 Nur wenig später, im Juli 2007 im Verfahren Angelova and Iliev v. Bulgaria, stützte der EGMR die Pflicht zur Ermittlung rassistischer Motive bei Tötungen durch private Dritte auf Art. 14 i. V. m. Art. 2 EMRK.127 In verschiedenen Verfahren erweiterte der EGMR seine Rechtsprechung zur Ermittlungspflicht schließlich auf anderweitig vorurteilsmotivierte Gewaltstraftaten (z. B. religiös, homophob oder politisch motivierte Taten).128 Im April 2016, in R. B. v. Hungary, gründete der EGMR die Pflicht der Strafverfolgungsbehörden zur Ermittlung rassistischer Motive bei Taten, die die Schwelle des Art. 3 EMRK nicht erreichten, auf Art. 8 EMRK, dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.129 Schließlich entschied der EGMR 2017 in Škorjanec v. Croatia, dass die Ermittlungspflicht auch in Fällen einer „Diskriminierung aufgrund Näheverhältnisses“ (discrimination by association) greift, das heißt in Fällen, in denen eine Person nicht wegen ihrer eigenen tatsächlichen oder vermeintlichen Merkmale angegriffen wird, sondern wegen ihrer Verbindung zu einer Person mit diesen Merkmalen.130 Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass der EGMR in seiner Rechtsprechung die Kon- 48 ventionsstaaten bei Vorliegen entsprechender konkreter Anhaltspunkte umfassend zur sorgfältigen und effektiven Ermittlung eines rassistischen oder sonst vorurteilsmotivierten Tathintergrundes verpflichtet.131 Eine Gleichbehandlung derartig verschiedener Sachver123 EGMR, Urt. v. 6.7.2005, Beschwerde-Nr. 43577/98, 43579/98, Nachova u. a. v. Bulgarien; das Urteil
der Großen Kammer basiert weitgehend auf dem erstinstanzlichen Urteil vom 26.2.2004.
124 EGMR, Urt. v. 6.7.2005, Beschwerde-Nr. 43577/98, 43579/98, Nachova u. a. v. Bulgarien, Rn. 160
(Zitat aus dem erstinstanzlichen Urteil, Rn. 156–159). 125 EGMR, Urt. v. 13.12.2005, Beschwerde-Nr. 15250/02, Bekos and Koutropoulos v. Griechenland. 126 EGMR, Urt. v. 31.5.2007, Beschwerde-Nr. 40116/02, Šečić v. Kroatien. 127 EGMR, Urt. v. 26.7.2007, Beschwerde-Nr. 55523/00, Angelova and Iliev v. Bulgarien. 128 Vgl. EGMR, Urt. v. 14.12.2010, Beschwerde-Nr. 44614/07, Milanović v. Serbien (religiös motivierte Gewaltkriminalität); EGMR, Urt. v. 2.10.2012, Beschwerde-Nr. 40094/05, Virabyan v. Armenien (politisch motivierte Gewaltkriminalität); EGMR, Urt. v. 12.5.2015, Beschwerde-Nr. 73235/12, Identoba u. a. v. Georgien (homophob motivierte Gewaltkriminalität). 129 EGMR, Urt. v. 12.4.2016, Beschwerde-Nr. 64602/12, R. B. v. Ungarn. 130 EGMR, Urt. v. 28.3.2017, Beschwerde-Nr. 25536/14, Škorjanec v. Kroatien. 131 Im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des EGMR ist zudem noch die 1993 vom Europarat gegründete Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (European Commission against Racism and Intolerance, ECRI) zu nennen. Aufgabe von ECRI ist die Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Intoleranz auf der Grundlage der EMRK, des 12. Zusatzprotokolls zur Julia Geneuss
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halte – mutmaßlich rassistisch motivierte Kriminalität einerseits und Kriminalität ohne rassistisches Tatmotiv andererseits – sei mit dem Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK nicht zu vereinbaren.132 Angesichts der Schwierigkeiten bei der Ermittlung rassistischer Tathintergründe ist die gesteigerte Ermittlungspflicht freilich nicht absolut zu verstehen; es handelt sich um eine Verhaltens-, keine Ergebnispflicht, mit dem Ziel, eventuelle Vorurteilmotive zu identifizieren und dokumentieren.133 Die Strafverfolgungsbehörden müssten dafür alle den Umständen angemessenen Maßnahmen ergreifen, um Beweise zu sammeln und zu sichern, alle praktischen Mittel zur Wahrheitsfindung unternehmen und begründete, unabhängige und objektive Entscheidungen treffen, ohne verdächtige Tatsachen außen vor zu lassen, die auf rassistisch oder sonst vorurteilsmotivierte Gewalt hinwiesen.134
E. Verkennen von Vorurteilsmotiven 49 Im Zusammenhang mit der Ermittlung der Vorurteilsmotivation von Straftaten wird seit
Längerem auf verschiedene Unzulänglichkeiten und Probleme hingewiesen. Diese werden zum einen auf die Praxis der statistischen Erfassung von Vorurteilskriminalität zurückgeführt (dazu I.). Zum anderen werden sie sowohl mit einer Mischung aus individuellen bewussten und unbewussten Vorurteilen und institutionellen Vorurteilsstrukturen als auch verschiedenen Kenntnis- und Wissenslücken (dazu II.) erklärt. 50 Im deutschen Strafrecht findet sich die Berücksichtigung rassistischer etc. Tatmotive post-NSU ausdrücklich nach § 46 Abs. 2 StGB auf Ebene der Strafzumessung. Da die Tatmotive als Umstände, die für die Bestimmung der Rechtsfolgen von Bedeutung sind, nunmehr auch ausdrücklich zu den materiellen Merkmalen der Tat, auf die sich die Ermittlung zu erstrecken hat, gehören, wird ihre Ermittlung über § 160 Abs. 3 StPO (und Nr. 15 RiStBV ) frühzeitig in die polizeiliche und staatsanwaltliche Arbeit hineingezogen.135 EMRK und der Rechtsprechung des EGMR. Hierzu erstellt ECRI Länderberichte und spricht allgemeine Empfehlungen aus. 132 Peters/König (Fn. 118), Kap. 21 Rn. 94 (Gebot der Ungleichbehandlung relevant unterschiedlicher Sachverhalte). 133 EGMR, Urt. v. 6.7.2005, Beschwerde-Nr. 43577/98, 43579/98, Nachova u. a. v. Bulgarien, Rn. 160. 134 EGMR, Urt. v. 6.7.2005, Beschwerde-Nr. 43577/98, 43579/98, Nachova u. a. v. Bulgarien, Rn. 160. Vgl. auch Mačkić (Fn. 117), S. 66 ff. 135 Ausweislich der Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/3007, S. 7, erhoffte man sich, dass die Strafverfolgungsbehörden schon frühzeitig besondere Sorgfalt auf die Aufklärung nicht nur der Taten, sondern gerade auch einschlägiger Tatmotive legen; dazu auch Lang (Fn. 31), S. 3. Zu den positiven Effekten der Änderung des § 46 Abs. 2 StGB in der Praxis, vgl. Lang, Schutz von Menschenrechten oder „Gesinnungsjustiz“, in: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hrsg.), Gewalt gegen Minderheiten, 2018, S. 131 ff. (133). Nach Nr. 86 RiStBV gilt zudem bei Privatklagesachen, dass bei Vorliegen rassistischer, „fremdenfeindlicher“ oder sonst menschenverachtender Beweggründe ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung in der Regel vorliegt, weil der Rechtsfrieden über den Lebenskreis der betroffenen Person hinaus verletzt ist und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist. Ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung liegt nach Nr. 234 bei rassistischen, „fremdenfeindlichen“ oder sonstigen menschenverachtenden Beweggründen für eine Körperverletzung vor (vgl. § 230 Abs. 1 StGB). Julia Geneuss
E. Verkennen von Vorurteilsmotiven
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I. Klassifizierung
Ungeachtet dieser legislativen Bemühungen um eine bessere Aufklärung vorurteilsmoti- 51 vierter Straftaten wird seit Längerem auf das Grundproblem des verengten Verständnisses von Vorurteilskriminalität hingewiesen, welches auf das bestehende System der statistischen Erfassung von rassistischer oder sonst vorurteilsmotivierter Kriminalität als „politisch motivierte Kriminalität“ (PMK) zurückgeführt wird und das regelmäßig zu einem Verkennen oder Vernachlässigen des Vorurteilsmotivs und in der Folge zu einer Geringdokumentation und damit einem systematischen Unterschätzen des Phänomens führe.136 1. PMK-System
In Deutschland wird rassistische oder sonst vorurteilsmotivierte Kriminalität – dort als 52 „Hasskriminalität“ bezeichnet – durch das „Definitionssystem Politisch motivierte Kriminalität“ (PMK-System) erfasst. Wie bei allen Kriminalitätsstatistiken wird hier nur das Hellfeld, das heißt die (polizeilich) bekannt gewordenen Straftaten, abgebildet. Gerade im Bereich der Vorurteilskriminalität wird jedoch – auch international137 – von einem umfangreichen Dunkelfeld ausgegangen.138 Ein Grund hierfür liegt dabei in dem „besonders strukturierten Anzeigeverhalten“ der von vorurteilsmotivierten Straftaten betroffenen Personen.139 Bei der PMK-Statistik handelt es sich – im Gegensatz zur allgemeinen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), die eine Ausgangsstatistik ist140 – um eine polizeiliche Eingangsstatistik. Das bedeutet, dass Straftaten bereits bei der Aufnahme der polizeilichen Ermittlungen und damit beim ersten Anfangsverdacht klassifiziert und statistisch erfasst werden. Die PMK-Statistik bildet mithin nicht das tatsächliche Vorliegen politisch motivierter Kriminalität ab, sondern dokumentiert (wie jede Polizeistatistik) das polizeiliche 136 Ausführlich Habermann/Singelnstein, Praxis und Probleme bei der Erfassung politisch rechtsmoti-
vierter Kriminalität durch die Polizei, in: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hrsg.), Gewalt gegen Minderheiten, 2018, S. 18 ff. Untermauert wird diese Kritik mit dem Hinweis auf eine signifikante Diskrepanz zwischen den offiziell erfassten Zahlen und der inoffiziellen Dokumentation durch zivilgesellschaftliche Organisationen und Anlaufstellen für Betroffene, aber auch Journalisten und Wissenschaftlerinnen; vgl. nur Schellenberg, Hasskriminalität und rassistische Gewalt, in: Ellebrecht/Kaufmann/Zoche (Hrsg.), (Un-)Sicherheiten im Wandel, 2019, S. 43 (53 ff.). Die korrekte Erfassung des Vorurteilsmotivs ist dabei für den Einzelfall von Bedeutung, da von der Bewertung der Straftat abhängt, wer die weiteren Ermittlungen betreibt (die Einordnung einer Straftat als vorurteils- und damit politisch motivierte Kriminalität begründet die Zuständigkeit der polizeilichen Staatsschutzeinheiten), welche Tathypothese angenommen wird und welche strafprozessualen Maßnahmen ergriffen werden. Wie beim NSU-Komplex deutlich wurde, können die Ermittlungen an diesem neuralgischen Punkt eine Fehlentwicklung nach sich ziehen. Das Verkennen und Vernachlässigen von Vorurteilskriminalität wirkt sich jedoch auch auf die statistische Erfassung von rassistisch und sonst vorurteilsmotivierter Kriminalität aus, die diese als Gesamtphänomen sichtbar werden lässt. Die Statistiken sind daher Grundlage des gesellschaftlichen und politischen Diskurses und gerade auch die Entwicklung der Zahlen über die Jahre bildet den Ausgangspunkt für (kriminal-) politische exekutive oder legislative Maßnahmen und Ressourcenallokation. 137 Vgl. z. B. Pezzella/Fetzer/Keller (Fn. 31). 138 Coester (Fn. 100), S. 171; vgl. schon oben unter Rn. 14 (B.) und in Fn. 30. 139 Habermann/Singelnstein (Fn. 136), S. 26. 140 Das bedeutet, dass die statistische Erfassung zu dem Zeitpunkt erfolgt, wenn die polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen (endbearbeitet) sind und die Akte an die Staatsanwaltschaft abgegeben wird. Julia Geneuss
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§ 27 Diskriminierungsschutz in der Strafrechtspflege
Registrierungsverhalten, das heißt die Entscheidung der Polizei, eine Tat zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens als politisch motiviert einzuordnen.141 53 Da es sich bei der PMK-Statistik um eine Eingangsstatistik handelt, ist für die Frage, ob politisch motivierte Kriminalität vorliegt, die Einschätzung der zuerst mit der Sache befassten Polizeibeamt/innen entscheidend: Wird die Tat von ihnen als politisch motiviert eingeordnet, wird der Vorgang in der PMK-Statistik erfasst. Wird die Tat als nicht politisch motiviert eingeordnet, wird sie als gewöhnliche Kriminalität weiterverarbeitet; in diesem Fall gelangt zwar das Grunddelikt ins Hellfeld, das Vorurteilsmotiv bleibt jedoch im Dunkeln.142 Stellt sich im weiteren Verlauf der Ermittlungen, gegebenenfalls auch erst bei der Staatsanwaltschaft oder im gerichtlichen Verfahren, heraus, dass eine Tat falsch und nicht als politisch motiviert kategorisiert wurde, besteht innerhalb einer Frist die Möglichkeit einer Nachmeldung oder Korrektur.143 Stellt sich ein rassistisches oder sonst diskriminierendes Motiv erst im Laufe des Verfahrens heraus, bleibt dies in der Regel unberücksichtigt. Daher werden auch die Tötungsdelikte des NSU, wenngleich offiziell als „rechtsmotiviert“ anerkannt, von der PMK-Statistik nicht erfasst: Da das rassistische und politische Motiv der Morde erst Jahre nach ihrer Begehung bekannt wurde, konnten sie nicht mehr nachgemeldet werden.144 54 Das PMK-System ist komplex und wenig transparent.145 Erfasst werden neben bestimmten Staatsschutzdelikten (im weiteren Sinne), bei denen die politische Motivation der Täter automatisch angenommen wird,146 auch gewöhnliche Straftaten, bei denen sich der politische Bezug aus den Umständen der Tat und/oder der Einstellung des Täters ergibt. Anhaltspunkt für politisch motivierte Straftaten ist danach unter anderem, wenn sie „gegen eine Person gerichtet sind, wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht bzw. 141 Habermann/Singelnstein (Fn. 136), S. 26; Presse/Bachmann, Fremdenfeindliche Straftaten und ihre
statistische Erfassung, NK 2010, S. 98 ff. (101). Vgl. auch Derin/Singelnstein, Amtliche Kriminalstatistiken als Datenbasis in der empirischen Polizeiforschung, in: Howe/Ostermeier (Hrsg.), Polizei und Gesellschaft, 2019, S. 207 (211 f.). 142 Habermann/Singelnstein (Fn. 136), S. 28. 143 Die Nachmeldung ist bis zum 31. Januar des Folgejahres möglich. In der Praxis geschieht dies allerdings eher selten, und wenn, dann nur bei schwerwiegenden Delikten (z. B. Tötungsdelikten); vgl. Habermann/Singelnstein (Fn. 136), S. 23. 144 Vgl. die Auflistung in BT-Drs. 19/2456; dazu auch: Gewalttaten des NSU gelten offiziell nicht als politisch motiviert, Zeit online v. 9.9.2018. Die Bundesregierung hat die Opfer des NSU im Februar 2012 offiziell als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt, vgl. BT-Drs. 19/2769. 145 Ausführliche Darstellung des PMK-Systems bei Lang (Fn. 31), S. 64 ff. und Glet, Sozialkonstruktion und strafrechtliche Verfolgung von Hasskriminalität in Deutschland, 2011, S. 81 ff.; vgl. auch Singer, Erfassung politisch motivierter Kriminalität, Kriminalistik 1 (2004), S. 35 ff. 146 Zu diesen Straftaten gehören neben den (echten) Staatsschutzdelikten (Friedensverrat, §§ 80, 80a StGB, Hochverrat §§ 81–83a StGB und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, §§ 84–91 StGB) beispielsweise die Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen (§ 86 StGB) oder die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB). Julia Geneuss
E. Verkennen von Vorurteilsmotiven
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sich in diesem Zusammenhang gegen eine Institution/Sache oder ein Objekt“ richtet.147 Dabei ist nach einer zum 1.1.2017 wirksam gewordenen (Fußnoten-)Ergänzung „[b]ei der Würdigung der Umstände der Tat […] neben anderen Aspekten auch die Sicht der/des Betroffenen mit einzubeziehen“.148 Die so als „politisch“ definierten Straftaten werden sodann innerhalb des PMK-Systems 55 weiter klassifiziert, wobei zunächst eine Zuordnung zu einem von fünf Phänomenbereichen – rechts, links, ausländische Ideologie, religiöse Ideologie und „nicht zuzuordnen“ – erfolgt.149 Innerhalb der Phänomenbereiche werden die Straftaten weiter anhand eines Themenfeldkatalogs, der als „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft ist und sich aus über 20 Oberbegriffen, rund 120 Unterthemen sowie einem „Politischen Kalender“ mit mehr als 100 Einträgen zusammensetzt, weiter kategorisiert.150 „Hasskriminalität“ ist einer der Oberbegriffe, dem wiederum verschiedene Unterthemen zugeordnet sind, darunter „fremdenfeindliche“, rassistische, antisemitische, antiziganistische, christenfeindliche oder islamfeindliche Taten, sowie Taten, die sich gegen die sexuelle Orientierung, Religion, eine Behinderung, den sozialen Status oder gegen die sonstige ethnische Zugehörigkeit des Opfers richten.151 2. Das verengte Verständnis von „Hasskriminalität“
Der wohl größte Kritikpunkt am PKM-System ist, dass Vorurteilskriminalität als politisch 56 motivierte Kriminalität erfasst und in der Regel mit einer eindeutig politisch rechten oder rechtsextremen Ideologie und Straftaten von Mitgliedern organisierter Gruppierungen 147 Vgl. BKA Kommission Staatsschutz, Definitionssystem Politisch motivierte Kriminalität v. 8.12.2016,
S. 5. Weitere Anhaltspunkte für eine politisch motivierte Straftat sind: (i) Die Tat soll den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen, soll der Erreichung oder Verhinderung politischer Ziele dienen oder sich gegen die Realisierung politischer Entscheidungen richten. (ii) Die Tat richtet sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung bzw. eines ihrer Wesensmerkmale, den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes, oder hat eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziel. (iii) Die Tat gefährdet durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. 148 Vgl. Kleffner, Die Reform der PMK-Definition und die anhaltenden Erfassungslücken zum Ausmaß rechter Gewalt, in: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hrsg.), Gewalt gegen Minderheiten, 2018, S. 33 ff. (34 f.). 149 Vgl. zum Ganzen auch Lang, Rassistische Straftaten, Warum behördliche Statistiken nicht aussagekräftig sind, Expertise für den Mediendienst Integration, Oktober 2018, S. 3. 150 Es handelt sich um ein „rein polizeiliches Arbeitsmittel“, BT-Drs. 17/14751, S. 2. Der Themenfeldkatalog, der auf Empfehlung des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages zum Januar 2017 überarbeitet wurde (vgl. BT UA I, S. 861), hat die Aufgabe, „die Zielrichtung bzw. Motivlage politisch motivierter Taten oder der Täter und die Umstände der Tat zu beschreiben“; vgl. BT-Drs. 17/14751, S. 2. Unter dem Oberbegriff politischer Kalender finden sich die Daten verschiedener Ereignisse der Geschichte Deutschlands sowie der Weltpolitik, z. B. Straftaten, die im Zusammenhang mit dem Todestag von Rudolf Hess begangen werden. 151 Weitere Oberbegriffe sind z. B. Ausländer-/Asylthematik, Innen-/Sicherheitspolitik, Konfrontation/ Politische Einstellung, Nationalsozialismus/Sozialdarwinismus. Zum 1.1.2017 wurde zudem das Oberthema „Hasspostings“ eingeführt. Vgl. Schellenberg (Fn. 136), S. 45 f. Julia Geneuss
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assoziiert wird.152 Dieses enge Begriffsverständnis ist auf den Umstand zurückzuführen, dass „Hasskriminalität“ in ein bestehendes statistisches Erfassungssystem aufgenommen wurde, das traditionell auf extremistisch motivierte (Staatsschutz-)Delikte ausgerichtet war.153 Über den Extremismusbegriff wurden (und werden) in den Staatsschutzdelikten bestimmte politische Ideologien jenseits des demokratischen Spektrums verortet und als Angriffe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung kriminalisiert.154 Angriffe gegen Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Gruppenzugehörigkeit, also Minderheitenschutz, spielten hier keine Rolle, da sie für das im Grundgesetz verfasste System nicht als Bedrohung angesehen wurden.155 Erst nach den schweren rassistischen Gewaltverbrechen und pogromartigen Ausschreitungen der 1990er Jahre wurde im Jahr 2001 das PMK-System eingeführt.156 Erfasst wird seitdem, wie skizziert, neben Staatsschutzdelikten und Straftaten mit einem engen Staatsbezug nun auch „Hasskriminalität“. Damit fand zwar eine gewisse Abwendung vom Extremismusbegriff statt, gleichzeitig werden vorurteilsmotivierte Straftaten weiterhin als vom Täter stets politisch motiviert verstanden. Das der PMK-Statistik zu Grunde liegende Konzept der Hass- bzw. Vorurteilskriminalität ist durch das (staats)politische Element im Vergleich zu z. B. den USA, wo das Konzept von „hate crime“ im Zuge der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung entwickelt wurde und im unmittelbaren Kontext von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsmaßnahmen zu verstehen ist, hingegen verschoben und enger.157 Entsprechend
152 Vgl. Glet (Fn. 145), S. 90 f.; Lang (Fn. 31), S. 62 ff. Problematisch ist diese Assoziation auch bei anti-
semitisch motivierten Straftaten, die, sofern keine weiteren Anhaltspunkte vorliegen, im Zweifel dem Phänomenbereich PMK-rechts zugeordnet werden. Vgl. hierzu auch den Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus v. 7.4.2017, BT-Drs. 18/11970, S. 34. 153 Vgl. Lang (Fn. 135), S. 137; Schellenberg, Strategien gegen Rechtsextremismus und Vorurteilskriminalität, in: FS Weidenfeld, 2012, S. 419 ff. (420 ff.); dies. (Fn. 136), S. 44. Vor der PMK-Statistik existierte die im Jahr 1959 eingeführte „Polizeiliche Kriminalstatistik-Staatsschutz“ (PKS-S) sowie der 1961 eingeführte „Kriminalpolizeiliche Meldedienst in Staatsschutzsachen“ (KPMD-S). Mit dem KPMD-S wurden bundesweit Straftaten mit einer extremistischen Motivation erfasst. Erst ab 1992 wurden in dem KPMD-S auch „fremdenfeindlich“, ab 1993 auch „antisemitisch“ motivierte Straftaten zur Meldung ausgewiesen. Diese Begriffe wurden jedoch eng verstanden und aus Tätersicht als Straftaten gegen Personen verstanden, „denen die Täter […] ein Bleibe- oder Aufenthaltsrecht in ihrer Wohnumgebung oder in Deutschland bestreiten“; vgl. Presse/Bachmann (Fn. 141), S. 98 f. („Ausdruck ‚privater Abschiebung‘“). Ausführliche Übersicht über die Entwicklung der statistischen Erfassung politisch motivierter Kriminalität bei Lang (Fn. 31), S. 53 ff. 154 Vgl. auch BMI/BMJ (Hrsg.), Erster Periodischer Sicherheitsbericht, 2001, S. 268: Arbeitsdefinition Extremismus: „Bestrebungen zur Systemüberwindung, die sich auch unter Anwendung von Gewalt gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten“. 155 Vgl. Lang (Fn. 135), S. 137. 156 Die Änderungen wurden am 10.5.2001 rückwirkend zum 1.1.2001 verabschiedet; vgl. Lang (Fn. 31), S. 59 f. Zu den Gründen der Änderungen vgl. auch BMI/BMJ (Fn. 154), S. 275. 157 Vgl. nur Schellenberg (Fn. 136), S. 48: Extremismus und PMK mit „hate crime“ nicht kompatibel; grundverschiedene Perspektivierungen; dem Konzept der Vorurteilskriminalität wird seine Essenz genommen. Vgl. auch Coester (Fn. 100), S. 168, der darauf hinweist, dass vermutet werden kann, dass in beiden Ländern unterschiedliche Phänomene registriert werden und ein Teil der in Deutschland begangenen Vorurteilskriminalität nicht als solche erkannt und erfasst wird. Julia Geneuss
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steht bei der Klassifizierung einer Tat nicht die Opferperspektive im Vordergrund, sondern die politische und ideologische Verortung der Täter.158 Über die statistische Erfassung vermittelt und institutionalisiert sich so die Normalfall- 57 Vorstellung einer rassistischen oder sonst vorurteilsmotivierten Tat als rückgebunden an eine rechtsextreme Struktur oder Gruppierung, jedenfalls aber von Tätern mit einer ausgeprägten und gefestigten Ideologie. Dies kann dazu führen, dass bei Taten, die Anhaltspunkte auf ein individuell (alltags)rassistisches oder sonst diskriminierendes Tatmotiv bieten, von den Strafverfolgungsbehörden mitunter gleichwohl auf alternative, nicht politische Tathintergründe verwiesen und die Tat als gewöhnliche Kriminalität eingeordnet wird.159 Ein großer Teil rassistisch und vorurteilsmotivierter Kriminalität wird durch diesen Fokus auf einen organisiert-rechtsextremen Begriff entpolitisiert und bleibt als Vorurteilskriminalität im Dunkeln.160 II. Individuelle und institutionelle Einflüsse bei der Feststellung von Vorurteilsmotiven
Da es sich bei der PMK-Statistik um eine polizeiliche Eingangsstatistik handelt, sind für 58 die Motiverkennung und Klassifizierung die erstermittelnden Polizeibeamt/innen zuständig.161 Ihnen kommt im PMK-System die „Definitionsmacht“162 bei der Einordnung der Straftat als politische Tat und ihrer weiteren Klassifizierung als „Hasskriminalität“ zu. Das Motiv für eine Straftat ist freilich selten auf den ersten Blick und auch sonst schwierig zu bestimmen, insbesondere bei Taten, bei denen (noch) keine tatverdächtige Person ermittelt wurde, wie es auch bei den Verbrechen des NSU der Fall war.163 Regelmäßig dienen daher die äußeren Umstände der Tat als Indiz für eine rassistische oder sonst vorurteilsmotivierte Tatmotivation.164 Während des Einordnungsprozesses kommt den Polizist/innen dabei ein Bewertungsspielraum zu, der Raum für sich gegenseitig überlagernde Fehleinschätzungen, rassistische oder sonst vorurteilsbelastete Einstellungen und individuelle oder institutionelle biases und kognitive Verzerrungen eröffnet.165 158 Schellenberg (Fn. 153), S. 421 ff. 159 Anschauliches Beispiel bei Schellenberg (Fn. 136), S. 50 f. (Brandanschlag auf von Flüchtlingen be-
wohntes Haus aus „Verärgerung“ über deren Einzug ist laut Staatsanwalt eine persönliche, keine politische Überzeugung). 160 Vgl. Schellenberg (Fn. 153), S. 423. Wird, etwa von zivilgesellschaftlichen Organisationen, den Medien oder auch der Wissenschaft, ähnlich wie in den USA, die Opferperspektive eingenommen, fallen die Zahlen rassistisch motivierter Kriminalität deutlich höher aus als in der offiziellen PMK-Statistik. 161 Zum Ablauf der Erfassung Lang (Fn. 31), S. 107 ff.; zur polizeilichen Erfassung auch Glet (Fn. 145), S. 87 ff. 162 Habermann/Singelnstein (Fn. 136), S. 27 ff. Vgl. auch BMI/BMJ (Fn. 154), S. 265. 163 Vgl. Habermann/Singelnstein (Fn. 136), S. 26 f.; Lang (Fn. 31), S. 3. 164 Für das PMK-System existiert eine Ausfüllanleitung bzw. ein Indikatorenkatalog, in dem bestimmte Kriterien zur Bewertung der „Umstände der Tat“ aufgelistet sind; das Dokument ist jedoch ebenfalls als Verschlusssache eingestuft; vgl. Lang (Fn. 31), S. 112 ff. 165 Vgl. Habermann/Singelnstein (Fn. 136), S. 18 ff., 27 f.; Lang (Fn. 31), S. 91 f.; Presse/Bachmann (Fn. 141), S. 100; sowie allgemein Derin/Singelnstein (Fn. 141), S. 213 f. Vgl. auch Chakraborti/Garland (Fn. 100), S. 113 („cultural trait of racial prejudice and stereotyping within the police“) und S. 114 ff. Julia Geneuss
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Dabei kommt es zunächst auch auf die Fähigkeiten, Erfahrungen und Kenntnisse um Vorurteilskriminalität und ihre Erscheinungsformen an.166 Gerade bei fehlendem Wissen über die Strukturen bestimmter Szenen, über Tätertypen und typische Deliktsbegehungen, können sich Fehl- bzw. Normalfall-Vorstellungen festsetzen. Ähnliches gilt für fehlendes Wissen über die von Vorurteilskriminalität betroffenen Bevölkerungsgruppen. Je geringer der Kontakt zu von Diskriminierung betroffenen Personen und je weniger Überschneidung der Lebensrealitäten, desto eher wird auf stereotype Vorstellungen und Vorurteile zurückgegriffen. 60 Auch ohne eine intensive kriminologische Untersuchung lässt sich kaum bestreiten, dass die Einseitigkeit der NSU-Ermittlungen mit individuellen und institutionell verfestigten Vorurteilen zusammenhing.167 Bei den NSU-Ermittlungen scheint innerhalb der Institutionen ein „kultureller Deutungsrahmen“168 vorgeherrscht zu haben, nach dem von vornherein für bestimmte Delikte bestimmte Umstände vorliegen mussten und Personengruppen infrage kamen. So wurde zum einen stets angenommen, dass die Umstände der Tötungsdelikte nicht zu dem „Schema“ rassistischer Taten von rechtsextremen Tätern passen, wobei von einer Vorstellung von rechtsextremer Kriminalität als „primitiv“ ausgegangen wurde und die Ermittler/innen der Auffassung waren, dass die Morde aufgrund fehlender Tatbekennung nicht politisch motiviert gewesen seien.169 Eine entsprechende Tathypothese wurde daher schnell ausgeschlossen. Gleichzeitig fanden sich in allen Ermittlungsgruppen die Vorstellungen bestimmter Täter-Personenstereotypen, vor allem auch, dass „Taten gegen Ausländer“ auch von „Ausländern“ begangen worden sein müssen. In allen Ermittlungsgruppen an allen Tatorten wurden die Opfer (und ihre Angehörigen) als „Türken“, „Ausländer“, „Fremde“ gesehen. Die Taten wurden mittels Stereotypen und Vorurteilen auf die ethnische Herkunft der Opfer zurückgeführt. Mit dieser Ethnisierung der Taten stand für die Ermittler weitgehend fest, dass nicht nur Motiv und Täter ebenfalls im migrantischen Milieu zu finden seien, vielmehr wurde auch angenommen, dass das Opfer selbst in kriminelle Aktivitäten verstrickt gewesen sein müsse.170 Damit führte die Ethnisierung der Taten in der Wahrnehmung der Ermittler zwangsläufig auch zu deren 59
166 Habermann/Singelnstein (Fn. 136), S. 28. 167 Vgl. auch Drenkhahn, Verdacht und Beweisermittlungstätigkeit der Polizei, in: Fischer/Hoven (Hrsg.),
Verdacht, 2016, S. 237 (246 f.). Die problematische Einstellung mancher Beamter wird auch im Verfahren vor dem OLG München deutlich. Bei der Vernehmung von (ehemaligen) Beamten des BKA, die zu Listen mit Adressen verschiedener Institutionen, die beim NSU gefunden wurden, befragt werden, sprechen diese von „islamistischen Vereinigungen“ statt von „islamischen“; Ramelsberger/Ramm/Schultz/Stadler (Fn. 1), Tag 222 und Tag 240. Auf Nachfrage, was er meine, wenn er von „islamistischen Kulturvereinen“ spricht, erklärt einer der Beamten: „Osmanisch, orientalisch. Wir haben also mehrere Einrichtungen unserer Mitbürger, die nicht zum deutschen Volke gehören.“ (Tag 240). 168 Behr (Fn. 18), S. 309. 169 In BT UA I, S. 854, 877 wird diese Einschätzung von Sachverständigen zurückgewiesen und auf mehrere Beispiele vergangener rechtsextremer Tötungsdelikte ohne Bekennerschreiben verwiesen, unter anderem das Oktoberfest-Attentat in München und die Ermordung des jüdischen Verlegers Shlomo Levin und von Frida Poeschke in Erlangen; beide Taten wurden im Jahr 1980 mutmaßlich durch Täter der Wehrsportgruppe Hoffmann begangen. Zu diesen Taten Steinke (Fn. 31), Kap. 1. 170 Vgl. auch BT UA I, S. 733 ff. Julia Geneuss
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Externalisierung:171 Die Taten fanden in einer Gruppe statt, die zwar in Deutschland lebt, aber nach ihren eigenen Werten, Normen und Regeln, und im Grunde nichts mit der deutschen Gesellschaft zu tun hat.172 Die Täter, so die dritte Operative Fallanalyse, müssten „weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet“ werden, da „die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist.“ In der Folge wurden die Ermittlungen in der Türkei intensiviert. Für die Beamten in ihrem institutionell verankerten einseitigen Blick auf die soziale Realität nicht vorstellbar und damit verdächtig war auch, dass die Opfer und ihre Familien gut integriert als Teil der deutschen Gesellschaft ein völlig normales Leben als selbständige Kleinunternehmer führten. Diese Unauffälligkeit sprach für die Ermittler sowohl für die These einer Verstrickung in ein kriminelles Milieu, da sie für illegale Tätigkeiten einer OK-Gruppierung von Nutzen sei, und gleichzeitig gegen ein rassistisches bzw. rechtsextremes Tatmotiv – woher sollten die Täter wissen, dass in den Geschäften „Türken“ arbeiten. Schließlich gingen die Ermittler von einer migrantischen „Mauer des Schweigens“ und einem „türkischen Schweige-Kodex“ aus, der aus ihrer Sicht den ausbleibenden Ermittlungserfolg erklärte. An dieser OK-Hypothese wurde auch dann noch festgehalten, als sich kein Verdacht im 61 Einzelfall erhärtete, als der Seriencharakter der Tat deutlich wurde, als Angehörige den Verdacht einer rassistischen Tatmotivation äußerten. Dieses Festhalten an der – aufgrund von bewussten und unbewussten, individuellen und institutionellen rassistischen Vorurteilen zu Stande gekommenen – OK-Hypothese wird durch das Vorliegen der Bestätigungsneigung (confirmation bias) erklärt.173 Die zum Ermittlungsansatz der OK-Hypothese passenden Informationen wurden eher wahrgenommen und überhöht, was sich als systematische Verzerrung auf den Kreislauf von Ermittlung, das heißt der Informationssuche, Informationsbewertung und Hypothesenbildung, ausgewirkt hat. Hinzu kommt, dass Ermittlungen im Bereich der Organisierten Kriminalität generell schwierig sind, so dass es durchaus ins Bild passte, dass es keine Ergebnisse gab.174 Wird so an der einmal getroffenen Annahme festgehalten, führt dies dazu, dass Alternativhypothesen ausgeblendet werden und sich der Anspruch von offenen, in alle Richtungen geführten Ermittlungen faktisch aufgrund der spezifischen institutionellen Vorstellungen und Annahmen nicht erfüllen kann.175 Da bei Straftaten aufgrund der Vorgaben der statistischen Erfassung eine Klassifizierung als „politisch motivierte (Hass-)Kriminalität“ bereits sehr früh, beim polizeilichen Erstkontakt, erfolgt, kann die Bestätigungsneigung hier eine größere Rolle spielen.
171 Vgl. BT UA I, Stellungnahme SPD, S. 879. 172 Vgl. auch Zitat Soko-Leiter Wolfgang Geier in: Kleinhubbert/Neumann, Die Spur der Ceska, Der
Spiegel Nr. 16 v. 14.4.2006: „wie wenig die Polizei eigentlich über ausländische Bevölkerungsteile und ihre Mentalität in unserem Lande weiß“. 173 Singelnstein (Fn. 10), S. 830 ff. 174 Vgl. Drenkhahn (Fn. 167), S. 246 f. 175 Vgl. auch Behr, Verdacht und Vorurteil, in: Howe/Ostermeier (Hrsg), Polizei und Gesellschaft, 2019, S. 17 (20). Von einer „Ermittlungsfalle“ spricht Drenkhahn (Fn. 167), S. 246. Julia Geneuss
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F. Spezifisches Risiko sekundärer Viktimisierung 62 Die skizzierten Fehleinschätzungen, rassistische oder sonst vorurteilsbelastete Einstellun-
gen und individuelle oder institutionelle biases und kognitive Verzerrungen haben jedoch nicht nur unmittelbare Auswirken auf die Ermittlungen und das Strafverfahren. Sie können auch zu sekundären Viktimisierungseffekten bei Opfern von rassistischen oder sonst vorurteilsmotivierten Straftaten und deren Angehörigen führen. 63 Opfer von Vorurteilskriminalität sind nicht nur dem Risiko einer unangemessenen Reaktion auf die Straftat selbst ausgesetzt, sondern zusätzlich dem spezifischen Risiko einer unangemessenen Reaktion hinsichtlich des Vorurteilsmotivs. So können Polizist/innen, Staatsanwält/innen und Richter/innen zwar die Straftat an sich anerkennen, aber das rassistische oder sonstige Vorurteilsmotiv – und mit ihm das Opfer und die Gruppe, der es angehört – ignorieren oder bagatellisieren, es leugnen oder herunterspielen, ihm mit Gleichgültigkeit begegnen.176 Den Opfern wird damit zwar nicht die Erfahrung der Opferwerdung an sich, wohl aber die ihnen mit den Taten zugefügte Diskriminierungserfahrung abgesprochen und die durch die Tat vermittelte Ungleichwertigkeitsbotschaft geleugnet. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, wenn Straftaten in Bezug auf Täter, Umstände, aber auch Opferverhalten von der Normalfall-Vorstellung ihrer Begehungsweise abweichen. Abweichungen vom kulturellen Muster „üblicher“ Opferwerdung passen nicht mit stereotypen Urteilsmustern und schematischer Informationsverarbeitung zusammen, führen zu Irritationen und in der Folge zu Misstrauen, Bagatellisierung oder Mitschuldzuweisung.177 64 Da es sich bei den Opfern vorurteilsmotivierter Straftaten (in der Regel) um Angehörige von Gruppen handelt, die sich gesellschaftlich weit verbreiteten Stereotypen und Vorurteilen ausgesetzt sehen, besteht zudem die Gefahr, dass sie sich – bewusst oder unbewusst – diskriminierenden Verhaltens der Strafverfolgungsbehörden ausgesetzt sehen. Sekundäre Viktimisierungserfahrungen und Folgen von Ausgrenzung und Isolation werden auch von den Angehörigen der NSU-Mordopfer geschildert.178 Da bei den NSU-Morden weder rechtsextreme Zeichen noch ein Bekennerschreiben aufzufinden waren, wurde eine derartige Motivation ausgeschlossen; stattdessen vermutete man die Täter im familiären oder erweiterten kulturellen Umfeld der Opfer. Damit wurden neben den unmittelbaren Opfern selbst auch die Angehörigen kriminalisiert, wurden verdächtigt, selbst in die Taten verstrickt zu sein, ihnen wurde misstraut, sie würden nicht alles sagen, was sie über die Tat wüssten. Auch diese Verdächtigungen beruhten auf der auf individuelle und/oder institutionelle Rassismen und Vorurteile zurückgehenden Ethnisierung und Externalisierung der Taten. Die offen geführten Ermittlungen im familiären (und geschäftlichen) Umfeld der Opfer führten in der Nachbarschaft zu Gerüchten und Ablehnung, schließlich ging es stets um den Verdacht der Verwicklung in Drogendelikte, der Kontakte zur Mafia und ins Rotlichtmilieu. In Folge der stigmatisierenden Wirkung der Ermittlungen nahmen 176 Vgl. Schneider (Fn. 28), S. 499. 177 Krahé (Fn. 14), S. 163; i. Ü. Kölbel/Bork (Fn. 24), S. 42 f. m. w. N. 178 BT UA I, S. 729 ff.; vgl. auch Geschke/Quent (Fn. 30), S. 481 ff.
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G. Reformvorschläge
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Freunde und Bekannte Abstand, die Angehörigen selbst zogen sich zurück und gerieten in Isolation.179 Zusätzlich zum Trauma des Verlusts kam das Trauma des kriminellen Verdachts, des sozialen Ausschlusses und weitere erhebliche psychische Belastungen.180 In der Folge berichten zahlreiche Angehörige von ihrer Erleichterung, als die Selbstenttarnung des NSU die wahren Täter offenbart. Endlich sei der Vorwurf der Verstrickung des Vaters, Ehemanns, Bruders, Sohns etc. in ein kriminelles Milieu ausgeräumt, endlich seien sie rehabilitiert, endlich sei Raum für Trauer gegeben. Endlich durften sie tatsächlich Opfer sein.181
G. Reformvorschläge Angesichts der skizzierten Schwierigkeiten bei der Ermittlung, Benennung und Zurück- 65 weisung von Vorurteilskriminalität werden in rechtlicher, individueller und institutioneller Hinsicht eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, die Abhilfe oder zumindest Milderung schaffen sollen. I. Rechtlich
In rechtlicher Hinsicht wird vorgeschlagen, das dem PMK-System zu Grunde liegende 66 enge Verständnis von rassistisch oder sonst vorurteilsmotivierter „Hasskriminalität“ aufzugeben.182 Stattdessen ist ein erweitertes Verständnis von Rassismus und Vorurteilskriminalität zu Grunde zu legen, das auch durch Alltagsrassismus etc. motivierte Straftaten erfasst. Nach einem weitergehenden Vorschlag soll im Rahmen einer grundlegenden Reform des statistischen Erfassungssystems die Einordnung des Minderheitenschutzes in den 179 Vgl. auch BT UA I, S. 830. 180 Hinzu kamen die finanziellen Folgen der Tat, vgl. BT UA I, S. 735 f. Die Geschäfte, in der Regel die
einzige Einnahmequelle, mussten nach den Verbrechen zunächst geschlossen bleiben. Da das Motiv für die Taten unklar blieb, wurde auch keine Entschädigung gezahlt: Weder von den Berufsgenossenschaften, da ja offen blieb, ob die Morde nicht einen familiären Hintergrund hatten, noch auf Grundlage des Opferentschädigungsgesetzes für Opfer terroristischer Anschläge. Hierzu John (Fn. 5), S. 14 ff. 181 Vgl. nur die Ausführungen von Semiya Şimşek auf der Gedenkveranstaltung vom 23.2.2012 (BT UA I, S. 735): „Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein. Immer lag da die Last über unserem Leben, dass vielleicht doch irgendwer aus meiner Familie, aus unserer Familie verantwortlich sein könnte für den Tod meines Vaters. Und auch den anderen Verdacht gab es noch: Mein Vater ein Krimineller, ein Drogenhändler.“ 182 So haben sowohl der ICERD-Ausschuss als auch ECRI mehrfach kritisiert, dass in Deutschland ein enger Rassismusbegriff verwendet wird, der weithin mit „Rechtsextremismus“ und „Neo-Nazismus“ assoziiert wird. Ebenso kritisiert wird die Verwendung der Begriffe „Fremdenfeindlichkeit“ (statt „rassistischer Diskriminierung“) und „kulturelle Differenzen“ (statt „ethnischer Diversität“). Vgl. CERD, Concluding Observations on the Combined 19th–22nd Periodic Reports of Germany v. 13.5.2015, UN Doc. CERD/C/ DEU/CO/19–22; ECRI, 4. Bericht über Deutschland v. 19.12.2008, veröffentlicht 26.5.2009, Rn. 84, 90 ff.; in dem 5. Länderbericht zu Deutschland spricht ECRI auch die Versäumnisse der NSU-Ermittlungen an, ECRI, 5. Bericht über Deutschland v. 5.12.2013, veröffentlicht 25.2.2014, Rn. 50 ff. Julia Geneuss
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Staatsschutz aufgehoben und die Verknüpfung von „Politisch motivierter Kriminalität“ und „Hasskriminalität“ komplett gelöst werden.183 Eine weitere Anzahl von Vorschlägen nimmt die Kategorisierungsentscheidung zu 67 Beginn des Ermittlungsverfahrens in den Blick. Ziel dieser Reformvorschläge ist es, den Definitions- und Entscheidungsspielraum der erstaufnehmenden Polizeibeamt/innen zu reduzieren. So wird beispielsweise eine grundlegende, transparente Überarbeitung des Themenfeldkatalogs der PMK-Statistik und eine Konkretisierung der Zuordnungskriterien in Richtlinien und Leitfäden vorgeschlagen.184 Weiter wird vorgeschlagen, bei der Klassifizierung entscheidend auf die Sicht der von der Straftat betroffenen Person abzustellen.185 Dabei wird davon ausgegangen, dass Opfer in der Regel recht genau artikulieren können, ob es sich um eine vorurteilsmotivierte Tat handelt oder nicht.186 In anderen Staaten ist die opferzentrierte Einschätzung bei der Kategorisierungsentscheidung vorgeschrieben.187 Darüber hinausgehend wird von verschiedenen Stellen empfohlen, dass zumindest bei Gewaltkriminalität gegen Opfer mit bestimmter (tatsächlicher oder vermeintlicher) Gruppenzugehörigkeit bzw. bei einer entsprechenden Einschätzung des Opfers, ein rassistischer oder sonst diskriminierender Tathintergrund durch die Polizei nicht positiv festgestellt, sondern positiv ausgeschlossen und dies dokumentiert werden muss.188 Ebenfalls wird auf ein in den USA praktiziertes Vier-Augen-Prinzip („two-tier decision-making process“) verwiesen, wonach neben den zuständigen Polizeibeamt/innen ein unbeteiligter Sachbearbeiter bei entsprechenden Anhaltspunkten die vermutete vorurteilsmotivierte Tat erneut bewertet.189 Mitunter wird auch vorgeschlagen, dass nicht die Polizei, sondern eine unabhängige Stelle die Klassifizierung der Straftaten vornehmen sollte.190 Bei entsprechenden Anhaltspunkten sollte in jedem Falle der Staatsschutz einbezogen werden.191 68 Dringend angeregt wird schließlich die Einführung einer Verlaufsstatistik, die den Fortgang des Verfahrens über die Anklage durch die Staatsanwaltschaft bis zu der Eröffnung 183 Schellenberg (Fn. 136), S. 62 (Einführung einer Hasskriminalitäts-Perspektive als eigenständiges Kon-
zept).
184 Habermann/Singelnstein (Fn. 136), S. 29. Der Themenfeldkatalog der PMK-Statistik wurde nach
einer entsprechenden Empfehlung des BT UA I, S. 861 bereits überarbeitet.
185 Vgl. Lang (Fn. 31), S. 117 ff. Vgl. auch eine Empfehlung des BT UA I, S. 861 (Ergänzung der Richtlinien
für das Straf- und das Bußgeldverfahren (RiStBV ) und einschlägiger polizeilicher Dienstvorschriften dahingehend, dass ein vom Opfer oder Zeugen angegebenes Motiv für die Tat von der Polizei beziehungsweise der Staatsanwaltschaft verpflichtend aufgenommen und angemessen berücksichtigt werden muss). Vgl. auch ECRI, Allgemeine Politik-Empfehlung Nr. 11, Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung in der Polizeiarbeit v. 29.6.2007, Nr. 14. 186 Coester (Fn. 100), S. 179, unter Bezug auf Perry, Hate Crimes, The Victims of Hate Crime, 2009. 187 Coester (Fn. 100), S. 179 mit dem Hinweis auf die Rechtslage in England. 188 Vgl. UA Bayern, S. 151. 189 Vgl. Coester (Fn. 100), S. 179. Siehe Criminal Justice Information Services (CJIS) Division Uniform Crime Reporting (UCR) Program, Hate Crime Data Collection Guidelines And Training Manual 2.0, 2015, S. 31 ff. 190 Habermann/Singelnstein (Fn. 136), S. 28 f. m. w. N. 191 Vgl. auch die entsprechende Empfehlung in BT UA I, S. 861. Julia Geneuss
G. Reformvorschläge
1127
des Hauptverfahrens und der Aburteilung durch das Gericht mit aufnimmt.192 Nur dann könne ein tatsächliches Lagebild über „Hasskriminalität“ und den strafrechtlichen Umgang mit ihr erstellt werden. Bisher könne nicht nachvollzogen werden, wie viele der von der Polizei berichteten PMK-Delikte tatsächlich an die Staatsanwaltschaft übergeben und von ihr angeklagt werden, wie viele Fälle in einer Verurteilung des oder der Täter münden und in wie vielen dieser Fälle das Vorurteilsmotiv strafschärfend berücksichtigt wird. II. Individuell
Kaum Zweifel können bestehen, dass ein entscheidender Faktor zur besseren Erkennung 69 und Verarbeitung rassistischer und vorurteilsmotivierter Straftaten in Aus- und Fortbildungsmaßnahmen liegt.193 Dabei geht es zum einen darum, Kenntnisse über die Grundlagen, insbesondere die Botschaftsfunktion, sowie Erscheinungsformen verschiedener Arten von Vorurteilskriminalität und ihrer strafrechtlichen Bekämpfung zu vermitteln – auch, aber nicht nur, von rechtsextremen Strukturen, Täterprofilen und Begehungsweisen, sowie von alltäglichen vorurteilsmotivierten Straftaten. Dadurch soll nicht nur das Wissen erweitert werden, vielmehr soll verständlich gemacht werden, dass es sich bei vorurteilsmotivierten Straftaten nicht um Einzelfälle handelt, sondern die Opfer in der Regel einem kontinuierlichen alltäglichen Diskriminierungsprozess ausgesetzt sind.194 In der Praxis sollten daher gerade auch Staatsanwaltschaft und Strafgerichte einen ge- 70 steigerten Wert nicht nur auf die Straftat an sich, sondern gerade auch das Herausarbeiten der rassistischen oder sonst vorurteilsmotivierten Beweggründe der Tat legen – und dies nicht, wie so oft, der Nebenklage überlassen. Angesichts der Bedeutung der expliziten Gegenrede, sollten gerade auch Richter/innen diese in der (mündlichen) Urteilsbegründung, aber auch die Vertreter/innen der Staatsanwaltschaft im Plädoyer, ausdrücklich benennen, in ihrer gesamtgesellschaftlichen Wirkung kontextualisieren und zurückweisen.195 Angesichts der personellen Zusammensetzung vor allem auch von Staatsanwaltschaf- 71 ten und des Justizapparats fehlt es hier oft an eigenen Diskriminierungserfahrungen und Wissen über die Funktionsweisen und Wirkungen z. B. von (Alltags-)Rassismus. Entsprechend sollten auch hier spezifische Fortbildungsmodule angeboten werden.196 Einen 192 Vgl. BT UA I, S. 861. Vgl. auch ECRI, Allgemeine Politik-Empfehlung Nr. 11 (Fn. 185), Nr. 12. 193 Vgl. auch CERD, Concluding Observations on the Combined 19th–22nd Periodic Reports of Germa-
ny (Fn. 182), S. 7 ff. Hierzu und zum folgenden auch mit konkreten Handlungsempfehlungen für Staatsanwält/innen und Richter/innen Jäger, Diversity-Kompetenz: Eine Schlüsselqualifikation für Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare, 2013. 194 Vgl. Chakraborti/Garland (Fn. 100), S. 33 f.; Schellenberg (Fn. 153), S. 426 (Ausbau eines Antidiskriminierungsbewusstseins). Vgl. auch die entsprechende Empfehlung in BT UA I, S. 861. 195 Als positives Beispiel hierfür zitiert Lang (Fn. 135), S. 134 ff. das schriftliche Urteil des OLG Dresden (Urt. v. 7.3.2018, 4 St 1/16) im Verfahren gegen Mitglieder der rechtsextremen Gruppierung Freital. Hier ist das Vorurteilsmotiv ausdrücklich thematisiert und zurückgewiesen worden, es finden sich – rückgebunden an die PMK-Definition – Ausführungen zum Schutz von Minderheiten und der Demokratie. 196 BMJV, Abschlusserklärung des Justizgipfels am 17.3.2016. In diesem Zusammenhang werden auch Aus- und Fortbildungen in „interkultureller Kompetenz“ angeregt, hierzu Yalçin, Interkulturelle Kommunikation im Gerichtssaal, Betrifft Justiz 2011, S. 112 ff. Julia Geneuss
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§ 27 Diskriminierungsschutz in der Strafrechtspflege
Schritt vorher sollten entsprechende (interdisziplinäre) Inhalte zudem in die juristische Ausbildung – Studium und Referendariat – aufgenommen werden. 72 Zum anderen sollte in Aus- und Fortbildungen auf die eigenen biases und kognitiven Verzerrungen und deren Wirkweisen hingewiesen werden.197 Nur wenn man sich der Existenz und Wirkweise unbewusster Vorurteile bewusst ist, können durch eine Reflexion der eigenen stereotypen Vorstellungen und bewussten oder unbewussten Vorurteile Angehörige von Polizei und Justiz sensibilisiert werden, um im besten Fall in einschlägigen Sachverhaltskonstellationen das eigene Denken zu irritieren und Entscheidungen entsprechend zu überdenken, gerade auch um sich selbst eine ergebnisoffene Herangehensweise zu erhalten. III. Institutionell 73 Mit Blick auf die institutionelle Ebene werden eine Reihe möglicher Maßnahmen zum
Aufbrechen der Diskriminierungstendenzen genannt. Zunächst ist in diesem Zusammenhang die Einstellungspolitik der Institutionen zu nennen. Dabei geht es zum einen um eine stärkere Pluralisierung der Strafverfolgungsund Justizbehörden.198 Bisher ist sowohl im Polizeidienst als auch auf allen Ebenen des Justizsystems von einer Unterrepräsentation von Angehörigen mit Migrationsbiographie auszugehen. Die Pluralisierung helfe dabei, dass individuelle Stereotype aufgeweicht und unbewusste Vorurteile irritiert werden. Schließlich ist davon auszugehen, dass Verfahrensbeteiligte mehr Vertrauen in eine Justiz haben, die die gesellschaftliche Vielfalt Deutschlands und damit auch „ihre“ Gruppe repräsentiert.199 Zum anderen sollte im Einstellungsverfahren verstärkt auf eine gefestigte demokratische Einstellung und die „charakterliche Eignung“ der Bewerber/innen geachtet und später auch bei Verstoß gegen Treue- und Neutralitätspflichten konsequent von den disziplinarrechtlichen Möglichkeiten des Beamten- und Richterrechts Gebrauch gemacht werden. Da in den letzten Jahren vermehrt dritte Personen betreffende Daten, inklusive privater Adressdaten, aus polizeilichen Datenbanken an rechtsextremistische Gruppierungen weitergegeben wurden, ist zu überlegen, den Zugriff auf bestimmte Datenbanken anders auszugestalten. 75 Da jedoch auch eine pluralisierte Institution weiterhin nach den in ihr eingeschriebenen Praktiken funktioniert und die institutionellen Diskriminierungsstrukturen sowie „Korpsgeist“ und ein „Diskretionsversprechen“ unabhängig von dem Hintergrund der Beamt/ innen wirken, spielen vor allem externe und gut ausgestattete Kontrollmechanismen eine wichtige Rolle. Entsprechend wurden in manchen Bundesländern bereits unabhängige, 74
197 Schellenberg (Fn. 136), S. 61. Vom Deutschen Institut für Menschenrechte wurden hierzu Materialien
erarbeitet: Rassismus und Menschenrechte, Materialien für die Fortbildung in der Strafjustiz, 2018; ferner Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln, Ein Reader für die Strafjustiz, 2018, S. 74 ff. 198 Schellenberg (Fn. 136), S. 58 ff. Vgl. auch die entsprechende Empfehlung in BT UA I, S. 862. 199 Jäger (Fn. 193), S. 6, allerdings mit Verweis auf Großbritannien. Jäger weist zudem darauf hin, dass es wichtig sei zu vermitteln, dass die fehlende Repräsentanz bestimmter Gruppen nicht auf mangelnder Kompetenz beruhe, sondern auf gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen und mangelnder Chancengleichheit. Julia Geneuss
G. Reformvorschläge
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behördenexterne Polizei- und Bürgerbeauftragte installiert.200 Die Einrichtung derartiger unabhängiger Polizeibeschwerdestellen wurde sowohl vom UN-Menschenrechtsrat als auch von Nichtregierungsorganisationen schon seit Langem angemahnt.201 Eines der größten Versäumnisse im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des NSU-Komplexes ist sicherlich, dass in der Folge keine Untersuchungen zu institutionellen Diskriminierungsstrukturen in den Polizeibehörden stattgefunden haben. Im gemeinsamen Abschlussbericht des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages wird institutioneller Rassismus nicht thematisiert, allein in den ergänzenden Stellungnahmen von SPD und Die Linke wird anerkannt, dass „routinisierte Verdachts- und Vorurteilsstrukturen und unbewusste Prozesse institutioneller Diskriminierung ganz wesentlich für die andauernde Betriebsblindheit der Ermittler bezüglich eines möglichen rassistischen Hintergrundes der Mordserie verantwortlich waren“.202 In Großbritannien wurde institutioneller Rassismus im Metropolitan Police Service für die sogenannte Macpherson-Kommission als eine der Hauptursachen für die verfehlten Ermittlungen des rassistisch motivierten Tötungsdelikts an Stephen Lawrence und für den problematischen Umgang mit den Angehörigen des Opfers ausgemacht.203 In der Folge kam es zu erheblichen Änderungen im britischen Strafsystem und den Strafverfolgungsbehörden.204 In Deutschland wurde dieser Moment verpasst. Daneben sind, auch angesichts des skizzierten spezifischen Risikos einer sekundären 76 Viktimisierung, bei der Polizei sowie auch den Staatsanwaltschaften und Gerichten spezialisierte Ansprechpersonen für rassistische bzw. sonst vorurteilsmotivierte Straftaten einzurichten.205 Durch das „Sich Annehmen“ der Opfer soll eine intensivere Betreuung gewährleistet werden, mit der auf die spezifischen Opferbedürfnisse eingegangen werden kann. Im Ergebnis kann so auch das Vertrauen zwischen den betroffenen Gemeinschaften und der Polizei gestärkt werden. Wichtig sei es darüber hinaus, die Opfer möglichst früh
200 So z. B. in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein. Die Kompetenzen und Be-
fugnisse der Beauftragten sind in den Ländern unterschiedlich ausgestaltet. Für einen Vergleich verschiedener Polizeibeschwerdestellen vgl. Töpfer/Peter, Unabhängige Polizeibeschwerdestellen, 2017. 201 Vgl. z. B. UN Human Rights Committee, 12.11.2012, UN Doc. CCPR/C/DEU/CO/6, Rn. 10. 202 Vgl. BT UA I, Stellungnahme SPD, S. 872, 877 ff. und Stellungnahme Die Linke, S. 988 ff. Vgl. hierzu auch Dengler/Foroutan, Die Aufarbeitung des NSU als deutscher Stephen-Lawrence-Moment?, in: Fereidooni/El (Hrsg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen, 2016, S. 429 ff. 203 Die offiziellen Untersuchungen wurden unter Vorsitz des ehemaligen High Court Richters Sir William Macpherson geleitet. Vgl. The Stephen Lawrence Inquiry („Macpherson Report“) v. 24.2.1999. Institutioneller Rassismus wurde darin definiert als „The collective failure of an organisation to provide an appropriate and professional service to people because of their colour, culture, or ethnic origin. It can be seen or detected in processes, attitudes and behaviour which amount to discrimination through unwitting prejudice, ignorance, thoughtlessness and racist stereotyping which disadvantage minority ethnic people.“ (Rn. 6.34). 204 Vgl. Chakraborti/Garland (Fn. 100), S. 118 ff. 205 Ausführlich Lang (Fn. 31), S. 103 f. (Mitarbeiterzuständigkeiten für einzelne Betroffenengruppen in den Staatsschutzabteilungen). Bei der Berliner Polizei gibt es eine Ansprechperson für LSBTI sowie seit Sommer 2019 einen Antisemitismusbeauftragten; bei der Berliner Generalstaatsanwaltschaft gibt es seit September 2018 ebenfalls eine Antisemitismusbeauftragte; diese sind jeweils auf den Homepages der Institutionen zu finden. Julia Geneuss
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§ 27 Diskriminierungsschutz in der Strafrechtspflege
auf externe Beratungs- und Hilfsangebote hinzuweisen.206 Durch die Begleitung und Beobachtung des Verfahrens durch kenntnisreiche Dritte können Fehlreaktionen eventuell vermieden werden und das Vertrauen zwischen Polizei und Opfern gestärkt werden. Insgesamt wird von verschiedenen Stellen betont, wie wichtig es ist, eine Netzwerkstruktur gegen Hasskriminalität zu entwickeln, bestehend aus verschiedenen staatlichen Einrichtungen und Behörden sowie zivilgesellschaftlichen Initiativen.207 IV. Wissenschaft 77 Schließlich gilt es, das bereits mehrfach erwähnte Forschungsdefizit zu adressieren. Zu ras-
sistischen oder sonst vorurteilsmotivieren Einstellungen in Polizei und Justiz gibt es keine aktuellen Studien.208 Dabei geht es nicht nur darum, die individuellen Einstellungen und die unbewussten Vorurteile gerade im Justizkontext abzufragen, sondern vor allem darum, die institutionellen Praktiken und Alltagsroutinen zu erforschen. Auch in diesem Zusammenhang wird für die Einführung einer Verlaufsstatistik plädiert, um den Verlauf und Ausgang und damit die Muster behördlicher und gerichtlicher Verfahren bei Beteiligten mit entsprechenden Identifikationsmerkmalen systematisch erfassen zu können.
206 Coester (Fn. 100), S. 178 f., der auf entsprechende proaktive Vermittlungsansätze in den Niederlanden
verweist. Vgl. zur entsprechenden Empfehlung BT UA I, S. 862.
207 Coester (Fn. 100), S. 179. 208 So wurde im Rahmen eines von der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte (HLCMR)
in Kooperation mit der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin untersucht, wie Richter/innen und Staatsanwält/innen mit antisemitisch motivierter Kriminalität umgehen, welcher Antisemitismus-Begriff zu Grunde gelegt wird, ob in der Strafzumessung § 46 Abs. 2 StGB Berücksichtigung findet, etc.; vgl. HLCMR, Projekte des 11. Zyklus (2019/2020), Projekt Nr. 8: Antisemitismus vor Gericht. Julia Geneuss
§ 28 Diskriminierungsschutz bei algorithmenbasierten Entscheidungen Antje von Ungern-Sternberg Inhaltsübersicht Rn. A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Algorithmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Profiling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Algorithmenbasierte Entscheidungen/Benachteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 3 4 7
C. Charakteristika und Grundfragen algorithmenbasierter Benachteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . I. Benachteiligungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Präferenzen und statistische Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Methodische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Nachweisbarkeit (Black-Box-Phänomen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Dogmatische Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erweitertes Verständnis der Benachteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutungszuwachs für die mittelbare Benachteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Neue verpönte Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10 11 12 15 20 22 23 27 30 35
D. Individualrechte zur Einhegung algorithmenbasierter Benachteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick: Normierungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einhegung der Datenverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Besonderer Schutz für sensible Datenkategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Automatisierte Einzelfallentscheidungen und Profiling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anwendungsbereich: automatisierte Einzelfallentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erlaubnistatbestände und Verbotsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Profiling mit Diskriminierungsfolge nach Art. 11 Abs. 3 JI-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vertragsbezogenes Scoring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Spezielle Benachteiligungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Arbeitsverhältnisse und zivilrechtliche Massengeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Versicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Medienrecht und grundrechtlicher Zugang zu Plattformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtfertigung von Benachteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Verhältnismäßigkeitsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36 37 38 39 42 45 46 48 49 51 54 55 57 59 60 63 65 66
Antje von Ungern-Sternberg
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§ 28 Diskriminierungsschutz bei algorithmenbasierten Entscheidungen
2. Allgemeine Gesichtspunkte bei der statistischen Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entscheidungsnachteil, Fehlernachteil, Zuschreibungsnachteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Alternativen: Granularität und Informationsbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Profiling-Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Explizite und implizite Methodikgebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Technische und normative Elemente der Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Direkte und indirekte Benachteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtfertigung direkter Benachteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtfertigung indirekter Benachteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Nachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erleichterung der Darlegungs- und Beweislast? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71 72 75 77 78 84 88 89 90 93 94 99
E. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
100
A. Einleitung 1
Algorithmen werden zunehmend genutzt, um menschliche Entscheidungen vorzubereiten oder zu ersetzen, und treffen hierbei eine Fülle an Unterscheidungen, die diskriminierende Auswirkungen haben können. Beispielsweise lassen einige Unternehmen die geeigneten Bewerberinnen und Bewerber für ein Vorstellungsgespräch durch einen Algorithmus auswählen. Wenn dieser Algorithmus unterstellt, dass Männer für bestimmte Posten besser geeignet sind als Frauen, weil eine Auswertung vorhandener Datensätze eine statistische Korrelation der Eigenschaft „männlich“ mit beruflichem Erfolg ergibt, dann wird auch die Bewerberauswahl in entsprechender Weise Frauen benachteiligen.1 Die normative Einhegung von Algorithmen ist keine exklusive Domäne des Antidiskriminierungsrechts, allerdings kommt diesem – zusammen mit dem Datenschutz – hier künftig eine Schlüsselstellung zu. Denn die vielfältigen Potentiale von Algorithmen werden derzeit vor allem von privaten Internet-Plattformen und der übrigen Wirtschaft genutzt, für die bereits das europäische Antidiskriminierungs- und Datenschutzrecht gilt. Hinzu kommt, dass sich die Problematik algorithmenbasierter Entscheidungen häufig besser mit Begrifflichkeiten der Ungleichbehandlung als denjenigen der Freiheitsbeeinträchtigung umschreiben lässt. Dies gilt insbesondere für die Chancen- und Risikoanalyse als einem der zentralen Einsatzfelder von Algorithmen.2 Wenn Algorithmen im Wege des Profiling das Risiko eines Kreditausfalls3 oder einer unrichtigen Steuererklärung4 prognostizieren und eine potentielle Kreditnehmerin oder eine Steuerschuldnerin mit hohem Risiko anders behandeln 1 Vgl. O’Neil, Weapons of Math Destruction, 2017, S. 105 ff.; Kim, Data-Driven Discrimination at Work,
William & Mary Law Review 58 (2017), S. 857 (869 ff.); Hartmann, Diskriminierung aus der Black Box, EuZA 2019, S. 421. 2 Hildebrandt, Defining Profiling: A New Type of Knowledge?, in: Hildebrandt/Gutwirth (Hrsg.), Profiling the European Citizen, 2008, S. 17 ff. 3 O’Neil (Fn. 1), S. 141 ff.; siehe ferner schon Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung, 2008, S. 75 ff., 101 ff., zur Risikobewertung durch Kreditgeber und Versicherungen. 4 Vgl. Braun-Binder, Algorithmisch gesteuertes Risikomanagement in digitalisierten BesteuerungsverfahAntje von Ungern-Sternberg
A. Einleitung
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als Personen mit niedrigerem Risiko, ist dies in erster Linie eine gleichheitsrechtliche Frage, zumal häufig auch kein subjektives Recht auf eine bestimmte Form der Behandlung besteht: Die Anpassung von Kreditkonditionen an das Kreditausfallrisiko unterfällt der Vertragsfreiheit und die Überprüfung von Steuerbescheiden auf ihre Richtigkeit ist Bestandteil der Verwaltungstätigkeit von Steuerbehörden (ohne dass ein korrespondierendes Recht der Steuerschuldnerin bestünde, nicht überprüft zu werden). Dieser Beitrag vertritt weder die These, dass der Einsatz von Algorithmen in besonderem 2 Maße zu Diskriminierungen führt,5 noch die entgegengesetzte These, dass er Diskriminierungen in maßgeblicher Weise beenden wird6. Denn zunächst treten die algorithmenbasierten Entscheidungen an die Stelle menschlicher Entscheidungen, die – das zeigen etwa die Beispiele Personalpolitik, Kreditvergabe oder Kriminalitätsbekämpfung – ebenfalls der Gefahr unterliegen, von Vorurteilen und Stereotypen geleitet zu sein. Außerdem stammt ein Großteil der Forschung zu algorithmenbasierten Benachteiligungen aus den USA, wo sich die gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen erheblich von denen in Deutschland und Europa unterscheiden. Zugleich ist aber nicht ohne Weiteres davon auszugehen, dass Algorithmen unerwünschte Formen der Ungleichbehandlung künftig einfach unterbinden können. Zwar sind Algorithmen dem Menschen insoweit überlegen, als sie bestimmte Informationen (etwa zu Hautfarbe oder Geschlecht) ausblenden können und sich über einprogrammierte Diskriminierungsverbote auch nicht hinwegsetzen.7 Aber Algorithmen können bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten perpetuieren, wenn sie anhand von Datensätzen trainiert werden, in denen diese Ungleichheiten zum Ausdruck kommen. Darüber hinaus besitzen Algorithmen staatlicher Behörden oder großer Unternehmen eine besonders hohe Reichweite. Insbesondere lassen sich Benachteiligungen bei algorithmenbasierten Entscheidungen häufig besonders schwer nachweisen. Hierbei ist der Einsatz algorithmisierter Wahrscheinlichkeitsaussagen besonders problematisch, wenn die korrekte Funktionsfähigkeit des Algorithmus nachträglich nicht überprüft werden kann. Eine abgelehnte Kreditnehmerin hat keine Gelegenheit, den Kredit zurückzuzahlen – und der abgelehnte Bewerber kann sich nicht am Studien- oder Arbeitsplatz beweisen. Schließlich besteht auch die Gefahr, dass Algorithmen als besonders rational und neutral gelten und dieser Eindruck nicht hinterfragt wird. Im Folgenden sollen daher die spezifischen Charakteristika von algorithmenbasierten Benachteiligungen8 – in Abgrenzung zu Benachteiligungen durch menschliche Entscheidungen – aufgezeigt werden. ren, in: Unger/v. Ungern-Sternberg (Hrsg.), Demokratie und künstliche Intelligenz, 2019, S. 161 (174 ff.); Ehrke-Rabel, Profiling im Steuervollzug, FinanzRundschau 2019, S. 45. 5 So aber etwa O’Neil (Fn. 1) mit Blick auf die USA; Zweig, Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl, 3. Aufl. 2019, S. 211. 6 Koenig, La fin de l’individu, 2019, S. 216 ff. Wegen der besseren Nachweisbarkeit von Diskriminierungen grundsätzlich auch Kleinberg/Ludwig/Mullainathan/Sunstein, Discrimination in the Age of Algorithms, Journal of Legal Analysis 10 (2018), S. 1. 7 Rademacher, Predictive Policing im deutschen Polizeirecht, AöR 142 (2017), S. 366 (374 ff.). 8 Der Begriff Benachteiligung oder Ungleichbehandlung lässt die Frage der Rechtmäßigkeit offen, Diskriminierung bezeichnet die rechtswidrige Ungleichbehandlung. Antje von Ungern-Sternberg
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§ 28 Diskriminierungsschutz bei algorithmenbasierten Entscheidungen
B. Begriffe I. Algorithmen 3
Ein Algorithmus ist eine detaillierte und eindeutige Schritt-für-Schritt-Anleitung, mit der ein konkretes mathematisches Problem strukturiert gelöst wird.9 Für die Zwecke dieses Beitrags sind Algorithmen gemeint, die in einem Programm (Software, Computercode)10 niedergelegt sind, also durch einen Rechner ausgeführt werden können, und die das Profiling von Menschen beinhalten oder hieran anschließen (dazu II.). Nach dem Grad ihrer menschlichen Programmierung lassen sich determinierte Algorithmen von lernenden Algorithmen unterscheiden. Bei determinierten Algorithmen sind alle Entscheidungsschritte vom Menschen vorgegeben, beispielsweise die Verteilung von Impfstoff nach vorab definierten Kriterien. Lernende („intelligente“) Algorithmen hingegen können Probleme selbständig bearbeiten und insbesondere große Datenmengen nach Mustern durchsuchen, hieraus Rückschlüsse ziehen und ihre Verhaltensweisen anpassen,11 also beispielsweise verborgene Faktoren für die Wirksamkeit von Impfungen aufdecken, die bei der Impfstoffverteilung dann berücksichtigt werden. II. Profiling
4
Profiling ist ein Vorgang, bei dem Datensätze analysiert, Korrelationen entdeckt und hierauf gestützt Wahrscheinlichkeitsaussagen über Menschen getroffen werden.12 Diese Wahrscheinlichkeitsaussagen können sich auf Gruppen oder Individuen beziehen und einzelne Merkmale oder ein ganzes Merkmalbündel, das „Profil“, umfassen.13 In diesem Beitrag sei das automatisierte Profiling mithilfe von Algorithmen in den Blick genommen, so wie auch die Datenschutzgrundverordnung14 (DSGVO) Profiling als automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten mit dem Ziel definiert, „bestimmte persönlichen Aspekte“ einer Person „zu bewerten, insbesondere um Aspekte bezüglich Arbeitsleistung, wirtschaftliche Lage, Gesundheit, persönliche Vorlieben, Interessen, Zuverlässigkeit, Verhalten, Aufent9 Plastische Definition und Einführung bei Stiller, Planet der Algorithmen, 2015, Kap. 2; Martini, Black-
box Algorithm, 2019, S. 17 ff.
10 Die Begriffe werden bedeutungsgleich verwendet. Martini (Fn. 9), S. 18, spricht treffend von Com-
puteralgorithmen.
11 Martini (Fn. 9), S. 19 ff. Zur Überlappung von maschinellem Lernen und Data-Mining Calders/Custers,
What is Data Mining and How Does it Work?, in: Custers u. a. (Hrsg.), Discrimination and Privacy in the Information Society, 2013, S. 27 (29). 12 In Anlehnung an Hildebrandt (Fn. 2), S. 19 f. Eine Beschränkung auf die Prognose künftiger menschlicher Verhaltensweisen (so Martini (Fn. 9), S. 30) erscheint etwas eng, da auch ein Interesse an Wahrscheinlichkeitsaussagen zu jetzigen Zuständen und zu nicht-verhaltensbezogenen Eigenschaften (z. B. Gesundheit, Bedürftigkeit, Attraktivität für Dritte) besteht. 13 Hildebrandt (Fn. 2), S. 20. 14 Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG v. 27.4.2016, ABl. 2016 L 119, S. 1 (Datenschutzgrundverordnung). Antje von Ungern-Sternberg
B. Begriffe
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haltsort oder Ortswechsel zu analysieren oder vorherzusagen“.15 Das menschliche Profiling, das sich auf Erfahrungswissen oder Statistik gründet,16 steht im Folgenden also nicht im Mittelpunkt. Profiling kann in der Zuweisung eines Wahrscheinlichkeitswerts (Score) zu einer be- 5 stimmten Person münden (Scoring). Bekannte Scoring-Systeme beziffern die Bonität einer Person, in den USA auch Kriminalitäts- oder Terrorismusneigungen17 und in China gar umfassend die Vertrauenswürdigkeit der Bürgerinnen und Bürger18. Das Alltags-Scoring als Massengeschäft von Unternehmen nimmt § 31 Abs. 1 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) in den Blick und definiert es als die „Verwendung eines Wahrscheinlichkeitswerts über ein bestimmtes zukünftiges Verhalten einer natürlichen Person“, das die „Entscheidung über die Begründung, Durchführung oder Beendigung eines Vertragsverhältnisses mit dieser Person“ bezweckt. Hier geht es also um vertragsrelevante Verhaltensweisen, die nicht nur das Risiko eines Zahlungsausfalls, sondern eben auch die Leistungsfähigkeit einer Arbeitnehmerin oder das Risiko eines Versicherungsfalls bestimmen können. Jenseits des BDSG19 kann sich Scoring aber eben auch auf andere, nicht verhaltensbezogene Wahrscheinlichkeitswerte (z. B. Gesundheit) und andere Verwendungszwecke (z. B. Gefahrenabwehr) erstrecken. Profiling bezieht sich entweder auf die Eigenschaften von Gruppen (Gruppenprofi- 6 ling) oder von Einzelpersonen (Personenprofiling).20 Beispielsweise kann ein Internethändler seine Preise für unterschiedliche Kundengruppen unterschiedlich ausgestalten oder einen Preis ganz individuell auf die Zahlungsbereitschaft einer spezifischen Kundin ausrichten.21 Eine besondere Form des Personenprofiling stellt schließlich das Profiling dar, das die Individualisierung eines Menschen bezweckt, etwa in Gestalt der Gesichtsoder Stimmerkennung (Individualisierungsprofiling). Diese drei Arten des Profiling werfen in unterschiedlichem Maße diskriminierungsrechtliche Fragen auf. Das Antidiskriminierungsrecht erfasst typischerweise die gruppenspezifischen Benachteiligungen aufgrund von Gruppenprofiling, erstreckt sich grundsätzlich aber auch auf das Personenprofiling, wenn dies zu Lasten von Merkmalsträgern geht. Das Individualisierungsprofiling kann diskriminierende Wirkung entfalten, wenn Fehler bei der Individualisierung zulasten 15 Art. 4 Nr. 4 DSGVO. 16 Zu dieser Unterscheidung Hildebrandt (Fn. 2), S. 22 ff. 17 Zur Rückfallprognose mit dem Programm Compas in den USA etwa Martini (Fn. 9), S. 55 ff.; zur No-
Fly-List mit terrorverdächtigen Personen v. Ungern-Sternberg, Religious Profiling, Statistical Discrimination and the Fight against Terrorism in Public International Law, in: Uerpmann-Wittzack/Lagrange/Oeter (Hrsg.), Religion and International Law, 2018, S. 191 (192 f.). 18 Zum Sozialkredit-System Botsman, Big data meets Big Brother as China moves to rate its citizens, wired.co.uk v. 21.10.2017. 19 Bundesdatenschutzgesetz v. 30.6.2017, BGBl. 2017 I, S. 2097, zuletzt geändert durch BGBl. 2021 I, S. 1858. 20 Hildebrandt (Fn. 2), S. 20 ff., 22 ff. 21 Speicher / Ali / Venkatadri / Nunes Ribeiro / Arvanitakis / Benevenuto / Gummadi / Loiseau / Mislove, Potential for Discrimination in Online Targeted Advertising, Proceedings of Machine Learning research 81 (2018), S. 1; Borgesius, Price discrimination, algorithmic decision-making, and European non-discrimination law, European Business Law Review 31 (2020), S. 401. Antje von Ungern-Sternberg
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§ 28 Diskriminierungsschutz bei algorithmenbasierten Entscheidungen
schutzwürdiger Gruppen gehen, beispielsweise weil die Gesichtserkennung bei schwarzen Frauen deutlich schlechter funktioniert als bei weißen Männern.22 III. Algorithmenbasierte Entscheidungen/Benachteiligungen
Profiling ist in der Regel kein Selbstzweck, sondern mündet in Entscheidungen. Mit Entscheidungen seien hier sämtliche Handlungen bezeichnet, die das Ergebnis einer Auswahl zwischen mehreren Optionen darstellen und einem Menschen gegenüber rechtliche oder tatsächliche Wirkung entfalten. Ob diese Entscheidungen auch als „Benachteiligung“ gemäß §§ 7, 19 AGG oder als „Entscheidung“ nach Art. 22 DSGVO anzusehen sind, ist eine separate Frage der Normauslegung. Ausnahmsweise kann auch das Ergebnis des Profiling selbst Wirkung entfalten, etwa in Gestalt eines Scorewerts, einer Note oder einer Bewertungsstufe, die eigenständige Bedeutung für wirtschaftliche und berufliche Chancen besitzt. 8 Algorithmen können bei diesem Prozess an unterschiedlicher Stelle zum Einsatz gelangen: erstens bei der Profilbildung im Allgemeinen („Profilbildung“, „Profilerstellung“, etwa zur Bonität von verschiedenen Personengruppen), zweitens bei der Zuordnung eines konkreten Vorgangs oder einer konkreten Person zu einem Profil („Profilzuordnung“, etwa der Einstufung von Person A in eine Gruppe mit geringer Kreditwürdigkeit) und drittens bei einer Entscheidung unter Verwendung des Profils (etwa der Versagung eines Kredits).23 So kann die menschliche Profilerstellung für die automatisierte Profilzuordnung und Entscheidung verwendet werden. Dies ist etwa der Fall, wenn Menschen Profile für die Vermittelbarkeit von Arbeitssuchenden auf dem Arbeitsmarkt entwickeln, welche der Algorithmus der Behörde dann nutzt, um die einzelnen Arbeitssuchenden einzusortieren und ihnen entsprechende Vermittlungsmaßnahmen zuzuweisen. Häufig ist es hingegen umgekehrt: Die Profilerstellung und -zuordnung erfolgt maschinell,24 während der Mensch in die hierauf gestützte Entscheidung noch eingebunden ist. 9 Bei der Interaktion von Mensch und Maschine unterscheidet man erstens Assistenzsysteme, die den Menschen mit Informationen unterstützen, aber auf eine aktive menschliche Entscheidung angewiesen sind, zweitens Vorschlagssysteme, die eine konkrete Handlungsempfehlung unterbreiten, die vom Menschen lediglich zu bestätigen ist, und drittens autonome Systeme, die ohne menschliches Einwirken operieren (auch wenn sie gegebenenfalls vom Menschen korrigiert werden können).25 Für Entscheidungen im Anschluss an Profiling kann man immer davon ausgehen, dass sie vom Algorithmus vorgegeben oder 7
22 Buolamwini/Gebru, Gender Shades: Intersectional Accuracy Disparities in Commercial Gender Clas-
sification, Proceedings of Machine Learning Research 81 (2018), S. 1 (Fehlerraten bei der Gesichtserkennung bei dunkelhäutigen Frauen am höchsten, bei weißen Männern am niedrigsten). 23 Noch differenzierter Schreurs/Hildebrandt/Kindt/Vanfleteren, Cogitas, Ergo Sum, in: Hildebrandt/ Gutwirth (Fn. 2), S. 241 (246 ff.); Kleinberg/Ludwig/Mullainathan/Sunstein (Fn. 6), S. 20, unterscheiden den „testing“ und den „screening algorithm“ für die ersten beiden Schritte. Eingehender zu den Schritten des Profiling unten Rn. 24 ff. (C. I. 2.). 24 Zum menschlichen Einfluss auf die Methodik unten Rn. 24 ff. (C. I. 2.). 25 So, wenngleich mit anderslautender Terminologie („algorithmenbasiert“, „algorithmengetrieben“ und Antje von Ungern-Sternberg
C. Charakteristika und Grundfragen algorithmenbasierter Benachteiligungen
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maßgeblich beeinflusst werden und damit „algorithmenbasiert“26 sind, auch wenn ein Assistenzsystem das Ergebnis des Profiling lediglich mitteilt oder ein Vorschlagssystem hierauf eine Empfehlung abgibt.
C. Charakteristika und Grundfragen algorithmenbasierter Benachteiligungen Im Folgenden seien zunächst Charakteristika und Grundfragen algorithmenbasierter Be- 10 nachteiligungen skizziert. I. Benachteiligungsgründe
Algorithmenbasierte Benachteiligungen fußen in der Regel auf statistischen Korrelationen 11 (1.) und werden gegebenenfalls durch technisch-methodische Faktoren verstärkt (2.). 1. Präferenzen und statistische Korrelationen
Aus den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaften stammt die Unterscheidung zwi- 12 schen präferenzbasierter und statistischer Diskriminierung („Diskriminierung“ hier wertneutral im Sinne von Unterscheidung). Die Diskriminierung kann demnach auf Präferenzen oder auf einer rationalen Nutzung statistischer Korrelationen zur Überwindung von Informationsdefiziten beruhen. Wenn beispielsweise das (junge) Alter von Beschäftigten mit der (hohen) Belastbarkeit korreliert und ein Unternehmen die individuelle Belastbarkeit zweier Bewerberinnen nicht kennt, kann es die jüngere Bewerberin einstellen, um die besser belastbare Bewerberin zu gewinnen. Diese statistische Diskriminierung erscheint wegen des rationalen Anliegens damit auf den ersten Blick weniger problematisch als das Ausleben von Präferenzen, etwa das bewusste Nichteinstellen der älteren Bewerberin wegen einer Abneigung gegen Ältere.27 Ersichtlich fallen auch Benachteiligungen auf der Grundlage von Gruppenprofiling unter die Gruppe statistischer Diskriminierungen, wobei mit den steigenden Möglichkeiten zur automatisierten Auswertung großer Datenmengen immer ausgefeiltere Profile und Korrelationen hergestellt werden können. An die Stelle des einen Stellvertretermerkmals (Alter, Geschlecht, Rasse) tritt nun das komplexere Profil. Die Anwendungsfälle hierfür sind allgegenwärtig: Nicht nur Unternehmen, sondern auch staatliche Stellen nutzen zunehmend die Möglichkeiten, Entscheidungen auf „algorithmendeterminiert“), auch Datenethikkommission der Bundesregierung, Gutachten, Berlin, Oktober 2019, S. 161. 26 Vgl. das engere Begriffsverständnis der Datenethikkommission (Fn. 25). 27 Grundlegend Phelps, The Statistical Theory of Racism and Sexism, The American Economic Review 62 (1972), S. 659; ausführlich Britz (Fn. 3), S. 15 ff. Der Begriff der statistischen Diskriminierung ist nicht zu verwechseln mit dem statistischen Nachweis von mittelbaren Ungleichbehandlungen, so verwendet z. B. bei Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 2000, S. 64. Antje von Ungern-Sternberg
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§ 28 Diskriminierungsschutz bei algorithmenbasierten Entscheidungen
der Grundlage algorithmisierter Gruppenprofile zu treffen, etwa im Bereich der Gefahrenabwehr und der Leistungsverwaltung.28 13 Auch im Gegensatz zu präferenzbasierten Benachteiligungen sind statistische Diskriminierungen aber nicht unproblematisch. Sie knüpfen teilweise unmittelbar an besonders verpönte Unterscheidungsmerkmale an. Darüber hinaus beruht die statistische Diskriminierung darauf, dass einer Person die Eigenschaften einer Gruppe zugerechnet werden – ungeachtet der Tatsache, dass es sich um Eigenschaften handelt, die bei den Mitgliedern einer Gruppe nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit anzutreffen sind,29 und ungeachtet des Umstandes, dass auch schon diese Zuschreibungen – etwa die Korrelation von Hautfarbe und Kriminalität oder von Alter und Leistungsfähigkeit30 – negativ sein können. 14 Schließlich bildet es eine Kombination von präferenzbasierter und statistischer Diskriminierung, wenn Unternehmen sich an den algorithmisch prognostizierten Präferenzen ihrer Kunden orientieren. So vermitteln Online-Plattformen nach den mutmaßlichen Kundenpräferenzen etwa Nachrichten, Internetseiten oder Filme sowie Informationen zu potentiellen Arbeitgebern, Dates oder Konsumgütern. Auch dies kann problematisch sein. Zum einen kann die unterstellte Präferenz dazu führen, dass die Vermittlung bestimmte Gruppen an Informationsadressaten benachteiligt, beispielweise wenn weibliche oder schwarze Arbeitssuchende weniger attraktive Jobangebote angezeigt bekommen als weiße Männer.31 Zum anderen kann die mutmaßliche Kundenpräferenz sich in diskriminierender Weise auf Personen beziehen und etwa darin münden, dass Google-Recherchen zu schwarzen Personen auch auf einen kommerziellen Kriminalitäts-Check verweisen,32 dass Menschen mit Behinderung auf TikTok weniger sichtbar sind33 oder die Interessenten auf einer Dating-Plattform nach ethnischen Kriterien kategorisiert und zugeordnet werden34. 28 Zum personenbezogenen predictive policing in den USA Joh, The New Surveillance Discretion, Har-
vard Law & Policy Review 2016, S. 15 (24 ff.); Ferguson, Policing Predictive Policing, Washington University Law Review 94 (2017), S. 1109 (1137 ff.); zu Beispielen aus Europa AlgorithmWatch, Automating Society, Report, Januar 2019, etwa zur Arbeitsvermittlung S. 43, 108, 121; zur Förderung und zum Schutz von Kindern und Jugendlichen S. 50, 61, 101, 115; zur Gesundheitsvorsorge und Krankenbehandlung S. 88 f.; speziell zur Arbeitsvermittlung in Polen und Österreich Panoptykon Fundacja, Profiling the Unemployed in Poland, 2015, https://algorithmwatch.org/en/story/poland-government-to-scrap-controversialunemployment-scoring-system/; Holl/Kernbeiß/Wagner-Pinter, Das AMS-Arbeitsmarktchancen-Modell, Oktober 2018. 29 Hildebrandt (Fn. 2), S. 21, spricht für das Gruppenprofiling von „non-distributive profiles“. 30 Zu den Vorzügen präferenzbasierter politischer Entscheidungen mit Blick auf das Kriterium Alter Britz (Fn. 3), S. 23 ff. 31 Speicher/Ali/Venkatadri/Nunes Ribeiro/Arvanitakis/Benevenuto/Gummadi/Loiseau/Mislove (Fn. 21). 32 Sweeney, Discrimination in online ad delivery, Commun. ACM 56 (2013), S. 44. 33 Köver/Reuter, TikToks Obergrenze für Behinderungen, Netzpolitik.org v. 2.12.2019. Ferner können bei der algorithmisierten Moderation von online-Kommentaren im Kampf z. B. gegen Hassrede Beiträge aus schwarzer oder homosexueller Perspektive als besonders problematisch eingestuft werden und damit weniger sichtbar sein, Kayser-Bril, Automated moderation tool from Google rates People of Color and gays as „toxic“, algorithmwatch.org v. 19.5.2020. 34 Hutson/Taft/Barocas/Levy, Debiasing Desire: Addressing Bias & Discrimination on Intimate Platforms, Proceedings of the ACM on Human-Computer Interaction 2 (2018), S. 1. Antje von Ungern-Sternberg
C. Charakteristika und Grundfragen algorithmenbasierter Benachteiligungen
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2. Methodische Faktoren
Die – gewollte – Ungleichbehandlung aufgrund von Korrelationen kann zudem Benach- 15 teiligungen oder Verzerrungen mit sich bringen, die der Methodik des Profiling und der hierauf gestützten Entscheidungsfindung geschuldet sind. Wenn die Literatur hier von „technischen Verzerrungen“ („technical bias“) spricht,35 so sollte dies nicht verbergen, dass diese Verzerrungen auch beim menschlichen Profiling auftreten können36 und nicht nur technischen Gegebenheiten, sondern auch bewussten methodischen Entscheidungen entspringen. Diese Entscheidungen beinhalten 1. die Auswahl des Datensatzes für Trainingszwecke, 2. die Bestimmung des zu prognostizierenden Ergebnisses (inklusive der messbaren Zielvariable(n) zur Kennzeichnung etwa einer guten Schuldnerin oder eines guten Arbeitnehmers), 3. die Entscheidung, welche möglichen Wirkungsvariablen aus der Fülle verfügbarer Daten für das Prognose-Modell zur Verfügung gestellt werden, und schließlich – nachdem der Algorithmus die relevanten Wirkungsvariablen für das PrognoseModell ausgewählt und gewichtet hat – 4. die Überprüfung des Modells anhand eines weiteren Datensatzes.37 Alle genannten Entscheidungen können mit Verzerrungen einhergehen. Bei der Verzerrung durch Datenauswahl oder sampling bias38 wird der Algorithmus an- 16 hand eines Datensatzes trainiert (Schritt 1.) oder validiert (Schritt 4.), der keine repräsentativen Daten enthält. Wenn der Algorithmus das Lernergebnis nun auf neue Fälle überträgt, beruht dies auf der Annahme, dass der Lern-Datensatz in seinen Eigenschaften mit den künftig zu bearbeitenden Daten übereinstimmt.39 Soll ein Algorithmus beispielsweise anhand eines Datensatzes lernen, Bilder zu erkennen, müssen diese Bilder repräsentativ ausgewählt sein, sonst drohen Erkennungsfehler.40 Verzerrungen entstehen hierbei nicht nur, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen in den Trainingsdaten unterrepräsentiert sind, in einem Datensatz erfolgreicher Arbeitnehmer beispielsweise die Frauen. Eine verzerrende Wirkung kann auch von der Überrepräsentation ausgehen: Das „Racial Profiling“, also eine verstärkte polizeiliche Kontrolle von Menschen mit dunkler Hautfarbe, führt etwa typischerweise dazu, dass bei dieser Bevölkerungsgruppe die Aufklärungsrate bei Straftaten sehr viel höher liegt als bei der weißen Bevölkerung, was wiederum eine – ver35 Hier haben sich noch keine einheitlichen Begrifflichkeiten etabliert; Friedman/Nissenbaum, Bias in
Computer Systems, ACM Transactions on Information Systems 14 (1996), S. 330 (333 ff.); Calders/Žliobaitė, Why Unbiased Computational Processes Can Lead to Discriminative Decision Procedures, in: Custers u. a. (Hrsg.), Discrimination and Privacy in the Information Society, 2013, S. 43 (50 ff.); Barocas/Selbst, Big Data’s Disparate Impact, California Law Review 104 (2016), S. 671 (681 ff.); Zweig (Fn. 5), S. 212 ff. 36 Zu in Ansätzen ähnlichen Fehlerquellen beim menschlichen Profiling schon Britz (Fn. 3), S. 18 ff. 37 Mit geringfügig abweichender Zählweise Kleinberg/Ludwig/Mullainathan/Sunstein (Fn. 6), S. 22 ff. Mannigfaltige Beispiele sowie Erklärungsansätze bei Orwat, Diskriminierungsrisiken durch Verwendung von Algorithmen, 2019, S. 34 ff., S. 77 ff. 38 Ähnlich Calders/Žliobaitė (Fn. 35), S. 51; Barocas/Selbst (Fn. 35), S. 684; Orwat (Fn. 37), S. 79 ff. 39 Calders/Žliobaitė (Fn. 35), S. 46. 40 Mit einem Beispiel aus der Bilderkennung (Wölfe und Huskeys) Ribeiro/Singh/Guestrin, Why Should I Trust You?, KDD ’16: Proceedings of the 22nd ACM SIGKDD International Conference on Knowledge Discovery and Data Mining, S. 1135 (1142). Antje von Ungern-Sternberg
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zerrte – statistische Korrelation von dunkler Hautfarbe und Kriminalität suggeriert.41 Die Verwendung eines unrepräsentativen Datensatzes kann durch unterschiedliche Gründe bedingt sein. Teils sind repräsentative Datensätze aufgrund gesellschaftlicher Strukturen nicht leicht verfügbar, teils vorhandene Datensätze veraltet,42 teils wird die mangelnde Repräsentativität schlicht nicht erkannt oder entspricht Stereotypen oder diskriminierenden Präferenzen. Auch die mangelnde Überprüfungsmöglichkeit bestimmter statistischer Annahmen führt letztlich zu unrepräsentativen Daten, etwa wenn Prognosen zur Kreditwürdigkeit nur mit Blick auf tatsächlich gewährte (und nicht auch auf abgelehnte) Kredite oder wenn Prognosen zur Rückfallneigung nur mit Blick auf positive (und nicht auch negative) Bewährungsentscheidungen verifiziert werden können. 17 Verzerrungen werden ferner durch die Zuschreibung von Eigenschaften (labelling bias) verursacht.43 Zielvariablen (2.), aber auch Trainings- oder Testdaten (1. und 4.) sowie die im Modell zugrunde gelegten Wirkungsvariablen (3.) können sich nämlich nicht nur auf Tatsachen beziehen (z. B. pünktliche Ratenzahlungen, hohe Verkaufsergebnisse), sondern auch auf Wertungen (z. B. auf Bewertungsportalen oder in Arbeitszeugnissen). Wertungen sind hierbei in besonderer Weise anfällig für diskriminierende Vorurteile und Stereotypen, wie es etwa für juristische Prüfungen44 oder Lehrevaluationen45 nachgewiesen wurde. Hinzu kommt, dass sich diskriminierende Zuschreibungen auch mittelbar in Tatsachen niederschlagen können, etwa in der überproportionalen polizeilichen Verhaftung von Minderheiten. 18 Des Weiteren kann die unvollständige Berücksichtigung von Merkmalen zu Verzerrungen führen ( feature selection bias).46 Wenn Algorithmen Korrelationen für prognostische Aussagen ermitteln sollen, stützen sie sich auf die verfügbaren Merkmale (1., 3., 4.). Beispielsweise berücksichtigen Versicherungen traditionell bestimmte Daten zum Fahrzeug (Leistung, Typ) und zur versicherten Person (Alter, Adresse, Unfallhistorie, früher auch das Geschlecht), um das Risiko eines Verkehrsunfalls zu klassifizieren. Allerdings ist zu vermuten, dass ein weiteres Merkmal wie der – aggressive oder defensive – Fahrstil in noch viel stärkerem Maße mit dem Unfallrisiko korreliert als etwa das Alter (oder das Geschlecht).47 Statt jungen (männlichen) Fahranfängern besonders teure Versicherungsprämien aufzuerlegen, könnten Versicherungen die Prämienklassen daher anhand des Fahrstils bestimmen und eine Benachteiligung aus Gründen des Alters (und Geschlechts) vermeiden. In vergleichbarer Weise erscheint es unvollständig, wenn sich die Ermittlung 41 Schauer, Profiles, probabilities, and stereotypes, 2003, S. 194 ff.; Harcourt, Against Prediction. Profiling,
Policing and Punishing in an Actuarial Age, 2007, S. 145 ff.
42 Kleinberg/Ludwig/Mullainathan/Sunstein (Fn. 6), S. 41 („zombie predictions“). 43 Siehe Calders/Žliobaitė (Fn. 35), S. 50 f.; Barocas/Selbst (Fn. 35), S. 681; Orwat (Fn. 37), S. 77 f. 44 Zur schlechteren Benotung von Frauen und Prüflingen mit Migrationshintergrund Glöckner/Towfigh/
Traxler, Empirische Untersuchung zur Benotung in der staatlichen Pflichtfachprüfung und in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nordrhein-Westfalen von 2006 bis 2016, 7.12.2017. 45 Özgümüs/Rau/Trautmann/König-Kersting, Gender Bias in the Evaluation of Teaching Materials, Frontiers in Psychology 11 (2020), S. 1074. 46 Ähnlich Calders/Žliobaitė (Fn. 35), S. 52 f.; Barocas/Selbst (Fn. 35), S. 688. 47 Beispiel nach Calders/Žliobaitė (Fn. 35), S. 52 f. Antje von Ungern-Sternberg
C. Charakteristika und Grundfragen algorithmenbasierter Benachteiligungen
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des Kreditausfallrisikos maßgeblich an der Adresse des Kreditnehmers ausrichtet und dadurch die Bewohner ärmerer Stadtviertel benachteiligt, anstatt sich an aussagekräftigeren Merkmalen wie Einkommen oder Konsumverhalten zu orientieren.48 Schließlich muss man bei statistischen Aussagen grundsätzlich Fehlermargen in Kauf 19 nehmen, die in Falsch-Positiven (z. B. Personen mit prognostiziertem hohem Rückfallrisiko, die aber nicht rückfällig werden) und Falsch-Negativen (z. B. Personen mit prognostiziertem geringen Rückfallrisiko, die aber rückfällig werden) bestehen. Es ist nun eine Wertungsfrage, welche Margen mit Blick auf welche Entscheidungen akzeptabel erscheinen, ab welchem Risikoscore also beispielsweise ein Kredit versagt oder ein Flugverbot erteilt wird. Darüber hinaus stellt sich aber auch im Rahmen der Prognosezielsetzung (4.) die Frage, wie unterschiedliche Fehlermargen auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zu verteilen sind. Hier besteht nämlich ein mathematischer Zielkonflikt, wenn bestimmte Eigenschaften ungleichmäßig in gesellschaftlichen Gruppen anzutreffen sind, wenn sich also beispielsweise die Rückfallquote für die schwarze und die weiße Bevölkerung unterscheiden.49 Hier kann man die Prognosefehler entweder bezogen auf die Bevölkerung insgesamt oder bezogen auf die jeweiligen Risikoklassen für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen angleichen – beides gleichzeitig ist bei einer ungleichmäßigen Ausgangsverteilung unmöglich. Es entstehen mit anderen Worten jeweils Unterschiede in den Fehlerquoten zwischen unterschiedlichen Gruppen, entweder innerhalb der Risikoklassen oder bezogen auf die Gesellschaft insgesamt.50 II. Nachweisbarkeit (Black-Box-Phänomen)
Ein wichtiges Charakteristikum algorithmenbasierter Benachteiligungen besteht darin, 20 dass sie nur schwer als solche zu erkennen sind.51 Anders als in der analogen Welt bleiben die Kriterien und die Folgen algorithmenbasierter Entscheidungen nämlich häufig unsichtbar. Wenn die finanziellen Verhältnisse einer Steuerpflichtigen aufgrund einer KIgestützten Risikoanalyse überprüft werden, kennt die Betroffene weder die übrigen Überprüften noch die maßgeblichen Kriterien für die Überprüfung. Sollte hingegen in einem Bahnwagen nur die eine Reisende mit dunkler Hautfarbe kontrolliert werden, kann man das Auswahlkriterium der Polizei erahnen. Auch als Nutzerin einer Verkaufsplattform kennt man typischerweise nur die selbst abgeschlossenen Verträge, ohne zu wissen, ob und inwieweit sich persönliche Eigenschaften auf die algorithmisch prognostizierte Zahlungsbereitschaft oder Kreditwürdigkeit und diese wiederum auf den Preis und die übrigen Vertragsbedingungen auswirken. Im traditionellen Kaufhaus hingegen wird sichtbar, welche 48 Siehe Barocas/Selbst (Fn. 35), S. 689; unten Rn. 51 ff. (D. I. 1. d)). 49 Ausführlich Zweig/Krafft, Fairness und Qualität algorithmischer Entscheidungen, in: Mohabbat Kar/
Thapa/Parycek (Hrsg.), (Un)Berechenbar? Algorithmen und Automatisierung in Staat und Gesellschaft, 2018, S. 204 ff. 50 Kritik mit Blick auf die Rückfallprognose Angwin/Larson/Mattu/Kirchner, Machine Bias, propublica. org v. 23.5.2016; zum Zielkonflikt Zweig/Krafft (Fn. 49), S. 211 ff.; Cofone, Algorithmic Discrimination Is an Information Problem, Hastings Law Journal 70 (2019), S. 1389 (1433 ff.). 51 Grundlegend Pasquale, The Black Box Society, 2015. Antje von Ungern-Sternberg
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Kundschaft dort verkehrt und wie sehr man sich um sie bemüht. Anders formuliert: Im digitalen Raum nimmt die Sichtbarkeit diskriminierungsrechtlich relevanter Gruppen und maßgeblicher Entscheidungskriterien ab. Die empirische Diskriminierungs-Forschung ist hier bislang auf öffentlich zugängliche Informationen angewiesen, um Ungleichbehandlungen etwa bei der Darstellung von Inhalten im Internet zu belegen, oder bittet um „Datenspenden“, also um das Übermitteln dezentraler Resultate algorithmenbasierter Entscheidungen, um etwa das Scoring der Schufa zu analysieren52. 21 Das Antidiskriminierungsrecht steht daher vor der Frage, wie man mit der erschwerten Nachweisbarkeit algorithmenbasierter Benachteiligungen umgehen kann. In technischer Hinsicht ist hierbei bislang noch unklar, ob die Funktionsweise komplexer selbstlernender Algorithmen überhaupt offengelegt werden kann.53 In rechtlicher Hinsicht sind auch legitime gegenläufige Interessen zu berücksichtigen. So können Behörden oder Unternehmen Algorithmen geheim halten, damit Betroffene beispielsweise die Indikatoren für ihre Steuerehrlichkeit oder Kreditwürdigkeit nicht manipulieren könnten.54 Ferner sind Algorithmen in besonderer Weise immaterialgüterrechtlich, namentlich als Betriebs- und Geschäftsgeheimnis, geschützt.55 III. Dogmatische Kategorien 22
Algorithmenbasierte Benachteiligungen werfen Fragen für drei klassische Aspekte des Antidiskriminierungsrechts auf, für die „Benachteiligung“ (1.), die Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung (2.) sowie für den Katalog verpönter Merkmale (3.). 1. Erweitertes Verständnis der Benachteiligung
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Das Antidiskriminierungsrecht erfasst „Benachteiligungen“ (z. B. §§ 7 Abs. 1, 19 Abs. 1 AGG, Art. 3 Abs. 3 GG) oder Ungleichbehandlungen (z. B. Art. 3 Abs. 1 GG). Dies meint nach herrschender Auffassung zunächst, dass ein Nachteil individualisierbar zugeordnet werden kann.56 Außerdem erfassen die Normen vorrangig rechtliche, gegebenenfalls aber auch tatsächliche Benachteiligungen.57 Algorithmenbasierte Entscheidungen sind unSo etwa das Projekt bei https://algorithmwatch.org/project/openschufa/. Martini (Fn. 9), S. 41 ff. Siehe etwa § 32a Abs. 1 Nr. 2, § 88 Abs. 5 Satz 4 Abgabenordnung (AO). BGH, NJW 2014, S. 1235 (1237 ff.), derzeit ist eine Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung anhängig; Martini (Fn. 9), S. 33 ff. 56 Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 84; Baumgärtner, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: Juni 2021, § 3 Rn. 27; Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, § 3 AGG Rn. 1; Thüsing, in: MüKo BGB, Bd. 1, 9. Aufl. 2021, § 3 AGG Rn. 2; § 7 AGG Rn. 2. 57 Zum Grundgesetz siehe Kingreen, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Stand: Februar 2020, Art. 3 Rn. 248 ff.; Nußberger (Fn. 56), Art. 3 Rn. 134 ff.; zum Gebot der Chancengleichheit – in Verbindung mit Freiheitsrechten – etwa für Prüfungen, Wahlen und Parteien Nußberger (Fn. 56), Art. 3 Rn. 57 ff. Zum AGG Thüsing (Fn. 56), § 3 AGG Rn. 44 ff.; § 7 AGG Rn. 2 ff. Nachdem das 52 53 54 55
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schwer als Benachteiligungen in diesem Sinn anzusehen, wenn sie konkrete rechtliche Vorteile versagen (eine Strafaussetzung zur Bewährung, einen Studienplatz, einen Kredit) oder Nachteile auferlegen (ein Flugverbot, schlechte Versicherungskonditionen, einen teureren Preis). Zu klären wäre nun, ob auch weitere Formen algorithmenbasierter Entscheidungen als Benachteiligungen im Rechtssinne angesehen werden sollten, wie es das Schutzanliegen des Antidiskriminierungsrechts für gravierende Nachteile verlangt und der offene Wortlaut der Begriffe „Benachteiligung“ bzw. Ungleichbehandlung zulässt. Ein erstes Beispiel betrifft Fehler bei algorithmischen Entscheidungen, die sich in be- 24 sonderer Weise zulasten geschützter Bevölkerungsgruppen auswirken. Wenn Fehler bei der Gesichtserkennung etwa überwiegend zur Verhaftung falscher dunkelhäutiger Personen führen, lässt sich dies durchaus als Benachteiligung im diskriminierungsrechtlichen Sinn einstufen – anders als möglicherweise Fehlfunktionen bei privat genutzten Produkten oder Dienstleistungen, etwa dem Seifenspender, der bei Händen von Schwarzen nicht funktioniert.58 Da Algorithmen im Informationszeitalter eine Schlüsselrolle für die Wahrnehmung 25 der Welt und für zentrale Entscheidungen privater und staatlicher Akteure spielen, sollte das Antidiskriminierungsrecht zweitens auch spezifische nachteilige Effekte bei der Vermittlung von Informationen in den Blick nehmen.59 Wenn eine Frau beispielsweise Jobangebote angezeigt bekommt, die mit weniger Führungsverantwortung und schlechterer Bezahlung einhergehen als die Angebote für einen Mann mit vergleichbarem Internetprofil, dann reduziert dies ihre Chancen, sich auf attraktivere Stellen zu bewerben und diese zu bekommen,60 und stellt eine diskriminierungsrechtlich relevante Benachteiligung dar.61 Gleiches muss für die Verbreitung von Informationen gelten, wenn bestimmte Absender – beispielsweise wegen persönlicher Eigenschaften, die für konfliktträchtig erachtet werden – von Informationsplattformen benachteiligt werden.62 Hiervon abzugrenzen ist die insgesamt geringere Sichtbarkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen im öffentlichen Raum, die jenseits konkreter individualisierbarer Benachteiligungen nicht dem Antidiskriminierungsrecht unterfällt. Eine dritte Form der Benachteiligung kann schließlich in der algorithmisierten Voraus- 26 wahl für weitergehende Maßnahmen der Informationserhebung liegen, etwa in der Auswahl für ein Vorstellungsgespräch oder für behördliche Kontrollen. Das Recht knüpft hier Bundesarbeitsgericht zunächst bereits das Versagen eines Vorstellungsgesprächs als Benachteiligung qualifizierte, weil damit die Chance auf Einstellung versagt wurde (BAG, NZA 2009, S. 1016 (1018); so auch Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, § 7 AGG Rn. 1), hat es diese Rechtsprechung unlängst relativiert (BAG, NZA 2020, S. 851 (856): Nichteinladung begründe lediglich Vermutung der Benachteiligung). 58 Afigbo, https://twitter.com/nke_ise/status/897756900753891328?lang=de. 59 Zum Wirtschafts- und Medienrecht siehe unten Rn. 59 ff. (D. I. 2. c) und d)). 60 Vgl. Kayser-Bril, Automated discrimination: Facebook uses gross stereotypes to optimize ad delivery, algorithmwatch.org v. 18.10.2020. 61 Siehe auch Fröhlich, Männer fahren LKW, Frauen erziehen Kinder, Verfassungsblog v. 6.11.2020, die einen Verstoß gegen § 11 AGG bejaht. 62 Kayser-Bril (Fn. 33). Antje von Ungern-Sternberg
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traditionell an die nachgelagerten Entscheidungen an (z. B. die Nichteinstellung oder die Strafverfolgung). Wenn die Vorauswahl aber maßgeblichen Einfluss auf die nachgelagerte Entscheidung ausübt, sollte man Benachteiligungen auch schon auf dieser vorgelagerten Stufe mit dem Diskriminierungsrecht erfassen, etwa die algorithmisierte Nichtberücksichtigung einer Bewerbung im Einstellungsverfahren oder die algorithmisierte Aussonderung einer Steuererklärung zur Überprüfung. 2. Bedeutungszuwachs für die mittelbare Benachteiligung
Die im Antidiskriminierungsrecht etablierten Kategorien der unmittelbaren und mittelbaren bzw. faktischen Ungleichbehandlung63 sind auch für algorithmenbasierte Benachteiligungen relevant, wobei mit einem erheblichen Bedeutungszuwachs der mittelbaren Benachteiligung zu rechnen ist.64 Denn man kann beim Design von Algorithmen leicht ein unmittelbares Anknüpfen an verpönte Merkmale vermeiden, indem diese Merkmale in den genutzten Datensätzen nicht erhoben oder nicht berücksichtigt werden dürfen. Zugleich besteht aber die Gefahr, dass vulnerable Gruppen mittelbar benachteiligt werden, weil sich aus den Datensätzen Korrelationen ergeben, die zu ihrem Nachteil wirken, beispielsweise Datensätze, in denen sich gesellschaftliche Ungleichheiten oder Stereotypen widerspiegeln. Nicht die Präferenz für Männer, sondern Elemente erfolgreicher überwiegend männlicher Bewerbungen, die der Algorithmus aus alten Datensätzen ermittelt hat und nun weiternutzt (z. B. das Praktikum in einem bestimmten Unternehmen, das Zeugnisattribut „durchsetzungsfähig“), führen dann zur faktischen Benachteiligung von Frauen. Hinzu kommt ferner, dass sich bei Algorithmen wegen ihrer Intransparenz die Wirkungen häufig besser ermitteln lassen als die internen Entscheidungskriterien. Damit kann man zumindest eine faktische Benachteiligung feststellen, auch wenn das Vorliegen einer unmittelbaren Benachteiligung unklar bleibt. 28 Formen direkter Benachteiligungen sind aber ebenfalls weiterhin vorstellbar, wenn bei Erstellung eines Profils auch verpönte Merkmale genutzt werden. Bei zunehmend komplexen Profilen stellt sich allerdings die Frage, wann eine auf das Profil gestützte Entscheidung „wegen“65 des verpönten Merkmals benachteiligt. Denn selbst wenn sich verpönte Merkmale eindeutig negativ auf ein Profil auswirken (z. B. Geschlecht und Alter als Risikofaktoren für Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt), könnten für konkrete Maßnahmen ja andere Datenpunkte des Profils ausschlaggebend gewesen sein (z. B. Qualifikationen und Fertigkeiten).66 27
63 Hierzu § 3 Abs. 2 AGG; → Sacksofsky § 14; vgl. zur US-amerikanischen Unterscheidung von „disparate
treatment“ und „disparate impact“ auch Peters/König, Das Diskriminierungsverbot, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Bd. II, 2. Aufl. 2013, Kap. 21 Rn. 76 ff. 64 Zum Nachweis mittelbarer Benachteiligung Wachter/Mittelstadt/Russell, Why Fairness Cannot be Automated: Bridging the Gap between EU non-discrimination law and AI, Computer law & Security Review 41 (2021), Article 105567, Abschn. V f. 65 § 3 Abs. 1 AGG. 66 Zur möglichen Verschiebung von Darlegungslasten unten Rn. 99 (D. III. 2.) und v. Lewinski/de Barros Fritz, Arbeitgeberhaftung nach dem AGG infolge des Einsatzes von Algorithmen bei Personalentscheidungen, NZA 2018, S. 620 (622); abzulehnen ist allerdings die dort vertretene Auffassung, eine unmittelbare Antje von Ungern-Sternberg
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Daher wirft die Digitalisierung die Frage nach Grund und Reichweite des Verbots 29 mittelbarer Diskriminierung mit verstärkter Dringlichkeit auf. Dieses Verbot ist bislang vor allem dort etabliert, wo klare Korrelationen erkennbar sind (etwa zwischen Teilzeitbeschäftigung und Geschlecht, Wohnsitz oder Sprache und Nationalität, Bildungsabschlüssen und Rasse) und die besondere Bedeutung des Diskriminierungsverbots unangefochten ist.67 Bei algorithmenbasierten Ungleichbehandlungen sind nun eine Fülle ebenfalls deutlicher Korrelationen denkbar, die der Rechtfertigungslast unterliegen müssen.68 Ein Beispiel an der Grenze zwischen direkter und indirekter Diskriminierung bildet die Werbepolitik von Facebook. Werbekunden von Facebook war es früher möglich, etwa für Schwarze, homosexuelle Männer oder Gehörlose Anzeigen zu schalten oder diese Gruppen von der Werbung auszunehmen, wobei das Unternehmen die Personengruppen nicht mithilfe der verpönten Merkmale, sondern mit ihrer „Affinität“ zu einer bestimmten Ethnie, dem „Interesse“ von Männern an Männern, oder dem „Interesse“ der Nutzer an der Gebärdensprache umschrieb.69 Eine Benachteiligung aufgrund dieses „affinity profiling“ lässt sich schon als unmittelbar einstufen, weil es der Plattform offensichtlich darum ging, die verpönten Merkmale über Interessen zu ermitteln.70 Stellt man hingegen darauf ab, dass sich das Interesse für bestimmte Themen und die hiermit verbundenen Eigenschaften nicht zwingend decken, so liegt aber jedenfalls eine mittelbare Benachteiligung vor, die eine Rechtfertigungslast aufwirft. 3. Neue verpönte Merkmale
Schließlich stellt sich angesichts algorithmenbasierter Benachteiligungen auch die Frage, 30 ob das Antidiskriminierungsrecht den Kanon anerkannter verpönter Unterscheidungsmerkmale (wie Rasse, Geschlecht und Religion, Alter, sexuelle Orientierung, Behinderung und Staatsangehörigkeit) um weitere Merkmale erweitern sollte, etwa um das Verbot, bestimmte Merkmale oder ganze Profile in einem bestimmen Kontext zu nutzen. Dort, wo umfängliche Profile erhoben und genutzt werden, beispielsweise bei der Ana- 31 lyse des Surfverhaltens im Internet (für die Informationsvermittlung) oder der Fahr- oder Lebensweise einer Versicherungsnehmerin (für sich automatisch anpassende TelematikDiskriminierung scheide bei mangelnder Kenntnis des verpönten Kriteriums durch den Algorithmenverwender aus. 67 Grundlegend US Supreme Court, Griggs v. Duke Power Co., 401 U. S. 424 (1971) (benachteiligende Einstellungstests); EuGH, Urt. v. 31.3.1981, Rs. 96/80, Jenkins; EuGH, Urt. v. 13.5.1981, Rs. 170/84, Bilka (Nachteile für Teilzeitkräfte); EuGH, Urt. v. 12.2.1974, Rs. 152/73, Sotgiu (benachteiligendes Wohnsitzerfordernis); Craig/de Búrca, EU Law, 7. Aufl. 2020, S. 796 f. (zur mittelbaren Benachteiligung von EU-Ausländern). 68 Siehe unten Rn. 90 ff. (D. II. 4. b)). 69 Angwin/Parris, Facebook Lets Advertisers Exclude Users by Race, propublica.org v. 28.10.2016; Angwin/Tobin/Varner, Facebook (Still) Letting Housing Advertisers Exclude Users by Race, propublica.org v. 21.11.2017; zur veränderten Politik des Konzerns Kofman/Tobin, Facebook Ads Can Still Discriminate Against Women and Older Workers, Despite a Civil Rights Settlement, propublica.org v. 13.12.2019. 70 So im Ergebnis auch Wachter, Affinity Profiling and Discrimination by Association in Online Behavioural Advertising, Berkeley Technology Law Journal 35 (2020), S. 367. Antje von Ungern-Sternberg
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tarife)71, erscheint die Unterscheidung allerdings häufig legitim. Denn hier knüpft die Behandlung eben nicht an grobe, häufig unveränderliche gruppenspezifische Merkmale an, sondern relativ passgenau an Verhaltensweisen, die erkennbar mit relevanten Entscheidungsfaktoren (etwa den Interessen an bestimmten Inhalten oder dem Risiko von Unfällen oder Krankheiten) korrelieren. Die mit der Erstellung und Nutzung von Profilen einhergehenden Gefahren sollten daher in erster Linie durch den Datenschutz, den Verbraucherschutz oder Freiheitsrechte eingehegt werden.72 32 Das Antidiskriminierungsrecht könnte jedoch in der Tat auf die Verwendung neuer problematischer Einzelmerkmale reagieren, was insbesondere bei einer rechtsgebietsübergreifenden Nutzung naheliegt.73 Hier wirft die Benachteiligung aufgrund von Beziehungen ein bislang nur unzureichend diskutiertes Problem auf. Das großangelegte System des chinesischen Sozialkredits, das die Verhaltensweisen der chinesischen Bürgerinnen und Bürger überwacht und aus positiven und negativen Handlungen einen individuellen Score errechnet, berücksichtigt hierbei auch die Verhaltensweisen von Online-Freunden.74 Das in den USA eingesetzte Programm zur Prognose des Rückfallrisikos von Straftätern stellt nicht nur auf Eigenschaften und Vorverhalten der Betroffenen, sondern auch auf Kriminalität, Gangmitgliedschaft und Drogenkonsum in der Familie, bei den Freunden oder in der Nachbarschaft ab.75 Auch der Sortieralgorithmus, der über die Auswahl und Priorisierung von Nachrichten im Newsfeed von Facebook entscheidet, stützt sich hierfür auf die Beziehung zwischen Nutzern und Sendern.76 Zwar ist der Rückschluss von menschlichen Beziehungen auf Interessen, Eigenschaften und Verhaltensweisen nicht unplausibel. Zugleich verdeutlichen die genannten Beispiele aber auch die Gefahr, dass Personen aufgrund von Fehlverhalten oder Schwierigkeiten im persönlichen Umfeld Nachteile erleiden. 33 Daher könnte man Beziehungen schon jetzt als verpöntes Merkmal unter die offenen Diskriminierungsverbote subsumieren oder im Wege der Gesetzgebung den ausdrücklich verpönten Merkmalen hinzufügen. Dies ginge über verwandte Ansätze hinaus. Denn das Verbot der Diskriminierung wegen einer Verbindung („discrimination by association“) erstreckt den Schutz für eine bestimmte Gruppe (z. B. Menschen mit Behinderung) auch auf Personen ohne die relevanten Merkmale (z. B. betreuende Angehörige), erfasst allerdings nicht das generelle Problem, dass einer Person die negativen Eigenschaften und Risiken einer anderen Person zugerechnet werden.77 Auch das Verbot der Diskriminierung 71 Hierzu aktuell etwa Koch, Zum Umgang mit fehlerhaften Prämienfaktoren in telematikbasierten Ver-
sicherungstarifen, VersR 2020, S. 1413.
72 Für eine Lösung über das Antidiskriminierungsrecht Gerards/Borgesius, Protected Grounds and the
System of Non-Discrimination Law in the Context of Algorithmic Decision-Making and Artificial Intelligence, 2020, https://ssrn.com/abstract=3723873. 73 Vorschläge mit Blick auf weitere Merkmale, z. B. psychische oder emotionale Umstände, Orwat (Fn. 37), S. 111. 74 Botsman (Fn. 18). 75 Der vollständige Kriterienkatalog findet sich verlinkt in Angwin (Fn. 50) unter https://www. documentcloud.org/documents/2702103-Sample-Risk-Assessment-COMPAS-CORE.html. 76 Lischka/Stöcker, Digitale Öffentlichkeit, 2017, S. 22 ff. 77 EuGH, Urt. v. 17.7.2008, Rs. C-303/06, Coleman, hierzu Schlachter, Benachteiligung wegen besonderer Verbindungen statt Zugehörigkeit zu einer benachteiligten Gruppe, RdA 2010, S. 104; zum vergleichbaren Antje von Ungern-Sternberg
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aus Gründen der Abstammung und damit der „Sippenhaft“ (Art. 3 Abs. 3 GG)78 erstreckt sich nur auf die Beziehungen zu den eigenen Vorfahren und nicht auf die übrigen Beziehungen. Darüber hinaus lassen sich verpönte Merkmale auch bereichsspezifisch verbieten. So 34 beschränkt der Gesetzgeber bereits in Art. 9 DSGVO in besonderer Weise die Verarbeitung sensibler personenbezogener Daten, etwa zur Gesundheit oder Genetik,79 oder die punktuelle Verwendung einzelner Merkmale, etwa zum Scoring80. Auch in anderen Konstellationen bietet sich eine Lösung nach dem Fachrecht an. Beispielsweise können Internetverkaufsplattformen Informationen zum Endgerät der Internetnutzerin oder zum Ladestand ihres Geräteakkus für die Vertragsgestaltung verwenden, indem sie bei AppleGeräten hohe Zahlungsbereitschaft oder bei geringer Restakkulaufzeit Interesse an einem schnellen Geschäftsabschluss unterstellen und deshalb ein teureres Angebot unterbreiten als bei den übrigen Kunden. Da Personen mit entsprechenden Merkmalen (Apple-Kunden, niedriger Akkustand) nicht per se schutzbedürftig erscheinen, stellt das genannte Beispiel aber in erster Linie eine Angelegenheit des Datenschutzes und des Verbraucherschutzrechts dar. IV. Verantwortung
Schließlich ist auch zu klären, wer die rechtliche Verantwortung für etwaige Benachtei- 35 ligungen durch Algorithmen trägt. Hierfür kann man an unterschiedliche Handlungen anknüpfen, neben der Verwendung des Algorithmus beispielsweise an seine Entwicklung, das Bereitstellen der Daten, den „Verkauf “ des Algorithmus, seine fortlaufende Überwachung oder die Zertifizierung seiner Funktionsfähigkeit. Das Zivilrecht diskutiert bereits intensiv, wie die allgemeine Schadenshaftung hier beispielsweise um eine Produkt- oder die Gefährdungshaftung ausgeweitet oder durch Versicherungen ergänzt werden kann.81 Gleiches ist für rechtliche Schäden wie Diskriminierungen denkbar. Nach geltendem Recht ist die primäre Pflicht, Diskriminierungen zu unterlassen (Art. 3 Abs. 1 GG, §§ 7 Abs. 1, 19 Abs. 1 AGG), von etwaigen Schadensersatzpflichten zu unterscheiden. Führt die Verwendung eines Algorithmus zu einer verbotenen Benachteiligung, dann verstößt jedenfalls der Verwender – von dem die Benachteiligung ausgeht – gegen das Unterlassungsverbot, beispielsweise der Staat beim Einsatz diskriminierender Risikoanalysesoftware oder die Informationsplattform bei der diskriminierenden Vermittlung von Arbeitsangeboten. Schadensersatzpflichten bestehen auf besonderer gesetzlicher Grundlage, etwa nach § 15 Konzept in den USA siehe Quinn/Flynn, Transatlantic Borrowings: The Past and the Future of EU NonDiscrimination Law and Policy on the Ground of Disability, American Journal of Comparative Law 60 (2012), S. 23 (43 ff.). 78 Nußberger (Fn. 56), Art. 3 Rn. 292 f. 79 Unten Rn. 42 (D. I. 1. b)). 80 Unten Rn. 51 (D. I. 1. d)). 81 Grundlegend Zech, Entscheidungen digitaler autonomer Systeme: Empfehlen sich Regelungen zu Verantwortung und Haftung?, Verhandlungen des 73. Deutschen Juristentages, Bd. 1, 2020, A 98 ff.; Martini (Fn. 9), S. 278 ff. Antje von Ungern-Sternberg
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Abs. 1 und 2 AGG gegenüber dem Arbeitgeber, nach § 21 Abs. 2 AGG im allgemeinen Zivilrechtsverkehr82 oder nach § 8 Abs. 1 und 2 des Berliner Antidiskriminierungsgesetzes gegenüber dem Land, typischerweise aber nicht nach allgemeinem Staatshaftungsrecht83. Allerdings stellt sich hier noch stärker als bei der Benachteiligung84 die Frage, inwieweit auch Nachteile im Zusammenhang mit Informationserhebung oder -vermittlung als Schaden qualifiziert werden können. Außerdem können für das Vertretenmüssen85 Fehler eines Algorithmus, anders als Fehler bei der Bedienung und Anwendung des Algorithmus, dem Verwender wohl nicht nach § 278 BGB zugerechnet werden, da diese Vorschrift nur menschliche Erfüllungsgehilfen („Personen“) erfasst.86 Wenn daher die Pflicht, algorithmengestützte Diskriminierungen zu unterlassen, durch Entschädigungsansprüche flankiert werden soll, müsste der Gesetzgeber tätig werden und insbesondere bestimmen, ob vorrangig der Produzent, der Verwender oder eine Versicherung einzutreten hat.
D. Individualrechte zur Einhegung algorithmenbasierter Benachteiligungen 36
Die rechtliche Bewältigung algorithmenbasierter Benachteiligungen erfolgt traditionell über materiell-rechtliche Pflichten, die mit Individualrechten korrespondieren. Es handelt sich um Benachteiligungsverbote und Datenschutzregelungen (I.), die einer Rechtfertigung grundsätzlich offenstehen (II.). Ein zentrales Problem bildet der Nachweis von etwaigen Verstößen (III.). I. Überblick: Normierungsansätze
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Das Verbot ungerechtfertigter Benachteiligungen, etwa nach Maßgabe von Art. 3 Abs. 3 GG oder §§ 7 Abs. 1, 19 Abs. 1 AGG, gilt technikneutral für alle unter den Tatbestand zu subsumierenden Benachteiligungen, die auf Entscheidungen eines Menschen oder eines Algorithmus zurückzuführen sind. Hierbei hat neben den unterschiedlichen Benachteiligungsverboten (2.) auch das Datenschutzrecht (1.) eine besondere Bedeutung.
82 Dies gilt daher auch im Verhältnis zwischen Informationsplattformen und Nutzerinnen und Nutzern,
anders wohl Fröhlich (Fn. 61); die zivilrechtlichen Haftung nach BGB ist in der Regel nicht gegeben, siehe etwa Thüsing (Fn. 56), § 15 AGG Rn. 51 ff. 83 Dies gilt wegen des notwendig „qualifizierten Rechtsverstoßes“ schon für die Haftung nach Unionsrecht und erst recht für das deutsche Staatshaftungsrecht, das primär an Amtspflichten und dem Schutz des Eigentums ausgerichtet ist, siehe Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl. 2020, § 31 Rn. 15, § 25 Rn. 2. 84 Oben Rn. 23 (C. III. 1.). 85 Z. B. nach § 15 Abs. 1 Satz 2 oder § 21 Abs. 2 Satz 2 AGG. 86 Für eine analoge Anwendung sieht die zivilrechtliche Literatur keine vergleichbare Interessenlage, ausführlich Schaub, in: Artz u. a. (Hrsg.), BeckOGK BGB, Stand: März 2021, § 278 Rn. 17 m. w. N.; anders v. Lewinski/de Barros Fritz (Fn. 66), S. 623. Antje von Ungern-Sternberg
D. Individualrechte zur Einhegung algorithmenbasierter Benachteiligungen
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1. Datenschutz
Das Antidiskriminierungsrecht schützt Gruppen oder Personen, die durch personenbe- 38 zogene Merkmale gekennzeichnet sind. Daher kann der Kampf gegen Diskriminierungen auch bei der Kenntnis dieser Merkmale ansetzen. Datenschutz und Antidiskriminierungsrecht überschneiden sich insoweit.87 Das Antidiskriminierungsanliegen, das sich folgerichtig in den Erwägungsgründen der Datenschutzgrundverordnung niederschlägt,88 wird insofern durch die Einhegung der Datenverarbeitung und durch besondere Regelungen zum Profiling und Scoring verwirklicht – inklusive eines Verbots von Profiling mit Diskriminierungsfolge in der Datenschutz-Richtlinie im Bereich Polizei und Justiz (JI-RL)89. Die Normen des Datenschutzrechts sind im Wege der allgemeinen datenschutzrechtlichen Ansprüche auf Auskunft, Berichtigung oder Löschung (Art. 15–17 DSGVO), auf Unterlassen automatisierter Entscheidungen (Art. 22 DSGVO) sowie auf Schadensersatz (Art. 82 DSGVO) einklagbar.90 a) Einhegung der Datenverarbeitung
Das Datenschutzrecht operiert hierbei in erster Linie mit einer Regulierung der Daten- 39 verarbeitung. Gemeint sind damit Verarbeitungsvorgänge, die automatisiert oder teilautomatisiert erfolgen (was bei Algorithmen stets der Fall ist) und sich auf personenbezogene Daten beziehen.91 Während die JI-Richtlinie die Datenverarbeitung nationaler Polizeiund Strafverfolgungsbehörden erfasst,92 regelt die DSGVO die Datenverarbeitung privater und staatlicher Stellen, abgesehen von Bereichsausnahmen für Nachrichtendienste, Polizei- und Strafverfolgung und persönliche oder familiäre Tätigkeiten.93 Jede Verarbeitung personenbezogener Daten bedarf einer Grundlage durch Einwilligung oder Gesetz, wie schon das Grundrecht auf Datenschutz in Art. 8 Abs. 2 Satz 1 GRCh statuiert. Relevant nach Maßgabe der sekundärrechtlichen Ausgestaltung sind neben der Einwilligung insbesondere die Vertragserfüllung, die Erfüllung einer Rechtspflicht bzw. die Wahrnehmung einer Aufgabe im öffentlichen Interesse sowie die Wahrnehmung berechtigter Interessen
87 Marsch, Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S. 94; Fröhlich/Spiecker gen. Döhmann,
Können Algorithmen diskriminieren?, Verfassungsblog v. 26.12.2018; Schantz, in: Wolff/Brink (Hrsg.), BeckOK Datenschutzrecht, Stand: Mai 2020, Art. 6 DSGVO Rn. 6; Straker, in: Hoeren/Sieber/Holznagel (Hrsg.), Multimedia-Recht, Stand: Mai 2021, Teil 15.6 Rn. 7. 88 DSGVO, Erwägungsgründe 71, 75, 85. 89 Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates v. 27.4.2016, ABl. 2016 L 119, S. 89, Art. 11 Abs. 3 JI-RL; ferner Erwägungsgründe 23, 38, 51, 61. 90 Dies gilt auch für § 31 BDSG, siehe Krämer, Die Rechtmäßigkeit der Nutzung von Scorewerten, NJW 2020, S. 497 (500 ff.). 91 Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Nr. 1 und Nr. 2 DSGVO; Art. 2 Abs. 2, Art. 3 Nr. 1 und 2 JI-RL. 92 Art. 1 Abs. 1 JI-RL. 93 Art. 2 Abs. 2 DSGVO. Antje von Ungern-Sternberg
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durch Private.94 Diese Einhegung der Datenverarbeitung bietet auch einen Vorfeldschutz gegen die diskriminierende Verwendung von Daten. Im Übrigen kann die Möglichkeit einer solchen Diskriminierung auch bei der Einschätzung eine Rolle spielen, ob eine rechtmäßige Datenverarbeitung vorliegt. Die genannten Rechtsgrundlagen setzen mit Ausnahme der Einwilligung nämlich jeweils voraus, dass die Datenverarbeitung „erforderlich“ ist. Dies beinhaltet, dass die mit der Datenverarbeitung verfolgten Zwecke und die mit dem Datenschutz verfolgten Anliegen zueinander in Bezug gesetzt werden und nach zumutbaren Alternativen für den Vertragspartner, nach der Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen oder nach den überwiegenden berechtigten Interessen eines privaten Datenverarbeiters gefragt wird.95 In diese Prüfung fließt auch ein, ob und inwieweit die Datenverarbeitung Benachteiligungen nach sich zieht oder ziehen kann.96 40 Es ist allerdings umstritten, inwieweit die einzelnen Schritte des Profiling – Erhebung von Trainingsdaten, Profilbildung, Profilzuordnung97 – vom Datenschutz umfasst sind. Sowohl die Erhebung von personenbezogenen Trainingsdaten (z. B. Daten von Kreditnehmern) als auch die Erhebung von personenbezogenen Daten zur Profilzuordnung (für eine bestimmte Kreditnehmerin) unterfallen dem Datenschutz.98 Fraglich ist jedoch zunächst, inwieweit die Verarbeitung anonymer Daten den Datenschutz ausschließt oder beschränkt. Personenbezogene Daten beziehen sich auf eine „identifizierte oder identifizierbare“99 natürlich Person. Wenn nun für den Vorgang der Profilbildung große Mengen an personenbezogenen Daten üblicherweise anonymisiert werden,100 dann unterfällt die Profilbildung selbst nicht mehr dem Datenschutz. Auch der Personenbezug bei der Erhebung von Trainings- und Anwendungsdaten kann aber zweifelhaft sein, wenn gruppenspezifische Eigenschaften – als Indikatoren für Kaufneigung etwa der Wareninhalt eines Einkaufswagens im Supermarkt101 oder das Surfverhalten im Internet102 – erfasst werden, ohne dass dieses Verhalten einer benannten Einzelperson zugeordnet wird. Hier spricht die teleologische Auslegung für ein breites Verständnis des Begriffs der Identifizierbarkeit. Daher fallen auch Formen der Datenerhebung zum Zwecke des Profiling darunter, wenn sie in einer konkreten Maßnahme – etwa einem Vertragsabschluss oder der Gefahrenabwehr – mit einer dann zu identifizierenden Person münden sollen.103 94 Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. a, b, c und e sowie f DSGVO; Art. 8 Abs. 1 JI-RL (nur Aufgabenerfüllung einer
Behörde).
95 Siehe auch Art. 5 Abs. 1 lit. c DSGVO. Frenzel, in: Paal/Pauly (Hrsg.), DSGVO BDSG, 3. Aufl. 2021,
Art. 6 DSGVO Rn. 14, 23, 20 f. und 45; vergleiche ferner etwa Buchner/Petri, in: Kühling/Buchner (Hrsg.), DSGVO/BDSG, 3. Aufl. 2020, Art. 6 DSGVO Rn. 33 ff., 73 ff., 105 ff., 111 ff. 96 Vgl. die Benennung von Diskriminierungen als Risiken für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen bzw. als Folgen von Datenschutzverletzungen in Erwägungsgründen 75 bzw. 85 DSGVO. 97 Zum Gruppenprofiling Schreurs/Hildebrandt/Kindt/Vanfleteren (Fn. 23), S. 246 ff. 98 Siehe etwa für Online-Profiling Borgesius/Poort, Online Price Discrimination and EU Data Privacy Law, Journal of Consumer Policy 40 (2017), S. 347 (356). 99 Art. 4 Nr. 1 DSGVO. 100 Schreurs/Hildebrandt/Kindt/Vanfleteren (Fn. 23), S. 248. 101 Schreurs/Hildebrandt/Kindt/Vanfleteren (Fn. 23), S. 247. 102 Mit guten Gründen für einen Personenbezug Borgesius/Poort (Fn. 98), S. 356 f. 103 So auch Korff, New Challenges to Data Protection Study – Working Paper No. 2: Data Protection Antje von Ungern-Sternberg
D. Individualrechte zur Einhegung algorithmenbasierter Benachteiligungen
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Außerdem steht im Streit, inwieweit auch das Profil einer Person dem Datenschutz un- 41 terliegt. Grundsätzlich lassen sich Daten nach der Art der Gewinnung in (bereitgestellte oder beobachtete) Ausgangsdaten und (aus diesen Daten etwa im Wege des Profiling geschlussfolgerte) Inferenzdaten einteilen.104 Ferner beinhalten Daten entweder verifizierbare Tatsachen oder nicht verifizierbare Werturteile. Das Profil eines Menschen in Gestalt von konkreten Wahrscheinlichkeitsaussagen etwa zur Bonität oder zur Kriminalität liegt auf der Grenze zwischen diesen Kategorien: Zwar bezieht es sich auf Tatsachen (etwa die künftige Rückzahlung eines Kredits oder den Versuch der Steuerhinterziehung). Doch lässt sich die Richtigkeit einer zukunftsgerichteten Prognose nur nach Zeitablauf verifizieren, zudem bemisst sich die Validität einer Wahrscheinlichkeitsaussage nach (gegebenenfalls umstrittenen) methodischen Standards, so dass ein personenbezogenes Profil insgesamt einem Werturteil entspricht. Dieses Profil ist richtigerweise als personenbezogenes Datum einzuordnen, weil sich die Profilzuordnung nach Zielsetzung und Ergebnis auf eine Person bezieht.105 Allerdings erscheint es folgerichtig, die Besonderheit von Inferenzund Werturteilsdaten bei der Reichweite von Datenschutzansprüchen zu berücksichtigen. So bemisst sich die „Unrichtigkeit“ eines Datums als Voraussetzung eines Berichtigungsanspruchs gemäß Art. 16 DSGVO nach verifizierbaren Tatsachen, etwa der Richtigkeit von Ausgangsdaten oder der richtigen Zuordnung von Ausgangs- und Inferenzdaten zu einer Person, nicht aber nach der Inferenzmethodik oder weiteren fachlichen Standards. Denn das Datenschutzrecht etabliert grundsätzlich keine Maßstäbe zur Bearbeitung und Bewertung von Ausgangsdaten für andere Disziplinen, beispielsweise die Medizin, die Rechtswissenschaften oder die Medien.106 Allein mit Blick speziell auf das Profiling könnte das Datenschutzrecht methodische Maßstäbe vorsehen.107 Schließlich ist auch zum Auskunftsrecht nach Art. 15 DSGVO umstritten, inwieweit es Profile oder Teilprofile überhaupt erfasst oder jedenfalls zugunsten gegenläufiger Rechtsgüter beschränkt werden kann.108 Laws in the EU v. 20.1.2010, https://ssrn.com/abstract=1638949, S. 45 ff. Umstritten ist ferner, ob eine vollständige Anonymisierung ohne Rekonstruktion des Personenbezugs überhaupt technisch möglich ist (siehe schon Ohm, Broken Promises of Privacy: Responding to the Surprising Failure of Anonymization, University of California Los Angeles Law Review 57 (2010), S. 1701; Korff (Fn. 103), S. 49) und inwieweit die Anonymisierung selbst als Vorgang der Datenverarbeitung den Anforderungen der DSGVO unterliegt (bejahend gerade beim Profiling Schreurs/Hildebrandt/Kindt/Vanfleteren (Fn. 23), S. 248 ff.; a. A. Hornung/Wagner, Anonymisierung als datenschutzrelevante Verarbeitung?, ZD 2020, S. 223). 104 Vgl. schon Broemel/Trute, Alles nur Datenschutz, Berliner Debatte Initial 27 (2016), S. 50 (52); Article 29 Data Protection Working Party, Guidelines on Automated individual decision-making and Profiling, WP251rev. v. 6.2.2018, S. 8; Wachter/Mittelstadt, A Right to Reasonable Inferences, Columbia Business Law Review 2019, S. 494 (516). 105 Artikel-29-Datenschutzgruppe, Stellungnahme 4/2007 zum Begriff „personenbezogene Daten“, WP136 v. 20.6.2007, S. 11; Korff (Fn. 103), S. 52 f.; Wachter/Mittelstadt (Fn. 104), S. 517 ff. 106 So auch EuGH, Urt. v. 20.12.2017, Rs. C-434/16 Nowak: Antworten eines Prüflings und Anmerkungen des Prüfers als personenbezogene Daten (Rn. 32 ff.), kein Berichtigungsanspruch durch nachträgliche Korrektur falscher Prüfungsantworten, aber gegebenenfalls bei falscher Zuordnung von Prüfungsarbeiten und Prüfling (Rn. 52 ff.). 107 Nach geltendem Recht verneint durch Wachter/Mittelstadt (Fn. 104), S. 548 ff.; hierzu sogleich unter Rn. 78 ff. (D. II. 3. a)). 108 Restriktiv mit Blick auf den Wortlaut von Art. 15 DSGVO und die Meinungsfreiheit Martini (Fn. 9), Antje von Ungern-Sternberg
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§ 28 Diskriminierungsschutz bei algorithmenbasierten Entscheidungen
b) Besonderer Schutz für sensible Datenkategorien
Die Verbindung von Datenschutz und Antidiskriminierungsrecht kommt auch in Bestimmungen zu sensiblen Datenkategorien zum Ausdruck. Art. 9 DSGVO und Art. 10 JI-RL errichten besondere Hürden für die „Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person“. Ferner unterstellt Art. 10 DSGVO die Verarbeitung personenbezogener Daten über strafrechtliche Verurteilungen und Straftaten grundsätzlich der behördlichen Aufsicht. Eingehegt wird also die Verarbeitung von personenbezogenen Daten, die in besonderer Weise zu Diskriminierungen Anlass geben können,109 durch besondere Hürden für die Rechtmäßigkeit.110 43 Art. 9 Abs. 1 DSGVO und Art. 10 JI-RL unterscheiden zwischen Inhaltsdaten, den Merkmalen Rasse, politische Meinung, Religion oder Gewerkschaftszugehörigkeit, und Quelldaten, aus denen diese Merkmale „hervorgehen“. Erfasst wird schon die Verarbeitung der Quelldaten, wobei auszulegen ist, wann aus einfachen personenbezogenen Quelldaten auf die genannten Inhaltsdaten rückgeschlossen werden kann. In der Literatur stellt man darauf ab, ob die Quelldaten (z. B. Personendaten, Verhaltensweisen, Kontakte) objektiv mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die genannten Eigenschaften erkennen lassen, wofür aber auch der subjektive Verwendungszweck – und die damit einhergehende Diskriminierungsgefahr – relevant ist.111 Es macht eben einen Unterschied, ob Adresse und 42
S. 198; dazu kritisch sogleich unter Rn. 94 ff. (D. III. 1.). Umstritten ist schließlich auch, ob die Privilegierung der Datenverarbeitung zu „statistischen Zwecken“ nach Art. 89 DSGVO auch das Profiling insgesamt umfasst, das ja eine Analyse und Auswertung statistischer Korrelationen beinhaltet (so Mayer-Schönberger/Padova, Regime Change? Enabling Big Data Through Europe’s New Data Protection Regulation, Columbia Science & Technology Law Review 17 (2016), S. 315 (330)) oder auf klassische Statistikzwecke im öffentlichen Interesse beschränkt ist, wie Wortlaut, Systematik, Erwägungsgrund 162 Satz 5 DSGVO und Gesetzeszweck nahelegen (so auch Caspar, in: Simitis/Hornung/Spiecker (Hrsg.), Datenschutzrecht, 2019, Art. 89 Rn. 23). 109 Article 29 Data Protection Working Party, Advice paper on special categories of data („sensitive data“), Ref. Ares (2011) 444105 v. 20.4.2011, S. 4; Rüpke, in: ders./v. Lewinski/Eckhardt (Hrsg.), Datenschutzrecht, 2018, § 14 Rn. 8; Weichert, in: Kühling/Buchner (Hrsg.), DSGVO/BDSG, 3. Aufl. 2020, Art. 9 DSGVO Rn. 15. 110 Art. 9 Abs. 2 DSGVO, Art. 10 JI-RL. Das Verhältnis von Art. 9 und 6 DSGVO ist umstritten. Nach Entstehungsgeschichte (Erwägungsgrund 51 „zusätzlich“), Systematik (v. a. Art. 6 Abs. 4 lit. c DSGVO) und Schutzzweck wird Art. 6 DSGVO nicht vollständig verdrängt, sondern bleibt mit Blick auf strengere Vorgaben gegebenenfalls zusätzlich anwendbar, Albers/Veit, in: Wolff/Brink (Hrsg.), BeckOK Datenschutzrecht, Stand: Mai 2020, Art. 9 DSGVO Rn. 2 f.; Weichert (Fn. 109), Art. 9 DSGVO Rn. 4; mit gleicher Schutzintensität Annahme reiner Spezialität bei Frenzel (Fn. 95), Art. 9 DSGVO Rn. 18; Kampert, in: Sydow (Hrsg.), Europäische Datenschutzgrundverordnung, 2. Aufl. 2018, Art. 9 Rn. 1; Schiff, in: Ehmann/ Selmayr (Hrsg.), Datenschutzgrundverordnung, 2. Aufl. 2018, Art. 9 Rn. 9. 111 Albers/Veit (Fn. 110), Art. 9 DSGVO Rn. 21 m. w. N.; Frenzel (Fn. 95), Art. 9 DSGVO Rn. 9; Schiff (Fn. 110), Art. 9 Rn. 10; Weichert (Fn. 109), Art. 9 DSGVO Rn. 22; vgl. ferner Matejek/Mäusezahl, Gewöhnliche vs. sensible personenbezogene Daten, ZD 2019, S. 551 (552 f.). Antje von Ungern-Sternberg
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Name nur für die Auslieferung einer Pizza oder für die Berechnung der Kreditwürdigkeit oder Kaufkraft ethnischer Gruppen verwendet und ob aus dem Surfverhalten im Internet allgemeine Verhaltensprofile oder auch ethnische Nutzerprofile erstellt werden. Interessant ist der Rückschluss von Quell- auf Inhaltsdaten auch deshalb, weil sich dies mit dem oben skizzierten Verhältnis von Ausgangs- und Inferenzdaten deckt112 und weil es auch der Herangehensweise bei der indirekten Diskriminierung – und dem Verhältnis von Stellvertretermerkmal und verpöntem Merkmal – gleicht. Bei den weiteren Datenkategorien nach Art. 9 Abs. 1 DSGVO113 ist im Übrigen ebenfalls 44 möglich, dass neben Inhaltsdaten auch Quelldaten der Norm unterfallen. Denn nach Art. 4 Nr. 13–15 DSGVO umfassen die genetischen, biometrischen bzw. Gesundheitsdaten auch solche Daten, aus denen Informationen über genetische Eigenschaften, über eindeutige Merkmale einer Person oder über Gesundheitsdaten „gewonnen“ werden bzw. „hervorgehen“; zugleich spricht Art. 9 Abs. 1 DSGVO von „Daten zu[m]“ Sexualleben und sexueller Orientierung, was ebenfalls eine Herleitung des Merkmals aus Quelldaten nahelegt. Diese Auslegung orientiert sich am Zweck der Norm, die Verarbeitung sensibler Daten und hierauf gestützte Diskriminierungen effektiv zu verhindern.114 c) Automatisierte Einzelfallentscheidungen und Profiling
Eine Schlüsselvorschrift für algorithmenbasierte Benachteiligungen bildet ferner Art. 22 45 DSGVO.115 Nach Art. 22 Abs. 1 DSGVO hat das Datensubjekt das Recht, „nicht einer ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung – einschließlich Profiling – beruhenden Entscheidung unterworfen zu werden, die ihr gegenüber rechtliche Wirkung entfaltet oder sie in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigt“. Eine solche Entscheidung hat in der Regel benachteiligenden Charakter,116 weil sie ja „beeinträchtigt“ oder jedenfalls das Datensubjekt einer rechtserheblichen Entscheidung „unterwirft“. Allerdings knüpft Art. 22 DSGVO nicht an den Inhalt der Entscheidung, sondern die Automatisierung an. Dies soll verhindern, dass der Mensch angesichts der fortschreitenden Digitalisierung zum bloßen Objekt algorithmischer Entscheidungen degradiert wird.117 Ausweislich der Erwägungsgründe bezweckt Art. 22 DSGVO darüber hinaus aber auch, Diskriminierungen aufgrund der sensiblen Datenkategorien zu verhindern,118 während Art. 11 Abs. 3 JI-RL sogar ein entsprechendes Verbot statuiert.
112 Hierzu Wachter/Mittelstadt (Fn. 104), S. 561 ff. 113 Bzw. Art. 10 JI-RL, vgl. auch Art. 3 Nr. 12–14 JI-RL. 114 Für ein angleichendes Verständnis Matejek/Mäusezahl (Fn. 111), S. 553; Schneider/Schindler, Video-
überwachung als Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten, ZD 2018, S. 463 (466 f.); Weichert (Fn. 109), Art. 9 DSGVO Rn. 22; vgl. auch Albers/Veit (Fn. 110), Art. 9 DSGVO Rn. 20. 115 Bzw. Art. 11 JI-RL. 116 Ernst, Algorithmische Entscheidungsfindung und personenbezogene Daten, JZ 2017, S. 1026 (1032). 117 Buchner, in: Kühling/Buchner (Hrsg.), DSGVO, BDSG, 3. Aufl. 2020, Art. 22 DSGVO Rn. 4; Ernst (Fn. 116), S. 1030. 118 Erwägungsgrund 71 UAbs. 2 Satz 1 DSGVO. Antje von Ungern-Sternberg
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§ 28 Diskriminierungsschutz bei algorithmenbasierten Entscheidungen
aa) Anwendungsbereich: automatisierte Einzelfallentscheidung
Art. 22 DSGVO regelt ein zweiaktiges Geschehen, nämlich erstens eine automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten inklusive Profiling119, auf deren Grundlage zweitens eine Entscheidung mit Rechts- oder Beeinträchtigungswirkung ergeht. Fraglich ist hier zum einen, wie die Beziehung zwischen Datenverarbeitung und Entscheidung auszusehen hat. Nach Art. 22 Abs. 1 DSGVO „beruht“ die Entscheidung „ausschließlich“ auf der automatisierten Datenverarbeitung. Dies legt nahe, dass auch die Entscheidung automatisiert – also maschinell und nicht durch einen Menschen – getroffen wird, zumal ja auch die Überschrift des Art. 22 DSGVO „automatisierte Entscheidungen“ lautet. Erwägungsgrund 71 spricht hier mit Blick auf das Beispiel der Online-Einstellungsverfahren von einer Entscheidung „ohne jegliches menschliche Eingreifen“.120 Erwägung, Wortlaut und Schutzzweck legen daher nahe, dass die Entscheidung ohne menschliches Zutun getroffen wird. Daher fallen autonome Systeme, nicht aber Assistenzsysteme121 unter Art. 22 DSGVO. Bei Vorschlagsystemen muss man danach unterscheiden, ob der maschinelle Vorschlag lediglich routinemäßig und pro forma von einem Menschen bestätigt oder ob er tatsächlich überprüft und gelegentlich auch abgeändert wird.122 47 Zum anderen stellt sich die Frage, wann die automatisierte Entscheidung gegenüber dem Datensubjekt rechtliche Wirkung entfaltet oder es in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigt.123 Rechtswirkungen sind zumindest sämtliche Veränderungen der Rechtsposition (Erlass eines belastenden Verwaltungsakts, Kündigung eines Vertrags, Anpassung von Vertragsbedingungen zulasten des Datensubjekts) und andere nachteilige Rechtsfolgen wie die Ablehnung eines begünstigenden Verwaltungsakts.124 Eine ähnliche erhebliche Beeinträchtigung liegt bei der Versagung eines erwünschten Vertrags vor, jedenfalls dann, wenn sie die wirtschaftliche und persönliche Entfaltungsfreiheit des Datensubjekts mehr als marginal berührt125 und wenn die gewünschte Leistung auf dem Markt nicht einfach zu ähnlichen Konditionen verfügbar ist126. Ein weiteres Beispiel stellt die automatische Ablehnung eines Online-Kreditantrags dar.127 Auch nachteilige Vertragskonditionen, etwa Preis46
Siehe oben Rn. 4 (B. II.). Bzw. „without any human intervention“, „sans aucune intervention humaine“. Zu den Systemen oben Rn. 9 (B. III.). Einschlägigkeit für „token gesture“ verneint in Article 29 Data Protection Working Party (Fn. 104), S. 21; Atzert, in: Schwartmann u. a. (Hrsg.), DSGVO/BDSG, 2. Aufl. 2020, Art. 22 Rn. 75; ähnlich v. Lewinski, in: Wolff/Brink (Hrsg.), BeckOK Datenschutzrecht, Stand: Mai 2021, Art. 22 DSGVO Rn. 23 ff.; andere Vorschläge bei Martini, in: Paal/Pauly (Hrsg.), DSGVO BDSG, 3. Aufl. 2021, Art. 22 Rn. 17b (Mensch nimmt nicht auf Inhalt der Entscheidung Einfluss); Hladjk, in: Ehmann/Selmayr (Hrsg.), Datenschutzgrundverordnung, 2. Aufl. 2018, Art. 22 Rn. 6 (Mensch trifft die Entscheidung letztlich); enger Buchner (Fn. 117), Art. 22 DSGVO Rn. 15 ff. m. w. N. 123 Hierzu insgesamt Buchner (Fn. 117), Art. 22 DSGVO Rn. 24 ff.; v. Lewinski (Fn. 122), Art. 22 DSGVO Rn. 26 ff.; Martini (Fn. 122), Art. 22 DSGVO Rn. 26 ff. 124 Atzert, in: Schwartmann u. a. (Hrsg.), DSGVO/BDSG, 2. Aufl. 2020, Art. 22 Rn. 38 ff. 125 Martini (Fn. 122), Art. 22 DSGVO Rn. 27. 126 v. Lewinski (Fn. 122), Art. 22 DSGVO Rn. 39. 127 Erwägungsgrund 71. Nur abstellend auf die Vertragsablehnung auch Scholz, in: Simitis/Hornung/ Spiecker (Hrsg.), Datenschutzrecht, 2019, Rn. 36. In der Literatur wird die erhebliche Beeinträchtigung 119 120 121 122
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diskriminierungen, oder tatsächliche Maßnahmen, die in Grundrechte eingreifen oder das Datensubjekt benachteiligen, wie etwa die staatliche Überwachung oder Kontrolle, dürften als erhebliche Beeinträchtigung anzusehen sein.128 Insgesamt sind damit viele algorithmenbasierte Benachteiligungen – etwa bei der automatisierten Bewerberauswahl, Vertragsgestaltung oder Überwachung – von Art. 22 DSGVO erfasst. bb) Erlaubnistatbestände und Verbotsfolge
Automatisierte Entscheidungen sind zulässig, wenn sie auf einer ausdrücklichen Einwil- 48 ligung beruhen, zu Vertragsabschluss oder Vertragserfüllung erforderlich sind oder aufgrund einer Rechtsvorschrift erfolgen und wenn jeweils angemessene Maßnahmen zum Schutz der Rechte, Freiheiten und berechtigten Interessen der betroffenen Person getroffen werden.129 Sofern sich eine automatisierte Entscheidung auf die Verarbeitung sensibler Daten stützt, gelten verschärfte Voraussetzungen, so dass nur noch die Einwilligung oder die Rechtsvorschrift, nicht aber Vertragszwecke als Grundlage für die automatisierte Entscheidung in Betracht kommen.130 Jenseits dieses zulässigen Bereichs sind menschliche Entscheidungen notwendig. Dass diese als weniger problematisch gelten, belegt auch die flankierende Vorschrift des Art. 22 Abs. 3 DSGVO. Demnach muss dem Datensubjekt bei automatisierten Entscheidungen auf Grundlage einer Einwilligung oder zum Abschluss oder zur Erfüllung eines Vertrages „mindestens das Recht auf Erwirkung des Eingreifens einer Person seitens des Verantwortlichen, auf Darlegung des eigenen Standpunkts und auf Anfechtung der Entscheidung“ gewährt sein. Zugespitzt formuliert schützen Art. 22 DSGVO und Art. 11 Abs. 1 JI-RL also nur vor automatisierten, nicht aber vor menschlichen Entscheidungen diskriminierenden Inhalts. Allerdings spielt Art. 22 DSGVO auch eine zentrale Rolle für die Methodik und Transparenz algorithmenbasierter Entscheidungen.131 cc) Profiling mit Diskriminierungsfolge nach Art. 11 Abs. 3 JI-RL
Während die Versuche des Europaparlaments scheiterten, auch ein Diskriminierungsver- 49 bot in den jetzigen Art. 22 DSGVO aufzunehmen,132 verbietet Art. 11 Abs. 3 JI-RL Profiling, das zur Folge hat, dass natürliche Personen auf Grundlage der sensiblen Datenkategorien diskriminiert werden. Die Vorschrift wird durch entsprechende Bestimmungen allerdings teilweise erst dann bejaht, wenn die Vertragsverweigerung die wirtschaftliche oder persönliche Entfaltung des Datensubjekts nachhaltig störe (Buchner (Fn. 117), Art. 22 DSGVO Rn. 26) oder eine gesetzwidrige Diskriminierung vorliege (Abel, Automatisierte Entscheidungen im Einzelfall gem. Art. 22 DSGVO, ZD 2018, S. 304 (306), vgl. Martini (Fn. 122), Art. 22 DSGVO Rn. 27). 128 Zur Vertrags- und Preisdiskriminierung Atzert, in: Schwartmann u. a. (Hrsg.), DSGVO/BDSG, 2. Aufl. 2020, Art. 22 Rn. 62; Ernst (Fn. 116), S. 1032 ff.; Linderkamp, Der digitale Preis – eine automatisierte Einzelfallentscheidung?, ZD 2020, S. 506. 129 Art. 22 Abs. 2 lit. c, a und b DSGVO, Art. 11 Abs. 1 JI-RL (nur Rechtsvorschrift). 130 Art. 22 Abs. 4 i. V. m. Art. 9 Abs. 2 lit. a und g DSGVO; vgl. auch Art. 11 Abs. 2 JI-RL. 131 Unten Rn. 77 ff. und 94 ff. (D. II. 3. und D. III. 1.). 132 Europäisches Parlament, Bericht über den Vorschlag des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr v. 21.11.2013, A7–0402/2013, insbesondere S. 110 f. Antje von Ungern-Sternberg
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in § 54 Abs. 3 BDSG und im Landesrecht umgesetzt.133 Sie konkretisiert damit das Diskriminierungsverbot bereichsspezifisch, das für staatliche Tätigkeiten nach Art. 20 und 21 GRCh bzw. Art. 3 Abs. 1 und 3 GG ohnehin gilt. Das Verbot erfasst das personenbezogene Profiling134 durch Polizei-, Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungsbehörden,135 das eine Benachteiligung wegen bestimmter Merkmale nach sich zieht. Es lenkt so das Augenmerk auf das besondere Diskriminierungspotenzial des Profiling und auf bislang nicht ausdrücklich benannte Diskriminierungsmerkmale wie die Gewerkschaftszugehörigkeit, biometrische Daten und Gesundheitsdaten, die über die Kataloge von Art. 3 Abs. 3 GG und Art. 21 GRCh hinausgehen. Für den Anwendungsbereich der Norm könnte man aus dem Kontext schließen, dass 50 sich das Verbot nicht auf sämtliche Benachteiligungen als Folge von Profiling erstreckt, sondern nur auf automatisierte Entscheidungen im Sinne des Art. 11 Abs. 1 JI-RL.136 Demnach würden also nur automatisierte Überwachungs- oder Kontrollmaßnahmen unter die Vorschrift fallen, etwa Videoüberwachung, Kennzeichenabgleich oder Datenbankabfrage auf Grundlage eines automatisierten Täter- oder Gefährderprofils. Nach dem Wortlaut der Vorschrift, ihrer Normierung in einem eigenständigen Absatz und ihrem Schutzzweck, die besonderen Gefahren aus einer Kombination von Profiling und sensiblen Kriterien einzuhegen, liegt es aber näher, die Vorschrift auch auf nicht-automatisierte Benachteiligungen anzuwenden. Ferner stellt sich die Frage, ob das Verbot auch für mittelbare Benachteiligungen gilt und ob Benachteiligungen gerechtfertigt sein können. Hier sprechen gute Gründe dafür, beides im Einklang mit der allgemeinen Dogmatik des Antidiskriminierungsrechts zu bejahen, zumal man so der besonderen Bedeutung mittelbarer Benachteiligungen bei der Nutzung von Algorithmen entsprechen kann.137 d) Vertragsbezogenes Scoring 51 Für algorithmenbasierte Benachteiligungen sind schließlich Vorschriften zum Scoring
von Bedeutung. Das Scoring nach § 31 Abs. 1 BDSG138 erfasst mit der „Verwendung“ eines Wahrscheinlichkeitswerts über ein bestimmtes zukünftiges Verhalten einer natürlichen Person zu Vertragszwecken zugleich die Datenverarbeitung und die an den Score anknüpfende Ungleichbehandlung. Die Norm findet damit Anwendung auf sämtliche verhaltensbezogene Wahrscheinlichkeitsaussagen mit Relevanz für die Vertragsgestaltung, beispiels-
133 Z. B. Art. 35 Abs. 2 BayDSG, § 49 Abs. 3 HessDSG, § 29 Abs. 3 NdsDSG, § 46 Abs. 3 DSG NRW, § 36
Abs. 3 LDSG RLP, § 30 Abs. 3 LDSG SH; nicht übernommen wurde das Diskriminierungsverbot aber in § 38 ThürDSG; siehe ferner etwa § 84 Abs. 3 BaWüPolG; die Richtlinienumsetzung ist teilweise noch nicht abgeschlossen. 134 Art. 3 Nr. 4 JI-RL. 135 Art. 1 Abs. 1 JI-RL. 136 So Johannes/Weinhold, Das neue Datenschutzrecht bei Polizei und Justiz, 2018, § 1 Rn. 173. 137 Oben Rn. 27 ff. (C. III.2). Zur Rechtfertigungsmöglichkeit Paschke, in: Gola/Heckmann (Hrsg.), Bundesdatenschutzgesetz, 13. Aufl. 2019, § 54 Rn. 12; Mundil, in: Wolff/Brink (Hrsg.), BeckOK Datenschutzrecht, Stand: Mai 2021, § 54 BDSG Rn. 6: „legitimer Sachgrund“; Schwichtenberg, in: Kühling/Buchner (Hrsg.), DSGVO/BDSG, 3. Aufl. 2020, § 54 BDSG Rn. 8. 138 Oben Rn. 5 (B. II.). Antje von Ungern-Sternberg
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weise auf Scores zur Leistungsfähigkeit von Bewerbern oder Beschäftigten (relevant für Einstellung, Beförderung und Bezahlung), zu Verhaltensweisen von Versicherungsnehmern (relevant für Telematiktarife) oder zur Kaufbereitschaft von Internetnutzern (relevant für individualisierte Preise). Gegenüber Art. 22 DSGVO ist § 31 Abs. 1 BDSG enger, weil er nur auf verhaltensbezogene Profile bzw. Scores und nur auf ihre Verwendung zu Vertragszwecken abstellt. Zugleich geht er über Art. 22 DSGVO hinaus, weil weder die Erstellung des Wahrscheinlichkeitswerts noch dessen Verwendung automatisiert erfolgen müssen. § 31 Abs. 1 Nr. 3 und 4 BDSG139 hegt die Verwendung von Anschriftendaten ein, die nicht ausschließlich und jedenfalls nur mit Unterrichtung der Betroffenen für einen Score herangezogen werden dürfen. Denn auch wenn sich aus der Adresse gewisse Informationen über die Bonität eines Kreditnehmers gewinnen lassen, kann die Berücksichtigung „guter“ oder „schlechter“ Wohngegenden eben mit einer Benachteiligung bestimmter Schichten oder ethnischer Gruppen („redlining“) korrespondieren.140 Weitere Vorgaben für Sonderkonstellationen des Scoring enthalten § 31 Abs. 2 BDSG 52 und § 10 Abs. 2 KreditwesenG (KWG). § 31 Abs. 2 BDSG betrifft die Verwendung von Wahrscheinlichkeitswerten zur Zahlungsfähigkeit und Zahlungswilligkeit einer Person, die von einer Auskunftei ermittelt wurden, und bestimmt der Sache nach, dass nur solche Forderungen berücksichtigt werden können, bei denen dem Schuldner das Bestreiten oder Begleichen der Schuld möglich war.141 § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 KWG greift bei der Datenverarbeitung von Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten zur Anbahnung von Rechtsgeschäften mit Ausfallrisiken und verbietet die Berücksichtigung der Staatsangehörigkeit sowie der sensiblen Datenkategorien nach Art. 9 DSGVO.142 Ferner nennt § 10 Abs. 2 Satz 4 KWG zulässige Datenkategorien für die Ermittlung des Ausfallscores, beispielsweise wirtschaftliche Verhältnisse und Zahlungsverhalten der betroffenen Person sowie etwaige Vollstreckungsmaßnahmen oder Insolvenzverfahren. Allerdings stellt sich die Frage, ob die genannten Regelungen unionsrechtskonform 53 sind. Grundsätzlich regelt die Datenschutzgrundverordnung die Verarbeitung personenbezogener Daten abschließend im Sinne einer Vollharmonisierung.143 Auch wenn § 31 BDSG und § 10 Abs. 2 KWG zugleich als Benachteiligungsverbote verstanden werden können, betreffen sie die Datenverarbeitung144 und sind daher nur nach Maßgabe der Datenschutzgrundverordnung und ihrer Öffnungsklauseln zulässig. In Betracht kommen hierfür
139 Zum Methodikgebot des § 31 Abs. 1 Nr. 2 BDSG unter Rn. 79 (D. II. 3.). 140 Siehe etwa Allen, The Color of Algorithms: An Analysis and Proposed Research Agenda for Deterring
Algorithmic Redlining, Fordham Urban Law Journal 46 (2019), S. 219.
141 Titulierung, Feststellung im Insolvenzverfahren, Anerkenntnis, Kündigung; vgl. hierzu Kamlah, in:
Plath (Hrsg.), DSGVO/BDSG, 3. Aufl. 2018, § 31 BDSG Rn. 53 ff.
142 Hierzu etwa Auerbach/Fischer, in: Schwennicke/Auerbach (Hrsg.), KWG, 3. Aufl. 2016, § 10 Rn. 40 ff.;
Konesny/Glaser, in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Hrsg.), KWG, 5. Aufl. 2016, § 10 Rn. 10 ff.
143 Schon zur Vorgängerregelung EuGH, Urt. v. 24.11.2011, Rs. C-468/10, ASNEF; zur Vollharmonisie-
rung insgesamt Schantz, in: Wolff/Brink (Hrsg.), BeckOK Datenschutzrecht, Stand: Mai 2020, Art. 1 DSGVO Rn. 8. 144 Siehe Konesny/Glaser (Fn. 142), § 10 Rn. 12. Antje von Ungern-Sternberg
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insbesondere die Erfüllung einer nach nationalem Recht bestehenden Pflicht,145 soweit eine Pflicht nach § 505a BGB und § 18a KWG zur Bonitätsprüfung bei Verbraucherdarlehen besteht, ferner die Öffnungsklausel für Zweckänderungen und allgemeine Beschränkungen von Individualrechten146 oder Art. 22 Abs. 2 lit. b DSGVO, sofern die Erstellung des Score und hierauf gestützte Entscheidungen automatisiert erfolgen.147 2. Spezielle Benachteiligungsverbote 54 Algorithmenbasierte Benachteiligungen werden ferner durch Benachteiligungsverbote
eingehegt. Abgesehen von den umfassenden Verboten nach Art. 3 Abs. 1 und 3 GG oder Art. 20 und 21 GRCh, die unmittelbar nur für den Staat, nicht aber für Private gelten, finden sich für spezifische Benachteiligungskonstellationen auch besondere Diskriminierungsverbote.
a) Arbeitsverhältnisse und zivilrechtliche Massengeschäfte 55 Bei algorithmenbasierten Entscheidungen im Beschäftigungsverhältnis gilt nach § 7 Abs. 1
AGG ein umfassendes Benachteiligungsverbot. Das Benachteiligungsverbot für zivilrechtliche Schuldverhältnisse hingegen erfasst jenseits der Rassendiskriminierung (§ 19 Abs. 2 AGG) nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG jedoch nur Massengeschäfte „ohne Ansehen der Person“ oder massengeschäftsähnliche Rechtsgeschäfte, bei denen „das Ansehen der Person nach der Art des Schuldverhältnisses eine nachrangige Bedeutung hat“. Für das Profiling stellt sich nun die Frage, ob entsprechende Wahrscheinlichkeitsaussagen über eine bestimmte Vertragspartei diesen Anwendungsbereich des § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG ausschließen. Immerhin wird beim Gruppenprofiling eine Person einem bestimmten Gruppenprofil und beim Personenprofiling ja sogar einem individuellen Personenprofil zugeordnet und dieses Profil sodann – etwa für die Preisgestaltung im Internet – genutzt.148 Geht man hier davon aus, dass das Ansehen der Person nicht nur nachrangige Bedeutung hat, so könnte dies das Benachteiligungsverbot bei algorithmisierten Vorgängen vollständig leerlaufen lassen. Denn mittels Profiling könnte der Verwender das Diskriminierungsverbot vermeiden, ob-
145 Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. c, Abs. 2 und 3 DSGVO. 146 Art. 6 Abs. 4 und Art. 23 DSGVO. 147 Das Problem wird vorrangig für § 31 BDSG (bzw. §§ 28a und b BDSG a. F.) diskutiert. Der Bundes-
gesetzgeber schweigt hierzu (BT-Drs. 18/11325, S. 101 f.) und scheint die Vorschrift möglicherweise als Norm des Verbraucher- und nicht des Datenschutzrechts verstehen zu wollen, Kamlah (Fn. 141), § 31 BDSG Rn. 6; für Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. c DSGVO Lapp, in: Gola/Heckmann (Hrsg.), Bundesdatenschutzgesetz, 13. Aufl. 2019, § 31 Rn. 5; für Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. e DSGVO wohl Kamlah (Fn. 141), § 31 BDSG Rn. 5; für Art. 6 Abs. 4 und Art. 23 DSGVO Kühling, Neues Bundesdatenschutzgesetz, NJW 2017, S. 1985 (1988); Frenzel (Fn. 95), § 31 BDSG Rn. 1; für Art. 22 Abs. 2 lit. b DSGVO Krämer (Fn. 90), S. 498; umfassend m. w. N. Taeger, Verbot des Profiling nach Art. 22 DS-GVO und die Regulierung des Scoring ab Mai 2018, RDV 2017, S. 1; skeptisch Martini (Fn. 9), S. 174 ff.; Guggenberger, in: Sydow (Hrsg.), BundesdatenschutzG, 2020, § 31 Rn. 5 f. Zur Zulässigkeit des § 10 Abs. 1 KWG nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. 1 DSGVO Seiler, Scoring im neuen EU-Datenschutzrecht, in: Meder/Beesch (Hrsg.), jurisPR-BKR 8/2017 Anm. 1. 148 Moos/Rothkegel, Nutzung von Scoring-Diensten im Online-Versandhandel, ZD 2016, S. 561 (563 f.), halten die Frage für offen. Antje von Ungern-Sternberg
D. Individualrechte zur Einhegung algorithmenbasierter Benachteiligungen
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gleich gerade Gruppen- oder Personenprofiling mit einer besonderen Diskriminierungsgefahr einhergehen. Für dieses enge Verständnis spricht lediglich der systematische Verweis auf die Son- 56 derregelung zum Versicherungsvertrag in § 19 Abs. 1 Nr. 2 AGG, der ja typischerweise auf Profiling beruht.149 Allerdings ist dieser Rückschluss nicht zwingend, da die eigenständige Regelung auch auf die besonders sichtbare Diskriminierungsgefahr bei Privatversicherungen reagieren kann. Ferner ist der Wortlaut des deutschen AGG150 offen. Denn „Ansehen“ der Person kann man auch so verstehen, dass es der Anbieterin von Gütern und Dienstleistungen egal ist, mit welchen Personen sie ins Geschäft kommt, solange sie auf bestimmte gruppenspezifische oder individuelle Risikofaktoren reagieren kann – so wie man Massenverträge ja auch in anderer Hinsicht automatisiert an Besonderheiten der Vertragsparteien anpassen kann. Entstehungsgeschichte und Zweck streiten jedenfalls dafür, dass übliche Formen des Verbraucherprofiling einer Einstufung als massengeschäftsähnliches Rechtsgeschäft nicht entgegenstehen. Denn die europäischen Ausgangsrechtsakte erfassen Güter und Dienstleistungen, „die der Öffentlichkeit“151 bzw. „der Öffentlichkeit ohne Ansehen der Person“ zur Verfügung stehen und „außerhalb des Bereichs des Privat- und Familienlebens“ angeboten werden152. Entscheidend ist sowohl für den EU-Gesetzgeber als auch für die deutsche (überschießende) Umsetzung, dass sich ein Angebot – typischerweise über Konsumgüter oder standardisierte Dienstleistungen – an die Öffentlichkeit richtet und der Vertragsfreiheit des Unternehmers mit Blick auf den Schutz des Verbrauchers vor Diskriminierung ein geringerer Stellenwert eingeräumt werden kann.153 Dieser Gedanke hat zumal seine Berechtigung, wenn man das Diskriminierungspotential des Profiling berücksichtigt. Zumindest für die (standardisierte) Bonitätsprüfung ist die Geltung von § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG daher auch anerkannt.154 b) Versicherungsrecht
Privatversicherer richten Prämien und Leistungen am versicherten Risiko etwa eines 57 Unfalls oder einer Berufsunfähigkeit aus, das wiederum mit Eigenschaften wie dem Geschlecht, dem Alter oder dem Verhalten der Versicherten (Fahrverhalten, Lebensführung) korrelieren kann. § 19 Abs. 1 Nr. 2 AGG statuiert daher ein allgemeines Diskriminierungsverbot aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion, Behinderung, Alter oder sexueller Identität bei Begründung, Durchführung oder Beendigung von Privatversicherungen, wobei 149 Vgl. die Überlegung in BT-Drs. 17/1780, S. 42, wonach Geschäfte mit einer individuellen Risikoprü-
fung wie Versicherungsgeschäfte oder Kreditgeschäfte regelmäßig keine Massengeschäfte seien.
150 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer
Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I, S. 1897. 151 Art. 3 Abs. 1 lit. h Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG. 152 Art. 3 Abs. 1 Gleichbehandlungsrichtlinie 2004/113/EG. 153 Siehe BT-Drs. 17/1780, S. 42. 154 Mörsdorf, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: September 2020, § 19 Rn. 38 m. w. N.; Wentland, in: Hau/Poseck (Hrsg.), BeckOK BGB, Stand: August 2021, AGG § 19 Rn. 5. Weitergehend wie hier Hacker, Teaching Fairness to Artificial Intelligence, Common Market Law Review 55 (2018), S. 1143 (1156 f.); Martini (Fn. 9), S. 235. Antje von Ungern-Sternberg
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§ 28 Diskriminierungsschutz bei algorithmenbasierten Entscheidungen
der allgemeine Rechtfertigungsgrund nach § 20 Abs. 1 AGG für Privatversicherungen in § 20 Abs. 2 Satz 2 AGG konkretisiert wird. Hierbei ist zu unterscheiden: Unmittelbare Benachteiligungen wegen der Rasse und des Geschlechts lassen sich nicht rechtfertigen.155 Zwar hatte Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG den Mitgliedsstaaten für die etablierten geschlechtsbezogenen Versicherungstarife eine Ausnahme vom allgemeinen Diskriminierungsverbot eröffnet. Diese Ausnahme hat der EuGH in Test-Achats aber für ungültig erklärt, da sie dem Ziel der Richtlinie und Art. 21 und 23 GRCh widersprach.156 Unmittelbare Anknüpfungen an die Religion, Behinderung, Alter oder sexuelle Orientierung sind hingegen möglich, wenn sie auch dem Gebot risikoadäquater Kalkulation nach § 20 Abs. 2 Satz 2 AGG entsprechen.157 Diese Norm billigt im Umkehrschluss die Ausrichtung von Versicherungsbedingungen an Merkmalen, die hinreichend mit einem versicherten Risiko korrelieren. Mittelbare Benachteiligungen, etwa im Zusammenhang mit Verhaltens-Profiling, unterfallen jedenfalls der allgemeinen Rechtfertigungslast nach § 3 Abs. 2 AGG. Für das Versicherungsrecht ist an der Schnittstelle zwischen Antidiskriminierungsrecht 58 und Datenschutz ferner das Gendiagnostikgesetz relevant, das Versicherern verbietet, die Ergebnisse und Daten aus genetischen Untersuchungen oder Analysen zu verwenden.158 Von den Diskriminierungsverboten ist schließlich der versicherungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zu unterscheiden, der nur für bestimmte Versicherungssparten gilt159 und als objektives Gebot von der Versicherungsaufsicht durchzusetzen ist.160 Der Grundsatz besagt, dass bei gleichen Voraussetzungen Prämien und Leistungen nur nach gleichen Grundsätzen bemessen werden dürfen,161 verbietet also die Bevorzugung einzelner gegenüber dem Kollektiv aller Versicherten und Ungleichbehandlungen ohne hinreichenden Differenzierungsgrund,162 aber gerade nicht die Unterscheidung nach Risikoprofilen. c) Wettbewerbsrecht 59 Das Wettbewerbsrecht untersagt einem Unternehmen das missbräuchliche Ausnutzen
seiner marktbeherrschenden Stellung durch die Benachteiligung eines anderen Unternehmens.163 Dieses Verbot kann beispielsweise zur Anwendung gelangen, wenn das marktbeherrschende Unternehmen seinen Geschäftspartnern mithilfe von Algorithmen unterschiedliche Preise oder Konditionen auferlegt164 oder wenn ein Suchmaschinenbetreiber 155 Vgl. das Fehlen der Rasse in § 20 Abs. 1 AGG. 156 EuGH, Urt. v. 1.3.2011, Rs. C-236/09, Test-Achats mit Wirkung zum 21.12.2011. Die Entscheidung
lässt geschlechtsbezogene Versicherungsbedingungen in Altverträgen unberührt, Mörsdorf (Fn. 154), § 20 Rn. 7. 157 Zum Methodikgebot gleich unter Rn. 77 ff. (D. II. 3.). 158 § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 GendiagnostikG; Thüsing (Fn. 56), § 20 AGG Rn. 74. 159 Präve, in: Prölss/Dreher (Hrsg.), VAG, 13. Aufl. 2018, § 138 Rn. 12; a. A. Boetius, in: MüKo VVG, Bd. 2, 2. Aufl. 2017, § 203 Rn. 156. 160 Präve (Fn. 159), § 138 Rn. 25. 161 § 146 Abs. 2 Versicherungsaufsichtsgesetz. 162 Boetius (Fn. 159), § 203 Rn. 156; Präve (Fn. 159), § 138 Rn. 16. 163 Art. 102 Abs. 2 lit. c AEUV; § 19 Abs. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. 164 Hierzu allgemein und zu Art. 102 Abs. 2 lit. a AEUV Paal, Missbrauchstatbestand und Algorithmic Pricing, GRUR 2019, S. 43. Antje von Ungern-Sternberg
D. Individualrechte zur Einhegung algorithmenbasierter Benachteiligungen
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wie Google Konkurrenten bei der Platzierung von Suchergebnissen oder Werbeanzeigen benachteiligt165. Die EU-Kommission wertete letztere als Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung und hat für die bevorzugte Platzierung des Google-eigenen Preisvergleichsdienstes „Google Shopping“ und die Benachteiligung konkurrierender Suchmaschinen bei der Werbung hohe Geldbußen verhängt.166 Das Bundeskartellamt hat allerdings in anderem Zusammenhang den Spielraum Googles bei der Zusammenstellung, Reihung und Präsentation von Suchergebnissen betont.167 Die geplante Digitale-Märkte-Verordnung der EU soll hier Klarheit schaffen und diskriminierende Verhaltensweisen von Kernplattformdiensten („gatekeepers“) gerade bei der Anzeige von Diensten und Produkten untersagen.168 Das Wettbewerbsrecht, das wirtschaftliche Akteure vor Wettbewerbsverzerrungen schützt, überschneidet sich insoweit mit dem Antidiskriminierungsrecht, als es um die Herstellung gleicher Bedingungen für alle und die Interessen gerade der schwächeren Marktteilnehmer geht. d) Medienrecht und grundrechtlicher Zugang zu Plattformen
Die (algorithmisierte) Informationsvermittlung durch Plattformen muss ferner dem Me- 60 dienrecht und den Grundrechten entsprechen. Der Medienstaatsvertrag 2020 (MStV ) verpflichtet nach § 94 Abs. 1 große169 Medienintermediäre wie soziale Medien und Suchmaschinen, „journalistisch-redaktionell gestaltete Angebote, auf deren Wahrnehmbarkeit sie besonders hohen Einfluss haben, nicht zu diskriminieren“.170 Das Medienrecht will so die Gleichbehandlung dieser Angebote und die mediale Vielfalt sichern,171 nicht aber die Freiheit der Medienintermediäre beschränken, die Kriterien für die Aggregation, Selektion oder Präsentation von Inhalten frei zu bestimmen und gegebenenfalls auch thematische Spezialisierungen zu wählen. Die Definition der Diskriminierung setzt daher bei diesen von den Medienintermediären zu veröffentlichenden Kriterien an.172 Sie liegt vor, wenn die Medienintermediäre entweder „ohne sachlich gerechtfertigten Grund“ von diesen Kriterien „zugunsten oder zulasten eines bestimmten Angebots systematisch“ abweichen oder wenn die Kriterien selbst „Angebote unmittelbar oder mittelbar unbillig systematisch 165 Martini (Fn. 9), S. 31 f. 166 Paal, in: Gersdorf/ders. (Hrsg.), BeckOK Informations- und Medienrecht, Stand: August 2021,
Art. 102 AEUV Rn. 64a–64d.
167 Schnelle/Kollmann, BKartA: Kein Marktmachtmissbrauch von Google gegenüber Presseverlagen,
GRUR-Prax 2016, S. 113.
168 Kommissionsentwurf v. 15.12.2020, COM(2020) 842 final, 2020/0374 (COD); insbesondere Art. 6
Abs. 1 lit. d der geplanten Verordnung.
169 Nach § 91 Abs. 2 Nr. 1 MStV eine Millionen Nutzer pro Monat in Deutschland. 170 Vgl. das Gebot für Medienplattformen wie Netflix oder Sky nach § 84 Abs. 2 Satz 3 MStV, wonach
neben deren eigenen Angeboten auch gleichartige Angebote und Inhalte der öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunksender diskriminierungsfrei auffindbar sein müssen; hierzu Cornils, „Einiges geht bedenklich weit“, ZRP 2020, S. 60 (61). 171 Präambel MStV; siehe Zimmer/Liebermann, in: Gersdorf/Paal (Hrsg.), BeckOK Informations- und Medienrecht, Stand: November 2020, § 94 MStV Rn. 1 f. 172 Zur Offenlegungspflicht § 93 MStV. Antje von Ungern-Sternberg
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§ 28 Diskriminierungsschutz bei algorithmenbasierten Entscheidungen
behindern“.173 Damit würde also erfasst, wenn eine Plattform wie Google, Facebook oder Instagram mittels ihrer Anzeige- und Sortieralgorithmen systematisch journalistisch-redaktionelle Angebote einer bestimmten politischen Richtung unterdrückt oder nach hinten sortiert.174 61 Die Reichweite dieses Diskriminierungsverbots bedarf aber noch der Klärung,175 insbesondere mit Blick auf die zweite Alternative der Diskriminierung durch die Vermittlungskriterien selbst. Hier erscheint es zunächst sachgerecht, dass die Präferenzen der Nutzerinnen bei der Vermittlung berücksichtigt werden.176 Ferner ist von den Kommunikationsfreiheiten geschützt, dass Medienintermediäre etwa bestimmte Qualitätsmedien bevorzugen oder bestimmte Inhalte wie Falschmeldungen oder Hassrede von einer (priorisierten) Vermittlung ausschließen.177 Schließlich müssen sich Medienintermediäre auf Grundlage der Kommunikationsfreiheiten auch eine – transparente – politische Ausrichtung geben dürfen, welche die Vermittlung von Inhalten beeinflusst.178 62 Jenseits des speziellen Medienrechts entwickelt die Rechtsprechung derzeit ein zivilrechtliches Benachteiligungsverbot, das Informationsplattformen den ungerechtfertigten Ausschluss von Nutzern untersagt. Gegen den vorübergehenden oder dauerhaften Ausschluss unerwünschter Inhalte oder Personen von Informationsplattformen können die Betroffenen einen Anspruch auf Zugang oder (Wieder-)Veröffentlichung geltend machen, der grundrechtlich fundiert ist und sich auf die mittelbare Drittwirkung der Meinungsfreiheit179 und der Gleichheit stützt. Das Bundesverfassungsgericht hält einen solchen Gleichbehandlungsanspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG im Privatrechtsverhältnis für gegeben, wenn ein Anbieter seine Angebote aufgrund eigener Entscheidung einem großen Publikum ohne Ansehen der Person öffnet und der Ausschluss für die Betroffenen in erheblichem Umfang über die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben entscheidet.180 Ein solcher Gleichbehandlungsanspruch kann nach dem Bundesverfassungsgericht daher auch beim Zugang zu einer Plattform wie Facebook bestehen.181 173 § 94 Abs. 2 MStV. 174 Paal/Heidtke, Vielfaltssichernde Regulierung der Medienintermediäre nach den Vorschriften des
Medienstaatsvertrags der Länder, ZUM 2020, S. 230 (238); Schmidt/Braam/Mischke, Gegen Meinungsmacht – Reformbedürfnisse aus Sicht eines Regulierers, MMR 2020, S. 19 (21). 175 Zum „besonders hohen Einfluss“ des Intermediärs, zum Schutz nur „journalistisch-redaktioneller Angebote“ und der „systematischen“ Begehweise ferner Zimmer/Liebermann (Fn. 171), § 94 MStV Rn. 5, 6, 8. 176 Schwartmann/Hermann/Mühlenbeck, Eine Medienordnung für Intermediäre, MMR 2019, S. 498 (500 f.); Schmidt/Braam/Mischke (Fn. 174), S. 19. 177 Weitergehend zum zivilrechtlichen Standard Spindler, Löschung und Sperrung von Inhalten aufgrund von Teilnahmebedingungen sozialer Netzwerke, CR 2019, S. 238 (244); zur Möglichkeit eines Faktenchecks Zimmer/Liebermann (Fn. 171), § 94 MStV Rn. 21. 178 So auch Cornils, Designing platform governance, Algorithmwatch v. 26.5.2020, S. 64; zur Entstehungsgeschichte Liesem, Neulandvermessung – Die Regulierung von Medienintermediären im neuen Medienstaatsvertrag, ZUM 2020, S. 377 (380 f.). 179 So Raue, Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken, JZ 2018, S. 961. 180 BVerfGE 148, 267 (283 f.) – Stadionverbot (2018). 181 BVerfG, NJW 2019, S. 1935 (1936) – III. Weg; kritischer Lüdemann, Grundrechtliche Vorgaben für die Löschung von Beiträgen in sozialen Netzwerken, MMR 2019, S. 279. Antje von Ungern-Sternberg
D. Individualrechte zur Einhegung algorithmenbasierter Benachteiligungen
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e) Verwaltungsrecht
Das Verwaltungsrecht ermöglicht seit einiger Zeit nicht nur automatisierte Verwaltungs- 63 akte,182 sondern auch die (automatisierte) Profilbildung und hierauf gestützte Entscheidungen: das Risikomanagement der Finanzverwaltung, das prüfungsbedürftige Steuererklärungen herausfiltert,183 den Abgleich von Fluggastdaten nach Mustern zur Verhinderung und Aufdeckung terroristischer Straftaten,184 die Erprobung intelligenter Videoüberwachung zur Gesichtserkennung und Gefahrenabwehr auf Bahnhöfen,185 den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware in Bilddatenbanken,186 die automatisierte Risikoanalyse für EU-Einreisegenehmigungen187 oder die Befragung und Ausweiskontrolle durch die Bundespolizei „auf Grund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung“ zur Unterbindung unerlaubter Einreise188. Ferner ist in Zukunft auch mit einer Ausweitung des „predictive policing“, das heißt der automatisierten Kriminalitätsprognose, zu rechnen, die in Deutschland bislang nur die sach-, nicht aber die personenbezogene Mustererkennung umfasst.189 Jenseits des Sicherheitsrechts erprobt man vor allem im Ausland unterschiedliche algorithmisierte Formen von Profiling und Entscheidungsfindung, die teilweise auch für die deutsche Verwaltung attraktiv sein dürften.190 Die genannten Regelungen werden nicht durch spezielle Benachteiligungsverbote 64 flankiert; allein das Fluggastdatengesetz (FluggastdatenG)191 verbietet ausdrücklich eine Verarbeitung der sensiblen Datenkategorien nach Art. 10 JI-RL zur Mustererstellung.192 Im Übrigen gelten für das Profiling mit diesen Datenkategorien bei der Strafverfolgung, Strafvollstreckung und Gefahrenabwehr das spezifische Verbot das Art. 11 Abs. 3 JI-RL bzw. die Umsetzungsregelungen; ferner gelangen die allgemeinen Diskriminierungsverbote zur Anwendung. In vergleichbaren Fällen menschlicher Profilbildung hat die Rechtsprechung so etwa Art. 21 GRCh beim Ausschluss sexuell aktiver homosexueller Männer von der Blutspende193 oder Art. 3 Abs. 3 GG bei Polizeikontrollen schwarzer Personen geprüft194. § 35a VwVfG, § 155 Abs. 4 AO, § 31a SGB X. § 88 Abs. 5 AO, hierzu Rätke, in: Klein (Hrsg.), AO, 15. Aufl. 2020, § 88 Rn. 90. § 4 FluggastdatenG in Umsetzung der Fluggastdatenrichtlinie (EU) 2016/681. Pilotprojekt Berlin Südkreuz, gestützt auf § 27 Satz 1 Nr. 2 BundespolizeiG und die Einwilligung der Beteiligten, Antwort des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat, BT-Drs. 19/4343. 186 Gestützt auf § 48 BDSG und gebilligt durch VG Hamburg, Urt. v. 23.10.2019, 17 K 203/19; kritisch Mysegades, Keine staatliche Gesichtserkennung ohne Spezial-Rechtsgrundlage, NVwZ 2020, S. 852. 187 AlgorithmWatch (Fn. 28), S. 36. 188 § 22 Abs. 1a BPolG (noch ohne Automatisierung). 189 Rademacher (Fn. 7), S. 369; Singelnstein, Predictive Policing: Algorithmenbasierte Straftatprognosen zur vorausschauenden Kriminalintervention, NStZ 2018, S. 1 f.; Albrecht, in: Möstl/Weiner (Hrsg.), BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht Niedersachsen, Stand: August 2021, § 32 NPOG Rn. 14. 190 Siehe oben AlgorithmWatch, Automating Society (Fn. 28). 191 Gesetz über die Verarbeitung von Fluggastdaten zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/681 v. 6.6.2017, BGBl. I 2017, S, 1484. 192 § 4 Abs. 3 Satz 7 FluggastdatenG. 193 EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, Léger, Rn. 48 ff. 194 OVG Koblenz, NJW 2016, S. 2820 (2827); OVG Münster, NVwZ 2018, S. 1497 (1499). 182 183 184 185
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§ 28 Diskriminierungsschutz bei algorithmenbasierten Entscheidungen
II. Rechtfertigung von Benachteiligungen 65
Ungleichbehandlungen sind nicht per se rechtswidrig, sondern können gerechtfertigt sein. Daher seien im Folgenden Argumente zur Rechtfertigungsmöglichkeit algorithmenbasierter Benachteiligungen in den Blick genommen. Wie gezeigt werden soll, lassen sich dem Verhältnismäßigkeitsprinzip als Rechtfertigungsmaßstab (1.) Anforderungen sowohl allgemein für statistische Diskriminierungen (2.) als auch zur spezifischen Methodik des algorithmisierten Profiling (3.) entnehmen, wobei künftig vor allem ein Rechtfertigungsmaßstab für mittelbare Benachteiligungen zu entwickeln wäre (4.). 1. Der Verhältnismäßigkeitsmaßstab
Die Rechtfertigung benachteiligender Maßnahmen im Anwendungsbereich des Antidiskriminierungsrechts setzt in der Regel die Verhältnismäßigkeit der Benachteiligungen voraus. So jedenfalls werden die offenen Rechtfertigungstatbestände der grundrechtlichen und gesetzlichen Diskriminierungstatbestände in Praxis und Lehre verstanden.195 Im Schrifttum wird teilweise vertreten, dass sich der Verhältnismäßigkeitsmaßstab nur für Freiheitsrechte, nicht aber für Gleichheitsrechte oder jedenfalls für Sonderkonstellationen der Abwägung mit externen Zielsetzungen eigne.196 Dies überzeugt für das Antidiskriminierungsrecht jedoch nicht, da die einschlägigen Normen, gerade des Unionsrechts, auf die Verhältnismäßigkeit verweisen und dieser Maßstab eine strukturierte Abwägung des Benachteiligungsunrechts und der mit der Benachteiligung verfolgten Interessen ermöglicht. Zudem steht der Verhältnismäßigkeitsmaßstab bei mittelbaren Benachteiligungen – deren Bedeutung ja bei algorithmenbasierten Entscheidungen zunimmt – auch nicht im Streit. 67 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung bezieht sich auf das Profiling und die anschließende Entscheidung. Die Entscheidung ist nach Antidiskriminierungsrecht rechtfertigungsbedürf66
195 Das AGG formuliert in Anlehnung an die zugrundeliegenden EU-Richtlinien: § 3 Abs. 2 („angemessen
und erforderlich“), § 8 Abs. 1 („angemessen“), § 9 Abs. 1 („gerechtfertigt“), § 10 Abs. 1 Satz 1 („angemessen und erforderlich“), § 20 Abs. 1 („sachlicher Grund“); zur Verhältnismäßigkeitsprüfung etwa Baumgärtner, in: Looschelders (Hrsg.), BeckOGK AGG, Stand: September 2020, § 3 Rn. 89, 96 ff., § 20 Rn. 24; Thüsing (Fn. 56), § 20 AGG Rn. 10 f. m. w. N. Zur Rechtfertigung i. R. d. Art. 21 GRCh (hier gilt der Verhältnismäßigkeitsmaßstab nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRCh) etwa Hölscheidt, in: Meyer/ders. (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 20 Rn. 25 ff., 63 ff. Zur ungeschriebenen Rechtfertigungsmöglichkeit und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip bei Benachteiligungen nach Art. 14 EMRK Sauer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 14 Rn. 35 ff. In der deutschen Grundrechtsdogmatik gilt für gravierende (d. h. personenbezogene oder die Freiheit beeinträchtigende) Ungleichbehandlungen nach Art. 3 Abs. 1 GG das Verhältnismäßigkeitsprinzip, bei Benachteiligungen nach Art. 3 Abs. 3 GG erfolgt in der Sache eine besonders strikte Form der Verhältnismäßigkeitsprüfung, auch wenn dieser Begriff nicht zwingend fällt, vgl. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 24 ff. Beim Wettbewerbs- und Medienrecht erfolgt die Abwägung in den offenen Diskriminierungstatbestanden, zur Zulässigkeit sachlich begründeter Unterscheidungen beim Zugangsanspruch zu privaten Monopolisten siehe BVerfGE 148, 267 (285) – Stadionverbot (2018). 196 Generelle Kritik bei Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: August 2021, Art. 3 Rn. 34–38a; Vorschlag der Unterscheidung interner und externer Zielsetzungen bei Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541; Huster, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: Juni 2016, Art. 3 Rn. 89. Antje von Ungern-Sternberg
D. Individualrechte zur Einhegung algorithmenbasierter Benachteiligungen
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tig, weil sie unmittelbar oder mittelbar benachteiligt. Da eine algorithmenbasierte Entscheidung maßgeblich auf Profiling fußt, muss auch dieses Prognoseinstrument verhältnismäßig sein. Das Profilingverfahren muss also geeignet sein, valide Wahrscheinlichkeitsaussagen zu treffen (Geeignetheit), es dürfen keine gleich geeigneten, weniger benachteiligende Verfahren zur Verfügung stehen (Erforderlichkeit) und die Diskriminierungsnachteile dürfen nicht außer Verhältnis zu den Prognosegewinnen stehen (Angemessenheit). Hinzu kommt eine Abwägung mit Blick auf die Folgen der Entscheidung selbst; beispielsweise führt eine Polizeikontrolle zu anderen rechtlichen Einbußen als ein Flugverbot. Zwar nimmt der EuGH häufig nur eine zweistufige Verhältnismäßigkeitsprüfung mit 68 Geeignetheit und Erforderlichkeit vor197 und auch in der Lehre wird gelegentlich bezweifelt, dass man Erforderlichkeit und Angemessenheit sauber trennen und rationale Kriterien für die Angemessenheit finden könne198. Dennoch bietet die dreischrittige Vorgehensweise, die auch der EuGH teilweise praktiziert,199 den Vorteil, dass im Rahmen der Erforderlichkeit nur Profiling-Verfahren mit vergleichbarer Validität und geringeren tatsächlichen oder rechtlichen Nachteilen in den Blick genommen werden. Hierbei geht es um die möglichen Effekte alternativer Profiling-Methoden oder eines gänzlichen Verzichts auf das Profiling für unterschiedliche Personen(gruppen): die vom Profiling Betroffenen, die Betroffenen alternativer Verfahren sowie die Personen, die das Profiling für ihre Entscheidungsfindung nutzen. Alternative Profiling-Verfahren, die mehr personenbezogene Daten benötigen, berühren beispielsweise die informationelle Selbstbestimmung oder die Privatsphäre der betroffenen Personen. Die Alternativen können aber auch Dritte stärker belasten, wenn diese dadurch schlechter bewertet würden oder eine nachteilige Entscheidung erlitten. Schließlich kann eine alternative Profiling-Methode auch die Entscheidungsfindung erschweren, weil sie größere finanzielle oder zeitliche Ressourcen benötigt. Das Identifizieren, Bewerten und Vergleichen von Handlungsalternativen muss nicht zwingend in den Schritten Erforderlichkeit und Angemessenheit erfolgen, doch hat gerade die Unterscheidung von Handlungsalternativen mit gleichem oder höheren Belastungsgrad für die genannten Personengruppen ihren analytischen Wert. Für die Verhältnismäßigkeitsprüfung wird ferner unterstellt, dass die vorgelagerten 69 Fragen des legitimen Zwecks und des legitimen Mittels regelmäßig bejaht werden können.200 Die in diesem Beitrag behandelten Beispiele zu Profiling und Entscheidungsfin197 Tridimas, The Principle of Proportionality, in: Schütze/Tridimas (Hrsg.), Oxford Principles of Euro-
pean Union Law, Vol. 1, 2018, S. 243 (247); de Burca, The Principle of Proportionality and its Application in EC Law, Yearbook of European Law 13 (1993), S. 105 (113–114); EuGH, Urt. v. 19.1.2010, Rs. C-555/07, Kücükdeveci, Rn. 37–41; EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, Léger, Rn. 58–68; EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, Achbita, Rn. 40–43; EuGH, Urt. v. 3.6.2021, Rs. C-914/19, GN, Rn. 41–50. 198 Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 36. Aufl. 2020, § 6 Rn. 340–347; Analyse der Kritik bei Petersen, How to Compare the Length of Lines to the Weight of Stones: Balancing and the Resolution of Value Conflicts in Constitutional Law’, German Law Journal 14 (2013), S. 1387. 199 Oreschnik, Verhältnismäßigkeit und Kontrolldichte, 2018, S. 158–178, 219–227; EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14, CHEZ, Rn. 123–127. 200 Poscher, Das Grundgesetz als Verfassung des verhältnismäßigen Ausgleichs, in: Herdegen u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 3 Rn. 92. Antje von Ungern-Sternberg
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dung betreffen durchweg legitime Anliegen, etwa der Personalführung, der vertraglichen Risikoanalyse oder der Gefahrenabwehr. Auch die Unzulässigkeit des Profiling an sich ist ein im Folgenden zu vernachlässigender Sonderfall, etwa wenn Menschen – im Strafverfahren oder für einen Schulabschluss – individuell und vergangenheitsbezogen bewertet werden.201 70 Abschließend sei betont, dass der Fokus auf der Verhältnismäßigkeit nicht die Besonderheiten spezifischer Diskriminierungs- oder Rechtfertigungstatbestände herunterspielen soll. Besonders gravierende Formen unmittelbarer Ungleichbehandlung sind kaum zu rechtfertigen (etwa solche aus Gründen der Rasse) oder nur unter besonders engen Umständen rechtmäßig (etwa Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts, die sich mit biologischen Unterschieden rechtfertigen lassen); in anderen Konstellationen lassen sich Benachteiligungen leicht als verhältnismäßig einordnen. Ferner ist zwischen staatlichen und privaten Benachteiligungen zu unterscheiden. Auch wenn das Antidiskriminierungsrecht beide erfasst, schlagen sich die stärkere grundrechtliche Verpflichtung des Staates und der grundrechtliche Schutz für die Tätigkeit Privater grundsätzlich auch in einer strengeren Rechtfertigungslast für staatliche Benachteiligungen nieder. Dieser Beitrag will jedoch die gemeinsamen Aspekte der Rechtfertigungsprüfung herausarbeiten. 2. Allgemeine Gesichtspunkte bei der statistischen Diskriminierung 71
Es ist sinnvoll, zunächst nach allgemeinen Gesichtspunkten bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu fragen, bevor im Anschluss (3.) die besonderen Aspekte der Profiling-Methodik in den Blick genommen werden. Die allgemeinen Gesichtspunkte beziehen sich auf sämtliche Phänomene bei der statistischen Diskriminierung bzw. dem Gruppenprofiling, also bei Benachteiligungen aufgrund statistischer Vorhersagen, die Gruppen mit geschützten Merkmalen oder ihre Mitglieder belasten. a) Entscheidungsnachteil, Fehlernachteil, Zuschreibungsnachteil
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Für eine Bewertung algorithmenbasierter Entscheidungen im Rahmen der Erforderlichkeit und Angemessenheit ist es zentral, ihre Nachteile zu benennen. Zunächst umfassen der Inhalt und die Folgen einer Entscheidung selbst ein unterschiedliches Maß an „Entscheidungsnachteil“: die Versagung eines Guts (kein Kredit), schlechte Vertragskonditionen (hohe Versicherungsprämien), die Versagung von Chancen (kein Vorstellungsgespräch) oder Nachforschungen (eine Polizeikontrolle). Einige Nachteile treten bei Entscheidungen aufgrund von Profiling besonders häufig auf. Da mit dem Profiling Informationsdefizite überwunden werden sollen (Wer ist ein guter Arbeitnehmer? Wer stellt ein Sicherheitsrisi201 Im Vereinigten Königreich plante man die algorithmisierte Errechnung der (abituräquivalenten)
A-Levels, indem man die individuelle Bewertung von Schülern durch die Lehrer mit dem statistischen Abschneiden der jeweiligen Schule in der Vergangenheit kombinierte. Dies sollte einer Noteninflation entgegenwirken. Der Algorithmus hätte vor allem gute Schülerinnen und Schüler staatlicher Schulen mit ethnischen Minderheiten benachteiligt. Das Vorhaben wurde nach öffentlichem Protest eingestellt. Siehe Wachter/Mittelstadt/Russell, Bias Preservation in Machine Learning: The Legality of Fairness Metrics under EU Non-Discrimination Law, West Virginia Law Review 123 (2021), S. 735 (737). Antje von Ungern-Sternberg
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ko dar?), richten sich viele algorithmenbasierte Entscheidungen auf weitere Informationsgewinnung: Einige Bewerbungen werden für ein Vorstellungsgespräch ausgewählt, andere sofort aussortiert, einige Steuererklärungen werden überprüft, andere dem Steuerbescheid zugrunde gelegt. Auch diese Entscheidungen zur etwaigen weiteren Informationsgewinnung beinhalten einen eigenständigen Nachteil. Denn sie können für die jeweilige Person wichtige Chancen und Risiken betreffen und in der Folge auch zu einer Verfestigung bestehender gesellschaftlicher Stereotypen und Ungleichheiten führen. Des Weiteren weisen statistische Vorhersagen jeweils eine bestimmte Fehlerquote auf, 73 so dass falsch Positive (z. B. die ehrliche Steuerschuldnerin, bei der das Risiko einer Steuerhinterziehung bestehen soll) und falsch Negative (z. B. der kreditwürdige potentielle Schuldner mit einem niedrigen Kreditscore) unter den Nachteilen der anschließenden Entscheidung zu leiden haben. Dieser „Fehlernachteil“ ist in der Rechtswissenschaft teilweise bereits als Generalisierungsunrecht bekannt,202 denn Rechtsregeln gelten allgemein und sind daher häufig überinklusiv. Beispielsweise reagieren Altersgrenzen für Piloten auf die statistisch abnehmende Flugtauglichkeit, erfassen aber auch Personen, die noch völlig flugtauglich sind.203 Immerhin lässt sich dieser „Fehlernachteil“ im Kontext des Profiling zunehmend auch quantifizieren. Gruppenprofile bergen schließlich die Gefahr von „Zuschreibungsnachteilen“,204 wenn 74 sie alle Mitglieder einer Gruppe mit einer negativen Zielvariable in Verbindung bringen, also beispielsweise Schwarze mit höherer Kriminalität oder Frauen mit geringerer Leistungsfähigkeit. Einige Zuschreibungen können unangenehm oder erniedrigend sein (Kriminalität, HIV, geringe Leistungsfähigkeit), andere sind unproblematisch (hohe Kaufkraft), einige treten sichtbar nach außen (Polizeikontrollen für Schwarze), andere bleiben im Algorithmus verborgen, einige können bestehende Stereotype bestätigen oder bekräftigen und andere wirken ihnen entgegen (eine gute Kfz-Unfallbilanz für Frauen). b) Alternativen: Granularität und Informationsbeschaffung
Ein anderer wichtiger Aspekt der Erforderlichkeit und Angemessenheit betrifft mögliche 75 schonendere Handlungsalternativen. Ein erster wichtiger Punkt ist hier die Granularität der Profilbildung. Ausdifferenzierte Profile, die aus einer Fülle von Daten gewonnen wurden, sind passgenauer als grobe Profile auf der Grundlage einiger weniger Daten. Wenn sich Entscheidungen an groben Profilen ausrichten, führt dies zu Generalisierungsnachteilen sowohl bei der Wahrscheinlichkeitsprognose als auch bei den Entscheidungsfolgen, da viele Personen in die Kategorie der falsch Positiven oder falsch Negativen fallen und Nachteile erleiden. Um das Risiko einer HIV-Übertragung bei der Blutspende zu minimieren, könnte man beispielsweise unterschiedliche Personengruppen von der Blutspende ausschließen: Homosexuelle, männliche Homosexuelle, sexuell aktive männliche Homosexuelle oder nur solche aus diesem Personenkreis, deren Sexualverhalten ein besonderes 202 Ausführlich hierzu Britz (Fn. 3), S. 2 ff. 203 Vgl. EuGH, Urt. v. 5.7.2017, Rs. C-190/16, Fries. 204 Hierzu auch Britz (Fn. 3), z. B. S. 24, 83, 94, 102.
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HIV-Risiko hervorruft.205 Die bessere Passgenauigkeit feingranularer Gruppenprofile ist daher mit den Vorteilen gröberer Gruppenprofile wie Datensparsamkeit oder Einfachheit in Abwägung zu bringen. Die Notwendigkeit granularer Profile kommt beispielsweise in der deutschen Umsetzung des europäischen Fluggastdaten-Systems zum Ausdruck. Die Fluggastdatenrichtlinie der EU sieht vor, dass Passagiere auf eine mögliche Beteiligung an Terrorismus oder schwerer Kriminalität hin überprüft werden. Hierzu werden Fluggastdaten mit festgelegten (risikobezogenen) Prüfungsmerkmalen aus relevanten Datenbanken abgeglichen, d. h. es erfolgt ein Profiling, bei dem diese Kriterien „zielgerichtet, verhältnismäßig und bestimmt“ sein müssen.206 Das deutsche Fluggastdatengesetz schreibt nun vor, dass beim automatisierten Abgleich mit Mustern „verdachtsbegründende Prüfungsmerkmale mit verdachtsentlastenden Prüfungsmerkmalen so zu kombinieren“ sind, „dass die Zahl der unter ein Muster fallenden Personen möglichst gering ist“.207 76 Da das Gruppenprofiling einen Umgang mit Informationsdefiziten ermöglicht, können zweitens auch Alternativen zur Bewältigung von Informationsdefiziten in den Blick genommen werden. Wenn Informationen besonders wichtig sind, bietet sich die umfassende Aufklärung an, sofern das möglich ist und die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen. Beispielsweise müssen ja auch sämtliche Flugreisende vor einem Flug die Sicherheitsschleuse passieren und nicht nur diejenigen mit Risikoprofil. Beim oben aufgeführten Beispiel der Blutspende könnte man systematisch alle Spenden auf HIV testen, statt sexuell aktive männliche Homosexuelle von der Spende auszuschließen.208 Derartige Überprüfungen können auch bei automatisierten Vorgängen erfolgen, sie involvieren allerdings Datenverarbeitung und erzeugen Kosten. Eine weitere Alternative zum Ausgleich zwischen Informationsbedürfnis und Nichtdiskriminierung stellt die Informationserhebung nach dem Zufallsprinzip dar. Wenn nur ein Bruchteil der Steuererklärungen von menschlichen Sachbearbeitern überprüft werden können, lassen sich diese Erklärungen nach einem Risikoprofil oder nach dem Zufallsprinzip auswählen. Zwar erscheint das Abstellen auf das Risikoprofil besonders effizient, aber auch die Randomisierung weist Vorteile auf. Sie belastet alle Steuerpflichtigen gleichermaßen und verhindert Benachteiligungen.209 Zugleich lässt sich dieses Vorgehen auch weniger leicht manipulieren, da Betroffene nicht auf ein ihnen günstiges Profil hinwirken können.210
205 EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, Léger, Rn. 67. 206 Art. 6 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie (EU) 2016/681 des Europäischen Parlaments und des Rates über
die Verwendung von Fluggastdatensätzen (PNR-Daten) zur Verhütung, Aufdeckung, Ermittlung und Verfolgung von terroristischen Straftaten und schwerer Kriminalität v. 27.4.2016, Abl. 2016 L 119, S.132. 207 § 4 Abs. 3 Satz 6 FluggastdatenG. 208 EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, Léger, Rn. 64. 209 Harcourt (Fn. 41), S. 145 ff. 210 Für das Risikomanagement der Finanzbehörden sieht § 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 AO daher auch vor, dass die automatisierte Risikoanalyse durch eine Zufallsauswahl von zu überprüfenden Steuerbescheiden ergänzt wird. Antje von Ungern-Sternberg
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3. Profiling-Methodik
Für die Rechtfertigung zentral ist ferner die Methodik bei der Bildung, Zuordnung und 77 Nutzung von Profiling, da diese Benachteiligungen bei algorithmenbasierten Entscheidungen maßgeblich beeinflusst.211 Man kann dies als Methodikgebot bezeichnen, so dass zumindest für die Rechtfertigung von Benachteiligungen nach dem Antidiskriminierungsrecht ein Recht auf nachvollziehbare Rückschlüsse besteht.212 a) Explizite und implizite Methodikgebote
Anders als beispielsweise der Betrieb eines Kernkraftwerks oder der Verkauf von Arznei- 78 mitteln bedarf die Nutzung von Profiling-Algorithmen derzeit keiner behördlichen Genehmigung. Kraftwerksbetreiber müssen etwa darlegen, dass die „nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist“,213 und Pharmahersteller erhalten keine Zulassung, wenn ihr Arzneimittel „nicht nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ausreichend geprüft worden ist“ oder seine therapeutische Wirksamkeit „nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ unzureichend begründet ist.214 Bislang gibt es keine vergleichbaren ex-ante-Prüfungen und Zulassungen für Profiling-Algorithmen; entsprechende Vorschläge werden derzeit diskutiert.215 Doch auch ohne Zulassungsverfahren bestehen explizite oder implizite Methodikstan- 79 dards für Profiling-Algorithmen, die auch separat durch die Betroffenen oder die Aufsichtsbehörden eingefordert werden können.216 So verlangt § 31 Abs. 1 Nr. 2 BDSG zum Scoring, dass „die zur Berechnung des Wahrscheinlichkeitswerts genutzten Daten unter Zugrundelegung eines wissenschaftlich anerkannten mathematisch-statistischen Verfahrens nachweisbar für die Berechnung der Wahrscheinlichkeit des bestimmten Verhaltens erheblich sind“.217 Beim Profiling in der Privatversicherung muss eine Benachteiligung im Anwendungsbereich des AGG „auf anerkannten Prinzipien risikoadäquater Kalkulation“ beruhen, „insbesondere auf einer versicherungsmathematisch ermittelten Risikobewertung unter Heranziehung statistischer Erhebungen“ (§ 20 Abs. 2 Satz 2 AGG), und bei Altverträgen muss die Berücksichtigung des Geschlechts „bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden RisikobewerOben Rn. 15 ff. (C. I. 2.). Gefordert von Wachter/Mittelstadt (Fn. 104). § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG. § 25 Abs. 2 Nr. 2 und 4 ArzneimittelG. Datenethikkommission (Fn. 25), S. 195; Europäische Kommission, Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council Laying Down Harmonised Rules on Artificial Intelligence (Artificial Intelligence Act) v. 21.4.2021, COM/2021/206, S. 15 ff., 52, 67 ff.; Martini (Fn. 9), S. 225 ff. 216 Siehe insbesondere die Befugnisse der Datenschutzaufsicht nach Art. 58, 70, 83–84 DSGVO. 217 Ein vergleichbares Gebot schreibt für Kreditgeschäfte vor, dass die „Daten unter Zugrundelegung eines wissenschaftlich anerkannten mathematisch-statistischen Verfahrens nachweisbar für die Bestimmung und Berücksichtigung von Adressenausfallrisiken erheblich sind“ (§ 10 Abs. 2 Nr. 1 KWG). Ferner fordert Erwägungsgrund 71 UAbs. 2 Satz 1 zu Art. 22 DSGVO, dass der Datenverarbeiter „geeignete mathematische oder statistische Verfahren“ für das Profiling verwendet. 211 212 213 214 215
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tung ein bestimmender Faktor“ sein.218 Die Gebote beziehen sich jeweils auf anerkannte Methoden in anderen Disziplinen wie der Mathematik, der Statistik oder der Versicherungsmathematik, welche die Validität des Profiling bei Nutzung bestimmter Wirkvariablen sicherstellen sollen. An anderer Stelle finden sich statt expliziter Methodikgebote immerhin Prüfpflichten, die sich auch auf die Validität des Profiling beziehen. So müssen die Risikomanagementsysteme der Finanzbehörden regelmäßig „auf ihre Zielerfüllung“ überprüft werden.219 Gleiches gilt für die Muster zur Erkennung verdächtiger Fluggäste, die zur Bestimmung der betroffenen Personen „geeignet“ sein müssen und regelmäßig zu überprüfen sind.220 Über diese spezifischen Normen hinaus folgt ein allgemeines Methodikgebot aber aus 80 den Rechtfertigungsanforderungen das Antidiskriminierungsrechts. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist unter dem Aspekt der Geeignetheit zu prüfen, ob eine Profiling-Methode valide Wahrscheinlichkeitsaussagen hervorbringt. Denn nur dann ist die mit dem Profiling verbundene Unterscheidung geeignet, das Differenzierungsziel durch eine Reaktion auf unterschiedliche statistische Chancen oder Risiken zu fördern. Ferner ist im Rahmen der Erforderlichkeit oder Angemessenheit zu erörtern, ob Änderungen in der Methodik mit geringeren Benachteiligungen einhergehen und dennoch dem ProfilingAnliegen entsprechen. 81 Gewisse methodische Mindeststandards lassen sich im Übrigen auch aus dem Datenschutzrecht herleiten. Die Verarbeitung personenbezogener Daten zur Anwendung eines Profils bedarf nämlich einer Grundlage in Art. 6 Abs. 1 DSGVO, die typischerweise die „Erforderlichkeit“ der Datenverarbeitung für bestimmte Zwecke wie die Vertragserfüllung, die Erfüllung einer Rechtspflicht, die Wahrnehmung einer im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe oder die Wahrung berechtigter Interessen beinhaltet.221 Für die Automatisierung verlangen Art. 22 Abs. 2 und 3 DSGVO ferner angemessene Maßnahmen zur Wahrung der Rechte und Freiheiten sowie der berechtigten Interessen der betroffenen Person. Die Erforderlichkeit nach Art. 6 Abs. 1 DSGVO bzw. angemessene Maßnahmen nach Art. 22 Abs. 2 und 3 DSGVO liegen aber nur vor, wenn die Profiling-Methode valide Wahrscheinlichkeitsaussagen generiert und keine alternativen Methoden anwendbar sind, die vergleichbare Resultate liefern, aber weniger benachteiligen. 82 Die Annahme derartiger impliziter Methodikgebote scheitert nicht daran, dass der Gesetzgeber die bereits genannten spezifische Methodikgebote mit einem beschränkten Anwendungsbereich erlassen hat. Diese beziehen sich auf Bereiche des Versicherungs- und Kreditwesens, in denen mathematisch-statistische Standards lange etabliert sind. Im Übrigen stammt das Antidiskriminierungsrecht aus einer Zeit, in der Politik und Rechtswissenschaft noch kein Bewusstsein für die Notwendigkeit allgemeiner methodischer Standards für das Profiling entwickelt hatten. Erst die 2016 verabschiedete DSGVO nimmt die Gefahren des Profiling ausdrücklich in den Blick. Sie enthält zwar in der Tat kein ausdrück218 219 220 221
§ 33 Abs. 5 Satz 1 AGG. § 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 4 AO. § 4 Abs. 3 Satz 1 und 4 FluggastdatenG. Art. 6 Abs. 1 lit. b, c, e und f DSGVO. Antje von Ungern-Sternberg
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liches Methodikgebot, aber immerhin verlangt Erwägungsgrund 71, dass der für die Verarbeitung Verantwortliche „geeignete mathematische oder statistische Verfahren für das Profiling“ verwendet. Auch ohne bindende Wirkung des Erwägungsgrundes kann diese gesetzgeberische Intention bei der Auslegung der DSGVO herangezogen werden. Außerdem zeigen einige Normen der DSGVO und andere Erwägungsgründe, dass die Verordnung die Gefahren des Profiling einschließlich der hiermit verbundenen Diskriminierungsrisiken effektiv bekämpfen will.222 Daher sind auch ohne ausdrückliches Methodikgebot Mindeststandards im Merkmal der „erforderlichen“ Datenverarbeitung enthalten. Insoweit unterscheidet sich das Profiling von Tätigkeiten, bei denen Rückschlüsse aus personenbezogenen Daten anderen Standards unterliegen. Beispielsweise enthält das Datenschutzrecht keine Kriterien für die Bewertung von Prüfungsarbeiten und den Rückschluss auf die geprüften Qualifikationen.223 Rückschlüsse im Wege des Profiling hingegen sind hingegen untrennbar mit der Datenverarbeitung verbunden und von der Datenschutzgrundverordnung erfasst. Der Mindeststandard einer verhältnismäßigen Profiling-Methodik stellt kein eigenstän- 83 diges Recht auf nachvollziehbare oder berechtigte Rückschlüsse („reasonable inferences“) dar,224 sondern besteht als Rechtfertigungserfordernis bei einer Ungleichbehandlung. Dennoch wird Profiling häufig zu diskriminierungsrechtlich relevanten Benachteiligungen führen, so dass dieser methodische Mindeststandard gilt. Zudem verlangt die Verhältnismäßigkeit nicht nur nach „vernünftigen“ Rückschlüssen, sondern nach der am wenigsten diskriminierenden Methodik, die bei der Entscheidungsfindung zugemutet werden kann. b) Technische und normative Elemente der Methodik
Die praktische Herausforderung liegt nun in der Entwicklung und Handhabbarmachung 84 entsprechender methodischer Standards.225 Diese werden in technisch-fachlicher Hinsicht von Disziplinen wie den Datenwissenschaften, der Mathematik oder der Informatik geprägt. Zugleich spielen juristisch-normative Erwägungen eine maßgebliche Rolle. Das Zusammenspiel technischer und normativer Elemente zeigt sich zunächst mit 85 Blick auf die Fehlermargen.226 Es ist eine technische Frage, wie zuverlässig bestimmte 222 Die automatisierte Entscheidung nach Profiling wird nicht nur in Art. 22 DSGVO, sondern auch in
Art. 13 Abs. 2 lit. f, 14 Abs. 2 lit. g, 15 Abs. 1 lit. h DSGVO (Informationsrechte), Art. 35 Abs. 3 lit. a DSGVO (Datenschutz-Folgenabschätzung), Art. 47 Abs. 2 lit. e DSGVO (Verbindliche interne Datenschutzvorschriften) und Art. 70 Abs. 1 lit f. DSGVO (Leitlinien des Europäischen Datenschutzausschusses) geregelt. Regeln zum Profiling finden sich ferner in Art. 21 Abs. 1 und 2 DSGVO (Widerspruchsrecht); ferner betreffen auch die Erwägungsgründe 24, 60, 63, 70–73, 91 Aspekte des Profiling. Das Antidiskriminierungsanliegen kommt nicht nur in Erwägungsgrund 71, sondern auch in den Erwägungsgründen 75 und 85 zum Ausdruck, die Risiken für Rechte und Freiheiten bzw. mögliche Schäden durch Datenschutzverstöße behandeln. 223 Deshalb erstreckt sich der datenschutzrechtliche Berichtigungsanspruch auch nicht auf falsche Prüfungsantworten, EuGH, Urt. v. 20.12.2017, Rs. C-434/16, Nowak, Rn 52–57, vgl. schon oben Fn. 106. 224 Wachter/Mittelstadt (Fn. 104). 225 Siehe auch Orwat (Fn. 37), S. 114. 226 Zu den unterschiedlichen methodischen Faktoren oben Rn. 15 ff. (C. I. 2.). Antje von Ungern-Sternberg
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Wahrscheinlichkeitsaussagen ausfallen und inwieweit Fehlermargen unterschiedliche Personengruppen ungleich belasten. Aber die Zulässigkeit dieser Fehlermargen und ihrer Verteilung ist normativ zu bewerten. Es stellt eine Frage der Geeignetheit dar, ab welchem Zuverlässigkeitsgrad man sich für Ungleichbehandlungen auf Profiling-Prognosen stützen kann.227 Der Vergleich der Fehlerraten unterschiedlicher Methoden und die Verteilung von Fehlerraten auf Personengruppen fällt sodann unter den Aspekt der Erforderlichkeit und der Angemessenheit. 86 Eine sowohl technische als auch normative Sicht ist ferner notwendig, um die Verzerrungseffekte des Profiling (sampling, labelling und feature selection bias) zu vermeiden oder zu bewerten. Dem sampling bias lässt sich durch repräsentative Trainings- und Testdaten entgegenwirken. Hier ist in technischer Hinsicht zu berücksichtigen, wie repräsentative Datensätze beschafft oder erzeugt werden können und wieviel Zeit, Geld und Aufwand dies voraussetzt. Außerdem sind die Bemühungen aus Informatik und Datenwissenschaften relevant, mit synthetischen oder bearbeiteten Datensätzen Repräsentativität zu simulieren.228 Eine normative Bewertung fragt hingegen danach, welche Bezugsgröße in welchem Kontext repräsentativ ist und welche Kosten für die Nutzung repräsentativer Daten zugemutet werden können. In vergleichbarer Weise kann die diskriminierende Zuschreibung von Eigenschaften in Ziel- oder Wirkungsvariablen (labelling bias) zunächst technisch bekämpft werden, indem man pejorative Begriffe neutralisiert. Darüber hinaus müssen die rechtlichen Vor- und Nachteile dieser technischen Möglichkeiten in die Abwägung einbezogen werden, beispielsweise ein Verlust an Meinungsfreiheit bei Bewertungen. Der feature selection bias schließlich lässt sich reduzieren, indem man wenig relevante Wirkvariablen durch aussagekräftigere Wirkvariablen ersetzt. Erneut müssen hier technische Aspekte, wie die Verfügbarkeit notwendiger Daten und Auswirkungen auf die Fehlerquote, mit einer rechtlichen Bewertung, etwa zum Verlust an Datenschutz, verbunden werden.229 Die entsprechenden Überlegungen unterfallen hierbei der Prüfung zur Erforderlichkeit oder zur Angemessenheit. Diese Prüfung kann schließlich auch das Profiling-Modell als solches erfassen, wenn es beispielsweise darum geht, dass bestimmte Entscheidungen auf einer Kausalitäts-Hypothese fußen müssen und nicht nur auf bloße Korrelationen gestützt werden können. 87 Insgesamt erfordert die Entwicklung dieser Methodik-Standards den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen den Rechtswissenschaften und anderen relevanten Disziplinen. Hierbei müssen Informatik und Datenwissenschaften die Validität und die Grenzen 227 Die Benennung solcher Zuverlässigkeitsschwellen ist im Recht bislang selten, vgl. etwa die Berück-
sichtigung einer DNA-Bestimmung im Strafprozess bei Fehltreffern im Millionenbereich, BGH, NStZ 2009, S. 285. 228 Cofone (Fn. 50), S. 1431; Datenethikkommission (Fn. 25), S. 132; weitere technische Lösungsmöglichkeiten finden sich unter anderem bei Kamiran/Calders/Pechenizkiy, Techniques for Discrimination-Free Predictive Models, in Custers u. a. (Hrsg.), Discrimination and Privacy in the Information Society, 2013, S. 223; Hajian/Domingo-Ferrer, Direct and Indirect Discrimination Prevention Methods, in: ebd., S. 241; Verwer/Calders, Introducing Positive Discrimination in Predictive Models’ in: ebd, S. 255. 229 Dieser Aspekt betrifft die schon oben angesprochene Granularität der Profile, siehe unter Rn. 75 (D. II. 2.b.). Antje von Ungern-Sternberg
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bestehender Verfahren erklären und weniger diskriminierende Alternativen entwickeln, während die Rechtswissenschaft die rechtlichen Vor- und Nachteile der Methoden zu bewerten hat. 4. Direkte und indirekte Benachteiligungen
Für das Antidiskriminierungsrecht war bislang die Unterscheidung von direkten und in- 88 direkten Formen der Benachteiligung zentral. Im Zeitalter des intelligenten Profiling verschwimmt diese Unterscheidung zunehmend, und die indirekte Benachteiligung gewinnt an Bedeutung. a) Rechtfertigung direkter Benachteiligung
Selbst eine Benachteiligung, die unmittelbar an Merkmale wie Rasse, Geschlecht, Natio- 89 nalität oder Religion anknüpft, wird in manchen Konstellationen für rechtmäßig gehalten. Solche Benachteiligungen gibt es etwa, wenn Frauen auf dem Arbeitsmarkt schlechter vermittelbar erscheinen als Männer und die Vermittlungsbehörden ihre Dienste entsprechend anpassen, wenn die schwedische Minderheit in Finnland bessere Kreditscores erzielt als die finnische Mehrheit und daher Schwedenfinnen einfacher und billiger an Kredite gelangen oder wenn Muslimen eine stärkere Neigung zum Terrorismus unterstellt wird als dem Rest der Bevölkerung und sie daher intensiver von den Sicherheitsbehörden überwacht werden.230 Eine Rechtfertigung dieser unmittelbaren Benachteiligung ist nicht gänzlich ausgeschlossen, aber gerade bei den besonders problematischen Merkmalen wie Rasse oder Geschlecht nur unter äußerst engen Voraussetzungen möglich. Denn selbst wenn Rasse, Geschlecht, Nationalität oder Religion statistisch mit bestimmten Risiken korrelieren sollten, ist das Unrecht durch eine Klassifizierung entlang dieser sensiblen Kriterien grundsätzlich zu groß, so dass die Verhältnismäßigkeit im Regelfall jedenfalls an der Angemessenheit scheitern wird.231 b) Rechtfertigung indirekter Benachteiligung
Was indirekte Benachteiligungen betrifft, so hat das Antidiskriminierungsrecht bislang 90 vor allem evidente Phänomene als rechtfertigungsbedürftig anerkannt. In diesen Fällen lassen sich klare Stellvertretermerkmale ausmachen, etwa wenn ein Arbeitgeber (überwiegend weibliche) Teilzeitkräfte232 oder (überwiegend schwarze) Bewerber ohne Bildungsabschluss233 benachteiligt. Gleiches gilt für EU-Mitgliedsstaaten, die Vergünstigungen an den Wohnsitz oder die Sprache knüpfen, also an Bedingungen, die von den eigenen Staatsangehörigen leichter zu erfüllen sind als von EU-Ausländern.234 Hier muss sich die 230 Zu den Beispielen Holl/Kernbeiß/Wagner-Pinter (Fn. 28); AlgorithmWatch, Automating Society
(Fn. 28), S. 59 f.; v. Ungern-Sternberg (Fn. 17), S. 191 ff. Hierzu v. Ungern-Sternberg (Fn. 17), S. 205 ff. EuGH, Urt. v. 31.3.1981, Rs. 96/80, Jenkins; EuGH, Urt. v. 13.5.1981, Rs. 170/84, Bilka. US Supreme Court, Griggs v. Duke Power Co., 401 U. S. 424 (1971). Vgl. EuGH, Urt. v. 12.2.1974, Rs. 152/73, Sotgiu; Craig/de Búrca (Fn. 67), S. 796–797.
231 232 233 234
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indirekte Benachteiligung von Frauen, Schwarzen oder EU-Ausländen damit rechtfertigen lassen, dass sie ein verhältnismäßiges Mittel zur Rechtfertigung eines legitimen Zieles darstellt. Sind die Rechtfertigungsstandards bei indirekten Benachteiligungen aufgrund des Profiling hier nun ähnlich streng, selbst wenn diese Profile differenzierter ausfallen und sich weniger klar mit geschützten Gruppen decken? Oder genügt es, wenn das Profiling eine valide Methodik aufweist? Die Rechtswissenschaft muss hier erarbeiten, warum die indirekte Diskriminierung überhaupt problematisch ist und welche Konstellationen ihr unterfallen. 91 Gute Argumente dürften hier dafür streiten, dass man strengere Rechtfertigungsstandards auch auf Situationen erstreckt, in denen die Stellvertretermerkmale weniger ausgeprägt sind und sich Profile und geschützte Gruppen weniger stark überlappen. Grundsätzlich kann man starke und schwache Modelle der indirekten Diskriminierung unterscheiden.235 Nach dem schwachen Modell soll das Verbot indirekter Diskriminierungen das Verbot der direkten Diskriminierung vor Umgehungen schützen.236 Stärkere Modelle verfolgen weitergehende Zielsetzungen wie die Chancengleichheit237 oder die Ergebnisgleichheit, die bestehende Ungleichheiten korrigiert238. Darüber hinaus kann die indirekte Diskriminierung das Antidiskriminierungsrecht auch dort effektiv sichern, wo es sich mit Freiheitsrechten wie der Freizügigkeit oder der Religionsfreiheit überschneidet.239 Starke Modelle der indirekten Diskriminierung erfordern, dass man Verantwortlichkeit und Lasten von Staat und Privaten spezifiziert. Beispielsweise dürfte es angemessen sein, dass Arbeitgeber nicht die Last bestehender gesellschaftlicher Ungleichheiten zu tragen haben, dass sie aber auch nicht dazu beitragen, diese Ungleichheiten zu verfestigen oder zu vertiefen.240 Darüber hinaus ist es hilfreich, das jeweilige Unrecht mittelbarer Diskriminierung in unterschiedlichen Situationen herauszuarbeiten, das unterschiedliche Reaktionen des Antidiskriminierungsrechts verdient: den Ausgleich von Nachteilen, den Kampf gegen Stereotype, die Erhöhung von Partizipation oder strukturelle Veränderungen.241 235 Hierzu Schiek, Indirect Discrimination, in: dies./Weddington/Bell (Hrsg.), Non-Discrimination
Law, 2007, S. 323–333 (Umgehungsverbot und gesellschaftliche Reform); Connolly, Discrimination Law, 2. Aufl. 2011, S. 153–156 (Vorwand, funktionale Äquivalenz, Quotenmodell); Tobler, Limits and potential of the concept of indirect discrimination, 2008, S. 24 (Effektivität des Antidiskriminierungsrechts und Bekämpfung der Diskriminierungsursachen); ferner Morris, On The Normative Foundations of Indirect Discrimination Law, Oxford Journal of Legal Studies 15 (1995), S. 199 (ausgleichende und verteilende Gerechtigkeit); Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 657–661 (Individual- und Gruppengerechtigkeit); Fredman, Substantive equality revisited, International Journal of Constitutional Law 14 (2016), S. 713 (formale und materielle Gleichheit); Wachter/Mittelstadt/Russell (Fn. 201), S. 747 ff. (formale und materielle Gleichheit). 236 Diese Deutung ist in Deutschland verbreitet, siehe Fehling, Mittelbare Diskriminierung und Artikel 3 (Abs. 3) GG, in: FS Würtenberger, 2013, S. 668 (675). 237 Wachter/Mittelstadt/Russell (Fn. 201), S. 751 ff. 238 Schiek (Fn. 235), S. 327. 239 Zur Freizügigkeit siehe Fn. 234; zur Religionsfreiheit EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15, Achbita und EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-188/15, Bougnaoui; siehe auch Vickers, Indirect Discrimination and Individual Belief: Eweida v British Airways plc, Ecclesiastical Law Journal 11 (2009), S. 197. 240 Grünberger (Fn. 235), S. 660 f. 241 Fredman (Fn. 235). Antje von Ungern-Sternberg
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Ungeachtet dieser Grundsatzfragen vertritt dieser Beitrag, dass auch mittelbar benach- 92 teiligende Algorithmen spürbare Rechtfertigungshürden verdienen, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen ermöglicht es die Analyse großer Datensätze, eine Verbindung zwischen harmlosen und sensiblen Charakteristika zu ziehen. Wenn Internetplattformen aus dem Internetverhalten auf das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, die Gesundheit oder die Kaufkraft schließen können, dann können sie diese Daten auch nutzen, ohne nach ihnen zu fragen. Diese Situation kann mit dem Umgehungsszenario verglichen werden, welches selbst schwache Modelle der indirekten Diskriminierung verhindern wollen. Zum anderen ist es zunehmend schwierig, überhaupt zwischen direkter und indirekter Benachteiligung zu unterscheiden. Denn je komplexer die Profiling-Algorithmen sind und je autonomer sie operieren, desto schwerer wird es, die relevanten Wirkvariablen zu identifizieren und damit zu wissen, ob das Profiling ein verbotenes Merkmal umfasst oder nicht. Zu diesen epistemischen Herausforderungen gesellt sich die normative Frage nach der Unterscheidung von direkter und indirekter Diskriminierung. Wenn sich ein komplexes Profil aus 250 Datenpunkten zusammensetzt, von denen einer problematisch ist (z. B. das Geschlecht) und 50 weitere mit diesem problematischen Merkmal zusammenhängen (z. B. typische Attribute eines Geschlechts), soll man die Nutzung dieses Profils dann als unmittelbare oder mittelbare Benachteiligung aus Gründen des Geschlechts qualifizieren? Was, wenn man nicht ermitteln kann, ob das problematische Merkmal sich auf das Entscheidungsergebnis ausgewirkt hat? Jedenfalls wird der nachteilige Effekt des Profiling leichter nachzuweisen sein als eine Ungleichbehandlung, weil man den Output von Algorithmen leichter nachvollziehen kann als die internen Entscheidungskriterien, insbesondere bei zunehmend autonomen, selbstlernenden und opaken Algorithmen.242 Man sollte hier daher im Zweifel (nur) von einer mittelbaren Ungleichbehandlung ausgehen, aber einen vergleichsweise strengen Prüfungsmaßstab anlegen. Einzelheiten wären hier noch auszuarbeiten. Beispielsweise erscheint es sachgerecht, wenn die Verwenderin von Algorithmen nicht für vorhandene gesellschaftliche Ungleichheiten einstehen muss, wohl aber für die Berücksichtigung diskriminierender Kunden-Präferenzen oder für eine unzureichende Methodik zur Vermeidung algorithmenbasierter Benachteiligungen.243 III. Nachweis
Eine zentrale Frage algorithmenbasierter Benachteiligungen betrifft schließlich ihre Nach- 93 weisbarkeit. Da Betroffene kaum in der Lage sind, die Funktionsweise von Algorithmen zu durchschauen, könnten Transparenz (1.) oder eine Veränderung der Darlegungs- und Beweislast (2.) Abhilfe schaffen.
242 Hierzu Pasquale, The Black Box Society, 2015. 243 So auch Martini (Fn. 9), S. 242. Weitergehend im Sinne eines positiven Ausgleichs vorhandener Nach-
teile etwa Wachter/Mittelstadt/Russell (Fn. 201), S. 774 ff.
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§ 28 Diskriminierungsschutz bei algorithmenbasierten Entscheidungen
1. Transparenz 94 Grundsätzlich setzt die Rechtfertigungslast für Benachteiligungen erst ein, wenn die Be-
troffenen eine Benachteiligung dargelegt haben. Selbst nach den Darlegungserleichterungen in § 22 AGG obliegt es den Betroffenen daher, die Tatsache der Benachteiligung sowie Indizien vorzutragen, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines verpönten Grundes erfolgt.244 95 Hier können den Betroffenen Transparenz- oder Erklärungsansprüche helfen. Als Grundlage kommt insbesondere Art. 15 Abs. 1 DSGVO in Betracht, der dem Datensubjekt einen Auskunftsanspruch über Umfang und Zweck der Datenverarbeitung gewährt und sich nach lit. h auch auf Informationen zur automatisierten Entscheidungsfindung einschließlich Profiling erstreckt.245 Eine spezielle Informationspflicht zum Profiling findet sich ferner im Medienstaatsvertrag. Medienintermediäre müssen demnach die Kriterien offenlegen, die über den Zugang und Verbleib des Inhalts auf der Plattform entscheiden, sowie die „zentralen Kriterien einer Aggregation, Selektion und Präsentation von Inhalten und ihre Gewichtung einschließlich Informationen über die Funktionsweise der eingesetzten Algorithmen in verständlicher Sprache“.246 Schließlich bestehen besondere Transparenzpflichten für staatliches Handeln, zum einen auf der Grundlage von Informationsfreiheitsgesetzen247 und zum anderen nach Maßgabe verwaltungs- und verfassungsrechtlicher Ansprüche auf Auskunft, Akteneinsicht oder Begründung für Betroffene.248 96 In der Literatur lässt sich eine bemerkenswerte Tendenz beobachten, den zentralen datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruch nach Art. 15 Abs. 1 lit. h DSGVO kleinzuschreiben (und staatsgerichtete Informationsansprüche unberücksichtigt zu lassen).249 Zwar ist es richtig, dass Art. 15 DSGVO keine umfängliche Offenlegung des genutzten Algorithmus verlangt, doch wäre dies für Laien zur Geltendmachung eigener Rechte ohnehin nicht ziel244 BAG, Urt. v. 19.5.2016, 8 AZR 477/14, Rn. 45. 245 Zugleich bestehen Informationspflichten nach Art. 13 Abs. 2 lit. f DSGVO bzw. Art. 14 Abs. 2 lit. g
DSGVO; zur speziellen Informationspflicht bei Verwendung von Adressdaten beim Scoring § 31 Abs. 1 Nr. 4 BDSG; zur Aufklärung bei der Einwilligung Art. 4 Nr. 11 DSGVO. 246 § 93 Abs. 1 MStV. 247 Der Anspruch nach §§ 1 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 InformationsfreiheitsG erstreckt sich auf „amtliche Informationen“, d. h. amtlichen Zwecken dienende Aufzeichnungen, worunter auch – in Computercode niedergelegte – Algorithmen fallen müssten, so etwa auch die bei https://fragdenstaat.de einsehbare Praxis; skeptisch allerdings VG Darmstadt, Urt. v. 8.5.2019, 3 K 1708/17.DA, Rn. 40. 248 Zum Verwaltungsrecht Kallerhoff/Fellenberg, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 25 Rn. 5 ff.; Kallerhoff/Mayen, ebd., § 29 Rn. 4 ff.; zum Verfassungsrecht Martini (Fn. 9), S. 71 f.; Wischmeyer, Regulierung intelligenter Systeme, AöR 143 (2018), S. 1 (55). 249 Insbesondere Wachter/Mittelstadt/Floridi, Why a Right to Explanation of Automated Decision-Making Does Not Exist in the General Data Protection Regulation, International Data Privacy Law 7 (2017), S. 76; ferner Edwards/Veale, Slave to the Algorithm? Why a Right to an Explanation Is Probably Not the Remedy You Are Looking for, Duke Law & Technology Review 16 (2017), S. 18; Wischmeyer (Fn. 248), S. 49 ff.; Kumkar/Roth-Isigkeit, Erklärungspflichten bei automatisierten Datenverarbeitungen nach der DSGVO, JZ 2020, S. 277 (281 ff.); Gegenansicht bei Selbst/Powles, Meaningful information and the right to explanation, International Data Privacy Law 7 (2017), S. 233 (238 ff.); Kaminski, The Right to Explanation, Explained, Berkeley Technology Law Journal 34 (2019), S. 190. Antje von Ungern-Sternberg
D. Individualrechte zur Einhegung algorithmenbasierter Benachteiligungen
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führend.250 Ferner werden der datenschutzrechtliche und der staatsgerichtete Auskunftsanspruch in der Tat durch gegenläufige Güter wie das Geschäftsgeheimnis und Interessen wie die Vermeidung von Manipulationen beschränkt.251 Allerdings kann man diesen Belangen auch dadurch genügen, dass sensible Informationen unkenntlich gemacht oder nur (in camera) bestimmten Institutionen gegenüber offengelegt werden. Schließlich besitzt Art. 15 Abs. 1 lit. h DSGVO auf europäischer Ebene in der Tat einen beschränkten Anwendungsbereich allein („zumindest“, also ungeachtet nationaler Weiterungen) für automatisierte Entscheidungen im Sinne des Art. 22 DSGVO, die auf Profiling beruhen,252 wobei diese aber zunehmend an Bedeutung gewinnen dürften253. Insgesamt kann der Anspruch auf datenschutzrechtliche Auskunft und auf staatliche 97 Transparenz durchaus Indizien für eine Diskriminierung zutage fördern. Dies gilt zunächst mit Blick auf die Daten der von einer Entscheidung Betroffenen. Hier müssen die konkret verarbeiteten Daten, die Kategorien der verarbeiteten Daten und Verarbeitungszwecke offengelegt werden.254 Ferner erstreckt sich Art. 15 Abs. 1 lit. h DSGVO (nicht aber die JI-RL) bei der automatisierten Entscheidungsfindung auf „aussagekräftige Informationen über die involvierte Logik sowie die Tragweite und die angestrebten Auswirkungen einer derartigen Verarbeitung für die betroffene Person“, also auf die Funktionsweise des Algorithmus im Allgemeinen. Des Weiteren muss für die Betroffenen staatlichen Handelns neben allgemeinen Informationsfreiheitsrechten ein verwaltungs- oder verfassungsrechtlicher Auskunftsanspruch zur Funktionsweise algorithmischer Profilbildung und Entscheidungsfindung bestehen.255 Indizien für eine Benachteiligung liegen insbesondere vor, wenn das Profiling an ver- 98 pönte Kriterien oder Stellvertretermerkmale anknüpft, hohe Fehlermargen zulasten von geschützten Gruppen aufweist, auf einem Verfahren mit unrepräsentativen oder vorurteilsbehafteten Daten fußt oder naheliegende Wirkvariablen unberücksichtigt lässt. In250 Kumkar/Roth-Isigkeit (Fn. 249), S. 285; Selbst/Powles (Fn. 249), S. 236; Kamlah (Fn. 141), Art. 13
DSGVO Rn. 28.
251 Bei Art. 15 DSGVO folgt dies aus einer Auslegung (vgl. Erwägungsgrund 63 Satz 5 DSGVO) oder
Schrankenregelung (für Schrankenübertragung Paal, in: ders./Pauly (Hrsg.), DSGVO BDSG, 3. Aufl. 2021, Art. 15 Rn. 41; Specht, in: Sydow (Hrsg.), Europäische Datenschutzgrundverordnung, 2. Aufl. 2018, Art. 15 Rn. 2; vorzugswürdig Beschränkung nach Art. 23 Abs. 1 DSGVO, beispielsweise zur Wahrung finanzieller Interessen (lit. e, § 32a Abs. 1, § 88 Abs. 5 Satz 4 AO); hierzu Ehrke-Rabel (Fn. 4), S. 53 f.). Siehe schon oben Rn. 20 (C. II.); vgl. §§ 3–6 InformationsfreiheitsG; zum Staatsgeheimnis Barczak, Algorithmus als Arkanum, DÖV 2020, S. 997. 252 Art. 15 Abs. 1 lit. h DSGVO bezieht sich auf „Das Bestehen einer automatisierten Entscheidungsfindung einschließlich Profiling gemäß Artikel 22 Absätze 1 und 4 und – zumindest in diesen Fällen – aussagekräftige Informationen über die involvierte Logik sowie die Tragweite und die angestrebten Auswirkungen einer derartigen Verarbeitung für die betroffene Person“ [Hervorh. durch Verf.]. Das hier vertretene Verständnis wird auch durch die anderen Sprachfassungen nahegelegt; a. A. (sämtliche automatisierten Entscheidungen) Schmidt-Wudy, in: Wolff/Brink (Hrsg.), BeckOK Datenschutzrecht, Stand: Februar 2021, Art. 15 DSGVO Rn. 77; (kein vollständiges Beruhen notwendig) Bäcker, in: Kühling/Buchner (Hrsg.), DSGVO, 3. Aufl. 2020, Art. 13 Rn. 52. 253 Dies gilt vor allem für die Lesart, die auch Vorschlagssysteme umfasst, siehe oben Rn. 46 (D. I. 1. c) aa)). 254 Art. 15 Abs. 1 lit. a und b DSGVO; Art. 14 Abs. 1 lit. a und b JI-RL. 255 Siehe oben Fn. 248. Antje von Ungern-Sternberg
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wieweit sich der datenschutzrechtliche Auskunftsanspruch auf alle diese Punkte erstreckt, ist umstritten. Offenzulegen sind jedenfalls das Ziel und die relevanten Wirkvariablen des Profiling.256 Teilweise wird auch verlangt, dass der Verantwortliche die relevanten Wirkvariablen nach der Reihenfolge ihrer Gewichtung aufführt oder Vergleichsgruppen (z. B. mit hoher und niedriger Bonität) benennt,257 den Algorithmus selbst oder seine Grundzüge mitteilt258 oder die konkrete Einzelentscheidung begründet259. Selbst bei einer defensiven Lesart des Auskunftsanspruchs besteht dessen Zweck jedenfalls darin, dass die Betroffenen ihre Rechte – namentlich auf Berichtigung fehlerhafter, der Profilanwendung zugrundeliegender Daten – geltend machen können, was voraussetzt, dass sie die für die Profilanwendung relevantesten Wirkvariablen mitgeteilt bekommen und nicht mit Informationen zu einer Fülle potentiell relevanter Datenkategorien überschwemmt werden.260 Für diese Auslegung spricht im Übrigen auch die Zwecksetzung der DSGVO, Diskriminierungen entgegenzuwirken.261 Der öffentlich-rechtliche Transparenzanspruch dürfte noch weitergehen, da Grundrechte und Rechtsstaatsprinzip für staatliches Handeln eine umfängliche Begründungspflicht auferlegen, und sich daher grundsätzlich nicht nur auf das statistische Modell mit den relevanten Wirkungsvariablen, sondern auch auf die genutzten Datensätze und die Fehlermargen erstrecken.262 2. Erleichterung der Darlegungs- und Beweislast? 99 Wo Transparenzansprüche nicht bestehen oder – aufgrund offener algorithmischer Lern-
verfahren – nicht erfüllt werden können, ist es dringend geboten, über eine Erleichterung der Darlegungs- und Beweislast für Betroffene nachzudenken. Denn sonst können die be-
256 Article 29 Data Protection Working Party (Fn. 104), S. 27; Kumkar/Roth-Isigkeit (Fn. 249), S. 286; Paal/Hennemann, in: Paal/Pauly (Hrsg.), DS-GVO BDSG, 3. Aufl. 2021, Art. 13 Rn. 31 c („Faktoren bzw. Parameter“); auf Grundlage des § 34 Abs. 2 BDSG a. F. auch BGH, NJW 2014, S. 1235 (1236 ff.). 257 Für Offenlegung der Gewichtung Article 29 Data Protection Working Party (Fn. 104), S. 27; abgelehnt für § 34 Abs. 2 BDSG a. F. durch BGH, NJW 2014, S. 1235 (1236 f.); die Literatur bleibt hierzu häufig vage. 258 Für Offenlegung Bäcker (Fn. 252), Art. 13 DSGVO Rn. 54 f.; Schmidt-Wudy, in: Wolff/Brink (Hrsg.), BeckOK Datenschutzrecht, Stand: Februar 2021, Art. 15 DSGVO Rn. 78.3 f.; jeweils auch mit Vorschlägen zum Schutz des Geschäftsgeheimnisses durch Verrauschen, Schwärzen oder Vertraulichkeitsregelungen; für Grundzüge etwa z. B. Paal/Hennemann (Fn. 256), Art. 13 Rn. 31 c („Grundstruktur des dem Algorithmus inhärenten Entscheidungsprozesses“). 259 Ablehnend Wachter/Mittelstadt/Floridi (Fn. 249), S. 79 ff. (hierzu kritisch Selbst/Powles (Fn. 249), S. 239 ff.); Wischmeyer (Fn. 248), S. 51; befürwortend Article 29 Data Protection Working Party (Fn. 104), S. 25 („sufficiently comprehensive for the data subject to understand the reasons for the decision“); Dix, in: Simitis/Hornung/Spiecker (Hrsg.), Datenschutzrecht, 2019, Art. 15 Rn. 25. Ferner wird über die gesetzgeberische Einführung bestimmter Erklärungsformen nachgedacht, etwa durch ein hypothetisches Datum, das zu einer anderen Entscheidung geführt hätte, Wachter/Mittelstadt/Russell, Counterfactual Explanations without Opening the Black Box: Automated Decisions and the GDPR, Harvard Journal of Law & Technology 31 (2018), S. 841. 260 Kaminiski (Fn. 249), S. 211 ff. 261 Siehe oben Rn. 38 ff. (D. I. 1.). 262 Allgemein zur staatlichen Transparenz Wischmeyer (Fn. 248), S. 54 ff.; umfänglich Zarsky, Transparent Predictions, University of Illinois Law Review 2013, S. 1503, der hierbei Datensammlung, -analyse und -nutzung unterscheidet.
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E. Fazit und Ausblick
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stehenden Benachteiligungsverbote nicht effektiv eingefordert werden.263 In Ermangelung einer gesetzgeberischen Regelung lässt sich hierfür an Beweis- und Darlegungserleichterungen anknüpfen, welche die Rechtsprechung aus Antidiskriminierungs-, Prozess- oder Verfassungsrecht herleitet.264 Eine solche Erleichterung würde bei mangelndem Einblick der Betroffenen in die Funktionsweise algorithmischer Entscheidungsfindung und hinreichenden Anhaltspunkten für eine Diskriminierungsgefahr dazu führen, dass der Anwender relevante Informationen offenzulegen oder den Diskriminierungsverdacht auf andere Weise zu entkräften hat. Dies kann etwa durch ein Testverfahren geschehen, das auf den Output des Algorithmus abstellt.265 Auch eine solche Darlegungs- und Beweislast ist dem Staat wegen seiner Bindung an Grundrechte und Rechtstaatlichkeit umfänglicher zuzumuten als Privaten.
E. Fazit und Ausblick Algorithmenbasierte Benachteiligungen werden nicht nur durch das Antidiskriminie- 100 rungsrecht, sondern auch den Datenschutz eingehegt. Letzterer beschränkt die Verarbeitung sensibler Daten oder entsprechender Stellvertretermerkmale, erschwert automatisierte Entscheidungen und gewährt Auskunftsansprüche. Zugleich kann die Verarbeitung auch sensibler Daten aber gerade geboten sein, um Diskriminierungen nachzuweisen266 oder um eine granulare Profilbildung zu ermöglichen. Die individualrechtliche Einhegung algorithmenbasierter Benachteiligungen stößt aber 101 an Grenzen. Privatrechtliche Benachteiligungsgebote bestehen nur bereichsspezifisch, so dass man über Ausweitungen nachdenken kann.267 Unklarheiten zur Reichweite des Verbots mittelbarer Diskriminierungen und zu methodischen Standards beim Profiling wür-
263 So auch Martini (Fn. 9), S. 247 f.; Allen/Masters, Artificial Intelligence: the right to protection from dis-
crimination caused by algorithms, machine learning and automated decision-making, ERA Forum 2020, S. 585 (597); Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Stand: August 2021, Art. 3 Rn. 218c. 264 Hierzu unlängst Grünberger, Reformbedarf im AGG: Beweislastverteilung beim Einsatz von KI, ZRP 2021, 232; siehe allgemein etwa EuGH, Urt. v. 17.10.1989, Rs. 109/88, Danfoss, Rn. 20 ff., zu intransparenten Entlohnungskriterien; ferner EuGH, Urt. v. 19.4.2012, Rs. C-415/10, Meister, Rn. 47, zu intransparenten Einstellungskriterien; hierzu auch Stein, Die Beweislast in Diskriminierungsprozessen – ein unbekanntes Wesen?, NZA 2016, S. 849; zur aus § 138 Abs. 2 und 3 ZPO entwickelten „sekundären Darlegungslast“ BGH, NJW 2005, S. 2614 (2615 f.): konkret zur Arzthaftung; zur Verankerung der Darlegungslast in den Grundrechten BVerfG, EuGRZ 2013, S. 563 (570) – NATO-Luftangriff: konkret zur Darlegungslast bei militärischen Entscheidungen im Rahmen von NATO-Operationen, wenn die eigentlich belastete Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufes steht und keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen besitzt, während der Prozessgegner diese hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind. 265 Zu entsprechenden Tests Martini (Fn. 9), S. 44 f.; ferner Kroll/Huey/Barocas/Felten/Reidenberg/Robinson/ Yu, Accountable Algorithms, University of Pennsylvania Law Review 165 (2017), S. 633. 266 Cofone (Fn. 50), S. 1424 ff.; Tischbirek, Artificial Intelligence and Discrimination, in: Wischmeyer/ Rademacher (Hrsg.), Regulating Artificial Intelligence, 2020, S. 104 (116 f.). 267 Martini (Fn. 9), S. 236 ff.; Borgesius, Strengthening legal protection against discrimination by algorithms and artificial intelligence, International Journal of Human Rights 24 (2020), S. 1. Antje von Ungern-Sternberg
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§ 28 Diskriminierungsschutz bei algorithmenbasierten Entscheidungen
den von gesetzgeberischen Vorgaben profitieren.268 Sofern sich Benachteiligungsverbote nicht nachweisen lassen, sind weitergehende Transparenzgebote oder Erleichterungen der Darlegungs- und Beweislast notwendig. Darüber hinaus könnte eine Pflicht zur umfassenden Dokumentation die Nachvollziehbarkeit algorithmenbasierter Entscheidungen gewährleisten, ginge zugleich aber mit Aufwand und Kosten einher.269 Schließlich fehlen Anreize zur Geltendmachung von Individualrechten, wenn Benachteiligungen wenig greifbar erscheinen oder ein Vorgehen gegen diskriminierende Maßnahmen keinen Nutzen in Form von Schadensersatz verspricht. Folgerichtig könnten institutionelle Ansätze von der Verbandsklage bis hin zur behördlichen Algorithmenaufsicht Abhilfe schaffen.270 Während eine generelle Pflicht zur Algorithmenzulassung unverhältnismäßig erscheint, könnten Verbände und Behörden Diskriminierungen aber entgegenwirken, indem sie repräsentative Datensätze zur Verfügung stellen, Profiling-Methoden zertifizieren und Diskriminierungs-Audits entwickeln.271 Auch hier könnte man bereits jetzt Institutionen des Datenschutzes – von der Pflicht zur Folgenabschätzung bis hin zu den umfänglichen Befugnissen der Aufsichtsbehörden – zur Bekämpfung von Diskriminierungen nutzen.272
268 Vgl. Martini (Fn. 9), S. 239 ff., 256 ff.; Wachter/Mittelstadt/Russell (Fn. 64); Wachter/Mittelstadt
(Fn. 104).
269 Für eine Dokumentationspflicht etwa Datenethikkommission (Fn. 25), S. 190 (allgemein zur Trans-
parenz S. 185 ff.); Martini (Fn. 9), S. 265. Vorschläge zu Transparenzpflichten bei Broemel/Trute (Fn. 104), S. 61 f.; Edwards/Veale (Fn. 249), S. 55 ff.; Wachter/Mittelstadt/Russell (Fn. 259). 270 Siehe etwa Tutt, An FDA for Algorithms, Administrative Law Review 69 (2017), S. 83; Datenethikkommission (Fn. 25), S. 185 ff.; Spiecker gen. Döhmann, Staatliche oder private Algorithmenregulierung?, 63. Bitburger Gespräche, 2020, S. 39. 271 Zu ersterem Blass, Algorithmic Advertising Discrimination, Northwestern University Law Review 114 (2019), S. 415 (461 ff.); ferner Wischmeyer (Fn. 248), S. 61 ff.; Martini (Fn. 9), S. 207 ff., 239 ff., 320 ff. 272 Edwards/Veale (Fn. 249), S. 67 ff. (auch zum Löschungsanspruch, Privacy by Design, Zertifizierungsmöglichkeiten); Casey/Farhangi/Vogl, Rethinking Explainable Machines, Berkeley Technology Law Journal 34 (2019), S. 143 (129 ff.). Antje von Ungern-Sternberg
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren RiBVerfG Prof. Dr. Susanne Baer, LL.M. (Michigan) Humboldt-Universität zu Berlin Richterin des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Cengiz Barskanmaz, LL.M. (HU Berlin) Hochschule Fulda Prof. Dr. Theresia Degener, LL.M. (Berkeley) Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum Prof. Dr. Klaus Ferdinand Gärditz Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn Dr. Julia Geneuss, LL.M. (NYU) Universität Hamburg/Universität Potsdam Prof. Dr. Michael Grünberger, LL.M. (NYU) Universität Bayreuth Prof. Dr. Elisabeth Holzleithner Universität Wien Prof. Dr. Mathias Hong Hochschule Kehl Prof. Dr. Constanze Janda Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Julian Krüper Ruhr-Universität Bochum Andreas Leidinger, LL.M. (NYU) Freie Universität Berlin Prof. Dr. Stefan Magen, M. A. Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Anna Katharina Mangold, LL.M. (Cambridge) Europa-Universität Flensburg Prof. Dr. Nora Markard, MA (King’s College London) Westfälische Wilhelms-Universität Münster
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Olaf Muthorst Freie Universität Berlin Prof. Dr. Mehrdad Payandeh, LL.M. (Yale) Bucerius Law School Hamburg Prof. Dr. Philipp Reimer Universität Konstanz André Reinelt Universität Bayreuth Prof. Dr. Florian Rödl, M. A. Freie Universität Berlin Dr. Torsten von Roetteken Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Frankfurt am Main a. D. Prof. Dr. Cara Röhner Hochschule RheinMain, Wiesbaden Prof. Dr. Dr. h.c. Ute Sacksofsky, M. P. A. (Harvard) Goethe-Universität Frankfurt Vizepräsidentin des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen Dr. Anja Schmidt Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Prof. Dr. Margarete Schuler-Harms Helmut Schmidt Universität der Bundeswehr Hamburg Stellvertretendes Mitglied des Hamburgischen Verfassungsgerichts Prof. Dr. Felipe Temming, LL.M. (LSE) Leibniz Universität Hannover Prof. Dr. Alexander Tischbirek Universität Regensburg Prof. Dr. Emanuel V. Towfigh EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Wiesbaden Kathrin Tremml Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Antje von Ungern-Sternberg Universität Trier Prof. Dr. Christian Walter Ludwig-Maximilians-Universität München
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Maria Wersig Hochschule Hannover Prof. Dr. Julia Zinsmeister Technische Hochschule Köln
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Sachregister Fette Ziffern beziehen sich auf Paragrafen, mager gesetzte auf Randnummern. Abelism/Ableismus 9 4; 15 65 - abelistische Diskriminierung, s. Diskriminierung, abelistische Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf 11 35 Abwägung 2 5; 4 62, 64, s. a. Güterabwägung abwägungsfeste Rechte 2 5, 25, 32, 46 f., 54, 146 f., 166 Abwehrmöglichkeiten 4 56 Abwehrrechte, s. a. Freiheitsrechte – abwehrrechtliches Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung 2 143 ff. Accessibility, s. Barrierefreiheit Achbita-Entscheidung 13 75, 81 Affirmative action 1 18, 30, 123 ff.; 13 22 f.; 14 48 ff., 67 ff.; 15 29; 16 2, 14, 26; 17 5, 117 – EU-Recht 14 50 – geschlechtsneutrale 14 67 f. – Parität 14 69 f. – Verfassungsrecht 14 51, 68 ff., 99 – völkerrechtliche Verträge 14 50 AGG-Hopping 18 112 Ähnlichkeit 17 13 Akkommodierung von Differenz 15 27 Aktionsplan 9 90 Algorithmus 28 3; s. a. Predictive Analytics – Algorithmenaufsicht 28 101 – algorithmusbasierte Entscheidung 28 7 ff., 55 – Ausblick 28 100 ff. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1 1, 28; 6 15; 7 39; 9 54 – verfassungsgeschichtliche Entwicklung 5 78 Allgemeine Geschäftsbedingungen 4 31, 46 Allgemeine Handlungsfreiheit 4 32, 34 Allgemeiner Gleichheitssatz 14 9, 14, 47; 16 21 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) 1 11, 25, 57 ff.; 4 1, 14, 35; 6 32; 7 47; 8 5; 9 53, 73; 10 7, 39 ff., 85 ff.; 11 7, 10; 12 43; 15 33, 60, 62, 64; 16 36; 18 3; 21 47; 23 1 ff., 20 ff., 28 ff., 32 ff., 37 ff., 65, 94 ff., 102 ff., 113 ff.; 24 69; 26 17
– Anwendungsbereich 1 58 f.; 11 44; 25 13 f. – Anwendungsbereich im sozialrechtlichen Leistungsdreieck 25 19 – Beweislastumkehr 14 39; 24 72; s. a. Nachweis von Diskriminierung – Kategorien, s. Diskriminierungskategorien – Kausalität 14 44 – Kritik 1 72 – persönlicher Anwendungsbereich 23 49 ff. – positive Maßnahmen, s. positive Maßnahmen – Probleme 5 49, 72 – Rechtfertigung von Benachteiligungen 14 95 ff., 138; 17 5, 10, 22 f., 33, 62, 67, 76, 83, 91, 104, 107, 117, 120 f., 137 – sachlicher Geltungsbereich 23 28 f. – Schwangerschaft, s. Schwangerschaft – Terminologie 14 5, 12 ff. – Vergleichbarkeit 14 45 f. Allgemeines Persönlichkeitsrecht 4 10 Alltäglichkeit 4 58 Alter 16 27; 23 10, 14, 20, 23, 26, 99, 121 – als Surrogatmerkmal 17 96 – Altersdiskriminierung 23 121 – Altersrente 23 123 – Altersgrenzen 10 42 f., 77 ff., 82 ff.; 23 77, 121 – Altersversorgung 23 12, 35, 73 Americans with Disabilites Act 15 5, 7, 8 Andorra-Effekt 18 26 Angehörige 21 1, 11, 41, 53, 78, 86 angemessene Vorkehrungen 1 118 ff.; 15 1 ff.; 9 52, 62, 99 ff., 131; 16 25, 48 – Dominierungsverbot 14 34 – Grenzen 15 36, 52 – Völkerrecht 1 118 Angemessenheit 23 106 Angleichung der Lebensverhältnisse 4 51 Anknüpfungsmerkmale, s. Diskriminierungskategorien Anknüpfungsverbot 5 2; 14 22 ff., 35 ff. „Anpassung nach oben“ 10 35 ff.; 20 27–34 Anpassungsmaßnahmen 15 6, 36 Antidiskriminierungsgesetzgebung 4 55
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Sachregister
Antidiskriminierungsrecht 21 48 – Akteure 1 67 ff. – Ausgrenzung 5 10 – Dilemma der Differenz 2 150 – dogmatische Figuren 1 98 ff.; 5 76 ff.; 14 1 ff. – Durchsetzungsprobleme 5 4 – Ebenen (Gerechtigkeitstheorie, Völkerrecht, Europarecht, nationales Recht) 2 3 ff. – historischer Hintergrund 1 17 ff.; 2 36 ff. (NSZeit), 55 ff.; 5 7 ff.; 14 28 ff., 45, 102 f.; – Interdisziplinarität 1 65 f. – Intersektionalität, s. Intersektionalität – Intradisziplinarität 1 63 f.; 2 3, 9 – Kontingenz 5 1 ff. – Mehrebenensystem 1 62; 2 3 ff.; 5 16; 8 5 ff.; 14 10, 13, 45, 50 f., 79 f., 95 ff., 102 f. – Politisierung 1 72 ff.; 5 65 – postkategoriales, s. Postkategoriales Antidiskriminierungsrecht – Rechtsgebiet 1 13 ff.; 5 28; 14 4 ff. – verhaltenswissenschaftliche Aspekte 3 84 ff. Antidiskriminierungsstelle 15 64; 26 2 – des Bundes 1 68; 14 63; 21 1 Antirassismus-Richtlinie 1 43; 7 7, 47 ff.; 13 53; 14 127; 16 31, 44; 23 2 f., 7, 11, 15 f., 19 f., 27 f., 31, 40, 52, 56, 75, 86, 96, 106 f., 113, 138, 142, 159 antisemitisches NS-Sonderrecht 2 36 ff. Antisemitismus 21 3, 11, 40, 61, 64, 68, 77, 84, 91 Anzeigeverhalten 27 5, 14, 52 Apartheids-Rassimus, s. Rassismus, Apartheid Arbeitgeber*innen 23 22, 104 f., 108 f., 116 f., 125, 128, 131 ff., 138, 145, 151 f., 155, 157, 160 – Pflichten der Arbeitgeber*innen 23 131 ff. – Arbeitgeberorganisation 23 8, 31, 42 Arbeitnehmer*innen 23 3, 8, 44, 53, 61 f., 66 f., 78 ff. – arbeitnehmerähnliche Personen 23 66 – Arbeitnehmerorganisation 23 8, 31, 42 – Arbeitnehmerüberlassungsgesetz 23 81 – Freizügigkeit, s. Freizügigkeit, Arbeitnehmer Arbeitsbedingungen 23 3 f., 34 f. – Arbeitszeit 23 33, 35 – Arbeitsplatz 23 55, 68, 71, 127, 129 f., 132 Arbeitsmarkt 16 29 f., 55 f. Arbeitsmigration 24 39 Arbeitsplatz 16 62 Arbeitsrecht 4 31, 40; 15 12, 46, 49 ff., 60; 16 18; 23 41, 49, 66, 78, 112; 24 78 Arbeitsteilung 4 36 Arbeitsverhältnis 4 13, 20; 28 55 Arbeitsvertrag 23 33, 37 Armut 11 1 ff., 13 ff., 16 ff. – Armutsmigration 11 49 ff.
Assimilations-Rassismus, s. Rassismus, Assimilation Assistenz für Menschen mit Behinderungen 9 47, 85, 92 f., 111, 117, 128 – Elternassistenz 9 117 – persönliche Assistenz 9 47, 112 – unterstützte Entscheidungsfindung 9 84 f., 92 f. Assistenzsystem 28 9 Asylbewerberleistungsgesetz 24 58 ff. Asylsuchende 24 34 Asymmetrie 4 31 asymmetrischer Diskriminierungsschutz 22 31 ff. Aufsichtsräte 16 37, 69 Ausbildung, s. Bildung Ausgestaltung 4 13 Aushandeln 4 13 Auskunftsanspruch 19 79 ff.; 20 69; 28 95 Ausstrahlungswirkung 4 21, 24, 59 Authentizität 17 62 automatisierte Einzelfallentscheidung 28 45 ff. autonomes System 28 9 Autonomie, s. Selbstbestimmung – Romantik 4 30 – Verständnis 9 84 ff. Autoritarismus 3 36 ff. – Diskriminierungstendenzen 3 44 ff. – Faschismus-Skala 3 36, – rechter Autoritarismus 3 37, 39 – soziale Dominanzorientierung 3 37, 40 – Zwei-Prozess-Modell 3 41 ff. Backlash 20 23 Barriere 9 25 ff. – einstellungsbedingte 9 27 ff. – Freiheit, s. Barrierefreiheit – Stereotype 9 36 ff. – Stigmatisierung 9 26 ff. – umweltbedingte 9 30 ff. – Vorurteile 9 27 ff. Barrierefreiheit 9 47, 59, 99 ff.; 15 14, 19 ff., 28 ff., 38 ff., 43, 47, 55, 61, 64 – Barrierefreiheitsstärkungsgesetz 9 103; 15 23 – Barrieren 15 6, 19 ff., 29, 42 ff. Basisratenfehler 18 121 Bayesianische Statistik 18 66 f., 120 – A-priori-Wahrscheinlichkeiten 18 66 f., 120 – Bayes-Theorem 18 120 Beamt*innen 23 26, 37, 47, 49, 51, 64, 74, 82, 110, 154 – Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) 23 26, 112, 137 – Beamtenverhältnis 23 64 f., 121 – Beamtenversorgung 23 12, 35
Sachregister
Beeinträchtigung 9 20 ff.; 15 27; 21 11, 20, 67, 70, 88 – Diagnostik 9 22 – Krankheit 9 20 ff. – Soziale Beeinträchtigung 9 24 Befristung 23 33, 37 Begriff des Politischen 12 58 ff. Begünstigungsaufhebungsverbot 20 30, 32 Behauptungslast, s. Beweislast Behindertengerechter Arbeitsplatz 15 33 Behindertengleichstellungsgesetz 15 19, 33, 57, 63 Behindertenrechtskonvention, s. UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung Behindertensozialrecht 15 32 Behindertenstatistik 9 8 ff. Behinderung 9 1; 15 27 f.; 16 28; 23 9, 14, 20 ff., 53, 87, 159 – biopsychosoziales Modell 9 2 – geistige 9 6 20 ff., 91, 115 – Konstruiertheit 9 4 ff., 15 ff. – körperliche 9 6 20 ff. – medizinisches Modell 9 2, 15 f. – menschenrechtliches Modell 9 3 – Rechtfertigungstopoi 17 68 – Schwerbehinderung 9 9, 11; 15 17, 33, 50, 60, 62; 23 21 ff., 50, 123, 155, 159 – seelische 9 7, 20 ff. – soziales Modell 9 2 – Triage-Beschluss des BVerfG 2 155, 161 – Wechselwirkung 9 217 – zugeschriebene 15 50 – zukünftige 15 39, 50 Beibringungsgrundsatz, s. Beweis, Beibringungsgrundsatz Belästigung 1 111 ff.; 2 160; 21 48, 66 f.; 23 25, 85, 104, 109, 131 f., 135 – Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 1 11 ff. – Belästigung und Stereotype 25 31, 41 – Beleidigung 21 3, 58, 67 f., 70 f., 74 – sexuelle Belästigung 1 18; 5 65; 6 59 ff.; 13 57; 14 74 – Völkerrecht 1 37 Benachteiligung 23 2, 20, 22 ff., 28, 30, 40, 50, 52 f., 55, 58 ff., 75, 84, 87, 93 f., 106, 108 f., 119, 126, 130 ff., 135, 137 ff., 151 f.; 24 71; 28 23; s. a. Diskriminierung – Algorithmusbasierte Entscheidung/Benachteiligung 28 7 ff., 55 – Benachteiligungsgründe 28 11 ff. – Benachteiligungsverbot 28 37, 54 ff., 62 – direkte Benachteiligung, s. unmittelbare Diskriminierung
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– erweitertes Verständnis 28 23 – indirekte Benachteiligung 28 90; s. a. mittelbare Diskriminierung – mittelbare Benachteiligung, s. mittelbare Diskriminierung – Nachweisbarkeit 28 20, 93 ff. – neue verpönte Merkmale 28 30 ff., 98 – Rechtfertigung 28 65 ff., 92, 94 – unmittelbare Benachteiligung, s. unmittelbare Diskriminierung Benachteiligungsverbot, s. Diskriminierungsverbot berufliche Anforderungen 23 113 f., 116, 119 – als Rechtfertigung 17 120 f. berufliche Bildung, s. Bildung Berufsberatung 23 7, 39 Berufserfahrung 10 41 Berufsfreiheit 4 32, 34, 62 f.; 10 3, 30, 74 Berufsgruppen 23 8, 13, 42, 47 Berufsrichter*innen 23 26, 47, 49, 74, 82, 110 Beschäftigte 23 50 ff., 68, 73, 75, 81, 83 ff., 97, 105 f., 121, 123, 131, 133 f., 138, 140, 155, 157 f.; s. a. Beschäftigung und Arbeitnehmer*innen – Beschäftigteneigenschaft 23 53, 68 – Beschäftigtengruppe 23 122 – Rechte der Beschäftigten 23 133 ff. Beschäftigung 23 3 ff., 10, 33 ff., 43, 48, 53, 55 f., 68, 70, 81 f., 113, 144 – Beschäftigungsbedingungen 23 34 f., 38 – Beschäftigungsfragen 23 3, 43 – Beschäftigungskontext 23 1, 2, 108 – Beschäftigungsverhältnis 23 10, 33, 37, 53, 56 f., 68, 73, 121 – Beschäftigungsvertrag, s. Arbeitsvertrag Beschwerderecht 20 57 Beseitigungsanspruch 20 13–14, 25–26, 29, 33, 35, 39, 64 Bestimmtheit – Diskriminierungsverbote 26 31 ff. Bestimmtheitsgebot 4 37 Betreuungsrecht 9 40, 92 f., 94 ff. Betriebliches Eingliederungsmanagement 9 52 Betriebszugehörigkeit, s. Senioritätsklausel Beweis 19 1 ff., s. a. Nachweis von Diskriminierungen – Beibringungsgrundsatz 4 55 – Beweiserleichterung 20 17, 40, 60, 66–67 – Beweisführungslast, s. Beweislast – Beweislast 4 55; 15 42, 44; 19 14 ff., 26 ff., 74 ff.; s. a. Beweis, Beweiserleichterung und Beweis, Beweislastumkehr – Beweislastumkehr 20 17, 40, 69; 24 72 – Beweismaß 19 7 ff., 21, 26 ff., 64 ff. – Beweismittel 19 7, 20
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Sachregister
– Beweiswürdigung 19 7 ff., 49 ff. – Darlegungslast, s. Beweislast – des Gegenteils 19 13, 74 – Gegenbeweis 19 13, 72 f., 75 Bewerbung – anonyme 16 12 Bewusstseinsbildung, s. Bildung Bezugssystem 20 31 bias crimes, s. Vorurteilkriminalität Biases 27 9, 58 ff., 72 Big Data 18 23, 50 f., 68, 95 Bildung 15 2, 7, 12 f., 28, 31, 37, 40, 47, 48, 51, 58, 60; 16 12, 25, 55 f., 62 – Benachteiligung 11 16, 59 ff. – Berufsausbildung 23 3, 7, 39, 63 – (Hoch-)Schulbildung 9 123 ff. – inklusive Bildung 9 120 ff.; 15 13, 40 – Pflicht zur Förderung der Bewusstseinsbildung 9 29 – Weiterbildung 23 7, 39, 47 Bindung Privater 4 57 ff. biologische Unterschiede 17 67, 116 Black Women’s Studies 13 8 Black-Box-Phänomen 28 20 BlackLivesMatter 7 14 Blindenführhund-Entscheidung 14 56, 63 ff. Blinkfüer-Entscheidung 4 43 Bonitätsauskunft 28 5, 52 Bougnaoui-Entscheidung 13 77, 79 Bundesagentur für Arbeit 23 40; 25 35 Bundesarbeitsgericht 4 40 Bundesbehindertengleichstellungsgesetz 9 30, 51, 99 ff., 104, 107 Bundestag 21 16, 61, 64, 68 Bundesteilhabegesetz 9 112 Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 8 17 f., 24 ff., 28 ff., 47 ff.; 15 58 f., 61; 21 23, 26, 36, 72, 78 Carearbeit 16 12, 56 CEDAW, s. UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau Chancengleichheit 15 6; 16 15, 51 f., 58; 23 18; 24 83 CHEZ-Entscheidung 7 50 chinesisches Sozialkreditsystem 28 32 christliche und abendländische Bildungs- und Kulturwerte 8 18 Civil Rights Act 1 21; 2 3; 6 1; 13 12, 15; 15 5 Codes of Practice 15 15, 24 corrective action 16 2, 39, 50 critical race feminism 13 2 critical race studies 5 42 critical race theory 1 65; 13 2, 74
cyber harassment 21 3, 64 f., 69 ff., 94 cyber mobbing 21 67 ff., 73 Dachverbände, muslimische 8 64 f. Darlegungslast, s. Beweislast Daten 28 38 ff. – Ausgangsdaten 28 41 – Datenschutz 28 38 ff., 53, 81, 97, 100 – Datenverarbeitung 28 39 – Inferenzdaten 28 41 – Inhaltsdaten 28 43 – Quelldaten 28 43 – sensible Daten 28 42 ff. Datenerhebung 18 44 ff. – Experimentaldaten 18 45 f. – Felddaten 18 47 ff. DDR, s. Deutsche Demokratische Republik de facto Ungleichbehandlung 15 28 DeGraffenreid-Entscheidung 13 13 ff., 18, 20, 24 ff., 43, 65 f., 70 Delikt, Diskriminierung als 22 1 ff., 8 ff., s. a. Deliktsrecht – absolutes Recht 22 8 ff. – bloße Rechtsverletzung 22 88 f. – Fahrlässigkeitshaftung, s. Fahrlässigkeit – Gefährdungshaftung 22 48 – Verantwortlichkeit 22 46 ff. – Verletzungshandlung 22 35 ff. – Vorsatzhaftung 22 51 ff. Deliktsrecht 4 60 Demokratie 2 167 ff.; 4 27 – als Grundwert des Antidiskriminierungsrechts 2 1 ff., 167 ff. – Grundrecht auf Demokratie (und Menschenrechtskern dieses Grundrechts) 2 77 ff., 83 ff. – demokratische Grenzen der Mehrheitsherrschaft 2 168 ff. – Prinzip 16 71 ff. – Verbindung zu Würde, Freiheit und Gleichheit 2 1 ff., 12 ff., 187 Derogation 17 31 Deskriptive Statistik 18 52 ff. – Mittelwerte 18 56 ff. – Streuungsmaße 18 60 ff. Deutsche Demokratische Republik 9 39, 42 Deutsches Institut für Menschenrechte 1 68; 26 10 Deutsches Recht 23 1 – Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) 23 81 – Berufsbildungsgesetz (BBiG) 23 41 – Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) 23 133, 156 f.
Sachregister
– Bundesbesoldungsgesetz (BbesG) 23 99 – Bundespersonalvertretungsgesetz (BPersVG) 23 156 f. – Bundesurlaubsgesetz (BurlG) 23 66 – Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) 23 44, 62, 66, 84, 88, 94, 96, 102, 104, 136 f., 140, 153 – Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) 23 26, 110, 112, 137 – Deutsches Richtergesetz (DRiG) 23 26, 112 – Entgeldtransparenzgesetz (EntgTranspG) 23 1, 27, 124 – Gesetz zur Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr (SGleiG) 23 25 – Heimarbeitsgesetz (HAG) 23 67 – Kündigungsschutzgesetz (KSchG) 23 38, 88 – Sprecherausschußgesetz (SprAuG) 23 156 f. – Tarifvertragsgesetz (TVG) 23 66 Dienstleistung 4 75; 15 7, 14, 20, 22–23, 38, 48, 51, 64 Dienstrecht, s. Recht des öffentlichen Dienstes Differenzierungserlaubnisse 17 20 ff., 32 ff. Differenzierungskriterien 17 44 ff. Differenzierungspflichten 17 27 Differenzierungsverbot 15 27 Differenzlogik der Gleichheitssätze 17 38 ff. digitale Gewalt, s. Gewalt, digitale Dilemma der Differenz 5 57 ff., 72; 15 34; 18 15 ff. – diskriminierende Variable 18 15 – Diversität innerhalb einer Gruppe 18 18 – Diversität zwischen den Gruppen 18 18 – Operationalisierung 18 16 f. – Stigmatisierung 18 17 Disability Discrimination Act 15 14 Disability Mainstreaming 9 33 Disability Studies 9 2, 4, 17, 26, 48 Diskriminierendes Unrecht 15 32 Diskriminierung 15 6, 28, 33, 57 ff.; 28 9, 100 – abelistische 15 6 – Absicht 14 41 ff., 54 ff. – Anweisung 1 114 f. – Arbeitsrecht 24 78 – Assoziation 1 116 f.; 9 94 – Ausschreibung von Arbeitsplätzen 23 127 – Begriff 1 2 ff., 44; 14 12 ff. – Benachteiligungsverbote im Sozialrecht 25 15 ff. – direkte 15 6, 27, 29, 59; 28 91 ff. – Diskriminierungsfolge aus Profiling 28 49 – durch Algorithmen 18 23 – durch soziale Normen 3 53 ff. – durch Verweigerung angemessener Vorkehrungen 9 62
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faktische 8 23 Genfer Flüchtlingskonvention 24 33, 37 indirekte 15 6; 28 91 ff. informationsbezogene 3, 58 f. intersektionelle 8 23; 20 4; 24 21, s. a. Intersektionalität – Kategorien, s. Diskriminierungskategorien – kognitive Ansätze zur Erklärung von, 3 23 ff. – Kombination präferenzbasierter und statistischer Diskriminierung 28 14 – mehrdimensionale 13 37 ff. – mehrfache 13 37 ff. – mittelbare, s. mittelbare Diskriminierung – motivationale Ansätze zur Erklärung von, 3, 32 ff. – positive 10 29, 38, 50 f., 64; 16 2 – präferenzbasierte 3, 58 ff.; 28 9 – proaktive 15 26 – Putativdiskriminierung 24 17 – rassische 7 2, 32 ff.; 22 41, 44 f., 65 – Rechtfertigung, s. Rechtfertigung von Diskriminierungen – rechtliche vs. sozialwissenschaftliche Diskriminierungsbegriffe 3 2 ff. – Rechtsfolgen 10 33 ff. – reverse discrimination 13 22 f. – sozialpsychologischer Begriff 3 8 ff. – Sozialrecht 24 45 ff., 68 – sozio-ökonomische, s. sozio-ökonomische Diskriminierung – Sprache 25 38 ff. – Statistik, s. Diskriminierung durch Statistik – strukturell 1 8; 2 55, 135 ff., 149 ff., 155; 5 81; 8 23; 14 27 ff., 111 ff., 130, 140 f.; 20 10, 18–20, 24; 21 17, 38, 48, 89 – Unbewusste 22 74, 81 ff. – und Sozialstrukturen 3 3 – und Spieltheorie 3 60 ff. – unmittelbare, s. unmittelbare Diskriminierung – Verbot, s. Diskriminierungsverbote – verdeckte, s. verdeckte Diskriminierung – Vergleichbarkeit 14 45 ff., 132 f. – wegen Behinderung 9 1 ff. – wegen der sexuellen Orientierung 5 11, 14, 35, 82 – Zivilrecht 24 69 ff. Diskriminierung durch Statistik 18 15, 20 ff.; 28 9, 71 – Recruiting Tool 18 24 – Schufa 18 21 – self-fulfilling prophecy 18 26 – stereotype threat 18 26 – taste-based-discrimination 18 22
– – – – –
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Sachregister
Diskriminierungskategorien 1 3, 33, 76 ff.; 14 9 ff.; 13 29 ff.; 15 16, 32, 49; 21 41; 23 2, 9, 27, 52 ff., 87; 24 11, 16 ff. – Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 1 58, s. a. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz – Alter, s. Alter – als Rechtfertigungsgründe 17 80 ff. – Begriff 14 9 ff. – Entwicklung 5 30 ff. – Ethnische Herkunft 24 17 ff. – Geschlecht, s. Geschlecht – Interaktionen 13 33 ff. – Intersektionalität, s. Intersektionalität – Kategorisierungsproblem 5 39 ff. – Kollisionen 13 48 f., 62 – Kombination 14 81 ff. – Konstruiertheit 1 81 ff.; 7 57; 13 30; 14 11; 21 18 – Kontingenz 1 77 ff.; 5 13 ff. – Landesantidiskriminierungsgesetz Berlin 11 10, 44, 67 – Merkmale von 12 12 ff., 68 ff. – „neutrale“ Verwendung 14 66 ff. – Postkategorialität, s. Postkategoriales Antidiskriminierungsrecht – Rasse, s. Rasse – Rechtslage 5 16 ff. – Religion 24 20 f.;23 9, 20, 115, 119 – Schwangerschaft, s. Schwangerschaft – Sexuelle Orientierung, s. sexuelle Orientierung – soziale Herkunft 11 1 ff. – sozialer Status 11 1 ff. – Sprache 24 41, 75 – untrennbarer Zusammenhang 14 58 ff. – Verantwortungsübernahme 14 79 f. – verfassungsrechtlich 1 49 – Völkerrecht 5 13 – Weltanschauung 23 9 20 – Zuschreibung 14 78 Diskriminierungskriminalität 21 14, 21, 29, 31, 35, 38 f., 45, 47, 49 ff., 53 ff., 60 f., 63, 66, 85 f., 88 ff., 92 f. Diskriminierungsschutz 15 8, 32 f., 59, 65; 23 1 ff., 8 f., 18, 23, 28, 30 f., 34, 39, 41 ff., 48 f., 52 ff., 68 ff., 87, 92 ff., 106, 112, 121, 128 Diskriminierungsverbot 1 101 ff.; 14 5, 21 ff.; 15 58, 60 ff.; 21 37, 41; 23 11, 16, 22, 27, 31, 38, 40, 54 f., 86, 112, 117, 138, 152; 28 57, 61 – Adressaten 1 11 f., 54, 57 f. – affirmative action, s. affirmative action – akzessorisches 1 32; 12 22, 23 – Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 1 58; 8 5; 9 53, s. a. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
– Anknüpfungsverbot 1 50; 14 21 ff.; 21 37, 46; 26 38 ff., 42 ff., 54 ff. – Begründungsverbot 1 50; 14 43 f.; 26 38 ff., 42 ff. – Benachteiligungsverbot 23 28, 53 f., 57, 89, 102, 106, 119, 125, 138 ff. – Beweis des Verstoßes 19 1 ff. – Differenzierungsverbot 14 21 ff., 27 ff. – einfachgesetzlich 11 43 ff. – EMRK 1 32 ff.; 7 42; 8 2, 21 ff.; 9 54; 11 31; 21 41, 87 – im Sozialrecht 25 13 f. – Kategorien, s. Diskriminierungskategorien – Kausalität 1 50; 14 43 f., 132 f. – reaktive 2 46, 128, 178, 180; 15 29 – religiöse Arbeitgeber 8 38 ff. – Status von Religionsgemeinschaften 8 54 ff. – Tatbestände 5 2 – Unionsgrundrechte 1 41 f.; 7 48 ff.; 8 2, 5; 9 57 f.; 10 4 f.; 11 36 ff.; 12 24 – Unionsrechtlich e 4 65 ff. – Verbot der Diskriminierung wegen Behinderung 9 1 ff., 49, 62, 69 ff. – verfassungsrechtliches 1 23, 48 ff.; 7 56 ff.; 8 2, 5, 16; 9 67 ff.; 11 39 ff.; 12 26; 14 5, 10 f. 22 ff., 27 ff., 35 ff., 101 ff.; 21 56 – völkerrechtliches 1 23 ff.; 5 62; 7 32 ff.; 8 2, 5; 9 54 ff.; 11 28 ff.; 12 25; 14 50 distributive Gerechtigkeit 15 32, 35 Diversität 16 53 – Diversity Management 16 2, 56 Dominanzverhältnis 15 34 Dominierungsverbot 16 47 Drei-Elemente-Lehre 24 5 Dritte Option-Entscheidung 6 43, 71 Drittstaatsangehörige 24 51 Drittwirkung 21 24 – allgemeiner Gleichheitssatz 4 41 – der Grundrechte 2 12 ff., 41 ff., 157 ff. – der Gleichheitsgrundrechte 2 12 ff., 157 ff. – Unionsrecht 1 42; 8 30 f. – Verfassungsrecht 1 54; 12 46, 85 ff., effektive Rechtsdurchsetzung 20 22, 38, 40, 57, 60, 64 Effektivität 4 56 Effizienz- als Grund für Typisierung 17 91 Egenberger-Entscheidung 13 61 Ehe 17 28 – Grundrecht 4 34 – für alle 2 63 ff.; 6 9, 36, 46, 69; 20 19, 22 – Verträge 4 60 Eide’sche Formel 9 60
Sachregister
Eigenrationalität 20 3, 22 Eigenschaftendifferenz 17 40 ff. Eigentum 4 62 Eingliederung 15 13, 60 Einkunft 23 6 Einwilligung 28 39, 48 Elterngeld 23 10 Emanzipation 5 9, 12 Emission, s. Geräuschemissionen Emotion 4 15 Empowerment 16 11, 13, 47, 84 Entgelt 23 3 f., 12, 27, 35, 58 f., 122, 124, 135 – Entgelttransparenzgesetz 4 1; 16 24; 19 51, 80, 82 ff. – Gleichheit 19 30 f. Entindividualisierung 17 88 Entlassungsbedingungen 23 3 f., 37 f. Entschädigung 20 15, 16, 31, 45–50, 64, 69; 23 55, 75, 86, 92, 100, 109, 141 ff.; 26 18, 25 – Anspruch 20 44, 45–48, 51 – gleichheitsrechtliche Zielsetzung 20 47 – Sanktionskomponente 20 48 Entscheidungstrias 10 33 Equality Act 15 14, 24 Erbrecht 4 49 Erforderlichkeitsprüfung 17 114, 127 ff. Ergebnisgleichheit 16 15, 51 f. Erlaubnisnormen 17 20 ff. Erlaubnistatbestand 28 48 Ermessensfehlerfreie Kompetenzausübung 18 5 – racial profiling 18 5 ff., 25; s. a. racial profiling – Rauchverbot-Entscheidung 18 7 Ermittlungen 21 13, 54, 61, 86 f. error in discriminatione 17 80 Ersatz materieller und immaterieller Schäden 86 141 ff. Erwägungsgrund 23 10, 14, 18 Erwerb 23 5, 6, 64, 68, 130, 160 – Erwerbscharakter 23 7 – Erwerbstätigkeit 23 3, 4, 6 ff., 22, 32 ff., 42, 44 f., 47, 49, 53 f., 57, 59 f., 76 ff., 128 Erwerbsarbeitsnorm 11 3, 19 Erziehungsrecht 4 31 Essentialisierung 5 51 ff. essentielle Infrastruktur 4 47 Ethnic Profiling, s. racial profiling Ethnie 21 10, s. a. Rasse Ethnische Herkunft 24 17 ff., 77; s. a. Rasse Ethnizität 7 5, 8, 11 ff., 43 f., 50 ff.; 13 85 f.; s. a. Rasse EU-Richtlinien 1 11, 21 f., 43 ff.;6 29; 8 11 f., 45 ff.; 10 5; 13 37, 52 ff.; 14 5, 12, 45, 50, 79, 96 ff., 102; 23 1 ff., 5 ff., 10, 18 f., 21, 26, 29, 31, 41, 43, 45 f., 48, 52 f., 55, 93, 114, 139, 150
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– Antidiskriminierungsrichtlinien 26 15 – Antirassismus-Richtlinie, s. AntirassismusRichtlinie – Aufnahmerichtlinie 24 62 – Gender-Richtlinie, s. Gender-Richtlinie – Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie, s. Rahmenrichtlinie – Gleichstellungsrichtlinie 6 29, 40 – Qualifikationsrichtlinie 6 22, 67 – Rahmenrichtlinie Beschäftigung 8 11 f., 45 ff. – Rahmenrichtlinie, s. Rahmenrichtlinie – Rasserichtlinie, s. Antirassismus-Richtlinie Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ERCI) 26 13, 21, 49 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) 1 32 ff.; 6 17; 7 42 ff.; 8 8 ff. 21 ff.; 11 27 ff.; 21 39, 41, 47, 87; 15 11 f.; 16 41; 23 107, 112.; 26 12, 50 – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 8 8, 10, 21 ff., 34, 41, 50, 52, 57, 62; 23 27, 45 ff.; 26 12, 45 f., 50 – Protokoll Nr. 12 8 21 Europäische Union 23 1 ff., 27 – Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung 8 9 – Europäischer Gerichtshof 8 9 f., 32 ff., 43 ff., 48, 53, 71; 15 11, 53 23 1 ff., 12, 15, 17 f., 21, 27, 31, 35 ff., 40 f., 51 ff., 58, 62, 71, 80, 98 ff., 107, 114, 119, 121, 123, 128, 130, 144 ff., 150 – Fundamental Rights Agency (FRA) 21 7, 16, 41, 93 – Grundrechtecharta (GRCh) 4 66 f.; 21 39, 41 – Mitgliedsstaaten 21 16, 32, 87; 23 14, 16, 18, 107 – Recht, s. Unionsrecht Europäisches Mehrebenensystem 20 3, 6–17, 60 Europarat 21 33 European Accessibility Act 9 103, 106 f. Existenzminimum 2 89 ff. – ökologisches Existenzminimum (oder Recht auf menschenwürdige Zukunft) 2 98 Existenzsicherung 24 52 ff., 58, 62 Exklusion 20 18, 50 – Exklusionsmechanismus 20 4 Extremistenbeschluss 12 28, 74 Fahndung 17 71, 73, 119 Fahrlässigkeit 22 66 ff. – bewusste 22 75 ff. – Gehalt des F-Vorwurfs 22 71 ff. – unbewusste 22 81 ff. Familie 15 49 f. Feedback Loops 26 60, 66
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Sachregister
Fehlermarge 28 19 Fehlernachteil 28 73 Feministische Rechtstheorie 15 34 Feministische Rechtswissenschaft 1 18, 65; 6 1 Feryn-Entscheidung 7 51; 14 42 Feststellungslast, s. Beweislast Flüchtlingsbegriff 24 25 – deklaratorische Wirkung der Anerkennung 24 32 – Wohnsitzauflagen 24 42 ff. Flüchtlingsrecht 1 31; 6 22, 66 f.; 7 41; 24 23 ff. Folterverbot 9 86 ff. forced migration 24 3 Fördermaßnahmen 1 8, 30; 7 48, 60; 9 6, 29, 41 ff., 60 f., 75 f.; 13 45; 15 29, 59 – AGG 5 26 – angemessene Vorkehrungen 1 120 f.; 14 34 – Gleichheitsrecht 5 77 – verfassungsrechtlich 1 56; 5 26, 78 – Wirkung 5 50 Förderschule, s. Sondereinrichtung Förderung, sozialstaatliche 16 21 formales Gleichheitsverständnis, s. Gleichheitsverständnis formelle Gleichheit, s. Gleichheitsverständnis forum shopping 24 55 Fraport-Entscheidung 12 89 ff. freie Mitarbeiter*innen 23 66 Freiheit – intertemporale Freiheit (Klimaschutzbeschluss) 2 96 ff. – Verbindung zu Würde, Gleichheit und Demokratie 2 1 ff., 12 ff., 187 – zum Irrtum 4 37 – zum öffentlichen Dienst 4 50 – zur Beliebigkeit 4 4 – zur Diskriminierung 4 5, 7 – zur Irrationalität 4 15 freiheitlich-demokratische Grundordnung 12 62, 79, 85 freiheitsentziehende Maßnahmen 9 86 ff., 94 ff. Freiheitsrechte – Bewegungsfreiheit 9 86 ff., 94 ff. – Entscheidungsfreiheit, s. Rechtsfähigkeit – reproduktive Freiheit 9 65, 113 ff. – und Rechtfertigung 17 23 Freizügigkeit – Arbeitnehmer 24 48 – Unionsbürger 24 49 frequentistisch-probabilistische Aussagen 18 37 Führungspositionen 16 18, 56, 62 Ge- und Verbote 4 3
Gebärdendolmetscher*in 15 6, 34 Gebärfähigkeit 17 65 Gefahrenabwehr 28 12 Gefahrenabwehrrecht – Adressatenauswahl 26 25, 30, 38 ff., 42 ff., 47, 53, 57, 63 – grenzpolizeiliche Erfahrung 26 28, 33, 42, 45, 65 – illegale Migration, s. Migration – predictive policing, s. predictive policing – racial profiling, s. racial profiling – Rassismus, s. Rassismus – verfassungsrechtlich 26 2, 16, 26 f., 30, 34 f., 56 – Völkerrecht 26 5 – Zielsetzung 26 25 Gegenbeweis, s. Beweis, Gegenbeweis gegenwärtige Behinderung 15 50 Gemeinnützigkeit 4 60 Gemeinwohl 4 1, 11, 32 f., 36 Gender Pay Gap 1 80; 6 78 f.; 11 21 – EU 5 31 gender profiling 17 73 Genderperformance 13 83 f. Gender-Richtlinie 1 43; 14 58 General Dynamics Land Systems v. Cline 16 27 Generalisierung 20 4, 32 Generalisierungsunrecht 28 73 Generalklauseln 4 21, 22, 24, 60 genetische Disposition 15 17 Genfer Flüchtlingskonvention 24 25; 26 11 – Diskriminierungsverbot 24 33 – Gleichbehandlung 24 32, 37 – rechtmäßiger Aufenthalt 24 37 Geräuschemissionen 4 60 Gerechtigkeit 16 45 – distributive, s. Verteilungsgerechtigkeit – retributive, s. corrective action Gerechtigkeitstheorie 2 3 ff. Geschäftsgeheimnis 28 96 Geschäftsverkehr 4 14 Geschlecht 14 51, 58 ff., 66 ff., 119, 130; 21 7 f., 10, 16, 27, 36, 46 ff., 63 f., 70, 77, 84, 88; 23 20, 25, 27, 58, 86, 113 f., 124, 127, 129, 142; 24 27 – Begriff 6 3 ff. – Gender, s. Gender – Geschlechtertrennung 14 74 ff. – Geschlechterverhältnisse 5 53 – Geschlechtsdifferenzierung, s. Geschlechtsdifferenzierung – Geschlechtsidentität, s. Geschlechtsidentität – Gruppenkonflikte 3, 35 – Gruppenkonstruktion 4 48 – in der Verhaltensökonomie 3, 18 ff.
Sachregister
Ingruppen/Outgruppen-Schema 3, 33 Ingruppenbevorzugung 3, 34 soziales 6 5 ff. Strukturen 3 15 f. unionsrechtlich 14 102 f., 138 verfassungsrechtlich 14 76, 81 f., 90 ff., 103, 135 ff. – Zuschreibung 21 34, 38, 55 f. Geschlechterordnung 21 49 Geschlecht-plus-Analyse 13 17 f. Geschlechtsdifferenzierung 17 21, 34, 65, 67, 69, 90 – als Surrogatmerkmal 17 95 – bei Fahndungen 17 73 – im Sport 17 91, 117 geschlechtsdiskriminierende Gewalt 21 8 Geschlechtsidentität 6 11 ff., 37 f., 42 ff.; 21 10 – Anerkennung 6 70 ff. – Intersexualität 6 13 – Landesverfassungsrecht 6 38 – Transsexualität 6 11 f. – Verfassungsrecht 6 37 – Völkerrecht 6 23 ff. gesellschaftliche Moral 4 6 gesellschaftliche Normalität 5 12 Gesellschaftsrecht 16 37 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) 9 6 Gesetzesakzessorietät 4 50 Gesetzesfolgenabschätzung 18 4 Gesetzgebung 4 18 Gesichtsverhüllung 8 8, 23 gestörte Parität 4 43 gestörte Vertragsbeziehung 4 55 Gesundheit 15 6, 27, 32, 48, 51, 54, 64 Gewalt 21 7, 20, 24, 27, 32, 39, 80, 87 – antisemitische 21 3 – digitale 6 62 ff.; 21 67 – Diskriminierungsgewalt 21 14 – geschlechtsdiskriminierende 21 8, 33, 46 f., 51; s. a. geschlechtsdiskriminierende Gewalt – geschlechtsspezifische, s. geschlechtsdiskriminierende Gewalt – Gewaltdarstellung 21 70 – Gewaltdelikte 21 4, 15, 19 f., 50 – Gewaltstraftaten, s. Gewaltdelikte – gruppenfeindliche 21 14, 21 – menschenfeindliche 21 14 – neonazistische 21 14 – rassistische 21 1, 3, 31, 61 – rechte 21 14 – rechtsextreme 21 3 – sexualisierte 21 52, 67 f. – – – – – –
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Gewaltengliederung 4 27 Gewaltschutz 9 118 ff. Gewerbeaufsicht 4 14 Gewerkschaften 23 8, 160 Glaubhaftmachung 19 20 ff. Gleichbehandlung 23 2; 7 14, 18 f., 23, 40, 48, 97 f., 100 f., 107, 109, 127, 159 – allgemeines Gleichbehandlungsrecht 20 1, 3, 4 – Anspruch auf Gleichbehandlung 23 3, 40, 97 – asymmetrische 5 9 – europäisches koordinierendes Sozialrecht 24 51 – formelle 5 3 – Genfer Flüchtlingskonvention 24 32 – Gleichbehandlungsgrundsatz 23 27, 138; 20 12, 17, 29, 33, 59, 69 – materielle 5 3, 9 – Recht auf 20 2, 52, 61 – Sozialversicherung 24 68 Gleichbehandlungs-Richtlinie 4 75; 16 31; 23 2 f., 7 f., 13, 15 f., 18 ff., 27 f., 31, 43, 47, 56, 66, 75, 86, 96, 106 f., 113, 130, 138 f., 142 f., 159 Gleichberechtigung 14 68; 15 2, 4, 42 – der Geschlechter 4 51 – Unionsrecht 1 45 – verfassungsrechtlich 5 14, 20, 26, 62; 14 92 f., 99 – Völkerrecht 1 29; 6 16 gleiche Freiheit 22 4 ff. Gleichheit, s. a. Gleichheitsverständnis – als Grundwert des Antidiskriminierungsrechts 2 1 ff., 134 ff. – formale 15 27, 30, 34 – inklusive 15 4, 30, 35 – Konzept 15 1, 30, 34 f. – materiale 15 30, 35, 65 – Verbindung zu Würde, Freiheit und Demokratie 2 1 ff., 12 ff., 187 Gleichheitsrechte – besondere 5 2, 7, 13 ff., 38 – Oberbegriff 5 17 ff. – Rechtsgeschichte 5 9 ff. gleichheitsrechtliche Gefährdungslagen 5 88 Gleichheitssatz 1 3 ff.; 6 33 ff.; 7 56 ff.; 10 3; 12 26 ff., 46 – allgemeiner, s. Allgemeiner Gleichheitssatz – als Ungleichbehandlungsverbot 17 1 – besondere Gleichheitssätze 4 48 Gleichheitsverletzung 21 28 Gleichheitsverständnis 1 9 f. – formal 1 9, 56; 5 60; 6 82; 11 16; 12 54, 79 ff.; 16 46, 48, 60 f. – formell 14 21 ff. – materiell 14 27 ff., 48 f., 107 f.
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Sachregister
– material 1 9, 19, 56, 109; 2 134 ff.; 9 69; 11 16 ff.; 16 47 ff., 54, 57, 59, 68 – inklusiv 9 3; 15 65 Gleichstellung 1 14, 19, 122 ff.; 5 20, 59, 73; 6 35, 39 ff.; 8 1, 59; 13 51; 14 50 ff., 67 ff.; 21 76 – affirmative Action, s. affirmative Action – Crenshaw 13 24 ff., 35, 43 – Ehe und Familie 6 68 f. – Erwerbsleben 6 73 f. – Gleichstellungsgesetze 5 26 – Gleichstellungspolitik 5 53, 65 – Gleichstellungsrichtlinie der EU 5 15 – Intersektionalität 13 2 ff. – Invisibilisierung 13 26 – positive Maßnahmen, s. positive Maßnahmen – proaktives Gleichstellungsrecht 2 128, 149, 180; 15 1, 29; 16 2 – Quoten, s. Quote – US-Judikatur 13 12 ff. – verfassungsrechtlich 1 56; 14 51 – Wirtschaftsleben 6 84 ff. Gremienbesetzung 16 18, 35, 62, 69 f. Grundfreiheiten 4 77 Grundrechte 21 23 f., 26, 78 f. – Abwehrrechte, s. Abwehrrechte – Dogmatik 4 80 – Gleichheitsrechte, s. Gleichheitsrechte – Kerngehalt 2 10, 31 ff. – Schranken 4 2 Grundrechtecharta, s. Europäische Union, Grundrechtecharta Grundsicherung für Arbeitsuchende 24 52 Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts (Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie) 2 1 ff., 187 – Rhombusmodell der Grundwerte 2 12 Gruppen – Behälter für Kooperation 3 19 ff. – Essentialisierung und Handlungsfähigkeit 3 16 f. – Gruppen als wahrgenommene Entitäten 3 14 ff. – Gruppendenken 3 33 ff. – Gruppengerechtigkeit 15 28 – Gruppengeschichte 17 63, 118 – Gruppismus 5 43 ff., 82 Gut und Böse 4 34 gute Gründe 4 15 gute Ordnung 4 12 Güter 4 75 Güterabwägung 4 15, 62, 64 Handlungsfreiheit 4 31 Hassdelikt 21 7 f., 9, 11 f., 14 ff., 35, 55, 64, 89
Hassrede 2 108–126; 6 62 ff.; 21 3 f., 20, 66 Hausrecht 4 60 Hautfarbe 7 20, 44 hegemoniale Männlichkeit 5 48 Heim, s. Sondereinrichtung Heimarbeiter*innen 23 61, 67, 83 Herkunft 15 17 Heteronormativität 5 11, 75, 91; 6 8 Hierarchie 20 61, 67 Hierarchisierung 4 63 – Verbot 16 47 Hinterbliebene 23 13, 57 ff., 74 f. HIV 15 17 Hohfeld-Schema 17 53 Homogenisierung 5 43, 47 f. Homosexualität 4 63 – historische Rechtfertigungstopoi für Differenzierungen 17 67 Horizontalwirkung 4 42, 76 Hypothese 18 34 ff., 73 ff. – Alternativhypothese 18 74 – Nullhypothese 18 74 – Signifikanzniveau 18 76 ICERD, s. Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung (ICERD) Idealismus 22 2 ff. Identitätspolitik 5 4, 46, 73 immaterieller Schaden 22 12 implizite Biases 3, 29 ff., 158, 166 – Begriff 3 29 f. – Bias of the Crowd-Hypothese 3 2, 30 – Kritik 3 30 f., 82 f. inclusive equality 15 29, 35 indirekte Diskriminierung, s. mittelbare und verdeckte Diskriminierung individual pricing 28 6 individualisierte Reaktionspflicht 15 43 Individualität 22 19 ff., 23 Individualrechte 28 36 ff. individuelle Gerechtigkeit 15 22, 28 Indizien 17 73; 19 38 ff., 45 ff., 87 f. Inferenzstatistik 18 64 ff., 109 infinity loop, s. Unendlichkeitsschleife Information 15 19 f., 40 Informationsdefizit 28 76 Initiative Schwarze Frauen in Deutschland 7 14 Initiative Schwarze Menschen in Deutschland 7 14 Inklusion – Bildung, s. Bildung – Gemeinwesen 9 29
Sachregister
– Gleichheit, s. Gleichheit, inklusive – Gleichheitsverständnis, s. Gleichheitsverständnis, inklusives – Lebensverhältnisse 9 75 Inländerdiskriminierung 17 30 institutionelle Diskriminierung 27 10 Instrumentalismus 22 2 ff. Integration 24 40 – Integrationskurse 24 41 – Wohnsitzauflagen 24 42 Internationale Arbeitsorganisation (ILO) 16 40 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR/IPbpR) 1 28; 5 36; 6 16; 7 40; 8 23; 9 54, 82; 11 24 ff.; 12 22; 21 36; 26 7 f. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICECR/IPwskR) 1 28; 6 16; 7 40; 9 54; 11 27; 21 41 – Fachausschuss 15 8 f. Internationales Privatrecht 4 60 Internationales Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, s. UNÜbereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung (ICERD) 1 11, 29; 7 1, 22, 33 ff.; 8 4; 16 40, 57; 21 31; 26, 9 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), s. UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau Interpretation 4 21, 24 Intersektionalität 1 91 ff.; 2 141; 5 66, 68 ff.; 6 7, 75; 7 31 ff.; 8 23; 9 6, 35, 47, 65, 113 ff., 118 ff.; 11 20 ff., 54; 14 84 ff.; 16 44, 49, 83; 21 52 – Diskriminierung 18 11; 24 21 Intersexualität 5 53 Istanbulkonvention, s. Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt Jane Crow 13 3, 11 Jefferies-Entscheidung 13 17 ff., 20 Jim Crow 1 77 Jobcenter 23 40; 25 29 „Judenstern“ 2 40 Justizialisierung 4 12 Jyske Finans-Entscheidung 7 52 Kategorie, s. Diskriminierungskategorie – Behinderung 15 2, 32, 49, 50 Kausalität 18 28 f., 45 f.
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Kerngehalt der Grundrechte, s. Grundrechte, Kerngehalt Kinder- und Jugendhilfe 9 119, 127 Kinderrechtskonvention, s. UN-Übereinkommen zum Schutz der Rechte des Kindes Kirchenprivileg 24 20 kirchliches Arbeitsrecht 8 12, 38 ff.; 13 60 ff. Klasse 5 66 kognitive Täuschungen 18 123 ff. – Asian-Disease-Experiment 18 128 ff. – Framing 18 128 – overconfidence 18 124 f. – Rückschaufehler 18 124 – self-serving bias 18 126 kognitive Verzerrungen, s. Biases Kohärenzgebot 10 31, 75 Koinzidenz 18 29 f. Kollektivrecht 23 34, 93, 154 ff. kollidierendes Verfassungsrecht 17 25 Kollisionsrecht 4 60 Kollisionsregeln (lex specialis/posterior/superior) 17 6, 8 Kommunalwahlrecht, s. Wahlrecht Kommunikation 15 14, 20 – Mittel 15 20, 22 – Systeme 15 20 – Technologie 15 19 f. kompensierte Fördermaßnahme 15 59 Kompetenzproblem 4 28 Konfliktlinie 20 3, 4, 6, 8, 63 Kontrahierungszwang 4 14; 20 15, 35 Kontraktualismus 4 32 Kontrolldichte 10 30 ff., 48, 50, 65 Kontrolle 4 12 Konvention zur Bekämpfung des Menschenhandels 6 20 Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt 6 21, 54 ff.; 21 20, 23, 33, 47 Koordinationsmodell 4 55 Kopfbedeckung 16 25 Kopftuch am Arbeitsplatz 8 11 f., 14 ff., 26 ff. Kopftuchverbot-Entscheidungen 6 75; 13 75 ff. Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften 8 55 ff., 66 Körperverletzung 21 58, 70, 80 f., 86 Korrelation 18 27 ff., 78 ff., 98, 114 Kosten – angemessener Vorkehrungen 15 39, 41, 44 Krankheit 23 10, 12, 74 Krebspatient*innen 15 17 Kreuz/Kruzifix 8 8, 25
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Sachregister
kriegsbedingte Lasten 16 22 Kriminalitätsstatistiken 26 57 f., 60 f., 66 Kriminologie 21 2, 4, 6, 17, 44, 54, 60, 86 Kriterien 15 39 Kücükdevici-Entscheidung 10 31, 54; 13 66 Kultur 7 27 ff. Kultur der Rechtfertigungsbedürftigkeit 4 79 Kultus 4 62 Künast-Entscheidung 6 64 Kündigung 10 54 ff., 60 ff.; 23 37 f., 88, 106, 131 f. – Ausschluss der Kündbarkeit 10 56 ff. – betriebsbedingt 10 61 ff. – Erwartungen 17 62, 120 – Fristen 10 54 f. – Kündigungsschutz 4 61; 23 106 – Kündigungsschutzgesetz (KSchG) 23 38, 88 – Sozialpläne 10 71 ff. künstliche Intelligenz, s. predictive analytics Länder 23 12, 18, 46 f., 51, 127, 157 – Gleichbehandlung der ~ 17 4 – Landesgesetz 23 13, 34, 91 – Schulgesetz 15 63 – Verfassungen 4 40 Landesantidiskriminierungsrecht 1 60; 26 2, 18; 9 49, 51, 90, 104 – Landesantidiskriminierungsgesetz Berlin 11 10, 44 ff., 67 – Schulgesetze 11 43 Legal Gender Studies 13 2 legislatives Unterlassen 4 37 Lehrstelle 4 20 leichte Sprache 9 99 Leistung 23 8, 10, 12, 35 f., 40, 42, 57, 59, 73 f., 98 ff., 160 – Leistungsanspruch 23 40, 59 – Leistungsverweigerungsrecht 23 135 f. – Sozialleistung 23 35, 6 – Sozialhilfeleistungen 23 10 Leistungsfähigkeit 15 32, 53 Leistungsprinzip – als Bestenauslese 16 67, 80 – und Quoten 16 65 ff. Lernschwierigkeiten, s. geistige Behinderung living originalism 2 49 ff. Los 17 40 Lüth-Entscheidung 4 21, 28 Macht 4 16, 22, 45 – Asymmetrie 4 42 – Disparität 4 60 Mangold-Entscheidung 10 5 31 f. margin of appreciation 1 34; 8 8, 23, 34, 52 ff.
marginalisierte Gruppe 21 29 f., 38 ff., 41 ff., 45, 50, 52 ff., 56, 59, 63, 65, 67, 72 ff. 83 f., 89, 94 marktbeherrschende Stellung 28 59 Marrakesch-Vertrag 9 107 Maruko-Entscheidung 6 9, 36, 44, 48 f. Maßnahmen gegen Diskriminierung 3, 63 ff. – Antidiskriminierungsrecht 3, 84 ff. – Anreize 3 84 – Debiasing 3 63 ff. – Diversitätstraining 3 71 f. – Framing 3 85 ff. – Kontakt 3 68 ff. – Nudging 3 79 ff. – soziale Normen 3 71, 88 Maßregelungsverbot 20 62–69; 23 137 – Beweis des Verstoßes 19 34 ff., 43 materiale Gleichheit, s. Gleichheit, materiale materiales Gleichheitsverständnis, s. Gleichheitsverständnis Medien 28 60 ff. mehrdimensionale Diskriminierung, s. Intersektionalität Mehrdimensionalität 5 68 ff., 73; s. a. Intersektionalität – Mehrfachdiskriminierung, s. Intersektionalität Meinungsfreiheit 2 108–126; 4 8, 62 – und Parteiverbote (NPD-Urteil des BVerfG) 2 122 ff. Menschenwürde 2 1 ff., 8 ff., 23–107, 108–126, 187; 4 25, 35, 53; 5 8, 12, 19, 75, 78, 81, 84; 7 56, 58; 21 26, 64, 75 – Dynamik 2 48 ff. – egalitärer Charakter der Menschenwürde nach der Rspr. des BVerfG 2 72 ff. – Ehe für alle 2 63 ff. – Existenz 24 52, 58, 65 – Existenzminimum 2 89 ff., 95 ff. – Garantie 21 29 – Gehalt der Grundrechte 2 10, 31 ff. – Grundrecht auf Demokratie nach der Rspr. des BVerfG 2 77 ff., 83 ff. – „Judenstern“ als Verletzung des Mindeststandards gleicher Freiheit 2 40 – Mindeststandard gleicher Freiheit 2 31 ff., 48 ff. – und Volksbegriff 2 83 ff. – Verbindung zu Freiheit, Gleichheit und Demokratie 2 1 ff., 12 ff., 187 – Verletzung durch Hassrede 2 108–126 – Sklaverei 2 41 ff. Messgrößen – Unterschiede bezüglich ~ 17 43 Mietrecht 15 61; 16 18
Sachregister
Migration 24 – § 22 Abs. 1a BPolG 26 31 ff., 42 ff., 64 f. – Genfer Flüchtlingskonvention, s. Genfer Flüchtlingskonvention – freiwillige vs. erzwungene 24 3 – illegale Migration 26 30, 31 f., 42, 56 – Integration 24 40 – Migrationshintergrund 24 9 ff. Minderheitenrechte 5 22 ff., 28, 44 Mindestschutz 4 55 Missbrauch von Sozialleistungen 24 55 f., 57 Mitgliedschaft in Vereinen 4 60 mittelbare Diskriminierung 1 105 ff.; 2 143 ff.; 4 66; 6 30; 8 20, 35 ff.; 10 16 ff.; 13 64 ff., 78 ff.; 14 5 ff., 101 ff.; 15 26, 34, 28, 58, 62; 20 6, 17, 18, 24; 22 50, 58, 60, 77 ff., 84 ff.; 23 25, 24 74; 26 40, 57, 66; 28 27, 92 – Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 1 106; 14 5 ff., 103, 127, 132 f., 138 – Dominierungsverbot 14 34, 119 ff. – EMRK 1 33; 14 126 – europarechtlich 8 35 ff. – Funktion 14 104 ff. – geschützte Personen 14 110 ff. – historische Entwicklung 14 102 ff. – Intersektionalität, s. Intersektionalität – Kausalität 14 132 f. – Rechtfertigung 14 134 ff.; 17 5, 76, 103 – Symmetrie 14 114 ff. – Unionsrecht 14 127 – verfassungsrechtlich 1 51 ff.; 8 20; 11 59 ff.; 14 5 ff., 101 ff., 103, 135 ff. – verfassungsrechtliche Rechtfertigung 14 135 ff. – Vergleichbarkeit 14 132 f. – wegen Behinderung 9 52, 62, 70 ff. mittelbare Drittwirkung 4 21, 58 Mobilisierungsproblem 5 45 Mobilitätsmittel 15 22 Moralisierung 4 6 Motiv 21 9, 13, 15, 19, 33 f., 39, 41 ff., 45 ff., 50, 62 ff., 80, 82, 84, 86 f. – Bündel 26 41 ff., 56, 59 – Vorurteilsmotiv 21 7, 9, 12, 17, 22, 34, 36, 39 ff., 43, 46 f., 51, 56, 58, 65, 80 ff., 83, 88, 90, 92 – Tatmotiv 21 10, 11, 13, 17, 40, 43, 50, 54, 60 f., 64 f., 90 Mütter – Differenzierungserlaubnis 17 29 – Mutterschutz 16 21 Muttersprache 24 77 Nachtarbeitsverbots-Entscheidung 1 18; 4 86 f.; 6 39;
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Nachteilsausgleich bei Behinderung 9 15, 105 Nachweis von Diskriminierungen 9 71 f.; 14 57; 19 1 ff., s. a. Beweis – Beweiserleichterung 1 35, 109 – Beweislast 5 49; 26 47 ff. – Beweislastumkehr 1 35; 14 39; 26 48 ff., 59 – EMRK 1 35 – mittelbare Diskriminierung 1 109; 14 126 ff. – Plausibilität 14 131 – Statistik 14 126 ff. – Umgehungsverbot 1 109; 14 105 Nachweisbarkeit 28 20, 93 ff. – Darlegungs- und Beweislast 28 99 ff. – Transparenz 28 94 ff. Nation 24 5 ff. nationale Herkunft, s. Staatsangehörigkeit Nationalität 21 7, 10, 15, 19, 88; 24 26 Nationalsozialismus 1 77; 2 36 ff.; 5 30; 9 6 f., 35 ff.; 21 68; 26 1; – Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) 21 2 Nationalstaat 24 5 ff., 46, 82 Naturalisierung 5 51, 54 ff. Natürlichkeit 4 31 Naturrecht 4 30 Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) 21 7, 79 f., 82, 84 Neutralität 4 4 – religiös-weltanschauliche 8 19, 24 ff. Neutralitätsgebot 12 28, 33, 35 ff., 39 ff., 44 Neutralitätsgesetz 5 27 Nichtberücksichtigungsschaden 20 40–41 Nichteinstellungsschaden 20 16, 40–41 Nichtigkeit 23 88 f., 96, 140 non-refoulement 24 23, 28, 36 f. Normalfall-Legalität 17 92 Normzweck 4 24 NPD 4 62 NPD-Urteil des BVerfG 2 83 ff., 122 ff. NS-Regime 4 58 Obdachlose 21 39, 41 f., 54 Oberösterreich-Entscheidung 7 53 objektive Ordnung 4 21, 24 objektive Wertentscheidung 4 21 Objektivität 18 94 ff. objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension 4 21 öffentliche Sicherheit 28 63 öffentlicher Dienst 16 18, s. a. Beamt*innen – Zugang 8 16 ff. omitted variable 18 12, 33, 115 Operationalisierung 18 40 ff., 95 Opfer 21 7, 29 f., 32 f., 38 f., 39, 43 f., 45 f., 50, 52 ff., 59, 63 ff., 67 f., 73, 82 ff., 86 f., 89, 93 f.
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Sachregister
Ordnungsidee 4 3, 25 Ordnungsrecht, s. Gefahrenabwehrrecht Ordre Public 4 60 Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 21 7, 16; 26 23 originalism, s. living originalism Paradoxie der Differenz 16 82 Parität 8 1 59; 16 64 – föderative 16 23, s. a. Quote, Länderquote – Gesetzgebung (Parité) 16 38, 74 ff. Parris-Entscheidung 13 66 ff.; 14 87 Parteienrecht, s. Politische Parteien, Recht Personenfahndung 26 63 Personenkontrolle 26 19, 28 ff., 31 ff., 35, 42 ff., 55, 63, 64 Persönlichkeitsrecht 20 26, 42, 45, 47; 21 59, 67 – Verletzung, s. Persönlichkeitsrechtsverletzung Persönlichkeitsrechtsverletzung 22 8 ff. – geschützte Persönlichkeitssphäre 22 18 ff. – historische Benachteiligung 22 26 ff. – Individualitätsmissachtung 22 19 ff. – objektiver Sinngehalt 22 30 – offener Tatbestand 22 17 – strukturelle Benachteiligung als 22 26, 72 – Struktur des Persönlichkeitsrechts 22 16 f. Pflegebedürftigkeit 23 74 Pflicht 15 39 ff., 46 ff., 52, 54, 58, 60 ff.; 23 5, 106, 125, 140, 156 – Dienstpflichten 23 110 – Organisationspflichten 23 125 – vertragliche Pflichten 23 102, 104, 106 Plattformen 28 60 f. plausible deniability 18 1 Pluralismus 4 11 politisch motivierte Kriminalität (PMK) 27 51 ff., 66 f. politische Parteien – Chancengleichheit 12 33, 37, 83, 102, 105 – Freiheiten 12 31; 16 72 f. – Recht 16 18, 33 – Stiftungen 12 105 – verfassungsfeindliche 12 29, 31, 37 – verfassungswidrige 12 31, 54, 79 politische Philosophie, s. Gerechtigkeitstheorie politischer Anschauungsschutz – Arbeitsrecht 12 44 f., 87 f., 100 – Europarecht 12 24 – im Kulturbetrieb 12 39 ff. – im öffentlichen Raum 12 89 ff. – in sozialen Netzwerken 12 93 f. – Privatrecht 12 43 ff.
– Strafrecht 12 48 ff. – Verfassungsrecht 12 26 ff. – Verwaltungsrecht 12 34 ff. – Völkerrecht 12 22 Polizeigewalt 21 87 Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 27 52 Polizeirecht, s. Gefahrenabwehrrecht positive action, s. positive Maßnahme positive Diskriminierung, s. Diskriminierung, positive positive Handlungspflicht 15 29 positive Maßnahmen 14 48 ff., 67 ff.; 15 26, 29, 41, 60; 16 29 – EU-Recht 14 50 – geschlechtsneutrale 14 67 f. – Parität 14 69 f. – Verfassungsrecht 14 51, 68 ff., 99 – Völkerrechtliche Verträge 14 50 postkategoriales Antidiskriminierungsrecht 1 95 ff.; 2 150 ff.; 5 73 ff.; 13 29; 16 84; 20 4 – Dilemma der Differenz 2 150 – Motive 5 38 ff. – Konzepte 5 76 ff. Praktika 23 63 Prävention 15 26 29; 20 54–56 – durch Kompensation 20 44 predictive analytics – Feedback Loops, s. Feedback Loops – predictive policing 26 64 ff. Privatautonomie 4 29 ff., 33 private Handlungsmacht 4 22 Private – als Adressaten 16 77 – Bindung 4 40 Privatrecht 1 57 ff., 63; 4 19, 27, 28; 8 30 ff.; 9 52 f., 61, 73, 92 f., 94 ff., 106 ff., 114 ff., 119; 10 85 ff.; 12 43 ff.; 21 1; 22 1 ff.; 26 23, 25, 45; – Gestaltung 4 18 – Gesetzgebung 19 54, 80 – Privatautonomie, s. Privatautonomie Privilegien 5 20, 49, 72, 89 proaktives Gleichstellungsrecht, s. Gleichstellung probabilistische Eigenschaften 17 70 ff., 11 profiling 28 4, 40, 45 ff., 55 ff., 65 ff. – Diskriminierungsfolge aus profiling 28 49 – Gruppenprofiling 28 6, 71 – Individualisierungsprofiling 28 6 – Methodik 28 77 ff. – Personenprofiling 28 6 – Profilbildung 28 8 – Profilerstellung 28 8 – Profilzuordnung 28 8 – racial profiling 28 16
Sachregister
Prognose-Modell 28 15 Proportionalitätstest 15 41 Prozeduralisierung 20 53–58 Prozeduralität 4 11 Prozesskosten 4 55 Prozessrecht – Beweis 19 1 ff. Prüfungsanforderungen 15 6 Psychiatriepatient*innen 15 17 Qualifikation 15 32, 41, 51 Quote 1 18, 125 ff.; 6 81 ff.; 14 48 ff., 67 ff.; 16 3 ff., 32, 34, 51 – als Diskriminierungsindiz 19 57 – Besetzungsquote 16 8 ff., 32 – EU-Recht 14 50 – flexible 16 7, 68 – geschlechtsneutrale 14 67 f. – Härtefallregelung 16 32, 70 – Länderquote 16 23 – Mindestquote 16 6 – Parität 14 69 f. – Quotenart 16 7 – starre 16 7, 67 – verfassungsrechtlich 1 56; 6 35, 41; 14 51, 68 ff., 99 – Völkerrechtliche Verträge 14 50 Race Discrimination Act 15 14 racial profiling 7 14, 31 f.; 17 73, 119; 18 5 ff., 25; 26 8, 19 ff., 28 ff. – Begriff 26 20 ff. – EMRK 26 50 – Rechtfertigung 26 54 ff. Radikalenerlass, s. Extremistenbeschluss Rahmenbeschluss RB 2008/913/JI 21 32, 34, 37, 87 Rahmenrichtlinie 1 43; 6 32; 8 11, 32 ff.; 35 ff., 43 ff., 53; 9 24, 52, 57; 10 5, 13 ff., 76; 13 54, 60, 71 f., 75 ff.; 14 87, 127; 16 31, 36, 44; 15 14, 46, 53, 58, 65; 23 3 f., 9 ff., 28, 31, 43, 47, 51, 56, 58, 75, 86, 96, 106 f., 113, 115, 119, 121, 130, 138 f., 142, 159 Rampe 15 6, 19 Rasse 3 26, 31, 69, 84 ff.; 26 2, 21; 24 16, 19; 13 85 f.; 21 7, 10, 15, 19, 27, 31 f., 35 ff., 82, 84; 23 20, 23; 24 16 – Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 1 58; 7 47 – Anknüpfungsverbot, s. Diskriminierungsverbot – Art. 3 III 1 GG als Verbot rassistischer Diskriminierung (laut BVerfG) 2 83, 124, 161 – Begriff 1 60, 88 ff.; 5 48, 51 f., 87; 7 1 ff., 44 f.
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Begründungsverbot, s. Diskriminierungsverbot EMRK 7 42 ff.; 1 34 humangenetischer Kenntnisstand 7 5 ff. Landesverfassungen 1 60 race 7 13; 13 10 ff., 18, 23, 39, 41, 74 Rassismen 7 16 ff. rassistischer „ethnischer“ Volksbegriff der NPD 2 83 ff. – Segregation 14 74 ff. – sozialwissenschaftlicher Kenntnisstand 7 8 ff. – U. S. Supreme Court 14 11, 73, 83 – unionsrechtlich 1 43; 7 47 ff.; 13 53; 14 42 – Verfassungsrecht 26 2 – Völkerrecht 1 90; 7 33 ff., 39 ff.; 8 4 – Weißsein 7 15 Rassentrennung 15 58 Rassismus 4 63; 21 7, 17, 32, 34 f., 39, 61, 76, 77 – Apartheid 15 34 – Assimilation 15 34 – Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, s. Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung (ICERD) – Polizeiarbeit 26 1 f., 13 – racial profiling, s. racial profiling – struktureller Rassismus 26 66 rassistische Gewalt 5 86 Rasterfahndung 17 71 rational actor model 18 38 Rationalisierung 4 15 Rationalität 4 37 Rauchverbot-Entscheidung 18 7 reasonable accommodation, s. angemessene Vorkehrungen reasonable adjustement 15 5 14 Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz 24 52, 58, 65 Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen 9 5 41 ff. 112 119; 15 16, 30 ff., 60 Recht des öffentlichen Dienstes 16 23, 33, 35, 80; 23 37, 49, 112, s. a. Beamt*innen Rechtfertigung 15 52 f. 55 62; 17 18 ff.; 22 61 ff., 84 ff.; 23 113 ff. – Grund 23 95, 107, 120 – Modell 4 64 – Zuständigkeit als Rechtfertigungsgrund 17 53 – zwingende Gründe 17 113 ff. Rechtfertigung von Diskriminierung 2 146–148; 9 77 ff., 88; 17 1 ff.; 20 1, 6, 24 – AGG 5 74; 10 40 f. – Altersdiskriminierung 10 9, 19 ff., 40 f. – EMRK 1 34; 6 48; 8 8; 17 135 – – – – – – –
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Sachregister
– europarechtlich 8 33, 35 – Geschlechtsdiskriminierung 6 47 ff. – mittelbare Diskriminierung 1 108; 10 16 ff.; 14 134 ff.; 17 76, 103 – Rahmenrichtlinie 10 19 ff.; 13 77 – Rechtfertigungsanforderungen 28 80 – unmittelbare Diskriminierung 14 88 ff. – verfassungsrechtlich 8 17, 45, 67 rechtliche Betreuung, s. Betreuungsrecht rechtliche Handlungsfähigkeit, s. Rechtsfähigkeit rechtmäßiger Aufenthalt 24 37 Rechtsanwendungsgleichheit 4 42 Rechtschutz / Zugang zum Recht 25 44 Rechtsempirie 18 9, 76 Rechtsextremismus 21 2 f., 10, 19, 43 f., 61, 64, 71, 79, 90 – rechtsextreme Gewalt 21 3 Rechtsfähigkeit 9 40, 44, 59, 71, 78 ff. Rechtsfolgen 4 56 – primäre 20 12–14, 22, 34, 64 – sekundäre 20 15–16, 22 Rechtsgüterschutz 21 23 Rechtsmissbrauch 20 64 Rechtsprechung 4 18 Rechtsschutz 1 69: 8 43; 12 97 – Beweis 19 1 ff., s. a. Beweis – kollektiver 14 113 Rechtsstreit – Beweisrecht 19 1 ff. Refoulement-Verbot 24 23, 28, 36 f. Regelungskompetenz (EU) 4 67 Regents of University of California v. Bakke 16 26 Regression 18 82 ff., 99, 115 – Interaktionseffekt 18 92 – Ursachenanalyse 18 82 – Wirkungsanalyse 18 82 – Zeitreihenanalyse 18 82 Rehabilitation Act 15 5, 7 Rehabilitation behinderter Menschen, s. Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen Rekonstruktion 20 4, 19 Reliabilität 18 93, 98 Religion 7 21 ff.; 13 75 ff.; 16 25; 21 7, 10, 15, 19, 32 ff., 36 f., 39, 63, 70, 76, 84, 87 f.; 24 20 f. Religionsfreiheit 4 9, 26, 34, 62; 8 3, 6 f., 17 ff., 30 f., 70, 72 – am Arbeitsplatz 8 30 ff. Religionsunterricht 8 63 ff.: 17 21 Religionsverfassungsrecht 8 13, 38 ff., 54 ff., 69 Revidierte Sozialcharta (RESC) 15 11, 13 Respezifizierung 20 3–4, 35, 51–52
responsiv – responsive Rechtsdogmatik 20 5, 23, 43, 47, 67, 69 – responsive Rechtswissenschaft 20 4 – responsives Rechtsfolgenregime 20 20 Ressentiment 4 4 Restitution 20 13, 47–48 restitutive Gerechtigkeit 15 32 retaliation 20 59–64 reverse discrimination 16 2, 62 ff. Rhombus-Modell der Grundwerte des Antidiskriminierungsrechts (Würde, Freiheit, Gleichheit und Demokratie) 2 12 Richter*innen, s. Berufsrichter*innen richtlinienkonforme Rechtsfortbildung 20 38 Risikoanalyse 28 5 – Gefahrenabwehr 28 5 – Gesundheit 28 5 – Versicherungsfall 28 5, 18, 57 – Zahlungsausfall 28 5, 18 sachliche Gründe als Rechtfertigung 17 102 ff. sakrale Pflicht 4 62 Sanktionen 23 55, 106 ff., 112, 132 Sarrazin-Entscheidung 7 28 f., 34 Schächten 16 25 Schadensersatz 20 2, 13, 14, 15, 16, 22, 31, 33, 36–44, 45, 51, 56, 64 – Anspruchsschuldner*in 20 37, 38, 41, 42–43 – Schadensersatzanspruch wegen Nichteinstellung 20 16, 39–41 – Schadensumfang 20 16, 39–41 Schleierfahndung 17 71, 73, 119; 26 31 ff., 35 Schmähkritik 21 59 Schmuckverbote 17 69 Schrankenziehung 4 13 Schule 8 8, 16 ff., 25 ff., 63 ff. – Schulgebet 8 25 Schutzgüter 4 53 Schutzpflicht 21 24 – aus den Gleichheitsgrundrechten 2 155 f. – EMRK 1 36 – EU-Opferschutz-Richtlinie 2012/29/EU 9 119 – extraterritoriale Wirkung der Schutzpflichten für Leben und Gesundheit (Klimaschutzbeschluss des BVerfG) 2 99 – Förderaufträge und Schutzaufträge (aus Gleichheitsrechten) 2 149 ff. – gegen Diskriminierung 4 25, 41, 51 f. – Gewaltschutz 9 113 ff., 118 ff. – Istanbul-Konvention 9 119 – Reproduktionsfreiheit 9 113 ff. – UN-Behindertenrechtskonvention 9 90, 92 ff.
Sachregister
– verfassungsrechtlich 1 54 7 62; 9 75; 21 24 Schutzrechte 5 44 Schutzrichtung 4 54 Schutzverantwortung 4 25, 51 Schwangerschaft 14 45, 58, 61 f. Schwerbehindertenrecht 9 52; 15 33, 60 Schwerbehinderung, s. Behinderung, Schwerbehinderung Scoring 28 5 – Methodik 28 77 ff. – Schufa-Scoring 28 20, 52 – Scorewert 28 7 – vertragsbezogenes Scoring 28 51 sekundäre Viktimisierung 27 3, 5, 13, 62 ff. Sekundärrecht, s. Unionsrecht, Sekundärrecht Selbstbestimmt-Leben-Bewegung 9 47 Selbstbestimmung 9 14, 40, 44, 59, 71, 78 ff., 84, 110 ff. Selbstbestimmungsrecht von Religionsgemeinschaften 8 38 ff. Selbstverwaltung 16 78 Senioritätsklausel 10 44 ff. separate but equal-Doktrin 15 59 Sex Discrimination Act 15 14 Sexualethik 4 34 sexualisierte Gewalt 1 18; 5 86; 6 56 sexuelle Belästigung, s. Belästigung sexuelle Identität 14 59 ff.; 23 20, 23; 24 27 – Intersexualität 14 69, 74 – transgender* 14 61, 74 Sexuelle Orientierung 6 8 ff., 42 ff.; 13 68 ff.; 14 59 ff., 81 f., 87; 21 7, 10, 15, 19, 35 f., 63 f., 70, 77, 87, 87; 23 9; 24 27 – Ehe für alle 2 63 ff. – Europarecht 14 59, 87 – Geschlechterdiskriminierung 2 66 – GRCh 5 31 – Landesverfassungsrecht 1 60; 6 38 – Verfassungsrecht 1 49; 5 30; 6 36; 14 81 f. – Völkerrecht 6 23 ff. sichere Herkunftsstaaten 24 34 ff., 41 Skalenwert/-bereich 17 43 Sklaverei 1 77; 2 41 ff., 57 ff.; 7 16 Soldat*innen 23 23 ff., 137 Solidargemeinschaft 24 46 Sondereinrichtung für behinderte Menschen 9 5 f., 12, 36, 39 ff., 46, 119, 123 ff. Sonderschulentscheidung 15 59 Sorgfaltspflicht 22 71, 74 ff. Sortieralgorithmus 28 32 soziale Kosten 20 22, 61, 68 soziale Normen 3 13 ff., 52 ff. soziales Grundrecht 16 21
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soziales System 20 45 Sozialgesetzbuch – SGB II 11 54 ff., 60 ff. Sozialleistungen 15 16, 30 ff.;24 52 Sozialpakt, s. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICECR/ IPwskR) Sozialrecht 9 51, 53, 98; 15 31, 35, 50; 24 45 ff. – Ansprüche 25 23 – europäisches koordinierendes Sozialrecht 24 51 – Missbrauch von Sozialleistungen 24 55 f., 57 Sozialstaatsprinzip 4 42; 9 49, 75; 15 32; 16 21; 17 34 sozio-ökonomische Diskriminierung 1 79 ff.; 2 89 ff., 95 ff.; 5 66 – Abwehrrecht auf wirtschaftsvölkerrechtliche Rechtsreform 2 102 ff. – Existenzminimum 2 89 ff. – Klimaschutz 2 96 ff. sozioökonomische Gleichheit 4 42 Sport 17 91, 117 Sportverträge 4 60 Sprache 7 26, 55 Sprachkenntnisse 24 75 ff. Staatenlosigkeit 24 33 Staatsangehörigkeit 4 75; 7 24 ff., 35 ff., 52; 24 5 ff., 11 f., 18, 26, 49 – doppelte 24 38 Staatshaftungsrecht 20 6, 51–52 Staatsleistungen 17 29 Stadionverbots-Entscheidung 1 54; 2 165; 4 43; 12 46, 89 ff. Statistik 17 87, 89, s. a. Typisierung – als Diskriminierungsindiz 19 57 statistische Diskriminierung, s. Diskriminierung, statistische statistische Erfassung von Vorurteilskriminalität 27 49 ff. statistische Korrelationen 28 12 ff. statistische Zwillinge 18 10 statistischer Diskriminierungsnachweis 22 79 f. statistisches Testverfahren 18 2, 32, 77, 99 Stellenausschreibung 10 39 ff. Stellvertretermerkmale 17 84 ff. Stereotype 3 25 ff., s. a. Typisierung – Diskriminierungswirkung 3 27 – Essentialisierung 3 26 – Genauigkeit 3 28 Stereotypen-Inhalt-Modell 3 46 ff. – verächtliche, paternalistische, neidische und überhöhende Diskriminierungstendenzen 3 48 ff. Sterilisation 9 6, 37, 113 ff.
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Sachregister
Stichprobe 18 2, 55, 60 ff., 68 ff., 90 f., 104 – Nonresponse-Bias 18 69 Stichtag 17 40, 43, 57 Strafrecht 1 12, 24, 63; 5 30, 87; 6 64; 9 94 ff., 113 f., 118 f.; 12 48 ff. 21 1 f., 4 f., 17, 19 f., 23 ff., 31 ff., 37, 53 f., 55 ff., 60, 69, 71, 73, 87, 94 – Strafbarkeit 21 8, 9, 32, 59, 71, 85, 49, 84 – Strafgesetzbuch (StGB) 21 2 ff., 9, 34, 51, 54, 59 ff., 62 f., 69 ff., 73 ff., 84 – Strafwürdigkeit 21 4, 29 f., 38, 44 f., 58, 77 – Strafzumessung 21 2, 4, 15, 30, 32, 34, 51, 54, 57, 60 f., 62, 80 f., 90 Strafschadensersatz 20 44 Strafverfahren – blinde Schöff *innen 9 80 Strafzumessung – Berücksichtigung von Vorurteilsmotiven 27 41, 44, 50 Strengbeweis 19 7, 24 f. Strukturbrecher 20 18–22, 49 strukturelle Benachteiligung /Diskriminierung 15 28, 34 subjektives Recht 15 18, 20; 20 11, 23, 52, 54, 58 substantielle Gleichheit 15 30, 34–35 Surrogatmerkmale 17 84 ff. Symmetrie, s. asymmetrischer Diskriminierungsschutz taktile Leitsysteme 15 19 taktile Orientierungsmaßnahmen 15 19 taktiler Wegweiser 15 6 Tarifparteien 4 2 Tarifverträge 23 31, 33, 42, 93, 155 Täter*innen 21 2 f., 7 f., 9, 12 f., 16 f., 19, 21, 29 f., 41 ff., 46, 50, 54, 58, 61, 65, 67, 73, 82, 84, 90 Teilhabe 15 13 – Bericht 9 10, 14, 45 – Funktion 20 49 – Recht, s. Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – Teilhabestärkungsgesetz 9 119 Teilmengenbeziehung 17 48 Teilzeit 23 33 Teilzeit- und Befristungsgesetz 17 5, 17 Tendenzbetriebe 12 87 Terror 21 11 Test-Achats-Entscheidung 1 45 Testierfähigkeit, s. Rechtsfähigkeit Testierfreiheit 4 49, 57 Testing-Verfahren 18 106 ff. theoretisch-empirische Wissensspirale 18 34 ff. – ad-hoc Plausibilisierung 18 36
– ex-post Plausibilisierung 18 36 Theorie der sozialen Identität 18 34 Toleranz gegenüber Diskriminierung 4 6 Tragfähigkeitsbewertung 17 74 ff. Training, s. Empowerment transformative Gleichheit 15 30, 35 Transportmittel 15 20 Transsexualität 5 47, 53 Triage-Beschluss des BVerfG 2 155, 161 Typisierung 17 84 ff. – im Gesetz 17 91 – im Vollzug 17 92 Übergriff – erwarteter ~ als Rechtfertigungsgrund 17 62 – in fremde Rechte 4 52 umgekehrte Diskriminierung 17 30 Umkehr der Beweislast, s. Beweislast Umwelt des Rechts 20 4, 23 unabhängige Lebensführung, s. Selbstbestimmung unbillige Belastung 15 36 f., 41, 52 Unendlichkeitsschleife, s. infinity loop UN-Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion und der Überzeugung 8 3 UNESCO 7 5, 21 – Übereinkommen gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen 11 29 Ungleichbehandlung 15 27 f.; 18 1, 8, 12, 16, 118; 23 113, 124; 24 38, 41 f., 28 23 – als Unterschied 17 79 – mit Dauerwirkung 17 42 – mit oder ohne Zweck 17 123 ff. – mittelbare, s. mittelbare Diskriminierung – Rechtfertigung 28 65 ff. – schwere 17 127 ff. – Terminologie 14 14 – unmittelbare, s. unmittelbare Diskriminierung Ungleichbehandlungspflichten 17 27 Ungleichbehandlungsverbote – Tatbestandsstruktur 17 1 f., 4 Ungleichheit 16 24, 30 – faktische 1 1; 14 31, 74, 107, 116, 124 – Hierarchie der Ungleichheiten 5 61 ff. – sozio-ökonomische 1 7, 10; 11 1 ff. – Ungleichheit der Gleichheiten 5 69 – Veränderung als Zweck einer Ungleichbehandlung 17 124 Unionsbürgerrichtlinie 24 50 Unionsbürgerschaft 11 49 ff.; 24 48 f. – Freizügigkeit 24 49 – Richtlinie
Sachregister
Unionsrecht 1 39 ff.; 6 27 ff.; 8 5, 8 ff.; 10 4 ff.; 15 2 f., 24 25, 47 ff., 62 f.;23 1 ff., 31, 41 f., 66, 68, 91 f., 94, 98, 106 – EU-Richtlinien, s. EU-Richtlinien – Grundrechtecharta (GRCh) 15 10; 23 2 – Primärrecht 1 40 ff.; 6 28 f.; 10 5 f.; 11 36 ff., 49 ff.; 13 50 ff.; 14 50; 23 1, 14; 26 14 f. – Sekundärrecht 4 67; 15 2, 8 f., 48; 23 3 – Schengener Grenzkodex 26 34 – Unionsgrundrechte 1 41 f.; 6 29, 32; 10 4 ff.; 11 36 ff.; 12 24; 13 50 – Unionsrechtskonformität 23 21, 35, 44 f., 62, 120, 151 – Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV ) 15 9; 23 2, 5, 12, 18, 27, 35 f., 46, 58 f., 66 – Vertrag über die Europäische Union (EUV ) 23 112 universelles Design 9 29 unmittelbare Diskriminierung 1 102 ff.; 8 35 ff.; 10 14 ff.; 13 16, 58 ff., 77 ff.; 14 5 ff., 35 ff.; 15 26 f.; 23 25, 113 ff., 119, 121 f.; 28 27, 89 – Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 14 5 ff., 39, 44, 45 f., 58, 77, 85 f., 95 ff. – Anknüpfungsverbot, s. Anknüpfungsverbot – Diskriminierungsabsicht 14 41 ff., 54 ff. – Dominierungsverbot 14 48 f. – durch allgemein-generelle Regelung 14 37, 56, 65 – durch individuell-konkrete Maßnahme 14 38 f., 55 – Intersektionalität, s. Intersektionalität – Kausalität 14 43 f. – Positive Maßnahmen, s. Positive Maßnahmen – Rechtfertigung 14 47, 88 ff. – Symmetrie 14 48 ff. – Tatbestand 14 35 ff. – Unionsrecht 14 42, 50, 58 f., 71, 79, 87, 95 ff. – untrennbarer Zusammenhang mit einer Kategorie 14 58 ff. – verdeckte Diskriminierung, s. verdeckte Diskriminierung – verfassungsrechtlich 14 5 ff., 35 ff., 51, 57, 61, 68, 76 f., 80 f. – verfassungsrechtliche Rechtfertigung 14 90 ff. – Vergleichbarkeit 14 45 ff. – wegen Behinderung 9 62, 70 ff. unmittelbare Drittwirkung 4 26, 57 unmittelbare Grundrechtsbindung 4 2, 3, 26 unmittelbare Richtlinienanwendung 4 76 Unrechtserfahrungen 5 80 ff. – Bagatellisierung 5 64 Unrechtstatbestand 15 32
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Untermaßverbot 4 54, 56 Unternehmerfreiheit 8 30 ff. Unterschiede 17 35 ff. – Tragfähigkeit 17 74 ff. – Typologie 17 50 ff. Unterschiedsauswechslung 17 84 ff. unterstützte Entscheidungsfindung, s. Assistenz für Menschen mit Behinderungen Unterstützungsmaßnahmen 15 41 UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes 1 29; 5 13; 7 41; 11 28; 16 40 UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung 1 29; 5 74; 6 54; 7 41; 26 10; 9 2 f., 13, 24 f., 29 ff., 54 ff., 68, 75 f., 82 ff., 90, 93, 100 ff., 110 ff., 117 ff., 120 ff.; 15 35 ff., 48, 52 ff., 58, 62; 16 21, 34; 1 41; 23 14; – angemessene Vorkehrungen 1 118 – Fachausschuss 15 4, 16, 19 ff., 25, 35, 38 ff., 53, 64 UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau 1 29; 6 18 f., 54, 88; 7 41; 8 3; 16 40, 42, 57; 21 39, 47; 26 10 Unvereinbarkeits- und Nichtigkeitserklärung 20 34 Unverfügbarkeit 17 59 ff. Unvergleichbarkeit 17 12 ff. unverhältnismäßige Belastung 15 2, 36–37, 40 ff., 52 ff. Unverhältnismäßigkeit der Vorkehrung 15 42 USA 16 26 ff.; 21 2, 7, 15 f., 34, 59 Validität 18 41 ff., 93, 99 ff. – externe Validität 18 104 f. – interne Validität 18 102 f. – statistische Validität 18 101 Verantwortung für Algorithmen 28 35 Verbände 1 70; 5 44; 8 64 f. – Geschlechtsbeschränkung 14 75 ff. – Gemeinnützigkeit 14 77 Verbandsklage 28 101; 26 18 Verbraucherschutz 4 31, 46 verdeckte Diskriminierung 1 51 f.; 14 54 ff.; 16 24 f. – durch allgemein-generelle Regelungen 14 56 – durch legislative Normen 14 57 Verdrängung des Gleichheitssatzes 17 7 ff. Vereinbarungen 23 93, 122 Vereine 12 38 Vereinte Nationen – Ausschüsse 1 31, 71; 6 16, 19 – Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung 26 36, 49
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Sachregister
– Charta der Vereinten Nationen 1 28; 6 15; 7 39; 8 2 – Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion und der Überzeugung 8 3 – Menschenrechtsausschluss 8 3; 26 7 f. – Organe 1 71 Verfahrensanpassungen 15 41 Verfassungsrecht 20 1, 6–7, 24, 29, 34, 52; 24 58, 65 Verfolgung 24 27 vergangene Behinderung 15 50 Vergleichbarkeit 17 12 ff., 126, 138 Vergleichsgruppe 17 46 Vergleichsperson 15 27 Vergleichstatbestand 10 12 f. Vergleichstheorie 17 39 Vergütung 10 52 Verhaltensanreiz – als Zweck einer Ungleichbehandlung 17 124 verhaltensökonomische Ansätze 3 52 ff. – diskriminierende soziale Normen 3 53 ff. – Diskriminierung in wirtschaftlichen Transaktionen 3 57 ff. Verhaltensunterschiede 17 69 Verhältnis zu anderen Anspruchsgrundlagen 23 153 Verhältnismäßigkeit 4 36; 9 88 f.; 10 30 ff.; 17 25, 109 ff., 122 ff.; 20 6, 15, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 34, 35, 5; 23 106; 28 66 ff. – als Strukturprinzip 20 23–24 – der Anpassung nach oben 20 27–29 – von Primäransprüchen 20 25–35 – von Sekundäransprüchen 20 36–52 Verhandlungsgrundsatz 19 4 ff., 24 f. Verlaufsstatistik 27 68, 77 Versagung 15 9, 57 Versicherung 28 57, 79 – Krankenversicherung 23 3 – Rentenversicherung 23 12 – Sozialversicherung 23 8, 10, 59, 123 – Gesetzliche Sozialversicherung 23 10 Verstoß 23 53, 55, 60, 88, 96, 102, 105 f., 108, 110, 127, 130, 139, 141 Verteilungsgerechtigkeit 16 50, 52 Vertragsfreiheit 4 29, 30, 34, 40, 61, 79; 20 24; 24 69 Vertragsrecht 4 31 Vertragsverletzungsverfahren 15 62 Vertragswirksamkeit 4 62 Vertretenmüssen 20 37–38, 46, 48 – für Algorithmen 28 35 Verwaltungsrecht 28 12, 63 ff.
Verwirklichungschancen 16 52 Verwundbarkeit 21 7 f. Verzerrungen 28 15 ff. – technische Verzerrungen (technical bias) 28 15, 86 – Verzerrung durch Datenauswahl (sampling bias) 28 16, 86 – Verzerrung durch die Zuschreibung von Eigenschaften (labelling bias) 28 17, 86 – Verzerrung durch unvollständige Berücksichtigung von Merkmalen (feature selection bias) 28 18, 86 Viktimisierung 20 59–69; 21 12, 93 Völkerrecht 1 27 ff.; 4 78; 5 13, 22, 25, 63; 6 15 ff.; 7 32 ff.; 11 23 ff.; 12 22 f.; 14 50; 15 8 f., 11, 14, 35, 58; 21 59; 24 23, 25, 32 – Ius cogens 7 32 – Rechtfertigung 17 9 f. Volksbegriff des Grundgesetzes (NPD-Urteil des BVerfG) 2 83 ff. Volksverhetzung 21 4, 9, 59 f., 69 f. 75, 79 Volkszugehörigkeit 24 6 Vollbeweis, s. Beweismaß Vollstreckung 4 16 vollziehende Gewalt 4 18 vorkonstitutionelles Zivilrecht 4 23 Vorpositivität 4 30 Vorschlagssysteme 28 9 Vorurteile 3 5, 35; 4 15; 17 90, s. a. Typisierung Vorurteilskriminalität 21 6, 14, 18 ff., 86; 27 40 f. Vorurteilsmotive, Pflicht zur Ermittlung 27 4, 42 ff. Vulnerabilitätserfahrung 4 48 Wahlrecht – Wahlrechtsgrundsätze 16 18, 38, 73 ff. Wahlrechtsausschluss 9 80, 91 Wahrheit 19 4 Wahrscheinlichkeit 19 11 f. – Unterschied 17 70, 86 Wechselverhältnis 15 22 Wehrdienst 16 21 f.; 17 34 Wehrpflicht, s. Wehrdienst Weimarer Reichsverfassung 5 30 – Religionsrecht 8 13, 38 ff., 54 ff. Weiterbildung, s. Bildung welfare magnet thesis 24 56 Weltanschauung 12 43; 21 44 f., 70, 88 Werkstatt für behinderte Menschen, s. Sondereinrichtung Wertungsproblem der Rechtfertigung 17 16, 74 wesentliche Gleichheit 17 16, 138 Wettbewerb 4 43; 28 59
Sachregister
Wiedergutmachung, s. kriegsbedingte Lasten Willkür, – private 4 4, 12, 20, 57, 80 – Verbot 17 103 wirtschaftliche Macht 4 45 Wissenschaftsfreiheit 4 33 Wohnheim für behinderte Menschen, s. Sondereinrichtung Wohnraum 4 13 Wohnsitz 17 43, 58 f., 72 Wohnsitzauflagen 24 42 ff. Wohnungsmarkt 16 18 Wunsiedel-Entscheidung 12 49 f., 84 Würde, s. Menschenwürde Yogyakarta-Prinzipien 6 25 Zeitpunkt der Unterschiede 17 42 Zertifizierung 28 101 Zeugen Jehovas 8 60 ff., 70 Zielfahndung 17 71, 73
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Zivilgesellschaft 1 70 Zivilgesetzgeber 4 39 Zivilpakt, s. Internationaler Pakt über wirtschaftliche soziale und kulturelle Rechte (ICECR/ IPwskR) Zivilrecht, s. Privatrecht Zivilrechtlicher Anwendungsbereich 22 36 ff. Zugang 15 2, 12, 20, 37 f., 40 f., 43 – Anspruch 20 24 – Zulassungsanforderungen 15 6 Zuschreibungen 21 38 – Nachteile 28 74 Zuständigkeit 23 5, 18, 47 Zuständigkeit als Rechtfertigungsgrund, s. Rechtfertigung, Zuständigkeit als Rechtfertigungsgrund Zwang 4 16 Zwangsbehandlung 9 86 ff., 94 ff. Zwecklogik bei Gleichheitssätzen 17 122 ff. zwingende Gründe als Rechtfertigung, s. Rechtfertigung, zwingende Gründe