Habsburg neu denken: Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte 9783205203063, 3205203062

Was heißt es, heute Habsburg neu zu denken? Warum beschäftigt sich eine neue Generation von Wissenschaftler/inne/n aus u

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German Pages 261 [264] Year 2016

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Habsburg neu denken: Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte
 9783205203063, 3205203062

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Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl (Hg.)

Habsburg neu denken

Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa

30 kulturwissenschaftliche Stichworte

2016

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Moritz Csáky zum 80. Geburtstag gewidmet Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch: Kulturabteilung der Stadt Wien – MA 7 Land Steiermark, Referat Wissenschaft und Forschung Universität Graz IKT – Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Das Eisenbahn-Streckennetz in Österreich-Ungarn um 1900. © nach einer Grafik von Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft 1848–1913. Konjunkturelle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter Franz Josephs I., Berlin 1972, S. 189. © 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Sophie Bitter-Smirnov, Wien; Jörg Eipper-Kaiser, Graz Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Layout: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU 978-3-205-20306-3

Inhalt

STICHWORT HABSBURG ZENTRALEUROPA Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 AUSWANDERUNGEN Ursula Prutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19

BAROCK Werner Telesko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .27 CHRISTLICHES ABENDLAND Johann Heiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .34 DEMOKRAT|INN|EN Heidrun Zettelbauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .42 ERINNERUNGSKONKURRENZEN Aleida Assmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .52 FEINDSCHAFTEN Simon Hadler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 GESCHICHTSBILDER Werner Suppanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 HALB-ASIEN Andrei Corbea-Hoisie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 HELDEN Dieter A. Binder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .82 INTEGRATION Christian Peer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .89

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Inhalt

JOSEPHINISMUS Waltraud Heindl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

JUDENTUM UND ANTISEMITISMUS Jacques Le Rider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

KAKANIEN Roland Innerhofer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 KULINARIK Rudolf Jaworski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 LITERATUR-KONSTELLATIONEN Stefan Simonek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 MEHRSPRACHIGKEIT Elena Mannová/Jozef Tancer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 MIGRATION Wolfgang Göderle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 NATIONALISM AND INDIFFERENCE Pieter M. Judson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 ORIENTALISMUS Andre Gingrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 ÖSTERREICHISLAM Franz L. Fillafer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 PLURIKULTURALITÄT Anil Bhatti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 POSTKOLONIALISMUS Jan Surman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Inhalt

REVOLUTION VERSUS RESTAURATION Peter Stachel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 SCHORSKES WIEN Hubert Christian Ehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 THEATERMACHER Elisabeth Großegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 (KULTURELLE) ÜBERSETZUNG Michael Rössner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 UNGARISCHE TÄNZE Cornelia Szabó-Knotik/Barbara Boisits . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 VIELFALT Reinhard Johler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 WIENER SCHMÄH Sabine Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 ZERFALL Helmut Konrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 AUTOR/INN/ENVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 PERSONENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

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Das Eisenbahn-Streckennetz in Österreich-Ungarn um 1900. © nach einer Grafik von Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft 1848–1913. Konjunkturelle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter Franz Josephs I., Berlin 1972, S. 189.

Stichwort Habsburg Zentraleuropa Ein kulturwissenschaftliches Untersuchungsfeld

Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl

Was heißt es heute Habsburg neu zu denken? Warum beschäftigt sich eine neue Generation von Wissenschaftler/inne/n aus unterschiedlichen Disziplinen mit der Vielfalt und Ambivalenz von Zentraleuropa? Welche Einsichten kann uns Habsburg Zentraleuropa als Erfahrungsraum für jeweils gegenwärtige Problemlagen geben?

Die folgenden 30 alphabetisch geordneten Stichworte zu Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa stellen eine Versuchsanordnung dar. Mit diesen Begriffen werden Sondierungen im Feld der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Zentraleuropaforschung unternommen. Die Kulturwissenschaften gehen von gegenwartsrelevanten Fragestellungen aus. Das habsburgische Zentraleuropa als heterogener, plurikultureller Raum wird in den letzten Jahren zunehmend als ein Laboratorium für heutige soziale und kulturelle Prozesse erkannt, die in Europa und darüber hinaus relevant sind. Heterogenitätserfahrungen sind wieder dominant, urbane Lebenswelten werden von sprachlich-kultureller Vielfalt, Mehrdeutigkeit und Ambivalenz bestimmt. Hierfür bildet Habsburg Zentraleuropa eine historische Versuchsstation. Auf das „märchenschöne Mit- und Ineinander aller Kulturen“,1 so bemerkte Robert Musil ironisch, fiel aber auch der Schatten nationaler Konflikte. Homogenität wurde als Wunschbild, Diversität als Bedrohung wahrgenommen. Damit waren Assimilationszwang, Xenophobie und Antisemitismus verbunden.

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Wo sind Spuren der Erfahrung von und des Umgangs mit Diversität, Heterogenität und Polyglossie heute noch wahrnehmbar? Inwiefern sind sie eine kulturelle Ressource? Mit welchen Verwerfungen waren und sind Differenzerfahrungen verknüpft? Wie lässt sich die zentraleuropäische Erfahrung von Pluralität und der Umgang mit Differenz mit der heutigen Migrationsgesellschaft verbinden, die neue Konzepte erfordert? Worin besteht die Relevanz historischer Zentraleuropaerfahrungen für Gegenwartsgesellschaften? Aus der Aktualität dieser Fragen ergibt sich auch das anhaltende wissenschaftliche Interesse an diesem historischen Raum. In 30 Analysen geben die Autor/inn/en Einblick in die vielfältigen Sichtweisen der kulturwissenschaftlichen Forschungslandschaft zu Habsburg Zentraleuropa – ein Begriff, der den Herrschaftsraum Habsburgermonarchie mit dem sozio-kulturellen Erfahrungsraum Zentraleuropa verschränkt.

I.

Habsburg Zentraleuropa hat seit dem Zweiten Weltkrieg eine Vielzahl von Neuentdeckungen durchlaufen. 1950 veröffentlichte Robert A. Kann sein zweibändiges Werk The Multinational Empire, 1964 in Deutsch unter dem Titel Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie erschienen.2 Kann bemerkt in der Einleitung zur deutschen Ausgabe, dass er mit seiner Studie zur Nationalitätenfrage schon 1950 die Hoffnung verbunden habe, „dass die österreichische, im Bereich des Nationalitätenproblems erworbene Erfahrung im Rahmen der in Ostmitteleuropa heute existierenden Staaten, ja selbst über Europa hinaus nutzbar gemacht werden könne.“3 Auch mehr als ein Jahrzehnt später sprach er davon, dass der Habsburgermonarchie „in einem tieferen Sinne eine gewisse Zeitgemäßheit zuzusprechen“ sei. „Unsere Gegenwart wird ja nicht nur von den raschen und kurzen Wellenstößen des Nationalismus beherrscht, die […] das alte Österreich zerstört haben, sondern von der weit mächtigeren und langsameren Woge einer übernationalen Zukunft als Rettung vor der Zerstörung unserer Welt.“ Die Geschichte der Habsburgermonarchie könne man als „Versuch ansehen, eine solche übernationale Ordnung herzustellen.“4 Kann

Stichwort Habsburg Zentraleuropa

war neben anderen aus Zentraleuropa vertriebenen Wissenschaftlern (Hans Kohn, Friedrich Engel-Jánosi) Mitglied des „Habsburg Monarchy Committee“ der „Conference Group of Central European History“, die gemeinsam mit Historikern in Österreich ein internationales Projekt zur Geschichte der Habsburgermonarchie entwickeln sollte. Vor dem Hintergrund des anlaufenden Prozesses der europäischen Integration sowie des Kalten Krieges sollte die Habsburgermonarchie als historischer Modellfall für „die Schaffung supra- oder multinationaler politischer und wirtschaftlicher Einheiten“ untersucht werden, wobei die „Probleme des Vielvölkerstaates“ besonders zu berücksichtigen seien.5 Dieses Projekt scheiterte; ein neuer Anlauf wurde im Rahmen der neu eingesetzten Kommission für die Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften genommen; zum Kommissionsobmann wurde Hugo Hantsch gewählt. 1973 erschien der erste Band der Reihe Die Habsburgermonarchie 1848–1918.6 1972 eröffnete die Kommission für Theatergeschichte Österreichs der ÖAW mit der Veröffentlichung des zehnten Bandes der Reihe Theatergeschichte Österreichs, nach neun Bundesländer-Bänden, die Heftfolge zur Donaumonarchie.7 In den 1980er-Jahren wurde die deutschsprachige Literatur der späten Habsburgermonarchie in zwei Bänden der von Herbert Zeman herausgegebenen Dokumentation Die österreichische Literatur erfasst.8 Das Oesterreichische Musiklexikon der ÖAW- Kommission für Musikforschung, das die Habsburgermonarchie integriert, wurde in den Jahren 2002 bis 2006 unter Federführung von Rudolf Flotzinger publiziert.9 Die kunsthistorischen Habsburgforschungen bezogen sich im Wesentlichen auf Wien. Von 1969 bis 1979 erschien die von Renate Wagner-Rieger herausgegebene elfbändige Reihe des von der Fritz Thyssen Stiftung getragenen Projekts Die Wiener Ringstraße.10 2012 wurde die ÖAW-Reihe Veröffentlichungen zur Bau- und Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg mit dem Band Die Wiener Hofburg 1835–1918, herausgegeben von Werner Telesko, eröffnet.11 Schon in den 1960er-Jahren prägte Claudio Magris das Schlagwort vom „habsburgischen Mythos“ und dekonstruierte damit die bis in die Zeit der Zweiten Republik wirkenden literarischen Konstruktionen

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der Kakanien-Nostalgie.12 Anfang der 1970er-Jahre veröffentlichte William M. Johnston das Buch The Austrian Mind.13 Er rückte damit die Habsburgermonarchie in ein neues, kulturgeschichtliches Licht: Zentraleuropa – Wien, Prag, Budapest – wurde erstmals als jener Raum vorgestellt, aus dem „viele, vielleicht sogar die meisten bahnbrechenden Denker des zwanzigsten Jahrhunderts“ hervorgegangen sind.14 Johnston forderte die Historiker dazu auf, über den Eisernen Vorhang zu blicken: „Es ist an der Zeit, daß der Gelehrte Wien nicht mehr bloß als Konkurrenz von Paris oder Berlin betrachte, sondern vielmehr als Ausgangspunkt von Wegen, die nach Prag oder Budapest führen.“15 Sein Verdienst liegt vor allem darin, die urbanen Zentren der späten Habsburgermonarchie erstmals in der Topografie der Moderne verortet zu haben. Sie sollten weiterhin im Schatten der Moderne-Metropolen Paris, London und Berlin stehen, allein Wien rückte in das Zentrum eines neuen kulturhistorischen Interesses. Mit Wittgenstein’s Vienna16 zeigten Allan Janik und Stephen Toulmin 1973, dass die Philosophie Ludwig Wittgensteins „nur in ihrer Verbindung“ mit dem „historischen und kulturellen Hintergrund“ der Wiener Jahrhundertwende zu verstehen ist.17 II.

Zum Begriff wurde ‚Wien um 1900‘ durch Carl E. Schorskes epoche­ machendes Werk Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture.18 Seine zentrale Hypothese entwickelte er vor dem Hintergrund seiner Wahrnehmung, dass sich die Intellektuellen in den USA des Kalten Krieges und der McCarthy-Ära aus der Politik zurückzogen. Eine analoge Entwicklung erkannte er im Wien des späten 19. Jahrhunderts. Die junge Generation war durch die Erfahrung des Scheiterns des liberalen Projekts ihrer Väter geprägt. Mit dem Verlust des rational-liberalen Wertesystems verloren die Söhne das Vertrauen in die Politik und widmeten sich philosophischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Konzepten des L’art pour l’art. Die „Krise des liberalen Ich“19 brachte zentrale Werke der Wiener Moderne hervor, bildete aber auch den Hintergrund für den Erfolg des populistischen Antisemitismus Karl Luegers.

Stichwort Habsburg Zentraleuropa

In den 1980er-Jahren begann das Wien der Jahrhundertwende eine erstaunliche „Faszination […] auf ganz Europa und Amerika“ auszuüben,20 der Begriff Wiener Moderne (Gotthart Wunberg) wurde geprägt.21 Auch für Vertreter der neuen Nationalismusforschung wurde Habsburg Zentraleuropa zu einem höchst relevanten Forschungsfeld, weil sich hier Prozesse der Ethnisierung von Politik, Recht und Gesellschaft zeigten, die in den vorgeblich homogenen Nationalstaaten in dieser Form nicht erfolgten bzw. nicht wirksam wurden. Zwei Forschungsansätze sollen dafür exemplarisch genannt werden. Gary B. Cohen hat noch vor den Nationalismustheorien von Ernest Gellner und Benedikt Anderson22 in seinem Buch The Politics of Ethnic Survival 23 die Frage gestellt, wie kollektive Identitäten mittels der Kategorie Ethnizität konstruiert wurden.24 Sein Fallbeispiel waren die Deutschen in Prag 1861 bis 1914. Das ambivalente Zusammenspiel von Demokratisierung und zunehmender Nationalisierung in Altösterreich stellt den Ausgangspunkt für Gerald Stourzh’ Analyse der Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918 dar.25 Stourzh hat in seiner Robert A. Kann Memorial Lecture 1989 am Center for Austrian Studies der Universität Minnesota auf die „Ethnisierung der österreichischen Politik“ durch die Einführung der Kategorie Ethnizität (‚Volksstämme‘) in der Verfassung von 1867 hingewiesen.26 III.

Unter dem Vorzeichen der Postmoderne – dem Zerfall der großen Erzählung von Fortschritt und Aufstieg, vom Telos einer ungebrochen verlaufenden Modernisierung – wurde Wien verstärkt als Ort einer Moderne verstanden, die durch Ambivalenzen, Widersprüche und Krisen geprägt war. Bereits in Jean François Lyotards Gründungstext La condition postmoderne27 wird der Zusammenhang der gegenwärtigen „postmodernen Welt“ mit dem „Pessimismus, der die Generation der Jahrhundertwende in Wien genährt hat“, hergestellt.28 Explizit stellte Jacques Le Rider in seinem Buch Modernité viennoise et crises de l’identité29 den Zusammenhang zwischen der Wiener Moderne und „den Konturen dessen, was gegenwärtig als die ‚Postmoderne‘ be-

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zeichnet wird“, her.30 Konkret sind es die Krisen der Identität, die Le Rider bereits als konstitutiv für Wien um 1900 erkannte, wobei er drei miteinander verschränkte Prozesse hervorhob: das „Scheitern“ der „alten Gewißheiten“ von stabilen Identitäten, die in der Wiener Moderne als unabgeschlossen, beweglich und unbestimmt erscheinen, verbunden mit der „Infragestellung der herkömmlichen Geschlechterrollen“ und der „Krise der jüdischen Identität“.31 Um die Jahrtausendwende wurden Wien und Zentraleuropa um 1900 vor dem Hintergrund der Debatten um Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne und Globalisierung erneut signifikant. An der Universität Graz beleuchtete der FWF-Spezialforschungsbereich ‚Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900‘, initiiert von Moritz Csáky, die ­Moderne unter drei neuen Gesichtspunkten: Über das Feld der Kunst hinausgehend wurde die Moderne auch als komplexes soziokulturelles Phänomen verstanden. Inspiriert von postmodernen Erkenntnisinteressen orientierten sich die Forschungen an kulturwissenschaftlichen Analysekategorien, wobei das Augenmerk auf Pluralitäten, Heterogentiäten und Differenzen gerichtet und die Konstruktion von Identität, Alterität und Gedächtnis untersucht wurde. Schließlich wurde über Wien hinaus der zentraleuropäische Raum als vielschichtiger Kommunikationsraum einbezogen, der nicht durch die Grenzen des habsburgischen Herrschaftsbereichs definiert war. Zusammengeführt hat Moritz Csáky seine Thesen zuletzt im Buch Das Gedächtnis der Städte32, in dem er die „urbanen Milieus“ Zentraleuropas mit ihrer „engen Kohabitation von Pluralitäten, von Heterogenitäten und Differenzen“ als „Laboratorien“ für Prozesse von gegenwärtig globaler Relevanz analysierte.33 Ausgehend von „Kultur als Kommunikationsraum“ und der „prinzipiellen Mehrdeutigkeit von Gedächtnis“ versteht Moritz Csáky Zentraleuropa – im Unterschied zum politisch belasteten Mitteleuropa-Begriff – als „dynamischen Prozess“34, als nicht klar abgrenzbaren Raum, der durch sozio-kulturelle Praktiken immer wieder neu generiert wird. Dieses Zentraleuropakonzept schärfte den Blick für die vielschichtigen Machtkonstellationen im habsburgischen Herrschaftsraum, die nun auch unter postkolonialer Perspektive neu beleuchtet wurden.35 Mit dem postkolonialen

Stichwort Habsburg Zentraleuropa

Zugang wurde Habsburg Zentraleuropa in weltweit diskutierte innovative Theoriemodelle eingebettet. Rückblickend wird deutlich, wie sehr der postkoloniale Zugang noch der kulturwissenschaftlichen Leitvorstellung der Differenz verpflichtet war. Die Binarität von Zentrum und Peripherie, von Machteliten und Subalternen, von Eigenem und Fremdem wurde vielfach unhinterfragt vorausgesetzt. IV.

Der gegenwärtige post-postkoloniale Blick stellt diese Dichotomien in Frage. Machtverhältnisse werden neu konzeptualisiert. Sie werden als auf verschiedenen Ebenen, in verschiedenen Akteurskonstellationen, durch unterschiedliche situative Praktiken und „cross-cultural interactions“ produziert und gestaltet interpretiert.36 Die Konstruktion von Identität durch die Herstellung von Differenz wird in den jüngsten Forschungen zu Habsburg Zentraleuropa zunehmend auf den Prüfstand gestellt. Ausgangspunkt ist der Umstand, dass durch den dominanten Diskurs der ethnischen Differenz, der von den nationalen Aktivist/ inn/en geführt wurde, jene Handlungsformen und Lebensweisen, die von Indifferenz gegenüber ethnisch-nationalen Kategorisierungen geprägt waren, ausgeblendet wurden. Pieter M. Judson hat in seinem Buch Guardians of the Nation auf Formen der „national flexibility (or indifference)“37 hingewiesen, die nun zunehmend wissenschaftliche Aufmerksamkeit finden. Zuletzt wurde, maßgeblich angeregt von Anil Bhatti, unter dem Begriff der Ähnlichkeit eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Denkfigur der Differenz und Alterität geführt.38 Das kulturtheoretische Paradigma der Ähnlichkeit schärft den Blick auf alltägliche Praktiken kultureller Begegung, die unter dem Vorzeichen des Denkens in Unterschieden aus dem Blickfeld geraten sind. Wenn nicht Differenz, sondern Ähnlichkeit zur Analysekategorie wird, werden vielfach ,vergessene‘ soziale Praktiken und Formen des Zusammenlebens in den heterogenen, plurikulturellen Gesellschaften Habsburg Zentraleuropas wieder sichtbar.39 Ähnlichkeit, Indifferenz gegenüber nationalen Klassifizierungen und cross-cultural interactions sind heute Leitbegriffe einer neuerlich

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neu gewendeten kulturwissenschaftlichen Zentraleuropaforschung. Dass Zentraleuropa in den letzten Jahrzehnten immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven neu gedacht und erforscht wurde, verweist darauf, dass dieser historische Erfahrungsraum in jeder Gegenwart seine Bedeutung hat und neu an Aktualität gewinnt. Anmerkungen 1 2

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Robert Musil, Buridans Österreicher (14.2.1919), in: ders., Gesammelte Werke II: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 1030–1032, S. 1031. Robert A. Kann, The Multinational Empire. Nationalism and National Reform in the Habsburg Monarchy 1848–1918. 2 Bände, New York 1950. Robert A. Kann, Einleitung zum ersten Band, in: ders., Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches 1918. Band 1: Das Reich und die Völker, Graz/Köln 1964, S. 11–15, S. 13. Ebd., S. 14. Brief von Dr. Wilhelm Schlag, Austrian Consulate General. Cultural Affairs Section, New York, an das Bundesministerium für Unterricht. Abteilung 8, Wien, 26.1.1959. ÖSTA. AdR. BM für Unterricht. 15 B1 – Akademie der Wissenschaften 1945–1959, 1204. 32.372-I/59. Alois Brusatti (Hg.), Die wirtschaftliche Entwicklung (Die Habsburgermonarchie 1848–1918 1), Wien 1973. Wolfgang Binal, Deutschsprachiges Theater in Budapest. Von den Anfängen bis zum Brand des Theaters in der Wollgasse (1889) (Theatergeschichte Österreichs 10, 1: Donaumonarchie), Wien 1972. Herbert Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880–1980). 2 Teile (Die österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Entwicklung), Graz 1989. – Ders. (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1830–1880) (Die österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Entwicklung), Graz 1989. Rudolf Flotzinger (Hg.), Oesterreichisches Musiklexikon. 5 Bände, Wien 2002– 2006. Renate Wagner-Rieger (Hg.), Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche. Die Erweiterung der Inneren Stadt Wien unter Kaiser Franz Joseph. 11 Bände, Wien 1969–1978. Werner Telesko (Hg.), Die Wiener Hofburg 1835–1918. Der Ausbau der Residenz vom Vormärz bis zum Ende des ‚Kaiserforums‘ (Veröffentlichungen zur Bau- und Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg 4), Wien 2012. Claudio Magris, Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna, Turin 1963

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[dt. Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Salzburg 1966]. William M. Johnston, The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848– 1938, Berkeley/Los Angeles/London 1972. William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938 (Forschungen zur Geschichte des Donauraums 1), Wien/Köln/Weimar 42006, S. 19. Ebd., S. 24. Alan Janik/Stephen Toulmin, Wittgenstein’s Vienna, London/New York 1973 [dt. Wittgensteins Wien, München/Wien 1984]. Alan Janik/Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, Wien 21998, S. 32. Carl E. Schorske, Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture, New York 1980 [dt. Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt am Main 1982]. Schorske 1982, S. 195–197. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte, S. X. Hinzuweisen ist auf eine frühe komparatistische Studie zu Wien und Budapest von Péter Hanák, A Kert és a Műhely, Budapest 1988 [dt. Der Garten und die Werkstatt. Ein kulturgeschichtlicher Vergleich. Wien und Budapest um 1900 (Kulturstudien 13), Wien/ Köln/Weimar 1992; engl. The Garden and the Workshop. Essays on the Cultural History of Vienna and Budapest. With a foreword by Carl E. Schorske, Princeton 1998]. Der Begriff Wiener Moderne als Bezeichnung für das künstlerisch-ästhetische Milieu setzt sich in den 1980er-Jahren durch. Vgl. den wegweisenden Band hg. von Gotthart Wunberg unter Mitarbeit von Johannes J. Braakenburg, Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1981. Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Ithaca 1983. – Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Norfolk 1986. Gary B. Cohen, The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prague, 1861–1914, Princeton 1981. Vgl. Cohen, Preface to the Second Edition, in: ders., The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prague, 1861–1914, West Lafayette 22006, S. XIII–IV. Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985, erweiterte Fassung von ders., Die Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848–1918, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Völker des Reiches (Die Habsburgermonarchie 1848–1918 3,1), Wien 1980. Gerald Stourzh, The Multinational Empire Revisited: Reflections on Late Imperial Austria, in: Austrian History Yearbook 23 (1992), S. 1–22. Jean François Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979 [dt. Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986 (vollst. überarb. Fassung der Übersetzung, die in der Zeitschrift Theatro machinarum 3/4,1982 erschienen ist)]. Lyotard 1986, S. 121. Jacques Le Rider, Modernité viennoise et crises de l’identité, Paris 1990 [dt. Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien 1990].

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Le Rider, Das Ende der Illusion, S. 7. Ebd. S. 418, S. 7. Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar 2010. Ebd., S. 62, S. 94, S. 364f. Ebd., S. 55–57. Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch, Moritz Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 2), Innsbruck u. a. 2003. Kapil Raj, Beyond Postcolonialism … and Postpositivism. Circulation and the Global History of Science, in: Isis 104 (2013), S. 337–347, S. 343. Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge, Mass. 2006, S. 5. – Pieter M. Judson, Tara Zahra, Introduction, in: Austrian History Yearbook 43 (2012), S. 21–27 (Themenschwerpunkt: Sites of Indifference to Nationhood). Anil Bhatti/Dorothee Kimmich (Hg.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, Konstanz 2015. Anil Bhatti, Heterogeneities and Homogeneities. On Similarities and Diversities, in: Johannes Feichtinger/Gary B. Cohen (ed.), Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience (Austrian and Habsburg Studies 17), New York/Oxford 2014, S. 17–46.

Auswanderungen Ursula Prutsch

Lateinamerika war zwischen 1876 und 1914 das Auswanderungsziel von etwa 300.000 Untertanen Kaiser Franz Josephs. Während die Migration in die USA weit besser dokumentiert ist, liegt für Migrationen nach ­Lateinamerika noch keine einzige Monografie vor. Das wissenschaftliche Potenzial dieses Forschungsfeldes wird hier anhand von drei Beispielen skizziert. Etwa 300.000 Untertanen der Habsburgermonarchie wanderten zwischen 1876 und 1914, im Zeitalter verdichteter Globalisierung, nach Lateinamerika aus. Dort lebten sie ihre plurikulturelle Vielfalt weiter.1 Durch den Kontakt mit Fremden, aber auch mit ethnopolitischen Praktiken ihrer Herkunftsgruppe nationalisierten sie sich zusehends. Bislang gibt es keine einzige Monografie über die Migration2 aus der Donaumonarchie nach Lateinamerika, weder aus europäischer noch aus lateinamerikanischer Perspektive. Anhand dreier Beispiele aus Brasilien, Chile und Argentinien soll gezeigt werden, wie historische Erfahrungen in das Aufnahmeland tradiert wurden, wie Nationalitäten reagierten, als ihre Heimat sich in den Ersten Weltkrieg hineinmanövrierte und wie sich Identitäten heute manifestieren. Beispiel 1: Transatlantische Konflikte in Brasilien

Als in Europa der Erste Weltkrieg ausbrach, begannen sich auch italienischsprachige Gemeinden in Brasilien zu rüsten. Reservisten schifften sich nach Italien ein, Geld wurde für die italienische Armee gesammelt, doch nicht von allen. Pro-österreichische italienischsprachige Zeitungen riefen ihre Leserschaft zu Spenden für den Ausbau

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Ursula Prutsch

Büste des ukrainischen Nationaldichters Taras Shevchenko in Apóstoles, Provinz Misiones (Argentinien), errichtet am 28. August 1977 anlässlich des 80. Jahrestages der ruthenisch/ukrainischen Einwanderung aus Galizien. © Claudia Stefanetti, 2013

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der k. u. k. Luftstreitkräfte auf. Es entbrannte ein propagandistischer Stellvertreterkonflikt in Medien und Clubs, ein virtueller Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Italien. In manchen Fällen endeten die Konflikte tödlich: Im Staat São Paulo wurde der Trentiner Massimilano Correr 1916 von italienischen Migranten gelyncht, weil er sie mit seinem Habsburg-Patriotismus provoziert hatte. Diese cultural clashes waren die Folge ethnischer Inklusions- und Exklusionsprozesse, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nach Lateinamerika transferiert wurden. Dort waren die Untertanen der Monarchie auf der Suche nach Wiederverortung in neue pluriethnische Kontexte geraten. Die Auseinandersetzung mit den jeweils ‚Anderen‘ konnte prägend wirken, die Verfestigung der eigenen Identität gestärkt werden, gerade auch durch massive politische Einflüsse. Denn ein Instrument nationalistischer Identitätspolitik in Lateinamerika war der italienische Schulverein Dante Alighieri. Er warb bei italienischsprachigen Auswanderern aus Tirol (heute Südtirol und Trentino) und Triest mit dem Ideal des Risorgimento, der ethnischen ‚Erlösung‘ von der habsburgischen Knechtschaft. Deshalb galt er den österreichisch-ungarischen Diplomaten in Brasilien als gefährlicher Akteur einer Irredenta-Politik. Da die italienische Sprache nicht distinktiv wirken konnte, führten pro-österreichische Akteure vor Ort das katholische Kaiserhaus Habsburg als Identitätswaffe gegen den laizistischen italienischen Staat ins Feld. Zu ihnen gehörten nicht nur die Konsuln und Angehörigen militärgeografischer Expeditionen, die alle paar Jahre die Kolonisten aufsuchten, Kaiserbilder und Partituren vom Radetzkymarsch verteilten, sondern vielmehr auch Ordensgeistliche, die ihre Schüler in deutscher, italienischer und portugiesischer Sprache unterrichteten. Die Lehrbücher für die italienische und deutsche Sprache kamen aus Wien. Die Lehrer vermittelten, dass der Vielvölkerstaat auch eine trentinische und Tiroler Identität zugelassen habe, dass er durch seinen Katholizismus die wahre Italianität verkörpere, während die Politik der Irredenta nur diejenige kollektive Identität akzeptiere, die sich mit dem sprachlich homogenen Nationalstaat decke. Abgesehen von der Loyalität zum Haus Habsburg spielten auch regionale Identitäten eine Rolle. Gerade die Ordensgeistlichen förderten

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in Brasilien den Anbau von Tabak und sorgten für seinen Export ins Trentino. Das Beispiel zeigt, dass der lange Arm der Nationalitätenpolitik Europas im Ersten Weltkrieg bis nach Lateinamerika ausgriff und dass vor Ort etwa Migranten aus Italien, von denen sich viele primär als Sizilianer, Lombarden und Kalabrier fühlten, und italienischsprachige Österreicher „unter dieselbe Flagge geholt werden sollten“. Es zeigt aber auch, dass die Habsburgermonarchie Nationalismen durch Institutionen des nation building, durch Schulen, Lehrbücher und supraethnische Identifikationssymbole selbst in Lateinamerika zu unterbinden versuchte.3 Beispiel 2: Schöne Neue Welt vs. altes dekadentes Europa

Nach Chile waren seit den 1880er-Jahren auch österreichische Kroaten aus Dalmatien migriert.4 In Antofagasta publizierte die kroatischsprachige Gruppe auch anti-habsburgische Artikel in spanischer Sprache. Ihre alte Heimat beschrieb sie darin als loses Konglomerat von Nationalitäten, Sprachen und Ländern, weshalb sie sich als „kroatische Gemeinde“ bezeichnen wollte. Von Vernachlässigung der slawischen Völker war die Rede, von deutschem, das heißt deutschsprachigem Überlegenheitsgefühl und von mangelnden Investitionen in wirtschaftliche Strukturen des nation building. So habe die Habsburgermonarchie als europäischer Staat nicht einmal eine solide ­Eisenbahnverbindung in Dalmatien zustande gebracht, die Chilenen auf ihrem Territorium, das jenem von Dalmatien allein schon geografisch ähnlich sei, allerdings schon. Allein diese Aussage zeigt, dass das Paradigma von Europa als Zentrum und Lateinamerika als Peripherie zu hinterfragen ist. Die Kroaten von Antofagasta traten aus dem Österreichisch-Ungarischen Hilfsverein aus und gründeten einen eigenen. 1910, zum Jahrestag der Unabhängigkeit Chiles, stifteten sie die Asphaltierung eines Platzes. Auf die dazugehörige Gedenktafel schrieben sie „La colonia croata“, nachdem sie „La Colonia Austro-Croata“ verworfen hatten. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg berichtete der lokale k. u. k.

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Konsul immer wieder von Landesverrat und Majestätsbeleidigung an die Behörden des dalmatinischen Heimatbezirkes Ragusa (heute Dubrovnik). Diese klagten die renitenten Untertanen in Chile an. Das zuständige Gericht sprach sie allerdings frei. Als 1914 die Aufforderung aus Österreich-Ungarn an alle Reservisten ging, nach Europa zurückzukehren, ließ die chilenische Gemeinde ausrichten, dass man die Waffen nicht gegen die slawischen Brüder erheben würde. Nur wenige schifften sich nach Europa ein. Beispiel 3: Rückkoppelungen und Re-Ethnisierungen in Argentinien

In den Jahren um 1900 ließen sich polnische und ruthenische Auswanderer aus Galizien in den Weilern Apóstoles, Azara und Tres Capones in der nordargentinischen Provinz Misiones nieder. Misiones war und ist ein Grenzraum, ein Gebiet, das durch den Tripel-AllianzKrieg (1865–1870) verwüstet und danach der Zentralregierung direkt unterstellt worden war. Trotz familiärer Verbindungen transferierten Polen und Ruthenen (Ukrainer) inter-ethnische Rivalitäten und Probleme in die neue Heimat. Weil während einiger Jahre nur ein römisch-katholischer Geistlicher in der Gemeinde lebte, kämpften die griechisch-katholischen Ukrainer um das Recht eines eigenen religiösen Vertreters und den Bau einer Kirche. Durch den Einfluss orthodoxer Geistlicher aus den USA war unweit der Gemeinde Apóstoles in Tres Capones eine kleine russisch-orthodoxe Kirche entstanden. Das österreichische Bildungsministerium sandte bis 1918 Schulbücher in polnischer und ukrainischer Sprache auch nach Misiones, damit seine Untertanen loyal blieben. Die österreichischen Polen sollten sich nicht mit jenen aus Russland und dem Deutschen Reich zusammentun und für einen unabhängigen Staat kämpfen und die Ukrainer sich nicht von den Russen religiös beeinflussen lassen. Zudem gab es Rückwanderer, Korrespondenz und Familiennachzug. Die transatlantischen Verbindungen blieben aufrecht.5 In den 1920er-Jahren erfasste der argentinische Nationsbildungsprozess auch den Grenzraum Misiones. Argentinische Friedhofsordnungen verwischten systematisch die europäische Gräberarchitektur.

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Staatliche Schulen ersetzten den polnischen und ukrainischen Sprachunterricht. Trotzdem spielten alte Identitäten eine gewisse Rolle. Ob diese durch Zuzug aus Europa gestärkt wurden, ob politisch-ideologische Einflussnahmen im Kalten Krieg eine Rolle spielten, wäre noch zu erforschen. Im Jahr 2003 feierten die Bewohner der Stadt Apóstoles den 106. Jahrestag ihrer Einwanderung. Sie waren Argentinier und Argentinierinnen geworden, bewahrten jedoch noch immer Elemente ihrer europäischen Identitäten. Die einen fühlten sich als Polen, die anderen als Ukrainer bzw. Ruthenen. Repräsentanten anderer Ethnien hatten sie ebenfalls zum Fest eingeladen. Während der polnische Vertreter Juan Boyko die Schwierigkeiten der Akkulturation thematisierte und das Reüssieren im neuen Kontext pries, hielt der ukrainische Vertreter Angel Snihur eine flammende Rede über die Freiheit, die man in Argentinien habe erwerben können, nach jahrhundertelanger Unterdrückung durch die Habsburgermonarchie. Im Jahr 2003 fand im Rahmen der bereits genannten Einwanderungsfeier auch eine Raumaneignung auf dem Feld des EthnischSymbolischen im Dorf statt. Die polnische Gemeinde der kleinen Stadt ließ aus Buenos Aires eine Büste der gebürtigen Polin Marie Curie kommen und weihte sie gemeinsam mit den anderen Nationalitäten ein. Die Büste war der Ausdruck eines interethnischen Wettbewerbs. Denn 1922 hatten die Polen eine Christusstatue errichtet. Die Ukrainer hatten später mit einer Statue ihres Staatsdichters Taras Shevchenko geantwortet. Solche Statuen sind in Argentinien nicht unüblich und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet worden. Nun waren wieder die Polen dran. Da Papst Johannes Paul II. noch lebte, fand man in Marie Curie eine gendergerechte Alternative. Dieses Beispiel illustriert, wie das Wir-Gefühl in der kollektiven Interaktion konkurrierender Gruppen durch symbolische Handlungen gefestigt wird. Während die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität aufrechterhalten wurde, war das Wissen um die Geschichte des Sendestaates, die Habsburgermonarchie, vage und nur noch im PrivatSymbolischen (Militärbriefe, Vornamen wie Francisco José, Lieder) präsent.

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Migrationsgeschichte tendiert oft dazu, Ethnien aus einem nationalstaatlichen Kontext heraus oder essenzialistisch zu interpretieren. Die Migrationsgeschichte der Habsburgermonarchie kann eine Reihe von alternativen Perspektiven bieten. Im Habsburgerreich waren räumliche, ethnische und sprachliche Identitäten allein durch die Praxis interethnischen Zusammenlebens eng miteinander verwoben. Dies signalisiert die Notwendigkeit, die Einwanderung aus diesem europäischen Großraum nach Lateinamerika zu rekonstruieren, im Sinne kollektiver, aber auch akteursorientierter Handlungsebenen. Wenn der Begriff der kollektiven Identität solcherart rehabilitiert wird, kann nach emanzipatorischen und partizipatorischen Selbstermächtigungsstrategien gefragt werden, und zwar in diversen Rahmen und Räumen, der Region, des Nationalstaats, der transnationalen Verbindungen und der transatlantischen. Ob bei Armuts-Auswanderern aus den habsburgischen Peripherien supra-ethnische Habsburg-Identitäten überhaupt eine Rolle spielten, wäre zu fragen. Doch allein wenn diese Migranten in Schwierigkeiten gerieten, wenn sie Schulbücher brauchten oder Geistliche, wandten sie sich an die Vertreter ihres Sendestaates. War die Habsburgermonarchie zwar ein Imperium ohne Kolonien, so versuchte sie doch z. B. auf Lateinamerika aus staatspolitischen und wirtschaftlichen Gründen Einfluss zu nehmen. Zugleich fürchtete der Habsburgerstaat um seine Existenz. Denn gerade Krisen wie der Erste Weltkrieg beflügelten die Nationalismen und beeinflussten auch jene Ethnien, die sich durch Migration aus den ehemaligen Staatsverbänden gelöst hatten und sich in völlig neue Räume und Kontexte einfügen mussten. Anmerkungen 1 2 3

Ursula Prutsch, Von Indigenen, Europäern und Japanern: die Globalisierung Paranás im frühen 20. Jahrhundert, in: Georg Fischer/Christina Peters/Stefan Rinke/ Frederik Schulze (Hg.), Brasilien in der Welt. Region, Nation und Globalisierung 1870–1945 (Globalgeschichte 14), Frankfurt am Main 2013, S. 139–163. Zu Migrationstheorien und -reflexionen vgl. Dirk Hoerder, Cultures in Contact: World Migrations in the Second Millennium, Durham/London 2002. – Dirk Hoerder (ed.), European Migrants: Global and Local Perspectives, Boston 1996. João Fábio Bertonha, „Una guerra di carta“. Giornali italiani e austro-ungarici di lingua italiana in Brasile durante la Prima guerra mondiale, in: Giuseppe Ferraro

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(ed.), Dalle Trincee alle Retrovie. I molti fronti della Grande Guerra, Arcavacata di Rende 2015, S. 7–34. – Vgl. Leopold von Andrian, Tagebuch Nr. 73 [1902, S. 8–15, S. 40–68], in: Ursula Prutsch/Klaus Zeyringer (Hg.), Leopold von Andrian (1875– 1951), Wien/Köln/Weimar 2003, S. 126–133. Ich danke Milagros Flener für die wichtigen Hinweise zu Chile. Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (AT-OeStA/HHStA) Wien MdÄ, AR, F 15–57. – Vgl. Ursula Prutsch/Claudia Stefanetti Kojrowicz, Apóstoles y Azara: dos colonias polacas-rutenas en Argentina visto por las autoridades austro-húngaras y argentinas, in: Josef Opatrny (ed.), Emigración Centroeuropea a América Latina, Praga 2003, S. 147–160.

Barock Werner Telesko

Die Habsburgermonarchie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zeichnet eine überaus breite Verwendung des Barockbegriffs aus, die eng mit dem facettenreichen Selbstverständnis der politischen Rolle dieser ­Dynastie in Mitteleuropa verknüpft ist. Entscheidende Grundlagen für eine Reaktivierung des Barock in der Habsburgermonarchie lieferte einer der prominentesten Kritiker des Architekten Gottfried Semper, der Wiener Kunsthistoriker Albert Ilg (1847–1896), der mit Heinrich Kábdebo (1853–1881) und Emerich Ranzoni (1823–1898) zu den wichtigsten Advokaten des Barock in der zweiten Jahrhunderthälfte gezählt werden muss. Was bei Ilgs Zugang hinsichtlich der Barockrezeption im Gegensatz zu vielen anderen Einschätzungen dieser Epoche als neuartig bewertet werden kann, ist eine extensive Verknüpfung des Barock mit einer ideologisch aufgeladenen Argumentation, deren Ausrichtung und Funktion nur aus den politischen Rahmenbedingungen ihrer Entstehungszeit erklärbar sind.1 Albert Ilg lieferte zum einen wissenschaftliche Vorarbeiten zur Bedeutung der barocken Kunst, insbesondere zu den künstlerischen Leistungen des älteren und jüngeren Fischer von Erlach.2 Zum anderen ist Ilg der Verfasser der im Jahr 1880 unter dem Pseudonym Bernini der Jüngere veröffentlichten Broschüre Die Zukunft des Barockstils, die ein vehementes Plädoyer für den Neobarock, der darin als typisch „österreichischer“ Stil vorgestellt wird, darstellt. Tragend bei seinen Ausführungen ist die Vorstellung einer seit dem Barock angeblich stattfindenden langsamen Emanzipation Österreichs aus dem Heiligen Römischen Reich.3 Ilgs ausgesprochene Wertschätzung des Barock beruht zu einem wesentlichen Teil auf seiner Interpretation

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Österreichisches Reichshaus, Weltausstellung Paris 1900. © ÖNB VUESII28801

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einer historischen Problemstellung, weil ihm zufolge gerade zur Zeit der Entstehung der barocken Kunst Österreich den Gipfelpunkt seiner politischen Machtentfaltung erreicht habe: „Erst seit dieser Zeit (dem Barock [W. T.]) schälte sich, wenn auch lange noch nicht in officieller Form, der Begriff eines österreichischen Staatswesens von dem bisherigen unklaren Durcheinander ab.“4 Ein zentrales Leitmotiv seiner Argumentation bestand somit darin, eine bestimmte historische „Glanzzeit“ Österreichs zur Begründung des neobarocken Stils der neuen franzisko-josephinischen Ära heranzuziehen: „Wäre es ein Unglück, wenn die Kunstblüthe aus den Tagen Leopold’s, Karl’s des Sechsten und der großen Theresia sich für uns erneuerte? Und würde eine solche zweite Auflage der glänzenden Barockkunst Oesterreichs, dieses ersten und einzigen Stils, möchte ich sagen, den sich Oesterreich selber gegeben hatte, nicht zum Volkscharakter wieder auf’s Harmonischeste stimmen.“5 Von Ilg bis zu Oswald Redlich (1858–1944) nahm somit die „Bildung der Großmacht Österreich“6 eine zentrale Stellung in Bezug auf die politisch unterlegte Begründung der barocken Kultur ein. Das monumentale Epos des Numismatikers und Historikers Viktor von Renner (1846–1943), Wien im Jahre 1683. Geschichte der zweiten Belagerung Wiens durch die Türken im Rahmen der Zeitereignisse (1883), formulierte im Vorwort eine noch explizitere Sichtweise: Hier wird argumentiert, dass der Entsatz Wiens (1683) die „heutige Größe der österreichisch-ungarischen Monarchie“7 begründet habe. Als grundlegendes Argumentationsprinzip ist bei den genannten Publikationen eine Rekonstruktionsabsicht zu konstatieren, die auf der Basis historischer Umstände vorgibt, den Barock vor allem geschichtlich zu verstehen und damit dessen kulturelle Relevanz zu begründen versucht. Auf dieser Grundlage wurde dem „österreichischen Barock“ die Rolle einer geschichtlichen Leitkategorie im Selbstverständnis der Habsburgermonarchie zugeordnet. Martin Warnkes Feststellung, dass beim Bekenntnis zum Neobarock in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts generell „ästhetische Vorlieben zugunsten politischer Assoziationen zurücktreten“8, trifft somit auch für Ilgs Sichtweise zu. Die von Letzterem wiederholt her-

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vorgehobene besondere Bedeutung der Rolle, die innerhalb der österreichischen Kunstgeschichte gerade dem Haus Habsburg als Kunstförderer zugekommen sei,9 steht für ihn keineswegs in Widerspruch zur Verwurzelung des Barockstils im österreichischen „Volkscharakter“ – sie bedingt diese vielmehr: Denn gerade die Mäzene Habsburgs hätten es einerseits immer verstanden, ihre Bestrebungen im Einklang mit dem „Volkscharakter“ zu halten und andererseits durch ihre kunstpolitischen Maßnahmen auch gleichsam zur „ästhetischen“ Erziehung des Volkes beigetragen.10 Ilg verfasste sein Plädoyer für den Barock als dynastisch-übernationalen Stil zu einer Zeit, als der habsburgische Staat zunehmend den politischen Druck nationaler Bewegungen verspürte. Auf diese höchst sensible Verbindung zwischen Kunst und Ethnie geht auch Ilg ein: Der Barockstil sei – ihm zufolge – in besonderem Maße dadurch gekennzeichnet, dass er „alle Völkerindividualitäten zu verschmelzen“11 imstande gewesen sei. Eine Spezifizierung kultureller Heterogenität erfolgte jedoch bei ihm nicht. Die „österreichische Barocke“ besitzt auch später in Hans Tietzes (1880–1954) Interpretation, die in einem Sammelband mit deutlich kriegspropagandistischem Hintergrund erschienen ist, alle notwendigen Eigenschaften eines „wahrhaft natio­ nalen Stils“, der „grundlegende Eigenschaften des Volkstums“ in der Kunst spiegeln würde.12 Damit wird ergänzend zur eingangs referierten Argumentation der Parallelisierung von politischer und kultureller Blütezeit nun primär der Stimmungswert bzw. das (nationale) Gefühl als Differenzierungsmerkmal eingesetzt.13 Dieser Aspekt erfuhr im Kontext der Habsburgermonarchie selbst wiederum eine nationale Verdichtung, als gerade in der tschechischen Architektur im späten 19. Jahrhundert ein gesteigertes Interesse am „alten Prag“, also an der eigenen barocken Tradition, festzustellen ist.14 Mit Alois Riegl (1858–1905) und Max Dvořák (1874–1921) als prominenten Exponenten der Wiener Schule der Kunstgeschichte wurde schließlich die Auseinandersetzung mit der barocken Kunst auf eine fachwissenschaftlich neue Ebene gehoben, die primär die künstlerischen Eigenarten des Barock ins Zentrum stellte.

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Der Barock ist bei den hier zitierten Autoren somit kein „abgeschlossener oder abschließbarer Stil- oder gar Epochenbegriff“15, sondern primär ein „Ausdruck bestimmter allgemein kultureller Strömungen“16. Dazu kommt, dass Bedeutung und longue durée des ,habsburgischen‘ Barock seit dem 19. Jahrhundert vor allem mit der als elementar für die Dynastie angesehenen katholischen Barockfrömmigkeit (Pietas Austriaca)17 begründet wurden. Die unterschiedlichen Bezüge auf den Barock demonstrieren somit eine äußerst flexibel gehandhabte „Erinnerungstechnik“18, die sowohl monarchischer Stabilisierung und historischer Rekonstruktionsabsicht als auch der Entdeckung der ‚Modernität‘ barocker Kultur dienen konnte. Die besonders im Verlauf des 20. Jahrhunderts favorisierte Sichtweise auf den österreichischen Barock als „goldenes Zeitalter der österreichischen Kunstgeschichte“19 stilisierte diese Epoche vollends zu einer emotional aufgeladenen Projektionsfläche des Schöpferischen als des kulturell Eigenen. Der Barock blieb auch in den Jahren nach 1945 ein fixer Referenzpunkt des vermeintlich ‚Österreichischen‘ und nicht des kulturell Heterogenen. Besonders deutlich wird dies in einer Publikation von Bruno Grimschitz, Rupert Feuchtmüller und Wilhelm Mrazek20 zur barocken Kunst (1962), in der es primär um das Einschmelzen von Heterogenität zu etwas spezifisch „Österreichischem“ geht. Aus dieser Perspektive ergibt sich für Grimschitz eine lineare Abfolge des „Eindringens“ fremder Formenwelten im 16. Jahrhundert, der „Verarbeitung“ im 17. Jahrhundert und der „Befreiung von ihnen“ an der Wende zum 18. Jahrhundert, die schließlich „die großartigste Offenbarung der österreichischen Schöpferkraft“21 mit sich gebracht habe. Charakteristisch für die Verwendung des Barockbegriffs im habsburgischen Kontext seit dem 19. Jahrhundert ist somit ein multivalentes Changieren zwischen unterschiedlichen Ebenen und Argumentationsweisen, die jüngst treffend als ein „in seinen Konturen pulsierendes, flexibles Cluster von Charakteristika jenseits einer konkreten historischen Zuordnung“22 beschrieben wurden. In den letzten Jahrzehnten gewannen Begriff und Epoche des Barock – besonders in Bezug auf die bildende Kunst – neue Aktualität.

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Zum einen scheint der Barock mit seiner deutlich multimedialen und interdisziplinären Verfasstheit sowie mit seinem ausgeprägten Kult des enactment, an die bereits Walter Benjamin mit seiner wegweisenden Charakterisierung einer barocken „Verflechtung aller Künste“23 erinnerte, ästhetischen Prozessen im frühen 21. Jahrhundert verwandt,24 zum anderen bedeutete die durch Ausstellungen scheinbar bruchlos erlebbar gemachte Wiedervergegenwärtigung des barocken Lebens (-gefühls) eine ungeahnte Trivialisierung und Kapitalisierung dieser Epoche, die zudem eine höchst fragwürdige und letztlich endgültig enthistorisierte Gegenwärtigsetzung des Barock zur Folge hat. Anmmerkungen

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Peter Stachel, „Vollkommen passende Gefäße“ und „Gefäße fremder Form“. Die Kritik des Kunsthistorikers Albert Ilg (1847–1896) an der Architektur der Wiener Ringstrasse, ihr identitätspolitischer Hintergrund und ihre kunstpolitischen Auswirkungen, in: East Central Europe. L’Europe du Centre-Est 33 (2006) 1–2, S. 267– 288. Peter Stachel, Albert Ilg und die „Erfindung“ des Barocks als österreichischer „Nationalstil“, in: Moritz Csáky/Federico Celestini/Ulrich Tragatschnig (Hg.), Barock – ein Ort des Gedächtnisses. Interpretament der Moderne/Postmoderne, Wien/ Köln/Weimar 2007, S. 101–152, hier S. 106. Albert Ilg/Antonio Beduzzi, in: Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien 30 (1894), S. 67–77, hier S. 74. Bernini der Jüngere [Albert Ilg], Die Zukunft des Barockstils. Eine Kunstepistel, Wien 1880, S. 40f. – Vgl. Peter Haiko, Semper und Hasenauer. Kosmopolitische Neorenaissance versus österreichischer Neobarock, in: Cornelia Wenzel (Red.), Stilstreit und Einheitskunstwerk. Internationales Historismus-Symposium Bad Muskau, Juni 1997 (Muskauer Schriften 1), Dresden 1998, S. 199–208, hier S. 199. Ilg 1880, S. 42. – Haiko 1998, S. 199. Oswald Redlich, Das Werden einer Großmacht. Österreich von 1700 bis 1740, Wien 4 1962 (Leipzig 11938), S. 241. Victor von Renner, Wien im Jahre 1683. Geschichte der zweiten Belagerung der Stadt durch die Türken im Rahmen der Zeitereignisse. Aus Anlaß der zweiten Säcularfeier, Wien 1883, S. V. Martin Warnke, Die Entstehung des Barockbegriffs in der Kunstgeschichte, in: Klaus Garber (Hg.), Europäische Barock-Rezeption 2 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 20), Wiesbaden 1991, S. 1207–1223, hier S. 1213f. Albert Ilg, Das Haus Habsburg und die Kunst in Oesterreich, in: Die Dioskuren. Literarisches Jahrbuch des ersten allgemeinen Beamten-Vereines der österreichisch-ungarischen Monarchie 5 (1876), S. 32–40.

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Ilg 1876, S. 32f. Ilg 1880, S. 34. Hans Tietze, Die Kunst des Renaissance und der Barocke in Österreich, in: Adam Müller-Gutenbrunn (Hg.), Ruhmeshalle deutscher Arbeit in der österreichischungarischen Monarchie, Stuttgart/Berlin 1916, S. 254–263, hier S. 263. Haiko 1998, S. 206. Alena Janatková, Barockrezeption zwischen Historismus und Moderne. Die ­Architekturdiskussion in Prag 1890–1914, Zürich/Berlin 2000. – Dies., Barock auf der Landesausstellung Böhmens in Prag 1891, in: Csáky/Celestini/Tragatschnig 2007, S. 65–78. Andreas Nierhaus, Höfisch und Österreichisch. Zur Architektur des Neobarock in Wien, in: Csáky/Celestini/Tragatschnig 2007, S. 79–100, hier S. 82. Nierhaus 2007, S. 82. Anna Coreth, Pietas Austriaca. Österreichs Frömmigkeit im Barock (Schriftenreihe des Instituts für Österreichkunde), Wien 1959 (21982, amerikanische Übersetzung: Indiana 2004). Warnke 1991, S. 1212. Oswald Redlich, Über Kunst und Kultur des Barocks in Österreich (Akademie der Wissenschaften in Wien, phil.-hist. Klasse. Historische Kommission, Sonderabdruck), Wien/Leipzig 1943, S. 333–379, hier S. 333. Werner Telesko, Visual Arts and Iconography, in: Thomas Wallnig/Johannes Frimmel/Werner Telesko (Hg.), 18th Century Studies in Austria 1945–2010 (Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich. Internationale Beihefte 4), Bochum 2011, S. 131–147. Bruno Grimschitz/Rupert Feuchtmüller/Wilhelm Mrazek, Barock in Österreich, Wien/Hannover/Bern 1962, S. 6. Nike Bätzner, Einleitung. Die Aktualität des Barock, in: dies. (Hg.), Die Aktualität des Barock, Zürich/Berlin 2014, S. 11–20, hier S. 12. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928), hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1982, S. 154, hier S. 159. Bätzner 2014, S. 13–15.

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Christliches Abendland Johann Heiss

Das als politisches und religiöses Instrument gebrauchte Schlagwort vom christlichen Abendland ist in seiner Verwendung auf Zentraleuropa, genauer auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Es wurde und wird vor allem zu einer übernationalen Harmonisierung und Homogenisierung des christlichen Europa nach innen und außen, oft jedoch auch zu einer tiefgehenden Dichotomisierung Europa/Asien bzw. Christentum/Islam gebraucht. Morgen und Abend gehören zu jenen in vielen Sprachen vorhandenen naturbezogenen Metaphern für Himmelsrichtungen, die für den Osten (z. B. Orient, Anatolien, Levante) und für den oft als Gegenteil empfundenen Westen (Hesperia und Okzident) verwendet werden. Das machte z. B. die byzantinische Kaisertochter Anna Komnena, als sie in ihrer Darstellung der Regierungszeit ihres Vaters über die Europäer schrieb, die sich im Zuge des so genannten Ersten Kreuzzugs im Winter 1096/97 vor Konstantinopel sammelten. Für Anna, damals 13 oder 14 Jahre alt, stellten die Europäer eine Bedrohung dar, die sie vierzig Jahre später wie folgt verdeutlichte: „Der ganze Abend nämlich (πᾶσα γὰρ ἡ ἑσπέρα) und jede Art Barbaren, die jenseits der Adria bis hin zu den Säulen des Herakles die Erde bewohnt, alle sind sie dichtgedrängt aufgebrochen und durch das dazwischen liegende Europa nach Asien marschiert.“1 Mit dem Gebrauch der stark abstrahierenden Metapher vom „ganzen Abend“ hat Anna eine kompakte Masse aus den Abendländern/Europäern gemacht und ihnen, ohne sie zu nennen, die ebenso kompakte Masse der Morgenländer/Asiaten konträr gegenübergestellt. Weiters hat sie, was bei einem derartigen Einsatz dieser Metaphern praktisch immer geschieht, ein Wertungsgefälle dazu ge-

Christliches Abendland

Marco d’Aviano feuert die Entsatztruppen vor der Entscheidungsschlacht an. Statue von Hans Mauer vor der Kapuzinerkirche in Wien, 1935 enthüllt. © Johannes Feichtinger, 2010

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liefert, denn die, die aus dem Abend, aus Europa kamen, waren Barbaren. Dass Anna die Byzantiner als das Gegenteil von Barbaren sah, ist auch ohne ausdrückliche Feststellung zu verstehen. Meist wurde der Westen, das spätere Abendland, zunächst abgewertet, so etwa beim christlichen Apologeten Lactantius (er lebte ungefähr zwischen 250 und 320 in Nordafrika), der den Westen (occidens) mit Finsternis und Tod in Verbindung brachte, den Osten (oriens) jedoch mit Licht und Leben: „Nam sicut lux orientis est, in luce autem uitæ ratio uersatur, sic occidentis tenebræ sunt. in tenebris autem et mors et interitus continetur.“2 Diese Bewertung sollte sich gründlich ändern. Wie wenige andere Metaphern eignen sich die für Himmelsrichtungen dazu, starke Homogenisierungen bis hin zu Dichotomien herzustellen, vor allem dann, wenn mit ihnen als abstractum pro concreto Bewohner/ innen der Himmelsgegenden gemeint sind. Die Kombination von Abend mit Land bringt zwei Vorstellungen ein, die dem Schlagwort weiteres Gewicht geben und seine Verwendbarkeit erhöhen. Es ist die Andeutung von einem klar umschreibbaren Gebiet, von geografischen Grenzen, die in ihrer Unschärfe die Funktio­ nalität, nämlich In- und Exklusion, vergrößern und Aktualisierungen erleichtern. Andererseits geht es aber auch darum, den Vorstellungen nationaler Grenzen entgegenzuwirken, also in der Vorstellung einen Raum zu öffnen, der keine nationalen Grenzen kennt. Das Adjektiv ‚christlich‘ bestärkt einerseits die übernationale Bedeutung, indem es eine religiöse, zunächst ebenfalls genau wirkende Grenzlinie zieht und Einheit nach innen (natürlich auch nach außen, gegen alles, was nicht christlich ist) vorgibt, deren Voraussetzungen und Begründungen durch den Appell an die Religion ins Jenseits verschoben und den irdischen Verhältnissen und Legitimationsbedürfnissen entzogen werden, sie werden sanktifiziert („sanctified“)3. Obwohl das Christentum historisch gesehen nicht aus dem ‚Abendland‘ kam, wurde es in seiner Beschränkung auf Europa zu einem Charakteristikum des Abendlandes gemacht. Die Elemente ‚Abend‘ und ‚christlich‘ leisten andererseits Reduktions- und Homogenisierungsbestrebungen sowohl nach innen, im Abendland, als auch nach außen, im Morgenland, Vorschub und er-

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leichtern eine Dichotomisierung, die es ermöglicht, dass der Bezug zum Gegenteil gar nicht mehr expressis verbis hergestellt werden muss, das Gegenteil wird per Implikat mitverstanden. Dies macht das Schlagwort vom ‚christlichen Abendland‘ zu einem optimalen Instrument für Homogenisierungen und für die Konstruktion von Unterschieden und Ähnlichkeiten. Christen und/oder Abendländer lässt es als eine Masse von Menschen mit gleichen Interessen erscheinen, die nicht zuletzt mit Schlagwörtern wie diesem motiviert und mobilisiert werden sollen, gegen die oft bloß als Implikat vorhandenen nichtchristlichen, im speziellen Fall islamischen Morgenländer. Durch die Parallelisierung von christlichem Abendland und expressis verbis gar nicht genanntem muslimischen Morgenland lassen sich Reduktion und Homogenisierung auf die vermeintlich Anderen übertragen. Das Schlagwort vom christlichen Abendland bietet somit hervorragende und oft genutzte Möglichkeiten einer rhetorischen reductio ad minimum, die trotz der Auslassung/Ellipse des Gegenteils4 funktioniert. Die rhetorische Projektion der einen Seite (christliches Abendland) genügt, um die andere Seite automatisch in der Vorstellung des Publikums erstehen zu lassen. Diese andere Seite ist in zahlreichen Fällen der islamische Osten, der Orient u. Ä., sodass das Schlagwort vom christlichen Abendland oft auf die Konstruktion von Differenzen zu Muslimen, zum Orient, zum Osten geradezu spezialisiert verwendet wurde und wird. Als Martin Luther im Evangelium nach Matthäus (2,1) die Stelle übersetzte, wo die Weisen (die Heiligen Drei Könige) „ἀπὸ ἀνατολῶν“ kamen, formulierte er, „kamen die Weisen […] vom Morgenland gen Jerusalem“ (letzte Ausgabe 1545). Die Erfindung des Begriffs Morgenland lieferte den Anlass, noch im 16. Jahrhundert das ‚Abendland‘ als Gegenteil zu bilden. Das Wort sollte „räumlich den lat[einischen] Westen Europas“ von jenem Teil der Christenheit abgrenzen, der zum byzantinischen Reich und zu dessen Einflussgebieten gehörte.5 Im Folgenden soll streiflichtartig auf die Rolle des Schlagworts vom (christlichen) Abendland Ende des 19., während des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts eingegangen werden.

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In Wien sahen sich zahlreiche Persönlichkeiten aus Religion und Politik anlässlich der Jubiläumsfeiern 1883 zum Sieg über die Osmanen veranlasst, zum Ereignis Stellung zu nehmen, aber auch anhand damaliger Bedrohungen und des darauf folgenden Sieges Bezüge zu aktuellen Problemen herzustellen. Der zu seiner Zeit berühmte Prediger Max Klinkowström bezeichnete etwa im Stephansdom die Zeit des Sieges vor Wien als „die für die Kirche, das Christenthum, für das Abendland, ja für die ganze europäische Civilisation unvergeßlichen Tage des ewig denkwürdigen Sieges über den Halbmond.“ Die großflächigen Homogenisierungen für beide Seiten sind unübersehbar.6 Eine ähnliche Klimax verwendete der Wiener Pfarrer Joseph Deckert, als er in einer Predigt zum Thema Türkennoth und Judenherrschaft zu den Ereignissen von 1683 meinte: „Man erwehrte sich zwar des Feindes; aber halb Ungarn blieb in den Händen der Türken und Oesterreich zunächst, aber auch Deutschland und das ganze christliche Abendland war und blieb von den türkischen Heeren bedroht.“7 In seinen judenfeindlichen Predigten verwendete er den Verweis auf die „Türkennoth“ dazu, die vermeintliche Bedrohung des ‚christlichen Abendlandes‘ zu seiner Zeit durch die Juden und deren Überwindung zu verdeutlichen und nahe zu legen. Im Jahr 1925 wurde in Köln durch Hermann Platz8 und eine Gruppe von katholischen Intellektuellen die Zeitschrift Abendland. Deutsche Monatshefte für europäische Kultur, Politik und Wirtschaft als Reaktion auf Gedanken gegründet, wie sie Oswald Spengler in seinem Untergang des Abendlandes (zwei Teilbände, erschienen 1918 und 1922) formuliert hatte. Damals entstanden in Frankreich und Deutschland – auch als Antwort auf den Ersten Weltkrieg und die Etablierung des Kommunismus – katholische Erneuerungsbewegungen, in denen im deutschen Sprachraum der Begriff ‚christliches Abendland‘ eine entscheidende Rolle spielte.9 Schriftleiter des Blattes war der Wiener Schriftsteller Friedrich Schreyvogl, Mitarbeiter waren katholische Publizisten wie Waldemar Gurian, Hermann Hefele, der Staatsrechtler Carl Schmitt, Karl Anton Prinz Rohan u. a. Für den Kreis um das Abendland, dessen Mitglieder oft betont frankophil waren, war ‚Abendland‘ als Idee ein über den Nationen stehendes Gebiet. Die politischen

Christliches Abendland

Einstellungen von Vertretern dieses Gebrauchs von ‚christlichem Abendland‘ reichten von rechts (z. B. spätere NSDAP-Mitglieder wie Schmitt, Schreyvogl und Rohan) bis zu Gegnern des Nationalsozialismus wie Theodor Haecker, der die Weiße Rose unterstützte und 1931 das Buch Vergil, Vater des Abendlandes veröffentlichte, in dem er Vergil als „die vollkommenste anima naturaliter christiana der Antike“10 feierte. Für katholische Intellektuellenkreise war der Begriff ‚Abendland‘ noch nach dem Zweiten Weltkrieg „einerseits Chiffre für das Europa der christlichen Einheit […]; es war andererseits aber auch ein Vehikel, um katholisches Denken und aktuelle Europa- bzw. Verteidigungspolitik in der gegebenen Konfrontation des Kalten Krieges in Einklang zu bringen.“11 Während der Gebrauch des Schlagwortes vom ‚christlichen Abendland‘ zur Beschreibung einer übernationalen, friedens- und reformorientierten europäischen Einheit vor allem mit der Versöhnung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich an Bedeutung verlor, bleibt die Verwendung als Abgrenzung gegenüber dem Islam und dem Orient weiterhin aktuell, wie auch historische Kontinuitäten am Beispiel Wiens zeigen. 1933, anlässlich der 250-Jahr-Feiern des Entsatzes von Wien, sprach Bundespräsident Miklas von der Stadt Wien als „Wall und Bollwerk auch für Deutschlands Einheit und Zukunft und für die ganze christliche Abendländische Kultur“.12 Diese Rolle Wiens wurde durch die Gestik der von Bundeskanzler Dollfuß gewünschten und 1935 enthüllten Statue des Marco d’Aviano an der Kapuzinerkirche, seiner Begräbnisstätte, zum Ausdruck gebracht. Der Katholikentag im September 1933 in Wien stand unter dem Generalthema „Christus und das Abendland“. 2009 affichierte während des Europawahlkampfs die rechtspopulistische FPÖ in Wien Plakate mit der Aufschrift „Abendland in Christenhand“ in Wien: Die andere, nicht formulierte Seite des Spruches konnten sich alle Wiener/innen leicht ergänzen. Doch auch in Deutschland ist diese Verwendung des Schlagworts immer noch aktuell. Seit Dezember 2014 nennt sich eine Gruppe, deren Anliegen es ist, mit Demonstrationen gegen eine vorgebliche Islamisierung und eine aus ihrer Sicht verfehlte Einwanderungs- und Asylpolitik Deutschlands und

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Europas aufzutreten, PEGIDA, was nichts anderes abkürzt als „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Anmerkungen 1

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πᾶσα γὰρ ἡ ἑσπέρα καὶ ὁπόσον γένος βαρβάρων τὴν πέραθεν Ἀδρίου μέχρις Ἡρακλείων στηλῶν κατῴκει γῆν, ἅπαν ἀθρόον μεταναστεῦσαν ἐπὶ τὴν Ἀσίαν διὰ τῆς ἑξῆς Εὐρώπης ἐβάδιζε πανοικὶ τὴν πορείαν ποιούμενον. (Alexias X, 5, 4; cf. Annae Comnenae Porphyrogennetae Alexias, ed. August Reifferscheid. Band 2, Leipzig 1884, S. 74, Übersetzung vom Autor). Denn wie das Licht zum Osten [oriens] gehört, im Licht aber der Grund des Lebens sich befindet, so gehört zum Westen [occidens] die Finsternis. In der Finsternis aber ist Tod und Untergang eingeschlossen (divin. inst. II, 10; cf. PL VI, 307A, Übersetzung vom Autor). Roy A. Rappaport, Ecology, Meaning, and Religion, Richmond 1979, insbes. das Kapitel Sanctity and Lies in Evolution, S. 223–246. Eine ähnliche Ellipse liegt bei dem Begriff Hochkultur vor, dessen Gegenteil gar nicht existiert, aber per Implikat automatisch mitverstanden wird. Alois Halder, Abendland I, in: Josef Höfer/Karl Rahner (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Band 1, Freiburg i. Br. 21957, Sp. 17–18. Der Halbmond verlangt nach seiner Entsprechung, dem Kreuz, was sich in zahllosen Titeln von Veranstaltungen, Büchern etc. bestätigt, z. B. Erich Feigl, Halbmond und Kreuz: Marco d‘Aviano und die Rettung Europas, Wien 1993. – Klaus-Peter Matschke, Das Kreuz und der Halbmond. Die Geschichte der Türkenkriege, Düsseldorf/Zürich 2004. – Arrigo Petacco, La croce e la mezzaluna. Lepanto 7 ottobre 1571. Quando la cristianità respinse l‘islam, Milano 2005. Max Klinkowström, Gott – der Retter Wiens im Jahre 1683. Predigt, gehalten am 10. September 1883, in: Blätter der Erinnerung an die im September 1883 in Wien abgehaltene kirchliche Säcularfeier der Rettung Wiens aus der Türkennoth im Jahre 1683, Wien 1883, S. 132–149, hier S. 132. – Joseph Deckert, Türkennoth und Judenherrschaft. 3 Conferenzreden. Separatabdruck aus dem „Sendboten des heiligen Joseph“, Wien 1894, S. 5. Zu Hermann Platz siehe Marie Schlüter-Hermkes, Abendland als Idee und Gestalt. Hermann Platz zum Gedenken, in: dies., Künder des Abendlandes, Düsseldorf 1949, S. 279–292. Vgl. weiterführend Reinhard Richter, Nationales Denken im Katholizismus der Weimarer Republik, Münster u. a. 2000. Theodor Haecker, Vergil, Vater des Abendlandes, Leipzig 1931, S. 33. Thomas Brechenmacher, Katholische Kirche und (Anti-)Kommunismus in der frühen Bundesrepublik, in: Stefan Creuzberger/Dierk Hoffmann (Hg.), „Geistige Gefahr“ und „Immunisierung der Gesellschaft“. Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, München 2014, S. 177–198, hier S. 194. – Vgl. weiters: Heinz Hürten, Der Topos vom christlichen Abendland in Literatur und

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Publizistik nach den beiden Weltkriegen, in: Albrecht Langner (Hg.), Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Paderborn u. a. 1985, S. 131–154. – Vanessa Conze, Facing the Future Backwards. ‘Abendland’ as an Anti-liberal Idea in Germany between the First World War and the 1960s, in: Dieter Gosewinkel (Hg.), Anti-Liberal Europe. A Neglected Story of Europeanization, New York/Oxford 2014, S. 72–89. – Bezeichnenderweise war 1946 die Zeitschrift Neues Abendland. Zeitschrift für Politik, Kultur und Geschichte in Augsburg gegründet worden. Wiener Zeitung, 13.9.1933, S. 1.

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Politisierungs- und Demokratisierungsprozesse in der Moderne erweisen sich aus geschlechtertheoretischer Perspektive als höchst widersprüchlich, als (nach wie vor andauernde) Geschichte von nach Geschlecht ausdifferenzierten Politikkonzepten, geprägt von Konflikten, Deutungskämpfen, der Gleichzeitigkeit von (Selbst-)Beschränkung und (Selbst-)Ermächtigung im Kontext politischer Partizipation. Demokratisierung als ‚Basisprozess der Moderne‘ wird geschichtswissenschaftlich meist noch immer als lineare Entwicklung gedacht – als kontinuierlicher Prozess der Integration immer breiterer Bevölkerungsgruppen in politische Entscheidungen im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts. Politikgeschichtlich gefasst steht dabei meist im Zentrum, ob ausreichend viele Kriterien erfüllt sind, um tatsächlich von einem demokratischen System sprechen zu können bzw. welche Parameter (etwa Meinungsfreiheit) als unabdingbar für die Existenz einer Demokratie angesehen werden müssen.1 Nach wie vor jedoch wird häufig eine zentrale Differenzkategorie in politikhistorischen und demokratiepolitischen Kontexten vernachlässigt: Geschlecht. Tatsächlich erweisen sich Politisierungs- und Demokratisierungsprozesse aus geschlechtertheoretischer Perspektive jedoch als höchst widersprüchlich, als eine (nach wie vor andauernde) Geschichte von nach Geschlecht ausdifferenzierten Politikkonzepten, die immer auch geprägt ist von Konflikten, Deutungskämpfen, der Gleichzeitigkeit von (Selbst-)Beschränkung und (Selbst-)Ermächtigung im Kontext politischer Partizipation. Während diese Antinomie allgemein Prozesse geschlechtsspezifischer Demokratisierung in Europa kennzeichnet, kann es als Spezifikum des multiethnischen und vielsprachigen habsburgi-

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„Die deutsche Frau im Kriege“, Kriegs-Postkarte des Vereins Südmark, undatiert. Familienarchiv Brigitte Hamann, Wien. © Brigitte Hamann, Der Erste Weltkrieg. Wahrheit und Lüge in Bildern und Texten, München 2004, S. 74

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schen Zentraleuropa angesehen werden, dass Politik, Partizipation und Geschlecht hier in hohem Maß mit der Kategorie des Nationalen verschränkt sind. Dies verdeutlicht besonders das deutschnationalvölkische Milieu, in dem sich der Status der politischen Akteurin als besonders ambivalent erweist. Ausgehend von kulturtheoretisch geankerten Geschlechtertheorien sowie Interdependenzansätzen stellt sich dabei die Frage, auf welche Weise Geschlecht, Nation, und Politik im je konkreten Fall interagieren. Auf welche Weise kommen sich Nation und Geschlecht als Differenzkategorien gewissermaßen ‚in die Quere‘? Ausgehend von einem biografischen Fallbeispiel sollen in den folgenden Überlegungen zunächst allgemein Fragen zu Politik und Geschlecht in der Moderne ins Blickfeld gerückt und anschließend auf das deutschnationale Milieu eingegangen werden, in dem die angedeutete Ambivalenz des weiblichen politischen Subjekts besonders zutage tritt. Ambivalente Position|ierung|en

„Unser Frauenherz in seiner Tiefe und Treue, es gehört ja nicht allein unserm Ich und unserer Familie, es gehört auch unserem deutschen Volke, aus dessen Kern und Wesen wir sein völkisches Empfinden empfangen.“2 Mit diesen Worten wandte sich Karoline (Lina) KreuterGallé am 15. Dezember 1917 in ihrer Hauptrede an die versammelten Mitglieder des Deutschen Frauen-Bundes in Graz und appellierte dabei sowohl an deren Geschlechter- als auch an ihre nationale Identität. Kreuter-Gallés Rede ist eine verdichtete Zusammenschau jener Elemente des deutschnational-völkischen Diskurses, die sich im Kronland Steiermark seit den ausgehenden 1880er-Jahren im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis im Allgemeinen und in Bezug zur Integration von Frauen in die deutschnationale Bewegung im Besonderen herauskristallisiert hatten: Ausgehend vom Bild einer nationalen Bedrohung, welche für die deutschsprachige Bevölkerung der Monarchie von anderen Nationalitäten ausgehe, propagierte sie darin den staatlichen Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich und echauffierte sich gegen „zu viele fremdsprachige und fremdrassige [...] Flüchtlinge“ in

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der Steiermark. Mehrfach hob sie in ihrer Rede die Opferbereitschaft ‚deutscher Frauen‘ im Krieg hervor und betonte deren Verdienste im Bereich der Kriegsfürsorge und des freiwilligen Pflegedienstes. Beständig hielt sie fest, dass der/die Einzelne kaum Bedeutung im Gefüge der Welt habe, sondern diese erst im Hinblick auf ein ‚VolksGanzes‘ erlange, dies gelte besonders für Frauen: „Die Ehre eines Volkes steht und fällt mit der Bedeutung des Weibes, denn in ihr verkörpert sich zum überwiegenden Teile die Rassenkraft und der seelische Besitz der Nation“3. In der öffentlich-medialen Repräsentation des deutschnationalen Milieus der Habsburgermonarchie waren solche Diskursfiguren, welche völkisch-nationalistische Politikkonzepte mit rassistisch-antisemitischen Visionen und Ausgrenzungsrhetoriken verbanden und zugleich ein Integrations(an)gebot an Sympathisantinnen völkischer Politik formulierten, bereits seit den 1880er-Jahren in hohem Maß präsent – besonders auch in Graz, wo es den Deutschnationalen im Vergleich zu anderen Kronländern früh gelungen war, zur dominanten politischen Kraft zu werden. Kreuter-Gallé war zum Zeitpunkt ihrer Rede selbst in zumindest fünf deutschnationalen (Frauen-)Vereinen aktiv und vier Jahre zuvor als erstes weibliches Mitglied in die Hauptleitung des Vereins Südmark gewählt worden. Sie gestaltete damit die Politik eines Vereins maßgeblich aktiv mit, der sich am radikalen völkischen Rand der Vereinsszene der politischen Rechten in der Habsburgermonarchie bewegte. Als politische Akteurin war sie dabei häufig konfrontiert mit Rhetoriken des Ausschlusses qua Geschlecht, gleichzeitig forcierte sie auch selbst in hohem Maß Exklusionspraktiken – meist entlang von „Rasse“, „Volksgemeinschaft“ oder einer essenziell verstandenen Nationalität. Auf den hegemonialen Geschlechterdiskurs in der politischen Rechten verweist auch die Postkarte „Die deutsche Frau im Kriege“, die vom Verein Südmark während des Ersten Weltkrieges vertrieben wurde. Die dargestellte weibliche Allegorie mahnt nicht nur die von Frauen geforderten Pflichten des Helfens, Tröstens, der Verwundetenfürsorge ein – Kreuter-Gallé selbst hatte sich unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, bereits 59-jährig, freiwillig als Hilfspflegerin zum Einsatz in einer Grazer Sanitätskolonne gemeldet –, sondern stellt auch konkrete politisch-­

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nationalistische Bezüge her. So spielt die Figur in der Farbgebung nicht nur auf ein christliches Marienbild an, sondern trägt vor allem auch Züge der Germania. In der Flagge schließlich konkretisieren sich politische Codes: Obwohl im österreich-ungarischen Kontext produziert, trägt die Allegorie die Farben des Deutschen Bundes, aus dem die Habsburgermonarchie 1866 ausgeschieden war. Schwarz-WeißRot wurde jedoch von jenen deutschnational-völkischen Gruppierungen weiter verwendet, die eine (wie auch immer geartete) Vereinigung mit dem Deutschen Reich anstrebten. Die Darstellung zielt somit nicht nur auf die Beschwörung der österreichisch-deutschen „Waffenbruderschaft“ im Krieg ab, sondern wird zum Bekenntnis einer politischstaatlichen Vereinigung mit dem Deutschen Reich. Un|Gleichzeitigkeiten

Der Prozess der Demokratisierung ist eines jener master narratives, das durch die Geschlechterforschung in den letzten Jahren erhellend ausdifferenziert werden konnte. Während lange Zeit die Politisierung weißer, bürgerlicher Männer im Fokus der Forschung gestanden hatte, konnten Analysen aus feministischer Perspektive oder von nichtbürgerlichen sozialen Gruppen, etwa im Rahmen der Arbeiter/innen/ geschichte, dahingegen zeigen, dass Demokratisierungsprozesse in Wirklichkeit nicht nur langsamer verliefen als gemeinhin angenommen, sondern auch mit vielen Brüchen, Umwegen, Verwerfungen und Einschränkungen verbunden waren – nicht nur, aber gerade auch entlang der sozio-kulturellen Kategorie Geschlecht.4 Sowohl die in der Aufklärung entstandenen Konzepte politischer Theorien als auch jene zu nationaler Vergesellschaftung im 19. und 20. Jahrhundert gruppierten sich von Beginn an zentral um den Geschlechterbegriff. Rekurriert wurde durchwegs auf das um 1800 entstandene bürgerliche Geschlechtermodell, das Frauen und Männer als gänzlich verschieden und einander ergänzend konstruierte und auf diese Weise ein vollkommen neues Orientierungsmuster in Gesellschaft und Kultur etablierte. Untermauert durch Kunst, Literatur und die neu entstehenden systematischen Wissenschaften legitimierte dieses letztlich die Auf-

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spaltung der Ideale der Aufklärung in männlich und weiblich und trug damit maßgeblich zur Harmonisierung jener gesellschaftspolitischen Konflikte bei, die sich aus der Aufklärung ergeben hatten: die gesellschaftliche (und politische) Ungleichheit von Frauen wurde als ‚natürlich‘ argumentiert.5 Als sich in der Habsburgermonarchie seit den 1860er-Jahren Frauengruppen breit organisiert und begonnen hatten, sich für das Recht von Frauen auf Arbeit, Bildung und gesetzliche Gleichstellung, Gleichbehandlung in der Ehe und politische Mitbestimmung einzusetzen,6 erhielt der politische Antifeminismus neuerlich Aufschwung. Wie auch andernorts in Europa hatte in der Frauenbewegung schnell eine Ausdifferenzierung entlang politisch-weltanschaulicher Gesichtspunkte, politischer Konzepte und Programme, sozialer Schichtung, Religionsbekenntnis, Alter oder Lebenskontexten stattgefunden. In der multinationalen und vielsprachigen Monarchie spielte die Verflechtung von Nation und Geschlecht dabei bereits früh eine zentrale Rolle: einerseits wurden in nicht-deutschsprachigen Kontexten frauenbewegte Aufbrüche meist schnell mit nationalen Emanzipationsvorstellungen gekoppelt, andererseits suchten auch deutschnationale Gruppierungen, welche die nach Unabhängigkeit strebenden Nationalitäten innerhalb der Monarchie zu beschränken suchten, früh Aktivistinnen in ihre Reihen zu integrieren. Selbst existierende transnationale Perspektiven, etwa im Rahmen der internationalen Strukturen der Ersten Frauenbewegung, waren kaum mit Visionen einer Zurückdrängung nationaler/nationalistischer Perspektiven gekoppelt: internationale Dachverbände setzten Letztere meist nicht nur auf organisatorischer Ebene voraus, sondern stützten häufig sogar noch eine Schärfung nationaler Profilierungen innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung um 1900.7 Es gab somit kaum A ­ llianzen abseits nationaler Konfigurationen8, und wenn, dann erwiesen sich diese kaum als mehrheitsfähiges Programm für den Großteil der bürgerlich-konservativen oder katholischen und schon gar nicht für die häufig antisemitisch-rassistisch agierenden deutschnational-­völkischen Frauen. Aktivistinnen, die demokratische Rechte beanspruchten oder für deren Erweiterung eintraten, konnten dabei definitiv kaum von jenen Lockerungen des politischen Systems profitieren, welche in der

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konstitutionellen Phase der Monarchie schrittweise implementiert wurden. Im Gegenteil, die so genannte Dezemberverfassung und hier besonders das 1867 erlassene Versammlungs- und Vereinsrecht verbot in § 30 „Ausländer[n], Frauenspersonen und Minderjährigen“9 dezidiert die Mitgliedschaft in politischen Vereinen. Frauen, die sich dennoch politisch betätigen wollten, mussten demnach nach Wegen und Möglichkeiten suchen, dieses Gesetz zu umgehen oder aber ihre öffentlich-politischen Aktivitäten als „unpolitisch“ deklarieren.10 Wie unterschiedlich Politisierungsprozesse entlang von Geschlecht somit verlaufen konnten, verdeutlicht nicht zuletzt die Entwicklung des Wahlrechts: Je mehr dieses zwischen 1873 und 1907 von Vermögen und Steuerleistung entkoppelt wurde, umso stärker war mit diesem Prozess tatsächlich eine Einschränkung bzw. manchmal sogar eine komplette Abschaffung existierender älterer Formen des Frauenwahlrechts verbunden.11 Für deutschnational-völkische Frauen war die Erlangung des Frauenwahlrechts dabei kein primäres Ziel ihrer politischen Aktivitäten: Demokratie als Zielsetzung abseits nationalistischer Visionen war und blieb für viele Akteurinnen der politischen Rechten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein suspekt. Desintegration|Selbstintegration

Prinzipiell wurden Frauen von der deutschnational-völkischen Geschlechterideologie als ‚physische Reproduzentinnen‘ der Nation oder als Trägerinnen und Vermittlerinnen nationaler Kultur in Dienst genommen. Dies beinhaltete eine weibliche Zuständigkeit für Mutterschaft und nationale Kindererziehung ebenso wie die kulturelle Formung des Alltags, Konsumpolitiken oder die Inszenierung von Festen und Feiern entlang nationaler Kriterien. Frauen und Mädchen waren in die klassischen politischen Agitationsformen des Milieus involviert: in die völkische Vereinsarbeit, parteipolitische Vorfeldorganisationen, Wohlfahrtsagenden, diverse Ausschüsse, Projekte und Vorhaben. In diesem Rahmen erlangten sie machtpolitisch durchaus relevante Positionen, affirmierten meist diskursiv die ihnen angebotenen (bzw. selbst mitkonzipierten) Subjektentwürfe und praktizierten

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ihrerseits ausgrenzende Politik entlang rassistisch-antisemitischer oder klassenbezogener Legitimationsmuster. Letztlich scheint gerade die imaginierte ‚unpolitische Politisierung‘ von Frauen im Kontext der politischen Rechten (wenn auch kaum intendiert) zu einem ‚Motor‘ individueller politischer Vergesellschaftung geworden zu sein. Die Widersprüchlichkeit des Geschlechterkonzeptes eröffnete jedenfalls Deutungsräume für Eigeninterpretationen und erweiterte Handlungsspielräume. Frauen in der politischen Rechten dürfen somit nicht länger holzschnittartig als ‚Opfer‘ oder ‚Profiteurinnen‘ wahrgenommen, sondern müssen in ihren jeweiligen ausdifferenzierten Positionen im Feld und in ihren jeweiligen Handlungsspielräumen analysiert werden. Gerade eine Untersuchung biografischer Spuren und autobiografischer Selbstentwürfe macht eindringlich den Grat sichtbar, auf dem Akteurinnen des Milieus mit ihren diskursiven Strategien der Selbstpositionierung wanderten. Lina Kreuter-Gallé – um an dieser Stelle nochmals auf die eingangs eingeführte Protagonistin zurückzukommen – zog sich Ende der 1920er-Jahre nach Jahrzehnten intensivsten Engagements in den deutschnational-völkischen Vereinen aus Altersgründen zurück. Dass ihre Strategie einer ‚unpolitischen‘ Positionierung letztlich scheiterte, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass im Rahmen der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen des Vereines Südmark 1930 schlicht ‚vergessen‘ wurde, sie für ihre langjährige Mitgliedschaft auszuzeichnen. Als sie zwei Jahre später starb, schien sich der Vereinsobmann jedenfalls kaum mehr an ihre politischen Aktivitäten erinnert zu haben, als vielmehr daran, dass sie als geschiedene und kinderlose Frau wohl deutlich gegen das hegemoniale völkische Weiblichkeitsideal verstoßen hatte, denn er beendete seine Grabrede mit den Worten, es „[m]öge ihr die Ruhe und das volle Glück, das sie […] auf Erden nicht gefunden, im Jenseits beschieden sein.“12 Wenn es also darum geht, aktuelle Konzepte politischer Des|­ Integration adäquat zu analysieren, so verdeutlichen die hier in aller Kürze andiskutierten Fragen nach kollektiven und individuellen Handlungsspielräumen, je spezifischen Interessen und in Aussicht gestellten Versprechungen sowie Verwerfungen in Demokratisierungsprozessen der zentraleuropäischen Moderne sowie im hier fokussierten völki-

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schen Milieu vor allem eines: Sowohl auf Ebene politisch-kultureller Normen, in sozialen Praktiken als auch in biografischer Hinsicht gilt es scheinbar selbstverständliche Begriffe wie politisches Handeln, Politisierung, Partizipation, Demokratisierung, Öffentlichkeit/Privatheit, Nationalisierung oder auch politische Integration auch aus einer Genderperspektive bzw. im Hinblick auf die Verflechtung von Geschlecht mit ,Rasse‘, Klasse, Nation oder Körper kritisch zu hinterfragen und neu zu fassen. Anmerkungen 1 2

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Vgl. Herbert Dachs, Verschiedene Modelle der Demokratie, in: Forum Politische Bildung (Hg.), Jugend – Demokratie – Politik (Informationen zur politischen Bildung 28), Innsbruck u. a. 2008, S. 22–30. – Oliver Rathkolb, Demokratieentwicklung in Österreich seit dem 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 5–17. Lina Kreuter-Gallé, Hauptrede, gehalten auf der Frauenversammlung, einberufen vom Deutschen Frauen-Bund Steiermarks, 15. Dezember 1917 (Graz), S. 1. Vgl. ebd., S. 1–15, hier S. 14. Vgl. z. B. Barbara Holland-Cunz, Demokratiekritik: Zu Staatsbildern, Politikbegriffen und Demokratieformen, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie (Geschlecht und Gesellschaft 35), Wiesbaden 22008, S. 530–539. Vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Sabine Hark (Hg.), Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie (Lehrbuchreihe zur sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 3) Opladen 2001, S. 162–185, hier S. 171–174, S. 177–180. Vgl. Gabriella Hauch, „Arbeit, Recht, Sittlichkeit“. Die Frauenbewegung als politische Bewegung 1848–1918, in: dies., Frauen bewegen Politik. Österreich 1848–1918 (Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung 10) Innsbruck u. a. 2009, S. 23– 60, hier S. 35–48. Vgl. den Beitrag von Corinna Oesch, „Lost in Transnationalism“? Der Modus des Inter/Nationalen in der Frauenbewegung, Österreichischer Historikertag 2015, Johannes-Kepler-Universität Linz (Manuskript im Besitz der Verf.). Hauch 2009, S. 26–28. Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Österreich, Jahrgang 1867, LVIII, Stück 134. Über das Vereinsrecht vom 15. November 1867, Zweiter Abschnitt, § 30, Ausgabe vom 24.11.1867, S. 380. Hauch 2009, S. 26. Zur geschlechtergeschichtlichen Entwicklung des Wahlrechts vgl. Birgitta BaderZaar, Frauenbewegungen und Frauenwahlrecht, in: Helmut Rumpler/Peter Urba-

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nitsch (Hg.), Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft – Vereine, Parteien und Interessenverbände als Träger der politischen Partizipation (Die Habsburgermonarchie 1848–1918 8/1), Wien 2006, S. 1005–1027. Nachruf Lina Kreuter-Gallé, in: Grenzland. Zeitschrift für deutsche Schutz- und Kulturarbeit, hg. vom Deutschen Verein Südmark, 5. Folge (Mai) 1932, S. 66–67, hier S. 67.

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Erinnerungskonkurrenzen haben seit den 1990er-Jahren eine neue Bedeutung gewonnen. Es geht dabei um einen globalen Verteilungskampf, in dem Gruppen und Nationen die knappe Ressource Aufmerksamkeit für die jeweils eigene Leidensgeschichte mobilisieren. Allgemein gesprochen beruhen Erinnerungskonkurrenzen auf notorischem Platzmangel im Gedächtnis und den damit verbundenen Einund Ausschlusskriterien. Seit dem 19. Jahrhundert gilt der Stolz als allgemeine Richtlinie für das Erinnernswerte. Siege wurden in Erinnerung gehalten, während Niederlagen mit Schweigen übergangen und vergessen wurden. Als Beispiel dafür können die Siege und Niederlagen Napoleons angeführt werden. Pariser Metrostationen wie ‚Iéna‘ oder ‚Austerlitz‘ erinnern bis heute an seine Siege, aber an keine seiner Niederlagen. Die Schlacht von Mont-Saint-Jean in der Nähe des kleinen Dorfes Waterloo bei Brüssel ist dagegen im Londoner U-Bahn-Netz präsent und im kollektiven Gedächtnis der Engländer fest verankert. Diese unterschiedlichen Perspektiven von Sieg und Niederlage bilden eine primäre Form von Erinnerungskonkurrenz, die in der symbolischen Zeichensetzung nationaler Denkmäler stabilisiert wird. Während Sieg und Niederlage unverrückbare Fakten der Geschichtsschreibung sind, können sich die Deutungen dieser militärischen Ereignisse jedoch mit der Zeit erheblich verändern. Diese Deutungen hängen von der jeweiligen Gegenwart mit ihren aktuellen Macht-Konstellationen und Wertstrukturen ab, die die Vergangenheit in einem neuen Lichte erscheinen lassen. Im Rahmen der EU haben sich die historischen Gegensätze zwischen England und Frankreich weitgehend aufgelöst und in gemeinsame Interessen verwandelt. Wie

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Periit pars máxima („Der größte Teil ist verloren gegangen“). © Sebastián de Covarrubias y Horozco, Emblemas Morales, Madrid, Luis Sánchez 1610, S. 115

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sehr sich die ursprüngliche Erinnerungskonkurrenz dabei verschoben hat, zeigt sich an den 200-jährigen Kommemorationsfeierlichkeiten der Napoleonischen Kriege. Die Frontlinie der Erinnerungskonkurrenz verläuft heute nämlich nicht mehr so klar zwischen den Nationen, sondern hat die Form interner Kontroversen angenommen. Die Gedenkveranstaltung zum Sieg Napoleons in Austerlitz zum Beispiel fand 2005 in Paris im so genannten ‚schwarzen Jahr‘ vor dem Hintergrund von Vorstadtkrawallen und einer selbstkritischen Diskussion um das koloniale Erbe statt. Die erhoffte kollektive Selbstbestätigung der ‚Grande Nation‘ mündete dabei in eine neue Form von „Erinnerungskonkurrenz“ (Benjamin Stora), weil sich in der heutigen Einwanderungsgesellschaft neue Gruppen von Franzosen gebildet haben, die sich nicht mehr als Erben Napoleons, sondern als Nachfahren der kolonialen Opfer Frankreichs sehen.1 Weiter verdunkelt wurde die Siegesstimmung durch eine Neubewertung Napoleons als „ersten rassistischen Diktator der Geschichte“ (Claude Ribbe)2, der 1802 die von der Französischen Revolution abgeschaffte Sklaverei wieder eingeführt hat. In diesem sozialen und geistigen Milieu fielen die Feierlichkeiten des epochalen Sieges von Austerlitz nicht gerade üppig aus. Vertreter der Staatsspitze sind nicht erschienen; es traten nur ein paar historisch kostümierte Soldaten auf, die einige Böllerschüsse abfeuerten. Mit sehr viel mehr Verve wurde dagegen im Juni 2015 an Waterloo erinnert. Mit großem Aufgebot wurde wiederholt, was inzwischen jährlich stattfindet: ein spektakuläres Reenactment des europäischen Siegs über Napoleon auf historischem Boden. An diesem gesamteuropäischen Festival sind Belgier, Holländer, Engländer, Deutsche, Polen, Russen und Franzosen beteiligt. Die ehemalige Erinnerungskonkurrenz von Sieg und Niederlage hat sich ausgeglichen. An sie erinnert höchstens noch die Tatsache, dass Frankreich 2015 die Prägung einer belgischen Zwei-Euro-Münze mit dem Schriftzug ‚Waterloo‘ erfolgreich verhindern konnte. Bisher hatten wir es mit zwei Formen von Erinnerungskonkurrenzen zu tun: die Polarisierung zweier nationaler Perspektiven, die aus dem Gegensatz von Sieg und Niederlage entsteht, und die Spannungen innerhalb einer Nation, die durch unterschiedliche Geschichts-

Erinnerungskonkurrenzen

narrative und Deutungskämpfe entstehen. Eine dritte Form von Erinnerungskonkurrenz hat sich im neuen Horizont einer globalisierten Öffentlichkeit entwickelt. Diese Erinnerungskonkurrenz ist ein neues historisches Phänomen, das auf drei Voraussetzungen beruht: 1. den neuen medialen Bedingungen weltweiter Kommunikation und globalisierter Aufmerksamkeit, 2. den psychischen Bedingungen eines posttraumatischen Zeitalters und 3. der Existenz eines normativen transnationalen Erinnerungsrahmens. Zunächst zur neuen Aufmerksamkeitsökonomie: Durch die digitale und soziale Vernetzung lokaler und nationaler Erinnerungsgemeinschaften ist eine globale Arena entstanden, in der sich neue Formen von Weltöffentlichkeit konstituiert haben. Kommemorationsereignisse und geschichtspolitische Maßnahmen bleiben unter solchen medialen Bedingungen nicht mehr auf den engen räumlichen Umkreis von Gruppen und Nationen beschränkt, sondern geraten zunehmend auch ins Visier von benachbarten Staaten und Menschen anderer Weltgegenden. Mit der digital vernetzten Welt des global village ist die Möglichkeit einer territorial entschränkten Zuschauerperspektive gegeben. Die zweite Bedingung hat mit den psychohistorischen, sozialen und politischen Folgen historischer Gewaltgeschichte zu tun. Seit den 1990er-Jahren ist eine neue ‚Erinnerungskultur‘ entstanden, die den Traumabegriff aufgenommen hat und im Zeichen der Menschenrechte agiert. In diesem Rahmen spielt die Verantwortung der Tätergesellschaften für die historischen Verbrechen ihres (Vorgänger-)Staates, die Anerkennung der Opfer und die Würdigung ihrer Stimmen eine wichtige Rolle. Die Entschuldigungsrituale zum Beispiel, die im Rahmen einer „Politik der Reue“ (Jeffrey K. Olick)3 seit den 1990er-Jahren von Staatsoberhäuptern in kontinuierlicher Folge praktiziert wurden und sich an die Opfer der eigenen historischen Verbrechen wandten, waren performative Akte auf einer globalen Bühne, die im vollen Bewusstsein allseitiger Sicht- und Hörbarkeit vollzogen wurden. Bei diesem Beispiel kommen die ersten beiden Bedingungen zusammen: die globale Mediensituation und die posttraumatische Befindlichkeit. Die neue Form der Erinnerungskonkurrenz entsteht aber

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erst unter einer weiteren, dritten Bedingung, und das ist die Errichtung eines normativen transnationalen Erinnerungsrahmens. Ein solcher wurde für die Erinnerung an den Holocaust geschaffen, die seit den 1980er-Jahren aus einer langen Latenz zurückkehrte und in verschiedenen Ländern zu einer sozialen und politischen Angelegenheit wurde. Mit der Stockholm-Erklärung vom Januar 2000 wurde diese Erinnerung zu einer gemeinsamen, transnationalen Angelegenheit deklariert. Dieser normative Erinnerungsrahmen vereinigte und vereinheitlichte die Geschichtsdeutung zahlreicher Staaten zunächst in der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) und seit 2005 auch in der EU und in den Vereinten Nationen. Der Fokus auf verdrängte Opfererinnerungen, der Aufbau des normativen Erinnerungsrahmens für die Opfer des Holocaust und die globale Ausdehnung von Kommunikation mit dem Effekt der Bündelung und Hierarchisierung von Aufmerksamkeit – das sind die Voraussetzungen, unter denen es zu einer neuen Form der Erinnerungskonkurrenz gekommen ist.4 Auf diese Weise wurde das alte Problem des Platzmangels im Gedächtnis unter neuen Bedingungen wieder akut. Wo zu Zeiten räumlich begrenzter Kommunikationskanäle und gegenseitigen Ignorierens oder Tolerierens Unterschiedliches nebeneinander Platz gehabt hatte, stand nun die Erinnerung einer privilegierten Gruppe im engen Fokus der Aufmerksamkeit. Das löste bei den ausgegrenzten Gruppen einen Erinnerungsneid und den dringlichen Wunsch aus, selbst an die Stelle der Ausgewählten zu treten. Dieser Impuls der Erinnerungskonkurrenz ist deshalb auch als ‚Verdrängungswettbewerb‘ und ‚Nullsummenspiel‘ beschrieben worden. Erinnerungskonkurrenzen artikulieren sich in der Öffentlichkeit durch exklusive Forderungen kollektiver Identitätspolitik und eine erhitzte Rhetorik der Überbietung, die das eigene Leiden über das Leiden der anderen stellt. Durch ihre emotionale und oft auch Ressentimentgesättigte Aufladung blockieren sie die politische Kommunikation. Sie sind aber auch ein Symptom für problematische Engpässe und Schieflagen in der Erinnerungslandschaft, auf die reagiert werden muss. Dafür sind inzwischen einige Denkmodelle und Strategien angeboten worden, die im Folgenden an Beispielen noch kurz vorgestellt werden.

Erinnerungskonkurrenzen

In den USA fühlt sich die afro-amerikanische Gemeinschaft mit ihrer langen historischen Opfer-Erfahrung von Deportation, Sklaverei und rassistischer Unterdrückung aus dem gesellschaftlich und kulturell dominanten Erinnerungsrahmen der Holocausterfahrung ausgeschlossen. Toni Morrison hat ihrem Erinnerungs-Roman Beloved über die Erfahrung der Sklaverei das Motto vorangeschickt: „For the 60 Million and more“, wobei sie auf die symbolische Zahl der 6 Millionen jüdischen Opfer anspielte. Andere haben es brutaler ausgedrückt: „[…] der schwarze Holocaust war hundert Mal schlimmer als der so genannte jüdische Holocaust. Ihr sagt, Ihr habt sechs Millionen verloren. […] wir haben 600 Millionen verloren!“5 Opfererfahrungen und zumal solche, die längere Zeit unterdrückt waren, haben eine starke Tendenz, sich breit zu machen und andere Erinnerungen auszuschließen. Sie setzen sich absolut, verneinen das Leid anderer und sind deshalb schwer anschließbar an andere Erinnerungen. Michael Rothberg hat auf dieses schwierige Syndrom der Erinnerungskonkurrenz mit seinem Konzept des ‚multidirectional memory‘ geantwortet und gezeigt, dass sich Leiderinnerungen unterschiedlicher Gruppen nicht nur gegenseitig verdrängen müssen, sondern auch gegenseitig anerkennen, bestätigen und stützen können.6 Das Museum für Sklaverei-Geschichte, das in Milwaukee eröffnet wurde, trug zum Beispiel den Namen „Black Holocaust Museum“. Diese Übernahme des Begriffs Holocaust kann zweierlei bedeuten: ,wir haben das schlimmere Leid erlebt‘ oder ,das Leid der Juden ist auch eine Chiffre für das Leid der Schwarzen, für das es Verständnis und Aufmerksamkeit mobilisieren kann.‘ Der normative Rahmen der Holocausterinnerung kann, so Rothberg, auch zu einer Form der Ermöglichung und Bestätigung anderer traumatischer Erfahrungen werden. Sie kann trennen und durchschneiden, aber auch Fäden der Verbindung knüpfen. Eine weitere paradigmatische Erinnerungskonkurrenz besteht zwischen der Holocausterinnerung und der Erinnerung an den Gulag. Diese Erinnerungskonkurrenz spaltet die EU weiterhin entlang der alten Grenze des Eisernen Vorhangs. Während die Erinnerung an den jüdischen Genozid durch die Nationalsozialisten in eine normative

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transnationale Erinnerung verwandelt und zum Gründungsmythos der EU wurde, blieb die Erinnerung an die Verbrechen Stalins den ehemaligen Ostblock-Staaten überlassen. Beide Erinnerungen konnten bislang in Europa noch keinen gemeinsamen institutionellen Rahmen finden. Die Erinnerungskonkurrenz entstand in diesem Fall durch zwei Barrieren: man fürchtete, dass die Erinnerung an den Gulag die Erinnerung an den Holocaust in Frage stellen und wieder verdrängen würde und man argumentierte gegen eine Verbindung beider Erinnerungen, weil sie einem falschen Totalitarismus-Konzept entsprechen würde, das seit der Einzigartigkeitserklärung des Holocaust als tabu gilt. Diese Bedenken könnten durch die diplomatische Formel des Historikers Bernd Faulenbach überwunden werden. Sie lautet: (1) Die Erinnerung an den stalinistischen Terror darf die Erinnerung an den Holocaust nicht relativieren. (2) Die Erinnerung an den Holocaust darf die Erinnerung an den stalinistischen Terror nicht trivialisieren. Die Globalisierung der Erinnerung begünstigt Vergleiche und hat den Konkurrenzdruck erhöht. Neue digitale Formen der Selbstdarstellung ermöglichen es auch Gruppen ohne staatliche Infrastruktur, auf sich aufmerksam zu machen und Gegenerinnerungen zu mobilisieren. Erinnerungskonkurrenzen weisen nicht nur auf aktuelle Engpässe, sondern auch auf problematische Denkverbote hin. Dieses erinnerungspolitische Problem ist auf die Dauer nicht durch Ausschluss und Negation, sondern nur durch Integration und Erweiterung der normativen Erinnerungsrahmen zu beantworten. Anmerkungen 1 2 3

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Vgl. Benjamin Stora, La Guerre d’Algérie expliquée à tous, Paris 2012. Claude Ribbe, Le Crime de Napoléon, Paris 2005, S. 200. Jeffrey K. Olick, The Politics of Regret. On Collective Memory and Historical Responsibility, London 2007. Aleida Assmann, Opferkonkurrenzen, in: dies., Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 142–180. Khalid Muhammad, Howard University, 3.4.1994, zit. n. Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009, S. 1 (Übersetzung Aleida Assmann). Rothberg, Multidirectional Memory, S. 1–29.

Feindschaften Simon Hadler

Die Homogenisierungsprojekte der Moderne machten den Fremden gerade wegen seiner Nähe und Ähnlichkeit zu einem Ärgernis und Feind. Verstärkt wurde dieser gesellschaftliche Akzeptanzverlust durch die Funktionalisierung von Erinnerung an einstige Bedrohungen und militärische Gegner. In einem über Jahrhunderte von kultureller, sprachlicher und religiöser Heterogenität geprägten Raum wie dem habsburgischen Zentral­ europa war Fremdheit für die Bewohner eine vertraute Erfahrung. Nicht nur in urbanen Milieus, sondern auch in kleinstädtischer und dörflicher Umgebung war man mit Andersheiten konfrontiert, ebenso mit etablierten, oft unausgesprochenen Regeln der Grenzziehung und -überschreitung. Das Fremde konnte in seiner Alltäglichkeit zu etwas Vertrautem werden, ohne dass ihm dadurch die Fremdheit genommen wurde. Daher existierten neben etablierten Grenzen auch Räume des Übergangs, von kultureller Hybridität und Vielsprachigkeit, von gemeinsamen kulturellen Codes, von Ähnlichkeiten und Nähe. Von dieser gleichzeitigen Nähe und Fremdheit auf dem Boden einer gemeinsamen Ordnung ausgehend, gilt es im Folgenden nach den Mechanismen des Umschlagens in Feindschaft zu fragen. Wurden hierfür – wie im Folgenden gezeigt wird – vor allem sozialpsychologische Erklärungen gefunden, so fand bislang ein Aspekt kaum Beachtung: Der Rückgriff auf historische Feindschaften zur Etablierung großer Differenzen auf Kosten kleiner, bisher wenig relevanter Unterschiede. Damit verbunden war auch ein verstärkter Verlust an Akzeptanz von Fremdheit.

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Plakat zur Türkenbefreiungsfeier des Heimatschutzes 1933 in Wien/Schönbrunn. Visualisierte Traditionslinie zwischen dem Österreichischen Heimatschutz, geführt von Ernst Rüdiger Starhemberg, und der Verteidigung von Wien 1683 unter dem kaiserlichen Stadtkommandanten von Wien, Ernst Rüdiger Starhemberg, im Hintergrund der Stephansdom. © ÖNB PLA16304635

Feindschaften

Sigmund Freud stellte bekanntlich fest, dass „gerade benachbarte und einander auch sonst nahe stehende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten“.1 Dieses von ihm „Narzissmus der kleinen Differenzen“ genannte Phänomen war von Georg Simmel schon einige Jahre zuvor erkannt und beschrieben worden. Simmel fragte sich 1907, wieso man sich offenbar nie wegen solcher Kleinigkeiten lieben würde, wegen derer man sich hasse: „Ein Kampf, der sich auf der Basis einer Einheit und Gleichheit erhebt, pflegt in vielerlei Fällen leidenschaftlicher und radikaler zu sein [...].“2 Den Grund sah Simmel – so wie Generationen von Sozialpsychologen nach ihm – darin, dass der Mensch ein „Unterschiedswesen“ sei: Er definiere sich nicht über das Gemeinsame, sondern über den Unterschied, und je größer die Ähnlichkeit sei, desto wichtiger würde die Hervorhebung von Differenzen zum Anderen werden. Der Andere wurde auf vielfältige Weise kategorisiert. Zu den idealtypischen Denkfiguren zählt der Fremde, den Simmel im Unterschied zum Gast als jemanden, der heute kommt und morgen bleibt, charakterisiert.3 Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman nimmt diesen Gedanken auf und fragt nach dem spezifischen Umgang mit Fremden im Nationalstaat.4 Dieser ziele auf Abgrenzung nach außen und auf innere Homogenisierung ab – welche freilich nie vollständig erzielt werden könne. Während der Feind laut Simmel und Bauman konstitutiven Anteil an der Lebenswelt des Selbst habe, gefährde der Fremde die Ordnung des sozialen Lebens. Daher findet der Fremde seinen Platz in der Ordnung des Nationalismus nur durch Assimilation oder als innerer Feind, der für die mangelhafte Verwirklichung des Homogenisierungsprojekts oder für Erosionserscheinungen der gesellschaftlichen Ordnung verantwortlich gemacht werden kann. Der innere Feind ist keineswegs eine Figur der Moderne, doch scheint seine Verbreitung seit dem 19. Jahrhundert inflationär. Alles konnte als Distinktionsmerkmal dienen, jede Differenz wurde zum potenziellen Ausschlusskriterium. Eine Feindschaft konnte dabei so weit gehen, dass sie die physische Vernichtung des Anderen potenziell inkludierte. Diesen ultimativen Charakter wiesen Beziehungen im Moment des kriegerischen Konflikts auf. Die meisten, auch mit

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größter Verbissenheit geführten Auseinandersetzungen, wie etwa im cisleithanischen Reichsrat, basierten jedoch auf dem Boden einer gemeinsamen Ordnung, auf wechselseitig akzeptierten Spielregeln. In der Tat lässt sich in diesen Fällen viel eher von Gegnerschaften als von Feindschaften sprechen: Wenn die Positionen der Auseinandersetzung auch noch so verhärtet waren, wenn der Konflikt auch noch so leidenschaftlich geführt wurde, so wurde doch nur zu dem Nein gesagt, was der andere tut oder sagt, nicht jedoch zum Anderen selbst. So wie dem Fremden wurde auch dem Gegner seine Andersheit zugestanden, die sich einer eindeutigen Zuordenbarkeit entzog. Darin unterschied er sich vom Feind. Diesem fehlte die dem Fremden eigentümliche Potentialität, der Status des Unentscheidbaren und des Dazwischen. Der Feind wurde und wird ausschließlich negativ definiert. Die Geschichte des Habsburgerreiches ist auch eine Geschichte von Feindschaften. In den Kriegen gegen das Osmanische Reich zeigte sich in aller Deutlichkeit, was es bedeutete, ein Feind Habsburgs zu sein. Feind war der, der die Herrschaft bedrohte – war die Bedrohung jedoch gebannt, dann verlor auch die Vorstellung von Feindschaft an Schärfe. So stellte das Osmanische Reich über Jahrhunderte den Idealtypus des äußeren Feindes dar,5 ihr Ende fanden die beiden Kontrahenten – Habsburger und Osmanen – dann als Verbündete. Das änderte nichts daran, dass Letztere als Feinde in Erinnerung behalten wurden und immer noch werden. Der Rückgriff auf vergangene kriegerische Konflikte diente dabei der Konstruktion neuer Bedrohungen, die vermeintlich eindeutige historische Frontstellung wurde auf die gesellschaftliche Komplexität in einem Jetzt übertragen und sollte für Klarheit sorgen. Nicht zufällig fiel die Zeit des aufkommenden und aufblühenden Nationalismus mit einer Zeit verstärkt wahrzunehmender Unsicherheit zusammen. Beschleunigter gesellschaftlicher Wandel, soziale und geografische Mobilität sowie technischer Fortschritt und verdichtete Kommunikation – alles das führte gleichermaßen zu Hoffnungen und Ängsten. Traditionell gültige Überzeugungen, Zugehörigkeiten und Loyalitäten gerieten ins Wanken, neue Selbstentwürfe und Vergesellschaftungsformen traten an ihre Stelle und in Konkurrenz zueinander.

Feindschaften

In Zeiten solcher Unsicherheit konnte das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen zur Konstruktion von klaren Gegensätzen führen. Die Aktualisierung von Angst und Schrecken überwundener militärischer Konflikte diente dazu, auch in der Gegenwart jenes Objekt der Angst zu definieren, jenen Feind zu benennen, der die Welt wieder in Ordnung brachte. Der Fremde, das Unentscheidbare und Mehrdeutige störten, denn sie bedrohten die – wenn auch nur labile – Ordnung. In solchen historischen Konstellationen lieferte die in Erinnerung gerufene kriegerische Vergangenheit das Rohmaterial für die Strukturierung und Emotionalisierung aktueller Auseinandersetzungen. Gingen schon moderne Homogenisierungs- und Ordnungsprojekte daran, den widerständigen Fremden in ihre Schemata einzupassen, ihn auf das wohlgeordnete Entweder-oder des Freund-Feind-Gegensatzes zu reduzieren, so verschärfte die komplexitätsreduzierte Erinnerung an militärische Konflikte und Bedrohungssituationen diesen Prozess. Dabei konnte es zu einer Übertragung der Feindbilder von einstigen Gegnern von außen auf aktuelle, zu inneren Feinden erklärte Gruppen kommen. Die Erinnerung an die Türken stellt dafür ein idealtypisches Beispiel dar. Im Folgenden soll mit einigen Beispielen veranschaulicht werden, auf welch unterschiedliche Gruppen das Bild des türkischen Feindes übertragen werden konnte.6 Dem kaisertreuen Historiker Ignaz Kankoffer etwa diente der Verweis auf 1683 zur Kontrastierung der Ereignisse in Wien im Jahr 1848:7 Die akademische Legion bezeichnete er als „zügellosen Janitscharen=Corps“,8 die Rebellion der Ungarn verglich er mit ihrer Kooperation mit den Osmanen und die Polen würden – entgegen den Taten ihrer heroischen Vorfahren – die Welt mit „Krawallen, Revolution, Mord und Brand“ überziehen.9 Die Wiener von 1848 hingegen stellte er nicht anders als die des Jahres 1683 dar: „von Natur gutmüthig, bieder und edel“.10 Die Jugend sei von Anarchisten und Vagabunden nur verführt worden, bezahlt durch „anfangs französisches, dann italienisches, polnisches und ungarisches Geld“.11 Sah Kankoffer zur Mitte des 19. Jahrhunderts den Revolutionär als die drohendste Gefahr für das Reich und diente ihm die Erinnerung an 1683 zur Verteidigung der Wiener Bevölkerung, so taten sich zur Zeit

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des 200-Jahr-Jubiläums der Wiener Türkenbelagerung neue gesellschaftliche Gräben auf. Vertreter der Kirche und des liberalen Bürgertums warfen sich gegenseitig vor, die „Türken von heute“ zu sein. Papst Leo XIII. zog diesen Vergleich in einem Sendschreiben an den Wiener Fürsterzbischof Cölestin Ganglbauer, wenn er von den inneren Gegnern schrieb, welche die Waffen nicht nur gegen die katholische Sache führten, sondern auch die staatliche Ordnung gefährdeten.12 Das Neue Wiener Tagblatt sah wiederum in den liberalen Stadträten die neuen Verteidiger Wiens als „Bollwerk der modernen Kultur“ gegen die Christlich-Konservativen.13 Zu den neuen Türken wurden nicht selten auch die Juden – später auch bei Simmel das klassische Beispiel des Fremden – gemacht. So verglich der Autor eines Rückblicks auf die Jubiläumsfeiern im Feuilleton des antiliberalen St. Pöltner Boten die Hilfeleistung des polnischen Königs Jan III. Sobieski mit der angeblichen gegenwärtigen Unterstützung der Polen gegen „viele Eindringlinge von Osten, gegen jüdische Finanzer, Kapitalisten, Bank=Direktoren, Eisenbahn-Könige [...]; gegen die vielen freimaurer’schen, glaubensarmen Bundesgenossen dieser Morgenländer!“14 Fünfzig Jahre später bot ein weiteres Jubiläum Anlass zur Anwendung des türkischen Bedrohungsbildes auf neue Feinde. 1933 diente die Erinnerung an die Türkenbelagerung der Mobilisierung für den entstehenden autoritären Ständestaat und gegen Sozialdemokratie und Nationalsozialisten. Angesichts dieser Bandbreite an möglichen Objekten der Feindbildübertragung wird deutlich, dass die gegenwärtig häufig vorkommende Gleichsetzung der osmanischen Truppen von einst mit Muslimen nichts mit deren Religion oder irgendeiner Herkunftsregion zu tun hat. Vielmehr zeigt auch dieses Beispiel, dass durch Nichtakzeptanz des Fremden bisher vertraute Fremdheiten in Feindschaft umschlagen können. Anstelle der Räume des Übertritts, der Vielsprachigkeit, Uneindeutigkeit und Ähnlichkeiten tritt eine unüberschreitbare Grenze zwischen ‚uns‘ und den ‚anderen‘. Es sind nicht zuletzt Bedrohungsbilder aus der Vergangenheit, die zur Konstruktion und Etablierung derartig scharfer Gegensätze auf Kosten kleiner, davor wenig relevanter Unterschiede wesentlich beitragen.

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Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930, S. 27. Georg Simmel, Der Mensch als Feind. Zwei Fragmente aus einer Soziologie, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Band 2, Frankfurt am Main 1993, S. 335–343, hier S. 339f. Vgl. Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 509–512. Vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz, in: Ulrich Bielefeld (Hg.), Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt?, Hamburg 1998, S. 23–49. Für eine europäische Langzeitperspektive vgl. Simon Hadler, Zugehörigkeit durch Abgrenzung – Der Türke als der Andere Europas, in: Gregor Feindt u. a. (Hg.), Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung. Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation, Göttingen 2014, S. 93–118. Vgl. Johannes Feichtinger, Der erinnerte Feind und nationale Integration. Zen­ traleuropa im langen 19. Jahrhundert aus gedächtnishistorischer Perspektive, in: Johann Heiss/Johannes Feichtinger (Hg.), Der erinnerte Feind (Kritische Studien zur „Türkenbelagerung“ 2), Wien 2013, S. 300–322. – Sowie zur Instrumentalisierung der Erinnerung an die Türken allgemein die Beiträge in diesem und dem folgenden Band: Johannes Feichtinger/Johann Heiss (Hg.), Geschichtspolitik und „Türkenbelagerung“ (Kritische Studien zur „Türkenbelagerung“ 1), Wien 2013. Ig[naz] Kankoffer, Heldenmüthige Vertheidigung der Stadt Wien gegen die Türken im Jahre 1683. Mit Hinblick auf das Jahr 1848, Wien 1849. Ebd., S. 6. Ebd., S. 58. Ebd., S. 4. Ebd., S. 31. Das päpstliche Sendschreiben über die Säcularfeier, in: Neue Freie Presse, 12.9.1883, S. 2f. Unsere Türken von heute, in: Neues Wiener Tagblatt, 11.9.1890, S. 1f. Nachklänge zum Türkenrummel „1883“, in: St. Pöltner Bote, 25.10.1883, S. 1f. Hervorhebung im Original.

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Geschichtsbilder Werner Suppanz

In der kulturellen Erinnerung an das Habsburgerreich spielt die soziokulturelle Vielfalt und Dynamik Zentraleuropas keine vorrangige Rolle, wie sich anhand von historischer Bildung, Geschichtswissenschaft, politischer Kooperation und populärem Geschichtsbild zeigen lässt.

„In Österreich lebten viele verschiedene Völker. Im 19. Jahrhundert waren elf Sprachen offiziell anerkannt. Daher nannte man diesen Staat auch einen ‚Vielvölker-Staat‘. Die Einwohner hatten ganz unterschiedliche Religionen. Es gab katholische, evangelische und orthodoxe Christen. Das Judentum und der Islam waren in der Monarchie ebenfalls anerkannte Religionen. Viele Tschechen, Slowaken, Polen, Slowenen, Kroaten, Italiener und Rumänen waren mit der Situation aber nicht zufrieden. Sie wollten genauso viel Unabhängigkeit wie die Ungarn.“1

Mit diesen Worten fasst das Lernmaterial für die Vorbereitung auf die Staatsbürgerschaftsprüfung, erstellt von den Bundesministerien für Inneres sowie für Europa, Integration und Äußeres, die plurinationale Verfasstheit der Habsburgermonarchie zusammen. Die Schilderung schlägt auch eine Brücke zur Gegenwart: Der Nationalismus habe Österreich-Ungarn zwar ein Ende bereitet, aber auch einige der Nachfolgestaaten seien mehrsprachige Vielvölkerstaaten gewesen. Dennoch liege ein Unterschied zur Gegenwart vor: „Heute sind viele Länder in Europa Nationalstaaten mit vielen Völkern im Land. Aber die Ursachen sind andere. Viele Nationalstaaten sind durch Zuwanderung ‚bunt‘ geworden. Das gilt auch für Österreich.“ Durch Einbürgerung gebe es immer mehr Österreicher/innen, die durch Zuwanderung – die Beispiele

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Wachsfigur im Panoptikum Hamburg, Romy Schneider als Sissi. © Mark Michaelis (Foto), Saskia Ruth (Künstlerin), 2008

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verweisen großteils auf Nachbarstaaten – gekommen seien: „Viele dieser Bürger/innen sagen: ‚Ich bin Österreicher/in‘. Viele sagen aber auch: ‚Ich bin Österreicher/in. Ich habe aber – zum Beispiel – serbische, türkische oder bosnische Wurzeln.‘ Das ist ein Bekenntnis zur neuen Heimat, aber auch zur eigenen Herkunft (oder zur Herkunft der Eltern).“2 Diese Darstellung zeigt mehrere Charakteristika des gegenwärtigen Geschichtsbilds der habsburgischen Vergangenheit Österreichs im Bildungswesen und in der medialen Verbreitung auf: Die Plurinationalität der Monarchie wird prinzipiell positiv anerkannt. Sie erfolgt aber mit dem Verweis auf den ‚autochthonen‘ Charakter der ‚Völker im Land‘, im Gegensatz zu den durch Zuwanderung „bunt“ gewordenen Nationalstaaten der Gegenwart. Diese Erzählung vernachlässigt die demografische, soziokulturelle und wirtschaftliche Bedeutung der Migrationsprozesse innerhalb Österreich-Ungarns, insbesondere zur im Beispielstext behandelten Zeit um 19003, und vor allem geht sie nicht auf die Uneindeutigkeit und Pluralität von Identitäten und Praktiken der Zugehörigkeit ein. Die offiziell vermittelten Geschichtsbilder verweisen somit nach wie vor auf klar unterscheidbare „Völker“ in Zentraleuropa. Der Modellcharakter Österreich-Ungarns hinsichtlich Vielsprachigkeit und kultureller Hybridität bleibt unerwähnt. Er ist Gegenstand aktueller geschichts- und kulturwissenschaftlicher Forschung, aber weder Teil eines populären noch eines im Bildungssystem vermittelten Geschichtsbildes. Das Geschichtsbild der Medien historischer Bildung, wie dem zitierten Schulungsmaterial für die Staatsbürgerschaftsprüfung und den Schullehrbüchern, beschreibt die nationale Pluralität der Habsburgermonarchie primär als problematisch. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt gilt in der Darstellung der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts vorrangig als zentrifugale Kraft: „Österreich war Ende des 19. Jahrhunderts kaum noch regierbar.“4 Die Bevölkerung und die Territorien der Habsburgermonarchie werden dabei als eindeutig national zuordenbar präsentiert und damit die Logik und das Selbstverständnis der nationalistischen Bewegungen Österreich-Ungarns reproduziert. Die Normalität eines zwei- oder mehr-

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sprachigen lokalen Alltagslebens und der Transferprozesse zwischen den sprachlich-kulturellen und religiösen communities findet keine Beachtung. Die Wechselwirkungen der nationalen Spannungen und Dominanzkämpfe einerseits, und der vielfältigen Verflechtungen der ‚Volksstämme‘ und ihrer kulturellen Erzeugnisse andererseits werden im Blick des österreichischen Bildungswesens auf die Habsburgermonarchie weitgehend auf das erstgenannte Moment reduziert. Um die Heterogenität, Mehrdeutigkeit und Ambivalenz Zentraleuropas als kulturelle Ressource für die Diversitätserfahrungen der Gegenwart heranzuziehen, wäre daher das Moment der Hybridität in das „bewohnte Gedächtnis“ (Aleida Assmann) einzubringen. Nur Wien als Metropole wird auch unter dem Aspekt der Binnenmigration in der Habsburgermonarchie thematisiert. Die Aufmerksamkeit auf den „Schmelztiegel“ Wien erfolgt allerdings nur ausnahmsweise und mit Fokus auf die rasch zunehmende Urbanisierung und Industrialisierung.5 Das Geschichtsbild, das im Bildungswesen vermittelt wird, unterscheidet sich damit deutlich von den Themen und Zugängen, die in der kulturwissenschaftlich geprägten Geschichtswissenschaft bearbeitet werden. Diese Deutung, die sich insbesondere in den letzten zwanzig Jahren herausgebildet hat, betont die Verflochtenheit der nationalen und sozialen Spannungen mit den kreativen Prozessen in den urbanen Milieus und der soziokulturellen Hybridität in den Metropolen und den ‚Zentren zweiter Ordnung‘, aber auch in zwei- oder mehrsprachigen Regionen, die aus der Heterogenität und Pluralität ÖsterreichUngarns resultieren. Ausgehend von einem Metropolen-, insbesondere Wien-zentrierten Blick auf das Thema, für das Carl Schorskes Fin-deSiècle Vienna 6 eine der Initialzündungen war, kamen mittlere Städte, die als politische und soziokulturelle Zentren der Kronländer fungierten,7 in den Fokus der Forschung. In einem weiteren Schritt waren es kleinstädtische und ländliche Gebiete, die als Orte der Pluralität und Heterogenität, aber auch des Kampfes um die Herstellung nationaler Zugehörigkeiten Dignität in der Forschung erlangten.8 Charakteristisch ist dabei, wie noch einmal zu betonen ist, die Gemengelage von einerseits Abgrenzungen und Machthierarchien, wie sie in innerer

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Kolonialisierung9 zum Ausdruck kommen, und andererseits gelebter Mehrsprachigkeit und kultureller Uneindeutigkeit, die erst unter dem Druck der Nationalismen zunehmend in die Defensive gerieten. Auffällig ist zudem, dass gerade aus der US-amerikanischen Forschung zahlreiche Impulse kamen, die in die erkenntnisleitenden Interessen und theoretischen Zugänge der Forschung in Österreich einflossen. Auf politischer Ebene scheint die Erinnerung an das habsburgische Zentraleuropa, die noch in den 1980er-Jahren als blockübergreifende Erzählung von historischer Gemeinsamkeit eine Rolle spielte, kaum noch Bedeutung zu haben. Das Zentraleuropa der Jahre bis 1918 ist von Erinnerungen an den Eisernen Vorhang und an politische und sozioökonomische Systemunterschiede bis 1989 weitgehend überschrieben, aber auch von divergierenden Perspektiven auf ÖsterreichUngarn in den nationalen Geschichtsbildern geprägt. Anklänge in Form internationaler Zusammenarbeit bestehen in der 1991 gegründeten Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn)10 und dem 2015 gestarteten Austerlitz-Format, der auch als Nord-Trilaterale bezeichneten Kooperation von Tschechien, der Slowakei und Österreich, unterzeichnet in Slavkov u Brna/Austerlitz in Südmähren. Die Berufung auf eine ‚gemeinsame Geschichte‘ spielt jedoch angesichts der Mitgliedschaft in der maßgeblicheren Europäischen Union nur eine geringe Rolle. Im Vordergrund steht vielmehr der Befund eines Gefühls wechselseitiger Fremdheit, die nach wie vor als zu beseitigendes Defizit aufgefasst wird: „Enhancement of people-to-people contact in the region“ soll „growing confidence in regional co-operation and European integration projects“ erzeugen, wie die Austerlitz-Deklaration feststellt.11 Von Fremdheit geprägte Nachbarschaft, so lässt sich das Dokument interpretieren, sei im gemeinsamen Europa und angesichts gemeinsamer Bedrohungsszenarien nicht länger leistbar. Die Vorstellung ‚historischer Gemeinsamkeit‘ legitimiert hingegen die regionale Kooperation der Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie nur in geringem Maße. Gerade in Österreich ist die populäre Erinnerung an die Zeit vor 1918 damit vor allem ein nostalgisches und ein kommerzielles Unternehmen, das sich kaum auf kulturelle Gemeinsamkeiten und ein

Geschichtsbilder

gegenwärtiges zentraleuropäisches Wir-Gefühl bezieht, vielmehr jedoch auf die Habsburger als Dynastie und als vermarktbare Persönlichkeiten. „Österreich ist eine Republik, das Recht aber geht von der Nostalgie aus“, lautet ein ironischer Befund.12 „Ein letzter Glanz für Habsburg“ lautete dementsprechend der Titel einer acht Seiten umfassenden Reportage über die Beisetzung Otto Habsburgs am 16. Juli 2011. Mit der Feststellung „Das republikanische Österreich verneigte sich vor dem letzten Thronfolger des Habsburgerreiches“ wurde die Teilnahme von Bundespräsident Heinz Fischer und Bundeskanzler Werner Faymann kommentiert.13 Die hier angeführten Zeitungsberichte oszillieren zwischen der Feststellung einer abschließenden ­Zäsur voll Schwere und Ernsthaftigkeit („Der Trauerzug in Wien beendete ein Kapitel der Geschichte“14) und der Deutung als karnevalesker Inszenierung eines Anachronismus.15 Sie verweisen aber ausschließlich auf die Bedeutung der Habsburger(monarchie) für eine nationalösterreichische Geschichte, nicht auf einen übergreifenden zentral­ europäischen Zusammenhang. Die Präsenz von „k. u. k. Hofzuckerbäckern“ und „k. u. k. Hoflieferanten“ sowie der „Sisi-Mythos“16 reduzieren die Habsburgermonarchie ebenfalls auf die Aura des Höfischen und beruhen auf affirmativen Vorstellungen von einer ständischen Gesellschaft mit klaren Hierarchien. Städteimages und touristisches Marketing formulieren Erzählungen, die sich primär auf die Dynastie und den Glanz der Metropole beziehen. Verweise auf Zentraleuropa als einen zugleich konfliktreichen und produktiven, von soziokultureller Vielfalt sowie von Migration und Mobilität charakterisierten Raum erscheinen in diesem Geschichtsbild nachrangig. Anmerkungen

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Mein Österreich. Vorbereitung zur Staatsbürgerschaftsprüfung, Wien 2014, S. 26, www.staatsbuergerschaft.gv.at/fileadmin/user_upload/Broschuere/StaBuBro. pdf (abgerufen am 15.1.2016.) Ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 24. Michael Lemberger, Durch die Vergangenheit zur Gegenwart 3. Geschichte und

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Sozialkunde/Politische Bildung. Lehr- und Arbeitsbuch für die 7. Schulstufe, Linz/ Wien u. a. 82010, S. 102. Ebd., S. 108. – Vgl. Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten. Mit einer Einleitung von Erich Zöllner, Wien/Köln 1990. Vgl. Carl E. Schorske, Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture, New York 1980. Vgl. z. B. Reinhard Kannonier/Helmut Konrad (Hg.), Urbane Leitkulturen 1890– 1914. Leipzig – Ljubljana – Linz – Bologna (Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte 6), Wien 1995. Vgl. z. B. Pieter M. Judson, Nationalizing Rural Landscapes in Cisleithania 1880– 1914, in: Nancy M. Wingfield (ed.), Creating the Other. Ethnic Conflict and Nationalism in Habsburg Central Europe (Austrian History, Culture and Society 5), New York 2005, S. 127–148. Vgl. Johannes Feichtinger/Ursula Prutsch/Moritz Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 2), Innsbruck u. a. 2003. www.visegradgroup.eu/ (abgerufen am 15.1.2016). – Als umfassenderes Forum siehe die 1989 gegründete Zentraleuropäische Initiative CEI www.cei.int/ (abgerufen am 15.1.2016). www.vlada.cz/assets/media-centrum/aktualne/Austerlitz-Declaration.pdf (abgerufen am 15.1.2016). Ljubiša Tošic, Ein Herzloser bekam Einlass, in: Der Standard, 18.7.2011, S. 7. Stefan Winkler, Zum Adieu das „Gott erhalte“, in: Kleine Zeitung. Beilage Ein letzter Glanz für Habsburg, 17.7.2011, S. 2. Ebd, S. 1. Tobias Müller, Der Karneval der Monarchisten, in: Der Standard, 18.8.2011, S. 6. Vgl. Keine Thränen wird man weinen…: Kaiserin Elisabeth. Hermesvilla, Lainzer Tiergarten, 2. April 1998 – 16. Februar 1999, Red. Susanne Walther, Wien 1998.

Halb-Asien Andrei Corbea-Hoisie

Der Ausdruck ‚Halbasien‘/‚Halb-Asien‘ gilt als eine journalistische Erfindung von Karl Emil Franzos, der ihn im Titel seiner ersten ­Feuilletonsammlung 1877 verwendete. Die Metapher wurde rasch durch ihre ideologische Ladung zu einem Topos im damaligen journalistischen Diskurs sowohl habsburgfreundlicher als auch im Allgemeinen deutsch-zentralistischer Autoren in der Monarchie: ein ganzes, mit kolonialem Eifer konzipiertes Programm der so genannten ,Mission Österreichs‘ im europäischen Osten (und mutatis mutandis auf dem Balkan) steckte dahinter und begleitete einschließlich auf propagandistischer Ebene die Außenpolitik Österreich-Ungarns bis spät im Ersten Weltkrieg. Unter den unzähligen Propaganda-Drucken, die den Kriegsausbruch 1914 begleiteten, trägt eine in Hamburg gedruckte Karte den Titel Momentaufnahme von Europa und Halbasien 1914;1 darauf werden in einer plump allegorisienden Art die ,Mächte‘ repräsentiert, die sich schon in Konfrontation befanden. Es gelingt u. a. dem von einem Adler beschützten deutschen Michel durch einen kunstvollen Spagat ein doppelter Fußtritt, nach vorne gegen einen erschrockenen französischen Infanteristen und nach hinten gegen einen finsteren Kosaken; die Mitte des Kontinents besetzen ein sich auf den Balkan stürzender Doppeladler zusammen mit einem (böhmischen oder Lemberger) Löwen, der seine Zähne nach Osten zeigt, während vom Nordosten her ein Riesenbär2 in den Rücken der liegenden Raubkatze fällt. Die dunkelgrüne Farbe um den grausigen Bären wirkt wie eine rollende, die noch ordentliche Buntheit europäischer Länder bedrohende Sintflut; sie strömt von der nicht mehr sichtbaren Seite der Karte aus, vom tie-

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Andrei Corbea-Hoisie

Momentaufnahme von Europa und Halbasien 1914. Farblithografie von W. Kaspar, Lith. Druck und Verlag von Grath & Kaspar, Hamburg. © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, europeana 1914–1918.eu

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fen Asien, wobei sie schon ein Drittel des europäischen Territoriums überdeckt.3 Die Lawine bringt mit sich ein Gemenge von schwer unterscheidbaren, dicht aneinander gedrängten Figuren und alptraumähnlichen Bildern ohne scharfe Konturen: Scharen von säbelrasselnden Polen, eine hasserfüllte Kosakenfratze, Galgen, Kolonnen von Häftlingen, Gefängniszellen und Gittern, Muschiks in zerissenen Kleidern inmitten brennender Häuser, heulende Wölfe und ein gesichtsloser, riesiger Uniformierter, der diese chaotische Landschaft, einschließlich des Bären, herrisch zu führen scheint. Das propagandistische Kunststück lässt sich wohl in jenen „performativen Sprechakt“4 übersetzen, der eigentlich zum gemeinsamen Nenner des Kriegsdiskurses der Mittelmächte wurde und im Kern ein seit den 1830er-Jahren in Europa geläufiges Russland-Klischee enthielt: das slawische Zarenreich, das die ,asiatische‘ Barbarei mit allen ihren Makeln (Tyrannei, Ausbeutung, Menschen- und Völkerverachtung, unzivilisierter Wildnis usw.) verkörpere, habe damit einen Teil Europas zu ,Asien‘ – zu ,Halbasien‘5 – verwandelt und drohe jetzt durch die Überschwemmung des restlichen Kontinents dessen Ordnung zu zerstören. In einer vornehmeren Diktion hat kein anderer als Hugo von Hofmannsthal eine kaum unterschiedliche Vorstellung vertreten, als er mitten im Weltkrieg in seinem Plädoyer für Die österreichische Idee (1917) an die Gegenwehr der Römer beim Einbruch östlicher ‚Barbaren‘ erinnerte und zum Widerstand gegen diese erneute Gefahr aufrief: Österreich sei „zugleich Grenzmark, Grenzwall, Abschluss […] zwischen dem europäischen Imperium und einem, dessen Toren vorlagernden, stets chaotisch bewegten Völkergemenge Halb-Europa, Halb-Asien und zugleich fliessende Grenze […], Ausgangspunkt der Kolonisation, der Penetration, der sich nach Osten fortpflanzenden Kulturwellen usw.“6 Der ursprüngliche Sinn des ,Halb-Asien‘-Begriffes, der zu diesem Zeitpunkt als Redewendung seit nicht mehr als vier Jahrzehnten im Umlauf war, hatte allerdings nichts mit Krieg zu tun. Als der im galizischen Czortkow 1848 in eine assimilierte jüdische Familie geborene und in Czernowitz, Wien und Graz ausgebildete Karl Emil Franzos das einschneidende incipit seiner im Feuilleton der Neuen Freien Presse am

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2. Oktober 1875 veröffentlichten Kulturstudie im Fluge niederschrieb („Bitte, mein Herr, ist die asiatische Grenze schon passirt?“), war seine Vorstellung von der europäisch-,asiatischen‘ Gegenüberstellung eine schlechthin sittlich-kulturelle, indem er dem rückständigen Osten Europas, „wo Alles Morast ist […]“ und wo „keine Kunst mehr und keine Wissenschaft [gedeiht]“, die Gegenden, „über denen die Sonne der Kultur leuchtet“,7 entgegen hielt und als Rezept des „Cultivirens“ – wie Hofmannsthal später – „einen vermehrten Einfluß des deutschen Geistes“8 empfahl. Die einstige geografische Anschauung Franzos’, der von der Neuen Freien Presse nach Czernowitz delegiert wurde, um über die Eröffnung der dort neu gegründeten deutschsprachigen Universität zu berichten, wich von der Vorstellung einer einfachen ,Grenzziehung‘ ab: aus dem Coupé-Fenster seines Zuges wertete er die Strecke von Wien bis Dzieditz als „Europa“, von Dzieditz bis Snyatin als „Halbasien“, von Snyatin bis Suczawa (auf dem Gebiet des k. u. k. Kronlandes Bukowina) wieder als „Europa“ und weiter über die rumänische Grenze „bis ins Unendliche“ als „tiefstes Asien“. Ein Jahr später wurde diese topograpfische Repräsentation geschärft und zugleich vereinfacht: trotz aller Differenzierungen fasste Franzos unter dem Begriff „Halb-Asien“ Galizien, die Bukowina, Südrussland und Rumänien zusammen. Die Titel der 1878 und 1888 erschienenen Fortsetzungsbände „neuer Culturbilder aus Halb-Asien“ (Vom Don zur Donau und Aus der grossen Ebene) deckten ungefähr denselben kartografisch bestimmbaren Raum ab, zumal die gesamte Edition aller drei Zyklen jenseits aller Dilemmata Halb-Asien. Land und Leute des östlichen Europa hieß. Es handelte sich also um ein kulturell bestimmbares ‚Grenzland‘, mit anderen Worten um einen ‚Grenzraum‘ (des „Abendlandes“?9), einen ‚Zwischenraum‘ des kulturellen ‚Sowohl-als-auch‘ („Bildung und Barbarei“) und ‚Weder-noch‘ („weder heller Tag, noch dunkle Nacht“). Einige Exegeten meinten sogar, dass „Halb-Asien“ bloß eine offene „Bühne“ für Franzos’ Selbst darstelle,10 wodurch er nicht aufhörte, seine eigenen, sozial motivierten inneren Widersprüche („Deutscher mosaischen Glaubens“ und „podolischer Herkunft“ usw.) zu thematisieren.

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Nicht nur dank der Gunst der Neuen Freien Presse errang das Buch von Franzos einen glänzenden Erfolg bei den Rezensenten und den Lesern. Dazu soll auch die geglückte Erfindung11 jener in ihrer öffentlichen Wirksamkeit treffsicheren Formel kräftig beigetragen haben, die er als Titel des Bandes gewählt hatte. Mit Stolz zählte Franzos 1901 die 15 Sprachen auf, in denen die Bücher oder nur Fragmente bis dahin übersetzt worden waren und bemerkte dazu zufrieden, dass der Titel „inzwischen zur fast allgemein gebräuchlichen Bezeichnung des östlichen Europa geworden ist“.12 Er übertrieb damit keinesfalls, denn diese wurde schon in den 1880er-Jahren ins für jede bürgerliche Wohnung unentbehrliche Geflügelte Worte-Lexikon Georg Büchmanns übernommen und mit Bezug auf ihren Schöpfer als Bezeichnung eines „Teil[s] des von der Kultur nur überfirnissten Osteuropas“13 definiert. Zeugnisse einer außerordentlichen öffentlichen Wirkung der mit Franzos’ Autorschaft assoziierten Redewendung14 gibt es in großer Menge, von Theodor Fontanes Erwähnung der Region südöstlich von Wien als „Karl-Emil-Franzos-Gegend“15 bis zu zahlreichen Zitaten und Anspielungen in um 1900 datierbaren publizistischen Produktionen aller Art. Das deutschsprachige bürgerliche Publikum schätzte offensichtlich den von Franzos er-/gefundenen Namen, denn er „illustrierte“ gerade eine sich in dessen kollektivem Bewusstsein – infolge eines langfristigen historischen Prozesses – manifestierende mental map Europas und seines Ostens.16 Der Begriff besaß tatsächlich die synthetisierende Fähigkeit, in dem besagten „Raum im Kopf“17 die Diachronie mit der Synchronie zu verbinden: einerseits wies er auf die allmähliche Ersetzung der traditionellen Dichotomie zwischen dem (barbarischen) Norden und dem (zivilisierten) Süden durch den politischen Gegensatz Ost-West hin, wobei auch zwei Denkkonventionen – das Bild des barbarisch-türkischen Orients und die bedrohliche Projektion der ‚asiatischen‘ russischen Fremdheit – gekoppelt wurden;18 andererseits waren damit höchst aktuelle gesellschaftlich-politische Fragen angesprochen, darunter die (1901 von Franzos als gescheitert erklärten) Bemühungen Wiens um den Ausgleich der ökonomischen Rückständigkeit, der sozialen Gegensätze und der immer heftigeren nationalen und konfessionellen Konflikte, besonders in Galizien, der Widerstand

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der jüdischen Massen Osteuropas gegenüber den altliberalen Assimilierungsrezepten oder der latente Druck seitens einer slawischen Bevölkerung in der und um die Monarchie, die potenziell vom russischen Panslawismus instrumentalisiert werden konnte. Indem er dem neutraleren ,Halb-Europa‘ das Schlagwort ,HalbAsien‘ vorgezogen hatte, signalisierte Karl Emil Franzos trotz aller Objektivitätsbeteuerungen die ausdrückliche Dienstbarkeit seiner „Culturbilder“ zugunsten eines ideologischen Programms, das sich mit dem – laut Franzos – im Josephinismus wurzelnden deutsch-liberalen Ideal eines „germanisierte[n], freiheitlich regierte[n] Österreich, als Vormacht eines geeinigten Deutschland“ deckte.19 Die Begeisterung für die ‚deutschen‘ Tugenden ließ keinen Platz mehr für die Anerkennung einer zur Exklusion verurteilten Andersheit, deren ‚erdrückende‘ Fremdartigkeit – auch jene des von ihm heftig kritisierten traditionellen Ostjudentums – er mit dem extrem scheidenden Terminus des (Halb-),Asiatischen‘ bezeichnete. Die deutsche/österreichische ‚Mission‘ in Osteuropa, „das Culturstreben unter jenen Völkern zu wecken und zu fördern, der nationalen Cultur derselben der Stab zu sein, an dem sie sich aufranken“ könne, sollte nach Franzos dazu führen, dass „das deutsche Reich“ – ebenso wie die Deutschen in Österreich – für das „Völkergewirr des Ostens“ in eine Art „Magnetberg“ verwandelt werde.20 Der Anwalt der aufklärerischen Vernunft bedient sich somit eines typisch „kolonialen“ Diskurses, wenn er sich anmaßt, über die „Halb- und Unkultur des Ostens“, mit seinen „Geschöpfe[n], denen man kaum noch den Titel Mensch zuwenden kann“,21 zu urteilen. Kein ‚Gegen-Diskurs‘ wird von ihm in dem ‚Zwischenraum‘ Halb-Asien zugelassen, keine wirkliche Dynamik in dem inszenierten Gegensatz zwischen Rückstand und Fortschritt belebt den ‚Nicht-Ort‘/die Heterotopie,22 keine Pluralität in der relativierten, mit fließenden Übergängen versehenen Geografie will und kann die auch von Franzos getragene ‚Moderne‘ mit ihren kulturellen Herrschaftsvisionen anerkennen – darum auch sein Klagen über die nach 1879 eingeleitete „Versöhnungsära“ zwischen den Nationalitäten in „diesem unglücklichen Staate“ Österreich.23

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Wie es öfter bei ‚geflügelten Worten‘ geschieht, ließ sich ‚HalbAsien‘ in der Alltagssprache schrittweise von seinem Urheber trennen. Laut dem Armeejargon kurz vor 1914 z. B. lagen die galizischen Garnisonen in „Halb-Asien“.24 Öfter wurde das ‚halb-asiatische‘ Modell nur angedeutet, auch ohne ausdrücklich ‚genannt‘ zu werden – wie im Falle der Landschaft, in der Musil 1906 die Verwirrungen des Zöglings Törless platzierte: „an der Strecke, die nach Russland führt“, „im Osten des Reiches, in spärlich besiedeltem, trockenem Ackerland“.25 Eine im Weltkrieg zur Propagandafloskel degradierte Vision ,HalbAsiens‘ überlebte das Jahr 1918 und erwachte zur neuerlichen (meist nostalgischen) literarischen Verwendung. Joseph Roth, der in seinen Reiseberichten für die Frankfurter Zeitung aus dem neu entstandenen Polen Lemberg „die Stadt der verwischten Grenzen“, „den östlichen Ausläufer der alten kaiserlichen und königlichen Welt“ nannte und dahinter „Russland, eine andere Welt“ erblickte,26 schickte Carl Joseph von Trotta, den Helden seines 1932 erschienenen Romans Radetzkymarsch, den er im Krieg fallen ließ, in die Stadt B., „an der Grenze des russischen Czaren“, wohin jedoch „die Strahlen der habsburgischen Sonne reichten“ und deren Bewohner „zwischen dem Osten und dem Westen, eingeklemmt zwischen Nacht und Tag“ leben mussten.27 Als symptomatisch für die vielfältigen symbolischen Ressourcen der ,Halb-Asien‘-Figur mag Dino Buzzatis existenzialistischer Roman Il deserto dei Tartari aus dem Jahre 1940 – der wohl Momente aus der Prosa von Kafka und Camus anklingen lässt – gelten, mit seiner denkwürdigen Hauptgestalt Giovanni Drogo, der in einer Festung vor der Wüste, an der nördlichen Grenze eines namenlosen Reiches, auf den Angriff (‚asiatischer‘) Tataren wartet. Anmerkungen

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Der Autor hieß Wilhelm Kaspar und war vermutlich auch Besitzer des Verlags Graht & Kaspar, der die Karte veröffentlichte. Zum Motiv des ‚russischen Bären‘ vgl. Hans Lemberg, Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom „Norden“ zum „Osten“ Europas, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 33 (1985) 1, S. 49–91, hier S. 85–90. Siehe die Skepsis des Czernowitzer Journalisten Philipp Menczel, der 1914 von den

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russischen Truppen verhaftet und nach Sibirien deportiert wurde, als er im entfernten Tscheljabinsk auf den Obelisken traf, der die formelle ‚Grenze‘ zwischen Europa und Asien markieren sollte. Vgl. Philipp Menczel, Trügerische Lösungen. Erlebnisse und Betrachtungen eines Österreichers, Stuttgart/Berlin 1932, S. 117f. Vgl. J. Hillis Miller, Topographies, Stanford 1995. Schon 1845 nannte Ernst von Bülow-Cummerow Russland „ein Reich mit asiatischen Institutionen, von aussen mit europäischer Cultur übertüncht“, „ein halb europäisches, halb asiatisches in mehrfacher Beziehung“. Auch Karl Marx verwendete 1853 in Bezug auf Russland den Terminus „halborientalisch“, vgl. Lemberg 1985, S. 75. Hugo von Hofmannsthal, Die österreichische Idee (1917), in: ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II 1914–1924, hg. von Bernd Schoeller, Frankfurt am Main 1986, S. 454–458, hier S. 456. Karl Emil Franzos, Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien, Leipzig 1876, S. IV. Vgl. Franzos’ Vorwort zu der Gesamtedition seiner Culturbilder von 1901: HalbAsien. Land und Leute des östlichen Europa. Band 1, Stuttgart/Berlin 1901, S. XXIX. Vgl. Oskar Haleckis Thesen (Grenzraum des Abendlandes, 1956). – Vgl. Peter Haslinger, Grenze als Strukturprinzip und Wahrnehmungsproblem: Theorien und Konzepte im Bereich der Geschichtswissenschaften, in: Christoph Augustynowicz/­Andreas Kappeler (Hg.), Die galizische Grenze 1772–1867: Kommunikation oder Isolation?, Wien/Berlin 2007, S. 5–21, hier S. 17. Roman Lach/Thomas Markwart, Geisterlandschaft Galizien. Karl Emil Franzos, Leopold von Sacher-Masoch, Joseph Roth, Alfred Döblin, Bruno Schulz, www. kakanien-revisited.at/beitr/fallstudie/RLach_TMarkwart1.pdf (abgerufen am 15.12.2015), S. 3. In Büchmanns Geflügelte Worte-Lexikon (bearbeitet von Eduard Ippel, Berlin 1905, S. 328) wird als Vorläufer der Redewendung der Titel eines Buches von Aurelio Buddeus (Leipzig 1847) genannt. Dieter Kessler meint, dass der Ausdruck eigentlich von einem gewissen Theochar Alexi stamme, dessen in Kronstadt 1869 erschienenes Buch den Titel Im Halborient trug. Vgl. Dieter Kessler, Die deutschen Literaturen Siebenbürgens, des Banats und des Buchenlandes (1848–1918), Köln/ Weimar/Wien 1997, S. 530. Franzos 1901, S. VIII. Geflügelte Worte-Lexikon, S. 328. Im Nachruf auf Franzos in der Vossischen Zeitung vom 30. Januar 1904 wurde er als „Schöpfer von Halb-Asien“ gewürdigt. Vgl. Helmut Nürnberger, Nachwort, in: Karl Emil Franzos, Judith Trachtenberg. Roman, Frankfurt am Main/Berlin 1992, S. 199–217, hier S. 199. Frithjof Benjamin Schenk, Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002) 3, S. 493–514. Ebd., S. 496.

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Die spezifische Amalgamierung verschiedener ,sozialer Repräsentationen‘ (,asiatisch‘ = ,türkisch‘ = ,russisch/slawisch‘ usw.) soll den politischen Zielen der (unter den ,klassischen‘ Kolonialmächten abwesenden) Habsburgermonarchie in Bezug auf eine ,innere‘ Kolonisierung Galiziens und des gesamten Osteuropa gedient haben. Vgl. auch Johannes Feichtinger, Komplexer k. u. k. Orientalismus: Akteure, Institutionen, Diskurse im 19. und 20. Jahrhundert in Österreich, in: Robert Born/ Sarah Lemmen (Hg.), Orientalismen in Ostmitteleuropa. Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2014, S. 33– 63. Karl Emil Franzos, Mein Erstlingswerk. Die Juden von Barnow, in: ders. (Hg.), Die Geschichte des Erstlingswerkes, Leipzig 1894, S. 213–284, hier S. 220. Franzos 1876, S. XI. Ebd., S. 108. Zu all diesen kulturwissenschaftlichen Begrifflichkeiten vgl. Sigrid Weigel, Zum „topographical turn“. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik 2 (2002) 4, S. 151–165. Franzos 1901, S. XXXII. Vgl. u. a. Franz Xaver Schuberts „Tagebuch“ (aus losen, kurz nach dem Erlebnis verfassten Tagebuchblättern 1943 zusammengestellt und ergänzt). Maschinenms. im Österreichischen Staatsarchiv/Kriegsarchiv/Nachlasssammlung B/833, Nr. 2 (mitgeteilt von Tamara Scheer). Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törless, Wien/Leipzig 1906, S. 3. Joseph Roth, Reise durch Galizien, in: ders., Werke (II). Das journalistische Werk 1924–1928, Köln 1990, S. 289. Joseph Roth, Radetzkymarsch, in: ders., Werke (V). Romane und Erzählungen 1930–1936, Köln 1990, S. 257.

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Der Typus ‚Held‘ wird als Bestandteil der Selbst-Aristokratisierung innerhalb des bürgerlichen Emanzipationsprozesses gelesen. Mit der Inflation des Helden im Weltkrieg wird daraus ein Ansatz politischer Scheinlegitimation. Der Typus ‚Held‘ wird vorerst als Bestandteil der Selbst-Aristokratisierung des emanzipatorischen Bürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelesen. Im Gegensatz zum vormodernen dynastischen Konzept der Doppelmonarchie eignete sich das Bürgertum die ‚Nation‘ an und kreierte diese angesichts der eklatanten definitorischen Unschärfe als ‚Heldenepos‘. Hand in Hand ging damit die Militarisierung der Gesellschaft, die mit der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht 1868 und vor allem mit dem Institut des Reserveoffiziers militärische Kastenvorstellungen im Bürgertum implementierte,1 da diese auch für den zivilen Bereich vorrangig Geltung hatten. Dieses Verfahren sanktionierte, im Widerspruch zum allgemeinen Strafrecht, das Duell, das gerade im degenerierenden liberalen Bildungsbürgertum und seinen studentischen Korporationen zum wesentlichen Bestandteil der Selbst-Aristokratisierung wurde. Ute Frevert präzisiert diesen Vorgang in der Formel vom „diskrete[n] Charme der Aristokratie und der Persönlichkeit des Bürgers“.2 In diesem Instrumentarium verbanden sich Männlichkeits- und Ehrenkult, Klassenbewusstsein, Blut- und Todeskult mit dem atavistischen Bild vom Stamm der Nation.3 Einen vergleichbaren Vorgang kann man auch innerhalb der deutschen Freimaurerei beobachten, die bereits im 18. Jahrhundert zunehmend die handwerkliche Tradition dieser neuen Gesellschaftsform durch Hochgrade, die sich an ritterliche Erzählungen anlehnten, zu überhöhen be-

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Serielle Heldenerziehung – aus Lungauer Bauernsöhnen werden k.u.k. Artilleristen, um 1910. © Dieter A. Binder

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gann und im 19. Jahrhundert vor allem in den altpreußischen Logen an die Stelle humanistischer Ideale eine protestantisch normierte vaterländische Gebetsliga mit maurerischem Ritual im ritterlichen Gewand setzte, das den schleichenden Wechsel von der humanitären zur ‚deutschen‘ Freimaurerei und die damit einhergehende Kollaboration mit dem Nationalsozialismus ermöglichte.4 Die Heldenerzählung als normiertes Bildungsgut kann mit Wilhelm Grimms Die deutsche Heldensage5, der das gemeinsame Werk der Brüder Deutsche Sagen6 vorangegangen war, datiert werden. Man ist sich des Leserkreises sicher: „Wir empfehlen unser Buch den Liebhabern deutscher Poesie, Geschichte und Sprache, und hoffen, es werde ihnen allen, schon als lautere deutsche Kost, willkommen seyn, im festen Glauben, daß nichts mehr auferbaut und größere Freude bei sich habe, als das Vaterländische.“7 Hand in Hand mit der Grimm’schen Sagensammlung vollzieht sich die Rezeption der ‚Mutter aller Heldendichtung‘, des Nibelungenliedes in der Fassung von Karl Lachmann 1841.8 Die Instrumentalisierung derartiger Artefakte in der deutschen Nationalbewegung provozierte jüngere Nationalisten anderer Obödienz zur Nachsuche. Den Erziehungsprozess zur Nation über derartige Texte spricht István Lázár an, da die Sage ihm, „noch bevor“ er „lesen konnte“, „den Ursprung“ und „das Bewußtsein hunnisch-ungarischer Verwandtschaft“ einimpfte.9 Die magyarische Erzählung fand ihr Basismodul in der Ausgabe der Chronica Hungarorum des Anonymus und der Gesta Hungarorum des Simon de Keza in den Historiae Hungaricae Fontes domectici 1883.10 Die sich allenthalben tummelnden Helden suchte Václav Hanka im Umfeld des Vaterländischen Museums in Prag mit Hilfe zweier ‚Handschriften‘ auch für die tschechische Nationalbewegung zu nutzen. Die Königinhofer- und die Grünberger-Handschrift verdichteten den ‚tschechischen Heldenmythos‘, wie wohl sie als Fälschungen entlarvt wurden.11 Auch hier ist die Mobilisierung des (Klein-)Bürgertums durch derartige Texte bereits von Zeitgenossen massiv attackiert worden, ohne aber den ‚Helden‘ verdrängen zu können, oder, wie im Falle von Thomas Masaryk, selbst zum ‚Helden‘ zu werden.12

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Das literarische Aufbessern der ‚Helden‘ arbeitete zweifellos den nationalen Bewegungen im zentraleuropäischen Raum allenthalben zu und erlebte in der Historienmalerei ihre comichafte Verdichtung, was etwa am Beispiel der Schlacht bei Grunwald/Tannenberg exemplarisch angesprochen werden kann.13 Monika Flacke hat diesem Gleichklang nationaler Heldenerzählung kurz vor der Jahrtausendwende unter dem Titel Mythen der Nationen eine eindrucksvolle Ausstellung gewidmet, deren Grundaussage Stefan Germer unter dem Begriff der „rückblickende[n] Erfindung der Nationen durch die Kunst“ ein theoretisches Konzept gab.14 Ernst Bruckmüller zeichnet den österreichisch-habsburgischen Heldenkult in der Überhöhung der Verteidigung Wiens 1683, der Stiftung des Maria-Theresien-Ordens und in Erzherzog Karls Sieg in der Schlacht bei Aspern nach.15 Die polnische Heldenerzählung euphorisiert aber den Entsatz von Wien 1683 als Polens Dienst am christlichen Abendland.16 Diese „christlich-abendländische“ Dimension des Heldentums strapaziert Ungarns Nationalerzählung von der Krönung König Stephans.17 Der heldische König kehrt in den Erzählungen von Mátyás Hunyadi und Lajos II. wieder und findet in der Verklärung Sándor Petőfis den bürgerlichen „König des Geistes“.18 Naturgemäß dient dabei der jeweilige Heldenkult der Glorifizierung der Dynastie oder der Erziehung zur Nation im Widerspruch zur Dynastie. Markant tritt dies auch in der Formatierung der heldischen tschechischen Vergangenheit hervor, in der Přemysl II. Ottokar zum „edlen Ritter“ des böhmischen Mittelalters, Karl IV. zum „Pater Patriae“ und Jan Hus zum „Aristokraten des Geistes“ wird.19 Die bürgerliche Rezeption goutierte unabhängig von der jeweiligen politischen Stoßrichtung der National-Erziehung den aristokratischen, königlichen Helden, das Bürgertum sah in seiner Rezeption der Kultfigur eine Teilhabe an der feudalen Gesellschaft, um ihrem Habitus Grandezza zu verleihen. Im Königreich Ungarn, wo der Kleinadel ein wichtiges Scharnier zwischen Aristokratie und aufstrebendem Bürgertum bildete, kam der Kult des Englischen hinzu, dessen Gentry man magyarisierte. Miklós Horthy stiftete 1920 als Reichsverweser seinen Vitéz-Orden, der verdienten ‚Helden‘ des Ersten Weltkrieges und des Weißen Terrors den ‚Ritterschlag‘ erteilte.20 Bevor man aber zum Vitéz

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(Held, Ritter), zum ‚nemzetes úr‘ (Edlen Herrn) wurde, bedurfte es des Nachweises der Tapferkeit und der ‚rein ungarischen‘ Abstammung, um jüdische Ungarn auszuschließen. Diese pittoreske Renaissance des Rittertums setzte bereits im Vormärz ein, in dem sich die Habsburger und Hohenzollern für die Restauration der weitestgehend abgekommenen Ritterorden der Malteser/Johanniter21 ebenso einsetzten wie für den Deutschen Ritterorden.22 Bürgerliches Imitationsverhalten beschleunigte die Stiftung neuer Ritterorden, von denen jener der Ritter vom Heiligen Grab zu Jerusalem Bestand haben sollte.23 Um überleben zu können, führten die alten Ritterorden neue Kategorien von Mitgliedern ein, wobei die strengen Ahnenproben teilweise relativiert wurden bzw. mit einer Hilfskonstruktion unter dem Stichwort ‚Adel des Geistes‘ den Selbst-Aristokratisierungen Vorschub geleistet wurde. Dieses Instrumentarium findet sich auch in der ironischen Persiflage bürgerlicher Zusammenschlüsse, wie sie im Geselligkeitsverein Schlaraffia betrieben wurde und dort zum todernsten ‚Spaß‘ degenerierte.24 Den ‚Adel des Geistes‘ forderten auch esoterische Zirkel für sich ein, um wie der Kreis um Stefan George Helden des „neuen Reiches“ zu werden.25 Das Heldische floss in jenen spezifischen Bellizismus am Vorabend des Weltkrieges ein, der die Kriegseuphorie 1914 erklärbar macht. Eingebettet war dieser Bellizismus nicht nur in die Ideenwelt der Imperialisten, Nationalisten und Vulgärdarwinisten, der ‚Ritter-‘ und der ‚Heldensagen‘, sondern er fand sich auch in breiten Feldern der Moderne, etwa im frühen Expressionismus mit dem „antibürgerlichen Aufbegehren gegen überkommene Normen, das auch vor der Feier des Krieges, der Apotheose von Kampf und Erneuerung, Virilität und Ekstase nicht zurückscheute.“26 Angesichts des Massensterbens in diesem Krieg und des nahezu industriellen Tötens an den Fronten suchten diese Milieus den ‚Helden‘ zu retten. Ernst Jüngers Apotheose des Einzelkämpfers im „Stahlgewitter“ verlieh der Masse der Sprachlosen nicht nur jenes heldische Gefühl, sondern auch eine spezifische Variante der Sinngebung des Sinnlosen.27 Die ,Frontkämpfergeneration‘ forcierte die ,Appelle an Kameradschaft, Treue, Ehrgefühl‘ als politischen Auftrag. Sie trat als

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Sprecherin der ,toten Helden‘ auf und leitete davon jene politische Legitimation ab, die zusammen mit der fehlenden Kultur der Niederlage zum Nährboden für Faschismus und Nationalsozialismus wurde. Die Linke überließ lange Zeit die ‚Kriegstoten‘ weitgehend dem politischen Christentum und dem nationalistischen Milieu. Die spezifische Sinngebung des Sinnlosen baute bei Ersterem auf die unrühmliche Tätigkeit der christlichen Militärseelsorge auf. Gleichermaßen wurde der Kampf im Krieg transzendiert zu einem Kampf gegen das immerwährende Böse, der einfache Soldat wurde Christus gleich im Sterben für die anderen, als Georg oder als Michael zum Drachentöter, zum Heiligen oder Erzengel.28 Selbst im Sterben zeigt der Soldat im nationalistischen, antiklerikalen Milieu löwenhaftes Heldentum, der zum Appell angetretene unversehrte steinerne Krieger „suggeriert die Unverwundbarkeit“,29 der nackte, unversehrte Schwertkämpfer suggeriert den ewigen Soldaten,30 dessen Symbol auch der Adler ist, der erneut zum Flug ansetzt.31 Ein solcher Adler, ein solcher Löwe wird zum Symbol für den „im Felde unbesiegten“ Soldaten.32 Die Soldatenfriedhöfe mit ihren uniformen Kreuzen materialisieren das Bild von der ‚Großen Armee‘, einem Synonym für das Totenreich, das Eingebundensein in die Kameradschaft über den Tod hinaus, das Bestandteil militärischer Bestattungsrituale seit dem 19. Jahrhundert ist. In der Krypta des Äußeren Burgtores, dem Heldendenkmal des Austrofaschismus, werden beide Traditionslinien zusammengeführt. Anmerkungen

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Vorschrift für das ehrenräthliche Verfahren, Verordnungsblatt für das k. k. Heer vom 15. Mai 1871. Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991, S. 178–196. Vgl. Winfried Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, Stuttgart 2010, S. 142– 160. Vgl. Arnold Grunwald, Freimaurer auf dem Weg zum Nationalsozialismus, Leipzig 2014. – Hans-Hermann Höhmann, Identität und Gedächtnis, Leipzig 2014. Wilhelm Grimm, Die deutsche Heldensage, Göttingen 1829. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsche Sagen. 2 Bände, Berlin 1816/1818. Grimm, Sagen, Band 1, S. XXIV.

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Karl Lachmann, Der Nibelunge Noth und die Klage, Berlin 1841. István Lázár, Kleine ungarische Geschichte, Budapest 1990 (Kis magyar történelem, Budapest 1989). Quinque Ecclesiis (Fünfkirchen, Pécs). Waclawa Hanky/Waclawa Aloysia Swodody (ed.), Kralodworsky Rukopis/Königinhofer Handschrift, Prag 1829. – Zelenhorsky rukopis, in: Ottův slovnik naučný, Prag 1908, S. 529–534. Otto Urban, Die tschechische Gesellschaft 1848 bis 1918. Band 1, Wien/Köln/Weimar 1994, S. 647–650. Vgl. Witold Molik, „Noch ist Polen nicht verloren“, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama, Berlin 1998, S. 295–320, hier S. 301–305. Stefan Germer, Retrovisionen: Die rückblickende Erfindung der Nationen durch die Kunst, in: Flacke 1998, S. 33–52. Ernst Bruckmüller, „An Ehren und an Siegen reich“, in: Flacke 1998, S. 269–294. Molik 1998, S. 305–309. György Dalos, Mythen-Lehren-Lehrbücher, in: Flacke 1998, 528–556, hier S. 534– 540. Dalos 1998, S. 540–553. Vít Vlanas/Zdeněk Hojda, „Gönnt jedem die Wahrheit“, in: Flacke 1998, S. 502–527. Präsidialdekret 6650/1920 vom 11.8.1920. Vgl. Christian Steeb/Birgit Strimitzer (Hg.), Der Souveräne-Malteser-Ritterorden in Österreich, Graz 1999. Vgl. Hartmut Boockmann, Der Deutsche Orden. 12 Kapitel aus seiner Geschichte, München 1999. Louis Carlen, Der Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem, Fribourg 1990. Andreas von Canstein-Kleinhenz, Schlaraffia, mein Wunderland. Zu den kulturhistorischen Ursprüngen unseres Ritterspiels, Bad Mergentheim 2006. Achim Aurnhammer (Hg.), Stefan George und sein Kreis. 3 Bände, Berlin 2012. Ernst Piper, Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, Berlin 2013, S. 98. Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers, Leipzig 1920. Stefan Riesenfellner, „Ihr seid nicht umsonst gestorben“. Imaginäres Heldentum und Kriegerdenkmäler in Graz und Umgebung 1918–1934, in: Stefan Riesenfellner/ Heidemarie Uhl (Hg.), Todeszeichen. Zeitgeschichtliche Denkmalkultur in Graz und in der Steiermark vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Wien/ Köln/Weimar 1994, S. 31–75, hier S. 35. Riesenfellner 1994, S. 37. Ebd., S. 41. Ebd., S. 51. Ebd., S. 53.

Integration Christian Peer

Soziale Integration ist als ein unumgänglich unvollständig bleibender Prozess zu verstehen, der alle Aspekte der Teilhabe an Gesellschaft betrifft. Integration ist ein zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen Wandels, dessen Spuren wesentlich die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft beeinflussen. In diesem Sinn wird die Bedeutung von Integration für den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Hinblick auf Zentraleuropa-Erfahrungen – ausgehend von Herausforderungen im Bildungsbereich – exemplarisch ergründet. Integration bezeichnet soziologisch einen Prozess zur Herstellung oder Erneuerung eines imaginierten Ganzen und steht unmittelbar mit der normativen Vorstellung und der damit einhergehenden realen Prägung von Gesellschaft und deren Zusammenhalt in Verbindung. Dieser Prozess zeichnet sich insbesondere durch eine fortwährende Unabgeschlossenheit und damit einhergehende Vielfalt der Vorstellungen von Gesellschaft aus. Auch jene Zentraleuropa-Erfahrungen, die auf die Donaumonarchie verweisen, spiegeln eine Kombination aus Veränderung und Beständigkeit eines gesellschaftspolitischen Konsenses wider, der sich in Hinblick auf die „Erfahrungen der Moderne“1 und die „Erfindung der Nation“2 in einer verallgemeinerbaren und zugleich besonderen Weise entwickelt hat. Tatsächlich hängt die Stabilität einer Gesellschaft von einem Zusammenspiel zwischen der Teilhabe an systemischen Bereichen (z. B. Wohnen, Bildung, Arbeit) ab, jedoch darüber hinaus von der Zugehörigkeit über symbolische Praktiken, emotionale und affektive Bindungen, die etwa über globale Zusammenhänge, transnationale Netzwerke, Familienloyalitäten und neue Arten der medialen Vergemeinschaftung entstehen und immer

The Theory of Austrian Education © Edward Robert Robson, School Architecture, London 1874, S. 149

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weniger traditionellen Vorstellungen von territorial und institutionell geschlossenen politischen Einheiten entsprechen. Insofern sind im kollektiven Gedächtnis verankerte und teils rivalisierende Erfahrungen in Summe wandelnde Referenzrahmen, die jeweils von der fortschreitenden Gegenwart her reorganisiert und durch Sozialisation angeeignet werden.3 Im Frühjahr 1873 untersuchte der aufstrebende englische Architekt Edward Robert Robson Schulbauten und Bildungssysteme auf dem europäischen Festland. Für das Fallbeispiel Österreich griff er auf eine Darstellung des österreichischen Bildungssystems von Joseph Alexander von Helfert aus dem Jahr 1862 zurück, um seiner Verwunderung darüber Ausdruck zu verleihen, dass eine derart vollkommene Theorie die österreichische Bevölkerung nicht in höherem Ausmaß zu Bildung zu inspirieren vermocht habe. „It [the Austrian Theory of ­Education] has not taken deep hold of the popular mind and come to be regarded as the citizen’s birthright in the same way that we find it to have done in Prussia and Saxony. Nor do we find the people taking the same pride in their public schools“.4 In diplomatischerem Tonfall stellte er anschließend fest, dass mittlerweile strengere staatliche Maßnahmen wie die Verhängung von Strafgeldern für unerlaubte Schulabsenzen eingeführt worden seien, sodass das Schreckgespenst des Straßenkindes („the pest of every town in England“) nunmehr ­weder in Wien noch in Berlin oder Dresden anzutreffen wäre.5 Robsons Reise vermittelt einen Eindruck davon, unter welchem Reformdruck die europäischen Gesellschaften angesichts der modernen Entwicklung standen und wie unterschiedlich Lösungsstrategien wahrgenommen und akzentuiert wurden. So verweist dieser Reisebericht nicht nur auf gegenwärtige Populismen zur so genannten Integrationsunwilligkeit und Fantasien über Zwangsmaßnahmen, die schon in der Donaumonarchie mäßigen Erfolg zeitigten. Auffallend unerwähnt bleiben zudem die in den ethnisch und sprachlich heterogenen Ländern der Donaumonarchie zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. erfolgten und für damalige Verhältnisse weitblickenden sozialen Innovationen im Unterrichtssystem, die insbesondere im Volksschulwesen bald über die Staatsgrenzen hinaus Nachahmung fanden.6

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Dem liberal gesinnten Robson lag vielmehr daran, England auf jenen Bildungszweig der Helfert’schen Theorie aufmerksam zu machen, welcher zum Polytechnischen Institut und somit zur gezielten Förderung der naturwissenschaftlichen und technischen Bildung führte. Die im Jahr des Wiener Kongresses 1815 gegründete Bildungsinstitution mit Vorbildcharakter war neben dem Import von Technologie und Know-how sowie insbesondere einer ab den 1860er-Jahren einsetzenden Liberalisierung ein Ansatzpunkt zur Transformation der rückständigen Wirtschaftsstruktur der Habsburgermonarchie. Ende der 1840er-Jahre lag der Anteil der agrarischen Bevölkerung bei über 75 Prozent und trotz des industriellen Fortschritts waren 1910 noch 53 Prozent aller Erwerbstätigen in der Agrarwirtschaft und nur knapp 23 Prozent in Industrie und Gewerbe beschäftigt.7 Dieser rasante Aufholprozess führte zu folgenreichen sozialen Problemen, speziell der Wohnungsnot und den katastrophalen Lebensbedingungen der Industriearbeiterschaft in den großen Städten, und stellte in zunehmendem Maße eine Herausforderung für das damalige Staatssystem dar. Schließlich folgte auf die Wirtschaftskrise im Jahr 1873 ein tiefgreifender Wandel im politischen System, der die Etablierung von Massenparteien begünstigte, deren Lager und assoziierte Institutionen bis in die Gegenwart die politische Landschaft Österreichs prägen. Indes hat sich mit der EU-Mitgliedschaft Österreichs die Situation grundlegend verändert. Werte des innerstaatlichen Zusammenhaltes werden im 21. Jahrhundert auch auf europäischer Ebene verhandelt (z. B. Sanktionsmaßnahmen gegen Österreich nach der ÖVP-FPÖ-Regierungsbildung im Jahr 2000 oder EU-weite Ansätze der Koordination von Migrations- und Integrationspolitiken8) und auf lokaler Ebene neu interpretiert (z. B. kommunale Integrations- und Diversitätspolitiken). Damit einher gehen neue Integrationsakzente (z. B. der Nationale Aktionsplan für Integration9), die infolge integrationsrelevanter EU-Regulierungen (z. B. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Vertrag von Amsterdam 1997, Handbücher zur Integration10) immer stärker eine europäische Handschrift tragen. Konform mit der wirtschaftsliberalen EU-Politik gilt nicht (mehr?) Gleich-

Integration

heit, sondern Chancengleichheit als zentrales gesellschaftspolitisches Ziel von Integration (z. B. Expertenrat für Integration 201511). Mit ansteigender Verlagerung der wirtschaftlichen Produktion in den Dienstleistungs- und Wissensbereich hat das Thema Bildung heute für die Integrationsdebatte wieder an Bedeutung gewonnen, wobei das habsburgische Erbe in mancher Hinsicht vorhanden geblieben ist. Strukturen der Bildungsinstitutionen der Habsburgermonarchie bestanden in den meisten Nachfolgestaaten der Monarchie – so auch in der Republik Österreich – in weitgehend unveränderter Form weiter und prägen das Schulsystem – über verschiedene Systemwechsel hinweg – teilweise bis zum heutigen Tag.12 Bereits in Robsons architektonischer Perspektive und bis in die Gegenwart erschwert das in der Donaumonarchie gesetzlich verordnete Prinzip der Klasse, als räumliche Einheit mit einem Lehrenden, eine Transformation in Richtung flexibler Raum- und Organisationsstrukturen, wie sie heute für eine zeitgemäße Erneuerung von Schulen und insgesamt für urbane Bildungslandschaften gefordert wird.13 Für die Frage des sozialen Zusammenhalts sind vor allem die stark eingeschränkte soziale Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schularten im Primär- und Sekundarbereich und die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern aufgrund deren langfristig stabilisierender Wirkung auf vorherrschende Gesellschaftsordnungen Problembereiche mit Tradition. Erstere steht in engem Zusammenhang mit den starken Barrieren und fehlenden Qualifizierungsmaßnahmen für eine Integration von Zuwandernden und deren Familien.14 Zweifellos spielt im Bildungsbereich die Herausforderung sprachlicher Vielfalt eine zentrale Rolle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und sollte bereits verstärkt ab dem Frühkindalter entsprechend berücksichtigt werden.15 Denn Kenntnisse in der mehrheitlich verwendeten Umgangssprache eines Landes fördern die individuelle Teilhabe am (Arbeits-)Markt wie auch an Staat und Zivilgesellschaft. Die geschlechtsspezifische Zuordnung von Aufgabenbereichen und die damit korrespondierende selektive Vermittlung von Wissen sind wiederum bis heute – etwa in einer ungleichen Entlohnung von Arbeitsleistung oder der Berufswahl junger Menschen – präsent.

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Im Bildungsbereich weisen die strukturellen Probleme der österreichischen Volkswirtschaft somit gewisse Analogien zu Konstellationen in der Donaumonarchie auf, etwa im internationalen Rückstand in der technologischen Innovation beziehungsweise allgemein in Forschung und Entwicklung, während prominente Akzente der sozialen Innovation heute weitgehend ausbleiben. Angesichts einer grundlegenden Reformbedürftigkeit des Bildungssystems wären weitblickendere Initiativen dringend notwendig. Daher steht das Thema Bildung hier als Metapher für den Reformstau Österreichs im Integrationsbereich – wo offensichtlich zunehmend Zivilcourage und Ehrenamt im Rahmen des menschlich Machbaren das fehlende Engagement des Staates substituieren müssen. Anmerkungen

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Albrecht Koschorke, Integration, in: Özkan Ezli/Gisela Staupe (Hg.), Das neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt, Konstanz 2014, S. 220–222, hier S. 220. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main/New York 1996. Vgl. Werner Vogd, Soziales Gedächtnis, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 456–462, hier S. 456. Edward Robert Robson, Theory of Austrian Education, in: ders., School Architecture. Being Practical Remarks on the Planning, Designing, Building, and Furnishing of School-Houses, London 1874, S. 147–158, hier S. 150. Hervorhebung im Original. Ebd. Carl Hinträger, Der Bau und die Errichtung von Schulgebäuden für öffentliche Volks- und Bürgerschulen, Wien 1887, S. V. Vgl. Christian Dirninger, Der österreichische Weg. Wirtschaft und Wirtschaftspolitik seit dem 18. Jahrhundert, in: Hannes Androsch (Hg.), Österreich. Geschichte, Gegenwart, Zukunft, Wien 2010, S. 185, S. 193, und David F. Good, Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches, 1750–1914, Wien/Köln/Graz 1986, S. 144–222. Vgl. Rainer Bauböck/Bernhard Perching, Migrations- und Integrationspolitik, in: Herbert Dachs u. a. (Hg.), Politik in Österreich. Das Handbuch, Wien 2006, S. 727– 741. Nationaler Aktionsplan für Integration. Bericht, hg. vom Bundesministerium für Inneres, www.bmi.gv.at/cms/cs03documentsbmi/809.pdf (abgerufen am 10.1.2016). Handbuch zur Integration für Entscheidungsträger und Praktiker, hg. von der Europäischen Kommission, Dritte Ausgabe, 2010, ec.europa.eu/migrant-integration/

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librarydoc/handbook-on-integration-for-policy-makers-and-practitioners-3rdedition---2010 (abgerufen am 10.1.2016). Integrationsbericht 2015. Bisher Erreichtes und Leitgedanken für die Zukunft, hg. vom Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres. Expertenrat für Integration, Wien 2015 . – Integrationsglossar, hg. vom Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres, Wien 2014, www.bmeia.gv.at/integration/download/ glossar/ (abgerufen am 10.1.2016). Peter Stachel, Das österreichische Bildungssystem zwischen 1749 und 1918, in: Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 1, Historischer Kontext, wissenschaftssoziologische Befunde und methodologische Voraussetzungen, Wien 1999, S. 115–146. Plattform schulUMbau, Charta schulUMbau, Wien 2010, www.schulumbau.at/ charta.asp (abgerufen am 10.1.2016). Gudrun Biffl/Anna Faustmann, Österreichische Integrationspolitik im EU-Vergleich. Donau-Universität Krems, Krems 2013 (Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Inneres). Bildung in Zahlen 2013/14. Schlüsselindikatoren und Kennzahlen, hg. von Statistik Austria, Wien 2015, S. 24ff.

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Josephinismus Waltraud Heindl

Der Begriff Josephinismus erfuhr im Verlauf des 19. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Deutungen, die hier mit Bezug auf seine Rolle in der Ausformung eines staatlichen Selbstverständnisses einer (punktuellen) Untersuchung unterzogen werden: zum einen die Lesart des Hauses Habsburg selbst und der katholischen Kirche, die einen (negativen) Mythos initiierten; zum anderen die Lesart des Liberalismus und der Sozialdemokratie sowie vor allem der gebildeten Staatsbürokratie, die diesem Negativbild positive Auffassungen entgegensetzen. Unter dem Begriff Josephinismus wurde ideologiefrei die österreichische Version der Aufklärung (selbstverständlich nicht auf Joseph II. beschränkt) verstanden. Ideologiefrei wurde der Begriff Josephinismus allerdings selten gebraucht und Joseph figurierte als Symbolfigur für eine Reihe von österreichischen politischen und kulturellen Phänomenen. Es wäre vermessen, angesichts der vielen Thesen und enormen Literaturflut, die seit ca. 1800 über den Josephinismus und dessen Gegenpositionen erschienen sind und erst in letzter Zeit wieder neu diskutiert werden,1 weitere Texte oder Mutmaßungen hinzuzufügen. Es sollen daher im Folgenden nur einige ‚Splitter‘ zu den Anfängen von Begriffsbildung und Etikettierung erörtert werden, die das josephinische Staatsverständnis betreffen, und die Frage gestellt werden, inwieweit dieses auf die Formung des staatlichen Selbstverständnisses, der staatlichen Identität Österreichs einwirkte. Der eminente Kenner des Josephinismus, der Germanist Leslie Bodi, erstellte den Befund, dass die Kultur des Josephinismus „eine wichtige Rolle bei der Herausbildung einer modernen Selbstidentifikation Österreichs und der Entwicklung der nationalen Traditionen der Nachfolgestaaten

Josephinismus

Joseph von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, Handlung, und Finanz: Zu dem Leitfaden des politischen Studiums (3 Teile, Wien 1769–1776, 51787)

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der Monarchie“ gespielt habe.2 Nur – wer waren die entscheidenden Träger josephinischer Traditionen? Da Joseph II. und die Aufklärung durch die Entwicklung des Staatsdienstes den Grundstein für eine moderne Staatlichkeit gelegt hatten, lohnt es sich, dem kulturellen und politischen Staatsverständnis der Träger der Staatspraxis, der Beamten, nachzugehen. Das (Berufs-) Beamtentum war von Joseph II. und den Aufklärern erst geschaffen worden und scheint dabei eine zentrale Rolle gespielt zu haben. Den realen Bedürfnissen des Staatsdienstes musste von den Beamten alltäglich Rechnung getragen werden, in der nachjosephinischen Zeit galt es, diese Praxis in mehr versteckten als offenen Auseinandersetzungen und Reibungen gegen die erstarkende Opposition der Gegenaufklärer zu verteidigen. Bald nach der Regierungszeit Josephs setzte die Bildung eines Negativ-Mythos um seine Person ein, die ihn zur Symbolfigur von schlechter Staatsführung machte. Das Haus Habsburg selbst war maßgeblich daran beteiligt. Es suchte – durch die politischen Umstürze, die napoleonischen Kriege und die neuen politischen und nationalen Ideen von Aufklärung, Reform und Modernisierung in seiner Selbstgewissheit erschüttert – nach Ursachen und Neuorientierung im eigenen Haus. Dabei entdeckte man, wie man meinte, schwarze Flecken, die der Vergessenheit anheim gegeben werden sollten. Erzherzog Karl brachte die Auseinandersetzung mit dem unmittelbaren Vorfahren auf den Punkt: „Joseph wollte Reformator, Gesetzgeber, Feldherr sein. Er warf alle durch Alter ehrwürdige und nützliche Einrichtungen gänzlich über den Haufen, weil sie nicht ohne Fehler waren. Er gab neue Gesetze, ohne zu berechnen, ob seine Unterthanen für solche reif seien. Er bekriegte ohne Kraft und Entschlossenheit die wenigst gefährlichen seiner Nachbarn in einer ungerechten Fehde, um die herrschsüchtigen Absichten einer Macht zu begünstigen, die ihm mit der Zeit [zwei Zeilen weggeritzt, Anm. d. Verf.] und ihr einziges Resultat Verwirrung, Erschöpfung des Schatzes, Schwächung der Bevölkerung“.3

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Erzherzog Karl lehnte es ab, seinem kaiserlichen Onkel eine erinnerungswürdige Stellung innerhalb des Hauses einzuräumen. Umso mehr glänzten in der Gegenüberstellung Großmutter Maria Theresia, in den Augen Erzherzog Karls das Beispiel einer rühmlichen Ausnahmefrau, und sein Vater Leopold in einem umso helleren Licht. Damit waren die Rangordnung innerhalb der Heldengalerie im Haus Habsburg und das negative Image von Josephs Regierungszeit festgelegt. Die katholische Amtskirche, die unter Joseph II. einen Teil ihres Einflusses im Staat abzugeben genötigt war, verstärkte bekanntlich das negative Echo. In der Zeit des Absolutismus galt bekanntlich der Wille von Kaiser und katholischer Kirche. Viele Reformen wurden auch tatsächlich rückgängig gemacht, manche wurden beibehalten. Erstaunlicherweise finden wir gerade in der wichtigen Frage der Beamten- bzw. Juristenausbildung Brüche. Die gesamte Ausbildung wurde in den Reformen 1805, 1810, 1819 rein praxisbezogen auf den Justiz- und Verwaltungsdienst des Staates ausgerichtet, die rechtsphilosophischen Lehren des universitären Studienplans standen allerdings zu dem nachnapoleonischen Staatsverständnis des offiziellen Österreich, das auf Kaiser und Kirche ausgerichtet war, in diametralem Gegensatz. Man hatte nämlich die Lehrbücher Karl Anton von Martinis Das natürliche öffentliche Recht (Positiones de jure civitatis, 1768), Joseph von Sonnenfels’ Grundsätze der Polizey, Handlung, und Finanz. Zu dem Leitfaden des politischen Studiums (3 Teile, 1769–1776) und das 1805 eingeführte natürliche Privat-Recht (1802) von Franz Zeiller als offiziell genehmigte Lehrbücher belassen.4 Die Beibehaltung des letztgenannten Lehrbuchs war verständlich, obwohl sich Zeiller auf das Naturrecht berief, beruhte doch darauf das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB). Die Eliminierung hätte dieser neu eingeführten Kodifikation die Basis entzogen. Die anhaltenden kritischen Diskussionen erzwangen zwar Anpassungen, die allerdings wiederum Widersprüchlichkeiten produzierten. Martinis Naturrecht wurde durch Professor Franz von Egger entschärft. Egger ersetzte die von Martini verankerten Rechte des Bürgers, die dieser kraft seiner „angeborenen Rechte“ besäße, durch „konstitutionelle Freiheiten“ und durch „moralische Verant-

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wortlichkeit“ des Herrschers. Die von Martini verankerte „bürgerliche Oberherrschaft“ setzte Egger einfach dem Begriff „bürgerliche Majestät“ gleich. Die naturrechtliche Lehre vom Gesellschaftsvertrag widersprach zutiefst dem katholisch-restaurativen franziszeischen Staat, leitete dieser doch den Ursprung des Staates von Gott her. Egger löste das Dilemma, indem er das Naturrecht und die Herleitung des Staates aus dem „göttlichen Ursprung“ gleichberechtigt nebeneinander stellte: „Es gibt keinen zureichenden Grund, welcher den Juristen nötigt, die Ableitung der bürgerlichen Oberherrschaft unmittelbar aus einem Vertrag aufzugeben. Anders ist es mit dem Moralisten und Politiker, welche dieselbe richtig und zweckmäßig als von Gott herrührend darstellen“. Ob damit den Ansichten der konservativ-katholischen Kräfte im Staat Genüge getan war? Ob die Studenten nicht die Doppelbödigkeit des Manövers bemerkten? Eggers Absichten werden spätestens klar, als er heftig gegen die in Deutschland mit Savigny und der politischen Romantik zugkräftig gewordene historische Rechtsschule polemisierte: Nicht die Geschichte des Staates sei dessen Grundprinzip, sondern die Vernunft, so Egger. Das war klug den Bedürfnissen des multinationalen Staates angepasst. Denn welchem historischen Recht hätte man mit der Annahme von Savignys Rechtslehre in der österreichischen Monarchie zur Geltung verholfen: dem böhmischen, dem ungarischen etc. historischen Recht? Das Naturrecht (an den Universitäten bereits 1774 eingeführt und vonseiten der katholischkonservativen Kräfte heftig bekämpft) hatte sich für die politischen Verhältnisse des österreichischen Staates als ungefährlich erwiesen. Das historische Recht barg Sprengkraft. So ambivalent das Studium der angehenden Beamten war, die Inhalte der Aufklärung und die naturrechtliche Staatsdoktrin wurden dadurch selbst in der konservativ-reaktionären Ära weiter tradiert. Auch wenn sie vordergründig keine politische Bedeutung hatten, Generationen von Beamten wurden darin erzogen, und zumindest die klügeren unter ihnen holten sich offenbar die aufgeklärten Prinzipien für ihren späteren Dienst. Der Verwaltungsbeamte Ignaz Beidtel (1783–1865) berichtet uns, dass der „Geist der Kanzleyen“ „josephinisch“ geblieben sei und dass besonders die Staatsbeamten der Auf-

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klärungspartei verpflichtet waren.5 Beidtel war ein feiner Beobachter und kannte Ämter und Standesgenossen durch seine zahlreichen Dienstorte innerhalb der Monarchie. Angehörige der Staatsverwaltung, unter ihnen auch offensichtlich Beidtel, dürften sich tatsächlich als (geheime) „Josephiner“ gefühlt haben. Diese Tradition sollte sich im Staatsdienst erhalten. Es ging um (moderne) Staatlichkeit, die den kirchlichen und feudalen Übergriffen Einhalt zu gebieten imstande war, um die strenge Einhaltung von Gesetzen und rechtsstaatlichen Prinzipien (Indizien deuten darauf hin, dass diese für viele Beamte vor den Wünschen des Kaisers rangierten) und um wohlfahrtsstaatliche Praktiken – Inbegriffe des josephinischen Kanons. Darüber wurde in der Öffentlichkeit wenig gesprochen. Die Gegenaufklärer, offiziell von der Staatsmacht gefördert, hatten zunächst eindeutig Vorrang. Doch in der Revolution von 1848 traten viele Beamte mit rechtsstaatlichen und liberalen Wünschen hervor. Die liberalen Parteien entdeckten öffentlich Joseph II. als Symbolfigur ihrer Ideen. Das war das Fanal für die katholischen Reformer um Unterrichts­ minister Leo Graf Thun-Hohenstein, die sich in der staatsabsolutistischen Ära der 1850er-Jahre mit aller Schärfe gegen Ethik und Staatsrecht der Aufklärung wandten: Sie nannten das Naturrecht mit Pathos „die inkarnierte Auflehnung gegen die Offenbarung der göttlichen Satzung“ und wandten sich gegen die in Österreich angeblich herrschende „Freiheit des Geistes“. „Die Herrschaft des Naturrechts an den Universitäten“ und „ein verseichtigter Kantianismus von Amtswegen“ hätten die Studenten und späteren Beamten grundsätzlich für eine Unterstützung der von Gott gewollten und eingesetzten Institutionen, Staat und Kirche, unbrauchbar gemacht. Als besonders „verderblich“ wurden die naturrechtliche „gefährliche Theorie von der Entstehung des Staates aus einem Vertrag“ und die Lehre von „den natürlichen angeborenen Rechten des Menschen“ empfunden.6 Die Traditionen der beiden Strömungen, aufgeklärter Absolutismus und Gegenaufklärung, prägten bis zum Ende der Monarchie (und darüber hinaus) die ideologisch-politischen Auseinandersetzungen. Die Inhalte von Gegenaufklärung und Josephinismus hatten sich wenig

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verschoben. „Die Konflikte zwischen bürokratischer Rationalisierung und traditionellen Glaubens- und Lebensformen, Staatspatriotismus und Sprachnationalismus, kritischer öffentlicher Meinung und autoritärer Repression“7 kamen immer wieder zum Ausbruch, meint Leslie Bodi. Sie sind deutlich zu diagnostizieren in den politischen Auseinandersetzungen, etwa um Konkordat, liberale Schul- und Ehegesetze, um Föderalismus und Zentralismus sowie um nationale separatistische Wünsche. Die hohe Staatsbürokratie, die diese Konflikte zu verwalten hatte, zeigte in ihren Lösungsversuchen, dass sie dem josephinischen Vermächtnis verbunden geblieben war. In allen Konflikten wurde evident, dass es der Bürokratie darum ging, den Staat als rechtsstaatliches Ganzes gegen nationale Zersplitterung zu erhalten, sich daher im Bedarfsfall für Zentralisierung und eventuell sogar eine (moderate) Modernisierung, für Staatskirchentum und Wohlfahrt einzusetzen, wenn auch die bürokratisierte Verwaltungspraxis mit der ihr eigenen Logik gelegentlich einen anderen Eindruck macht. Die prinzipielle Reformbereitschaft schloss Demokratisierungsbemühungen allerdings nicht mit ein. Die Bürokratie glaubte an die Reform von oben – auch dies prägte die österreichische Gesellschaft. „Der österreichische Beamte ist eigentlich ‚Josephiner‘. Die Gesinnung des großen Reform- und Wohlfahrtskaisers Joseph II. ist die Gesinnung der österreichischen Beamten geblieben: allen Fortschritten zugetan, deutsch gesinnt, möglichst gerecht, überzeugt davon, dass die Bevölkerung zu ihrem Glück sanft gezwungen werden muss und dass der politische Einfluss der Kirche nicht zu groß werden darf“8, so charakterisierte der wohlinformierte Beobachter der Gesellschaft der späten Monarchie Otto Friedländer die Beamten. Der Begriff Josephinismus mag hier bereits klischeehafte Züge aufgewiesen haben. Doch Klischees besitzen ihre Geschichtsmächtigkeit. Das Staatsverständnis und mit ihm die staatliche Identität des Josephinismus sollten in wesentlichen Teilen der hohen Bürokratie und in weiten Teilen der (gebildeten) Bevölkerung bis zum Ende der Monarchie (Indizien deuten darauf hin: bis zum heutigen Tag) nicht an Brisanz verlieren.

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Siehe den ausgezeichneten und ausführlichen Artikel über die Historiografiegeschichte der Aufklärung von Franz Leander Fillafer, Die Aufklärung in der Habsburgermonarchie und ihr Erbe. Ein Forschungsüberblick, in: Zeitschrift für historische Forschung 40 (2013) 1, 35–97. – Auch den sehr informativen ideengeschichtlichen Sammelband, der in Druck begriffen ist: Franz Leander Fillafer/Thomas Wallnig (Hg.), Josephinismus zwischen den Regimen. Eduard Winter, Fritz Valjavec und die zentraleuropäischen Historiografien im 20. Jahrhundert, Wien/ Köln/Weimar 2016. Ich danke Kollegen Fillafer sehr herzlich, dass er mir seine Einleitung und einige Beiträge des Bandes vor der Drucklegung überlassen hat. Leslie Bodi, Zur Problematik des Reformabsolutismus in der Habsburgermonarchie – eine Literaturübersicht (1975–1990) [1992], in: ders., Literatur, Politik, Identität – Literature, Politics, Identity (Österreichische und internationale Literaturprozesse 18), St. Ingbert 2002, S. 298–320, S. 299. Aphorismen Erzherzog Karls, o . D. Magyar Országos Levéltár [Ungarisches Staatsarchiv, Habsburg család (Bestand Habsburg, Erzherzog Karl)], Magyaróvár Levéltára, P 300, Karton 5, fasz. A VII. Zum Folgenden Waltraud Heindl, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich. Band 1: 1780–1848 (Studien zur Politik und Verwaltung 36), Wien/ Köln/Graz 22013, S. 130f. (Zitat: S. 131). Ignaz Beidtel, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung, hg. von Alfons Huber, Band 2: 1792–1848, Innsbruck 1896, S. 4f., S. 110, S. 204. (Anonym), Die Universitätsfrage in Österreich. Beleuchtet vom Standpunkte der Lehr-und Lernfreiheit, Wien 1853, S. 22. – (Alois Flir – Leo Thun-Hohenstein, anonym), Die Neugestaltung der österreichischen Universitäten, über Ah. Befehl dargestellt vom k. k. Ministerium für Kultur und Unterricht, Wien 1853, S. 80ff. – Heindl 22013, S. 133f. Bodi 2002, S. 316. Otto Friedländer, Letzter Glanz der Märchenstadt. Das war Wien um 1900, Wien/ München 1969, S.  75f. – Zum Begriff „josephinische Beamteneliten“ Waltraud Heindl, Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich. Band 2: 1848–1914 (Studien zur Politik und Verwaltung 107), Wien/Köln/Graz 2013, S. 253– 259.

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Judentum und Antisemitismus Jacques Le Rider

Um 1900 macht der neue antisemitische kulturelle Code ‚die Juden‘ zu Sündenböcken des ganzen Unbehagens in der modernen Gesellschaft und Kultur. Die in Altösterreich besonders vertrackte Frage der nationalen Identitäten lässt den Wiener Schmelztiegel zum rassistischen Hexenkessel werden. Das breite Spektrum der jüdischen Reaktionen reicht von der hyperassimilatorischen Identifikation mit dem Aggressor (‚Jüdischer Selbsthass‘) bis zum kulturellen und politischen Zionismus. In Karl Friedrich Schinkels Bild Blick in Griechenlands Blüte (1825) wird ein ideales klassisches Altgriechenland dargestellt. Eine wunderbare Harmonie verbindet die Natur- und die Stadtlandschaft; nackte, wie mythologische Figuren gestaltete Handwerker errichten einen traumschönen ionischen Tempel, dessen Inschrift die Worte des aristotelischen Loblieds auf die Tugend des Kampfs und den Heldentod wiedergibt; unten kehren siegreiche Krieger heim. So stellte sich Schinkel die ‚griechische Heiterkeit‘ im Goldenen Zeitalter der hellenischen Kultur vor. Gegen diese verklärende Tagtraumvison im Zeichen eines unkritischen Bildungsoptimismus wandte sich Jacob Burckhardt, der in der Einleitung zum ersten Band der Griechischen Kulturgeschichte August Böckh zitierte („Die Hellenen waren unglücklicher als die Meisten glauben“). Nietzsche wiederum zerstörte den illusionären Anschein der griechischen Heiterkeit, indem er in der Geburt der Tragödie jenes „zum Leiden so einzig befähigte Volk“ beschwor. Dem Mythos der harmonischen Kulturblüte Altgriechenlands im 5. und im 4. Jahrhundert v. Chr. entspricht der Kakanien- und Wienmythos in Stefan Zweigs Welt von Gestern. Am 26. April 1940 hatte Zweig

Judentum und Antisemitismus

Wien, Franz-Josephs-Kai, um 1900. © Library of Congress, Fotograf unbekannt

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im Pariser Théâtre Marigny den Vortrag Das Wien von gestern gehalten, in dem Wien als ein Mikrokosmos dargestellt wurde, in dem sich das unwiederbringlich verlorene Goldene Zeitalter der Belle Époque verdichtete. Dieser „Vorposten der lateinischen Zivilisation“, dieses „Bollwerk der römisch-katholischen Kirche“ und „Hauptquartier der Gegenreformation“ habe schon immer die Slawen, die Ungarn, die Italiener, die Juden angezogen, und alle Unterschiede, so bekräftigt Zweig, ergossen sich in den Wiener Schmelztiegel, um eine „kulturelle Gemeinschaft“ zu bilden. „Gegensätze zu mischen und aus dieser ständigen Harmonisierung ein neues Element europäischer Kultur zu schaffen, das war das eigentliche Genie dieser Stadt.“1 In diesem Vortrag vom April 1940 lässt Zweig das Bild einer Stadt von „Phäaken“, „wie man es aus der Operette kennt“, entstehen, in der der Geist der Freude herrschte (in der in Paris vorgetragenen Übersetzung steht das französische Wort jouissance, das man mit ‚Wollust‘ eher als mit ‚Freude‘ rückübersetzen sollte). Für Stefan Zweig blieb Wien der Mittelpunkt der versunkenen kakanischen heilen Welt. Bei Joseph Roth, dem anderen Dichter am ‚habsburgischen Mythos‘, befand sich Kakaniens Geist in den Randgebieten der Monarchie und kaum in Wien. „Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie“, betont Graf Choinicki in der Kapuzinergruft (1938), wobei unter Österreich eigentlich nur Altösterreich zu verstehen ist, seitdem Wien zur Hauptstadt von „ce qui reste“ (Clemenceau apokryph) von der Donaumonarchie geworden ist. Beide Varianten des ‚habsburgischen Mythos‘ dekonstruiert seit Jahren die von Moritz Csáky vertretene Forschungsrichtung, von der ich seit Anfang der 1990er-Jahre die anregendsten Impulse bekommen habe. Dem Zweig’schen Mythos entgegen war Wien in der Belle Époque keine Metropole der harmonisierenden Kultursynthese, sondern die zentraleuropäische Hauptstadt der Pluralität und der interkulturellen Dissonanzen. Und doch wäre es eine verkürzte Perspektive, Wien im Fin und im Début de siècle mit dem pessimistischen Blick Joseph Roths vorwiegend im Zeichen der deutschen Leitkultur zu betrachten.

Judentum und Antisemitismus

Diese Pluralität war der Nährboden, auf dem Kakaniens Kulturblüte möglich wurde. Sie erklärt die faszinierende, vielfältige Kreativität Wiens, die die vor allem von Literaturwissenschaftlern so genannte Wiener Moderne zu einer der wichtigsten kulturhistorischen Konstellationen am Beginn des 20. Jahrhunderts machte. Wenn aber diese kreative Pluralität seit mindestens drei Jahrzehnten die Kulturwissenschaftler – und die Touristik-Industrie – beglückt, so wurde sie jedoch von den Zeitgenossen als ein Unglück erfahren. Die hässliche und absurde Formel Heinrich von Treitschkes „Die Juden sind unser Unglück“ aus dem Jahre 1879 könnte man in der leicht abgewandelten Form „Die Pluralität ist unser Unglück“ auf das Unbehagen der durch die deutschnationalen und christlichsozialen Fraktionen vertretenen Wiener Bevölkerung anwenden. Mit folgenden Worten Moritz Csákys kann man dieses Unbehagen in der Wiener Moderne beschreiben: „In der beengten Dichte des urbanen Milieus wurde regionale Heterogenität als Bedrohung empfunden. Hier erlebte man in unmittelbarer Nähe, was fremd, andersartig war, was einen Unterschied ausmachte, und empfand ein entsprechendes Gefühl der Verunsicherung, auf das die dominante soziale Gruppe (die sich zuweilen in die Rolle der Minderheit gedrängt fühlte) mit zunehmender Irritation antwortete.“2 Die Geschichte der Juden Wiens in der Periode 1880–1938, die durch das unaufhaltsame Ansteigen des Antisemitismus gekennzeichnet ist, kann man allerdings nicht als die Geschichte einer von xenophoben Einstellungen und fremdenfeindlichen Regungen betroffenen Minderheit schreiben. Selbst wenn der demografische Zuwachs der jüdischen Bevölkerungsgruppe, vor allem der ostjüdischen, die jüdische Präsenz in Wien ,sichtbarer‘ macht als zuvor, ist es der Antisemitismus, der ‚die Juden‘ als kompakten Fremdkörper konstituiert. Assimilierte, längst ‚unsichtbar‘ gewordene, in ihren eigenen Augen ‚entjudaisierte‘ Juden fallen dem neuen rassischen Antisemitismus (einer unheimlichen Verdichtung des herkömmlichen konfessionellen Antijudaismus und der neueren Diskurse über das jüdische Wesen) ebenso zum Opfer wie die im ‚neuen Ghetto‘ der Leopoldstadt lebenden Ostjuden. Die sozio-ökonomischen und kulturellen Modernisierungskrisen reagie-

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ren sich als Antisemitismus ab. Der neue antisemitische kulturelle Code ist massiv antimodern und macht ‚die Juden‘ zu Sündenböcken des ganzen Unbehagens in der modernen Kultur. Um 1900 sind Antisemitismus, Antislawismus und Antimagyarismus zu „kulturellen Codes“ geworden, wenn es zulässig ist, den von Shulamit Volkov geprägten Ausdruck in dieser Weise auszudehnen.3 Diese verschiedenen Formen des Fremdenhasses können als Proteste gegen die Multikulturalität und als Sehnsucht nach einer holistischen Gesellschaftsform interpretiert werden, in der jeder ‚Volksstamm‘ eine kompakte Gemeinschaft in einem sozio-kulturell homogenen Stadtgebiet bilden möchte. Jedes individuelle Identitätsgefühl ist bewusst-unbewusst Teil einer Gruppenidentität, und zwar einer sozialen Identität (Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen bzw. beruflichen ‚Stand‘, zu einer ‚Klasse‘) und einer kulturellen Identität, die durch die Sprache, die Konfession, die Ausbildung und Bildung, die Zugehörigkeit zu einer Heimat, einem Volk und einer Nationalität (‚Nationen‘ darf es in Österreich-Ungarn nicht geben!) gekennzeichnet wird. Um 1900 ist außerdem die ‚Rasse‘ ein Begriff, der sich auch in Wien in den sozialen Diskursen etabliert hat und z. B. im Munde der Antisemiten ‚den Juden‘ eine feste, rassistisch definierte Identität verleiht, von der sich, meinen die Antisemiten, kein Wiener jüdischer Herkunft absetzen kann. Im Verlauf solcher Identitätskrisen verändern sich bewusst und unbewusst alle Identitätsmuster. Die Reaktion auf als fremd empfundene Minoritäten bewirkt eine Neukodierung der Identitätsdiskurse der Bevölkerungsmehrheit (in Wien um 1900: der Wiener Deutschen). Jede neu zugewanderte Minorität entfremdet sich von ihrer Herkunfts­ region, wird aber vom alteingesessenen Teil der gleichen Minorität wiederum als fremd empfunden (das ist der Fall der galizischen Juden und Jüdinnen der Leopoldstadt in den Augen des assimilierten jüdischen Bürgertums). So wurde im Wien der Belle Époque die demografische Pluralität zu einem ebenso destruktiven wie kreativen Potenzial der interkulturellen Auseinandersetzung und löste sowohl allseitige produktive Kulturtransferprozesse als auch einen bedrohlichen „Rassenkampf“4 aus.

Judentum und Antisemitismus

Die Wiener Moderne könnte man als eine zum großen Teil deutschjüdische Kulturlandschaft bezeichnen, was aber einen geringen Erkenntnisgewinn bedeuten würde, da der Sammelbegriff ‚Wiener Juden‘ die große Heterogenität der ‚jüdischen Identitäten‘ verdeckt und das Adjektiv ‚deutsch‘ im altösterreichischen Kontext ebenfalls eine besondere Definition erforderlich macht. Die Pluralisierung der deutschen identitären Diskurse in Österreich-Ungarn kann man als eine weitere Erscheinungsform der Identitätskrisen in der Wiener Moderne sehen. Das breite Spektrum der jüdischen Reaktionen auf den Antisemitismus reicht von der hyperassimilatorischen Identifikation mit dem Aggressor (‚Jüdischer Selbsthass‘) bis zum kulturellen und politischen Zionismus der jungjüdischen Kulturrenaissance und der von Theodor Herzl geführten Bewegung. Im Stichwort Assimilation konzentrieren sich viele Illusionen der Wiener Juden. Geradezu erschütternd ist folgende Äußerung von Karl Kraus im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre: „Es bleibt die Frage, ob das dogmatische Interesse der Jüdisch-Clericalen [...] nicht am Ende größeres Unheil bewirken könnte als aller Antisemitismus. Bestrebt, die Juden nach den vier Jahrtausende alten Anweisungen als ‚ein auserwähltes Volk zu erhalten, das sich mit anderen Völkern nicht mischt‘, ja ihnen in nichts zu ähnlich werden darf, erläutern sie an Dreyfus den Fingerzeig ihres Gottes gegen die Assimilation. Denn über das Dogma ‚vom auserwählten Volk‘ scheint trotz allem Rationalismus die rechtgläubige Judenheit nicht hinauskommen zuwollen. Wer von all dem und zugleich vom Rassen-Antisemitismus frei ist, kann die leidige Affaire nicht beiseite schieben, ohne daraus ein richtigeres Urtheil über die Judenfrage zu gewinnen. Der Antisemitismus, der in Frankreich so rasch und fast unerwartet emporlohte, hat bewiesen, dass selbst einer social vorgeschrittenen Nation die von einem Theil der Juden mit vielem Eifer getriebene psychologische und gesellschaftliche Assimilation nicht genügt [...]. Für die gegenwärtige Geschichts- und Gesellschaftsperiode [hat sich] die Assimilation ohne physiologische Blutmischung als unzureichend erwiesen.“5

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In den ersten Jahrgängen der im April 1899 lancierten Fackel zeigt sich Karl Kraus auf der einen Seite fast blind gegenüber der wahren Natur des Antisemitismus der Lueger-Zeit, auf der anderen besonders hellsichtig und feinhörig, wenn es darum geht, bestimmte innere Widersprüche und programmatische Schwächen des Herzl’schen Zionismus zu entlarven. Die Entwicklung des Antisemitismus im 20. Jahrhundert zeigte nicht zuletzt in Wien, dass der vollkommen assimilierte, ‚unsichtbar‘ gewordene Jude, der Jude ohne ‚jüdische Eigenschaften‘ also, ebenso das Opfer des antisemitischen Hasses und Vernichtungstriebs wurde wie der ‚sichtbare‘ Ostjude. Die Assimilation war keineswegs die von Kraus naiv gepriesene Panazee. Karl Kraus selbst nimmt den Assimilations-Optimismus dann zurück, wenn er den Stil und die Mentalität der meisten jüdischen Journalisten und – seiner Einschätzung nach – schlechten deutsch-jüdischen Autoren seiner Zeit als ein einziges ‚Mauscheln‘ verurteilt. Theodor Herzl sah Karl Kraus wiederum als den erbitterten Feind des jüdischen Assimilationsgedankens, was sicherlich zutreffend war, doch ging er einen Schritt weiter, indem er den Zionismus als eine verkappte Assimilation an die slawischen und sonstigen Volksstämme der Habsburgermonarchie durchschaute, die alle am Aufbau ihrer jeweiligen imaginären nationalen Gemeinschaft arbeiteten und sich alle nach einem Nationalstaat sehnten. Der Begriff Assimilation erscheint heute als veraltet und problematisch. Das Wort Integration klingt glaubwürdiger. Nun aber hat es sich als Kakaniens Verhängnis erwiesen, dass dessen politisches System die demografische Pluralität in Cisleithanien zu einem halbwegs zusammenhängenden Ganzen zu gestalten fähig war – den Nationalitäten wurde die kulturelle Autonomie konzediert, das seit 1867 ausgearbeitete Ausgleichssystem gewährte den verschiedenen Nationalitäten in jedem Kronland beim Wahlrecht für die Wahlen zum Landtag eine weitgehende Autonomie –, die österreichischen Juden jedoch nur als mosaische Glaubensgemeinschaft anerkannte, die jüdische kulturelle Identität erst in den nie in Kraft getretenen Ausgleichen für Galizien und die Bukowina institutionell wahrnahm, für das jüdische ‚Staatsvolk par excellence‘ neben den anderen Volksstämmen keinen eigenen

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Status vorsah und schließlich dem Antisemitismus gegenüber ratlos und ohnmächtig blieb. Anmerkungen 1

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Stefan Zweig, Das Wien von Gestern, in: ders., Zeit und Welt. Gesammelte Aufsätze 1904–1940, hg. v. Richard Friedenthal, Stockholm 1943, S. 129–150, hier S. 143. Moritz Csáky, Multicultural Communities: Tensions and Qualities. The Example of Central Europe, in: Eve Blau/Monika Platzer (ed.), Shaping the Great City: Modern Architecture in Central Europe, 1890–1937, München 1999, S. 43–55, hier S. 45f., hier zit. n. William M. Johnston, Zur Kulturgeschichte Österreichs und Ungarns 1890– 1938. Auf der Suche nach verborgenen Gemeinsamkeiten (Studien zu Politik und Verwaltung 110), Wien/Köln/Graz 2015, S. 94. Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, in: dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, S. 12–36. Ludwig Gumplowicz, Der Rassenkampf. Sociologische Untersuchungen, Innsbruck 1883.   Karl Kraus, „Bald reichlicher, bald spärlich...“, in: Die Fackel 7 (Anfang Juni 1899), S. 2–5, hier S. 4f.

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Kakanien Roland Innerhofer

In Robert Musils Kakanien führt die Vielzahl konkurrierender Identitätskonstruktionen und nationaler Narrative zu einer staatsskeptischen Haltung, die der Autor des Mann ohne Eigenschaften allerdings gegenüber den aggressiven Nationalstaaten als Fortschritt wertet. Kakanien bezeichnet in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften1 den fiktiven Schauplatz der Handlung. Im Duden wird die Bedeutung des Wortes so lapidar wie unpräzise als „die k. u. k. Monarchie“2 angegeben, das Österreichische Wörterbuch vermerkt etwas genauer: „ironische Bezeichnung für die österreichisch-ungarische Monarchie.“3 Im Roman wird der Handlungsort folgendermaßen eingeführt: „Dort, in Kakanien, diesem seither untergegangenen, unverstandenen Staat, der in so vielem ohne Anerkennung vorbildlich gewesen ist, gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo. […] Natürlich rollten auf [Kakaniens] Straßen auch Automobile; aber nicht zuviel Automobile! Man bereitete die Eroberung der Luft vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft. Man hatte keinen Weltwirtschaftsund Weltmachtehrgeiz; man saß im Mittelpunkt Europas, wo die alten Weltachsen sich schneiden; die Worte Kolonie und Übersee hörte man an wie etwas noch gänzlich Unerprobtes und Fernes. […] Man gab Unsummen für das Heer aus; aber doch nur gerade so viel, daß man sicher die zweitschwächste der Großmächte blieb.“4

Auffallend an dieser Beschreibung ist, dass die Merkmale Kakaniens stets eingeschränkt und relativiert werden.5 Deutlich scheint der his-

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Mittleres Gemeinsames Staatswappen der Österreichisch Ungarischen Monarchie, 1915, entworfen von Hugo Gerhard Ströhl. © Die neuen österreichischen, ungarischen und gemeinsamen Wappen, Wien 1917

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torische Hintergrund durch: Die österreichisch-ungarische Monarchie als supranationaler, multiethnischer Verband im Zeitalter des europäischen Kolonialismus „stellte […] zweifellos eine der imperialen Großmächte dar, doch besaß [sie], anders als [ihre] Nachbarn im Westen, keine territorialen Schutzgebiete oder Rohstoffreserven in überseeischen Gebieten. […] In gewisser Weise trat Kakanien, vor allem nach Osten hin, auch als kolonisierende Macht auf – doch es war eine Kolonialmacht ohne Kolonien.“6 Die Argumentation Alexander Honolds, die Kakanien umstandslos mit der Habsburgermonarchie gleichsetzt, zeigt, wie weitgehend sich die abwägende, relativierende Einräumungs- und Einschränkungsrhetorik des ‚Zwar-Aber‘, mit der Musil Kakanien kennzeichnet, mit der Geschichte Österreich-Ungarns deckt. Wie für dieses liegt das Dilemma Kakaniens darin, sich als nicht-nationaler Staat im Zeitalter der Nationalstaaten behaupten zu müssen. Dem Staat Kakanien liegt nicht nur in seiner Denk-, sondern auch in seiner Handlungsweise eine Reihe von Aporien und Paradoxa zugrunde: „Die Bewohner dieser kaiserlich und königlichen kaiserlich königlichen Doppelmonarchie fanden sich vor eine schwere Aufgabe gestellt; sie hatten sich als kaiserlich und königlich österreichischungarische Patrioten zu fühlen, zugleich aber auch als königlich ungarische oder kaiserlich königlich österreichische. […] Die beiden Teile Ungarn und Österreich paßten zu einander wie eine rot-weißgrüne Jacke zu einer schwarz-gelben Hose; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war. Die Hose Österreich hieß seither in der amtlichen Sprache ‚Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder‘, was natürlich gar nichts bedeutete und ein Name aus Namen war, denn auch diese Königreiche, zum Beispiel die ganz Shakespeareschen Königreiche Lodomerien und Illyrien gab es längst nicht mehr und hatte es schon damals nicht mehr gegeben, als noch ein ganzer schwarz-gelber Anzug vorhanden war. Fragte man darum einen Österreicher, was er sei, so konnte er natürlich nicht antworten: Ich bin einer aus den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, die es nicht gibt, – und er zog es schon aus diesem

Kakanien

Grunde vor, zu sagen: Ich bin ein Pole, Tscheche, Italiener, Friauler, Ladiner, Slowene, Kroate, Serbe, Slowake, Ruthene oder Wallache, und das war der so genannte Nationalismus.“ (MoE 450f.)

Musil betont, dass Identitätskonstruktionen, besonders auch historische und staatliche, durch Narrative erfolgen, durch Geschichten, aus denen Geschichte gemacht wird. Kakanien sei aber die kollektive Überzeugung, dass die eigene Geschichte, die eine ‚gute‘ und gültige sei, verloren gegangen ist. An die Stelle der einen patriotischen (Be-) Gründungsgeschichte sei eine Vielzahl nationaler ‚Geschichten‘ getreten. Schon 1919 polemisierte Musil gegen einen selbstgefälligen Pa­ triotismus: „Wir sind so begabt, Orient und Okzident vermählen sich in uns, Süden und Norden; eine zauberhafte Vielfalt, eine wunderbare Kreuzung von Rassen und Nationen, ein märchenschönes Mit- und Ineinander aller Kulturen, das sind wir.“7 Anders als der hier satirisch dargestellte Austriazismus ist das Modell Kakanien gekennzeichnet durch Selbstnegation und -ironie. Norbert Christian Wolf hebt die Parallele und den Unterschied zu Karl Kraus‘ Satire hervor: „Musils erzählerische Ausgestaltung des romanesken Handlungsraums nimmt den von Karl Kraus 1914 begründeten literarischen Topos, die ‚österreichische[] Versuchsstation des Weltuntergangs‘ mit der ‚Fratze des gemütlichen Siechtums‘ zu zeichnen, nicht nur auf, sondern radikalisiert ihn gerade dadurch, dass sie den essayistischen Diskurs jeder Form von bitterem moralistischem Unterton entkleidet und Letzteren durch eine universelle Ironie ersetzt.“8 Eine solche Haltung ist mit einem affirmativen Staatsbegriff nicht kompatibel. Das Modell Kakanien ist umgeben von einer Leere, von der „passive[n] Phantasie unausgefüllter Räume“ (MoE 34). Dementsprechend liegt das Fortschrittliche am Staat Kakanien nach Musil in seiner gesteigerten Skepsis: „Soweit das nun überhaupt allen Augen sichtbar werden kann, war es in Kakanien geschehen, und darin war Kakanien, ohne daß die Welt

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es schon wußte, der fortgeschrittenste Staat; es war der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte, man war negativ frei darin, ständig im Gefühl der unzureichenden Gründe der eigenen Existenz und von der großen Phantasie des Nichtgeschehenen oder doch nicht unwiderruflich Geschehenen wie von dem Hauch der Ozeane umspült, denen die Menschheit entstieg.“ (MoE 35)

Gerade in der Negation eines unreflektierten Fortschrittsglaubens, der sich in Musils Zeit eng mit nationalistischen Ideologien und dem Führerkult verband, liegt das Fortschrittliche am Modell Kakanien: „[V]erwaltet wurde dieses Land in einer aufgeklärten, wenig fühlbaren, alle Spitzen vorsichtig beschneidenden Weise von der besten Bürokratie Europas, der man nur einen Fehler nachsagen konnte: sie empfand Genie und geniale Unternehmungssucht an Privatpersonen, die nicht durch hohe Geburt oder einen Staatsauftrag dazu privilegiert waren, als vorlautes Benehmen und Anmaßung. Aber wer ließe sich gerne von Unbefugten dreinreden! Und in Kakanien wurde überdies immer nur ein Genie für einen Lümmel gehalten, aber niemals, wie es anderswo vorkam, schon der Lümmel für ein Genie.“ (MoE 33)

In der Redefigur der ironischen Inversion werden Staatsformierung, politisches Handeln und literarisch-rhetorische Verfahren miteinander verzahnt. Solche Tropen verweisen zwar auf das konkret-reale Gebilde der Habsburgermonarchie, sie entwerfen aber zugleich einen Ort, wo andere Gesetze herrschen: eine Heterotopie.9 Kakanien markiert weniger die Wirklichkeit der Doppelmonarchie als ein Staatsund Gesellschaftsmodell, das auf Identitätsverweigerung beruht. Es wird so zur Chiffre für die Utopie einer „Experimentalgemeinschaft“ (MoE 490), in der neue Weisen, Mensch zu sein, erprobt werden.10 Musils Reflexion über den Staat vermeidet jene Oppositionspaare, welche die (dominante) Rede über ihn strukturieren und in denen Individuum und Kollektiv, Subjektivität und Macht, Staat und Gesellschaft als gegensätzliche Pole erscheinen. Musils Poetologie der Machttechniken und Wissensformen setzt die Institutionalisierung staatlich-rechtlicher Formen und histori-

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sche Subjektivierungsmodi, staatliche Vorschriften und individuelle Verhaltensregeln in Beziehung zueinander. Daraus resultiert eine Vervielfältigung der Identitäten – die „mindestens neun Charaktere“ (MoE 34) der kakanischen Landesbewohner. Kakanien ist deshalb der fortschrittlichste Staat, weil ihm aufgrund seiner multinationalen Zusammensetzung und seiner fehlenden Identität der Rückfall in die ideologischen Narrative und Identifikationsangebote des Nationalismus – seine Ursprungserzählungen, seine Erinnerungsorte, sein Kostümtheater – verwehrt ist. Das Modell Kakanien spiegelt die mit der Repräsentationskrise einhergehende Erosion der Identitätspolitiken. Das fehlende Selbstvertrauen und damit das Fehlen einer Identifikationsmöglichkeit mit dem kakanischen Staat hinterlassen aber zugleich eine Leere, in die die Nationalismen stoßen können. Musil stellt das Scheitern Kakaniens vor den Hintergrund einer politischen Anthropologie. Sie geht davon aus, dass die Menschen nach einem Lebenssystem streben, das ihre widerstrebenden Triebe und Motive im Gleichgewicht hält. Geht der Glaube an die in diesem Zusammenhalt begründete Ordnung verloren, kommt es zu ihrem Zusammenbruch, zur „Ideenflucht“ (MoE 289) und Revolution. Die Qualität des Staates Kakaniens ist damit eine negative: Indem er sich selbst verneint, kündigt er vom bevorstehenden Zusammenbruch, der sich historisch im Ausbruch des Ersten Weltkriegs und in den anschließenden Revolutionen zeigte. Musils prinzipielle Skepsis gegenüber dem Staat beruht auf der Tatsache, dass dieser eine Organisation ist, die sich aus Organisationen aufbaut: ein sich selbst regulierendes System und zugleich ein Agent der normalisierenden Regulierung, die ihrer eigenen, vom Willen der Bürger unabhängigen Logik folgt. Selbst der demokratisch verfasste Nationalstaat unterliege nicht der Kontrolle seiner Bürger und grenze jene aus, die von der Norm abweichen, also gerade die Besten. Er sei dümmer als die besten Einzelnen und unmoralischer selbst als die durchschnittlichen Einzelnen. Das sei das „Verhängnis“ der „menschlichen Organisation in Staaten“.11 Den souveränen Territorialstaat zu überwinden oder ihn wenigstens durchlässiger zu machen in Hinblick auf inter- und supranationale Organisationsformen ist die hellsichtige

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Lehre, die Musil aus den kriegerischen Verwicklungen und faschistischen Entwicklungen der Nationalstaaten seiner Zeit zieht. Anmerkungen 1

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Der erste Band erschien 1930, der erste Teil des zweiten Bandes 1932; der Roman blieb unvollendet. www.duden.de/rechtschreibung/Kakanien (abgerufen am 15.1.2016) www.ostarrichi.net/wort-11200-at-Kakanien.html (abgerufen am 15.1.2016) Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. 2 Bände, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 32f. Im Folgenden zitiert mit der Sigle MoE und Seitenangabe. Dietmar Goltschnigg bezeichnet dieses Stilmittel als „konzessive Reduktion“. Dietmar Goltschnigg, Die Bedeutung der Formel „Mann ohne Eigenschaften“. Grazer Musil-Symposion 1972, hg. von Uwe Baur und Dietmar Goltschnigg, Salzburg/ München 1973 (Musil-Studien 4), S. 325–347, hier S. 332. Alexander Honold, Kakanien kolonial. Auf der Suche nach Welt-Österreich, in: Wolfgang Müller-Funk/Peter Plener/Clemens Ruthner (Hg.), Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen/Basel 2002, S. 104–120, hier S. 105. Robert Musil, Buridans Österreicher [1919], in: ders., Gesammelte Werke in 9 Bänden, hg. von Adolf Frisé. Band 8: Essays und Reden, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1030–1032, hier S. 1031. Norbert Christian Wolf, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 2011, S. 300. – Die KrausZitate stammen aus: Karl Kraus, Franz Ferdinand und die Talente, in: Die Fackel 16 (1914) 400–403, S. 1–4, hier S. 2. Michel Foucault, Andere Räume, in: ders., Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien, hg. von Jan Engelmann, Stuttgart 1999, S. 145–157. Alice Bolterauer bemerkt treffend, dass „die Konstruktion ›Kakaniens‹ […] im Kontext des […] Möglichkeitssinns zu sehen und zu verstehen“ ist. Alice Bolterauer, ›Kakanien‹ – oder was eine mitteleuropäische Landschaft sein könnte. Anmerkungen zu Robert Musil, in: Kakanien revisited, 26.12.2003, www.kakanienrevisited.at/beitr/fallstudie/ABolterauer2.pdf (abgerufen am 15.1.2016), S. 3. Robert Musil, Der Anschluss an Deutschland [1919], in: ders., Gesammelte Werke. Band 8, S. 1033–1042, hier S. 1033.

Kulinarik Rudolf Jaworski

Die kulturellen Pluralitäten des Habsburgerreiches fanden ihren alltäglichen Niederschlag in einer nicht minder vielfältigen Speisekarte, wobei regionale Prägungen und übergreifende kulinarische Mischkulturen gleichermaßen von Bedeutung waren. Die kulturwissenschaftliche Forschung zum Thema Essen und Trinken hat sich bislang verhältnismäßig wenig zusammenhängend mit den kulinarischen Eigenheiten der Habsburgermonarchie befasst. Einzig die Reichsmetropole Wien ist mehrfach unter diesem Gesichtspunkt untersucht worden.1 Das ist insofern nicht weiter verwunderlich, als hier die kulinarischen Fluchtlinien des Gesamtstaates zusammenliefen, um sich schließlich zu dem legendären mixtum compositum der ,Wiener Küche‘ zu verdichten. Darüber hinaus stellen jedoch auch die genuinen Esskulturen dieses Vielvölkerstaates für sich genommen überaus ergiebige Untersuchungsfelder dar. Gemeint sind die spezifischen Besonderheiten der diversen Landes- und Regionalküchen sowie deren Transfer, Austausch, ihre Verbreitung sowie ihre Modifizierungen im gesamten Staatsgebiet.2 Entscheidend waren dabei immer regionale Ausgangspositionen, die jedoch seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge verstärkter Binnenwanderung ihre ursprüngliche kultursemiotische Bedeutung zugunsten größer geschnittener kulinarischer Mischkulturen einbüßten, die nun ihrerseits das kulinarische Profil des gesamten Reichsgebiets bestimmten. Es handelte sich also weder ethnisch noch geografisch um fixe Größen, sondern um dynamische Austauschprozesse von Ess- und Trinkgewohnheiten, die eng an sozio-ökonomische Wandlungsvorgänge gekoppelt waren und sich lange Zeit vornehmlich im urbanen Raum

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Christoph Wagner/Adi Bittermann, Kronländer Kochbuch. © Wien: Pichler Verlag 2008

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vollzogen haben. Denn hier bot die Enge und Kommunikationsdichte ideale Rahmenbedingungen für die Überlappung und Vermischung von Esskulturen, die im ländlichen Bereich noch weitgehend separat voneinander koexistierten. Städte wie Czernowitz, Lemberg, Triest, Sarajewo und nicht zuletzt die Reichshauptstadt Wien können stellvertretend für diese Entwicklung benannt werden.3 Dies führte nicht nur zu einer weitgehenden Vermischung von Ess- und Trinkgewohnheiten, sondern auch zu einer Kreolisierung der Küchensprachen in allen Kronländern. Böhmische Buchteln (tschech.: Buchty) oder ungarische Palatschinken (ungar.: Palacsinta) sowie andere, ursprünglich regional gebräuchliche kulinarische Fachausdrücke sind auf diese Weise in den allgemeinen Sprachschatz der Monarchie eingegangen.4 Das im gesamteuropäischen Vergleich außergewöhnliche Konglomerat unterschiedlichster Sprachen, Ethnien und Konfessionen im habsburgischen Vielvölkerreich bedingte zwangsläufig ein besonders vielfältiges Angebot an Speisen und Getränken. Diese reichhaltige und abwechslungsreiche ,culinaria habsburgensia‘ blieb aber nicht nur besser gestellten Gesellschaftsschichten und Touristen in den großen Städten vorbehalten, sondern wurde von Migranten unterschiedlichster Couleur (Beamten, Militär, Arbeitskräfte usw.) in die entlegensten Gebiete des Gesamtstaates transferiert und somit auch ,kleinen‘ Leuten zugänglich gemacht. Zusätzlich hat die über das gesamt Gebiet der Monarchie verstreut lebende jüdische Bevölkerung mit ihrem Speisenkatalog nicht unwesentlich zu solchen Diffusionsprozessen beigetragen.5 Am Ende dieses umfassenden kulinarischen Transfers stand eine weit gefächerte Palette von süßen und pikanten Köstlichkeiten: angefangen von der in sich differenten galizischen Küche der Polen, Ruthenen und Juden über böhmische und ungarische Gerichte bis hin zu italienischen Speisen von der Adria und Balkanspezialitäten in den kroatischen Landesteilen oder in Bosnien-Herzegowina. So betrachtet spiegelte das weit gefächerte Angebot kulinarischer Möglichkeiten die ethnische Vielfalt und den kulturellen Reichtum der Habsburgermonarchie wider – und zwar in sehr konkreter, weil alltäglich erfahrbarer Art und Weise. Gesellschaftlich bedeutsam war dabei, dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Trennscheide, welche vordem die

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Haute cuisine der gehobenen Gesellschaftsschichten, also des Adels und des Großbürgertums, von der ,Arme-Leute-Küche‘ und Volksnahrung separiert hatte, allmählich in eine Unterscheidung diverser ,Nationalküchen‘ zu verschieben begann, die jedoch infolge zahlreicher multiethnischer Gemengelagen nicht wirklich voneinander abzugrenzen und auseinander zu halten waren. In manchen Regionen, wie in der Bukowina, kam es zu einer besonders engen Verflechtung unterschiedlicher Esskulturen.6 Die beeindruckend vielfältige Küche der Bukowina ergab sich aus dem Umstand, dass sich hier das Völkergemisch des Gesamtstaates noch einmal in komprimierter Form auf engstem Raum abbildete. In diesem kleinen Kronland wurden mehr als ein Dutzend verschiedener nationaler Gruppen gezählt. Rumänen, Ruthenen, Deutsche, Juden und Polen – um nur die wichtigsten zu nennen – bereicherten hier mit ihren verschiedenartigen Gerichten die Speisekarte. Die Ruthenen brachten beispielsweise einen eintopfartigen Borschtsch (ukrain.: boršč) ein, die Polen den klaren Rote-Beete-Borschtsch (poln.: barszcz), die Rumänen ihre eigenen, sehr gehaltvollen und variantenreichen Suppen (rumän.: ciorbas), die Juden wiederum ihre delikaten Fischgerichte usw. Die Bukowina stellte indes nur ein besonders evidentes Beispiel derartiger Diffusions- und Hybridisierungsprozesse dar. Ähnliche Erscheinungen lassen sich unschwer in anderen Teilen der Doppelmonarchie nachweisen, wenn man stellvertretend nur einmal an die Baranja denkt, wo sich ungarische, slowenische und kroatische Einflüsse überschnitten haben. In vielen Fällen konnte bestenfalls die Herkunft einzelner Speisen und Getränke bestimmten Ethnien zugeordnet werden. Doch erst die Summe all dieser diversen kulinarischen Komponenten bestimmte die spezifische Signatur der jeweiligen Region oder Stadt. Die verbindenden Komponenten und Effekte der Esskulturen im Habsburgerreich sagen freilich noch nichts über die zeitgenössische Wahrnehmung und Bewertung solcher Konvergenzen aus, die von Bedürfnissen nach exklusiv definierten Teilidentitäten und Distinktionsabsichten zwar nicht aufgehoben, aber doch relativiert werden konnten. Im Zeitalter des Nationalismus wurden Essen und Trinken

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nämlich auch in der Donaumonarchie zur kollektiven Selbst- und Fremdbezeichnung herangezogen und somit für die kollektive Identitätsstiftung und -erhaltung nutzbar gemacht. Das ungarische Gulasch (ungar.: Pörkölt) avancierte beispielsweise zu einem Nationalsymbol, das auch von außen als solches bis zum heutigen Tage wahrgenommen wird, obwohl dieses Gericht mit zahlreichen Varianten in der gesamten Monarchie verbreitet war.7 Und auch wenn die Wiener liebend gern die aus Böhmen stammenden Powidl-Tascherln verzehrten, so hinderte sie das nicht daran, die Tschechen in ihren satirischen Zeitschriften abwertend als Powidl (tschech.: Povidla, Pflaumenmus) zu beschimpfen. Bestimmte Essgewohnheiten und Vorlieben im Habsburgerreich lassen sich darum höchstens unter- und oberhalb der so genannten ,Nationalküchen‘ rekonstruieren. Zum einen sind die entsprechenden Traditionsstränge und Praktiken in größere geografische Zusammenhänge einzuordnen, wie sie beispielsweise in der benachbarten ,culinaria balcanica‘ vorhanden waren, mit welcher es in den südöstlichen Gebieten der Donaumonarchie direkte Überschneidungen gegeben hat.8 In den deutschsprachigen Landesteilen Cisleithaniens ergaben sich Gemeinsamkeiten mit der bayerischen und böhmischen Küche, an der Adria Anleihen aus der mediterranen Küche und in Galizien fließende Übergänge zu den osteuropäischen Esskulturen. Gleichzeitig ist es aber auch unerlässlich, die regionalen Wurzeln kulinarischer Vor­ lieben in diesem Großstaat zu beachten, da diese im Vergleich zu den Nationalküchen in der Regel die älteren und beständigeren Traditionen aufweisen, wie etwa im Fall der Triestiner Küche.9 Das reiche Erbe der ,culinaria habsburgensia‘ sollte bekanntlich auch nach dem Zerfall dieses Vielvölkerreiches nicht einfach verschwinden. Dass es einen solchen Länder und Nationen übergreifenden Fundus an Speisen und Getränken auch nach 1918 gegeben hat, der selbst die Zeit des Kalten Krieges überdauerte und teilweise heute noch vorhanden ist, dürfte kaum zu bestreiten sein.10 Diese Kontinuität bestätigt die Nachhaltigkeit kulinarischer Prägungen und ihre Unabhängigkeit von den Wechselfällen der Politik. Zugleich lassen sich an der Kulinarik des Habsburgerreiches modellhaft schon die Anfänge

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und Mechanismen heute weltweit beobachtbarer Globalisierungstendenzen der Esskulturen ablesen. Anmerkungen 1

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Siehe u. a. Susanne Breuss, Einverleibte Heimat. Österreichs kulinarische Gedächtnisorte, in: Emil Brix/Ernst Bruckmüller/Hannes Stekl (Hg.), Memoria Austriae. Band 1, Wien 2004, S. 301–329. – Konrad Koestlin, Die Wiener Küche. Ein Alleinstellungsmerkmal avant la lettre, in: Moritz Csáky/Christian Lack (Hg.), Kulinarik und Kultur, Wien 2014, S. 121–131. Vgl. dazu u. a. Rolf Schwendter, Arme essen – Reiche speisen. Neuere Sozialgeschichte der zentraleuropäischen Gastronomie, Wien 1995, S. 127–200. – Christoph Wagner/Adi Bittermann, Kronländer Kochbuch. 450 altösterreichische Rezepte. Prag – Krakau – Budapest – Triest, Wien u. a. 2008, S. 7–20. Vgl. Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien 2010, S. 109–111, S. 273–320. Vgl. dazu allgemein Alois Wierlacher, Die kulinarische Sprache, in: ders./Regina Bendix (Hg.), Kulinaristik, Berlin 2008, S. 112–126. Vgl. Salcia Landmann, Koschere Kostproben. Rezepte aus Alt-Österreich für Feinschmecker, Zürich 1964. – Claudia Roden, Das Buch der jüdischen Küche, Wien 2012, S. 38–43. Vgl. zum Folgenden Kurt Scharr, Die Landschaft Bukowina. Das Werden einer Region an der Peripherie 1774–1918, Wien 2010. – Jusefina Weidhofer/Natalia DanlerBachynska/Valerie Meindl, Das Czernowitzer Kochbuch. Ukrainische, rumänische, jüdische, deutsche und polnische Köstlichkeiten aus der Bukowina, Graz 2010. Siehe Esther Kisban, Dishes as Samples and Symbols: National and Ethnic Markers in Hungary, in: Hans Jürgen Teuteberg (Hg.), Essen und kulturelle Identität, Berlin 1996, S. 204–211. – Zum Folgenden Rudolf Jaworski, Deutsche und Tschechen in der Karikatur 1891–1907, in: ders., Ostmitteleuropa im Fokus, Osnabrück 2009, S. 14–21. Vgl. Thede Kahl/Peter Mario Kreuter/Christina Vogel (Hg.), Culinaria balcanica, Berlin 2015. Vgl. dazu grundsätzlich Bernhard Tschofen, Kulinaristik und Regionalkultur, in: Antares 3 (Januar/Juni) 2010, S. 25–45. – Und speziell zu Triest Tatiana Silla, Triestiner Kulinarium, Wien 2007. Vgl. beispielsweise Christian Benedik, Das Küchenerbe der Donaumonarchie, in: Hannes Etzlsdorfer (Hg.), Küchenkunst und Tafelkultur, Wien 2006, S. 319–334.

Literatur-Konstellationen Stefan Simonek

Literarische Mehrsprachigkeit lässt sich in der tschechischen Literatur nicht nur in Jan Nerudas Kleinseitner Geschichten (1878), sondern auch noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts in den Liedern Vladimír Mertas wie etwa Mexiko Platz (1992) beobachten.

Literarische Konstellationen von Zwei- oder gar Dreisprachigkeit slawischer Autoren stellten im Kontext der Donaumonarchie keinen Ausnahmefall, sondern durchaus die Regel dar und manifestierten sich etwa in den Texten von Autoren wie dem slowenischen Romantiker France Prešeren oder dem Ukrainer Ivan Franko, die zum innersten Kanon ihrer jeweiligen Literatur zu zählen sind (die Strophe VII von Prešerens Zdravljica [Trinkspruch] firmiert heute etwa als slowenische Nationalhymne, und nach Franko wurde 1962 die westukrainische Stadt Stanislau umbenannt.)1 Das Arbeiten in mehreren sprachlichen Systemen ermöglichte es einerseits, die diskursiven Möglichkeiten, die eine Sprache im kulturellen Gefüge der Monarchie jeweils eröffnete, entsprechend nutzbar zu machen, daneben konnte damit aber natürlich auch ein jeweils unterschiedliches Publikum angesprochen werden. Dazu trat in zahlreichen Arbeiten der mehrsprachigen Autoren noch der als literarisches Verfahren eingesetzte Sprachwechsel innerhalb eines einzigen Textes, der von Georg Kremnitz als „intratextuelle Mehrsprachigkeit“ definiert wird2 (und der aufseiten der Rezipienten implizit auch die Kenntnis der auf diese Weise verwendeten Sprachen voraussetzte). Diese intratextuelle Mehrsprachigkeit bot gerade im verdichteten kulturellen System der Donaumonarchie mit der Vielzahl an Sprachen die Möglichkeit, über den Sprachwechsel soziale Distinktion sowie den Einschluss respektive

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Der Mexikoplatz mit der Franz-von-Assisi-Kirche (Mexikokirche) vom linken Donauufer aus gesehen. © Commons/Wikimedia, 2012

Literatur-Konstellationen

Ausschluss von Wissens- und Informationsressourcen zur Darstellung zu bringen. Ein augenfälliges Beispiel für diese Strategien von Ein- und Ausschluss via Sprachwechsel in einem mehrsprachigen urbanen Kontext bieten Jan Nerudas 1878 veröffentlichte Povídky malostranské [Kleinseitner Geschichten, dt. 1885]. Nerudas Erzählzyklus zählt neben Karel Hynek Máchas romantischem Poem Máj [Mai] und Božena Němcovás Roman Babička [Großmutter] zum kanonischen Kernbestand der tschechischen Literatur aus dem 19. Jahrhundert und reflektiert die deutsch-tschechische Zweisprachigkeit in Prag aus der Perspektive der unterhalb der Prager Burg gelegenen Kleinseite, eines Stadtviertels mit einem ausgeprägten lokalen Charakter.3 Hier zeigt bereits die erste Erzählung der Sammlung mit dem Titel Týden v tichém domě [Eine Woche in einem stillen Haus] deutlich die kommunikativen Strategien, die mit dem Wechsel vom Tschechischen ins Deutsche verbunden sind, wenn sich der Hausherr an einen seiner Mieter wendet: „,Měl byste se toho ujmout vy, pane doktore! Denn diese Leute kennen’s nicht!‘“4 [„Sie, Herr Doktor, sollten sich der Sache annehmen!“ Und leise sagte er deutsch zu ihm: „Denn diese Leute können’s nicht.“5] Neben dem Deutschen als Medium des gesprochenen Ausdrucks spielt der Autor im nächsten Abschnitt der Eingangserzählung über das Poesiealbum, das die Tochter der Hausherrin mit reichlich banalen deutschen Gedichtproben befüllt („Roszen verwelken Mirthe bricht/Aber wahrer Freundschaft nicht“6), literarische Mehrsprachigkeit über das Medium der Schrift in seinen Text ein und veranschaulicht so die hierarchischen Abstufungen zwischen den Sprachen in mehrfacher Weise. Diese Ausformung intratextueller Mehrsprachigkeit mag auf den ersten Blick als Phänomen erscheinen, das kausal an die spezifische kulturelle Konstellation der Donaumonarchie mit deren Vielzahl von einander gegenseitig überlagernden Kulturen gebunden ist. De facto freilich reicht diese Form literarisch arrangierter Plurilingualität in der tschechischen Kultur aber bis in die Gegenwart hinein, wo sie insbesondere in der Liedermacherszene, ganz analog zu Jan Neruda, dazu dient, auf sprachlicher Ebene das Interagieren von Kulturen zu veranschaulichen. Dabei thematisieren die tschechischen Liederma-

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cher dieses Interagieren etwa am Beispiel von Schlesien, also anhand einer Kontaktzone von tschechischer und polnischer Kultur (Jaromír Nohavica), daneben aber, in der Nachfolge von Neruda, auch weiterhin am Beispiel Prags, wie dies mehrfach in den Liedtexten von Vladimír Merta zu beobachten ist.7 Freilich hat diese Form tschechischdeutscher literarischer Mehrsprachigkeit nun nichts mehr mit den politischen Antagonismen der Donaumonarchie zu tun, an die Merta in seinem bekannten, historisch weit ausholenden Lied Praha magická [Magisches Prag] maximal in Form einer mythologisch erhöhten Erinnerung anknüpft – hier wird die Stadt Prag gleich zu Beginn in Vokativform als gebenedeite Mutter („Praho matko blahoslavená“) apostrophiert, die im Völkerkerker schläft und darauf wartet, was Wien gestattet und gibt („v žaláři národů spíš – čekáš, co ti Vídeň dovolí a dá“8). Die hier thematisierte Konfliktachse Prag–Wien, an der sich in den 1890er-Jahren sowohl die tschechische Moderne (Josef Svatopluk Machar, František Václav Krejčí, F. X. Šalda) als auch die Wiener Moderne (Hermann Bahr) abarbeitete,9 vermag in der Gegenwart freilich nicht mehr unmittelbar Mehrsprachigkeit zu motivieren und verbleibt von daher im von außen kommentierten Modus der Erinnerung. Stattdessen verschiebt sich der Schwerpunkt tschechisch-deutscher literarischer Mehrsprachigkeit in Mertas Liedtexten vorrangig auf Themenfelder wie ökonomische Abhängigkeit, Migration und Konsum, die sich weniger in national als in global strukturierte Kontexte einschreiben. Ein nachdrückliches Beispiel für diese neujustierte Form von literarischer Zweisprachigkeit bietet der Text zu Mertas Lied Mexiko Platz; es findet sich als über zehn Minuten dauernde Schlussnummer auf dem Album Cestou k … [Unterwegs zu …], das Merta 1992 in Kooperation mit dem slowakischen Musiker Marián Varga eingespielt hat.10 Der deutsche Titel Mexiko Platz kontrastiert hier signifikant mit dem tschechischen Liedtext und repräsentiert über die sprachliche Differenz eine spezifische Form literarischer Zweisprachigkeit, deren Semantik mit dem Prager Stadtraum insofern nicht korreliert, als es in Prag keinen Platz dieses Namens gibt. Über den deutschen Titel des Liedes aktualisiert Vladimír Merta (so mindestens die hier vorgeschlagene Interpretation) indirekt jene Achse zwischen Prag und Wien, die

Literatur-Konstellationen

im Magischen Prag an der Textoberfläche manifest ist. Der Titel Mexiko Platz würde von daher auf den an der Donau gelegenen Mexikoplatz in Wien verweisen, einen nicht zuletzt aufgrund der Lage zwischen Donau und Innenstadt auch stark von Migranten frequentierten Ort, der vom Kleinhandel geprägt ist und in Wien früher einen zweifelhaften Ruf als Verkaufsstätte gefälschter Markenprodukte und Zigaretten genoss. Die spezifische Semantik dieses Wiener Ortes wird von Merta in seinem Liedtext dann mit der Erwähnung der „Národní třída“ [Nationalstraße] in Prag konfrontiert, die ganz anders als der Mexikoplatz in Wien eine (bereits am Namen ersichtliche) semantisch extrem hohe Aufladung besitzt – dies nicht zuletzt deshalb, da hier mithilfe von Spenden das für das tschechische nationale Selbstbewusstsein zentrale Nationaltheater [Národní divadlo] errichtet und 1881 mit der Uraufführung von Bedřich Smetanas eigens für diesen Anlass komponierter Oper Libuše [Libussa] eröffnet wurde. Freilich unterminiert Merta die hochgespannte Semantik dieses Identität stiftenden Ortes, indem er sie mit einem Obdachlosen konfrontiert, der beim Denkmal auf der Nationalstraße ein letztes Asyl sucht („U pomníčku na Národní třídě / bezdomovec hledá poslední azyl“11). Eine analoge Montage heterogener und verschiedensprachiger Textelemente, die sich keiner übergeordneten Bedeutung mehr fügen, sondern eher in Konfrontation zueinander stehen, findet sich in einer weiteren Strophe von Mexiko Platz, bei der die beiden deutschsprachigen Textelemente die tschechischen wie eine Klammer an Beginn und Schluss der Strophe umfassen: „Volkswagen se snáží být jako embéčko dává nám na dobrou noc pusu a pac potají hledáme své teplé místečko ach – Kde domov můj? – na Mexiko Platz“12

„[Volkswagen möchte wie ein Škoda 1000 MB sein gibt uns ein Gutenachtbussi und einen Patsch heimlich suchen wir unsere warmen Plätzchen ach – Wo ist meine Heimat? – am Mexiko Platz.]“

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Die Strophe aus dem Lied Mexiko Platz generiert in ihren äußeren beiden Zeilen jeweils einen signifikanten semantischen Kontrast, wenn sich die deutsche Marke Volkswagen (wohl als Symbol für ökonomische Potenz) darum bemüht, wie der von 1964 bis 1969 produzierte Škoda 1000 MB, im Volksmund auch als ‚embéčko‘ bekannt, auszusehen.13 Ein noch markanterer, nun nicht mehr mit Symbolen der Alltagskultur,14 sondern mit jenen des tschechischen Staates operierender Gegensatz eröffnet sich in Übereinstimmung damit dann in der letzten Zeile der Strophe: Die Zusammenführung der tschechischen Frage „Kde domov můj?“ [Wo ist meine Heimat?] mit der deutschen Antwort „na Mexiko Platz“ korrespondiert mit dem Gegeneinander-Führen der semantischen Aufladung von Wiener Mexikoplatz15 und Prager Nationalstraße insofern, als die Frage nach dem Zuhause den Beginn der tschechischen Nationalhymne darstellt (ursprünglich war die Hymne die erste Strophe des gleichnamigen Liedes aus dem 1834 uraufgeführten Stück Fidlovačka aneb Žádný hněv a žádná rvačka [Das Schusterfest oder Nur kein Zorn und keine Rauferei] von Josef Kajetan Týl). Die Frage, die aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammt und im Liedtext von Týl im Zeichen einer bukolischen Idylle beantwortet wird, ruft 1992 im Liedtext Vladimír Mertas eine völlig andere Reaktion hervor, die im Zeichen von Migration und Globalisierung steht, indem sie mit der Präposition „na“ [am] zwar tschechisch beginnt, dann aber deutsch weitergeht und mit dem Mexikoplatz einen Ort in Wien aufruft, der weniger für stabile als vielmehr für brüchige Identitätsentwürfe steht; ergänzt wird diese Konstellation der Ort- und Orientierungslosigkeit noch durch die Suche nach warmen Winkeln oder Plätzen eine Zeile zuvor im Liedtext, die ihrerseits wiederum deutlich mit der Suche des Obdachlosen nach einer letzten Unterkunft („bezdomovec hledá poslední azyl“) drei Strophen zuvor korrespondiert. Die im Lied gleich zweifach thematisierte Suche verleiht auch der Semantik des Namens Mexikoplatz weitere Aspekte: Einmal öffnet sich analog zum Beginn des Liedes, wo von einem Kilo Bananen [„kilo banánů“16] die Rede ist, eine Dimension, die im Zeichen des Globalen über Europa hinausgeht; zusätzlich unterminiert der Name des Wiener Platzes die eindeutig negative Semantik des Deutschen gerade in

Literatur-Konstellationen

diesem Liedtext. Das Deutsche steht in Mexiko Platz über die Auto­ marken Volkswagen und BMW für ökonomische Macht und in der (von Merta bei der Interpretation seines eigenen Liedes nicht gesungenen, sondern gebrüllten) Zeile „Es kommt der Tag“17 für eine politische Drohung – der Platz im zweiten Bezirk in Wien dagegen erhielt seinen Namen 1956 deshalb, weil Mexiko 1938 als einziges Land vor dem Völkerbund gegen den ,Anschluss‘ Österreichs an das Deutsche Reich protestierte.18 Die deutsch-tschechische literarische Zweisprachigkeit treibt in Vladimír Mertas Lied Mexiko Platz also eine Reihe semantischer Überlagerungen hervor, die aufgrund des gedrängten Raums hier nur punktuell beleuchtet werden konnten. Versteht man die im Liedtext manifest werdende „Verschränkung von divergierendsten kulturellen Codes“ als Weiterführung jener Pluralität, die Moritz Csáky bereits für die Kulturen der Donaumonarchie postulierte,19 so erweist sich Csákys methodologischer Ansatz auch als auf kulturelle Artefakte applizierbar, die erst Jahrzehnte nach dem Untergang der Monarchie entstanden sind. Von daher vermag diese spezifische kultursemiotische Zugangsweise unverändert Aktualität zu beanspruchen. Anmerkungen 1 2

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Zum Phänomen der Mehrsprachigkeit slawischer Autoren der Donaumonarchie vgl. Günther Wytrzens, Sprachkontakte in der Dichtung. Zweisprachige Autoren im Alten Österreich, in: Die slawischen Sprachen 4 (1983), S. 143–151. Georg Kremnitz, Mehrsprachigkeit in der Literatur. Wie Autoren ihre Sprache wählen. Aus der Sicht der Soziologie der Kommunikation, Wien 2004, S. 13. Zur literarischen Darstellung dieses Viertels vgl. Helena Kanyar-Becker, Das literarische Bild der Prager Kleinseite in hundert Jahren, in: Carsten Goehrke/ Robin Kemball/Daniel Weiss (Hg.), „Primi sobran’e pestrych glav“. Slavistische und slavenkundliche Beiträge für Peter Brang zum 65. Geburtstag, Bern u. a. 1989, S. 91–101 (zu Nerudas Kleinseitner Geschichten S. 93–96). – Zur Darstellung deutschsprechender Figuren in der tschechischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. Václav Maidl, Obraz německy mluvících postav a německého prostředí v české literatuře 19. a 20. století, in: Jan Křen/Eva Broklová (Hg.), Obraz Němců, Rakouska a Německa v české společnosti 19. a 20. Století, Praha 1998, S. 281–302. Jan Neruda, Povídky malostranské, Praha 2004, S. 21.

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Jan Neruda, Kleinseitner Geschichten. Aus dem alten Prag. Mit einem Nachwort v. Ota Filip. Deutsch v. Josef Mühlberger, München ²1986, S. 17. Neruda 2004, S. 24. Vgl. dazu das Kapitel Interkulturalität in Texten tschechischer Liedermacher (Vladimír Merta – Jaromír Nohavica) in: Stefan Simonek, MC Dorota/Noize MC. TextBild-Ton-Relationen der slawischen Popkultur, Passau 2013, S. 51–91. Vladimír Merta, Mimo čas. Texty písní, Praha 2013, S. 368. Vgl. dazu Lucie Kostrbová, Mezi Prahou a Vídní. Česká a vídeňská literární moderna na konci 19. století, Praha 2011. Vgl. zu diesem Album die Liste der einzelnen Nummern auf Mertas offizieller Homepage: Vladimír Merta, www.vladimirmerta.cz/diskografie.php?id=32 (abgerufen am 15.1.2016). Merta 2013, S. 471. Ebd. Vgl. zu Baugeschichte und technischen Daten dieses Modells den tschechischen „Wikipedia“-Eintrag: Škoda 1000 MB, cs.wikipedia.org/wiki/Škoda_1000_MB (abgerufen am 15.1.2016). Zur mythologischen Aufladung eines Automobils vgl. den Abschnitt Der neue Citroën in Roland Barthes, Mythen des Alltags. Deutsch v. Helmut Scheffel, Frankfurt am Main 101985, S. 76–78. Vgl. zu Erinnerungen jüdischer Emigranten aus der Sowjetunion, die sich am Mexikoplatz mit einem Geschäft eine neue Existenz aufbauten: Alexia Weiss, Damals am Mexikoplatz, in: Das jüdische Echo 63 (2014), S. 54–57. Merta 2013, S. 470. Ebd., S. 471. Vgl. Mexikoplatz, de.wikipedia.org/wiki/Mexikoplatz (abgerufen am 15.1.2016). Moritz Csáky, Pluralität. Bemerkungen zum „dichten System“ der zentraleuropäischen Region, in: Neohelicon XXIII (1996) 1, S. 9–30, hier S. 12.

Mehrsprachigkeit Elena Mannová/Jozef Tancer

Im Kommunikationsraum Zentraleuropa enthielt Mehrsprachigkeit als Koexistenz mehrerer Sprachen ein großes Konfliktpotenzial, das in konkurrierenden ideologischen Diskursen eskalierte. Als alltägliche Praxis der Verständigung öffnete sie zugleich den Raum für Grenzüberwindung und Konfliktentschärfung. „Wer in Wien lebt und hier sein Brot verdient, […] muß sich der deutschen Sprache bedienen, seine Umgangssprache ist und bleibt daher deutsch, mag er auch zu Hause sprechen wie er will […].“1 Dieses Zitat aus der antitschechischen Kampagne des „Bundes der Deutschen in Niederösterreich“ im Jahre 1910 erfasst im Kern die unterschiedlichen Aspekte des Phänomens ‚Mehrsprachigkeit‘ in der Habsburgermonarchie. Es war einerseits als Folge der endogenen und exogenen Pluralität der Monarchie eine vom Alltag untrennbare individuelle und private Kommunikationsform,2 andererseits ein kollektiv umstrittenes und durch diverse Sprachideologien und Machtinteressen motiviertes Thema. Die ethnisch-sprachliche und konfessionelle Heterogenität der Donaumonarchie erstarkte durch zahlreiche Migrationen des 18. Jahrhunderts und verdichtete sich weiter mit der Industrialisierung und Urbanisierung des 19. Jahrhunderts. Damals lebten auf dem Gebiet des Habsburgerreiches mindestens 13 größere Sprachgruppen, die an einem gemeinsamen, durch vielfältige Sprachkontakte geprägten Kommunikationsraum Anteil hatten. Die Vielsprachigkeit in ihrer gesellschaftlichen sowie individuellen Form erhielt sich lange in den Städten und in einigen Regionen auch in den Dörfern, sie blieb ein prägendes Merkmal vieler Gebiete auch nach 1918.3 Schon der frühneuzeitliche

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Dreisprachige Anzeige der Firma Julius Meinl, Bratislava 1927. © Das Pressburger Schneiderhandwerk 1327–1927. Festschrift aus Anlass des 600-jährigen Jubiläums, hg. durch die Pressburger Schneidergenossenschaft, Bratislava 1927

Mehrsprachigkeit

absolutistische Staat sah in der einheitlichen Sprache ein geeignetes Instrument der Verständigung und der Homogenisierung von Untertanen im Geiste traditioneller ständischer Werte. Die Französische Revolution brachte eine funktionelle Neudefinition von Sprache: In ihrer Konzeption des Volkes als eines Organismus wurde aus der Sprache ein Mittel der Selbstidentifizierung der Bewohner/innen mit einer Nationalgemeinschaft.4 Einzelne Nationalbewegungen erhoben die Sprache zum primären Identitätsmerkmal von Individuen und Gruppen und politisierten sprachliche Unterschiede, was allerdings einer vereinheitlichenden Modernisierung der politischen Verwaltung im Wege stand.5 Latein als die bisherige transnationale Verständigungssprache der Gebildeten verlor seine Bedeutung. Die eng an dominante politische Diskurse des 19. Jahrhunderts gebundenen Sprachideologien verschärften häufig wirtschaftlich und sozial bedingte Konflikte innerhalb der Monarchie und etablierten eine negative Einstellung zur gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit. Obwohl nationalistische Führer selbst gewöhnlich mehrsprachig waren, bezeichneten sie die Mehrsprachigkeit in der Öffentlichkeit als Charakterlosigkeit und Renegatentum. Der öffentliche Sprachgebrauch wurde gesetzlich geregelt. Im national orientierten Ungarn kann die Sprachenpolitik schon im Vormärz und dann endgültig nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich mühelos in die europäische Leitentwicklung eines sprachnationalen nation building eingeordnet werden.6 Im Nationalitätengesetz von 1868 wurde die ungarische Sprache „vermöge der politischen Einheit der Nation“ zur Staatssprache Ungarns erklärt, was folglich die Beschränkung des Rechts der nicht-magyarischen Ethnien auf Benutzung ihrer eigenen Sprache im Schulwesen und in der Gemeindeverwaltung ermöglichte. Im Nationalitätenartikel der österreichischen Dezemberverfassung von 1867 wurde dagegen keiner Sprache Vorrang gegeben. Bei den Volkszählungen fragte man in Cisleithanien nach der Umgangssprache (nur eine aus dem Katalog der ‚landesüblichen‘ Sprachen), hingegen in Ungarn nach der Muttersprache (ein stark emotional aufgeladener Begriff – „die liebste Sprache, die sie sprechen“). Die Volkszählungen sowie die Nationalitäten-Kartografien waren blind

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für regionalen Bilingualismus und gestalteten die Sprachgrenzen mit.7 Zum einen dokumentieren sie als Quellen die Veränderungen im sprachlichen Verhalten eines Großteils der Bevölkerung,8 zum anderen trugen sie selbst zu der allmählichen Demontierung der Mehrsprachigkeit bei, die in der Gesellschaft auf institutioneller Ebene im 19. Jahrhundert eingesetzt hat. Die reale Sprachverwendung wich häufig stark von den politischen Regelungen ab und wies einen multilingualen Charakter auf. Sogar im Rahmen eines Aktenstückes benutzten Beamte kontextabhängig mehrere Sprachen – nach eigenen sprachlichen Kompetenzen, nach dem institutionellen Status des Adressaten u. ä. Die geregelten Regimentssprachen der k. u. k. Armee begrenzten sich in der Praxis oft auf ein paar militärische Fachbegriffe. In der Vereinsszene spezialisierten sich nur einige Assoziationstypen auf Pflege und Verbreitung ihrer Nationalsprache (z. B. Schutzvereine), für die Mehrheit war die Sprachenfrage nicht relevant. In den ethnisch gemischten Städten Oberungarns kommunizierten Mitglieder bürgerlicher sowie Arbeitervereine oft deutsch-magyarisch, in ihren Satzungen und Jahresberichten, auf Stempeln und Vereinsfahnen sowie in Kulturprogrammen wechselten beide Sprachen in unterschiedlichen Kombinationen.9 Prozesse sprachlich-nationaler Aneignung verliefen in Orten, die komplexe ethnische und sprachliche Konfigurationen aufwiesen, wobei viele Bewohner in Mischehen lebten. In einigen Regionen wurden Kinder ‚zum Tausch‘ zu anderssprachigen Familien geschickt.10 Auf der Ebene realer sozialer Netzwerke konnte man keine essenzialistischen Sprachgemeinschaften finden, wie es sich die Nationalisten vorstellten, sondern eher Sprechergruppen, die intendierte und situativ konstituierte Kommunikationsgemeinschaften bildeten.11 Im Widerspruch zu den homogenisierenden Ideologien bildeten sich in der Habsburgermonarchie dank der Erfahrung mit der alltäglichen Kommunikation urbane Mythen aus, für die das Element der Mehrsprachigkeit konstituierend war. Dies sei kurz am Beispiel des so genannten ‚Alt-Pressburg-Mythos‘ erläutert. Wie die topografische Literatur belegt, gehörte die Mehrsprachigkeit bereits im 18. Jahrhundert zu denjenigen Merkmalen Pressburgs, auf denen das Image dieser

Mehrsprachigkeit

Stadt beruhte. Neben Latein als der offiziellen Amtssprache in Ungarn bis 1844 wurde die öffentliche sowie die private Kommunikation unter den Stadtbewohnern von Deutsch, Ungarisch und Slowakisch am stärksten geprägt, woraus im 20. Jahrhundert die Dreisprachigkeit der Pressburger Bevölkerung als Erinnerungsort konstruiert wurde.12 Die genannten Sprachen waren dabei keineswegs gleichberechtigt, sondern wiesen einen unterschiedlichen symbolischen Status auf und waren mit unterschiedlichen sprachlichen Domänen verbunden.13 Slowakisch besaß als Sprache der in den Vorstädten lebenden Bauern ein niedriges Prestige. Deutsch genoss den Ruf der Handelssprache und galt zugleich in seiner dialektalen Varietät als die traditionelle Sprache der bodenständigen Pressburger, der so genannten Kraxlhuber. Ungarisch erlangte die Position der Amtssprache, der Sprache der Bildung und bot die Chance zum sozialen Aufstieg. Die sprachliche Hierarchie war bei allen Sprachen auch durch Diglossie geprägt, den Gebrauch der Standardsprache und ihres Dialekts in unterschiedlichen Bereichen. Als Sprache mit dem niedrigsten Prestige galt in Pressburg, ähnlich wie in vielen anderen Städten, im 19. und 20. Jahrhundert Jiddisch. Obwohl die Tschechoslowakische Republik als Nachfolgestaat der Habsburgermonarchie auf einem nationalen Prinzip konstituiert wurde, schuf sie dank ihrer Minderheitenrechte einen institutionellen Rahmen für die Entfaltung und Pflege der Mehrsprachigkeit. Die noch vor 1918 aufgewachsenen Generationen von Pressburgern waren dadurch nicht dem Zwang ausgesetzt, die neue Staatssprache zu erlernen. Es sei denn, sie übten einen Beruf aus, der eine Umstellung auf Slowakisch bzw. Tschechisch erforderte. Die nach 1918 eingeschulten Kinder kamen jedoch automatisch zumindest im Schulunterricht mit Slowakisch in Kontakt. Auch der massive Zuzug der neuen Bevölkerung aus verschiedenen Regionen der Slowakei stärkte die Präsenz des Slowakischen in Bratislava. „Es gab kein acht- oder siebenjähriges Kind, das nicht drei Sprachen gesprochen hätte“, erinnert sich Frau J., eine Pressburgerin (Jg. 1924). Der dreisprachige Pressburger ist eine Konstruktion, die unter dem Einfluss der bereits demontierten Mehrsprachigkeit nach 1945 entstanden ist. Die Dreisprachigkeit vieler Mitglieder der Zwischenkriegsgeneration wurde nämlich sukzessiv

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und nicht simultan in der Kindheit erworben, in der viele Pressburger einsprachig waren. Bei simultan zweisprachig aufwachsenden Personen war der Bilingualismus dabei oft asymmetrisch. Hierzu sei noch hinzugefügt, dass in Familien mit einer markanten deutschen oder magyarischen ethnischen Selbstidentifizierung das Lernen der Staatssprache auch negativ als unerwünschter Assimilierungszwang wahrgenommen wurde.14 Das Bekenntnis zur Mehrsprachigkeit wird im Alt-Pressburg-Mythos häufig von der Deklarierung einer nicht-nationalen, ausschließlich lokal fundierten Identität begleitet, die ähnlich wie die Mehrsprachigkeit als das habsburgische Erbe gedeutet wird: „Die Menschen in Bratislava waren es infolge der toleranten Epoche [der k. u. k.-Monarchie] gewohnt, der Deutsche spricht Deutsch, ist aber kein Deutscher, ist ein Pressburger, der Ungar sprach Ungarisch, er war jedoch kein Ungar; wir waren alle Pressburger“, beteuert die bereits zitierte Frau J. Das Auseinanderklaffen von sprachlicher und ethnisch-nationaler Selbstidentifizierung weist viele Variationen auf, in denen lokale, staatliche, sprachliche, nationale und konfessionelle Bindungen miteinander kombiniert werden konnten, um sich nicht zuletzt den festen Identitätszuschreibungen subversiv zu entziehen. Das heute sprachlich eindeutig slowakische Bratislava pflegt die Erinnerung an seine mehrsprachige Vergangenheit als Ursprung seiner gegenwärtigen kulturellen Vielfalt und Ausweis seines ‚traditionell-zentraleuropäischen‘ Charakters. Die Mehrsprachigkeit wirkt auch als beliebtes Imageelement im Tourismus und dem Handel mit der geschichtlichen Nostalgie. Anmerkungen

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Zit. nach Emil Brix, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation, Wien/Köln/Weimar 1982, S. 136. Vgl. Moritz Csáky, Introduction, in: Moritz Csáky/Elena Mannová (ed.), Collective Identities in Central Europe in Modern Times, Bratislava 1999, S. 11–16. Die außerordentliche sprachliche Pluralität der nordöstlichen Region des Ungarischen Königreichs analysierte zum Beispiel Peter Šoltés, Tri jazyky, štyri konfesie. Etnická a konfesionálna pluralita na Zemplíne, Spiši a Šariši, Bratislava 2009.

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Mehrsprachigkeit

Vgl. Miroslav Hroch, Národy nejsou dílem náhody, Praha 2009, S. 84–86. Vgl. Peter Stachel, Ein Staat, der an einem Sprachfehler zugrunde ging. Die „Vielsprachigkeit“ des Habsburgerreiches und ihre Auswirkungen, in: Johannes Feichtinger/Peter Stachel (Hg.), Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck u. a. 2001, S. 11–45, hier S. 11. Vgl. Peter Haslinger, Die Habsburgermonarchie – vom vielsprachigen Staatswesen zum dissonanten Erinnerungsort? Wiener Vorlesung, gehalten am 7.11.2013 im Alten Rathaus. Vgl. Pieter M. Judson, Do Multiple Languages Mean a Multicultural Society? Na­ tionalist “Frontiers” in Rural Austria, 1880–1918, in: Johannes Feichtinger/Gary B. Cohen (ed.), Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience (Austrian and Habsburg Studies 17), New York/Oxford 2014, S. 61–82, hier S. 68. Vgl. Bálint Varga, Multilingualism in urban Hungary 1880–1910, in: Nationalities Papers 42 (2014) 6, S. 965–980. Vgl. Elena Mannová, Identitätsbildung der Deutschen in Preßburg/Bratislava im 19. Jahrhundert, in: Halbasien. Zeitschrift für deutsche Literatur und Kultur Südosteuropas 5 (1995) 2, S. 60–76. Michaela Wolf, Die vielsprachige Seele Kakaniens. Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 98–102. Joachim Stark, Sprache als ethnische Grenze, in: Edgar Hösch/Gerhard Seewann (Hg.), Aspekte ethnischer Identität, München 1991, S. 41–44. Vgl. Jozef Tancer, Neviditeľné mesto. Prešporok/Bratislava v cestopisnej literatúre, Bratislava 2013. Vgl. Alexander F. Heksch, Illustrirter Führer durch Pressburg und seine Umgebungen, das Waagthal und die Kleinen Karpathen, Wien/Pressburg 1885, S. 9. Jozef Tancer, „Wir waren alle mehrsprachig.“ Pressburger Sprachbiographien der Zwischenkriegszeit, in: András F. Balogh/Christoph Leitgeb (Hg.), Mehrsprachigkeit in Zentraleuropa. Zur Geschichte einer literarischen und kulturellen Chance, Wien 2012, S. 271–282.

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Der Wahrnehmung von Migration als zentrales Merkmal von Modernisierungsprozessen ist untrennbar mit neuen Formen der Wissenserzeugung verbunden, inbesondere die Statistik bestimmt Vorstellungen, Diskurse und Praktiken im Umgang mit Migrationsprozessen. Es entspricht einem häufig praktizierten Zugang, sich der zentraleuropäischen ‚Moderne’, also dem Zeitraum von etwa 1870 bis 1920, vom Gesichtspunkt der Migrationsphänomene her anzunähern. Nicht zuletzt wird eine wachsende räumliche Mobilität von Menschen als charakteristisch für diese Zeitspanne erachtet und als Initialzündung für einen ganzen Komplex an sozialen und kulturellen Verschiebungen interpretiert, die als symptomatisch für eine Epoche ausgedeutet werden, im positiven wie auch im negativen Sinn.1 Dieser Beitrag wählt einen indirekteren Zugang zu Migration,2 indem er die Frage nach den Bedingungen der Wissenserzeugung über Wanderungsbewegungen im Zentraleuropa des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts stellt. Die Perspektive orientiert sich dabei an den Sehweisen der Verwaltung, die den Gutteil jener Quellenkorpora erzeugte und strukturierte, die bis in die Gegenwart soziologische sowie wirtschafts- und sozialhistorische Forschungsansätze mit Daten versorgen.3 Das betrifft insbesondere die Herstellung statistischen Wissens über Wanderungsbewegungen sowie diverse diskursive Formationen, die sich in diesem Kontext ausgebildet haben.4 Dieses Wissen kann insofern als besonders relevant erachtet werden, als dass es die Ausdeutung von und das Sprechen über Migrationen im 20. und frühen 21. Jahrhundert dominiert. Es soll in der Folge ein analytischer Pfad eingeschlagen werden, der sich in ein breiteres wissensgeschicht-

Anzeigezettel zur Volkszählung von 1869, Ortsgemeinde Obermeidling, Bezirk Sechshaus, Niederösterreich. © Wiener Stadt- und Landesarchiv

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liches Forschungsfeld einschreibt.5 Als Gegenstand der Untersuchung dienen die fünf Volkszählungen, die zwischen 1869 und 1910 im Habsburgerreich abgehalten wurden. Welche Informationen über Migrationen und Wanderungsbewegungen können die umfassenden Wissensformationen, die im Rahmen der Volkszählungen angelegt wurden, anbieten? Wie wurde mit der Mobilität von Staatsbürger/inne/n in diesen umgegangen? Die Volkszählungen sind für die dominierenden Forschungsansätze zu einer Migrationsgeschichte der ‚Moderne‘ eine zentrale Quellenressource.6 Aus dem Entstehungskontext der zwischen 1869 und 1910 abgehaltenen Zählungen heraus muss jedoch konstatiert werden, dass die Mobilität von Staatsbürger/inne/n für die zeitnahe Auswertung dieser Daten zunächst nur eine marginale Rolle spielte. Von größerer Bedeutung war der Umstand, dass die bloße Anwesenheit von Migrant/inn/en massive verfahrenstechnische Schwierigkeiten aufwarf. Darauf weist die Kritik der habsburgischen Statistiker an der Volkszählung 1857 hin: „Das weitaus wichtigste Gebrechen aber, welches den Ergebnissen der äusserst mühevollen, mit ungeheurem Kostenaufwande verbunden gewesenen Zählung vom 31. October 1857 einen grossen Theil ihres Werthes nimmt, besteht darin, dass alle Zusammenstellungen, welche dem Gebiete der Volksbeschreibungen angehören, sich bloss auf die ortszuständige (einheimische), nicht auf die effective Bevölkerung beziehen.“7 Die Volkszählung des Jahres 1857 scheiterte also an dem Umstand, dass sie die „ortszuständige (einheimische)“ anstelle der „effectiven“ Bevölkerung zur Grundlage der Zählungsvornahme machte: Damit wurden jene Personen, die in der Gemeinde des Aufenthaltes „zuständig“ waren, zur Norm des gezählten Untertanen bzw. der gezählten Untertanin erklärt. Ein erheblicher Teil der zu zählenden Personen erfüllte diese Voraussetzung, nämlich den Besitz des Heimatrechts in der Aufenthaltsgemeinde, aber nicht.8 Zwischen der ,effektiven‘ Wirklichkeit und der Ordnung der Administration wurde durch die Volkszählung eine Abweichung evident, die quer zu der gesamten Architektur des Zensus lag: Der Umstand, dass Staatsbürger/innen mobil waren, widersprach den Annahmen und Vorstellungen der Verantwortlichen.

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Ausgehend von der Logik des Kameralismus und der Polizeiwissenschaft wurde das humane Kapital eines sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts neu definierenden Staates immobil und ortsfest imaginiert.9 Das zeigte sich an einem weiteren Aspekt sehr deutlich: Der Abhaltung der Volkszählung gingen 1857 umfassende und weitreichende Vorbereitungen voraus. Zehn der 46 Paragrafen des Gesetzes vom 23. März 1857 befassten sich ausschließlich mit der Anbringung von Ortstafeln und dem Nummerieren von Häusern.10 Gemeinden wurden damit auch nach außen gut sichtbar zu containerräumlich gedachten Einheiten, deren wichtigster Inhalt, nämlich Häuser, durchgezählt und nummeriert wurde.11 Jeder Quadratklafter staatlichen Raumes war einer Gemeinde zugeordnet, zusammengenommen ergaben die Gemeinden eine endliche Liste von ,Behältern‘, die staatliche Ressourcen enthielten.12 Der weitere Kontext dieser Maßnahmen ist in der fortgesetzten Kartierung des staatlichen Raumes zu suchen, in jenen Landesaufnahmen und Katastrierungsprojekten, die seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts durchgehend den staatlichen Raum vermaßen und fortwährend neue Repräsentationen seiner Oberfläche hervorbrachten.13 Für die Verwaltung insgesamt bedeutete das konkret, dass der Staat vor einer Hintergrundfolie operierte, die prinzipiell davon ausging, dass sich Menschen ortsfest verhielten und Mobilität tendenziell eine Ausnahme von dominanten Verhaltensmustern darstellte. In anderen Worten: Die zur Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommenden Vorstellungen, wonach das Verhalten von Populationen bis zu einem gewissen Grad mathematisch beschreibbaren Gesetzmäßigkeiten folgte, die zu ergründen wären – eine entsprechende Beobachtungsfähigkeit und Datenbasis vorausgesetzt –, verkannten die Dimension der Mobilität von europäischen Bevölkerungen grundlegend. Die Persistenz dieser Denkfigur wird nach wie vor an Forschungspositionen der Historischen Demografie evident, die sich an vier zentralen Kenngrößen orientiert: Fertilität, Mortalität, Nuptialität und eben Migration, wobei Letzterer in der Praxis häufig die Aufgabe zukommt, unerklärte Abweichungen aus der Aufsummierung der beiden erstgenannten Größen zu verantworten.14

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Wenngleich die Volkszählung des Jahres 1869 auf einer neuen Erhebungsgrundlage erfolgte, derzufolge nicht die rechtlich ortszuständige, sondern die ortsanwesende Bevölkerung zu zählen war, zeigte sich in der Konsequenz ein interessantes Phänomen: ‚Wanderungsbewegungen‘ kam im statistischen Fachdiskurs sowohl der Administration als auch der sich institutionalisierenden Fachwissenschaft zunächst nur wenig Aufmerksamkeit zu. In der Zählungsvornahme lässt sich hingegen das Gegenteil belegen: Nicht weniger als fünf der zwölf im Rahmen der Volkszählung 1869 aufzunehmenden Gesichtspunkte zielten darauf ab, die Staatsbürgerin oder den Staatsbürger als Migrantin bzw. Migranten zu markieren und zu administrieren: Es handelte sich dabei um die Spalten „Geburtsort“, „Zuständigkeit“, „Anwesend“, „Abwesend“ und „Anmerkung“. In Summe nahmen diese fünf Fragen fast die Hälfte eines Zählungsbogens ein. Diese Tendenz schwächte sich bis in das frühe 20. Jahrhundert keineswegs ab: Die Dokumentation und Administration von Mobilität und Migrant/inn/ en band erhebliche Ressourcen der Verwaltung.15 Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert lässt sich im Sprechen der statistischen Zentralstellen eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema ‚Wanderung‘ ausmachen, die insbesondere den Komplex der Auswanderung betrifft. Dass Migrationsphänomene in verwaltungsstatistischen Diskursen des Habsburgerreiches im späten 19. Jahrhundert nur eine geringe Rolle spielten, bedeutet jedoch keinesfalls, dass Migration als Thema keine Bedeutung hatte. Viele Hinweise deuten darauf hin, dass das Thema vielmehr auf anderen als den zentralstaatlichen Ebenen ausverhandelt wurde. Die statistischen Zentralstellen standen in den 1880er-Jahren vor dem Problem, dass sich die so genannte Ressortstatistik nicht mehr zentral in den Griff bekommen ließ.16 Die unterschiedlichen Ministerien, aber auch die unterschiedlichen Kronländer betrieben unter der zentralstatistischen Ebene, auf der die zentralen Wissensformationen der Verwaltung (darunter die Volkszählungen) hergestellt wurden, jeweils eigene statistische Apparate, die ein spezifisches und zum Teil wenig standardisiertes Verwaltungswissen erzeugten. Die Herstellung statis-

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tischer Daten reichte so zum Teil bis auf eine lokale Ebene hinunter, auf der Migrationsphänomene eine große Relevanz hatten. Das zeigt sich etwa bei einem Blick in jene Archivbestände, die durch Gendarmerie und Polizeikräfte auf lokaler Ebene angelegt wurden. Diese verdeutlichen, dass die bereits oben angesprochene Durchsetzung einer containerräumlichen Raumvorstellung zumindest im Tätigkeitsbereich der Sicherheitsbehörden dahingehend Konsequenzen zeitigte, als Sicherheitsprobleme einerseits stark mit Migrationsverhalten analytisch gerahmt wurden, und andererseits Mobilität zugleich problematisiert wurde.17 Die skizzierte Problematisierung von Migrationsphänomenen erfolgte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im zentraleuropäischen Kontext vornehmlich vor dem Hintergrund einer normativen Auffassung von raumgebundener Staatlichkeit. Das Dispositiv der Karte ebenso wie eine hegemoniale Vorstellung von als Container gedachten staatlichen Räumen katalysierte die Entwicklung von Verwaltungstechnologien, die die Fiktion einer räumlich stabilen und immobilen Bevölkerung weiter fortschrieb. Migrant/inn/en wurden (und werden bis in die Gegenwart) als ‚Anderes‘ zur staatsbürgerlichen Norm behandelt. Beobachten lässt sich das in Österreich nach wie vor gut an der Unterscheidung, die zwischen ‚autochthonen‘ und ‚allochthonen‘ Angehörigen derselben anerkannten Minderheit gemacht wird. Anmerkungen

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Vgl. Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 9. – Zu einer sozialhistorischen Einschätzung vgl. Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1800–2000, München 2004, S. 19. Für einen Überblick vgl. Lynn Hunt, Writing History in the Global Era, New York/ London 2014, S. 15ff., S. 53. Vgl. Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014. Zu Migrationen im Habsburgerreich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. Peter Becker, Governance of Migration in the Habsburg Monarchy and the Republic of Austria, in: Peri Arnold (ed.), National Approaches to the Administration of

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international Migration, Amsterdam/Washington, DC 2010, S. 32–52. – Sylvia Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2008. – Annemarie Steidl/Josef Ehmer/ Stan Nadel/Hermann Zeitlhofer (ed.), European Mobility. Internal, International, and Transatlantic Moves in 19th and Early 20th Centuries, Göttingen 2009. – Leslie P. Moch, Moving Europeans. Migration in Western Europe since 1650, Bloomington 2003. Vgl. Jakob Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der „Wissensgesellschaft“, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 639–660. Zum jüngeren wissensgeschichtlichen Fachdiskurs vgl. Daniel Speich Chassé/David Gugerli, Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung, in: Traverse 1 (2012), S. 85–100. – Weiters Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), S. 159–172. Vgl. Heimold Helczmanovszki (Hg.), Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs. Nebst einem Überblick über die Entwicklung der Bevölkerungs- und Sozialstatistik, München 1973. – Heinz Fassmann, Migration in Österreich: 1850–1900. Migrationsströme innerhalb der Monarchie und die Struktur der Zuwanderung nach Wien, in: Demographische Informationen (1986), S. 22–36. – Annemarie Steidl/Engelbert Stockhammer/Hermann Zeitlhofer, Relations among Internal, Continental, and Transatlantic Migration in Late Imperial Austria, in: Social Science History 31 (2007), S. 61–92. Adolf Ficker, Vorträge über die Vornahme der Volkszählung in Österreich, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 17 (1870) 2, S. 1–141, hier S. 28. Adolf Ficker war zwischen 1853 und 1880 in verschiedenen Funktionen, zunächst in der Direction der administrativen Statistik, später auch in der k. k. statistischen Central-Commission tätig, zumeist in Führungspositionen. Seine Arbeit prägte über gut zwei Jahrzehnte hinweg nicht nur die Praktiken der Statistik, wie sie in den staatlichen Zentralstellen betrieben wurde, sondern auch, wie Statistik aufgefasst, ausverhandelt und besprochen wurde. Zum Heimatrecht vgl. zuletzt Hannelore Burger, Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, Wien/Graz/Köln 2014. – Gary B. Cohen, Our Laws, Our Taxes, and Our Administration. Citizenship in Imperial Austria, in: Omer Barṭov/Eric D. Weitz (ed.), Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian, and Ottoman Borderlands, Bloomington 2013, S. 103–121. Vgl. Anton Tantner, Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen – Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie, Wien 2004. Volkszählungsgesetz vom 23. März 1857, § 6–15. Mit dem Begriff des Containerraums wird hier im Sinne der Verwendung durch Martina Löw operiert, vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 24ff. Zur Beobachtung einer Territorialisierung: Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: The American Historical Review 105 (2000), S. 807–831. Vgl. für das Habsburgerreich

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Wolfgang Göderle, Zensus und Ethnizität: Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016, S. 63ff. Vgl. dazu grundlegend David Gugerli/Daniel Speich, Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002. – James C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998. Vgl. Ehmer 2004. Es gibt eine umfassende Literatur zur Frage der Kontrolle von Mobilität im Untersuchungszeitraum. Vgl. exemplarisch Hannelore Burger, Passwesen und Staatsbürgerschaft, in: Waltraud Heindl/Edith Saurer/Hannelore Burger/Harald Wendelin (Hg.), Grenze und Staat. Passwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867, Wien 2000, S. 3–172, hier S. 3ff. Alois Gehart, Von der Direction der administrativen Statistik 1840 zum Österreichischen Statistischen Zentralamt 1990, Wien 1990, S. 12–13. Zum Anwachsen der Wissensproduktion in Polizei- und Lokalverwaltung durch die Implementierung einer neuen administrativen Infrastruktur in den 1850-ern vgl. John Deak, Forging a Multi-National State. State Making in Imperial Austria from Enlightenment to the First World War, Stanford 2015, S. 130.

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Given the classic linkage by historians, journalists, poets and politicians of fatal ethnic nationalism to Central Europe, indifference offers us a critical strategy to de-pathologize Central Europe and to return it to a comparative European context. In his famous 1882 lecture and subsequent essay Qu’est-ce qu’une nation? French theorist Ernest Renan argued that the existence of a nation constituted “a daily plebiscite” in the same way that an individual’s existence constituted “a perpetual affirmation of life.”1 According to nineteenth-century nationalists across Europe, being national, being a member of a nation, did indeed require making a daily choice to place the nation ahead of all other possible concerns. One critical characteristic of nationalist thinking in Europe was an insatiable demand that people reaffirm their commitment to the nation in even the smallest of their daily life practices. This demand frequently assumed obsessional dimensions in nationalist discourses, organizations, and publications. It produced one of the most characteristic qualities of nationalist thinking in the nineteenth and first half of the twentieth centuries: the haunting anxiety that members of the nation might easily, in fact carelessly, abandon the nation in its struggles against rival nations. This fear was acute in mixed-language communities where nationalists believed that they had to compete against other nations for the loyalties of the same people. But it could also be applied to the monolingual hinterlands, where the lack of a perceived national opponent meant that people gave too little thought to the national community.

Nationalism and Indifference

Atlas des Habsburger-Reiches. Reprint von Geographischer Atlas zur Vaterlandskunde an den österreichischen Mittelschulen. Bearbeitet von Prof. Dr. Rudolf Rothaug. K.u.k. Hof-Kartographische Anstalt G. Freytag & Berndt, Wien 1911, o.S.

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A great paradox in nationalist thinking in Habsburg Central Europe is the idea that the nationalist’s task is to awaken those people who are part of the nation to a consciousness of themselves as a nation, while at the same time preventing their defection to a rival nation. One might well ask, if people are authentically part of one nation, then why fear their defection to another nation? This conundrum tortured the minds of many of the most committed nationalists, causing them repeatedly to raise the stakes by demanding ever-greater commitment from people to the nation.2 In one typical example, the Czech National Council (Národní rada česká) in 1906 wrote to parents whose children it believed were attending German-language schools, threatening that “If you want to be called a Czech, send your child to a Czech school! And if you don’t, we will consider you a German and there will be no place for you in Czech society!”3 But such tactics were never enough. In imperial Austria after 1867 where citizens could make choices about such things, activists defined national commitment in more ways than simply speaking the national language at home or sending children to the local school in the correct language.4 Now one had to attend religious services presided over by priests who spoke the national language, one had to shop at stores owned by members of one’s nation, one had to employ co-nationals in business and at home, one had to vacation in resorts that supported one’s co-nationals. One had to engage in the most intimate personal relations only with co-nationals, and avoid the dangers of what nationalists called the ‘Mischehe’.5 While historians have assumed for a long time that populations in Habsburg Central Europe had become nationalized by 1900 or by 1914, lingering doubts remained among nationalists themselves about the effectiveness of their efforts. For nationalists no triumph could ever be enough. Indeed, as Edin Hajdarpasic recently argues in Whose Bosnia, nation building is a process that can never be completed.6 The anxieties and doubts expressed by nationalists can help us to understand the many complex ways in which local society actually understood or engaged with concepts of nationhood. The anxieties remind us about the ways in which some people refused the idea of nationhood.7 The many forms of engagement or non-engagement with nationhood produced a concept

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of ‘indifference to nation’ among the contemporary nationalists who worried that non-nationalist forms of behavior stubbornly survived in local society, and could not easily be reformed. The term ‘national indifference’ refers essentially to two phenomena. In the first place it was used by nationalist activists starting in the 1880s to describe the behaviors, attitudes, choices of people who appeared to live their daily lives ignorant of nationalist concerns. In the second place, it became a term that historians and sociologists borrowed to analyze forms of behavior that appeared to reject or ignore nationalism altogether. In the first case, nationalists stigmatized peoples’ non-nationalist choices and behaviors by openly referring to them as ‘nationally indifferent’. They used specific terms like ‘hermaphrodite’ or ‘amphibian’ to denounce people who appeared to exist between nations or within multiple nations. Those who spoke more than one language in public life, who sought multi-lingual education for their children— perhaps for reasons of social mobility—or who engaged in ‘Mischehen’ were described as nationally indifferent because they acted as if they could belong to more than one nation. In the early years, nationalists explained this indifference by linking it to archaic traditions and contrasting it to modernity. Modern, educated, usually urban people belonged to nations. Backward, ignorant, often rural people did not yet understand that they belonged to a nation. These assertions, by the way, contradicted a favorite nationalist trope, that of the sturdy peasant nationalist on the rural frontier who guarded the interests of the nation. Soon, however, nationalists worried that even many educated, modern people also showed signs of indifference, and they pointed to a range of potential dangers, from alcoholism to criminality, that might befall children educated in the wrong language. Immediately following the Second World War, nation-state ideologists relied on psychological theories very loosely based on Freudian personality development to argue that nationally indifferent people were isolated and marginalized individuals who for psychological reasons refused to act according to nationalist interest. Especially in the post-war moment of the expulsions, such behavior seemed particularly dangerous, and nationalist psychologists related national indifference to other

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signs of deviance such as criminality and the inability to start a family.8 These efforts to understand indifference by resorting to psychological explanations carefully hide the fact that nationalism is fundamentally about politics and political practice, and not about cultural authenticity. If many people in Austria-Hungary expressed nationalist views, it was often because the only available avenues to engage in politics were through organizations and parties dominated by nationalist concerns. So we should be careful not to confuse too easily the predominance of the nation in public political rhetoric with the emotional commitments of individual people. As a laboratory, the political institutions of Habsburg Central Europe also helped to create and popularize quite specific forms of nationalism, by creating institutional spaces inside which an effective politics could be organized around the idea of linguistic difference. Over time those same political institutions found it necessary to adapt to the very political movements—and their presumptions—that they had unintentionally helped to create. This is in part the meaning of the various national compromises (Moravia, Bukovina, Galicia) that were negotiated in Cisleithania in the decade before the First World War. We have come to see those compromises as impositions by nationalists that facilitated a nationalist victory over society. The compromises, after all, helped to create the nations to which they were meant to respond in the first place. Even as Habsburg political institutions became increasingly responsive to the identity-politics claims nationalists made after the 1890s, they tried to do so in a way that did not ascribe identities to individuals. Contrary to nationalist wishes, an element of choice remained, although as historians have argued persuasively, the trend after 1910 was moving slowly in the direction of ascription.9 When, however, the institutions of empire were removed in 1918, that is, when the ‘imperial umpire’ vanished, the ideas about nationhood in Habsburg society became entirely unmoored from the imperial institutions that had shaped them and also restrained them. After 1918 ethnic nationhood became inscribed in state laws, in administrative practices, and in the very definitions of citizenship. Thanks to the leg-

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islative power of nationalists, there were now fewer official spaces where indifference could flourish. But this does not mean that populations became fully nationalized, nor that individual actors stopped using strategies of indifference when it appeared to further their own interests or desires. Or when it seemed comfortable and familiar. Much of what novelists and essayists in the decades following 1918 tried to express about Habsburg Central Europe is linked to this set of ideas and to these changes. Joseph Roth, Robert Musil, Miklós Bánffy, Ivo AndriĆ (to name a few) did not express a profound nostalgia for a lost world, although sometimes some of their prose appears to do so.10 Rather, their work betrays the empty promises of victorious nationalism in the decades after 1918, undercutting the hollow and bombastic claims of nationalism. So far I have treated the concept of indifference in the way that the nationalists treated it: as an element of identity. This is not how historians have developed the concept as an analytic tool.11 For historians in the past decade, national indifference includes a broad range of attitudes and behaviors that do not define individual identity. Instead, these behaviors and attitudes characterize an individual’s perception in given situations. This is where the concept of national indifference gains its analytic power. The point is not to ask “who is a nationalist?” and “who is indifferent?” but rather to ask “in what situation does a person see the world through the lens of nation, and in what situations does that lens of nation lose its relevance?” Nationalism—as well as indifference—become situational elements of cognition, not of fundamental identity. This approach to the question of nationalist behavior or nationalist attitudes moves us away from ideas of fixed, authentic, or even of fluid identities. Instead it invites us to evaluate the reasons why the idea of nation might be important in one life situation and not in another. In moving to this kind of understanding of nation, we do not use the original nationalist definition of national indifference. Instead we give it a new meaning as a way to think situationally about nationhood, rather than in terms of essences and identities. In the context of scholarship, national indifference consists of a collection of strategies to decenter and relativize the dominance of

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national ways of thinking and acting, as we analyze historic and contemporary events in Central Europe. Using a category of indifference allows us to imagine forms of behavior that bypass the alleged importance of the nation altogether. Of course indifference does not exclude the possibility of nationalism. It merely relegates ethnic nationalism to a position of situational importance. Rather than investigating questions like “what is nationalism,” indifference allows us to investigate the contingent circumstances that can produce nationalist ways of thinking and feeling in the first place. Some critics worry that the category ‘national indifference’ is too broad to be analytically useful. This is indeed true. The purpose of this category is primarily to decenter the assumptions behind a national/ist way of looking at the world, by making scholars aware of the degree to which national presumptions shape the categories they use. If nationalist ideas were not hegemonic in this world, national indifference would make little sense, or it would perhaps apply to a very small category of attitudes, behaviors, and practices. Indifference is only useful relative to the almost universal power of ideas of nationhood. In the real world of Central Europe, where nationalism remains decisive, where the historical profession is often still shaped by the legitimating needs of the successor states, where the events of 1918 often attain the religious status of a mythic telos, in this world we need to find strategic rhetorical practices that will help us to think outside the hegemony of nationhood. Indifference presents us with a good starting point. Anmerkungen 1

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Ernest Renan, What is a Nation? in: Stuart Woolf (ed.), Nationalism in Europe, 1815 to the Present: A Reader, New York 1996, p. 48–60. The nationalist literature in Cisleithania that called for a greater commitment to nationalist ideals in everyday life matters is seemingly endless. For some examples, Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontier of Imperial Austria, Cambridge, MA 2006, especially p. 19–65, p. 88–98, p. 113–123, p. 146–149. – Tara Zahra, Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands 1900–1948, Ithaca/London 2008, p. 2–4, p. 19–32. Quoted in Zahra 2008, p. 31.

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On the complex cultural symbolic meanings attached to language use in Habsburg Central Europe, Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien 2010, especially p. 120–123. On the phenomenon of the Mischehe, J. Zemmrich, Sprachgrenze und Deutschtum in Böhmen, Braunschweig 1902, p. 67. – Judson 2006, p. 119. Edin Hajdarpasic, Whose Bosnia?: National Movements, Imperial Reforms, and the Political Re-ordering of the Late Ottoman Balkans, 1840–1875, Ithaca/London 2015. This refusal of nationhood was also thematized in popular novels of the time. Some German nationalist examples of this genre include Fritz Mauthner, Der letzte Deutsche von Blatna, Berlin 1913. – Rudolf Hans Bartsch, Das deutsche Leid: Ein Landschafts-Roman, Leipzig 1912. – Ludwig Mahnert, Die Hungerglocke. Roman aus der steierischen Los von Rom Bewegung, Duisburg 1912. Zahra cites the work of sociologist Josef Hůrský, Zjištování národnosti, Prague 1947, for examples of this kind of psychological argument in Kidnapped Souls, p. 257–258. Gerald Stourzh, Ethnic Attribution in Late Imperial Austria: Good Intentions, Evil Consequences, re-published in: Stourzh, From Vienna to Chicago and Back. Essays on Intellectual History and Political Thought in Europe and America, Chicago/ London, 2007, p. 157–176. – Zahra 2008, p. 39–48. See for example Adam Kożuchowski, The Afterlife of Austria-Hungary. The Image of the Habsburg Monarchy in Interwar Europe, Pittsburgh 2013. Tara Zahra, Imagined Non-Communities: National Indifference as a Category of Analysis, in: Slavic Review 69 (spring 2010), p.  93–119. – Pieter M. Judson/Tara Zahra, Introduction to Sites of Indifference to Nationhood, in: Austrian History Yearbook 43 (2012), p. 21–27. The use of national indifference has not been limited to analyses of Cisleithanian society, although that is the focus of this article. Historians Robert Nemes, Agoston Berecz and Joachim von Puttkamer have used the concept of national indifference effectively to analyze both rural social life and educational practice in Dualist Hungary, while Roberta Pergher has applied the concept effectively to the annexed territories in post-war Italy.

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Zentraleuropäische Formen des Orientalismus zeichnen sich gegenüber anderen Versionen durch deutlichere Vielfalt, eine Betonung ‚naher Grenzen‘ und eine entsprechende Tendenz zu Bedrohungs-Szenarien sowie durch deutliche Einbeziehung volkskultureller Elemente aus. ‚Orientalismus‘ meint eine generelle euro-amerikanische Form kultureller Repräsentation der Figur von Orientalen. Jene sind als distanzierte und inferiore Gestalt von ‚Anderen‘ dargestellt, mit fremden, aber zum ‚Wir‘ negativ komplementären Eigenschaften.1 Im hegemonialen Modus kultureller Aneignung durch das ‚Wir‘ werden den so repräsentierten Orientalen ihre eigenen Stimmen entzogen. Zentraleuropas wechselhafte historische Auseinandersetzungen mit kulturell unterschiedlichen, oftmals islamisch geprägten Kräften in der näheren und weiteren Nachbarschaft tragen spezifische Züge, die sich unter habsburgischer Hegemonie zutiefst in die mentale und materielle Kulturlandschaft eingetragen haben. Daraus entstanden bestimmte zentraleuropäische Grundversionen von ‚Orientalismus‘ in Kunst und Volkskultur, Sprachgebrauch, Wissenschaften und Alltag, die bis weit in die jüngste Vergangenheit und Gegenwart herein wirksam und nutzbar geblieben sind. Aus gegenwartszentrierter Sicht zeigen sich zentraleuropäische Grundversionen von Orientalismen als Ensemble von räumlich-zeitlichen Inventaren. Manche darunter sind explizit, wie die Figur des sterbenden osmanischen Soldaten an der Außenseite des Wiener Stephansdoms. Manche sind implizit, wie der Fluch ‚Kruzitürken!‘ Heute noch vereinzelt, aber überall im Süden des deutschen Sprachraums zu hören, ist er im Osten und Südosten Österreichs häufiger als anderswo und zugleich nicht für alle einwandfrei deutbar. Der kulturgeschichtli-

Orientalismus

Kapistrankanzel an der Außenseite des Wiener Stephansdoms, Monument von Johann Joseph Resler, 1738 eingeweiht. © Lisa Bolyos, 2009

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chen Genese entsprechend treten ähnliche Formen von Orientalismus ebenso im Ungarischen, Slowakischen und Slowenischen, im Norden Kroatiens und im Norden des heutigen Italien auf – von der Gemälde­ sammlung großer osmanischer Herrscher auf Schloss Ptuj/Pettau bis zu den bedeutenden islamischen Handschriftensammlungen in Budapest, Zagreb, Venedig und Mailand. Wie alle Orientalismen sind also auch die zentraleuropäischen Versionen nicht immer in Sprache gefasst, aber sofern dies der Fall ist, sind sie typischerweise vielsprachig – mit Deutsch oder Ungarisch als den überwiegenden Repräsentationssprachen. Bereits die bisher genannten Beispiele unterstreichen, dass zentraleuropäische Orientalismen eine besonders kontrastreiche Spannweite an Heterogenität umfassen. Dies gilt auch für die moralisch-bewertende Komponente. In der Diskussion um britische oder frankophone Formen kolonialer und postkolonialer Orientalismen wurde erst relativ spät und zaghaft argumentiert, dass vereinzelt auch wohlwollende und moralisch positiv bewertende Repräsentationsformen enthalten wären. Für zentraleuropäische Versionen hingegen wurde frühzeitig geklärt, dass die Konturierungen hier kontrastreicher verliefen und kontinuierlicher auch positive Bewertungen einschlossen. Der populären Kommunikation von Hohn und Verachtung in der barocken Darstellung (1738) eines halbnackt sterbenden Osmanen an der Kapistrankanzel des Stephansdoms steht also auch die nicht minder populäre Kommunikation von Respekt und Bewunderung in Die Entführung aus dem Serail (1782) entgegen. Zentraleuropäische Formen des Orientalismus enthielten somit frühzeitig Sujets nicht nur vom ‚bösartigen‘ und verachteten, sondern auch vom ‚edlen‘ und gutartigen O ­ rientalen mit partiellen Ansätzen zu einem aufgeklärten Orientalismus. Beide werden später austauschbar – der ‚böse Orientale‘ war oft ein Jude, und heute ist er oft ein Araber; ‚gute Orientalen‘ können heute christliche Flüchtlinge aus dem Irak oder aus Syrien sein, usw. Zentraleuropäische Orientalismen sind heute gerade deshalb besonders vielfältig und kontrastreich, weil sie aus einer besonders intensiven und lange währenden Vorgeschichte resultieren. Einige wenige, aber bekannte Elemente zentraleuropäischer Orientalismen beziehen sich auf das Mittelalter, also meist auf die ‚Kreuzzüge‘; einige

Orientalismus

andere wichtige Bausteine verweisen auf das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert und damit meist auf Bosnien. Der bei weitem dominante Anteil verweist jedoch auf die so genannten ‚Türkenkriege‘ zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert.2 Hier geht es zunächst weniger um den historischen Wahrheitsgehalt der entsprechenden zeitlichen Bezüge als vielmehr um die Relevanz dieser Symbole und Orte von historisierender ‚Erinnerung‘ für die Gegenwart. Aus diesem Zugang wird die signifikante Differenz zu klassischkolonialen Formen von Orientalismus in ihren primär nordwesteuropäischen Dimensionen (Großbritannien, Niederlande, Frankreich) besonders deutlich. Gegenstücke zur ‚Spinnerin am Kreuz‘, der früher so genannten ‚Martersäule am Wienerberg‘ am Südostrand Wiens, sind bereits schwer auffindbar in Amsterdam, London oder Paris; zu den Nationalfarben von Frankreich, England oder den Niederlanden lassen sich keine Mythologeme identifizieren, die angeblich das Blut von in Kreuzzügen besiegten Orientalen darstellen. Für die klassisch-kolonialen Orientalismen der Gegenwart spielt die Instrumentalisierung des Mittelalters folglich eine vergleichsweise geringere Rolle, aber jene des 18./19. Jahrhunderts ist für sie essenziell – eben weil dies auf die Etablierung kolonialer Imperien in Übersee verweist. Andere Sequenzen und Akzentuierungen haben selbstverständlich unterschiedliche historische Verlaufsformen zur Grundlage. Ebenso entscheidend ist aber, wie diese kulturell verarbeitet und repräsentiert wurden. Die zentraleuropäischen Orientalismen transportieren ein Grundmuster, das sie von kolonialen Orientalismen unterscheidet und zugleich Parallelen zu iberischen und russischen Tradierungsformen aufweist. Da wie dort ging es selten um ‚Orientalen in Übersee‘, sondern meist um ‚nahe Orientalen‘, mit friedlichen und kriegerischen Auseinandersetzungen lange vor dem 18. und 19. Jahrhundert. Das widersprüchliche Wort ‚Grenze‘ spricht ein allen drei Tradierungsformen essenzielles Sujet an. Tatsächlich unterstreicht der englische Begriff ‚frontier‘ – mit seinen Differenzierungen gegenüber ‚threshold‘, aber auch ‚boundary‘, ‚border‘ oder ‚limit‘ – sehr viel deutlicher: Es geht hier immer um umkämpfte, aber diffuse, fluide und übergangsartige Bereiche kultureller Diversität, inklusive pränationaler, unscharfer Formen instabiler

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Territorialität. Zentraleuropäische Orientalismen sind sinnvoll und produktiv als eine Version von „frontier orientalism“3 zu untersuchen. Frontier orientalism bezeichnet die Konstruktion von Orientalen diesseits und jenseits einer umkämpften, nahen Grenze: Die tsche­ tschenische oder tartarische Gefahr und die Notwendigkeit ihrer Bannung spielt in russischen Mythologemen der Vergangenheit und Gegenwart eine bedeutende Rolle. Bis in die Tschetschenienkriege der 1990er-Jahre und danach erlangte dies eine für die Stabilisierung der russischen Führung staatstragende Bedeutung. Die Überwindung andalusischer und maghrebinischer ‚Mohren‘ ist ein Kernelement iberischer Bezüge auf Anfänge mittelalterlicher und frühneuzeitlicher ­Eigenstaatlichkeit. In Selbstinszenierungen der Diktaturen von Franco und Salazar wirkte dies fort, und auf völlig andere Weise spielen diese Mythologeme noch herein in iberische Umgangsformen mit den A ­ ußengrenzen der ‚Festung Europa‘. Ganz anders, aber in den Grundzügen durchaus vergleichbar, ist die bekannte Rolle naher Grenzen in zentraleuropäischen Selbstdarstellungen und mythologisierenden Repräsentationen des historischen Werdens. Sie führen von der Nibelungensage und ‚Etzel‘ über die ursprüngliche Belehnung der Babenberger mit einer Grenzmark letztlich dazu, dass die frühe Etablierung der Habsburger in Wien als Fortsetzung einer sehr viel älteren historischen Mission interpretiert wurde. Noch expliziter ‚staatstragend‘ wurde die Konstruktion einer nahen Grenze in den zentraleuropäischen Orientalismen bis ins 20. Jahrhundert herein: Sie legitimierte bis 1918 und 1938 konservativere Vorstellungen von Eigenstaatlichkeit im zentralen Donauraum, sie war bis 1945 und zum Teil noch darüber hinaus ein zentrales ­Argument großdeutscher Visionen für eine ‚Ostmark‘. Nach 1945 sahen lokale Proponenten auch im ‚Kalten Krieg‘ bloß die Fortsetzung einer uralten Mission gegen drohende Feinde aus dem Osten. Erst ab den 1970er-Jahren wurde jene dialogischere Vision von Zentraleuropa und Österreich als ‚Brücke‘ und ‚Mittler‘ reaktiviert, die es bereits in Ansätzen im 18. und 19. Jahrhundert gegeben hatte. Im frontier orientalism ist die Figur des Orientalen meist deutlich unterschieden von jener des ‚Primitiven‘. Ein bestimmtes Vorwissen

Orientalismus

um kulturelle Diversität ist auch den zentraleuropäischen Orientalismen inhärent. In ihren konfrontativen Versionen ist diese Diversität exklusiv, hierarchisch und nur durch siegreichen Kampf zu bewältigen. Der 12. September 1683 dient als kollektiv-existenzielle Grunderfahrung, aus der die zeitlich-räumlich angeordneten Mythologeme ihre Inspiration und Verklärung erfahren. Der ‚bösartige Türke‘, so diese Version, war bereits mitten unter ‚uns‘, um ‚uns‘ zu vernichten. Heldenhafter Widerstand und Unterstützung befreundeter Mächte erlaubten in letzter Minute, das Schlimmste zu verhindern. Die darauf folgende, schrittweise Zurückdrängung der Osmanen nach Südosten ist gleichbedeutend mit dem Aufstieg des Hauses Habsburg zur mitteleuropäischen und weltpolitischen Großmacht. Von hier weg wird aus spät- und nachimperialer Perspektive dann das Narrativ durch die erfolgreiche Eingliederung Bosniens vervollständigt, was den bleibenden Prototypus des ‚guten Orientalen‘ liefert. Bosnien steht in diesen Narrativen für ein Musterland von gelungener quasi-kolonialer Integration, für die friedliche Eingliederung treuer Unterworfener und für ihren heldenhaften Einsatz bis hin in die letzten Tage vor dem 3. November 1918. In dieser speziellen Hinsicht ähnelt das Bild vom ‚guten Orientalen‘ in seinen zentraleuropäischen Ausprägungen durchaus jenem vom kolonialen Untertanen in seinen klassisch-kolonialen Varianten – was nur bestätigt, dass beides verschiedene Grundvarianten ein und derselben generellen Form von Orientalismus sind. Inspiziert man die Genres und Inventare im Detail, so werden die Unterschiede zwischen ‚frontier‘ und ‚classical colonial‘ Orientalismus nochmals deutlicher. Das Spektrum von Genres, in denen Motive des frontier orientalism zentral oder mitbestimmend sind, ist weitaus breiter. Es umfasst nicht nur Malerei und Plastik, Architektur und Literatur, Musik und politische Rhetorik – das gilt für beide Varianten. Speziell in Architektur, Musik und Plastik sind orientalistische Motive aber schon in ihren professionellen Ausprägungen in Zentraleuropa deutlicher und sichtbarer gestreut. Hier wie auch in sprachlichen Tradierungen aller Art tritt ein breites folkloristisches Spektrum hinzu zur professionellen Betätigung. Es umfasst populäres Liedgut (Prinz Eugen, der edle Ritter), Redewendungen, Flüche und, wie erwähnt,

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Ortsbezeichnungen und Straßennamen (Türkenschanzpark, Heidenschuss), örtliche Legenden, Sagen und Speisen. Kurzum, der klassischkoloniale Orientalismus hat seine nahezu exklusiven Hauptakzente im Feld der mehr oder minder elitären ‚Hochkultur‘, während der frontier orientalism gleichermaßen in populären wie in gehobenen kulturellen Tradierungsformen verankert ist. Wesentlich ist schließlich ein signifikanter Unterschied im Bereich genderspezifischer Sujets. Die Repräsentationen orientalischer Menschen sind zwar sowohl im frontier orientalism als auch im klassischkolonialen Orientalismus fast immer aus männlichen Perspektiven gestaltet. Aber analog zur kolonialen Grundbewegung der Expansion sind die männlichen Perspektiven im klassischen Orientalismus meist geleitet von Neugier, Exploration und Eroberung, mit einer tendenziell voyeuristischen Sicht auf die orientalische Frau und ebenso auf gleichgeschlechtliche Formen des Begehrens. Im frontier orientalism inspiriert die Anrufung einer kollektiv-existenziellen Grunderfahrung von ‚Unterwanderung‘ und ‚Belagerung‘ mithilfe der nahen Grenze hingegen ein Bild vom Orientalen, das meist nur den Mann sieht und an der orientalischen Frau wenig bis gar nicht interessiert ist – oder sie bloß als demografisch bedrohliche Gebärmaschine wahrnimmt. Der eindringende orientalische Mann hingegen wird als eigentlich gefährliche Kraft vom männlichen ‚Wir‘ deshalb wahrgenommen, weil er hinter ‚unseren‘ Schwestern, Töchtern und Frauen her sei: In den konfliktuell orientierten Versionen zentraleuropäischer Orientalismen herrscht also diesbezüglich eine paranoide Sicht vor, mit Konsequenzen bis heute. Anmerkungen 1

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Vgl. Edward Said, Orientalismus (dt. Übers. Hans Günter Holl), Frankfurt am Main 2009 (Original New York 1978). Vgl. Johannes Feichtinger/Johann Heiss (Hg.), Geschichtspolitik und „Türkenbelagerung“ (Kritische Studien zur „Türkenbelagerung“ 1), Wien 2013. – Dies. (Hg.), Der erinnerte Feind (Kritische Studien zur „Türkenbelagerung“ 2), Wien 2013. Vgl. Andre Gingrich, Grenzmythen des Orientalismus – Die islamische Welt in Öffentlichkeit und Volkskultur Mitteleuropas, in: Erika Mayr-Oehring/Elke Doppler (Hg.), Orientalische Reise: Malerei und Exotik im späten 19. Jahrhundert (Ausstellungskatalog Wien Museum), Wien 2003, S. 110–129.

Österreichislam Franz L. Fillafer

Der Islam ist heute in aller Munde. Verteidiger des Abendlandes wittern Morgenluft, europaweit wird werterhetorisch aufgerüstet. Die Geschichte der Muslime in Zentraleuropa gestattet es, die allmähliche Verfertigung des Islam als staatsrechtlich verankerte Konfessionsform zu rekonstruieren und aufzuzeigen, wie soziale und ökonomische Unterschiede mit religiösen Differenzen überformt wurden. Somit dient die Geschichte als Mittel der Aufklärung, die ja, anders als die Retter des Abendlandes glauben machen, kein ‚Wert‘ ist, sondern ein regulatives Prinzip: sie ermöglicht es jedem, sich des eigenen Verstandes ohne fremde Anleitung zu bedienen. Der Islam in Europa, das ist ein Thema, bei dem zurzeit viel um des Kaisers Bart gestritten wird, das zu Larmoyanz und Säbelrasseln reizt. Häufig wird hier ein ,fremder‘, ,mittelalterlicher‘ Islam der angeblich robust säkularen europäischen Aufklärung gegenübergestellt, unterstützt wird dies von der Charmeoffensive der Europäischen Union: Sie beruft sich auf gemeinsame Werte und auf eine geteilte Geschichte, ein ,kulturelles Erbe‘, das sich aus ,römisch-griechischen‘ und ,jüdischchristlichen‘ Quellen speisen soll. Moritz Csáky hat darauf hingewiesen, dass Europa damit die Strategien der Homogenisierung und Exklusion fortführt, mittels derer die Aktivist/inn/en der Nationsbildung im 19. Jahrhundert sprachlich und ethnisch kohärente Traditionen schufen.1 Zudem hat Csáky dargestellt, wie die Erosion nationaler Identitäten heute neue Differenzen hervorbringt, die über die „Repräsentation so genannter Minderheiten“ aufgebaut werden: Die „Neukonstruktion von differenzierenden Merkmalen“ befestige durch „die Hervorkehrung der Hautfarbe, des sozialen Status, der Religion, der

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Islamgesetz, Reichsgesetzblatt 159/1912

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‚ethnischen‘ Zugehörigkeit oder der vermeintlich unterschiedlichen Lebenswelten, zum Beispiel ‚zivilisiert‘ versus ‚primitiv‘“, hegemoniale Positionen.2 Wiener ,Türken‘

Seit den osmanischen Belagerungen Wiens (1529, 1683) blühte in Zentraleuropa eine üppige Feindbild-Folklore; der Mythos eines Bollwerks der christlichen Zivilisation gegen die Barbarei, der zwischen Selbstermächtigung und Selbstviktimisierung changierte, wurde von Galizien bis Kroatien bei verschiedenen, miteinander konkurrierenden Gruppen gepflegt. Dabei war die Präsenz des Islam in der Region seit dem 17. Jahrhundert Teil der Alltagserfahrung, seine Rechts- und Religionsgeschichte erschöpft sich mitnichten in den ,Türken‘-Bildern.3 In Wien etwa umfasste der Begriff Türke seit dem 18. Jahrhundert vier religiöse Gruppen, die ,griechischen‘ (d. h. hellenischen, bulgarischen, serbischen, walachischen und albanischen) sowie die armenischen, die jüdisch-sephardischen und muslimischen Kaufleute, die als osmanische Untertanen Handelsprivilegien genossen und mit „Schaafund Baumwolle, Garn, Kamelhaar, Lederwerk, Reis, Wax, PingaillerieWaar“ aus dem Orient und der Levante handelten.4 Gegen Leistung der Kopfsteuer haraç (cizye) waren sie dem dār al-islām einverleibt und unterstanden dem Schutz, der ḏimma, des Sultans.5 Die Hofkammer, die oberste Finanz- und Wirtschaftsbehörde der Monarchie, benützte zur Kategorisierung dieser Händler die Begriffe ‚Religion‘ und ,Nation‘ mit austauschbarer Bedeutung. Wie die Konskriptionstabellen der Kammer von 1767 zeigen, wurde damit auch die Konfessionalisierung dieser Religionsgemeinschaften lanciert, sie sollten als inländische Rechtsgebilde neu begründet werden. So betrieb man im Sinne der staatskirchenrechtlich-territorialistischen Kontrolle religiöser Gruppen eine Konfessionalisierung der Wiener Sepharden,6 erwogen wurde ein solches Projekt der Konfessionsbildung auch für die Wiener Muslime.7

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Bosnische Muslime

Schauplatzwechsel: Die Geschichte der bosnischen Muslime (1878 Protektorat, 1908 gemeinsam verwaltetes Gebiet Österreich-Ungarns) erlaubt es, den Bricolage- und Palimpsestcharakter der ‚nationalen‘ Zugehörigkeit noch schärfer herauszuarbeiten. Verschiedene religiöse, sprachliche und ‚ethnische‘ Faktoren wurden von den Schöpfern der modernen ‚Nationen‘ im 19. Jahrhundert miteinander verflochten. So bildeten sich innerhalb der gemeinsamen konfessionellen Sphäre der Orthodoxie im Balkanraum mehrere ‚Nationen‘, etwa Serben und Rumänen, während sich etwa in Slawonien und im Gebiet der kroatisch-slawonischen Militärgrenze bei gleicher Umgangssprache die Differenzierung zwischen ‚Kroaten‘ und ,Serben‘ nach konfessionellen Kriterien (Katholizismus und Orthodoxie) gestalten sollte. Die Identität der bosnischen Muslime war seit dem Vormärz ein Zankapfel. Laut dem serbischen Spracherneuerer Vuk Karadžić sprachen sie das reinste Serbisch, nach ihm modellierte er seinen herzegowinischen Dialekt. Karadžićs Serbentum umfasste Muslime, Orthodoxe und Katholiken, gerade die Volkslied- und Sagenüberlieferung bewies für ihn das urslawische Residuum bei den Nachfahren der zum Islam Konvertierten.8 Ab 1860 wurde Karadžićs Idiom zum Leidwesen seiner nationalen Schüler von osmanischen, später von österreichischungarischen Periodika wie Bosna und Sarajevski cvjetnik/Gülşen-i Saray in Sarajevo verwendet und in osmanischen Lettern gedruckt,9 nur ein Beispiel dafür, dass imperiale und nationale Patriotismen sich vielfach derselben Stoffe und Strategien zur Förderung der Landessprachen bedienten. Während Karadžić die bosnischen Muslime den Serben zurechnete, und sie sich selbst häufig von den mittelalterlichen Bogomilen herleiteten, buhlten auch die Austroslawisten um ihre Gunst. Der konservative Wiener Kulturpolitiker Joseph Alexander von Helfert unterschied die bosnischen Muslime als konvertierte katholische Slawen, bei denen sich die alte Rechtseinrichtung der zadruga, der Hausgenossenschaft, erhalten hatte, als ,edle Wilde’ am Rande der Monarchie scharf von den ,asiatischen‘ Türken und von den gesamtstaatsskeptischen orthodoxen Serben.10

Österreichislam

1912 wurde für die bosnischen Muslime ein Islamgesetz geschaffen, das sich als eines der wirkmächtigsten legistischen Überbleibsel der Monarchie erwies. Ihm und seiner Novellierung ist der dritte Abschnitt gewidmet. Aus der Retorte der Kultuslegislatur: Die Islamgesetze 1912 und 2015

Einige der Hauptpfeiler der Rechtsordnung Österreichs entstammen der Monarchie. Das leuchtet sofort ein, wenn man an das ABGB und den Grundrechtskatalog der Verfassung von 1867 denkt, überraschender mag diese Beobachtung zunächst in Bezug auf das Volksgruppen- und Religionsrecht anmuten. Dass die ‚Autochthonie‘ in der Zweiten Republik immer noch den Status einer schützenswerten „Volksgruppe“ begründet,11 verdankt sich dem segregativen Nationalitätenrecht der späten Monarchie: Die Verfassung von 1867 erkannte die Rechtsfähigkeit ethnisch-national unterscheidbarer Gruppen an (Art. 19). Zugleich wurden subjektive öffentliche Rechte durch die Judikatur der Reichsgerichte in einklagbare Schutzansprüche von ‚Nationalitäten‘ umgeprägt. Die Verschmelzung religiöser und ethnischer Kriterien und die Auslegungsfähigkeit der so entstandenen Kategorien zeigte sich nach 1918, als jüdischen Immigranten die Staatsbürgerschaft der Republik mit der Begründung verwehrt wurde, die Juden seien keine ‚Nationalität‘ des alten Österreich gewesen.12 Das Kultusrecht weist ähnliche Kontinuitäten auf. Das 1912 für die bosnischen Muslime erlassene Islamgesetz war innovativ, es errichtete strafrechtliche Schranken gegen Verunglimpfung und Religionsfrevel13 und führte für die Muslime als erste Gruppe in Österreich die obligatorische Zivilehe ein.14 Das im Jahr 2015 neu gefasste und verabschiedete Islamgesetz (BGBl 39/2015)15 optimiert die Bestimmungen im Seelsorge- und Schulrecht, forciert aber zugleich die konfessionalisierenden und staatskirchenrechtlichen Strategien der Monarchie. Ursprünglich betraf dieser ‚Josephinismus‘ die Katholiken, das Ziel war eine autonome, der Vogtei und dem Schutz des Fürsten unterstellte Landeskirche. Heute soll ein kirchenförmiger österreichischer Islam

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entstehen, dabei wird das verfassungsmäßige Paritätsgebot elastisch gehandhabt, was zu manch gewagter Regelung führt. Drei Stichpunkte: 1. Das neue Gesetz verpflichtet jede islamische Religionsgesellschaft (RG, derzeit ALEVI und IggÖ), eine gültige deutsche Fassung kultusrelevanter Koran-Suren vorzulegen (§ 6.5). So soll der Vertretungsanspruch der Religionsgesellschaft für ihre Klientel aus einem glaubensmäßigen Realsubstrat begründet werden, das zugleich die Abgrenzung von anderen muslimischen Gruppen erlaubt und für die Behörden nachvollziehbar macht, ob die Religionsgesellschaft ihre deklarierten Kultnormen befolgt. Geflissentlich ignoriert wird das Urtext-Prestige des Koran: Angeblich wurde er von Gott aus einem Guss geoffenbart, deshalb gilt eine Übersetzung nicht als Heilige Schrift. 2. Weiters angestrebt wird die Abschirmung der muslimischen Landeskirche von ausländischen Einflüssen.16 Im 18. und 19. Jahrhundert war der Summepiskopat des Papstes anstößig, heute ist es die Finanzierung von Moschee- und Bildungsvereinen aus ausländischen Quellen. 3. Was dem Gesetzgeber als Ideal vorschwebt, ist eine Kultussymbiose mit akkreditierten Vertrauensleuten: Diese als gutgesinnte Befugnisträger akzeptierten Repräsentanten der Religionsgesellschaft sind zugleich Auslegungsbevollmächtigte; sie belehren den Staat gutachterlich darüber, was die jeweilige Konfession glaubt. Dabei wird – ebenfalls im scharfen Kontrast zum Regelwerk für alle anderen anerkannten Religionen! – eigens das gesetzeskonforme Verhalten islamischer Kultusfunktionäre eingefordert und die Verwirkungsdrohung ausgesprochen: bei Zuwiderhandeln könne die Religionsgesellschaft aufgelöst werden (§§ 4. 3, 5. 1, 5. (2)1.)17 Das neo-josephinische Projekt des Islamgesetzes erklärt in seinen Leitlinien die schwammig definierte ‚Integration‘ zur Voraussetzung für die Demokratiefähigkeit muslimischer Bürger. Ob das schildbürgerhaft ist, mehr noch, wie weit es verfassungsrechtlich trägt, werden Praxis und Judikatur erweisen.

Schluss

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Die historische Verortung des Islam in Zentraleuropa erlaubt es, jenen Schlüsselthemen nachzuspüren, die Moritz Csáky herausgearbeitet hat: der Pluralität der Region und der Mehrfachcodierung von Erinnerungsräumen, dem Umgang mit Diversität in Gestalt von Homogenisierungs- und Assimilierungsvorgängen, den Überlappungen von Identitäts- und Souveränitätsbereichen. Die historische Analyse zeigt, wie ‚Nationen‘ und ‚Religionen‘ allmählich verfertigt werden, wie situationsabhängig und artifiziell sie sind. Damit ist diese Analyse auch ein gutes Gegengift, sie wirkt der Hass- und Schmarotzerrhetorik der Rechten entgegen. Zudem regt die vorliegende Skizze zu zwei weiterführenden Überlegungen an: 1. Religiöse und sprachliche Differenzen werden ethnisiert, wenn etwa in Bezug auf den Westbalkan selbstverständlich von ‚Ethnien‘ die Rede ist, die einander bekämpfen. Meist wird das von aufgeklärten Westeuropäern behauptet, die selbst die Unterstellung, sie gehörten einer ‚Ethnie‘ an, empört zurückweisen würden. 2. An der Diskussion über den Islam lässt sich auch zeigen, wie Strukturelemente aus der europäischen Vergangenheit (‚Moderne‘) zu universalen Maßstäben der Weltgeschichte erhoben werden. Während für Europa selbst die Modernisierungstheorie längst verabschiedet ist, gilt ihre Höchststufe – die nationale, demokratischkapitalistische Klassengesellschaft – für die islamische Welt weiterhin als Entwicklungsziel. Anmerkungen 1

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Vgl. Moritz Csáky/Johannes Feichtinger (Hg.), Europa – geeint durch Werte? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld 2007. Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 93. Vgl. Amena Shakir/Gernot Galib Stanfel/Martin M. Weinberger, Ostarrichislam. Fragmente achthundertjähriger gemeinsamer Geschichte, Wien 2012. David Do Paço, L‘Orient à Vienne au dix-huitième siècle, Oxford 2015, S. 83. Vgl. ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 97 (1785) und S. 264.

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Vuk S. Karadžić, Sava Tekelija, Писма високопреосвештеноме господину Платону Атанацковићу, православноме владици будимскоме о српскоме правопису, са особитиjем додацима о српском jезику [Briefe an Seine Hochwürden Herrn Platon Atanacković, den orthodoxen Vladika in Buda, über die serbische Rechtsschreibung, mit besonderen Beilagen über die serbische Sprache], Wien 1845, S. 85–95. Vgl. die vorzügliche Studie von Edin Hajdarpasic, Whose Bosnia? Nationalism and Political Imagination in the Balkans, 1840–1914, Ithaca 2015, S. 161–198. Vgl. Johannes Feichtinger, Das Wiener Kipferl. Zum Symbolwert eines Gebäcks, in: Moritz Csáky/Georg-Christian Lack (Hg.), Kulinarik und Kultur. Speisen als kulturelle Codes in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar 2014, S. 102–120, hier S. 116. Bundesgesetz über die Rechtsstellung der Volksgruppen in Österreich (Volksgruppengesetz – VoGrG), Fassung vom 15.1.2016, in: www.ris.bka.gv.at (abgerufen am 15.1.2016). Vgl. Gudrun Hentges, „Brücken für unser Land in einem neuen Europa“? Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in Österreich, in: Christoph Butterwegge u. a. (Hg.), Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik, Wiesbaden 2009, S. 191–233. Vgl. Oskar Besenböck, Die Frage der jüdischen Option in Österreich 1918–1923, phil. Diss., Wien 1992. Vgl. Strafgesetzbuch v. 1852, RgBl Nr. 117, § 122, Vertrag von St. Germain, Art. 63 Abs. 2, Verfassungsbestimmung gem. Art. 149 Abs. 1 B-VG. Vgl. Richard Potz, Das Islamgesetz 1912 und der religionsrechtliche Diskurs in Österreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Thomas Olechowski/Christian Neschwara/Alina Lengauer (Hg.), Grundlagen der österreichischen Rechtskultur. Festschrift für Werner Ogris zum 75. Geburtstag, Wien 2010, S. 385–408, hier S. 401. Bundesgesetz über die äußeren Rechtsverhältnisse islamischer Religionsgesellschaften – Islamgesetz 2015, Fassung vom 15.1.2016, in: www.ris.bka.gv.at (abgerufen am 15.1.2016). Vgl. jüngst Farid Hafez, Das IslamG im Kontext islamophober Diskurse. Eine Policy Frame-Analyse zum Politikgestaltungsprozess des IslamG 2015, in: juridikum (2015) 2, S. 179–184. Amtliche Erläuterungen, Regierungsvorlage z. § 6.7, in: Islamgesetz 2015. Texte, Materialien, Stand: 1. Mai 2015, Linz 2015, S. 20. Vgl. Abschlussbericht zu BGBl. I 39/2015, in: Islamgesetz 2015, S. 17.

Plurikulturalität Anil Bhatti

Während der Begriff ‚Multikulturalismus‘ auf das Nebeneinander von diversen sprachlich, kulturell, konfessionell, ‚ethnisch‘ getrennten Gesellschaftsgruppen hinweist, geht der Terminus der ‚Plurikulturalität‘ von den Verschränkungen, Überlappungen, von dem Beziehungsgeflecht, von der Durchwobenheit der diversen Elemente in komplexen Gesellschaften aus. Moritz Csákys Hinweis auf die Pluralität der zentraleuropäischen Region, die in der Polyglossie ihrer Bewohner, der konfessionellen und kulturellen Vielfalt sowie in den unterschiedlichen Verwaltungstraditionen und Rechtssystemen bestand, kann als Merkmal aller plurikulturellen Staaten gelten.1 Sprachen, Religionen und Kulturen lassen ein gesellschaftliches Gewebe in plurikulturellen Räumen entstehen, wo u. a. Ähnlichkeiten, Überlappungen und Synkretismen die soziale Praxis prägen. Dies ist ein Gegenmodell zur nationalstaatlichen Ideologie, die im Idealfall eine Konfiguration bevorzugt, in der die Ideologie des Singularen triumphiert: eine Sprache, ein Volk, eine Religion, eine Kultur, ein Geschichtsmythos usw. Der indische Sprachwissenschaftler Debi Prasanna Pattanayak wurde nicht müde wiederholt darauf hinzuweisen, dass die „multilingual pluricultural world“ unter dem ­„aggressive thrust“ der europäischen nationalstaatlichen Ideologie des Mono­lingualismus zu leiden hat.2 Plurikulturelle Verhältnisse sind historisch entstandene, selbstverständlich vorhandene Kommunikationszusammenhänge. Bilder dafür finden wir etwa in der Polyglossie und Polysemie der plurikulturellen Städte. Diese Plurikulturalität ist Teil des historischen Prozesses, der zur allgemeinen gesellschaftlichen Komplexität führt. Komplexe plu-

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Joseph von Hammer-Purgstall, Vortrag über die Vielsprachigkeit, gehalten an der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, in: Die Feierliche Sitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 29. Mai 1852, Wien 1852, S. 87–100

Plurikulturalität

rikulturelle Gesellschaften stehen stets unter dem Druck der Homogenisierung ihrer Einzelelemente, welche die Heterogenität des Ganzen gefährdet. In der Habsburgermonarchie, im ehemaligen Jugoslawien, im heutigen Indien, in afrikanischen und vielen anderen Ländern der außereuropäischen Welt kann dies beobachtet werden. Sollte Europa sich in diesem Sinne in Richtung Plurikulturalität entwickeln, so verfügt es über einen reichen Erfahrungshintergrund der Plurikulturalität und ihrer Chancen. Die plurikulturellen Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart sind Laboratorien für die neuen Konfigurationen der Diversität. In plurikulturellen Gesellschaften haben wir relationale Verhältnisse innerhalb der Diversität, die ein integraler Bestandteil der Kultur ist. Differenz und Diversität müssen sich nicht gegenüber einer höheren kulturellen Instanz (wie etwa einer Leitkultur) legitimieren. Im entgegengesetzten adversialen Verständnis von Kultur ist die Differenz ein Problem, das durch klassifikatorische Einordnung und Hierarchisierung gelöst werden soll. Die Optionen sind vielfältig, und sie variieren zwischen der extremen Trennung wie in der Apartheid oder Ghettoisierung auf der einen Seite und der versuchten Assimilation, etwa durch religiöse Bekehrung, auf der anderen Seite. Häufig gehen diese Alternativen mit einer Differenz einher, die in den Bereich des ‚Interessanten‘, des Exotischen gerückt und dadurch akzeptabel wird.3 Im adversialen Verständnis werden Abgrenzungen vorgenommen, kulturelle Monaden werden konstruiert und zivilisatorische Hierarchien behauptet. Im günstigsten Falle kann es zu einer macht- und majoritätsgeschützten protektionistischen Toleranz kommen, die vom ‚Wohlwollen‘ der Majorität abhängig ist. Sonst ist die Marginalisierung oder gar Ausmerzung der Differenz im politischen Prozess, wie wir aus der Geschichte wissen, eher üblich. Die Betonung der Plurikulturalität bedeutet, dass wir eine prozessuale Erhöhung der planetarischen Komplexität durch fortschreitende Verkettungen, Bewegungen, Migrationen wahrnehmen. Dadurch kommt es auch zu einer allmählichen Verabschiedung des Authentizitätsdiskurses. Verbunden mit der Kritik am Essenzialismus führt dies generell dazu, dass die dialogische Hermeneutik von ‚eigen‘ und

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,fremd‘ als dominierende Sichtweise in der Kulturkritik abgelöst wird von nicht-hermeneutischen Wegen im Umgang mit Diversität. Statt abgegrenzter Bereiche, die in dialogische Verhandlung miteinander treten, haben wir es mit verschiedenen überlappenden Lebenswelten zu tun. Es entstehen polylogische, multilaterale Kommunikationssphären mit stetig wechselnden ‚fuzzy‘ Trennlinien. Es geht dann nicht mehr so sehr um das Verstehen von Diversität als um die Entwicklung einer Kunst des Umgangs mit ihr. In plurikulturellen Zusammenhängen neigt man dazu, tendenziell hermeneutisch abstinent zu bleiben. Wir halten uns an den Grundsatz, dass es wichtiger ist miteinander auszukommen als einander zu verstehen. Insofern sind plurikulturelle Gesellschaften tendenziell ‚nicht-hermeneutische‘ Gesellschaften, die den Wert auf die Aufrechterhaltung einer synkretistischen, auf überlappenden Ähnlichkeiten ruhenden Lebenspraxis legen. Diese Perspektive hängt auch mit einer bestimmten Haltung zusammen, die nicht von der Suche nach ‚Wurzeln‘ der Kulturen ausgeht, sondern Kulturen als mehrschichtige ‚Palimpseste‘ betrachtet, die sich prozessual stets neu konfigurieren, ohne die Gleichzeitigkeit ihrer Komponenten zu verleugnen. Verschiedene Geschichtsschichten sind somit in komplexen Kulturen gleichzeitig vorhanden und sie sind auch temporal gleichberechtigt. Das Bild des Palimpsests wendet sich gegen die fundamentalistische Richtung, dass es nur eine authentische, reine, genuine Kultur in einem mehrsprachigen, plurikulturellen Land gebe. Alles andere sei additiv, zusätzlich hinzugekommen. Der/die Zugereiste, der/die Fremde, der/die Migrant/in stört in dieser Auffassung, weil er/sie nicht zur reinen, authentischen Urkultur gehört bzw. gehören kann. Wenn man vom Gedanken der Authentizität ausgeht, müsste man konsequenterweise sagen, dass die einzige ‚eigentlich‘ authentische Kultur ein leeres Blatt wäre, denn alles, was man darauf schreiben würde, wäre unrein; nur das leere Blatt kann rein sein. Der Dichter Rabindranath Tagore hat dafür ein glückliches Bild geprägt: „I would rather insist on the inexhaustible variety of the human race, which does not grow straight up, like a palmyra tree, on a single stem, but like a banyan tree spreads itself in ever-new trunks and branches.“4

Plurikulturalität

Im Jahr 1918 geschrieben, ist dieses Bild ein Pendant zu dem heute in der Kulturtheorie bekannten Bild des Rhizoms von Deleuze und Guattari. Bei rhizomatischen Strukturen kommt es nicht auf eine authentizitätspeilende, wurzelorientierte Richtung ins Vertikale an, sondern auf das Beziehungsgeflecht insgesamt. Das Bild des Rhizomatischen, Palimpsestartigen dient als eine Umschreibung der Grundcharakteristik aller territorialen Gebilde, die von Diversität gekennzeichnet sind, sei es als Sprachenvielfalt, sei es als religiöse oder kulturelle Vielfalt. Es gibt dafür wiederum ein anderes Bild, das bei Ludwig Wittgenstein zu finden ist. Wir können, schreibt er, einen Begriff von Etwas ausdehnen „[…] wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen. Wenn aber Einer sagen wollte: ‚Also ist allen diesen Gebilden etwas gemeinsam, – nämlich die Disjunktion aller dieser Gemeinsamkeiten‘ – so würde ich antworten: hier spielst du nur mit einem Wort. Ebenso könnte man sagen: es läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, – nämlich das lückenlose Übergreifen dieser Fasern.“5

In diesem Übergreifen kann das, was wir Vielfalt nennen, erfasst werden. Plurikulturelle, mehrsprachige, heterogene Gesellschaften wären in dem Sinne komplizierte Netze von Ähnlichkeiten, die ineinander übergreifen und sich kreuzen. Metaphorisch gesprochen lässt sich das Multikulturelle als Mosaik von nebeneinander eingebetteten Steinen begreifen; im Gegensatz zu einem kulturellen Gewebe, wie James Joyce es mit Bezug auf Irland ausdrückte: „a vast fabric, in which the most ­diverse elements are mingled. […] In such a fabric, it is useless to look for a thread that may have remained pure and virgin without having undergone the influence of a neighbouring thread.“6 Das wäre die Perspektive, auf deren Grundlage man eventuell den fundamentalistischen Richtungen, die diese Vielfalt zerstören, ja gerne tabula rasa machen und etwas Singuläres, Lineares gewaltsam durchsetzen wollen, etwas Anderes gegenüberstellt, wodurch die Vielfalt als kultureller Gewinn, als Mehrwert begriffen werden kann.

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Vielsprachigkeit ist ein integraler Teil plurikultureller Gesellschaften. Für den Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall (1774–1856) sollte der gute Europäer, der gute Österreicher mindestens fünfsprachig sein. Solche Gedanken wurden in der nationalstaatlichen Entwicklung marginalisiert. Die nationalstaatlich geprägte Forschung ging in diesem Bereich von der impliziten und expliziten Position der Monoglossie und der Vorherrschaft einer Leitkultur aus. Die Norm sei eben die homogene, einsprachige, monoreligiöse Kultur. Alles andere sei eine Abweichung. Somit wurde der Mythos von Babel zum Basistext der dominanten europäischen Sprachideologie.7 Der paradiesische Urzustand der Monoglossie bestimmt die europäische kulturelle Imagination als Idealzustand. Die Entstehung der Sprachenvielfalt gilt demnach als Katastrophe und das ist vielen indischen Denkern unverständlich. Der indische Schriftsteller und Kritiker K. Satchidanandan schreibt: „For the people of India, the existence of many languages was but an extension of nature’s diversity and they easily moved from one language to another when they moved from place to place or received people from another place. […] Multilingual self-fashioning may be said to have been fundamental to South Asia’s cultural ecology.“8 Gelungene plurikulturelle, mehrsprachige Konstellationen zielen nicht auf Sprachperfektion, sondern auf hinreichende Kommunikation ab. Nichts ist der Mehrsprachigkeit abträglicher als der Purismus und der Perfektionismus. Vereinfachende behavioristische Modelle von code switching können die mehrsprachige Disposition kaum erfassen. Deshalb spricht man eher von ‚flottieren‘ (Csáky) oder ‚schweben‘ bzw. ‚gleiten‘ zwischen Sprachen, um die Fluidität in dem mehrsprachigen Zusammenhang zu betonen. ‚Schwebende Leichtigkeit‘ wäre im Anschluss an Csáky auch eine Metapher für Situationen der mehrsprachigen Kompetenz. Es geht darum, das Fluide in der Mehrsprachigkeit zu betonen, um die ‚Verhärtung‘ durch die Monosemie zu vermeiden. Plurikulturalität basiert auf der Ähnlichkeitslogik, auf Überlappungen, Polyglossie und Synkretismus, und das steht jenseits der EigenFremd-Logiken von Assimilation oder Authentizität. In plurikulturellen Gesellschaften werden die bisher bevorzugten Präferenzen für die Polarität zwischen Identität und Differenz kritisch betrachtet und

Plurikulturalität

Eindeutigkeit, Authentizität und Purismus in Frage gestellt. Dagegen werden im Ähnlichkeitsdenken die Vorläufigkeit, das Transitorische, die Unschärfe, fließende Grenzen, Nuancen, minimale Abweichungen, Fuzzyness, Vagheit aufgewertet und begrifflich mit einer flexiblen polyvalenten Sprache erfasst. Statt des harten Prinzips des ‚Entwederoder‘ wird das fluide Prinzip des ‚Sowohl-als-auch‘ bevorzugt. Der Widerspruch stimuliert statt abzuschrecken. Und dies können wir ganz im ironischen Sinne von Musils Kakanien sehen, das auch ein Land des „Sowohl als auch u(nd) des Weder noch“9 ist und gerade deswegen so eminent vergleichbar mit dem vom Kolonialismus befreiten Indien. In offenen, plurikulturellen Welten ergibt sich im Gegensatz zu der geschlossenen, als Parallelgesellschaft funktionierenden multikulturellen Welt zunehmend so etwas wie ein Habitus der Gleichgültigkeit gegenüber der postulierten Gültigkeit des sichtbaren Unterschieds. Eine ‚Indifferenz gegenüber Differenz‘ also. Denn der offensichtliche, sichtbare Unterschied wird in seiner gesellschaftlichen Relevanz abgemildert und in Richtung überlappender Ähnlichkeiten aufgehoben. Man ist zwar nicht ganz gleich, aber auch nicht ganz anders. Sicher ist vieles in unserer Lebenswelt anders, aber beim näheren Hinsehen ist es vielleicht doch nicht ganz fremd. Damit tritt eine andere Form der Gesellschaftsfähigkeit, der Soziabilität ein. Und zu dieser Soziabilität gehört ein Habitus, der auch die kulturelle Übersetzungsfähigkeit fördert. Dies steht im Gegensatz zu Fundamentalismen. Der Fundamentalismus transformiert Unterscheidungsmerkmale in Trennungsmerkmale. Die plurikulturelle Lebensform wäre dann gekennzeichnet durch die Betonung der Ähnlichkeit in der Diversität und nicht durch die Einheit in der Diversität. Es ist wichtig zu betonen, dass solche mehrsprachigen und plurikulturellen Räume nicht unbedingt befriedete Utopien waren. Aber sie waren Gegenmöglichkeiten zu unseren heutigen Modellen von Parallelgesellschaften oder Schmelztiegeln. Das ungesteuerte, sich selbst organisierende Ziel einer plurikulturellen Gesellschaft wäre ein Prozess der durchgehenden Interaktion, welche zu immer neueren Varianten von Mischkulturen führt, in denen wir zu mehrsprachigen Bewohnern von polyglotten Metropolen in plurikulturellen Staaten

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werden. Hugo von Hofmannsthal hat einen schönen Ausdruck für die österreichische Umgangssprache in Wien gefunden: „Es war sicherlich unter allen deutschen Sprachen die gemengteste; denn es war die Sprache der kulturell reichsten und vermischtesten aller Welten.“10 Solche Welten gab es auch in anderen Teilen der Welt und sie entstehen jetzt erneut in Europa. Der Ähnlichkeits- oder Überlappungsgedanke in komplexen Situationen ist keine Theorie, die von oben an die Praxis angelegt wird, sondern entsteht durch die tägliche Praxis des Miteinander-Auskommens und wird dabei immer wieder neu analysiert und neu gestaltet, wobei es aufgrund dieser Neugestaltung wiederum zu neuen Situationen und neuen möglichen Lösungen kommt. Man geht also nicht von der Theorie aus, sondern von einer an der Lebenspraxis orientierten Situation. Die Anderen, mit denen wir in dieser Überlappungssituation umgehen und auskommen, können Migrant/inn/en, Menschen mit anderer Religion, anderer Hautfarbe sein. Diese Anderen werden durch diese Logik der gelungenen komplexen Gesellschaft nicht primär erst einmal verstanden oder lokalisiert, sondern es wird erst einmal ausprobiert, wie man mit ihnen umgehen und zurechtkommen kann. In Gesellschaften, die sich im Transformationsprozess befinden – und das sind nun alle Migrationsgesellschaften –, wirkt der Ähnlichkeits- und Überlappungsgedanke gegen die Entwicklung von Parallelgesellschaften.11 Die kulturtheoretischen Grundlagen dafür hat Johann Gottfried Herder gelegt. In den Humanitätsbriefen lesen wir: „Die Verschiedenheit der Sprachen, Sitten, Neigungen und Lebensweisen sollte ein Riegel gegen die anmaßende Verkettung der Völker, ein Damm gegen fremde Ueberschwemmungen werden; denn dem Haushalter der Welt war daran gelegen, daß, zur Sicherheit des Ganzen, jedes Volk und Geschlecht sein Gepräge, seinen Charakter erhielt. Völker sollten neben einander, nicht durch und über einander drückend wohnen.“12 Wenn man also von Parallelgesellschaften redet, dann ist das natürlich eine Form des Euphemismus für einen sehr alten Gedanken, nämlich den, dass man getrennte Wege zu gehen hat und im günstigsten Fall stehen all diese Wege unmittelbar zu Gott. Die plurikulturelle Gesellschaft zielt darauf, die Trennung der Gesellschaft in autonome Lo-

Plurikulturalität

giken, die jeweils unmittelbar zu Gott stehen können und ihr eigenes Recht haben, zu überwinden und eine durchmischte, überlappende, auf Ähnlichkeitsdenken ruhende Gesellschaft zu etablieren, die sich dann durch die Praxis zu immer neuen offenen Kommunikationsformen entwickelt. Anmerkungen 1

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Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 89–127. – Johannes Feichtinger, Kakanische Mischungen. Von der Identitäts- zur Ähnlichkeitswissenschaft, in: Anil Bhatti/Dorothee Kimmich (Hg.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, Konstanz 2015, S. 219–243. Debiprasad Pattanayak, Exploring Multilingual Education, in: Language and Cultural Diversity. The Writings of Debi Prasanna Pattanayak. Vol. 1, New Delhi 2014, S. 816–822, hier S. 816. Vgl. dazu insbesondere Hermann Broch, Hofmannsthal und seine Zeit. Eine Studie, hg. und mit einem Nachwort versehen von Paul Michael Lützeler, Frankfurt am Main 2001. Rabindranath Tagore, The Message of the Forest, in: The English Writings of Rabindranath Tagore. Vol. 3, ed. Sisir Kumar Das, New Delhi 1996, S. 385–400, hier S. 399. – Vgl. Anil Bhatti, Heterogeneities and Homogeneities. On Similarities and Diversities, in: Johannes Feichtinger/Gary B. Cohen (ed.), Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience (Austrian and Habsburg Studies 17), Oxford/New York 2014, S. 17–46, hier S. 38. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Original 1953), in: ders., Werkausgabe. Band 1, Frankfurt am Main 1984, S. 225–618, hier § 67. James Joyce, Ireland. Island of Saints and Sages (Original 1907), in: ders. The Critical Writings of James Joyce, ed. by Ellsworth Mason/Richard Ellmann, New York 1972, S. 165–166. – Vgl. John McCourt, The Years of Bloom. James Joyce in Trieste 1904–1920, Dublin 2001. Vgl. Jürgen Trabant, Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens, München 2003, S. 21. K. Satchidanandan, Living with many Tongues, in: Frontline, 13.6.2014, www.frontline.in/columns/K_Satchidanandan/living-with-many-tongues/article6048917. ece (abgerufen am 15.12.2015). – Vgl. auch Sheldon Pollocks Bemerkung: „Diversity was not a sign of divine wrath, nor was multilinguality a crime that demanded punishment“, in: ders. The Language of the Gods in the World of Men: Sanskrit, Culture and Power in premodern India, Berkeley 2006, S. 477. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Band 2. Aus dem Nachlaß, hg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 441. Hugo von Hofmannsthal, Unsere Fremdwörter, in: Gesammelte Werke. Reden und

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Aufsätze II. 1914–1924, hg. von Bernd Schoeller, Frankfurt am Main 1979, S. 360– 366, hier S. 363 (Hervorhebung von A.B.). Vgl. Bhatti/Kimmich (Hg.), 2015. – Anil Bhatti, Ähnlichkeit, in: Özkan Ezli/Gisela Staupe (Hg.), Das neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt, Konstanz 2014, S. 161–163. – Moritz Csáky, Migration-Kultur. Urbane Milieus in der Moderne, in: Gertraud Marinelli-König/Alexander Preisinger (Hg.), Zwischenräume der Migration. Über die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten, Bielefeld 2011, S. 115–140. – Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie (Gesamtausgabe der Werke, Ernst Bloch 13), Frankfurt am Main 1970. – Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt am Main 2009 (Original 1890), S. 79. Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität: Kapitel 12., Zehnte Sammlung (1797): Humanitätsbriefe, in: Projekt Guttenberg.de, gutenberg. spiegel.de/buch/briefe-zu-beforderung-der-humanitat-6443/12 (abgerufen am 15.12.2015).

Postkolonialismus Jan Surman

Zentraleuropa war kein klassischer Kolonialraum. Dennoch bzw. gerade deswegen verspricht die postkoloniale Theorie ein geeignetes Tool für die Analyse der Vergangenheit und Gegenwart dieser Region zu sein. Ausgehend von den verschiedenen Varianten der Anwendung der Postcolonial Studies in Zentraleuropa wird hier der Versuch unternommen, eine postkoloniale Theorie zu denken und sie für die Analyse von Verhaltensweisen, Mentalitäten und Wissensproduktion produktiv umzusetzen, ohne dabei nachträglich einen Kolonialismus zu evozieren. Seit dem Erscheinen der ersten Publikationen im frühen 21. Jahrhundert, die die Verwendung postkolonialer Theorie(n) für die Analyse des zentraleuropäischen Raums vorgeschlagen haben – Mykola Rjabtschuk für die Ukraine, Claire Cavanagh für Polen und Moritz Csáky, Johannes Feichtinger und Ursula Prutsch für den post-habsburgischen Raum – bleibt die Möglichkeit ihrer Anwendbarkeit umstritten.1 Historiker wie Pieter M. Judson warnen, dass die Beschreibung plurikultureller Gesellschaften durch die Verwendung kolonialer Metaphern die Sichtweise der jeweiligen nationalen Aktivist/inn/en und deren Narrative privilegieren kann, da sie von Differenzen ausgeht, die nationalistische Aktivist/inn/en erfunden haben.2 Andere meinen, dass die Ausweitung der Metapher auf etwa die sowjetische Periode die Komplexität der Machtbeziehungen nicht erfasst und dabei oft mit politischen Absichten zur Stabilisierung von dichotomischen Positionen beiträgt. Den Kritikern postkolonialer Zugänge muss insofern Recht gegeben werden, als in vielen Fällen mit dem Transfer postkolonialer Ansätze auf innere Machtverhältnisse eine schlichte Übertragung von Herrschafts- und Subalternitäts-Binaritäten mit deren gleichzeitiger Über-

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Lemberg , Lwów, Lviv, Carl Ludwig-Straße/ul. Karola Ludwika, um 1900 (heute: Prospekt Svobody). © Józef Pitułko, Album pamiątkowy miasta Lwowa [Erinnerungsalbum von Lemberg], Lwów 1904

Postkolonialismus

höhung und somit Reproduktion der (meistens imperialen) Opferrollen einherging. Auch wenn das Konzept eigener Kultur und die eigene Teilhabe an imperialen Prozessen (vorwiegend der Dritten Welt gegenüber) problematisiert wurden, führte dies zur Vernachlässigung vergangener kultureller und politischer Verflechtungen innerhalb der imperialen Gebilde sowie der ökonomisch-kulturellen Heterogenitäten.3 Eine zentrale Rolle in diesem Konzept spielt der Begriff der Identität, der allerdings oft die Sicht der (‚nationalen‘) Eliten präsentierte. Da ‚postkoloniale‘ Fragen meistens aus literaturwissenschaftlicher Perspektive gestellt werden, wird das literarische Narrativ als alleinige Quelle herangezogen, ohne auf dessen Entstehungskontexte und die Absichten des Schreibenden einzugehen. Somit dient postkoloniale Theorie häufig dem, wozu es laut deren Klassikern (wie Homi Bhabha oder Dipesh Chakrabarthy) genau nicht dienen sollte, nämlich zur Reduktion kultureller Heterogenität, zur Nationalisierung von Vergangenheit und Gegenwart sowie zur Wiederkehr von Ursprungsmythen. Beispielsweise wird in Polen die postkoloniale Theorie als ein „instrument of conservative discourse“,4 als Authentisierungswerkzeug verwendet, durch das der ‚vorkoloniale‘ Zustand wieder erreicht werden soll. Das gegenwärtige Polen wird als ein klassischer postkolonialer Staat vorgestellt, der seine „history of domination, partition and conquest by foreign powers“ überwunden hat, „essentially comparable with the colonization experienced by the peoples of Africa, Asia, the Americas and Australia.“ Diesem Narrativ zufolge war die Polnisch-Litauische Republik seit dem 18. Jahrhundert durch Russland, Preußen, Österreich, NS-Deutschland und ab 1945 durch die Sowjetunion kolonisiert worden. Die postkoloniale Theorie liefert hier ein Werkzeug zur Wiederherstellung der angeblich verlorenen authentischen Kultur: „Conservatives have found the term most conducive to their aims of defending traditional, Catholic values and a ‚primordialist‘ understanding of nation against new multiculturalist, individualist and civic models of identity.“5 Dieser Zugang, der die marxistische Variante postkolonialer Theorie, die Subaltern Studies, so gut wie nicht berücksichtigt, ist aber nicht der einzige, der in Polen entstanden ist. Zudem wurde er nicht kritik-

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los aufgenommen und viele Autor/inn/en warnten vor einer unkritischen Übernahme postkolonialer Methoden und schlugen Kompromisse vor wie „post-dependence“6 oder „post-soviet“7, die ihrerseits bereits eine Reflexion über die postkoloniale Methodologie darstellten. Andere Autoren nahmen die postkoloniale Theorie zum Ausgangspunkt interner Kritik an nationalen Mythen und Master-Narrativen – Jan Sowas Analyse polnischer Vergangenheit etwa mündete in eine lange Diskussion zur Stellung der Bauern, die der Krakauer Anthropologe mit der von Sklaven verglich, und zur Idee und Wirklichkeit der kulturellen Toleranz der Polnisch-Litauischen Republik. Das Ziel seiner Forschung war der „Prozess der Auseinandersetzung mit der Form, in die Polen und andere Länder Ostmitteleuropas involviert waren (und sind)“, wobei die Form politisch (moderne Demokratie, Staatlichkeit) wie auch kulturell (Moderne) verstanden werden kann.8 Die dritte Richtung, die mit Habsburg Postcolonial eingeschlagen wurde, interessanterweise zur gleichen Zeit wie die Studien von Rjabtschuk oder Cavanagh, führte dagegen zur Auseinandersetzung mit dem Konzept der Multikulturalität, aus dem das Konzept der Plurikulturalität hervorgeht.9 Somit war der Ausganspunkt ähnlich zu dem der New Imperial Studies, wie sie etwa in der Zeitschrift Ab Imperio praktiziert wurden. Die Prozesse der Differenzbildung, wie Orientalisierung und Hierarchisierung, und der Umgang mit dem Vergangenen in der Gegenwart – Geschichtspolitik wie auch gelebte Erinnerung – wurden in dieser Richtung zum Hauptthema. Damit schließen die ,PostHabsburg Studies‘ auch partiell an die gegenwärtigen (postkolonialen) soziologischen Analysen an, die die Auswirkungen vergangener, kulturell kodierter Machtkonstellationen auf die Gegenwart der damaligen Hegemonen wie auch der Subalternen anvisieren. In diesem Bereich sind auch die Studien zum Orientalismus zu verorten, etwa zu Kresy (östliche Gebiete der Polnisch-Litauischen Republik) oder auch zu lang­anhaltenden kulturellen Stereotypen, die z. B. gegenwärtige ­Migration und Migrationspolitik beeinflussen.10 Diese kurze Einleitung wirft die Frage auf, ob sich die unterschiedliche Entwicklung der zentraleuropäischen postkolonialen Studien

Postkolonialismus

aus der Perspektive der Postcolonial Studies selbst erklären lässt. Auf der einen Seite haben wir eine kritische Analyse der imperialen und post­imperialen Situation, die die Haupttopoi habsburgischer Diskurse unter die Lupe nimmt und sie kritisch bewertet, inklusive deren Auswirkungen auf die Gegenwart. Auf der anderen wird die Frage gestellt, wie Kolonialisierungsprozesse in divergierenden Machtkonstellationen aufzufassen sind und wie sie verarbeitet wurden. Die, nennen wir sie vereinfacht und ohne auf die Verflechtungen einzugehen, Stimmen der Abhängigen setzen sich mit der Provinzialisierung, Peripherialisierung und schließlich dem Verstummen bestimmter (nationaler) Narrative auseinander – ganz treffend ist hier auch die Allianzbildung mit der dekolonialen Theorie (Walter Mignolo), die ironischerweise von der russischen Forscherin Madina Tlostanova am weitesten vorangetrieben wurde. Kurz gesagt ist es eine Anbindung der zweiten Welt an eine Strömung, die zwar eine globale Ausbreitung diskursiv forderte, aber in der Praxis nur die ‚Erste‘ und ‚Dritte Welt‘ einschloss bzw. die Zentren und deren Kolonien. Die Länder, in denen die Diskussion am meisten entfaltet ist, sind Polen und die Ukraine, wo die Diskurse des ‚Zwischenseins‘ in Verbindung mit der Opfermythologie seit dem 19. Jahrhundert andauern. In anderen zentraleuropäischen Ländern konnten sich diese Diskussionen kaum entfalten, wobei Einzelprojekte durchaus vorhanden sind. Damit kann der postkoloniale Diskurs auch etwas über geteiltes Gedächtnis aussagen. Ich würde auch, in Adaption des Titels von M. Rjabtschuks wichtigster Publikation Постколоніальний синдром [Das postkoloniale Syndrom] über ein ,Postkolonialitätssyndrom‘ sprechen – der gefühlten Nichtteilnahme an globalen politischen aber auch intellektuellen Diskursen: im akademischen Diskurs ist die anvisierte Lösung eine Anbindung an den globalen Diskurs der Postkolonialität. Nun ist dieses Syndrom elitär, historisch blind und komplexbeladen. Mit dem Verweis auf den Komplex – präziser: den Dazwischensein-Komplex – wird der Bogen jetzt zurück zur Habsburgermonarchie gespannt. Exemplarisch nach Lemberg, wo es 1907 zu Auseinandersetzungen zwischen polnischen und ruthenischen Studierenden kam, der in einer Festnahme der Letzteren und schließlich

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in deren Hungerstreik mündete, was zu einem internationalen Skandal führte.11 Interessant sind dabei kulturell-symbolische Kleinigkeiten: die deutsch-österreichische Presse kritisierte (polnische) galizische Beamte, deren Handlungen die internationale Presse zum Vergleich zwischen russischer Barbarei und Habsburgermonarchie zwinge; die polnische Presse verwies auf die äußerste Barbarei der Ruthenen und sah sich als Opfer böser Wiener Propaganda, die von Ruthenen kontrolliert würde – als direkte Reaktion darauf wurde die Agence Polonaise de Presse gegründet. Es wurden also die ‚Dritte Welt‘ der Barbarei (repräsentiert durch Russland bzw. die Bezeichnung der Ruthenen als Haidamaken) und die ‚Erste Welt‘ (für Wiener – vor allem die deutsche Presse, für Polen – deutsche und frankophone Öffentlichkeiten) konstruiert und durch die Abgrenzung auch die eigene Identität gestärkt. Orientalisierung und Okzidentalisierung waren also inhärente, dialektische Komponenten des ‚Othering‘ – das auch in anderen Formen zu sehen war, etwa im ‚Katholischen Gegengewicht zu Preußen‘ (Motto der Universitätsreformen 1849) oder in ‚Polen als Papagei der Völker‘ (Juliusz Słowackis Diktum über Polen aus dem Jahr 1839). Die galizischen Polen grenzten sich von der habsburgischen deutschsprachigen Presse zwar ab, sahen sich aber ihr kulturell unterlegen und stellten ihre Forderungen in der Sprache des Hegemonen: als Beweis für die Barbarei der Ruthenen wurde die Beschädigung der Büste Franz Josephs­genannt und zwar sowohl im inner-habsburgischen wie auch im inner-galizischen Diskurs. Ironischerweise – und hier zeigt sich wie trügerisch Vorstellungen über Diskurse der ‚Anderen‘ sein können – erhielt diese Facette des Konflikts außerhalb Galiziens keine Beachtung, denn die Kodierung von Barbarei war durch den Hungerstreik besetzt. Die postkolonialen Studien können somit sowohl die Gegenwart wie auch die Vergangenheit erklären helfen, und das gelingt am besten, wenn nicht über die Kolonialität und ihre Formen sinniert wird, sondern Machtstrukturen in deren Komplexität anvisiert werden. Sie können als Linse dienen, in der bestimmte Prozesse, Stereotype, Einstellungen oder Befindlichkeiten vergrößert und somit sichtbar gemacht werden.

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Postkolonialismus

Микола Рябчук, Від Малоросії до України: парадокси запізнілого націєтворення [Von Kleinrussland zur Ukraine: Paradoxien einer verspäteten Nationsbildung], Київ 2000. – Claire Cavanagh, Postcolonial Poland, in: Common Knowledge 10 (2004) 1, S. 82–92. – Johannes Feichtinger/Ursula Prutsch/Moritz Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 2), Innsbruck u. a. 2003. Vgl. Pieter M. Judson, Do Multiple Languages Mean a Mulitcultural Society?, in: Johannes Feichtinger/Gary B. Cohen (ed.), Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience (Austrian and Habsburg Studies 17), Oxford/New York 2014, S. 61–82, hier S. 79. Charakteristisch Ewa M. Thompson, Imperial Knowledge. Russian Literature and Colonialism, Westport 2000. Vgl. Stanley Bill, Seeking the Authentic: Polish Culture and the Nature of Postcolonial Theory, 12.8.2014, nonsite.org/article/seeking-the-authentic-polish-cultureand-the-nature-of-postcolonial-theory (abgerufen am 15.1.2016). Ebd. Leitend hier ist Hanna Gosk, vgl. ihren Artikel im Themenheft Postcolonial or Postdependence Studies? des führenden polnischen literaturhistorischen Journals Teksty Drugie, Hanna Gosk, Identity-Formative Aspects of Polish Postdependency Studies, in: Teksty Drugie. Special Issue 1 (2014), S. 235–247, tekstydrugie.pl/ file/fm/Dokumenty/t2en_2014_1webCOMB.pdf (abgerufen am 15.12.2015). David Chioni Moore, Is the Post- in Postcolonial the Post- in Post-Soviet? Toward a Global Postcolonial Critique, in: Globalizing Literary Studies. Special issue of PMLA 116 (2001) 1, S. 111–128. Jan Sowa, Fantomowe ciało króla. Peryferyjne zmagania z nowoczesną formą [Der Phantomkörper des Königs. Der periphere Kampf mit der modernen Form], Kraków 2011, S. 41. Die Auseinandersetzung mit der Form ist des Öfteren das Thema von Schriften des Schriftstellers Witold Gombrowicz, auf den Sowa sich beruft. Zuletzt Feichtinger/Cohen (ed.) 2014. Vgl. Bogusław Bakuła, Colonial and postcolonial Aspects of Polish Discourse on the eastern ,Borderlands‘, in: Janusz Korek (ed.), From Sovietology to Postcoloniality. Poland and Ukraine from a Postcolonial Perspective (Södertörn Academic Studies 32), Stockholm 2007, S. 41–59. – Brigitte Hipfl/Daniela Gronold, Asylum Seekers as Austria’s Other: The Re-emergence of Austria’s Colonial Past in a Stateof-Exception, in: Social Identities: Journal for the Study of Race, Nation and Culture 17 (2011) 1, S. 27–40. – Lucy Mayblin/Aneta Piekut/Gill Valentine, ,Other‘ Posts in ,Other‘ Places: Poland through a Postcolonial Lens?, in: Sociology 50 (2016) 1, S. 60–76. Ausführlich: Jan Surman, Du ,barbarisme‘ et ,civilisation‘. Le conflit entre les étudiantes polonais et ruthènes en 1907 et sa construction journalistique, in: Jacques Le Rider/Heinz Raschel (Hg.), La Galicie (1772–1918). Histoire, Société, Cultures en Contact, Tours 2010, S. 175–188.

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Die Revolution von 1848/49 ist ein Ereignis von fundamentaler Bedeutung in der Geschichte der Habsburgermonarchie, die Erinnerung daran ist aber in den Nachfolgestaaten bis heute sehr unterschiedlich ausgeprägt. Während in manchen dieser Staaten die Revolution als zentraler Bestandteil der nationalen Geschichte gilt, lassen sich die Ereignisse 1848/49 im österreichischen Gedächtnis nur schlecht unterbringen: Hier dominieren heute weitgehend entpolitisierte, anekdotisch-nostalgische Formen der Erinnerung an die späte Habsburgermonarchie. Als ich vor einigen Jahren nach Material zur Geschichte des Zagreber Jelačić-Platzes suchte, stellte mir eine hilfsbereite kroatische Kollegin ein Konvolut mit Kopien von Karikaturen des bekanntesten Karikaturisten Kroatiens, Srećko Puntarić (Künstlername: Felix), zur Verfügung, die sich auf die Wiedererrichtung des monumentalen Reiterstandbildes von Ban Josip Jelačić im Zentrum der kroatischen Hauptstadt im Jahr 1990 bezogen. Eine der Karikaturen stellte allerdings eine Ausnahme dar: Sie gefiel meiner Kollegin, einer Musikwissenschaftlerin, so gut, dass sie eine Kopie davon beifügte, obwohl diese Zeichnung einem ganz anderen Thema gewidmet war. Zu sehen sind darauf zwei durch altertümliche Pickelhauben als Vertreter einer Obrigkeit kenntlich gemachte Männer, die mit Knüppeln auf einen vor einem Plattenspieler sitzenden Discjockey einprügeln, weil er im „Bachov apsolutizam“ – wie aus der Karikatur hervorgeht – nicht Musik von Bach, sondern von Beethoven spielt: „Bethovena puštaš je li??“

Revolution versus Restauration

„Bach’scher Absolutismus“ – „Was, du spielst Beethoven??“ © Srećko Puntarić, Vremeplov kroz Zagreb, Zagreb 2000, S. 53

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Im ersten Moment war ich einigermaßen ratlos: War es tatsächlich möglich, dass sich „Bachov apsolutizam“ auf den altösterreichischen Staatsmann Alexander von Bach (1813–1893)1 und das mit seinem Namen verbundene neoabsolutistische System der Jahre zwischen 1852 und 1859 bezog? Immerhin setzt das Funktionieren der Pointe eines Witzes oder einer Karikatur voraus, dass bei denjenigen, denen die Pointe serviert wird, ein sofortiges Verständnis und in gewissem Sinn ,Einverständnis‘ einsetzt: Pointen, die erst erklärt werden müssen, sind nicht mehr witzig, sondern eher peinlich. Setzte der Karikaturist also tatsächlich voraus, dass ein durchschnittlicher kroatischer Zeitungsleser, eine Zeitungsleserin – die Karikatur war in einer Tageszeitung veröffentlicht worden – sofort an Alexander von Bach denken würde? Meine kroatische Kollegin bejahte diese Frage entschieden: Jeder Kroate, jede Kroatin wüsste sofort, was mit „Bachov apsolutizam“ gemeint sei! Man stelle sich eine vergleichbare Karikatur in einer österreichischen Tageszeitung vor: Ich vermute, dass, abgesehen von wenigen Menschen mit speziellem Interesse an der österreichischen Geschichte, die meisten Leser weder mit der Pointe noch mit deren Erklärung allzu viel anfangen könnten. Alexander von Bach und das ‚System Bach‘ gehören nicht zum kollektiven Gedächtnis der heutigen Österreicher/innen. Warum aber ist die kollektive Erinnerung an die gemeinsame Geschichte in Nachbarstaaten, die einmal Teil eines Staates waren, so unterschiedlich ausgeprägt? Die Revolution von 1848/49 und die Jahrzehnte danach gehören in Kroatien zu den zentralen Elementen der nationalen Erinnerungskultur: Darauf verweist unübersehbar das bereits erwähnte markante Monumentaldenkmal des Banus Josip Jelačić von Bužim (1801–1859) auf dem zentralen Platz der kroatischen Hauptstadt.2 Jelačić leitete den militärischen Widerstand der Kroaten gegen Ungarn – zu dem das Kronland Kroatien und Slawonien staatsrechtlich gehörte –, das sich im Zuge der Revolution für unabhängig von der habsburgischen Herrschaft erklärt hatte. Angesichts der betont nationalen Ausrichtung der ungarischen Revolutionäre mussten die Kroaten von einem weiter zunehmenden Magyarisierungsdruck ausgehen, dem sie ihr eigenes na-

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tionales Unabhängigkeitstreben innerhalb der Habsburgermonarchie entgegenstellten. Damit positionierten sich die Kroaten folgerichtig gegen die Revolution und auf der Seite der habsburgischen Zentralmacht. Zwar gelang es, nicht zuletzt dank des militärischen Engagements der Kroaten, die Revolution und damit auch die Sezession des Königreichs Ungarn zu unterdrücken, die nationalen Wünsche der Kroaten – Vereinigung aller Kroaten (Kroatien und Slawonien, Istrien und Dalmatien) in einer von Ungarn unabhängigen politischen Einheit – blieben jedoch vorläufig unerfüllt. Ungeachtet dessen wurde Ban Jelačić zum kroatischen Nationalheros, sein 1866 errichtetes Denkmal wurde zum Ausgangspunkt weiterer politischer Aktionen: So protestierten während eines Besuchs von Kaiser Franz Joseph in Zagreb im Jahr 1895 kroatische Studenten gegen die Magyarisierungspolitik der ungarischen Verwaltung durch die Verbrennung einer ungarischen Fahne vor dem Jelačić-Denkmal. Der Anführer der Studenten, Stjepan Radić (1871–1928), wurde später einer der führenden Köpfe der kroatischen Nationalpartei. Beide, Josip Jelačić und Stjepan Radić, sind heute auf kroatischen Banknoten abgebildet, was ihre anhaltende Bedeutung als nationale Identifikationsfiguren nachhaltig unterstreicht. In Ungarn fand sich bis 1997 das Konterfei des vielleicht wichtigsten Gegenspielers Jelačićs, Lajos Kossuth (1802–1894), auf einer Banknote: Er gilt als der bedeutendste Nationalheros Ungarns im 19. Jahrhundert, wohl deshalb, weil er 1848/49 am wesentlichsten zur Sezession Ungarns vom Habsburgerreich beitrug und sich überdies am radikalsten für eine Magyarisierung der ,ethnischen‘ Minderheiten im Königreich Ungarn ausgesprochen hatte. Aber auch andere Akteure der Ungarischen Revolution von 1848/49 haben ihren festen Platz im nationalen Gedächtnis und auch ihre Monumentaldenkmäler: István Széchenyi (1791–1860), der polnische General Józef Bem (1794–1850), der auf dem Schlachtfeld gefallene Dichter Sándor Petőfi (1823–1849) und der nach der Niederschlagung der Unabhängigkeitsbewegung hingerichtete Ministerpräsident der Revolutionsregierung Lajos Batthyány (1807 – 1849), um nur einige zu nennen. Der Tag des Ausbruchs der Revolution, der 15. März, ist in Ungarn noch heute ein

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nationaler Feiertag, an dem viele Menschen die rot-weiß-grünen Kokarden der Revolutionäre anstecken und vielfach auch die Waren in den Geschäften damit geschmückt werden; der Tag der Hinrichtung Batthyánys und dreizehn kommandierender Generäle der Revolutionsarmee (,Märtyrer von Arad‘), der 6. Oktober, ist nationaler Trauertag. Gerade in den letzten Jahren sind im Zug einer zunehmenden ,Nationalisierung‘ der Politik in Ungarn die Erinnerungen an die Jahre 1848/49 wieder verstärkt aktualisiert worden: Durch Umbenennungen von Straßen und Plätzen, durch Denkmäler und auch durch die ,Bereinigung‘ der Ehrenbürgerliste der Stadt Budapest, aus der – erst um den 15. März 2011! – Julius von Haynau, Josip Jelačić, Alfred von Windischgrätz und auch Alexander von Bach gestrichen wurden, dessen Andenken in Ungarn offenkundig nicht positiver ist als in Kroatien. Die in Budapest erscheinende deutschsprachige Wochenzeitschrift Neuer Pester Lloyd merkte angesichts der mehr als eineinhalb Jahrhunderte, die zwischen der Revolution und der Aberkennung der Ehrenbürgerwürde lagen, ironisch an, dass die betroffenen Personen in Hinkunft für die Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel in Budapest eben wieder selbst bezahlen müssten.3 Ebenso wie in Kroatien ist in Ungarn die Revolution von 1848/49 also ein ganz zentraler Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses, konkret eines nationalen ,Opfernarrativs‘, das die Besetzung großer Teile des Landes durch die Osmanen nach der verheerenden Niederlage von Mohács 1526, die Niederschlagung der Unabhängigkeitsbewegung 1848/49, die Abtrennung von zwei Drittel des Territoriums des Königreichs Ungarn durch den Friedensvertrag von Trianon 1920 und die gewaltsame Niederwerfung des Volksaufstandes gegen die kommunistische Diktatur durch Truppen des Warschauer Paktes 1956 in einen sinnhaften Deutungszusammenhang fasst.4 Die Interpretation der historischen Situation der Revolutionsereignisse von 1848/49 ist in Ungarn und Kroatien jedoch logischerweise gegensätzlich, um nicht zu sagen feindselig gegeneinander gerichtet; immerhin führten die beiden Nationen im Zuge der betreffenden Ereignisse ja Krieg gegeneinander. Auch unter dem Gesichtspunkt einer ,Revolutionsgeschichtsschreibung‘ fällt die Deutung radikal gegensätzlich aus: Die Akteure in

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Ungarn waren revolutionär, jene in Kroatien konterrevolutionär orientiert. Dies spielt jedoch in den jeweiligen Geschichtsnarrativen keine Rolle, da es in diesen nicht um die demokratischen Forderungen der Revolution wie Rechtssicherheit, Verfassung, Parlamentarismus und Pressefreiheit geht, sondern – in diesem Punkt eben übereinstimmend – praktisch ausschließlich um die ,nationale‘ Deutung der Ereignisse als wichtige Markierung auf dem Weg zu einem eigenen Nationalstaat. Eben hier liegt der grundlegende Unterschied zum kollektiven Gedächtnis in der heutigen österreichischen Gesellschaft, in dem die Revolution von 1848/49 keinen Platz hat. Eine ,österreichische Nationalgeschichte‘, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein oder noch weiter zurück reicht, lässt sich nicht sinnvoll als Erfüllung einer linearen Entwicklung hin zum heutigen österreichischen Staat erzählen. Dazu kommt, dass die Revolutionäre in den deutschsprachigen Gebieten der Monarchie, und damit im heutigen Österreich und in der Haupt- und Residenzstadt Wien, durchwegs deutschnational waren: Vor allem nach 1945, als sich das wieder unabhängige und eigenstaatliche Österreich mit Nachdruck von allem absetzte, das in seiner Geschichte allenfalls als ,deutsch‘ aufgefasst hätte werden können, war dies ein denkbar schlechter Leumund. Damit unterschied sich die Situation in Österreich auch in auffälliger Weise von jener in Deutschland: Nach 1945 suchte man dort in der deutschen Geschichte nach positiven Anknüpfungspunkten für einen demokratischen Neuanfang. Da der damals viel strapazierte ,deutsche Sonderweg‘, die verspätete Bildung eines Nationalstaates unter preußischer Dominanz, vielfach bereits als Anfang des Weges in die ,deutsche Katastrophe‘ aufgefasst wurde, griff man in programmatischer Weise auf die Revolution von 1848/49 mit dem ersten deutschen Parlament (Paulskirche) als Bezugspunkt zurück. Anders als in Ungarn und Kroatien waren es im Nachkriegs-Deutschland gerade nicht der nationale Gehalt der Revolutionsereignisse, sondern die demokratischen Elemente, auf die man sich bezog: Insofern ist es verständlich, dass es hier keinerlei Ansätze zur Heroisierung einzelner historischer Akteure von 1848 gab; diese setzte teilweise später in der DDR unter anderen Gesichtspunkten ein. Das Fehlen solcher klarer Identifikati-

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onsfiguren und damit des emotionalen nationalen Elements führte freilich auch dazu, dass die Bezugnahme auf die ,demokratischen Wurzeln‘ der Jahre 1848/49 weitestgehend ein intellektuelles Konstrukt ohne tiefergehende Verankerung in der Gesellschaft blieb. Wenn es im kollektiven Gedächtnis des heutigen Deutschland so etwas wie eine Erinnerung an die Revolution gibt, so handelt es sich im Regelfall um regionale Bezüge. In Österreich fehlt es dagegen nicht nur an einer gesellschaftlichen Erinnerung an die Revolution, im Prinzip setzt so etwas wie ein kollektives Gedächtnis im politischen Sinn überhaupt erst mit der Gründung der Republik im Jahr 1918 ein. Was zeitlich davor liegt, ist zum Teil noch im familiären Gedächtnis aufgehoben, in der Erinnerung an Herkunftsorte von Groß- oder Urgroßeltern, die aus den (anderen) Kronländern in das Gebiet des heutigen Österreich kamen, weiters in soziokulturellen Praktiken wie etwa der gemeinsamen zentraleuropäischen Kochkultur5 und in Kunst, Musik und Literatur. Sehr zu Recht hat der Triestiner Germanist Claudio Magris in seiner berühmten Studie über den Habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur bereits vor einem halben Jahrhundert konstatiert: „In den Augen der heutigen Generation scheint der Zauber des alten Österreich, wie er von Dichtern und Schriftstellern so überfein heraufbeschworen wurde, das tatsächliche Bild dieser Welt verdrängt zu haben, so daß die Donaumonarchie nun mehr das Reich Werfels, Roths oder Musils als jenes der Staatsmänner Berchtold und Tisza ist.“6 Damit einher gehe, so Magris, ein „Prozeß der Sublimierung einer konkreten Gesellschaft in eine malerische, sichere und geordnete Märchenwelt“7. Zu dieser „Märchenwelt“ gehört insbesondere der nach anfänglicher Distanzierung mittlerweile seit Jahrzehnten zunehmende „Kult“ um die Angehörigen der kaiserlichen Familie, um den „guten alten Kaiser“ Franz Joseph8, um die schöne und eigenwillige Sisi, den unglücklichen Kronprinzen Rudolf und den tragischen Thronfolger Franz Ferdinand, aber auch um andere, weniger prominente Mitglieder des Erzhauses. Teilweise im Stil der Berichterstattung der illustrierten Klatschpresse gehalten, zu deren Lieblingsobjekten die heutigen Königs- und Fürstenhäuser gehören, scheint so gut wie alles aus dem

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privaten und privatesten Bereich von allgemeinem Interesse für die Öffentlichkeit und von Verwertbarkeit für die Tourismusindustrie zu sein. Vollends vergessen sind demgegenüber die gestaltenden politischen Akteure der Zeit nach 1848: Opportunisten wie Alexander von Bach, der sich binnen kurzem vom Parteigänger der Revolution zum Vollstrecker der Reaktion wandelte, aber auch jene ehemaligen Anhänger der Revolution, die letztendlich in einem jahrzehntelangen ,Marsch durch die Institutionen‘ zumindest einem Teil der revolutionären Ideale, wie dem Parlamentarismus, der Verfassungsmäßigkeit der Machtausübung und der Pressefreiheit, zum Durchbruch verhalfen. Dass heute im Allgemeinen Bewusstsein der ,gütige‘ alte Kaiser Franz Joseph als Garant jener liberalen Ordnung gilt, deren Einführung er nach Kräften zu verhindern versucht hatte und die ihm letztlich nur aufgrund der politischen Schwächung des absolutistischen Regimes durch militärische Niederlagen abgerungen werden konnte, während von den tatsächlichen ,Architekten‘ des liberalen Verfassungsstaates und des Parlamentarismus, wie etwa Anton von Schmerling (1805– 1893), einer breiteren Öffentlichkeit nicht einmal die Namen geläufig sind, ist allerdings bemerkenswert.9 Letztendlich dürfte es gerade diese ,Geschichtsvergessenheit‘ der österreichischen Gesellschaft sein, genauer die Ausblendung des tatsächlich politisch-gestaltenden Elementes und die Konzentration auf das Malerisch-Repräsentative der Machtausübung einerseits und das Private und Anekdotische andererseits, die dazu beigetragen hat, dass, insbesondere in der ehemaligen Haupt- und Residenzstadt Wien, bis zum heutigen Tag zahlreiche Formen vorrepublikanischer obrigkeitlicher Machtausübung wie parafeudale Klientelwirtschaft und höfisches Gehabe unreflektiert weitergeführt werden. Anmerkungen

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Vgl. Eva Macho, Alexander Freiherr von Bach. Stationen einer umstrittenen Karriere, Frankfurt am Main 2009. Vgl. Dunja Rihtman-Auguštin, The Monument in the Main City Square: Constructing and Erasing Memory in Contemporary Croatia, in: Maria Todorova (ed.), Balkan Identities. Nation and Memory, London 2004, S. 180–196. – Vgl. auch allgemein

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Ludwig Steindorff, Schichten der Erinnerung. Zur Klassifizierung von Gedächtnis­ orten in Kroatien, in: Rudolf Jaworski/Jan Kusber/Ludwig Steindorff (Hg.), Gedächtnisorte in Osteuropa. Vergangenheit auf dem Prüfstand, Frankfurt am Main 2003, S. 157–182. Späte Genugtuung für Batthyány. Budapest bereinigt Liste seiner Ehrenbürger, in: Neuer Pester Lloyd, 25.3.2011, www.pesterlloyd.net/2012_12/12ehrenbuerger/12eh renbuerger.html (abgerufen am 15.1.2016). Zur Gedächtnispolitik in Ungarn vgl. u. a. Tamás Hofer (ed.), Hungarians Between „East“ and „West“. Three Essays on National Myths and Symbols, Budapest 1994. – History – Image. Selected Examples of the Interplay Between Past and Art in Hungary. Guide to the Exhibition of the Hungarian National Gallery, Budapest 2000. – György Dalos, Ungarn. Mythen – Lehren – Lehrbücher, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, Leipzig 22001, S. 528–556. Vgl. Moritz Csáky/Georg-Christian Lack (Hg.), Kulinarik und Kultur. Speisen als kulturelle Codes in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar 2014. Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Salzburg 1966, S. 239. Ebd. S. 9. Vgl. Peter Stachel, Franz Joseph Superstar, in: Johannes Feichtinger/Elisabeth Großegger/Gertraud Marinelli-König/Peter Stachel/Heidemarie Uhl (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen, Innsbruck u. a. 2006, S. 93–103. Vgl. mehrere Beiträge in: Franz Adlgasser/Jana Malínská/Helmut Rumpler/Luboš Velek (Hg.), Hohes Haus! 150 Jahre moderner Parlamentarismus in Österreich, Böhmen, der Tschechoslowakei und der Republik Tschechien im mitteleuropäischen Kontext, Wien 2015.

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Dass die Moderne um 1900 das Bild Wiens heute entscheidend prägt, ist nicht selbstverständlich: ‚Wien um 1900‘ wurde erst in den 1980erJahren ‚erfunden‘, und sein Entdecker war ein amerikanischer Historiker: Carl E. Schorske hat Wien und der Welt das Fin-de-Siècle Vienna neu erschlossen. Carl E. Schorskes Buch Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture1, erschienen 1980, hat der Welt und vor allem Wien selbst Wien neu interpretiert. An die Stelle eines rückwärtsgewandten Bildes der ehemaligen Residenzstadt, das den Glanz der alten Kaiserstadt beschwor, einer ,Welt von gestern‘, trat das Bild einer Stadt, in der vieles neu und zum ersten Mal gedacht worden war – das Wien Sigmund Freuds, Adolf Loos’, Arnold Schönbergs, Gustav Klimts und Egon Schieles. Das war eine Kehrtwende in der Wahrnehmung und im Selbstverständnis Wiens: vom Museum zur Zukunftswerkstatt.2 Wendelin Schmidt-Dengler hat seine Laudatio anlässlich der Verleihung des Wittgenstein-Preises der Österreichischen Forschungsgemeinschaft an Carl Schorske im Jahr 2004 dementsprechend Wien Wien erklären betitelt. Keine einfache Aufgabe, wenn man an die in höchstem Maß klischierten, oft unreflektierten, durch Selbstüberschätzung geprägten Selbstdiagnosen mit dem trivialen Nenner ,es gibt nur a Kaiserstadt, es gibt nur a Wien, Wien bleibt Wien‘ denkt. Schorske selbst war eine in höchstem Maß bescheidene Persönlichkeit. Die Ehre bestand für ihn – wie ich vermute – vor allem darin, dass seine Ideen, die er in seinen Forschungen konkretisiert hat, bei den jüngeren Kolleginnen und Kollegen weltweit auf einen so fruchtbaren Boden gefallen sind, dass er so viel angeregt, in bestem Sinne angestiftet hat.

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Von Hans Hollein gestaltete Fassade des Künstlerhauses Wien anlässlich der Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien Traum und Wirklichkeit. Wien 1870–1930 vom 28.3.–6.10.1985. © Archiv Hans Hollein/Georg Riha

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Schorske verfügt wie nur wenige Geistes- und Kulturwissenschaftler wie zum Beispiel Eric Hobsbawm oder Richard Sennett über die seltene Fähigkeit, Politik, Wirtschaft, Philosophie, Kunst und Kultur nicht nur in ihren Eigendynamiken, in ihren Einzelgeschichten, sondern in ihrer Verflechtung, in ihren Interdependenzen zu sehen, zu interpretieren und darzustellen. Obwohl für Schorske Geschichte, History, eine Schlüsseldisziplin ist, unterwirft er nicht alles dieser historischen Betrachtungsweise. Er analysiert und würdigt vielmehr die ästhetischen Phänomene, die ihm ein besonderes Anliegen sind, in ihrer Eigenständigkeit und in ihrer Geschichtlichkeit. Es ist ein merkwürdiges Faktum, dass sowohl für die Selbst- als auch für die Fremdbeschreibungen Wiens in den letzten Jahrhunderten charakteristisch war und ist, dass Wien als fremd, exotisch, anders wahrgenommen wird. Wichtig war Beobachtern und Beschreibern mit dem Blick auf Wien, die Abweichung von einer nicht näher definierten Norm zu registrieren. Das zeigen fast alle Reiseberichte über Wien bis in die Gegenwart. Dieses Phänomen lebt selbst noch in dem Marketingsatz des WienTourismus ‚Wien ist anders‘ weiter. Es könnte daran liegen, dass in der Haupt- und Residenzstadt Wien nach der gewaltsamen Beendigung der Ersten Wiener Moderne nach dem Tod Leopolds II. im Jahr 1792, nach der Ära der Unterdrückung und Zensur in der Metternichzeit und im Neoabsolutismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein selbstbewusstes bürgerliches Selbstverständnis, eine selbstbewusste Identität kollektiv und individuell nur schwer zu finden war. Das Gegengewicht zum reaktionären Obrigkeitsstaat, wie er sich in der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert formierte, war jedenfalls nicht politischer Widerstand. Es war eine intellektuelle und kunstaffine Kultur; und es waren die differenzierte Fragen stellenden Künste. Sie gaben keine eindeutigen Antworten, stellten keine klaren Forderungen, sie waren Instanzen der Öffnung und ein Ferment der Erneuerung. Wien war unter diesem Aspekt tatsächlich anders als die meisten anderen Städte Europas. Aber auch die zum Klischee geronnenen Wien-Bilder, die vielfach eine bisweilen recht penetrante ‚Mir-san-mir‘-Haltung zum Ausdruck

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brachten, nahmen für sich das Besondere, das Einzigartige, das Exotische, das Andere in Anspruch. Die Vorstellung einer scheinbar guten alten Zeit war offenbar so gut eingespielt, dass diese Bilder der Gemütlichkeit, Beschaulichkeit, einer glanzvollen alten Kaiserstadt mit flotten Offizieren und süßen Mädeln auch gerne und unkritisch von außen übernommen wurden. Nach 1945 hat Österreich seine Geschichte noch einmal mit den Narrativen und Diskursen der habsburgischen Monarchie rekonstruiert und erzählt. In dieser von Hof, Kirche, Militär, Dynastie und Kaiser geprägten Gesamtkultur war für Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Sigmund Freud, Gustav Mahler, Hugo Wolf, Adolf Loos, Arnold Schönberg, Josef Hoffmann, Gustav Klimt, Egon Schiele, für das Widersprüchliche und Neue in ihrem Werk, nur wenig Platz. Es gab einen massiven Widerspruch zwischen dem höfisch-aristokratischen Wien und der Wiener Moderne. In beiden Welten konnte man nicht zu Hause sein. Diese Koexistenz gibt es ja nur in selbstironischen Sätzen des Inhalts ‚wir sind kaisertreu, aber auch demokratisch, das macht uns Wiener beliebt und sympathisch‘. So ging die Wiener Moderne, deren Bedeutung den Zeitgenossen der Jahrhundertwende durchaus bewusst war, an der Stadt und ihrer Selbstwahrnehmung nach 1945 einigermaßen spurlos vorüber. Die Werke von Gustav Klimt, Egon Schiele, Oskar Kokoschka waren noch in den 60er-Jahren in den Auktionshäusern zu unglaublich günstigen Preisen zu ersteigern. Die Persönlichkeiten der Wiener Moderne waren mögliche Kandidat/inn/en für den Vorwurf der Nestbeschmutzung. Freud mit seiner Triebtheorie, Schiele mit seinen erotischen Zeichnungen, Schönberg mit seiner atonalen Zwölftonmusik .... Und das alles – so die habsburger- und kaisertreue Interpretation – in einer Stadt mit so süßen Wienerliedern und so guten Mehlspeisen und einer so guten Propaganda dafür. Das Votum von Qualtingers Travnicek zu den Werten der Wiener Moderne wäre festgestanden: ‚Wos brauch ma des?‘ Dann kam in den 1970er-Jahren ein amerikanischer Professor, Carl E. Schorske, und zeigte in Aufsätzen und dann in einem Buch, das 1980 erschien und ein Jahr später den Pulitzer Preis errang, dass das alte,

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tradierte, obrigkeitsstaatlich geprägte Wien-Bild nicht wiedergibt, was Wien zwischen 1870 und 1930 tatsächlich war: eine Kunst- und Kulturstadt, eine Wissenschafts- und Theoriestadt, in der es ein pulsierendes intellektuelles Leben, Diskussionscafés und Salons und impulsgebende Wiener Kreise gab: Adelheid Popp, Alfred Adler, Leo Trotzky, Friedrich Austerlitz um Viktor Adler; Rosa Mayreder, Lou Andreas Salomé, Wilhelm Stekel, Carl Gustav Jung, Otto Rank, Fritz Wittels um Sigmund Freud; Albert Ehrenstein, Berthold Viertel, Alban Berg um Karl Kraus; Joseph Schumpeter und Rudolf Hilferding um Eugen Böhm-Bawerk; Robert Musil und Ludwig Wittgenstein um Ernst Mach; Alban Berg, Anton Webern und natürlich Alma Mahler um Arnold Schönberg; Richard Beer-Hoffmann, Hermann Bahr um Arthur Schnitzler; Koloman Moser, Egon Schiele und Alfred Roller um Gustav Klimt; Bruno Walter, Richard Strauss um Gustav Mahler und so weiter und so fort. Das Wien-Bild der Sissi-Filme mit den bewährten Narrativen des höfisch-aristokratisch-katholischen Wien wurde in den 1970er-Jahren zurückgedrängt. Es bekam fundierte Konkurrenz. Erwähnenswert und erklärungsbedürftig ist, dass Carl E. Schorskes Befund, so prägnant, differenziert, eindrucksvoll und anregend er auch war, Jahre benötigte, bis er wahrgenommen wurde. Und es gab ja neben Schorskes Buch noch die Werke von William M. Johnston3 und Edward Timms4, noch zwei angelsächsische Forscher, die mutatis mutandis den Befund Schorskes unterstrichen. In Wien interessierten sich vorerst nur wenige für diese ‚Entdeckung‘. Die ‚Mir-san-mir‘-Mentalität fatalistischer Wien- und Weinseligkeit – ‚es wird a Wein sein, und mia wean nimmer sein‘ – war zunächst durch das Postulat Carl E. Schorskes einer Wiener Moderne, die kritisch, satirisch und alles andere als gemütlich war, gekränkt. Ab Mitte der 1980er-Jahre waren Wirkung und Verbreitung des spannenden Befundes nicht mehr aufzuhalten. 1985 fand im Künstlerhaus die legendäre Ausstellung Traum und Wirklichkeit statt, für die Hans Hollein Präsentation und Gestaltung konzipierte. Carl E. Schorske verfasste für den 800 Seiten umfassenden Katalog den Einleitungsbeitrag, der das Thema ausführlich begründete.5 Im Jahr da-

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rauf, 1986, fand im Pariser Centre Pompidou die Ausstellung Vienne 1880–1938: L’apocalypse joyeuse6 statt. Ende der 1980er-Jahre sprang der Analysefunke, der von Schorske ausgegangen war, auch auf die österreichische Forschung über. Der bislang umfangreichste Sonderforschungsbereich des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich wurde zur Erforschung der Wiener Moderne gestartet. Moritz Csáky war der Anchorman dieses Projektes. 1992, vor mehr als 20 Jahren, wurde das IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften gegründet, das ein Jahr später, 1993, seine operative Arbeit aufnahm. Eben dort war Carl E. Schorske fünf Jahre lang Chef des wissenschaftlichen Beirats, der ein wesentliches Entscheidungsgremium dieses Institutes ist. Im Jahr 1994 hielt Carl E. Schorske eine Wiener Vorlesung zum Thema Eine österreichische Identität: Gustav Mahler, die 1996 auch als Buch erschien. Im Jahr 2000 erschienen die ebenfalls von Schorske inspirierten Bände Metropole Wien. Texturen der Moderne, herausgegeben von Roman Horak, Wolfgang Maderthaner, Siegfried Mattl, Gerhard Meissl, Lutz Musner und Alfred Pfoser. Nun hatte auch die Wiener Geschichts- und Kulturwissenschaft Schorskes Fragestellungen aufgenommen. Schorskes Werdegang

Carl E. Schorske wurde am 15. März 1915 in New York geboren.7 Schorskes Familie ist väterlicher- und auch mütterlicherseits deutscher Herkunft. Sein Großvater, ein Zigarrenmacher, kam aus Breslau, mütterlicherseits kommt Schorske aus einer New Yorker, ebenfalls aus Deutschland eingewanderten Familie. Sein Vater, ein Bankier, war eine sehr schillernde und auch widersprüchliche Persönlichkeit. Er war Freidenker, wurde Sozialist und war Gegner des Kriegseintritts der USA in den Ersten Weltkrieg. So wuchs Schorske in einem politisch sehr lebendigen und engagierten Haus auf. Und auch das Interesse für Kunst entwickelte sich schon früh. Eigentlich wollte Schorske ja Sänger werden. Diesen Berufswunsch hat er nicht verwirklicht. Das Interesse an Oper und Gesang und der Forschungsgegenstand Musik sind geblieben.

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Von 1932 bis 1936 absolvierte er das Undergraduate-Studium an der Columbia University in New York, 1936 ging er für seine Graduate Studies nach Harvard, wo er nach der Unterbrechung durch den Zweiten Weltkrieg 1950 den Ph.D. erwarb. An der Columbia University belegte er Vorlesungen bei Jacques Barzun zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Von diesem Lehrer erhielt er wichtige Impulse zu Verknüpfungen zwischen Geistes-, Musik- und Politikgeschichte. 1939 lernte Schorske Elizabeth Rorke, eine Absolventin des mit Harvard verbundenen Mädchencolleges, kennen. Seit 1941 waren die beiden verheiratet und wurden Eltern von fünf Kindern. Nach dem Kriegseintritt Amerikas 1942 war Schorske bis 1946 im Research and Analysis Branch des Office of Strategic Services tätig. Dort lernte er auch seinen späteren Doktorvater in Harvard, William Langer, kennen. Bei ihm verfasste er seine Dissertation German Social Democracy 1905 to 1917 und promovierte 1950. Die Arbeit erschien 1955 bei Harvard University Press; und mit Verspätung erschien sie im Jahr seines Pulitzer-Preises 1981 unter dem Titel Die große Spaltung. Die deutsche Sozialdemokratie 1905–1917 auch in deutscher Sprache. Seine erste universitäre Stellung fand Schorske an der Wesleyen University in Connecticut. In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre entwickelte sich sein Interesse aus dem engeren Bereich der Politikgeschichte heraus und öffnete sich in eine umfassendere geistes- und kulturwissenschaftliche Perspektive. Schorske begannen nun immer stärker die Triebkräfte und Ambivalenzen der Kultur der Moderne zu interessieren. Er hielt zu diesen Fragestellungen Lehrveranstaltungen zu den Metropolen London, Paris, Berlin und Wien. Und er fasste den Vorsatz, zu seinem Thema in einer der Städte eine Fallstudie zu machen. Seine Entscheidung fiel auf Wien. Ausgerechnet im Mai 1955, im Jahr des Staatsvertrages, war Schorske zum ersten Mal in Wien und besichtigte sein zukünftiges Forschungsobjekt. Im Jahr 1961 veröffentlichte er seinen ersten Text zum Thema: Politik und die Psyche. Über Schnitzler und Hofmannsthal.

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1960 nahm Schorske eine Professur an der University of California in Berkeley an, wo er bis 1969 blieb. Ende der 1960er-Jahre war Berkeley eines der Zentren der Anti-Vietnam-Bewegung. Heftig wurde über die Grenzen der politischen Rede- und Aktionsfreiheit diskutiert. Schorske und einige seiner Kollegen setzten sich für eine größtmögliche Redefreiheit ein. Dabei ist zu sagen – und das haben mir alle Kolleginnen und Kollegen, mit denen Schorske in welcher Form auch immer zusammengearbeitet hat, erzählt –, dass eines der ausgeprägtesten Persönlichkeitsmerkmale Schorskes seine Fähigkeit ist, zusammenzuführen, eine Synthese zu finden. Also nicht Konfrontation und Polarisierung, sondern Bündelung, Synthese und Integration. Diese Fähigkeit spiegelte sich deutlich in seiner Lehre. Er war nie der klassische Kathederprofessor, sondern daran interessiert, in seinen Lehrveranstaltungen Diskussionen in Gang zu bringen, zum Beispiel mit dem Modell von Satellitenseminaren, die Tutoren rund um seine Vorlesung gestalteten. Ein akademisches Jahr, 1967/68, verbrachte Schorske am Princetoner Institute of Advanced Studies und 1969 übersiedelte er ganz nach Princeton und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung 1980. Seit seiner Emeritierung sind 35 Jahre vergangen und Schorskes intellektuelle Saat hat reiche Früchte getragen. Zurück zu seinem Hauptgegenstand, zu Wien, und zu seiner Analyse von Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle. In der Einleitung des Buches bringt er seine Forschungsergebnisse auf den Punkt: „Wien im Fin de siècle mit dem scharf empfundenen Beben seiner sozialen und politischen Desintegration erweist sich als eine der fruchtbarsten Brutstätten der ungeschichtlichen Kultur unseres Jahrhunderts. Wiens große geistige Neuerer – in der Musik und der Philosophie, in der Volkswirtschaft und der Architektur und natürlich in der Psychoanalyse – brachen alle mehr oder weniger entschieden ihre Bindung an die historische Anschauung ab, die wesentlich war für die liberale Kultur des 19. Jahrhunderts, in welcher sie erzogen wurden.“8

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Schorske zeigt, wie in den verschiedenen Bereichen des kulturellen Lebens das Neue entstand, ja entstehen musste. Obwohl sich Schorske mit ungeheurer Kompetenz, Sach- und Personenkenntnis in den einzelnen Disziplinen der Literatur, der Musik, der bildenden Kunst, der Architektur, der Psychologie und der Psychoanalyse bewegt, wird nie – und das ist wohl eine der großen Stärken dieses Buches – die Vision einer Ganzheit suggeriert, wo es diese eben nicht gibt, wo sich diese nicht einstellt. Eine seiner Erklärungen für den für Kunst und intellektuelle Kultur in Wien so fruchtbaren Humus ist besonders interessant und provoziert besonders viele weitere Fragen: Schorske sagt, und ich zitiere ihn, dass es hier ‚die ungewöhnliche Kombination von Provinzialismus und Kosmopolitismus, Traditionalismus und Modernismus‘ gegeben habe. Diese bemerkenswerte Mischung, vielleicht auch Dialektik, hat der in Wien geborene (und 2015 in Wien verstorbene) Frederic Morton, der sein Leben als go between zwischen New York und Wien verbracht hat, immer wieder thematisiert. Seine erste Wiener Vorlesung hatte den Vortragstitel: Das provinzielle Wien, Geheimquelle des schöpferischen Wiens. Aber sicherlich war auch Frederic Morton von Carl Schorske geprägt. Das Eindrucksvolle, Anregende, methodisch und wissenschaftlich Zukunftsweisende an Schorskes Arbeit ist, dass Schorske entgegen den häufig formal-ästhetisch orientierten und argumentierenden kunsthistorischen Disziplinen ständig deren gesellschaftliche Bezüge thematisiert. Und trotzdem lässt er den Künsten ihren Eigensinn und stellt sie nie in eine einseitige Abhängigkeit von Gesellschaft und Ökonomie. Durch Walter Benjamins Passagenwerk wurde Paris zur Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Wien wurde durch Schorskes Buch jedenfalls für den Zeitraum von 1870 bis 1934 zur Hauptstadt der Jahrhundertwende. Sein Buch und die zahlreichen Forschungsprojekte, Tagungen und Diskussionen, die Carl Emil Schorske angeregt hat, erklären das Zukunftslabor, das Wien in diesem Zeitraum fraglos war. Vieles wurde erstmals gedacht und in intellektuellen Konzepten, in Kunstwerken, Kunstkonzepten und in Lebensformen, die der Sehnsucht nach Einfachheit, Freiheit, Gleichheit und Solidarität verpflichtet waren, umgesetzt.

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Durch Schorske wurde ,Wien um 1900‘ im Städtewettbewerb, der seit den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts immer schärfer wurde, auch Trademark für ein erfolgreiches City-Branding. Eine Trademark, die – das möchte ich sehr persönlich sagen – viel sympathischer, offener, diskussionsadäquater und demokratienäher ist als die alten Narrative und Diskurse der höfisch-katholischen Kaiserstadt. Der Wiener Gemeinderat hat am 23. November 2011 die Verleihung der Ehrenbürgerschaft an Carl E. Schorske beschlossen. Am 25. April 2012 wurde ihm die Ehrenbürger-Urkunde im Stadtsenatssitzungssaal des Wiener Rathauses überreicht. Am 13. September 2015, ein halbes Jahr nach seinem 100. Geburtstag, ist Carl E. Schorske verstorben. Anmerkungen 1 2 3

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Carl E. Schorske, Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture, New York 1980, zwei Jahre später in deutscher Übersetzung erschienen: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt am Main 1982. Siehe dazu ausführlicher: Hubert Christian Ehalt/Friedrich Stadler/Edward Timms/Heidemarie Uhl, Schorskes Wien: Eine Neuerfindung (Wiener Vorlesungen im Rathaus 167), Wien 2012, S. 13–35. William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848–1938, Wien/Köln/Weimar 1974. Edward Timms, Karl Kraus – Apocalyptic Satirist: Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna, New Haven 1986. Carl E. Schorske, Österreichs ästhetische Kultur 1870–1914 – Betrachtungen eines Historikers, in: Traum und Wirklichkeit. Wien 1870–1930 (93. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien), Wien 1985, S. 12–25. Jean Clair (Hg.), Vienne 1880–1938. L’apocalypse joyeuse, Paris 1986. Dieser Teil des Beitrags beruht auf der Laudatio, die der Autor anlässlich der Überreichung der Ehrenbürgerurkunde am 25. April 2012 für Carl E. Schorske im Stadtsenatssitzungssaal des Wiener Rathauses hielt. Schorske 1982, S. VIII.

Theatermacher Elisabeth Großegger

Die Theater in Zentraleuropa zeichnen sich gegenüber anderen Theaterformen durch eine Repertoiretheater-Struktur aus, die den programmatischen Überlegungen der deutschen Aufklärer des 18. Jahrhunderts geschuldet ist. „Was hier / in dieser muffigen Atmosphäre / Als ob ich es geahnt hätte […]“ – poltert der Theatermacher Bruscon über die Bühne des Schwarzen Hirschen in Utzbach. Bruscon vereinigt in seiner Person alle einem Theatermacher zugeschriebenen Charaktereigenschaften: er ist autoritär, mitleidlos, größenwahnsinnig und utopiebesessen. Mit diesem Theatertext Thomas Bernhards leitete Claus Peymann am 1. September 1986 seine Direktion am Wiener Burgtheater programmatisch ein. Vom aufgeklärten Feuilleton wurde der Eröffnungssatz als ein Versprechen genommen, frischen Wind durch die vermeintlich heiligen Hallen dieses ‚ersten deutschen Theaters‘ wehen zu lassen; von den Anhängern eines im ‚habsburgischen Mythos‘ befangenen Hoftheaters jedoch wurde er als Bedrohung empfunden und mit Widerstand an allen Fronten bekämpft. Zweihundertzehn Jahre zuvor, 1776, hatte Kaiser Joseph II., auch er ein Theatermacher in der langen Geschichte des Hauses, das finanziell bankrotte Theater nächst der Burg am Wiener Michaelerplatz als ‚teutsches Nationaltheater‘ reorganisiert. Die Umstrukturierung vom höfischen zum öffentlichen Theater hatte bereits seine Mutter Kaiserin Maria Theresia kurz nach ihrem Amtsantritt vollzogen. Joseph II. wies dem Theater nun eine Schlüsselrolle in einem neuen kulturellen Konzept zu: dem der ‚deutschen Aufklärung‘. Es blieb Hoftheater durch die kaiserliche administrative und finanzielle Verwaltung, die

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Elisabeth Großegger

K. k. Hofburgtheater an der Wiener Ringstraße, um 1900. © Library of Congress, Fotograf unbekannt

Theatermacher

allerhöchsten Anordnungen und die Nähe zur Hofburg (mit direktem Zugang zu den kaiserlichen Logen); zugleich erfüllte es durch ein fest engagiertes Schauspieler-Ensemble, die Schaffung eines Repertoriums und die Bildung eines Zielpublikums programmatisch alle Ansprüche der Aufklärer an ein ‚Nationaltheater‘. In den Theaterjournalen wurde dem Theater nächst der Burg waches Interesse gezollt. Unter den Nationaltheater-Experimenten der Zeit erwies es sich als erstes Theater von Bestand. Wegen der Unmittelbarkeit und direkt erkennbaren Wirkung auf ein Publikum galt den Programmatikern der ‚deutschen Aufklärung‘ das Theater als das bevorzugte Medium zur „Erziehung des Menschengeschlechtes“ (Lessing) zu mündigen, mit Verstand begabten Bürgern nach Kants Wahlspruch „Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Theatermacher trugen dazu bei, dass die Gesellschaft offener wurde, das Prinzip Hoffnung sich entfaltete: mit Theater, mit Kunst, mit Sensibilisierung gegen die Widrigkeiten der Realität lernte das Publikum zu denken. Rückblickend lässt sich festhalten: Theatermacher eröffneten jenen ‚Möglichkeitsraum‘, der gesellschaftliches Probehandeln als Utopie vorführte. Sie entwarfen utopische Orte, Orte des „Noch-Nicht“ (Ernst Bloch), Orte der sich konkretisierenden Utopie. Das Theater wurde unter ihrer Anleitung zum „dramatischen Laboratorium“ (Walter Benjamin)1, zur „paradigmatischen Anstalt“, wo „Proben aufs Exempel“ (Ernst Bloch) veranstaltet werden.2 Was denkmöglich wurde, konnte auch Realität werden. Dies natürlich nur in kleinen Dosen und Schritten. Daneben stand Unterhaltung: „Kein Theater hat es bis jetzt vermocht, ausschließlich das Werthvolle zu geben, oder eine bestimmt ausgesprochene Richtung, mit Hintansetzung jeder andern Gattung, zu verfolgen!“3 Dieses Bedürfnis nach Unterhaltung ermöglichte die hohe Qualität der Schauspielkunst. Die soziale Energie, die zwischen Zuschauerraum und Bühne wechselseitig flutet, wuchs durch jungfräuliche Erwartung: „Im Burgtheater sind die harmlosen Abende die hübschesten, [...] ehe der Vorhang emporging, war das Publicum in einer unbefangenen, weil begierdelosen Stimmung, welche so wohlthätig als geheimnisvoll sich den Schauspielern mittheilt und

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dann angenehm verstärkt zu den Zuschauern zurückkehrt.“4 Als Ort der Öffentlichkeit wurden die Theater unentbehrlicher Bestandteil des öffentlichen Lebens im städtischen Raum. Bereits hundert Jahre vor der aus der ‚deutschen Aufklärung‘ entstandenen Nationaltheaterbewegung hatte ein anderer europäischer Monarch, Ludwig XIV., die Comédie française als subventioniertes Theater für die Öffentlichkeit gegründet; auch die Comédie française verfügte über ein fixes Ensemble, das täglich spielte. Im Unterschied zum Theater nächst der Burg lag das theatralische Primat aber auf vorbildlichen Aufführungen eines Repertoires der doctrine classique, die in der Einheit von Handlung, Zeit und Ort bestand. Neben dem heimischen Publikum sollte diese Regelhaftigkeit auch allen kultur­ interessierten Nationen als Leitkultur vermittelt werden. Während der Französischen Revolution wurde die Comédie française 1793 per Verordnung des so genannten Wohlfahrtsausschusses geschlossen, die Schauspieler wurden verhaftet. Erst sechs Jahre später hob die neue Regierung diesen Beschluss auf und erlaubte weitere Vorführungen des wiedervereinigten Ensembles. Manche Historiker führen es auf den aufgeklärten Absolutismus Kaiser Joseph II. zurück, dass in der Habsburgermonarchie eine Revolution wie in Frankreich ausgeblieben war. Im Revolutionsjahr 1848 erinnerte man sich bewusst an die Regierungszeit Kaiser Joseph II. und setzte erneut das ‚Nationaltheater‘ neben das ‚Hoftheater‘ auf den Theaterzettel, der nun erstmals von der Zensur lang verhinderte Theaterstücke zur Aufführung ankündigte. Das Nationaltheater in der Konzeption der ‚deutschen Aufklärung‘ war immer der Moderne verpflichtet, während das ‚Hoftheater’ als Traditionsbewahrer fungierte. Theatermacher hatten sich Generationen lang bemüht, ein Welttheater-Repertoire aufzubauen, das die besten Theatertexte sammelte, in mustergültigen Übersetzungen aufbereitete und in wiederholten Vorführungen verfügbar hielt. Shakespeare wurde in den SchlegelTieck-Übersetzungen ein Bestandteil des Repertoriums. Am Burgtheater hatten z. B. Joseph Schreyvogel (1768–1832) und Heinrich Laube (1806–1884) wichtige Beiträge hierzu geleistet: Schreyvogel baute ein literarisches Repertoire systematisch auf und gliederte erstmals

Theatermacher

die spanischen Dramen ein; und Laubes Stolz war es, „jedem Gast aus der Fremde sagen zu können. Bleib ein Jahr in Wien und du wirst im Burgtheater alles sehen, was die deutsche Literatur seit einem Jahrhundert Classisches oder doch Lebensvolles für die Bühne geschaffen: du wirst sehen, was Shakespeare uns Deutschen hinterlassen, was von den romanischen Völkern unserer Denk- und Sinnesweise angeeignet werden kann.“5 Er hatte pro Saison 160 Stücke auf Abruf bereit. Hofmannsthal nannte das „Repertorium“ (1925) „eine Fundgrube [...], daraus Tag um Tag das Altbewährte hervorgenommen und ans Licht gestellt wird. Sechs Generationen nacheinander, von Lessing bis auf uns, haben ein deutsches Repertoire zusammengetragen“.6 Bis heute umfasst das Repertoire als kollektives Gedächtnis mehr als 2500 Jahre. Es ist ein Besitz, den Theatermacher/innen bewahren und in Neuinszenierungen überprüfen. Überall dort, wo die Saat der ‚deutschen Aufklärung‘ keimte, wurde das Burgtheater zum Modell und Vorbild für eigene Stadt- oder Landestheater; kaum eine zentraleuropäische Stadt, die nicht neben Bahnhof und Kirche auch über ein Theater verfügte. Nur sieben Jahre nach der Restrukturierung des Wiener Theaters nahm das Prager Ständetheater in der Altstadt seinen Spielbetrieb auf. Anlässlich der 100-jährigen Zugehörigkeit des Banats zur Habsburgermonarchie eröffnete in der Bergbaustadt Oravița (deutsch Orawitz, ungarisch Oravica, tschechisch Oravice, kroatisch Oravica, serbischkyrillisch Оравица), dem damaligen wirtschaftlichen und administrativen Zentrum des Banater Berglandes im heutigen Rumänien, 1817 eine verkleinerte Kopie des alten Theaters nächst der Burg. Kaiser Franz I. und seine Frau Karoline Auguste waren für die Eröffnungsfeier angereist. Ein eigenes Ensemble hatte das Banater Theater nie; in den folgenden Jahrzehnten zeigten professionelle Truppen aus ganz Europa in Gastspielen das anderswo erarbeitete Repertoire. Daneben bespielten Orawitzer Amateure das Theater und gaben manchmal an einem Abend ein Stück in mehreren Sprachen. Dieselben Schauspieler spielten dann auf Deutsch, Ungarisch, Rumänisch, manchmal auch auf Serbisch.7

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Bis weit ins 19. Jahrhundert reglementierten die in der ‚deutschen Aufklärung‘ konkretisierten Leitgedanken keineswegs die Bühnensprache. Vielmehr ging es um einen Ort der Öffentlichkeit, um allabendliche Begegnungen mit Schauspielerinnen und Schauspielern, die sich in Bühnenfiguren verwandelten und im Möglichkeitsraum der dramatischen Dichtungen Handlungsanleitungen boten. Im Laufe der franzisko-josephinischen Epoche änderte das Nationaltheater seine gesellschaftlich sinnstiftende Bedeutung: das Nationaltheater der Aufklärung war im 18. Jahrhundert ein utopisch inklusives Instrument der ethischen Gestaltung der Gesellschaft gewesen. Das Nationaltheater des 19. Jahrhundert entwickelte sich zum ethnisch exklusiven Instrument der Formung homogener Nationen. Es entstanden neue Bühnen für Aufführungen ausschließlich in den Nationalsprachen. Zu diesem Zeitpunkt war die Sprache in Zentraleuropa zum wesentlichen Distinktionsmerkmal der ‚Nationen‘ geworden. Der nationale Gedanke galt als neues politisches Ordnungsprinzip, und die Verwendung nationaler Sprachen markierte die maximale Differenzierung. Als der Sprachenkonflikt die Politik der späten Habsburgermonarchie beherrschte, galt das Theater als „einzigartiger öffentlicher Ort, wo die jeweilige Muttersprache verwendet werden konnte.“8 Und die Nationaltheater in der jeweiligen Landessprache ergänzten die bereits vielerorts bestehenden deutsch bespielten Stadttheater. Die Mehrzahl der im 19. Jahrhundert errichteten Theaterbauten waren im Architekturbüro Fellner und Helmer entstanden und überzogen den zentraleuropäischen Raum mit einem wiedererkennbaren Theatertypus.9 Bis heute umschließt ein dicht geknüpftes Netz an Theaterbauten das Gebiet Zentraleuropas. Sie werden in den jeweiligen Nationalsprachen, geprägt von den Leitgedanken der Aufklärung, bespielt: mit einem Ensemble, das alte und neue Theatertexte vor einem Publikum zur wiederholten Diskussion stellt. Daraus entstand, jenseits der unterschiedlichen Sprachen, Zentraleuropa als visionärer Raum ähnlicher und geteilter Werte und Erfahrungen, dessen Ausgangspunkt das durch Theatermacher transportierte Gedankengut der Aufklärung war: Vernunft, Fortschritt und freie Entfaltung des Individuums auf der einen Seite und Gefühl und Fantasie in der künstlerischen Produk-

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tion auf der anderen Seite. Ausgangspunkt war aber auch die Fähigkeit einer Utopie anzuhängen und die Fähigkeit gemeinsam zu lachen, sollte diese Utopie scheitern. Anmerkungen 1 2 3 4 5

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Walter Benjamin, Der Autor als Produzent, in: ders., Gesammelte Schriften. Band II, 2: Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 2006, S. 683–701, hier S. 698. Ernst Bloch, Die Schaubühne als paradigmatische Anstalt betrachtet, in: Klaus Lazarowicz/Christopher Balme (Hg.), Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart 2000, S. 566–570. Theater-Lexikon. Theoretisch-praktisches Handbuch für Vorstände, Mitglieder und Freunde des deutschen Theaters, hg. von P. J. Düringer/H. Barthels, Leipzig 1841, S. 923. Feuilleton. Theater und Literatur, in: Die Presse, 14.1.1864, S. 1. Heinrich Laube, Das Burgtheater. Ein Beitrag zur deutschen Theatergeschichte, Leipzig 1868, S. 159. Hugo von Hofmannsthal, Repertoire (1925), in: ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze III 1925–1929, hg. von Bernd Schoeller, Frankfurt am Main 1980, S. 173–175, hier S. 173. Anna Lindner, Ein Theater nächst und fern der Burg, in: Der Standard, 8.10.2013, S. 8. Emil Brix, Architecture and Society in the Late Habsburg Monarchy, in: Jacek Purchla (ed.), Theatre Architecture in the late 19th Century, Cracow 1993, S. 23–28, hier S. 24. Vgl. www.theatre-architecture.eu (abgerufen am 10.1.2016).

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(Kulturelle) Übersetzung Michael Rössner

In seinem Roman Nocturno de Chile (1999), einem Selbstgespräch eines lateinamerikanischen Kritikers und Opus-Dei-Priesters, lässt der chilenische Autor Roberto Bolaño einige Facetten der Pinochet-Diktatur Revue passieren. Dabei erzählt eine Figur die fast märchenhaft dargebotene Geschichte des Heldenbergs und übersetzt so eine Episode mitteleuropäischer Geschichte in das kafkaeske Imaginäre Lateinamerikas. An diesem Beispiel werden Techniken und Wirkungen der kulturellen Übersetzung exemplifiziert. Ausgehend von Homi Bhabhas Kapitel „How newness enters the world“1 hat sich in den letzten zwanzig Jahren eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff der kulturellen Übersetzung entwickelt. Wenngleich gegen seine Verwendung manchmal eingewendet wurde, es handle sich um eine bloße Metapher ohne Erkenntnisgewinn, hat sich der Begriff doch im Rahmen des translational turn in den Kulturwissenschaften als eine wichtige Kategorie, insbesondere zur Beschreibung ethnisch, sprachlich, religiös hybrider Situationen, etabliert. Die kulturelle Übersetzung impliziert dabei stets eine Dekontextualisierung und anschließende Rekontextualisierung von Inhalten, die nicht zu deren spurloser Übernahme in den neuen Kontext führt, sondern vielmehr zu einem fortdauernden Prozess des Aushandelns, bei dem Reste des alten Kontextes und Elemente des neuen in durchaus konfliktiver Weise miteinander wechselwirken und dadurch auch eine Veränderung der ursprünglichen Kontexte bewirken.2 Nach Bhabha geschieht diese Wechselwirkung in einem virtuellen „Third Space“ und führt zu Hybridität, vor allem aber wird sie zum Generator der in seinem Titel angesprochenen „newness“, der ästhetischen

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Heldenberg in der Gartenanlage von Schloss Wetzdorf, Niederösterreich, errichtet 1849 von Joseph Pargfrieder. © Peter Stachel, 2005

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und/oder allgemein kulturellen Innovationen. Dass damit der Begriff von besonderer Bedeutung für das Verständnis des komplexen zentraleuropäischen Kulturraums ist, insbesondere vor dem Beginn der ,ethnischen Säuberungsprozesse‘, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs abgelaufen sind, liegt auf der Hand; Gleiches gilt allerdings auch für die Gegenwartsgesellschaft in diesem geografischen Raum, die von Globalisierungsprozessen und Migrationsströmen geprägt ist – und natürlich auch für Gesellschaften, die schon im 19. Jahrhundert Migrationsgesellschaften waren wie jene Lateinamerikas. Daher bietet es sich an, als Fallstudie ein Beispiel einer kulturellen Übersetzung zu wählen, die diese beiden Räume in Beziehung bringt, wie es in der neueren und neuesten lateinamerikanischen Erzählliteratur oft der Fall ist: Spätestens seit Noticias del Imperio des Mexikaners Fernando del Paso (1978) gehört die Geschichte Mitteleuropas zu den bevorzugten Themen der jüngeren Erzählergeneration. Aber schon bei Fernando del Paso – ebenso wie bei den jüngeren Autoren der ‚Generation Crack‘ – erscheint Mitteleuropa meist als ein geradezu exotischer Kontinent, geprägt von irrationalen Verhaltensweisen, die eine Umkehr des Magischen Realismus anzudeuten scheinen.3 Ist es bei del Paso aufgrund der Gattung des historischen Romans noch das Europa des Ancien Regime, aus dem der mexikanische Kaiser Maximilian kommt, so betrachten etwa Jorge Volpi in Das Klingsor-Paradox (1999) und Ignacio Padilla in Amphitryon (2000) die jüngere Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, wobei vor allem Volpi eine noch kühnere Translation unternimmt: er versucht in seinem Physiker-Roman die Denkweisen der modernen Physik in narratologische Verfahren zu übersetzen. Roberto Bolaños Werk eignet sich für eine solche Analyse nicht zuletzt deshalb, weil er nicht nur das Leitbild der Generation lateinamerikanischer Autoren darstellt, die sich von dem Ghetto des Zwangs zur Darstellung des Eigenen, die meist mit den Verfahren des Magischen Realismus identifiziert wurde, emanzipiert hat, sondern auch selbst ein Autor zwischen den Welten war: geboren in Chile, aufgewachsen in Mexiko, zum bekannten Autor geworden in Spanien, hat Bolaño in seinen Werken stets globale Perspektiven gewählt und seine Schauplätze (etwa in Los detectives salvajes, 1998) über die ganze Welt ver-

(Kulturelle) Übersetzung

teilt, ohne deshalb den lateinamerikanischen Fokus aufzugeben. Sein Roman Nocturno de Chile (1999) ist als eine Art Lebensbeichte eines sterbenden chilenischen Literaturkritikers und Opus-Dei-Priesters konzipiert, der zu einem intellektuellen ‚Mitläufer‘ der Pinochet-Diktatur wurde und paradoxerweise den Junta-Mitgliedern Nachhilfeunterricht im Marxismus zu erteilen hatte. Im Rahmen seiner Erinnerungen kommt der monologisierende Ich-Erzähler in seltsamer Weise auf das Thema des für den Wertehorizont der Militärs konstitutiven Begriff des Helden: Er berichtet zunächst von der Erfindung seines Pseudonyms namens Ibacache, dem er eine besondere Reinheit („pureza“) zuschreibt. Dies führt assoziativ zur Erzählung eines Abends bei dem während der deutschen Besatzung in Paris als Diplomat tätigen Schriftsteller Salvador Reyes, der ihm wiederum von einer Begegnung mit dem Autor Ernst Jünger in Paris berichtet, der von Reyes als Inbegriff dieser Reinheit beschrieben wird. Der Ich-Erzähler habe nach diesem Gespräch, mit dem berühmten Kritiker Farewell durch die nächtlichen Gassen nach Hause gehend, eine pathetische Vision gehabt, in der er ein Gedicht konzipiert, in dem der ‚reine‘ Jünger mit einem Raumschiff in den Anden strandet und im ewigen Eis zum Inbegriff des Helden wird: „… und dass der unversehrte Körper des Helden zwischen den Eiswänden durch den ewigen Schnee bewahrt würde, und dass die Schrift der Helden und im weiteren Sinne die Verfasser der Schrift der Helden an sich schon ein Gesang wären, ein Lobgesang auf Gott und die Zivilisation“.4 Farewell kommentiert diesen Ausritt eher skeptisch: Der andere habe sich wohl allzu sehr von den Worten Reyes‘ beeindrucken lassen, über das Thema der Helden gebe es viel Literatur. Damit führt er ihn in ein Wirtshaus und erzählt nun seinerseits während des üppigen Essens eine Geschichte: die des „Heldenbergs, ein Hügel, der irgendwo in Zentraleuropa liegt, mag sein in Österreich oder in Ungarn“ (NdC 51/52). Der Ich-Erzähler bekundet die Enttäuschung seiner Erwartungshaltung: „… ich dachte, Farewell würde mir etwas […] über Jünger erzählen […] und über die Reise der Helden in die Unsterblichkeit, die nur mit ihren Schriften bekleidet dorthin reisen. Aber was Farewell mir erzählte, war die Geschichte eines Schusters […].“ (NdC 52)

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Diese Geschichte, schon durch die vage geografische Situierung in einen räumlich exotischen Bereich verschoben, wird nun in einer märchenhaften Atmosphäre situiert, in jener des österreichischen Hofes mit seiner „sanften, fast unmerklichen Melancholie von Herbstpalästen, denn das war die Melancholie der Bewohner Österreich-Ungarns, laut Farewell, während die russische Melancholie zum Beispiel die der Winterpaläste war“ (NdC 53). Aus dem realen Armeelieferanten Pargfrieder wird in dieser Erzählung ein Schuster der Elite, der die gute Gesellschaft des europäischen Fin de siècle mit unfassbar dauerhaften und bequemen Schuhen für alle Gelegenheiten (von Stiefeln bis Pantoffeln) ausstattet und damit ein märchenhaftes Vermögen macht, bis er mit seiner fixen Idee von einem grandiosen Heldendenkmal beim Kaiser vorspricht und diesen vor Rührung zum Weinen bringt. Als er den kaiserlichen Segen erhalten hat, macht sich der „Schuster“ sofort in einer ins Irreale übersetzten Landschaft ans Werk, „so wie nur ein Künstler es tun kann, gegen Wind und Wetter, ohne sich um den Regen zu scheren, der oft die Felder unter Wasser setzte, noch um die Gewitter, die über den stahlgrauen Himmel von Österreich oder von Ungarn unerbittlich nach Westen wandern, Gewitter, die wirken, als wären sie Wirbelstürme, magnetisch angezogen von den großen Schatten der Alpen“ (NdC 58). In einer onirischen Szene erscheint der erschöpfte Pargfrieder noch einmal in „Nahaufnahme“, als er, sein Scheitern nahe fühlend, träumt, sein eigenes Herz auf eine „Metallschale mit mykenischen Inschriften gelegt zu haben“ (NdC 59). Dann berichtet die Erzählung nur noch von wachsendem Vergessen und steigert sich in eine Art Zeitraffer hinein: „Es starb der Kaiser. Es kam ein Krieg und es starb das Kaiserreich. Die Musiker komponierten weiter und die Leute gingen ins Konzert. […] Dann kam noch ein Krieg, der schlimmste aller Kriege. Und eines Tages erschienen in dem Tal sowjetische Panzer und der Oberst, der das Panzerregiment befehligte, sah durch seinen Feldstecher aus dem Panzerturm den Heldenberg. […] Und der russische Oberst stieg aus seinem Panzer und sagte, was zum Teufel ist denn das.“ (NdC 60–61)

(Kulturelle) Übersetzung

Er besteigt mit seinen Leuten den Heldenberg und

„[…] sie sahen keine Statuen oder Gräber von Helden, sondern nur Trostlosigkeit und Verwahrlosung, bis sie auf dem Gipfel des Hügels eine Krypta entdeckten, die wie ein Safe aussah, mit einer versiegelten Türe, die sie aufbrachen. Im Inneren der Krypta, auf einem Steinsitz, fanden sie den sitzenden Leichnam des Schusters, die leeren Augenhöhlen, als würden sie nie mehr etwas anderes betrachten als das Tal, über dem sich sein Hügel erhob, die Kinnlade offen, als würde er im Angesicht der Unsterblichkeit noch immer lachen, sagte Farewell. Und dann sagte er: Verstehst du? Verstehst du?“ (NdC 62)

Die Geschichte des Heldenbergs erscheint so in Art einer kafkaesken Parabel, deren Sinn ungewiss ist; aber die Translation lässt zumindest manche Strategien der Wirkung erkennen. Zunächst ist Pargfrieder hier als eine Art Antwort auf Jünger konzipiert, und wohl auch die „Melancholie der Herbstpaläste“ als ein zentraleuropäisches Gegenbild zu den im Text auch zitierten „Stahlgewittern“, insbesondere wenn man bedenkt, dass Chile nicht nur das lateinamerikanische Land mit den meisten deutschen Schulen ist, sondern auch ab 1870 seine Armee von preußischen Offizieren ausbilden ließ. Nicht zuletzt wird daher mit dem Bezug auf die chilenische Militärdiktatur in der ‚reinen‘ Heldenfigur Ernst Jüngers ein Gegensatz zu der quijotesken Figur Pargfrieders die Hohlheit der Slogans zur Pinochet-Zeit beschworen, in der die deutsche Colonia Dignidad im Süden als Folterwerkstatt funktionierte. Wie für Bolaños Erzählstil typisch, dekonstruiert sich damit der Erzählstrom des Protagonisten mit seinen Idealen von Reinheit und Zivilisation selbst. Dies wird auch dadurch deutlich gemacht, dass im weiteren Verlauf des Gesprächs der Ich-Erzähler Formulierungen auf sich selbst anwendet, die zuvor Farewell für den „Schuster“ gebraucht hatte, wenn er etwa sagt, dass „in den Wänden des Restaurants […] Farewell und ich gegen Wind und Wetter weiter standhielten“ (NdC 62, Hervorhebung M.R.) Wenn der Kontext der Translation der Heldenberg-Geschichte in Bolaños Erzählung zu einer intensiven Spannung zwischen den Begriffen Reinheit und Heldentum einerseits, und Verwahrlosung und

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Vergessen andererseits führt, so ist diese Spannung dadurch auch auf das Verhältnis zwischen dem kriegerischen Helden der Tat und der Selbstauffassung des Schriftstellers als Held zu übertragen, die der Protagonist so deutlich zum Ausdruck bringt, und die in der Gestalt Ernst Jüngers idealtypisch verbunden zu sein scheint. Die seit der Romantik feststellbare Selbststilisierung des künstlerischen Genies zur Heldenfigur wird damit erbarmungslos lächerlich gemacht, am besten durch den schweigenden „gealterten jungen Mann“, der der Adressat der nicht endenden Suada des sterbenden Literaten ist, und der allein durch sein Schweigen dieses Vergessen vorwegzunehmen scheint, in das auch das Romanende mündet. Die Heldenberg-Geschichte ließe sich ja selbst bereits als eine Translation verstehen. In den einschlägigen Publikationen ist vom „Vorbild Walhalla“ zu lesen, das allerdings im Rahmen des bayerischen Historismus selbst eine Translation antiker Heldendenkmäler darstellt, die zeitkonform mit germanischer Mythologie verschmolzen und dann in den Kontext des historistischen und national gesinnten 19. Jahrhunderts eingefügt wird. Bei Pargfrieders Translation kommt die Problematik eines nicht ethnisch-nationalen, sondern eben übernational-imperialen Kontextes hinzu, die wiederum mit den Walhalla– Kontextresten in starker gegensätzlicher Spannung steht. Gerade dieses übernationale Element macht aber erst die Translation in die hybride Kultur des Einwanderungslands Chile und in die globalisierte Situation unserer Gegenwart möglich. Ebenso wichtig ist der Gegensatz zwischen der ‚privaten‘ Initiative Pargfrieders, die im Gegensatz zu dem Sendungsbewusstsein des bayerischen Königs steht, der stellvertretend für einen zum Gründungszeitpunkt nicht existenten deutschen Staat ein ‚offizielles‘ Denkmal errichtet. Diese Einzelaktion des an Don Quijote gemahnenden „Schusters“ in Bolaños Roman erlaubt dann auch die Parallelisierung und wechselseitige Relativierung mit der Rolle des Autors. Nur ein „Hügel, der irgendwo in Zentraleuropa liegt“, kann so in einem chilenischen Roman der Abrechnung mit der eigenen Militärdiktatur plötzlich zum transkontinentalen Sinnbild der Eitelkeit von Reinheit und Heldenverehrung werden.

Anmerkungen 1 2 3 4

(Kulturelle) Übersetzung

Homi Bhabha, The Location of Culture, London 1994, S. 212–235. Zum Thema der kulturellen Übersetzung vgl. auch Frederico Italiano/Michael Rössner (ed.), Translatio/n. Narration, Media and the Staging of Differences, Bielefeld 2012. Vgl. dazu Michael Rössner, Fernando del Paso: Realismo loco o lo real maravilloso europeo. Algunas observaciones a propósito de „Noticias del Imperio“, in: Karl Kohut (Hg.), Literatura mexicana hoy, Frankfurt am Main 1991, S. 223–229. Roberto Bolaño, Nocturno de Chile, Barcelona 2000, S. 51, im Folgenden zitiert mit der Sigle NdC und den Seitenzahlen des Originals, Übersetzung Michael Rössner. – Die beißende Ironie des Autors gegenüber seinem Protagonisten ist kaum zu übersehen.

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Ungarische Tänze Cornelia Szabó-Knotik/Barbara Boisits

Unterwerfung, Aufruhr, Gemeinschaft, rauschhafte Betäubung und Handelsartikel – die Vielfalt an Kodierungen des ‚ungarischen Stils‘ im Lauf der Geschichte erweist ihn als festen Bestandteil im Klangspektrum des zentraleuropäischen Raums. Ungarische bzw. in neuerer Prägung pannonische Klänge stehen daher exemplarisch für die Bedeutung von Musik im kulturellen Gedächtnis. „Pannonier kann man werden. Pannonier – das ist zwar in erster Linie ein historisch-geographischer Begriff, in allererster Linie aber eine Weltanschauung. Sie besteht im Bekenntnis zum Genius loci einer Region – ein neuer Regionalismus – dessen künstlerische Kraft bei TONI STRICKER längst europaweit ausstrahlt und uns daran erinnert, daß kulturelle Kreativität durch Jahrtausende stets von regionalen Brennpunkten ausging. Eigentlich gab es nie ‚die Kultur‘, sondern immer nur ‚Kulturen‘. Kultur charakterisiert das Geistesleben einer Region. Zivilisation verwischt es.“1

Diese von Strickers Website übernommene Beschreibung stammt großteils vom Biologen Bernd Lötsch, der sie zuletzt als damaliger Generaldirektor des Naturhistorischen Museums Wien im Rahmen einer Laudatio im November 2008 in etwas veränderter Form formuliert hat, als Toni Stricker die Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in Gold überreicht wurde.2 Sie enthält, ebenso wie sämtliche PR-Dokumente, Kommentare und biografische Beschreibungen des Künstlers, denselben zentralen Begriff, mit dem Toni Stricker, auch bei seinem letzten ‚großen‘ Auftritt, einem Konzert aus Anlass seines 85. Geburtstags im Mai 2015, charakterisiert wird: „Geigerlegende und Schöpfer der Pannonischen Musik“.3

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Toni Stricker, Pannonische Balladen und Wiener Tänze. Covergestaltung von Gottfried Kumpf. LP Intercord-Tongesellschaft, Stuttgart 1976. CD Wien Melodie 1980. © Toni Stricker

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Was damit gemeint ist, ist eine rhapsodische, vom Violinklang dominierte Musik, welche „die Vielfalt der Landschaft, die Vielfalt der Menschen dieses Raumes mit all ihren Einflüssen, die Tradition, das Brauchtum und die Umwelt auf einen gemeinsamen Nenner und in eine heutige musikalische Ausdrucksform“ bringt,4 indem sie Elemente regionaler Folklore mit solchen aus dem Jazz verbindet. Toni Stricker hat diese Mischung unter dem Eindruck seiner Übersiedlung in die väterliche Heimat entwickelt und dabei den damals aktuell werdenden Trend, Folklore mit Idiomen globaler Popularmusik zu verbinden (,Neue Volksmusik‘), mit einer im Burgenland aktuellen Identitätskonstruktion verknüpft. Die Bezeichnung pannonisch steht nämlich für Sachverhalte in einem um den Neusiedler See zentrierten Gebiet des Burgenlandes und stammt in dieser Hinsicht aus den 1970er-Jahren, also einer Zeit, in der politische Beziehungen zu den regionalen Nachbarn (Bratislava, Sopron) zwar immer noch durch den Eisernen Vorhang erschwert waren, eine im weitesten Sinn kulturelle Gemeinsamkeit aber propagiert wurde. Und diese Bestrebungen wiederum sind als eine Art MikroVersion dessen zu verstehen, was zeitgleich allenthalben als zentrale mitteleuropäische Position Österreichs beschworen und mit traditionellen Zuschreibungen einer Vermittlerrolle des Landes in politischer und kultureller Hinsicht verbunden wurde. Pannonisches wurde dabei als ein Gemenge von kroatisch, jüdisch und ungarisch konnotierten Elementen gesehen, die als Ausdruck von regional angesiedelten Sprach- bzw. Religionsgruppen galten und demgemäß als Spezifikum dem alpenländischen Österreich-Klischee entgegengestellt werden konnten. Wie Toni Strickers zeitgleich entwickeltes und bis heute gültiges musikalisches Markenzeichen hörbar macht, ist dies eine Erweiterung des in derselben Gegend traditionell gepflegten und in gleicher Weise eingesetzten Puszta-Images, dessen landschaftliche Bilder von Schilf, Ziehbrunnen, Tiefebene unzertrennlich mit ungarischer Küche und mit, von entsprechend besetzten und kostümierten Ensembles vorgetragener, so genannter Zigeuner-Musik (Csárdás) verbunden sind.5 Die touristische Rolle dieser als ungarisch verstandenen Musik hatte sich

Ungarische Tänze

im 20. Jahrhundert freilich hauptsächlich außerhalb Ungarns erhalten, während sie innerhalb dieses Landes im Gefolge einheimischer Forschung (Béla Bartók, Zoltán Kodály) als Volksmusik entthront und als kommerziell eingesetztes, substanziell ‚minderwertiges‘ Zeugnis einer zu überwindenden, urban-großbürgerlichen Verfallskultur verachtet wurde. Auch diese Denkfigur stellt sich bei näherer Betrachtung allerdings als politisch motiviertes Konstrukt heraus, denn diese Musik wurde in ihrer historischen Entwicklung lange Zeit als ‚ungarisch‘ verstanden und verwendet, wobei sie, wie eingangs angedeutet, eine Vielzahl wechselnder Bedeutungen innegehabt hat: Den Anfang bildeten Aufstände gegen die Habsburgerherrschaft im 17./18. Jahrhundert, deren Protagonisten sich ihrerseits auf rebellische Bauern des 16. Jahrhunderts, die so genannten Kuruzzen, bezogen und deren Lieder übernahmen.6 Im nostalgischen Rückblick wurden Kuruzzen-Melodien gesammelt und aufgezeichnet, die Rákóczi-Zeit auch musikalisch erinnert. Bemerkenswerterweise wird neben der Musik des Aufstandes aber auch jene der Unterwerfung ein wesentliches Element für das musikalisch ‚Ungarische‘ des späten 18. und 19. Jahrhunderts, indem Melodien jener Tänze als Teil der Tradition gesehen werden, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts als so genannte Werbelieder (Verbunkos) zur Anwerbung von Rekruten erklangen. Sie wurden in der gleichzeitigen Unterhaltungsmusik verarbeitet, wobei die Arrangeure und Komponisten entsprechender Tänze vorwiegend deutsche Namen trugen, diese Musik aber in den Dienst einer ungarischen nationalen Kultur stellten, was von den Konsumenten dieser Musik auch so verstanden wurde. Eine wichtige Komponente im Erfolg der Verbunkos war der virtuos verzierte, freirhythmisch-agogische Vortrag durch ZigeunerKapellen. Letztere waren im adeligen Leben wichtig, spielten auch bei Theatervorstellungen und trugen diese Musik in Dörfer, ungarische Kleinstädte und westliche Metropolen. Einige besonders versierte Geiger wurden als Leiter solcher Kapellen und als Komponisten dieses Stils international berühmt, beispielsweise János Bihari (1764–1827), dessen Name mit dem aus älteren Fragmenten entstandenen RákócziMarsch verknüpft ist.

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Gleichzeitig begann der Austausch ungarischer Melodien mit der klassisch-romantischen Kunstmusik – angefangen mit den ‚à lʼongarese‘-Sätzen Joseph Haydns und Ludwig van Beethovens, die als farbige Bereicherung der Musik wirkten sowie als Teil der aufklärerischen Idee von einer Herz und Hirn, Bildung, Erbauung und Entspannung gleichzeitig befriedigenden, universal verständlichen ‚Menschheitsmusik‘ gedacht sind. Im Zeichen der vom Gedanken des Hegel’schen Volksgeistes geprägten Nationalbestrebungen des 19. Jahrhunderts hatte die Einbeziehung ‚ungarischer Tänze‘ (ab 1830 insbesondere des Modetanzes Csárdás) in die Kunstmusik dann je nach dem Entstehungs- bzw. Rezeptionsort solcher Musik eine unterschiedliche, ja sogar eine vieldeutige Aufgabe. Es war Hector Berlioz, der den Rákóczi-Marsch 1846 für seine dramatische Legende Fausts Verdammnis op. 24 instrumentiert und deren ersten Teil dazu eigens in die ungarische Puszta verlegt hatte. Und selbstverständlich hat auch Franz Liszt, der unter dem Einfluss der französischen Romantik seine ungarische Seele entdeckte, dieses Stück mehrfach verarbeitet, beispielsweise in seiner Ungarischen Rhapsodie Nr. 15 von 1851, und außerdem dem ihm persönlich bekannten und von ihm geschätzten János Bihari in dem umstrittenen, von ihm autorisierten Buch Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1859) ein schriftliches Denkmal gesetzt. So wie der Rákóczi-Marsch wurden auch andere Stücke mit Verbunkos-Tonfall über die Niederschlagung der Revolution 1848/49 hinaus immer wieder zur Erweckung patriotischer ungarischer Gefühle genutzt – beispielsweise in der Nationaloper eines Ferenc Erkel (1810–1893) –, aber ebenso als Versatzstücke eines entsprechenden musikalischen Exotismus. Letzterer wird allgemein im Bereich des unterhaltenden Musiktheaters und -films angetroffen, wobei der ungarische Tonfall in den Wiener Operetten – wie Moritz Csáky in seiner Rekontextualisierung des ­Genres speziell am Beispiel des Straussʼschen Zigeunerbarons gezeigt hat7 – vielmehr die Funktion eines Verbindungsscharniers einnimmt, das zwischen den unterschiedlichen Gruppen des Vielvölkerstaates vermittelt und dabei in seiner identitätsstiftenden Relevanz mehrfach deutbar bleibt.

Ungarische Tänze

Eine solche Mehrdeutigkeit des ‚Ungarischen‘ ist aber nicht auf die Wiener Operette beschränkt, sondern stellt sich als Charakteristikum der damit verbundenen Klänge insgesamt heraus – sodass sich der Kreis in Richtung ‚pannonischer Musik‘ schließt. Denn auch Franz Liszt wurde im Zusammenhang mit seinem Geburtsort unterschiedlichen Zuschreibungen unterzogen und dabei zuletzt als Zeuge einer pannonisch geprägten, Europa zentral bestimmenden Kultur definiert: Die Feiern aus Anlass der 100. Wiederkehr seines Todestages 1986 standen ganz in diesem Zeichen, die burgenländische Landes-Sonderausstellung trug den Titel „Franz Liszt. Ein Genie aus dem pannonischen Raum“ und betonte in diesem Rahmen eine Tradition völkerverbindender Begegnung und interkulturellen Austauschs, der wiederum Landschaft, Kulinarik und Musikkultur in eins setzt: „Landschaft war hier immer verbunden mit Zigeunern, mit bäuerlicher Tätigkeit und mit einer Lebensweise, die in einem Bündnis mit der Natur stand und in Distanz zur Stadt, und auch mit dem Rotwein, der in dieser Gegend ein ungarisches Bukett hat. Manches kommt auf österreichischer Seite von Ungarn, und manches auf ungarischer Seite erinnert an Österreich. An diese Kulturlandschaft muß man bei den musikalischen Schöpfungen Liszts denken, mögen sie auch Spiegelungen des Musikempfindens des 19. Jh. gewesen und besonders von der französischen Geisteskultur beeinflußt worden sein.“8

Anmerkungen 1 2

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www.tonistricker.net/pix/bio_preis.htm (abgerufen am 20.1.2016). Der erste Satz stammt aus einem Text von Gerhard Tötschinger, den dieser zu Strickers LP Pannonische Balladen und Wiener Tänze schrieb, die folgenden dann von Bernd Lötsch. Bernd Lötsch sei an dieser Stelle sehr herzlich für die Zurverfügungstellung seiner Laudatio gedankt. tonistricker.wordpress.com (abgerufen am 20.1.2016). Siehe auch den bezeichnenden Titel seiner Autobiografie: Toni Stricker, Mein Weg nach Pannonien, Wien 2014. www.tonistricker.net (abgerufen am 20.1.2016). Als Instrumente kommen vorwiegend Geige, Cymbal, Klarinette und Kontrabass zum Einsatz, das Obergewand ist der so genannten Husarenjacke ,Attila‘ mit ihren gedrehten Schnüren nachempfunden.

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Nach diversen Kuruzzenaufständen kam es 1703–1711 zum Kampf unter Ferenc II. Rákóczi; erst 1722 bestätigte der ungarische Landtag mit der Annahme der Pragmatischen Sanktion die Unteilbarkeit des Habsburgerreiches. Vgl. Moritz Csáky, Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur österreichischen Identität, Wien/Köln/Weimar 1996, 21998. Der kleine Liszt und die pannonische Kulturlandschaft, in: Hans Rosnak (Hg.), Der Wunderknabe aus Raiding, Eisenstadt 1985, S. 53 [ohne Autorenangabe, vermutlich vom Herausgeber].

Vielfalt Reinhard Johler

Die Habsburgermonarchie ist nicht nur im Zentrum (oder im ‚Herzen‘) Europas gelegen, sie hat sich – geografisch und klimatisch, ethnisch und kulturell – selbst auch als ‚Europa im Kleinen‘ gesehen. Dies hat vor allem mit ihrem im 19. Jahrhundert propagierten imperialen Selbstverständnis zu tun, das Vielfalt zum legitimierenden Merkmal von Zusammengehörigkeit machte. Ist dieses Habsburg-Zentraleuropa somit ein mögliches Vorbild für EU-Europa und dessen (gerade erheblich schwächelnde) ‚unity in diversity‘? Kürzlich habe ich an einer offiziellen, vom Innenminister angeführten Delegation des Landes Baden-Württemberg ins rumänische Banat teilgenommen. Deren Ziel war – Stichwort: Donauraumstrategie – die Förderung des wirtschaftlichen und kulturellen Austausches. Zu diesem Zweck wurde in Timișoara (deutsch: Temeswar, ungarisch: Temesvár) neben dem Kontakt zu einer Reihe von in den letzten Jahren gegründeten und meist sehr erfolgreich wirtschaftenden deutschen Unternehmen auch jener zur verbliebenen kleinen deutschen Minderheit gesucht. Einen besonderen Höhepunkt stellte dabei der Besuch der in der Nähe gelegenen Kleinstadt Sanktanna (rumänisch: Sântana, ungarisch: Újszentanna) dar. Dort beteiligte sich die Gruppe zuerst am traditionellen Kirchweihfest, im Anschluss wurde der Serviciul Voluntar Pentru ein auf den neuesten technischen Stand gebrachtes Feuerwehrauto übergeben. Nach der Segnung durch Priester der katholischen und der rumänisch-orthodoxen Kirche ergriff mit Daniel Tomuta der tatkräftige rumänische Bürgermeister von Sântana das Wort. Er dankte herzlich den Politikern und der in großer Zahl eigens angereisten Heimatortsgemeinschaft Sanktanna für das Geschenk aus

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Rede des Bürgermeisters Daniel Tomuta anlässlich der feierlichen Übergabe eines Feuerwehrautos in Sântana (Rumänien) am 1.8.2015. © Reinhard Johler

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Deutschland. Seine Gemeinde wisse dies ganz besonders zu schätzen, sei man doch aufgrund der rumänischen, deutschen und ungarischen Bevölkerung schon immer ein „kleines Europa“ gewesen – und dies lange „bevor es die EU gegeben“ habe. Ganz Unrecht hatte Bürgermeister Tomuta mit diesem historischen Verweis nicht. Sanktanna liegt in der Mitte der Arader Ebene und ist 1742 im Kontext der theresianischen Wiederbesiedlung der Region gegründet worden. Bis zur Aussiedlung der deutschen Bevölkerung vor und nach dem Sturz des Ceaușescu-Regimes wohnten dort neben Ungarn, Roma, Slowaken und Ukrainern v. a. Rumänen und Deutsche. Kein Wunder daher, dass bei der kleinen Feier vor dem Feuerwehrhaus auch der Vorsitzende der 1981 in Augsburg gegründeten Heimatortsgemeinschaft Sanktanna das Bild vom ‚kleinen Europa‘ aufgriff. Durch die multiethnische und multireligiöse Prägung des Banats sei man dort aufgrund der im Alltag erlebten kulturellen Vielfalt immer schon auch Europäer gewesen.1 Der rumänische Bürgermeister und der deutsche Heimatortsgemeinschaftsvorsitzende zitierten damit, was seit Längerem im populären (ostmitteleuropäischen) EU-Umlauf ist – und als konkrete Beobachtung auf den slowakisch-ungarischen Polyhistor Johann von Csaplovics zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück geht: Csaplovics hatte in seinem 1829 in Pest erschienenen Gemälde von Ungern eine „möglichst vollständige Ethnographie“ seines „Vaterlandes“ verfasst. Neben der höchst vielfältigen „physischen Beschaffenheit des Landes“ seien dort auch „in Hinsicht der Bewohner“ fast alle „Volksstämme und Sprachen und Religionen und Beschäftigungsarten und Kulturstufen, endlich auch Lebensweisen, Sitten und Gebräuche“ zu Hause. Ungarn sei daher in der Tat ein „Europa im Kleinen“2. Fast wortident – und wiederum in ethnografischem Duktus – ist zum Ende des 19. Jahr­ hunderts auch der österreichische Landesteil charakterisiert worden. In diesem, so Michael Haberlandt im Katalog für das 1897 in der Wiener Börse neu eröffnete Museum für österreichische Volkskunde, wohne „eine bunte Fülle von Völkerstämmen, welche wie in einem Auszuge die ethnographische Mannigfaltigkeit Europas repräsentiren“ würde.3

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Es ist kein Fehler, dieser ethnografischen Spur der historischen Vielfalt Zentraleuropas in das gegenwärtige EU-Europa zu folgen.4 Man kann dabei ein Stück weit dem 1952 in Lovrin – also unweit von Timișoara und Sântana – geborenen Schriftsteller Richard Wagner folgen. Wagner hat in seiner Bibliothek einer verlorenen Welt kenntnisreich und belesen die Vergangenheit des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates mit der europäischen Gegenwart konfrontiert. Er hat dabei exemplarisch die Kaiserhymne mit der Europahymne, den k. k. Österreicher mit dem EU-Europäer, das alte mit dem neuen Europa verglichen. Die „verlorene Welt der Habsburger“, so seine Conclusio, tauge freilich nur zum „fernen Spiegel europäischer Gegenwart“. „Vieles“, so Wagner weiter, sei „heutzutage leider verschüttet und vergessen“, aber einiges könne die EU doch „aus den habsburgischen ­Erfahrungen lernen.“5 Die Europäische Union greift freilich aus vermeintlich gutem Grund bislang kaum auf diese „habsburgische Bibliothek“ zu. Als postnationale politische Herrschaftsform sieht sie sich ohne historisches Vorbild – und so wird sie auch von der Politikwissenschaft verstanden. Denn mit der EU ist in die europäische Geschichte, wie M. Rainer Lepsius überzeugend argumentiert hat, tatsächlich „ein neues Organisationsmodell“ getreten: „Ein supranationales Regime mit bindender Regulierungskompetenz überwölbt den Nationalstaat.“6 Der „Beitrag Kakaniens“, so hat Emil Brix 2006 anlässlich der EU-Osterweiterung konsequent festgehalten, könne daher in erster Linie auch nur darin liegen, „dass es eine gescheiterte politische Union multinationalen Zusammenlebens darstellte, die an Fragen scheiterte, die in der aktuellen Europäischen Integration offiziell keine Rolle spielen, aber als potentielle Problemstellungen wahrnehmbar sind.“7 Die letzten Jahre haben Zweifel an diesem Befund aufkommen lassen, denn die „potentiellen Problemstellungen“ haben sich als ausgesprochen hartnäckig, wenn nicht sogar als höchstgradig krisenhaft erwiesen. In gewisser Weise scheinen sie der EU – zumindest einem identitätsstiftenden ‚Europa der Bürger‘ – als ursächlicher Widerspruch sogar in die Wiege gelegt worden zu sein: die Allgegenwart von Differenzen in Europa und die historische Erfahrung ihrer Unaufheb-

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barkeit.8 Denn die Vielfalt (und somit die alltägliche Differenzerfahrung) hat in EU-Europa – durch den Integrationsprozess selbst, nicht zuletzt aber auch durch starke Migrationsbewegungen – deutlich zugenommen.9 Die EU hat, wie dies Maryon McDonald vor Jahren aufgezeigt hat, ab den 1980er-Jahren versucht, diese gesteigerte Vielfalt mit dem Slogan „unity in diversity“ zum eigenen politischen Vorteil zu instrumentalisieren. Verspricht das ‚Europa der Bürger‘ vornehmlich politische Partizipation, so verheißt ‚Einheit in der Vielfalt‘ durch die Herstellung einer gemeinsamen Geschichte und eines verbindenden kulturellen Erbes Zusammengehörigkeit zum einen und die politische Organisation von europäischer Pluralität zum anderen. „This was the time“, so McDonald zusammenfassend, „when cultural diversity was invented in a big way.“10 Kultur – erstmals im Maastricht-Vertrag 1992 als EU-Agenda festgeschrieben – wurde dabei freilich nicht, wie der Kulturanthropologe Cris Shore analysiert hat, in ihren „composite and hybrid entities“ gefasst, sondern als territorial und ethnisch gebunden – als Nationalbzw. Regionalkulturen – verstanden.11 Damit aber – und darauf haben als Erstes Schriftsteller/innen hingewiesen – war und ist die europäische Vielfalt der Gegenwart nicht zu fassen und politisch auch nicht mehr zu steuern.12 Die EU, so hat etwa Geert Mak 2004 festgehalten, sei mit ihrem „Apparat zu einer undurchsichtigen Macht“ verkommen, die weder eine gemeinsame Identität noch eine gemeinsame Öffentlichkeit schaffen würde und sich auch auf keine zusammenhängende Geschichte bzw. ein europäisches Volk stützen könne. Doch dem damit fehlenden „gemeinsamen kulturellen, politischen und vor allem demokratischen Raum“ hält Mak eine eng miteinander verbundene kulturelle „Vielgestaltigkeit“ Europas entgegen, die zwar die politische „Schwäche Europas“ ausmache, zugleich aber auch die „große Stärke“ der EU in der Zukunft andeute.13 In seiner Gegenrede hat Adolf Muschg 2013 die Frage Vergessen wir Europa? mit ähnlichen Argumenten verneint. Der ökonomischen und politischen Existenzbedrohung der EU gelte es den „Geist Europas“ entgegenzuhalten, der sich vor allem im neugierigen, ja ehrfurchtsvollen „Umgang mit Differenzen“ zeige.14

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Seit einiger Zeit werden vornehmlich von US-amerikanischen Forschern die Chancen betont, die kulturelle Vielfalt eröffnet. Denn während der „amerikanische Traum“, so etwa der Politikwissenschaftler ­Jeremy Rifkin, ein assimilatorischer sei, setze der „europäische Traum“ auf die Anerkennung und den Umgang mit kultureller Vielfalt und sei gerade deswegen im globalen Zeitalter besser vernetzbar, will heißen: zukunftsfähiger.15 Die daran anschließende, kontroverse Debatte kann hier nicht dargestellt, wohl aber mit dem Historiker Tony Judt eine plausible Schlussfolgerung gezogen werden: In einem Zeitalter des demografischen Wandels und der Migration seien die Europäer der Gegenwart „heterogener als je zuvor“. Aber jede „Erklärung ihrer gemeinsamen Lebensbedingungen“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts müsse nicht nur diese „Vielfalt anerkennen“, sondern – als Auftrag an die Wissenschaft – die „einander überschneidenden Umrisse und Bruchlinien europäischer Identität und Erfahrung kartieren.“16 Damit aber richtet sich der Blick fast automatisch wieder zurück in das habsburgische Zentraleuropa. Von dort – und eben nicht von den homogenen Nationalstaaten Westeuropas – sind für den Tübinger Historiker (mit österreichischen Wurzeln) Dieter Langewiesche die „stimulierendsten Anstöße“ zum Verständnis von Vielfalt ausgegangen. Denn der imperiale Raum sei auch immer ein „Laboratorium nationalpolitscher Experimente“ gewesen.17 Dieses „Laboratorium“ – im Übrigen ein zeitgenössischer Begriff des 19. Jahrhunderts für die Habsburgermonarchie – hat, so der Wiener Kultur- und Sozial­ anthropologe Andre Gingrich, für die außereuropäische Völkerkunde der „akademischen Welt“ ein „eigenständiges Suchen“ erlaubt.18 Man kann mit noch mehr Recht hinzufügen: Es hat ganz wesentlich zur ­Herausbildung und Etablierung einer neuen Disziplin – der Ethnografie – beigetragen.19 Ethnografie aber – also die Beschreibung von kulturellen Differenzen (und Ähnlichkeiten20) – ist für mich der zentrale Zugang, um kulturelle Vielfalt im gegenwärtigen EU-Europa genauer fassen und besser verstehen zu können. Seit die EU aber selbst im Kontext von Imperien diskutiert wird und weil – bedingt durch den Imperial Turn21 – die Opposition von multiethnischen Empires und Nationalstaaten neu

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ausgelotet wird, können meines Erachtens nach das habsburgische Zentraleuropa und die Europäische Union auch tatsächlich erstmals systematisch verglichen und ertragreich zusammen gedacht werden. Für das habsburgische Zentraleuropa haben sich dabei die Untersuchungen von Moritz Csáky als zentral erwiesen.22 Denn sie haben erheblich zu einer ethnografisch inspirierten und theoretisch höchst anspruchsvollen „Bestandsaufnahme des mitteleuropäischen Ideenvorrats“ geführt und somit dazu beigetragen, die „Habsburg Central European Experience“ mit einem „understanding multiculturalism“23 in Europa zu koppeln. – Manches ist dafür schon dargestellt worden, anderes gilt es erst in Wien und anderswo zu erforschen. Anmerkungen

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Reinhard Johler/Josef Wolf/Christian Glass (Hg.), Heimatsachen. Donauschwäbische Grüße zum baden-württembergischen Geburtstag, Tübingen 2012, S. 426– 428. Johann v. Csaplovics, Gemälde von Ungern, Erster Theil, Pesth 1829, S. 13–15. – Vgl. dazu auch Gertraud Marinelli-König, Oberungarn (Slowakei) in den Wiener Zeitschriften und Almanachen des Vormärz (1805–1848), Wien 2004. Michael Haberlandt, Einleitung, in: Katalog der Sammlungen des Museums für österreichische Volkskunde, Wien 1897, S. 1–4. Darauf zielt etwa ein interdisziplinäres Projekt ab, das wir gerade an der Tübinger Universität in Kooperation mit der Eötvös-Loránd-Universität Budapest und der Babeș-Bolyai-Universität Cluj-Napoca unter dem Titel „Südost/Europa. Vielfalt als Herausforderung – Vielfalt als Potential. Praktiken – Modelle – Vergleiche“ begonnen haben. Richard Wagner, Habsburg. Bibliothek einer verlorenen Welt, Hamburg 2014, S. 8. M. Rainer Lepsius, Die Europäische Gemeinschaft und die Zukunft des Nationalstaats, in: ders., Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S. 253. Emil Brix, Geschichtsinterpretationen und Gedächtnispolitik. Das Bild der Habsburgermonarchie in den mitteleuropäischen Staaten seit 1989, in: Johannes Feichtinger/Elisabeth Großegger/Gertraud Marinelli-König/Peter Stachel/Heidemarie Uhl (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen, Innsbruck u. a. 2006, S. 86. Thomas Meyer, Die Identität Europas, Frankfurt am Main 2004, S. 78ff. Dieser identitären Erfahrung von Differenz müssen allerdings vielfältige Prozesse der Angleichung (etwa im Konsum) entgegen gehalten werden. Vgl. dazu Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europa 1945 bis zur Gegenwart, München 2007. Maryon McDonald, „Unity in diversity“. Some tensions in the construction of Europe, in: Social Anthropology 4 (1996) 1, S. 47–60.

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Cris Shore, Transcending the Nation-State? The European Commission and the (Re) Discovery of Europe, in: The Journal of Historical Sociology 9 (1996) 4, S. 473–496. Reinhard Johler, „Einheit in der Vielfalt“. Zur kulturellen Konstruktion eines „Europa der Regionen“, in: Eduard Beutner/Karlheinz Rossbacher (Hg.), Ferne Heimat – Nahe Fremde. Bei Dichtern und Nachdenkern, Würzburg 2007, S. 195–208. Geert Mak, In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert, München 2004, S. 885ff. Adolf Muschg, Vergessen wir Europa? Eine Gegenrede, Göttingen 2013. Jeremy Rifkin, Der europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht, Frankfurt am Main 2004. Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 2006, S. 930. Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 217–230. Andre Gingrich, Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus. Zur Diskussion des ‚frontier orientalism‘ in der Spätzeit der k. u. k. Monarchie, in: Feichtinger u. a. (Hg.), 2006, S. 279–288. Reinhard Johler, The Invention of the Multicultural Museum in the Late Nineteenth Century: Ethnography and the Presentation of Cultural Diversity in Central Europe, in: Austrian History Yearbook 46 (2015), S. 51–67. Vgl. dazu in anregender Weise Anil Bhatti/Dorothee Kimmich (Hg.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, Konstanz 2015. Vgl. Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen, Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2009. Hier nur ein Aufsatz unter vielen: Moritz Csáky, Die Vielfalt der Habsburgermonarchie und die nationale Frage, in: Urs Altermatt (Hg.), Nation, Ethnizität und Staat in Mitteleuropa, Wien/Köln/Weimar 1996, S. 44–64. Johannes Feichtinger/Gary B. Cohen (ed.), Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience (Austrian and Habsburg Studies 17), New York/Oxford 2014.

Wiener Schmäh Sabine Müller

Zwei exemplarische Spielarten des Wiener Schmähs reagieren auf je eigene Weise auf die spezifischen Herausforderungen von Alterität, Ambivalenz und Kontingenz im plurikulturellen urbanen Raum: Das so genannte Schmäh-Führen dient der (spielerischen) Identitätsbehauptung, der Schmäh als ,lachendes Aushandeln‘ ermöglicht offene Handlungsanschlüsse zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Sprachen und Wertvorstellungen. Schmäh führen, Schmäh haben, einen Schmäh machen, die Fähigkeit, andere am Schmäh zu halten – all dies zählt zu den Kernelementen einer Wiener Kollektividentität, die sich durch einen dichten Zirkel aus Selbst- und Fremdzuschreibungen konstituiert und perpetuiert. Seltsam unscharf bleibt an dieser Identität jedoch zumeist, wie sie zum nicht minder häufig beschworenen österreichischen Humor steht und wie die Rolle beider in der Geschichte Zentraleuropas zu bestimmen ist. Einen ersten Hinweis hierauf enthält freilich der Begriff Wiener Schmäh selbst, indem er ein auffallend breites Bedeutungsspektrum aufweist. Er bezeichnet zum einen positiv konnotierte Sprechhandlungen wie das Witze-Machen, das galante, beschönigende Charmieren, eine generell ironische Weltanschauung sowie auch unterhaltsame Verbalduelle. Ebenfalls ins Wortfeld Schmäh fallen jedoch auch eindeutig negativ getönte Sprechakte wie das Erzählen von Lügen sowie das Austricksen, Betrügen oder witzig-boshafte Bloßstellen anderer Personen. Diese überraschende Spannweite der Schmähsemantik ist jedoch kein Zufall. Sie ist vielmehr Echo des Gegenstands, indem alle bezeichneten Spielarten in ihrer funktionalen Mehrdeutigkeit – in ihrem Changieren zwischen Ernst und Spiel, Konflikt und Versöh-

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Helmut Qualtinger als „Der Herr Karl“: „I hab Ihna ja eh derzählt, wia i s’ mitn Schmäh übernommen hab, die Trampeln.“ Filmstill aus „Der Herr Karl“ (Ö 1961, Text: Carl Merz, Helmut Qualtinger, Regie: Erich Neuberg)

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nung – auf die gesellschaftspolitisch brisante, ambivalente Logik und Geschichte des Lachens zurückzuführen sind. Sie alle sind Ausdruck einer spezifischen, stark ausdifferenzierten zentraleuropäischen Lachkultur, in der sich Ohnmacht und Ermächtigung, Aggression und Depression, soziale Inklusion und Exklusion miteinander mischen und die das Erbe des historischen „Karnevalslachens“ (Michail M. Bachtin) in die Moderne trägt. Während sich in der Lachgeschichte Europas über die verschiedenen Regionen hinweg bei allen Unterschieden auch klare Gemeinsamkeiten rekonstruieren lassen, so sticht dennoch eine Besonderheit der Wiener Lachkultur hervor: Es ist die überaus hohe Bedeutung des Schmähs als imaginärer Konstruktion – als Wiener Identitätsmerkmal und Auszeichnung, die endlos besprochen und stolz hergezeigt werden. Klargemacht wird mit diesem Etikett nicht nur, wer als richtiger Wiener gelten darf und wer nicht, sondern auch, was den vermeintlichen Wiener von Nicht-Wienern vorteilhaft unterscheidet. Genau dieses Ineinandergreifen von Kommunikationsmustern und Kollektivstereotypik unterscheidet den Wiener Schmäh von vergleichbaren Phänomenen urbaner Lachkultur wie etwa dem Berliner oder New Yorker Witz. Denn was den Wiener Schmäh kennzeichnet, ist das Verschmelzen von kommunikativer Kompetenz und imaginärer Konstruktion: Schmäh wird in Szene gesetzt und demonstriert hiermit immer auch die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, er ist Medium einer Identitätsbehauptung, die eine scharfe Grenze zwischen In- und Outsidern zieht.1 Will man die Geschichte des Wiener Schmähs als Geschichte einer exemplarischen zentraleuropäischen Lachkultur rekonstruieren, ist es unverzichtbar, beide historische Linien – den Schmäh als Kompetenz sowie als Konstruktion – im Blick zu behalten sowie ihr Ineinandergreifen, die Rückwirkung der Konstruktion auf die Kompetenz, mitzubedenken. Dieser Aufgabe wird im Folgenden schrittweise nachgegangen, wobei zunächst ein Überblick über die Geschichte der Identitätszuschreibungen und ihre mentalitätsgeschichtlichen Bezüge erfolgt. Vor diesem Hintergrund werden im Anschluss zwei Spielarten des Schmähs detaillierter betrachtet, die sich insbesondere

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hinsichtlich ihrer Bedeutung als Ressource für aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen unterscheiden. Dies ist einerseits das so genannte Schmäh-Führen, eine Gattung der Scherzkommunikation, die zwischen verbaler Aggression und spielerischer Interaktion oszilliert und mit dieser Artikulation von Ambivalenz zugleich eine Identitätsbehauptung tätigt. Dem wird schließlich mit dem ,lachenden Aushandeln‘ eine Spielart des Schmähs gegenübergestellt, der es gelingt, die zentraleuropäische Erfahrung von Polyglossie und Plurikulturalität in einer deutlich offeneren, moderneren Ausformung zu bewahren. Humor und Heiterkeit nehmen in Imaginationen zum österreichischen und Wiener Wesen eine zentrale Funktion ein, eingefügt hierbei in ein festes Ensemble von Stereotypen, das seit der Frühen Neuzeit eingeübt und ab 1800 im Städte- und Nationenvergleich weiter forciert wird. Den historischen Ausgangspunkt bildet das Bild einer spezifisch lokalen Sinnlichkeit und Gemütlichkeit, verursacht durch jenen gemäßigteren Pfad in die Moderne, der von den katholischen Staaten Europas beschritten worden ist. Dieser alternative Weg der Modernisierung ist dadurch gekennzeichnet, dass die modernen Prozesse der Zivilisierung (Norbert Elias), Disziplinierung (Michel Foucault) und Verdrängung des volkskulturellen Lachens (Michail M. Bachtin) in katholischen Regionen deutlich schwächer greifen als in protestantischen Ländern. Auf genau diese Abweichung vom nord- und westeuropäischen Weg in die Moderne berufen sich jene, die der österreichischen und Wiener Mentalität eine besondere Mußepräferenz und Fehlerfreundlichkeit attestieren: eine Neigung zum Genießen, zur Heiterkeit, zum Abwarten, und eine Gelassenheit gegenüber dem NichtPerfekten. Wiederholt angemerkt wurde freilich auch, dass dieser Sinn für das Leichte und Lockere lange Zeit mit einer auffallenden „Untertanenmentalität“ (Ernst Hanisch, Eva Kreisky) einherging, einem hohen Vertrauen in die politischen Eliten und einem geringen Glauben an die eigene Fähigkeit, etwas verändern zu können. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist die österreichische Heiterkeits- und Lachkultur eine Reaktion auf politische Erfahrungen von Macht- und Hilflosigkeit, ein Ventil für gestaute, unverarbeitete Ohnmacht. Als liebgewonnenes und gefeiertes Selbstbild bildet diese Kultur jedoch zugleich die Grundlage

Wiener Schmäh

dafür, dass sich die Ohnmachtserfahrungen verfestigen können und die Entfaltung einer kritischen bürgerlichen Öffentlichkeit (Jürgen Habermas) sowie einer tragfähigen demokratischen Kultur verzögern. Zutreffend verweisen auch bereits die historischen Identitätsdiskurse darauf, dass es das Zusammenspiel von Genussneigung und Politikferne ist, das den goldenen (Wiener) Humor oder ‚Hamur‘ hervorbringt. Als ein erst um 1800 eingedeutschter Begriff wird der lokale Humor ab dem frühen 19. Jahrhundert im Städte- und Nationenvergleich beschworen, löst hiermit die heitere Sinnlichkeit als Identity Marker ab und dominiert die Selbst- und Fremdwahrnehmung bis weit ins 20. Jahrhundert. Erst in den 1930er-, 40er- und 50er-Jahren wird die Imago des Humors vom deutlich anders akzentuierten Bild des (Wiener) Schmähs abgelöst. Neu an dem ab nun bevorzugten Selbstbild ist, dass das Element des breiten, gemütlichen, fehlerfreundlichen Lachens zurücktritt und stattdessen die Denkfigur des spielerisch-gewitzten Agierens eines Schwächeren, Kleineren gegenüber einem Größeren, Stärkeren ins Zentrum rückt. Es ist eine Rhetorik, zu deren Entfaltung der massenmediale Diskurs über die ‚Wiener Schule‘ des Fußballs, das so genannte Wunderteam und dessen Star Matthias Sindelar, maßgeblich beitragen und die im ‚kleinen‘ Österreich der Ersten Republik bei der Prägung einer neuen Kollektividentität entscheidend mitwirkt. Dennoch sind es wahrscheinlich erst die 1950er-Jahre, die dem Topos eines raffiniert und geistreich gewitzten Schmähs zum Durchbruch verhelfen und mit diesem Wandel auch dem historischen Einfluss des jüdischen Humors Reverenz erweisen.2 Richtet man vor dem Hintergrund dieser Geschichte der Konstruktionen den Blick auf lokalspezifische lachkulturelle Kompetenzen, tritt zunächst das so genannte Schmäh-Führen hervor, das aus konversationslinguistischer Sicht einem besonderen Bereich der Scherzkommunikation, den „joking relationships“, zuzurechnen ist. Dies sind Beziehungen, in denen das Scherzen als Mittel fungiert, um die durch konkurrierende Interessen bedrohte Harmonie eines sozialen Gefüges zu sichern. Die Gefahr eines ernsthaften Schlagabtauschs wird dadurch abgewendet, dass in die Kommunikation scherzhafte, frotzelnde oder neckische Sequenzen eingeflochten werden.3 Entscheidend für

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den Erfolg dieser Strategien ist es, dass der Grad der Ernsthaftigkeit offen gelassen wird, dass also die Botschaften gleichzeitig ernsthafte und unernste, spielerische Elemente enthalten. Die Kommunikation wird dadurch doppelbödig: Sie artikuliert aggressive Intentionen, nimmt diese jedoch durch den Einsatz von Humor und Ironie, also durch strategische Ambiguisierung des Vermittelten, zurück. Auf einem ebensolchen geschickten Balancieren zwischen Beleidigung und Humor basiert auch das Schmäh-Führen, ist hierbei jedoch nicht auf Interaktionen zwischen Personen beschränkt, die sich kennen.4 Als provokanter, informeller und witziger Schlagabtausch ist es dadurch gekennzeichnet, dass es aus Angriff und Gegenangriff besteht, sich an situativen Details, an Besonderheiten eines Moments entzündet und vor Publikum ausgetragen wird. Vom Angreifer wie vom Angegriffenen wird dabei sprachliche Kampfkraft sowie die Fähigkeit verlangt, spontan witzig zu formulieren – es geht darum, das Gegenüber zu besiegen, es ‚schmähstad‘ zu machen. Soziologisch betrachtet dient das Schmäh-Führen – dem egalisierenden Potenzial des Lachens zum Trotz – dem Kampf um Macht und Rangordnung, der Abgrenzung und Behauptung von Identitäten und Positionen. Der Umstand, dass das Schmäh-Führen eng mit der Verwendung des Wiener Dialekts verwoben ist, hat zur Folge, dass es nicht nur eine personale, sondern zugleich eine kollektive Identität ist, die behauptet und zur Schau gestellt wird. Indem implizit die Botschaft „Ich bin ein Wiener!“ mitläuft, werden die Chancen der lokalen Lachgeschichte dabei freilich verspielt. Es sind folglich nicht zuletzt gedächtnispolitische Gründe, weshalb abschließend eine lokale Lachtradition hervorgehoben werden soll, die das Potenzial des historischen Karnevalslachens für die gesellschaftliche und politische Moderne rettet. Es handelt sich hierbei um ein spezifisches Agieren mit Schmäh, das sich als ,lachendes Aushandeln‘ definieren lässt: Ich meine hiermit ein spezifisches, mit Witz und Ironie, Rollendistanz und Registerwechsel operierendes, trickreiches Sprechhandeln, das nicht auf Sieg oder Identitätsbehauptung ausgerichtet ist. Es zielt vielmehr darauf, eine kommunikative Herausforderung schrittweise, abtastend und probehandelnd – mit Schmäh – zu meistern.5 Bei der angesprochenen Herausforderung

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handelt es sich um eine Situation der beiderseitigen Ungewissheit und Rollenunsicherheit, um eine Situation der „doppelten Kontingenz“ (Talcott Parsons), die durch ein Machtgefälle gekennzeichnet ist, das für beide Seiten der Interaktion ein Risiko und damit die Erfahrung von Ohnmacht beinhaltet. Ein Beispiel für eine solche Situation findet sich in einem in der Monarchie kursierenden Witz über die österreichische Verwaltung. Hierin beschwert sich ein galizischer Kaufmann „über seine Schwierigkeiten mit der österreichischen Bürokratie. Von der russischen Bürokratie wüßte er, die nimmt, von der preußischen wüßte er ganz bestimmt, die nimmt nicht, aber bei der österreichischen, da wüßte er nie, nimmt sie oder nimmt sie nicht.“6 Der spezifische Schmäh, der zum Bestehen dieser Herausforderung vonnöten ist, besitzt einerseits prozessualen Charakter, indem er sich durch die Unsicherheit hindurchtastet, Positionen und Relationen testet sowie Lösungen probiert. Zugleich setzt er sich aus Lachelementen zusammen, die aus unterschiedlichen vormodernen, modernen, vielleicht auch postmodernen Schichten der habsburgischen und österreichischen Lachgeschichte bezogen und kombiniert werden. In kulturhistorischer Hinsicht liegt die These nahe, dass es die Besonderheiten des habsburgischen Modernisierungsprozesses und das „double speak“ (Leslie Bodi) seiner Akteure sind, die dazu geführt ­haben, dass sich im gesamten Raum der Monarchie eine spezifische Tradition des ,lachenden Aushandelns‘ herausgebildet hat. Diese Kompetenz wurde in den urbanen Metropolen und in Wien als dominantem Zentrum aus sozial- und mediengeschichtlichen Gründen zwar stärker tradiert, dennoch gibt es starke Indizien, dass es u. a. auch einen Lemberger oder Budapester Schmäh zu erinnern gilt. Aus kulturtheoretischem Blickwinkel ist an der aushandelnden Variante des Schmähs vor allem das Ziel relevant. Sie zielt nicht auf Identität, sondern auf Handlungsanschlüsse zwischen Personen, die in unterschiedlichen Regelsystemen, Sprachspielen oder auch schlicht Sprachen beheimatet sind – der aushandelnde Schmäh zielt auf Handlungsanschlüsse zwischen Personen, die sich voneinander unterscheiden. Der plurikulturelle Charakter der Habsburgermonarchie kann dabei als Entstehungsbedingung dieser Spielart von Schmäh verstanden wer-

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den, die eine Interaktion zwischen Fremden organisiert, ohne diese auf Einigkeit oder Gleichheit, Assimilation oder ‚Integration‘ zu verpflichten. Als konstruktive Umgangsform mit Heterogenität, multipler Kontingenz und Ambivalenz ist der aushandelnde Schmäh auch deshalb erinnerungswürdig, weil er eine alternative, über Zynismus und Ironie hinausgehende Antwort auf die spätmoderne Nachfrage nach einem „flexiblen Menschen“ (Richard Sennett) darstellt und damit eine wertvolle gesellschaftliche Ressource für Gegenwart und Zukunft bereithält. Anmerkungen 1 2 3

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Zum Aspekt der Behauptung vgl. auch Jürgen Hein, Wienerlied und Wiener Schmäh – eine Annäherung, vor allem mit Blick auf das Wiener Volkstheater, in: Ilona Slawinski u. a. (Hg.), Der Mnemosyne Träume. Festschrift für Joseph P. Strelka zum 80. Geburtstag, Tübingen 2007, S. 125–136. Bei ebendiesem Zeitraum setzt auch die jüngste Publikation zum Thema an, vgl. Irene Suchy (Hg.), Schmäh als ästhetische Strategie der Wiener Avantgarden (Enzyklopädie des Wiener Wissens 22), Wien 2015. Vgl. Helga Kotthoff (Hg.), Scherzkommunikation. Beiträge aus der empirischen Gesprächsforschung, Opladen 1996, S. 7–19. Vgl. Helga Kotthoff, Spaß verstehen. Zur Pragmatik von konversationellem Humor, Tübingen 1998, S. 133f. Vgl. Sabine Müller, Tractatus, „Schmäh“ und Sprachkritik: Überlegungen zu einer alternativen Genealogie der Wiener Modernen, in: András F. Balogh/Christoph Leitgeb (Hg.), Zwei- und Mehrsprachigkeit in Zentraleuropa, Wien 2012, S. 233–258. Zitiert nach Eva Kreisky, Bürokratie als Kultur? Über den Bürokraten in uns und neben uns, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 13 (1984) 1, S. 27– 33, hier S. 33.

Zerfall Helmut Konrad

Der Weg zum Zerfall der Doppelmonarchie kannte beschleunigende und bremsende, aber auch innere und äußere Faktoren. In der Rückschau bestimmen die jeweils seither durchlaufenen politischen Erfahrungen die Perspektive auf das Zerfallen von 1918. Schlägt man in Wörterbüchern den Begriff Zerfall nach, so landet man zuerst stets bei der naturwissenschaftlichen Dimension. Da geht es um die Kernphysik, um Halbwertszeiten, um chemische Zersetzungsprozesse. Erst von dort wird die Brücke geschlagen zum Zerfall von Baudenkmälern, dann zum Zerfall von Moral und Kultur. Schließlich wird aber auch unter Zerfall des Reiches die Auflösung politischer Entitäten genannt. Naturwissenschaftlich ist der Begriff Zerfall relativ wertneutral. Es gilt, einen Auflösungsprozess zu beschreiben, die beschleunigenden und die verzögernden Einflüsse zu analysieren und daraus Schlüsse zu ziehen, etwa für die Haltbarkeit von Materialien. In den Kulturwissenschaften ist Zerfall hingegen kein neutraler Begriff. Er handelt meist von Verlust, von der Unfähigkeit, etwas zu schützen und zu bewahren. Es geht um das meist unwiderrufliche Zerstören, Zerrütten, Verwittern, um Niedergang und um Zusammenbruch. Zudem wird der Begriff teilweise als passiver Vorgang empfunden, es gibt Kräfte, die den Zerfall herbeiführen wollen, und Bewahrer, die sich gegen den Zerfall stemmen. Beide Seiten haben ihre starken Argumente und nur allzu oft verschieben sich diese über die Zeit. Der Zerfall der Habsburgermonarchie wurde bereits 1848 prognostiziert. Die heftigen Diskussionen um eine großdeutsche oder kleindeutsche Lösung zeigten damals schon, dass das alte dynastische

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Jüdischer Friedhof von Czernowitz. © Helmut Konrad, 2012

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Staatengefüge durch neue ‚nationale‘ Ansätze herausgefordert werden sollte. Und selbst Internationalisten wie Friedrich Engels prophezeiten 1848, dass „die buntscheckige, zusammengeerbte und zusammengestohlene Monarchie, dieser organisierte Wirrwarr von zehn Sprachen und Nationen, dieses planlose Kompositum der widersprechendsten Sitten und Gesetze“1 endlich auseinanderzufallen beginne. Gleichzeitig aber hielten er und Karl Marx große Staaten für die überlegene politische und ökonomische Organisationsform, und ihre Sozialisation in der deutschen Kultur ließ die Revolutionäre davon träumen, dass die deutschsprachigen Gebiete der Monarchie zu einem deutschen Staat stoßen könnten und sich dabei der „geschichtslosen Völker“ der Habsburgermonarchie entledigen könnten. Jedenfalls erwies sich die Monarchie als deutlich lebensfähiger, als es ihre Kritiker um die Mitte des 19. Jahrhunderts vermuteten. Im Gegenteil: Erst die franzisko-josephinische Epoche verlieh der Monarchie jenes Aussehen, mit Bahnhöfen, Kasernen, Schulen, Theatern und Amtsgebäuden, das wir heute vor Augen haben, wenn wir diffus von den Gemeinsamkeiten in Zentraleuropa sprechen. Und selbst die Literatur, die bildende Kunst, die Küche und vieles mehr verdichteten sich erst in den Folgejahrzehnten von 1848 zu ihrer habsburgischen Spezifik, die heute die meist nostalgische Rückschau prägt. Nur die Musik hat hier längere Traditionslinien. Es war zweifellos nicht zuletzt der Kaiser als Symbolfigur, der den Zerfall der Monarchie so lange hintanhalten konnte. Er war oberster Beamter, und die Bürokratie war der Kitt des Reiches. Er war oberster Militär, und die Armee mit ihrer Erziehung zur Loyalität hielt das Reich ebenfalls zusammen. Der Kaiser war aber auch weit über diese Machtstrukturen hinaus anerkannt. Er war der beliebte Kaiser bei der jüdischen Bevölkerung (der wohl einzigen nicht nationalistisch zu verortenden Gruppe – ausgenommen dort, wo sich assimilierte Juden als deutschsprachige Bildungsbürger verstanden), er genoss sogar bei der k. u. k. Sozialdemokratie Ansehen, die als einzige Partei in der neu entstandenen politischen Landschaft übernational zu agieren versuchte. Unter der Oberfläche hatten sich, bedingt durch Arbeits-Binnenmigration und die nationalen Positionen der frühen Gewerkschaften, al-

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lerdings auch in der Arbeiterbewegung nationale Frontlinien aufgetan. Dennoch: Die Jahre zwischen der Badenikrise und dem Allgemeinen Wahlrecht brachten einen Theoriediskurs, der weltweit die Diskussionen im 20. Jahrhundert mit prägen sollte. Dabei ging es um zweierlei: einerseits um die Definition von Nation, andererseits um die (Re-)Organisation von Staat und Sozialdemokratischer Partei in der Gemengelage der Monarchie. Nation blieb in all den theoretischen Erklärungsversuchen weitgehend Sprachnation, selbst wenn Otto Bauer die gemeinsame Geschichte, das gemeinsame Erfahren, die optischen Eindrücke dazu nimmt. Nation ist für ihn „erstarrte Geschichte“, allerdings noch immer mit der Sprache im Zentrum.2 In den Fragen der staatlichen Reorganisation wurde schon 1899 in den Diskussionen um das Brünner Programm der Sozialdemokratie von slowenischer Seite das Personalitätsprinzip in die Diskussionen geworfen, das später Karl Renner theoretisch verfestigen sollte: Nation (als Sprachnation) vom Territorium zu lösen und wie Religion in der Verwendung staatsumfassend zuzulassen.3 Die Trennung von Sprachnation und Territorium (als nicht materialistisch von Stalin 1913 heftigst kritisiert) hatte ein Konfliktvermeidungspotenzial, das durch das ganze 20. Jahrhundert in den Nachfolgestaaten der Monarchie leider nicht genutzt wurde. Wie in der Arbeiterschaft gab es auch im (Bildungs-)Bürgertum zentrifugale Positionen neben loyalen. Das Heer der Beamten hielt den Staat als Verwaltungseinheit aufrecht. In Joseph Roths Kapuzinergruft wird am Beispiel der Familie Trotta diese Loyalität verdeutlicht. Die Laufbahn über das Militär, die Erhebung in den Adelsstand, dann das Wirken als Bezirkshauptmann in der nächsten Generation und schließlich in der übernächsten Generation jene Unentschlossenheit, die das „nervöse Zeitalter“ auszeichnet, lief völlig loyal zum Kaiserhaus und damit zur Habsburgermonarchie als politischer Realität. Das deutschsprachige Bildungsbürgertum, vor allem an den böhmischen, steirischen und anderen Sprachgrenzen, war hingegen Träger der nationalen Ab- und Ausgrenzung, Kämpfer um jede Schule und jede topografische Aufschrift. Den ‚deutschen‘ Bürgern von Graz war

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Wien ‚Babylon‘, der Blick zur kulturellen Orientierung ging daher stärker nach München als nach Wien. Die beiden zur Mitsprache gelangenden sozialen Gruppen der Monarchie waren also in sich widersprüchlich. Insgesamt aber standen sie durchaus loyal zum Staat, trotz ihrer oftmals scharfen Konturierung anhand der vermeintlichen sprachnationalen Trennlinien. Wie auch immer sprachnationale, regionale oder religiöse Selbstbilder dominierten, alle Gruppen der Monarchie zogen 1914 loyal in den Krieg, und mit einigen Grauzonen hielt das bis 1918. Wohl galten etwa die Ruthenen und die Italiener als Unsicherheitsfaktoren (durch entsprechend rigide Maßnahmen seitens des Staates eingedämmt), der Zerfall war aber letztlich viel stärker ein Produkt von äußerem Druck als von innerer Umwälzung oder Revolution. Otto Bauer nennt die Ereignisse von 1918 dennoch „österreichische Revolution“.4 Im genauen Wortsinn hat er sogar recht: Die Ereignisse drehten die bestehenden Umstände um, die politische Entität Habsburgermonarchie fand sich am Boden der realen europäischen Machtpolitik wieder und zerfiel in Teile, die nur ein Euphemismus als ‚Bestandteile‘ bezeichnen kann, hatten sie doch weitgehend in dieser Form oder Verbindung zuvor nicht existiert. Nur fehlten weitgehend die Revolutionäre, sieht man vielleicht von der tschechischen Exilpolitik ab. Die Unruhen im Inneren waren seit dem Jännerstreik von 1918 eher soziale Revolten mit ganz konkreten Problemstellungen zur Reduzierung des Elends als umstürzlerische oder gar den Staat sprengende politische Revolutionen. In der zweiten Jahreshälfte 1918 konnten die Mittelmächte nicht mehr ernsthaft auf einen ‚Siegfrieden‘ zählen. Es ging daher schon um die Schaffung von Voraussetzungen für einen Waffenstillstand und um möglichst günstige Friedensbedingungen. Diese schienen in einer Überwindung der alten aristokratischen Ordnung und einer Vergrößerung der Autonomie für die ‚Nationen‘ im Vielvölkerstaat zu liegen. Allerdings kam das Völkermanifest Kaiser Karls deutlich zu spät und hatte nicht im Auge, was das tschechische Exil schon erreicht hatte. Ab Mitte Mai 1918 hatte im Vertrag von Pittsburgh die künftige Tschechoslowakische Republik bereits Form angenommen. Dass US-Präsident

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Wilson die Zerschlagung der Habsburgermonarchie dennoch nicht als Kriegsziel formuliert hatte, lag darin begründet, dass er die Monarchie nicht noch enger an Deutschland binden wollte. Was die Tschechen und Slowaken de facto erreicht hatten, das war auch den Südslawen nicht zu verwehren, deren Interessen aber zumindest partiell mit jenen der Italiener kollidierten, die 1915 im Vertrag von London mit hohen territorialen Erwartungen zum Kriegseintritt bewogen worden waren. In Österreich sagten sich einzelne Nationalitäten schon vor Kriegsende vom Gesamtstaat los, ehe im ‚Rest‘ die „österreichische Revolution“ die Bildung einer demokratischen Republik auch durch den Druck der Straße erzwang. Dass es dieser Republik gelang, einen Sozialstaat mit einer vorbildlichen Verfassung in dieser Zeit der Wirren zu etablieren, war der Revolutionsfurcht der bürgerlichen Kreise geschuldet, für die das ungarische Beispiel, gar nicht zu reden von Russland, jede Sozialreform als erträglichere Alternative erscheinen ließ. Der Versuch der Neuordnung in der zerborstenen Mitte Europas (und natürlich auch im Nahen Osten und vor allem in Osteuropa) wurde durch den Friedensvertrag mit Deutschland in Versailles determiniert, in dem sich die französischen Interessen gegen die idealistischen Konzeptionen durchsetzen konnten. Österreich, genauer Deutsch-Österreich, fand mit seiner Argumentationslinie, 1914 noch gar nicht existiert zu haben und nur einer unter mehreren Nachfolgestaaten der Monarchie zu sein (wie andere auf der anderen Seite des Tisches), in Saint Germain kein Gehör. Nur zwei Drittel der deutschsprachigen Bevölkerung der Habsburgermonarchie fanden sich im neuen Staat wieder, aber die Diskussion wurde nicht nur über die schmerzhaften Grenzen in Tirol oder der Steiermark geführt, sondern vor allem auch um das schon in Versailles formulierte Anschlussverbot. Dennoch: Saint Germain blieb nicht der negative Gedächtnisort, der Versailles lange war und der Trianon wohl bis heute ist. Der weitere Verlauf der Geschichte hatte deutlich gemacht, dass die Existenz als Kleinstaat seine Vorteile hatte und dass die Akzeptanz der Resultate von Saint Germain die Grundvoraussetzung für die mehr als fragwürdige These vom „ersten Opfer“ der aggressiven nationalsozialistischen

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Expansionspolitik sein musste. Die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik fußt also auf dieser eigenartigen Konstellation. Daher war und ist die Habsburg-Nostalgie in Österreich unausgeprägt. Der Zerfall der Habsburgermonarchie traf Ungarn noch härter als Österreich. Die Fragen der Grenzziehungen im Vertrag von Trianon sind in Ungarn bis heute ein heißer Gegenstand. Die Magyaren, ohne große ‚Brudernation‘ außerhalb der Grenzen der Monarchie, war sehr viel stärker auf den Nationalismus als Instrument des inneren Zusammenhalts angewiesen als die anderen Nachfolgestaaten. Und dass in Ungarn das revolutionäre Experiment bei Kriegsende tatsächlich Gestalt annahm, führte den jungen Staat durch roten und dann weißen Terror und ließ die Grenzziehung zu Österreich und anderen Nachbarstaaten als außenpolitische Niederlage erscheinen. Drei Millionen Ungarn lebten 1920 außerhalb von Ungarn, das ‚Nein, nein, niemals‘ ist bis heute die Reaktion auf die erzwungene Neuordnung. Als der Zweite Weltkrieg die europäische Landkarte wieder entscheidend umzeichnete, war für viele Menschen in jenen Teilen der ehemaligen Monarchie, die sich auf der dunklen Seite des Eisernen Vorhangs wiederfanden, das untergegangene Reich ein nostalgischer Wunschort, ein verlorenes Paradies. Die Realität war aber eine andere. In den ‚Bloodlands‘ waren viele Träger einer übernationalen Identität, vorrangig die Millionen von Juden Zentral- und Osteuropas, hingemordet worden. Das, was im Positiven den Vielvölkerstaat ausgemacht hatte, war dahin. Die ganze Tragweite dieses Verlustes kann man deutlich am jüdischen Friedhof von Czernowitz erfassen, wo über den Gräbern einer deutschsprachigen, doch nicht national gebundenen Menschengruppe heute das Unkraut wuchert. Anmerkungen 1 2 3 4

Friedrich Engels, Der Anfang des Endes in Österreich, in: Deutsche Brüsseler Zeitung, 27.1.1848, zit. n. Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW). Band 4, Berlin 1977, S. 504–510, hier S. 504. Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907. Synopticus (= Karl Renner), Staat und Nation, Wien 1899. Otto Bauer, Die österreichische Revolution, Wien 1923.

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Autor/inn/enverzeichnis Aleida Assmann - Professorin Emerita am Fachbereich Literaturwissenschaft der Universität Konstanz

Anil Bhatti - Professor Emeritus am Centre of German Studies der Jawaharlal Nehru University, New Delhi Dieter A. Binder - Professor am Institut für Geschichte der Universität Graz und an der Andrássy Universität Budapest Barbara Boisits - Stv. Direktorin des IKM–Institut für kunst- und musik­historische Forschungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Vizerektorin für Forschung an der KUG Graz

Andrei Corbea-Hoisie - Professor, Vorstand des Fachbereichs Germanistik der Universität Jassy Hubert Christian Ehalt - Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Wissenschaftsreferent der Stadt Wien Johannes Feichtinger - Senior Researcher am IKT–Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Franz L. Fillafer - Assistenz-Professor am Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz

Autor/inn/enverzeichnis

Andre Gingrich - Professor am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien und Direktor des ISA–Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wolfgang Göderle - Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Geschichte der Universität Graz

Elisabeth Großegger - Stv. Direktorin des IKT–Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Simon Hadler - Wissenschaftlicher Mitarbeiter des IGK „Religiöse Kulturen“ der Universität München Waltraud Heindl - Professorin (i.R.) am Institut für Geschichte der Universität Wien Johann Heiss - Senior Researcher am ISA–Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Roland Innerhofer - Professor am Institut für Germanistik der Universität Wien Rudolf Jaworski - Professor Emeritus am Historischen Seminar der Universität Kiel

Reinhard Johler - Professor am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen

Pieter M. Judson - Professor, Vorstand des Department of History and Civilization des European University Institute in Florenz Helmut Konrad - Professor am Institut für Geschichte der Universität Graz

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Autor/inn/enverzeichnis

Jacques Le Rider - Professor, Directeur d‘études an der École Pratique des Hautes Études

Elena Mannová - Senior Researcher (i.R.) am Historischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften Bratislava

Sabine Müller - Hertha-Firnberg-Stipendiatin (FWF) am Institut für Germanistik der Universität Wien

Christian Peer - Assistent am Department für Raumplanung der Technischen Universität Wien Ursula Prutsch - Professorin am Amerika-Institut der Universität München Michael Rössner - Professor am Institut für Romanische Philologie der Universität München und Direktor des IKT–Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Stefan Simonek - Professor am Institut für Slawistik der Universität Wien

Peter Stachel - Senior Researcher am IKT–Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Werner Suppanz - Assistenz-Professor am Institut für Geschichte der Universität Graz

Jan Surman - Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg - Institut der Leibniz Gemeinschaft

Autor/inn/enverzeichnis

Cornelia Szabó-Knotik - Professorin am Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik und Studiendekanin für wissenschaftliche Studien der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Jozef Tancer - Leiter des Instituts für Germanistik, Niederlandistik und Skandinavistik der Comenius-Universität Bratislava

Werner Telesko - Direktor des IKM–Institut für kunst- und musikhistorische Forschungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Heidemarie Uhl - Senior Researcher am IKT–Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Heidrun Zettelbauer - Assistenz-Professorin am Institut für Geschichte der Universität Graz

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Personenregister A Adler, Alfred 201 Adler, Viktor 201 Anderson, Benedikt 13 Andrić, Ivo 153 Anna Komnena, byzantinische Kaisertochter 34, 36 Assmann, Aleida 69 Austerlitz, Friedrich 201 B

Bach, Alexander von 190, 192, 195 Bachtin, Michail M. 239, 240 Bahr, Hermann 128, 201 Bánffy, Miklós 153 Bartók, Béla 225 Barzun, Jacques 203 Batthyány, Lajos 191, 192 Bauer, Otto 248, 249 Bauman, Zygmunt 61 Beer-Hoffmann, Richard 201 Beethoven, Ludwig van 226 Beidtel, Ignaz 100, 101 Bem, Józef 191 Benjamin, Walter 32, 205, 209 Berchtold, Leopold 194 Berg, Alban 201 Berlioz, Hector 226 Bernhard, Thomas 207 Bhabha, Homi 183, 214 Bhatti, Anil 15 Bihari, János 225, 226 Bloch, Ernst 209

Böckh, August 104 Bodi, Leslie 96, 102, 243 Böhm-Bawerk, Eugen 201 Bolaño, Roberto 214, 216, 219, 220 Boyko, Juan 24 Brix, Emil 232 Bruckmüller, Ernst 85 Büchmann, Georg 77 Burckhardt, Jacob 104 Buzzati, Dino 79 C

Camus, Albert 79 Cavanagh, Claire 181, 184 Chakrabarthy, Dipesh 183 Clemenceau, Georges 106 Cohen, Gary B. 13 Correr, Massimilano 21 Csáky, Moritz 14, 106, 107, 131, 163, 169, 171, 176, 181, 202, 226, 235 Csaplovics, Johann von 231 Curie, Marie 24 D

d’Aviano, Marco 39 Deckert, Joseph 38 Deleuze, Gilles 175 Dollfuß, Engelbert 39 Dvořák, Max 30 E

Egger, Franz von 99, 100

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Personenregister

Ehrenstein, Albert 201 Elias, Norbert 240 Elisabeth (Sisi), Kaiserin von Österreich 194 Engel-Jánosi, Friedrich 11 Engels, Friedrich 247 Erkel, Ferenc 226 F

Faulenbach, Bernd 58 Feichtinger, Johannes 181 Fellner, Ferdinand 212 Feuchtmüller, Rupert 31 Fischer von Erlach, Johann Bernhard 27 Flacke, Monika 85 Flotzinger, Rudolf 11 Fontane, Theodor 77 Foucault, Michel 240 Franco, Francisco 160 Franko, Ivan 125 Franz Ferdinand, Erzherzog von Österreich 194 Franz I., Kaiser von Österreich 211 Franz Joseph, Kaiser von Österreich-Ungarn 19, 186, 191, 194, 195 Franzos, Karl Emil 73, 75, 76, 77, 78 Freud, Sigmund 61, 197, 200, 201 Frevert, Ute 82 Friedländer, Otto 102 G

Ganglbauer, Cölestin 64 Gellner, Ernest 13 George, Stefan 86 Germer, Stefan 85 Gingrich, Andre 234 Grimm, Wilhelm 84 Grimschitz, Bruno 31

Guattari, Félix 175 Gurian, Waldemar 38 H

Haberlandt, Michael 231 Habermas, Jürgen 241 Haecker, Theodor 39 Hajdarpasic, Edin 150 Hammer-Purgstall, Joseph von 176 Hanisch, Ernst 240 Hanka, Václav 84 Hantsch, Hugo 11 Haydn, Joseph 226 Haynau, Julius von 192 Hefele, Hermann 38 Helfert, Joseph Alexander von 91, 92, 166 Helmer, Hermann 212 Herder, Johann Gottfried 178 Herzl, Theodor 109, 110 Hilferding, Rudolf 201 Hobsbawm, Eric 199 Hoffmann, Josef 200 Hofmannsthal, Hugo von 75, 76, 178, 200, 211 Hollein, Hans 201 Honold, Alexander 114 Horak, Roman 202 Horthy, Miklós 85 Hunyadi, Mátyás 85 Hus, Jan 85 I

Ilg, Albert 27, 29, 30 J

Jan III. Sobieski, König von Polen 64 Janik, Allan 12 Jelačić, Josip 188, 190, 191, 192 Johannes Paul II. 24

Johnston, William M. 12, 201 Joseph II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 91, 96, 98, 99, 101, 102, 207, 210 Joyce, James 175 Judson, Pieter M. 15, 181 Judt, Tony 234 Jung, Carl Gustav 201 Jünger, Ernst 86, 217, 219, 220

K

Kábdebo, Heinrich 27 Kafka, Franz 79 Kankoffer, Ignaz 63 Kann, Robert A. 10 Kant, Immanuel 209 Karadžić, Vuk 166 Karl, Erzherzog von Österreich 85, 98, 99 Karl I., Kaiser von ÖsterreichUngarn 249 Karl IV., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 85 Karl VI., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 29 Karoline Auguste, Kaiserin von Österreich 211 Keza, Simon de 84 Klimt, Gustav 197, 200, 201 Klinkowström, Max 38 Kodály, Zoltán 225 Kohn, Hans 11 Kokoschka, Oskar 200 Kossuth, Lajos 191 Kraus, Karl 109, 110, 115, 201 Kreisky, Eva 240 Krejčí, František Václav 128 Kremnitz, Georg 125 Kreuter-Gallé, Karoline (Lina) 44, 45, 49

L

Personenregister

Lachmann, Karl 84 Lactantius 36 Lajos II., König von Ungarn 85 Langer, William 203 Langewiesche, Dieter 234 Laube, Heinrich 210, 211 Lázár, István 84 Leo XIII. 64 Leopold I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 29 Leopold II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 99, 199 Lepsius, M. Rainer 232 Le Rider, Jacques 13, 14 Lessing, Gotthold Ephraim 209. 211 Liszt, Franz 226, 227 Loos, Adolf 197, 200 Lötsch, Bernd 222 Ludwig XIV., König von Frankreich 210 Lueger, Karl 12 Luther, Martin 37 Lyotard, Jean François 13 M

Mácha, Karel Hynek 127 Machar, Josef Svatopluk 128 Mach, Ernst 201 Maderthaner, Wolfgang 202 Magris, Claudio 11, 194 Mahler, Alma 201 Mahler, Gustav 200, 201 Mak, Geert 233 Maria Theresia, Erzherzogin von Österreich und Königin von Ungarn und Böhmen 29, 91, 99, 207 Martini, Karl Anton von 99, 100 Marx, Karl 247 Masaryk, Thomas 84

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Personenregister

Matthäus, Evangelist 37 Mattl, Siegfried 202 Maximilian, Kaiser von Mexiko 216 Mayreder, Rosa 201 McDonald, Maryon 233 Meissl, Gerhard 202 Merta, Vladimír 125, 128, 129, 130, 131 Mignolo, Walter 185 Miklas, Wilhelm 39 Morrison, Toni 57 Morton, Frederic 205 Moser, Koloman 201 Mrazek, Wilhelm 31 Muschg, Adolf 233 Musil, Robert 9, 79, 112, 115, 116, 117, 118, 153, 177, 194, 201 Musner, Lutz 202 N

Napoleon Bonaparte 52, 54 Němcová, Božena 127 Neruda, Jan 125, 127, 128 Nietzsche, Friedrich 104 Nohavica, Jaromír 128 O

Olick, Jeffrey K. 55 P

Padilla, Ignacio 216 Pargfrieder, Joseph Gottfried 218, 219, 220 Parsons, Talcott 243 Paso, Fernando del 216 Pattanayak, Debi Prasanna 171 Petőfi, Sándor 85, 191 Peymann, Claus 207 Pfoser, Alfred 202 Platz, Hermann 38

Popp, Adelheid 201 Přemysl II. Ottokar, König von Böhmen 85 Prešeren, France 125 Prutsch, Ursula 181 Puntarić, Srećko 188 Q

Qualtinger, Helmut 200 R

Radić, Stjepan 191 Rank, Otto 201 Ranzoni, Emerich 27 Redlich, Oswald 29 Renan, Ernest 148 Renner, Karl 248 Renner, Viktor von 29 Reyes, Salvador 217 Ribbe, Claude 54 Riegl, Alois 30 Rifkin, Jeremy 234 Rjabtschuk, Mykola 181, 184, 185 Robson, Edward Robert 91, 92, 93 Rohan, Karl Anton Prinz 38, 39 Roller, Alfred 201 Rorke, Elizabeth 203 Rothberg, Michael 57 Roth, Joseph 79, 106, 153, 194, 248 Rudolf, Erzherzog von Österreich und Kronprinz 194 S

Salazar, António de Oliveira 160 Šalda, František Xaver 128 Salomé, Lou Andreas 201 Satchidanandan, Koyamparambath 176 Savigny, Friedrich Carl von 100 Schiele, Egon 197, 200, 201

Schinkel, Karl Friedrich 104 Schmerling, Anton von 195 Schmidt-Dengler, Wendelin 197 Schmitt, Carl 38, 39 Schnitzler, Arthur 200, 201 Schönberg, Arnold 197, 200, 201 Schorske, Carl Emil 12, 69, 197, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206 Schreyvogel, Joseph 210 Schreyvogl, Friedrich 38, 39 Schumpeter, Joseph 201 Semper, Gottfried 27 Sennett, Richard 199, 244 Shakespeare, William 210 Shevchenko, Taras 24 Shore, Cris 233 Simmel, Georg 61, 64 Sindelar, Matthias 241 Słowackis, Juliusz 186 Smetana, Bedřich 129 Snihur, Angel 24 Sonnenfels, Joseph von 99 Sowa, Jan 184 Spengler, Oswald 38 Stalin, Josef 248 Stekel, Wilhelm 201 Stephan, König von Ungarn 85 Stora, Benjamin 54 Stourzh, Gerald 13 Strauss, Johann 226 Strauss, Richard 201 Stricker, Toni 222, 224 Széchenyi, István 191 T

Tagore, Rabindranath 174 Telesko, Werner 11 Thun-Hohenstein, Leo Graf 101 Tietze, Hans 30

Personenregister

Timms, Edward 201 Tisza, István 194 Tlostanova, Madina 185 Tomuta, Daniel 229, 231 Toulmin, Stephen 12 Treitschke, Heinrich von 107 Trotzky, Leo 201 Týl, Josef Kajetan 130 V

Varga, Marián 128 Vergil 39 Viertel, Berthold 201 Volkov, Shulamit 108 Volpi, Jorge 216 W

Wagner, Richard 232 Wagner-Rieger, Renate 11 Walter, Bruno 201 Warnke, Martin 29 Webern, Anton 201 Werfel, Franz 194 Wilson, Woodrow 250 Windischgrätz, Alfred von 192 Wittels, Fritz 201 Wittgenstein, Ludwig 12, 175, 201 Wolf, Hugo 200 Wolf, Norbert Christian 115 Wunberg, Gotthart 13 Z

Zeiller, Franz 99 Zeman, Herbert 11 Zweig, Stefan 104, 106

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OK! AUC H ALS eBO

CHRISTOPH SCHMETTERER

KAISER FRANZ JOSEPH I.

Mitte des 19. Jahrhunderts, zu Beginn der Regierungszeit von Kaiser Franz Joseph I., war Wien noch von Stadtmauern umgeben und die Bauern der Habsburgermonarchie waren mehrheitlich Untertanen adliger Grundherren. Fast sieben Jahrzehnte später starb der Kaiser in einer veränderten Welt: Das allgemeine Männerwahlrecht war eingeführt und das Habsburgerreich befand sich mitten im Ersten Weltkrieg, dessen Ende Franz Joseph nicht mehr erleben sollte. Christoph Schmetterer verwebt die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Regierungszeit Kaiser Franz Josephs I. mit dessen Persönlichkeit und Selbstverständnis als Oberhaupt des Hauses Habsburg. Er beleuchtet die Beziehungen des Monarchen zu Familie und Wegbegleitern ebenso wie sein Verhältnis zu Kirche, Kunst und Militär. 2016. 229 S. 26 S/W-ABB. 2 FARB. KARTEN. FRANZ. BR. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-205-20279-0 [BUCH] | ISBN 978-3-205-20324-7 [E-BOOK]

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

Moritz CsÁk y

Das GeDächtnis Der stäDte kulturelle VerfleChtungen – Wien und die urbanen Milieus in zentr aleuropa

Migrationen gehören zu den großen Herausforderungen der Gegenwart. Obwohl aus ökonomischen und demographischen Gründen viele Länder auf Zuwanderungen angewiesen wären, werden sie zunehmend emotional diskutiert und als Bedrohung empfunden. Migrationen gehörten freilich bereits in der Vergangenheit zur Realität des alltäglichen Lebens. Wien, Prag oder Czernowitz waren mehrsprachige, pluriethnische und plurikulturelle Städte, in denen unterschiedliche verbale und nonverbale Kommunikationsräume der zentraleuropäischen Region aufeinandertrafen, ineinander übergingen und zur Dynamik urbaner kultureller Prozesse beitrugen. Obwohl »Fremde« das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Geschehen wesentlich mitbestimmten, begegnete man ihnen schon seit dem 19. Jahrhundert oft mit Skepsis und ähnlichen Abwehrstrategien wie in der Gegenwart. Die Untersuchung macht deutlich, dass trotz der sprachlichen Homogenisierung Spuren heterogener kultureller Einflüsse die urbanen Milieus bis heute prägen und zu einem integralen Bestandteil des Gedächtnisses dieser Städte geworden sind. 2010. 417 S. GB. 155 x 235 MM. ISBN 978-3-205-78543-9

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com

MORITZ CSÁKY, GEORG-CHRISTIAN LACK (HG.)

KULINARIK UND KULTUR SPEISEN ALS KULTURELLE CODES IN ZENTRALEUROPA

Wenn Menschen miteinander kommunizieren, spricht man von Kultur. Dazu zählen auch jene Praktiken, die auf die Absicherung des biologischen Überlebens gerichtet sind, nämlich auf die Zubereitung von Speisen. Die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit Kulinarik vermag darum zur Erklärung kultureller Prozesse beizutragen. In Zentraleuropa, deren Gesellschaft durch Heterogenität und Differenz gekennzeichnet ist, durchbrechen Speisen staatliche, sprachliche und ethnische Trennlinien und erfahren durch unterschiedliche Zubereitung kontinuierlich Umdeutungen. Sie vereinen ganz unterschiedliche Menschen miteinander. Die interdisziplinären Beiträge dieses Bandes machen auf die kulturwissenschaftliche Relevanz der Beschäftigung mit Kulinarik aufmerksam. 2014. 200 S. 12 S/W-ABB. BR. 155 X 235 MM | ISBN 978-3-205-79539-1

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